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German Pages [288] Year 2014
Bertrand Michael Buchmann
Weltpolitik seit 1945
2014 BÖHL AU VERL AG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch : Amt der Niederösterreichischen Landesregierung Kulturabteilung der Stadt Wien ( MA 7 )
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INHALT Vorwort 7 1. Das ende des Zweiten Weltkrieges 10
A ) Alliierte Konferenzen und Vereinte Nationen 10 B ) Bilanz des Zweiten Weltkrieges 16 C ) Kriegsverbrecherprozesse 19
2. Der Kalte Krieg 23
A ) Politische Begriffe des Kalten Krieges 23 B ) Die Phasen des Kalten Krieges 28 C ) Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 32 D ) Die blockfreien Staaten 33 E ) Die Sowjetunion – erste Protagonistin des Kalten Krieges 34 F ) Die Usa – zweite Protagonistin des Kalten Krieges 43
3. Die Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg 49 A ) Von Potsdam bis Paris 49 B ) Die Deutsche Frage nach 1945 53 C ) Die Machtergreifung der Kommunisten in Europa 64 D ) Aufstände gegen den Kommunismus 73 E ) Systemänderungen in Westeuropa 79 F ) Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 83 G ) Europäische Integration 87
4.
Die Neuordnung Ost-und Südostasiens 89 A ) Japans neue Identifikation 89 B ) Chinas leidvoller Weg zur Großmacht 91 C ) Korea und der „vergessene Krieg“ 99 F ) Indochina 103 G ) „Junge Tiger“, Vielvölkerstaaten und Diktaturen 117
5. Südasien 122
A ) Indien – der zweite wrwachende Riese 122 B ) Pakistan 126 C ) Afghanistan 129
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Inhalt
6.
Mittlerer und Naher Osten 133 A ) Iran und Irak 133 B ) Naher Osten und der Jahrhundertkonflikt um Palästina 143
7.
Arabische Liga 157 A ) Arabien 157 B ) Nordafrika 160 C ) Der Sudan 165 D ) Arabischer Frühling 2011 167
8. Entkolonialisiertes Afrika südlich der Sahara 175
A ) Südafrika und das Ende der Apartheid 182 B ) Zentralafrika und die gescheiterten Staaten 187 C ) Ostafrika – gescheiterte Staaten auch hier 192 D ) Golf von Guinea – Beispiele sinnloser Grausamkeit 202
9. Lateinamerika 206
A ) Mexiko – ein Staat an der Kippe 212 B ) Große Antillen 214 C ) Mittelamerika , die klassischen „Bananenrepubliken“ 218 D ) La-Plata-Länder 222 E ) Die Andenstaaten 229
10.
Die Wende 238 A ) Die letzten Jahre der Sowjetunion 238 B ) Das Ende der Volksdemokratien in Europa 246 C ) Die Wiedervereinigung Deutschlands 252 D ) Europas letzte Kriege – der Zerfall Jugoslawiens 257 E ) USA und Russland – neue Partner oder alte Gegner ? 263
Nachwort 270 Register 272
VORWORT Politische Geschichte ist nur ein historischer Blickwinkel unter den unübersehbar vielen Blickwinkeln , mit denen man die Vergangenheit betrachten kann. Sie ist auch keineswegs die wichtigste Perspektive , aber diejenige , welche am nachhaltigsten im Gedächtnis haftet. Es hat den Anschein , dass insbesondere hinsichtlich der letzten Jahrzehnte die politische Geschichte auf größtes Allgemeininteresse stößt , so wie ja auch die Medien der Gegenwart dem politischen Geschehen den größten Raum gewähren. Es sei jedoch ausdrücklich betont , dass sich jene Strukturen , die den Alltag der Menschen entscheidend prägen , meist auf leisen Sohlen bewegen und in ihrer Dynamik kaum wahrgenommen werden , während sich die Politik nur allzu oft mit lautem Getöse in Erinnerung ruft , ohne Dauerhaftes zu bewirken. Im vorliegenden Buch soll jedenfalls nur jenen weltpolitischen Entwicklungen Raum gewährt werden , welche sich tatsächlich entscheidend auf das Leben der betroffenen Bevölkerung ausgewirkt haben. Einer groben Schätzung zufolge lebten von 1950 bis zum Jahr 2010 vielleicht 9,5 Milliarden Menschen ; versucht man zurückzurechnen , wie viele Jahre vor 1950 die Menschheitsentwicklung benötigte , um ebenfalls auf die Zahl von 9,5 Milliarden zu kommen , so gelangt man etwa bis zum Dreißigjährigen Krieg. Das bedeutet , dass in den vergangenen 60 Jahren die Geschichte der Menschheit genauso viele Lebensschicksale aufweist wie in den 300 Jahren davor. Gewiss ist die Dichte historisch relevanter Ereignisse nicht unbedingt mit der Menge an Individuen in Relation zu setzen , nichtsdestoweniger dreht sich heute das Rad der Geschichte ungleich schneller als in früheren Zeiten , Veränderungen vollziehen sich häufiger und rascher , zumal sie angesichts der fortschreitenden Globalisierung vielfach nicht mehr nur auf einen Raum bzw. Kontinent beschränkt bleiben , sondern weltweit zusammenhängen. Das Problem einer gerafften Darstellung der weltpolitischen Entwicklung seit 1945 besteht vornehmlich in der unübersichtlichen Zersplitterung des Zeitgeschehens in einzelne Kontinente und Räume , also im sowohl nationalen als auch extranationalen Charakter der Politik. Allein die Tatsache , dass jeder der rund 190 Staaten der Erde auf seine eigene – leidvolle oder erhebende , jedenfalls aber interessante – Geschichte zurückblickt , erklärt die Schwierigkeit des Unterfangens. Eine Beschränkung auf jene Ereignisse , welche die Staaten verbinden , greift wohl zu kurz , weil sie ungerecht wäre gegenüber den Zeitgenossen , welche von den alltagsbestimmenden innerstaatlichen Ereignissen viel eher beeinflusst werden. Es bleibt dem Historiker nichts anderes übrig , als eine Auswahl zu treffen und das Lokale mit dem Internationalen zu kombinieren. Um nicht im Chaos der Fakten unterzugehen , benötigt der Historiker ein bestimmtes Konzept , ein Modell oder Paradigma , also eine Grundauffassung , der er seine Betrachtung unterordnet. Angesichts der dramatischen Veränderungen der Welt-
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VORWORT
politik in den letzten Jahrzehnten ist es ihm allerdings nicht möglich , auf Dauer bei einer Grundauffassung zu verharren , denn mit jeder einschneidenden Erschütterung des weltpolitischen Systems muss ein Paradigmenwechsel vorgenommen werden : So funktioniert für die Endphase des Zweiten Weltkrieges noch das Konzept einer multipolaren Welt , also einer Welt mit mehreren Großmächten , die sich großteils in Europa befanden , sodass zum letzten Mal der alte Kontinent das globale Geschehen bestimmte. Die Staaten der Erde definierten sich hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu den Achsenmächten oder zu den Alliierten ( oder sie blieben neutral ). Nach Kriegsende ergab sich zwangsläufig ein Paradigmenwechsel : Für die Länder Afrikas oder Asiens brach mit dem Ende der europäischen Vormachtstellung das Zeitalter der Entkolonialisierung an , das ihnen erstmals die Gelegenheit gab , selbst aktiv in die Weltpolitik einzugreifen. Einem anderen historischen Konzept gemäß begann das Zeitalter des Kalten Krieges mit zwei einander feindlich gegenüberstehenden Blöcken. Das Selbstverständnis der Staaten beruhte auf ihrer Zugehörigkeit zu einem der beiden Blöcke ( oder zur Blockfreienbewegung ). Diese Phase einer bipolaren Welt endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion , einer der beiden Supermächte , sodass ein abermaliger Paradigmenwechsel vonnöten scheint. Allerdings wissen wir noch nicht , welchem Gesichtspunkt die Weltpolitik seit der Wende unterzuordnen sein wird : Wenn Francis Fukuyama in seinem Essay über das „Ende der Geschichte“ pointiert meint , dass die Etablierung der liberalen Demokratie auf marktwirtschaftlicher Basis die finale Form gesellschaftlicher Organisation darstellt ,1 so ist damit noch lange nicht geklärt , auf welchen mühsamen und verschlungenen Wegen die einzelnen Gesellschaften zu diesem Ziel gelangen und wie sie sich dann , bei Erreichen dieses Zieles , verhalten werden. Nur wenige Jahrzehnte erlebte die Menschheit eine monopolare Welt mit der einen verbliebenen Hypermacht USA. Heute sind in den Weiten Asiens mit China und Indien neue Großmächte entstanden , die gemeinsam mit einem zumindest ökonomisch erstarkten ( vereinten ) Europa bemüht sind , den USA den Rang abzulaufen. Die Weltpolitik bewegt sich also wieder in Richtung eines neuen , multipolaren Zeitalters. Werden vielleicht in Zukunft übergeordnete Kulturkreise die globalen Muster von Zusammengehörigkeit und Konflikt prägen ? Gegen diesen , von Huntington formulierten „Kampf der Kulturen“2 spricht eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung , wonach kulturelle Konflikte nach Ende des Kalten Krieges zwar enorm zugenommen haben , aber zu 80 Prozent innerstaatlich ausgetragen wurden.3 Dies zeigte sich beispielsweise im 1 2 3
Francis Fukuyama : Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir ? München 1992. Samuel P. Huntington : Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München / Wien 1 1996. Bertelsmann Stiftung ( Hg. ): Kultur und Konflikt in globaler Perspektive. Die kulturellen Dimensionen des Konfliktgeschehens 1945–2007. Gütersloh 2009.
VORWORT
Herbst 2012 , als in Ägypten , Tunesien und Libyen die bei den Wahlen siegreichen Moslembrüder gegen die radikalislamischen Salafisten vorgingen. Daher scheint es sinnvoll , die politische Geschichte der einzelnen Staaten zumindest gleichwertig neben die globalpolitische Entwicklung zu stellen. Umso schwieriger fällt es uns , für die Gegenwart ein neues Paradigma zu finden. Vielleicht gelangen wir eher zum Ziel , wenn wir uns die Zukunft der Welt unter der ökonomischen Perspektive vorstellen , wie der ehemalige russische Wirtschaftsminister Jewgeny Jasin ( 1994–1998 ) meint : „Auf der Welt geht eine tektonische Verschiebung vor sich , die damit verbunden ist , dass China und Indien , die im 16. Jahrhundert nicht ärmer als Europa waren , ihre Rückständigkeit überwinden. Grob gesagt entsteht folgendes Modell : Die USA sind das Labor der Welt , China ist die Weltfabrik , die Brasilianer sagen von sich , dass sie die Bauern seien. Russland ist mit den Rohstoffen das Bergwerk der Welt.“4 Welche Rolle Europa spielen wird , bleibt dabei offen. Dass die USA auf jeden Fall in der ersten Liga der Weltmächte weiterspielen werden , ist jedenfalls anzunehmen. Im beginnenden zweiten Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends zeichnet sich ab , dass Fukuyamas Vision einer konfliktfreien , entpolitisierten Wohlstandsgesellschaft keine Daseinsberechtigung hat. Vielmehr wirken – wie im Zeitalter des Imperialismus – machtpolitische Interessen als Triebfedern der Diplomatie. China , Russland und auch Indien machen deutlich , dass sie harte Konkurrenten gegenüber dem Westen ( USA , EU ) sind und nicht auf eine friedliche Welt , sondern auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Auf der Strecke bleiben die Staaten nahe am Abgrund ; manchen von ihnen – und ihre Zahl nimmt zu – bringt die Globalisierung mit ihren zunehmenden Verflechtungen und Abhängigkeiten den Verfall , sie mutieren zu „failed states“, zu gescheiterten Staaten.
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Aus : Die Presse , 7. April 2010 , S. 20.
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1. DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES A ) ALLIIERTE KONFERENZEN UND VEREINTE NATIONEN
Die Zusammenarbeit der Alliierten diente drei Zielen : Koordinierung der Kampfhandlungen gegen Deutschland und Japan , Neuordnung der Staaten und deren Grenzen nach Kriegsende sowie Vereinbarung einer neuen Weltordnung. Die Interessen der führenden Politiker der drei Großmächte USA , Großbritannien und Sowjetunion lagen allerdings weit auseinander : Während der Idealist Franklin Delano Roosevelt ( Präsident 1932–1945 ) keinerlei Interesse an Landgewinn bekundete , verfolgte der kalte Machtpolitiker Stalin ( Josef Wissarionowitsch , Generalsekretär der KPdSU 1922–1953 ) ausschließlich die territoriale Ausweitung seiner Einflusssphäre ; Winston Churchill ( Premierminister 1940–1945 ) hingegen mühte sich , Englands Großmachtstatus zu retten , indem er sich eng an die US-Politik anlehnte. Die Vereinigten Staaten verhielten sich auch vor ihrem Kriegseintritt nicht neutral , vielmehr gewährten sie Großbritannien und der Sowjetunion eindeutige Militärhilfe. Demgemäß waren die sogenannten „vier Freiheiten“, welche Roosevelt zu Beginn seiner vierten Amtsperiode am 6. Januar 1941 dem Kongress verkündete , auch indirekt gegen Deutschland gerichtet : territoriale Veränderungen nur aufgrund des Selbstbestimmungsrechts , freie Bestimmung der Völker auf ihre Regierungsform , freier Zugang zu allen Rohstoffen , dauerhafter Friede und ein Leben frei von Furcht und Not. Am 9. März 1941 trat das „Leih- und Pachtgesetz“ ( „Land-Lease-Act“ ) in Kraft , das den Präsidenten dazu ermächtigte , nach eigenem Ermessen jene Staaten mit Kriegs- und Versorgungsgütern zu unterstützen , deren Verteidigung für die Interessen der Vereinigten Staaten als lebensnotwendig erkannt werden. Von den oben erwähnten „vier Freiheiten“ wurden drei in die Atlantik-Charta ( The Atlantic Charter ) übernommen , welche Roosevelt und Churchill am 14. August 1941 auf einem Schiff vor der Küste Neufundlands vereinbarten. In der Formulierung dieser allgemeinen Kriegsziele ( Selbstbestimmungsrecht der Völker , Verzicht auf Gebietsgewinn , Freiheit der Meere , Verzicht auf Waffengewalt ) sollte die Keimzelle einer neuen , demokratischen Weltordnung liegen , wobei die insgesamt acht Bestimmungen nicht für Deutschland gelten sollten : „Der Präsident der Vereinigten Staaten und Premierminister Churchill als Vertreter seiner Majestät Regierung des Vereinigten Königreiches trafen sich auf See. Sie haben die Gefahren betrachtet , die der Weltzivilisation aus der Politik der auf Eroberung beruhenden Militärherrschaft drohen , welche die Hitler-Regierung Deutschlands und andere mit ihr verbündete Regierungen eingeschlagen haben. [ … ] Sie einigten sich auf folgende gemeinsame Erklärung [ … ] :
A ) ALLIIERTE KONFERENZEN UND VEREINTE NATIONEN 1. Ihre Länder erstreben keinerlei Gebiets- oder sonstige Vergrößerung. 2. Sie wünschen keine Gebietsveränderungen , die nicht mit den frei zum Ausdruck gebrachten Wünschen der betreffenden Völker übereinstimmen. 3. Sie anerkennen das Recht aller Völker , die Regierungsform zu wählen , unter der sie leben wollen [ … ]. 4. Sie werden sich [ … ] bemühen , allen Staaten , groß oder klein , Siegern oder Besiegten , fördernd zu helfen , dass sie unter gleichen Bedingungen Zutritt zum Handel oder zu den Rohstoffen der Welt haben [ … ]. 5. Sie wünschen vollste Zusammenarbeit zwischen allen Nationen auf wirtschaftlichem Gebiet zu erreichen mit dem Ziel , für alle einen gehobenen Arbeitsstandard , wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit zu gewährleisten. 6. Sie hoffen , dass nach der endgültigen Zerstörung der Nazityrannei ein Friede geschaffen wird , der allen Nationen die Möglichkeit gibt , in Sicherheit innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu leben und der Gewähr dafür bietet , dass alle Menschen in allen Ländern der Welt ihr Leben frei von Furcht und Mangel leben können. 7. Ein solcher Friede sollte es allen Menschen ermöglichen , die Meere und Ozeane ungehindert zu überqueren. 8. Sie glauben , dass aus sachlichen und ideellen Gründen alle Nationen der Welt dazu gelangen müssen , auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Da künftig kein Friede erhalten werden kann , wenn von Nationen , die mit Angriffen außerhalb ihrer Grenzen drohen oder drohen könnten , weiterhin ihre Land- , See- und Luftaufrüstung aufrechterhalten werden , glauben sie , dass bis zur Schaffung eines umfassenderen und dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit die Entwaffnung solcher Nationen wesentlich ist. [ … ]“5
Am 7. Dezember 1941 überfielen japanische Bomber den US-Pazifikhafen Pearl Harbour , tags darauf erklärten die USA und Großbritannien Japan den Krieg , am 11. Dezember folgten die Kriegserklärungen Deutschlands und Italiens an die USA. Im Washington-Pakt ( „26-Nationen-Erklärung“ ) vom 1. Januar 1942 verpflichteten sich alle 26 Krieg führenden Staaten , keinen separaten Waffenstillstand mit den Achsenmächten abzuschließen. Durch den Beitritt weiterer Staaten wurde der Pakt zur Keimzelle der Vereinten Nationen – erstmals fiel der Begriff „United Nations“. Zwischen dem 14. und 24. Januar 1943 trafen einander Roosevelt und Churchill im Anschluss an die US-Landung in Nordafrika zur Konferenz von Casablanca , als deren Ergebnis die bedingungslose Kapitulation Deutschlands gefordert wurde 5
Jalta – Potsdam und die Dokumente zur Zerstörung Europas = Beihefte zu Deutschland in Geschichte und Gegenwart 13 , Tübingen 1985 , S. 7 ff.
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1. DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES
( „The Unkonditional Surrender Meeting“ ); dadurch sollte sich das „Dritte Reich“ bei einem allfälligen Waffenstillstand nicht auf die Atlantik-Charta berufen können. Da in den gleichgeschalteten deutschen Medien über diese ebenso wie über alle anderen internationalen Vereinbarungen ausgiebig berichtet wurde , fachte der Beschluss von Casablanca einen erbitterten Widerstand buchstäblich bis zur letzten Patrone an und bewirkte die unsinnige Verlängerung des Krieges. Grundsätzlich handelte es sich bei der Zusammenarbeit der Westmächte mit der Sowjetunion um ein unnatürliches Zweckbündnis ideologisch entgegengesetzter Partner. Man wusste in Washington und London von Stalins aggressiver Außenpolitik ( Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 zur Aufteilung Polens , finnisch-sowjetischer „Winterkrieg“ 1939/40 ) und auch von dem Massenmord an 22. 000 polnischen Offizieren bei Katýn , der auf Befehl Stalins vom NKWD im April 1940 verübt und im April 1943 von deutschen Soldaten aufgedeckt worden war. Aber Roosevelt sah in Hitler eine größere Gefahr als in Stalin und war demnach nicht bereit , gegenüber dem sowjetischen Diktator Anklage zu erheben. So stand er auch nicht an , auf der 5. Washington-Konferenz ( 12. bis 25. Mai 1943 ) die sowjetischen Annexionen anzuerkennen und auf der Aussenministerkonferenz von Moskau ( 19. bis 30. Oktober 1943 ) über die Zusammenarbeit bis zum Endsieg verhandeln zu lassen. Beschlossen wurde der sowjetische Kriegseintritt gegen Japan – er sollte aber erst drei Monate nach der deutschen Kapitulation erfolgen. ( Die Sowjetunion begann dann tatsächlich am 8. August 1945 , einen Tag vor dem A-Bombenabwurf auf Nagasaki , mit den Kampfhandlungen. ) Weitere Vereinbarungen der Moskauer Deklaration betrafen die Gründung einer übernationalen Organisation , eine allgemeine Entwaffnung nach dem Krieg sowie die Anklage deutscher Kriegsverbrecher. Nicht zuletzt sollte in Italien und Österreich die Demokratie wiederhergestellt werden. Der viel zitierte Passus bezüglich Österreich enthielt die Erklärung , „… dass Österreich , das erste freie Land , das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte , von deutscher Herrschaft befreit werden soll. [ … ] Österreich wird aber auch daran erinnert , dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt.“6 In der vier Jahrzehnte später in Österreich aufgeflammten Täter-Opfer-Diskussion berief man sich gerne auf die Moskauer Deklaration , welche der Alpenrepublik die eindeutige Opferrolle zugeschrieben hatte. Tatsächlich jedoch ging es den Alliierten bei der geplanten Neuerrichtung Österreichs vor allem darum , dem besiegten Hitler-Deutschland keinerlei Gebietsgewinn zu belassen. Auf der Konferenz von Teheran vom 28. November bis 1. Dezember 1943 trafen Roosevelt und Churchill erstmals mit Stalin persönlich zusammen. Die soge6
Aus : Otto Frass : Quellenbuch zur österreichischen Geschichte 4 ( 1918–1955 ). Wien 1967 , S. 256.
A ) ALLIIERTE KONFERENZEN UND VEREINTE NATIONEN
nannten „großen Drei“ vereinbarten , durch eine Invasion in Frankreich eine neue Front zu eröffnen ( „D-Day“ am 6. Juni 1944 ), ferner legten sie die Ostgrenze Polens ( „Curzon-Linie“ ) fest , dafür sollte Polen auf Kosten Deutschlands nach Westen bis zur Oder-Neiße-Linie verschoben werden. Die baltischen Länder wurden der Sowjetunion zugesprochen. Churchill setzte sich im Zusammenhang mit der polnischen Frage für eine Totalaustreibung von mehreren Millionen Deutschen ein , protestierte allerdings , als Stalin meinte , man müsste summarisch 50. 000 deutsche Offiziere und Techniker liquidieren. Einigkeit herrschte hingegen hinsichtlich der künftigen deutschen Zonengrenzen – erst viel später erkannten die Westmächte ihre Benachteiligung gegenüber der Sowjetunion. Als Gegenleistung für all dieses Entgegenkommen erklärte sich Stalin zur Mitarbeit an der Organisationsstruktur der geplanten Vereinten Nationen bereit. Trotz aller Geheimhaltung erfuhr die deutsche Führung von den Gesprächen. Was aber tatsächlich helle Empörung in ganz Deutschland hervorrief und ebenso wie die in Casablanca gestellte Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation den Widerstandswillen bis zum Äußersten steigerte , war der im September 1944 dem US-Präsidenten unterbreitete Plan seines Finanzministers Henry Morgenthau ( 1934–1945 ): Dieser sah die Demilitarisierung , Verkleinerung und Aufteilung Deutschlands , die Demontage sämtlicher Fabriken , Stilllegung der Kohlegruben und Internationalisierung des Ruhrgebietes vor. Deutschland sollte auf den Status eines Agrarlandes reduziert werden. Dies hätte Verelendung und Hungertod für weite Teile der Bevölkerung bedeutet. Obwohl Roosevelt noch im selben Monat die Unterschrift unter den auch von Churchill gebilligten Morgenthau-Plan wieder zurückzog , motivierte er viele deutsche Soldaten , bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Die ungeheueren Kosten der Kampfhandlungen zerrütteten die Währungen aller Krieg führenden Staaten. Einzig die USA gingen wirtschaftlich gestärkt aus dem Geschehen hervor und ergriffen daher die Initiative zur Errichtung eines mit zehn Milliarden US-Dollar zu dotierenden „Internationalen Währungsfonds“ ( IWF ), der die Aufgabe übernehmen sollte , feste Wechselkurse zu sichern und das Austauschverhältnis der einzelnen Währungen mit der einzigen verbliebenen Leitwährung , dem US-Dollar , zu überwachen. Dafür verpflichteten sich die USA , den Goldwert gegenüber dem US-Dollar stabil zu halten. Auf der Konferenz von Bretton Woods in New Hampshire , USA , ( 1. bis 22. Juli 1944 ) gelangten die Vertreter von 44 Staaten zu einer Einigung und auch zum Beschluss , eine „Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“ ( IBRD , Weltbank ) zu installieren. Beide Institutionen nahmen nach Kriegsende ihre Tätigkeit auf. In den Augen Stalins galten sie allerdings als imperialistische Instrumente des Kapitalismus zur Unterdrückung der Völker ; daher nahm die Sowjetunion nicht an ihnen teil und verbot auch ihren Verbündeten die Teilnahme. Ein weiterer Baustein für eine neue Weltorganisation ( nach der oben erwähnten Atlantik-Charta ) wurde auf der Konferenz von Dumbarton Oaks
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1. DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES
( bei Washington D. C. , 21. August bis 7. Oktober 1944 ) gesetzt , als die Vertreter von USA , UdSSR , Großbritannien und China beschlossen , den Völkerbund durch die „Vereinten Nationen“ zu ersetzen und bereits Vorschläge für deren Organisation ausarbeiteten : Jeder Staat hätte einen Vertreter in die einmal pro Jahr tagende Generalversammlung ( Vollversammlung ) zu entsenden ; ein künftiger Sicherheitsrat mit für alle Mitglieder verbindlicher Beschlussfassung sollte aus fünf mit Vetorecht ausgestatteten ständigen Mitgliedern ( USA , UdSSR , Großbritannien , Frankreich und China ) sowie aus zehn für jeweils zwei Jahre gewählten Mitgliedern bestehen. Vom 1. August bis zum 2. Oktober 1944 tobte der Warschauer Aufstand : 62 Tage lang konnte sich die polnische Untergrundarmee in der Stadt halten. Ihr Ziel war es , einen eigenen Beitrag zur Befreiung Polens zu leisten. Stalin aber akzeptierte keine polnische konservative Widerstandsbewegung und verweigerte ihr jegliche Hilfe. Obwohl die Rote Armee nur mehr wenige Kilometer von Warschau entfernt lag , stoppte sie auf Stalins Befehl ihren Vormarsch , bis die Deutsche Wehrmacht Warschau zurückerobert und dem Erdboden gleich gemacht hatte. Roosevelt war zwar von Stalin „tief enttäuscht“, zog aber keine Lehre aus dem Verhalten des Diktators. Allerdings schickte er keinen Vertreter zur Moskauer Besprechung ( 9. bis 18. Oktober 1944 ), wo nur Stalin , Churchill und der britische Außenminister Robert Anthony Eden ( 1935–1938 , 1940–1945 ) die künftigen Einflusssphären der Alliierten auf dem Balkan festlegten. Wie die heute unglaublich wirkenden Zahlenspielereien in die Realität hätten umgesetzt werden sollen , ist angesichts der unterschiedlichen und vor allem unvereinbaren Gesellschaftsformen der Westmächte und der Sowjetunion unklar ; sie zeigen aber an , wer in Hinkunft tatsächlich in welchem Staat dominieren würde : Rumänien , Bulgarien und Ungarn hätten mit 75-prozentigem sowjetischen und 25-prozentigem britisch-amerikanischen „Einfluss“ zu rechnen , Griechenland geriete zu 75 Prozent unter britischen , zu 25 Prozent unter sowjetischen „Einfluss“, und Jugoslawien „teilten“ sich Sowjets und Briten zu je 50 Prozent. Nebenbei wurde auch festgehalten , dass alle sowjetischen Kriegsgefangenen , Auswanderer und Verschleppten an die Sowjetunion auszuliefern wären ; sie erwartete allesamt ein düsteres Schicksal , weil sie in den Augen Stalins ohne Ausnahme als Verräter galten : Wenn sie nicht hingerichtet wurden , verschwanden sie im GULag ; nur wenige blieben unbehelligt. Zur selben Zeit , als sich der deutsche Außenminister ( 1938–1945 ) Joachim von Ribbentrop mit Wissen Hitlers und über Vermittlung des Vatikans vergebens bemühte , die USA zum gemeinsamen Kampf gegen die Sowjetunion zu motivieren , tagte die Konferenz von Jalta ( 4. bis 11. Februar 1945 ). Stalin , Churchill und der bereits vom Tod gezeichnete Roosevelt – er erlag am 12. April seinem Krebsleiden – fixierten in Ergänzung zur Teheraner Konferenz die Bestimmungen über die Neugestaltung Deutschlands und Europas. Stalin zeigte sich zwar gegenüber dem USPräsidenten wieder entgegenkommender , insbesondere hinsichtlich der Vereinten
A ) ALLIIERTE KONFERENZEN UND VEREINTE NATIONEN
Nationen , blieb aber kompromisslos , wenn es um die Machterweiterung der Sowjetunion ging. Weil die Alliierten aber davon ausgingen , dass sich der Kampf gegen Japan noch in die Länge ziehen könnte , war ihnen der sowjetische Kriegseinsatz gegen Japan ( vereinbarungsgemäß drei Monate nach der deutschen Kapitulation ) dermaßen wichtig , dass sie Stalin weit entgegenkamen und ihm die Kurilen , den Süden von Sachalin , Teile der Mandschurei , die Kontrolle über die Mongolische Volksrepublik und über den Norden von Korea zugestanden. Hinsichtlich Deutschlands war man sich einig , was die Aufteilung in vier Besatzungszonen , die Beseitigung des Nationalsozialismus , die Demontage der Fabriken , Reparationen , Gebietsabtretungen und Bildung eines Alliierten Kontrollrates ( in Berlin ) betraf. Auf Österreich kamen ähnliche Bestimmungen – vier Besatzungszonen , Demontage , Kontrollrat usw. – zu. Schließlich einigte man sich auf das Stimmverhältnis im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und legte den Gründungstag für die Vereinten Nationen mit dem 25. April 1945 fest. Roosevelt sah damit sein Hauptanliegen erfüllt , er sollte allerdings diesen Tag nicht mehr erleben. Stalin setzte noch durch , dass die Ukraine und Weißrussland als selbstständige Staaten in die UNO aufgenommen würden , sodass der Sowjetunion in der Vollversammlung drei Stimmen zukämen ( ursprünglich forderte er für jede der 16 Sowjetrepubliken je eine Stimme ). Am 25. April 1945 trat die San-Francisco-Konferenz zusammen. Zugegen waren nur Vertreter jener 50 Staaten , die gegen die Achsenmächte im Krieg standen. Sie einigten sich gemäß den Beschlüssen von Dumbarton Oaks auf die Gründungsurkunde der UNO. Am 26. Juni unterzeichneten sie die Charta der Vereinten Nationen ( 111 Artikel ), welche nach ihrer Ratifizierung am 24. Oktober 1945 , dem „Tag der Vereinten Nationen“, in Kraft trat. Auf Empfehlung des Sicherheitsrates wählte 1946 die Generalversammlung den Norweger Trygve Lie zum ersten Generalsekretär. Ihm folgten 1953 der Schwede Dag Hammarskjöld , 1961 der Burmese Sithu U Thant , 1971 der Österreicher Kurt Waldheim , 1982 der Peruaner Javier Pérez de Cuéllar , 1992 der Ägypter Boutros Boutros-Ghali , 1997 der Ghanaer Kofi Annan und 2007 der Südkoreaner Ban Ki-moon. „Charta der Vereinten Nationen. Präambel : Wir , die Völker der Vereinten Nationen , fest entschlossen , künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren , die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat , unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen , an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit , an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen , ob groß oder klein , erneut zu bekräftigen , Bedingungen zu schaffen , unter denen Gerechtigkeit und Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können , den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern , und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als
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1. DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben , unsere Kräfte zu vereinen , um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren , Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen , die gewährleisten , dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird , internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen , um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern , haben beschlossen , in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken. Dementsprechend haben unsere Regierungen [ … ] diese Charta der Vereinten Nationen angenommen und errichten hiermit eine internationale Organisation , die den Namen „Vereinte Nationen“ führen soll.“7 B ) B ILANZ DES ZWEITEN WELTKRIEGES
Auf die Nachricht vom Scheitern der letzten Entlastungsoffensive setzte Adolf Hitler am 30. April 1945 um 15.30 Uhr seinem Leben durch einen Pistolenschuss ein Ende. Sieben Tage später unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl , Chef des Wehrmachtsführungsstabes , die Gesamtkapitulation der Deutschen Wehrmacht , am 9. Mai wurde dieser Akt vor den Sowjets durch Feldmarschall Wilhelm Keitl , den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht , wiederholt. Ab 9. Mai 0 Uhr schwiegen die Waffen. Die Mitglieder der letzten deutschen Reichsregierung unter Großadmiral Karl Dönitz , der von Hitler testamentarisch zum Reichspräsidenten bestellt worden war , wurden am 23. Mai von den Briten gefangen genommen. In Fernost dauerten die Kampfhandlungen noch an. Am 6. August 1945 ließen die USA über Hiroshima die erste , am 9. August über Nagasaki die zweite Atombombe explodieren. Tags zuvor , am 8. August , erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg ; die Rote Armee marschierte in der Mandschurei und in Korea ein und besetzte die Kurilen und Sachalin. Am 2. September unterzeichnete Kaiser Hirohito ( 1926–1989 ) an Bord des US-Schlachtschiffes „Missouri“ vor dem Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte im Pazifik , Douglas MacArthur ( 1941–1951 ), die Kapitulationsurkunde. Am 15. August hörten die Japaner zum ersten Mal die Stimme ihres Kaisers , als er in einer Radioansprache erklärte , er allein könne „das Unerträgliche ertragen“ und die Kapitulation befehlen : „An Unsere guten und getreuen Untertanen ! Nachdem Wir die allgemeine Weltlage und die besonderen Verhältnisse , die heute in Unserem Imperium herrschen , gründlich erwogen haben , beschlossen Wir , eine Regelung der gegenwärtigen Situation herbeizuführen , indem Wir zu einer außergewöhnlichen Maßnahme Zuflucht nehmen. [ … ] Die feierliche Verpflichtung , die Uns von Unseren kaiserlichen Vorfahren hinter7
Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs. Published by the United Nations of Public Information. Wien 2010 , S. 3 f.
B ) BILANZ DES ZWEITEN WELTKRIEGES lassen wurde und die Uns am Herzen liegt , ist es , den Wohlstand und das Glück aller Nationen ebenso wie die Sicherheit und das Wohl Unserer Untertanen zu erstreben. In der Tat , Wir erklärten Amerika und Großbritannien den Krieg in dem aufrichtigen Wunsch , Japans Selbsterhaltung zu sichern und Ostasien zu stabilisieren , und es lag Uns dabei fern , die Souveränität anderer Nationen zu verletzen oder auf territoriale Expansion abzuzielen. Aber nun hat der Krieg fast vier Jahre gedauert. Obwohl alle ihr Bestes getan haben – trotz des tapferen Kampfes der Luft- und Seestreitkräfte , trotz des Fleißes und der Emsigkeit Unserer Staatsdiener und trotz der ergebenen Dienste Unseres Hundert-Millionen-Volkes , hat sich die Kriegssituation nicht zu Japans Gunsten entwickelt , während sich die allgemeine Weltlage gegen Japans Interessen gewendet hat. Darüber hinaus hat der Feind begonnen , eine neue und überaus grausame Bombe einzusetzen , deren Zerstörungskraft wahrhaft unabsehbar ist [ … ]. Wie können Wir unter diesen Umständen Unsere Millionen Untertanen retten ; oder in Übereinstimmung mit den geheiligten Geistern Unserer kaiserlichen Vorfahren handeln ? Das ist der Grund , aus dem Wir befohlen haben , die Bedingungen der gemeinsamen Deklaration der Mächte anzunehmen. [ … ] Wir sind Uns der innersten Gefühle von euch allen , Unseren Untertanen , zutiefst bewusst. Es geschah jedoch unter dem Diktat der Zeit und des Schicksals , dass Wir uns entschlossen haben , für alle Geschlechter , die nach Uns kommen , den Weg für einen großen Frieden zu bereiten , indem Wir das Unerträgliche ertragen und das Unduldbare erdulden [ … ].“8
Die in der japanischen Hofsprache vorgetragene Rede blieb zwar den meisten Japanern unverständlich , dennoch erkannte die Bevölkerung ihren Sinn und war entsprechend erschüttert. Auf US-Druck verzichtete der Kaiser auf seine ihm nach shintoistischer Tradition zustehende Göttlichkeit , dafür wurde er im Tokioter Kriegsverbrecherprozess nicht angeklagt. Der größte Land- , See- und Luftkrieg der Geschichte kostete rund 55 Millionen Soldaten das Leben , 35 Millionen wurden verwundet , drei Millionen gelten als vermisst. Die Zahl der Ziviltoten war ähnlich hoch : 1,5 Millionen starben durch den Bombenkrieg , sieben Millionen durch Massenvernichtung ( darunter etwa sechs Millionen Juden ), 20 bis 30 Millionen infolge von Partisanenkämpfen , durch Racheakte , Deportation , Flucht und Vertreibung. Das Deutsche Reich hatte insgesamt 18,2 Millionen Mann mobilisiert ( davon knapp 1,3 Millionen Österreicher ), von ihnen fielen 5,3 Millionen ( darunter 261. 000 Österreicher ), das war jeder dritte eingerückte Soldat und jeder achte männliche Staatsbürger des Dritten Reiches.9 Den höchsten Blutzoll hatte die Sowjetunion mit 13,6 Millionen Wehrmachtsto8 9
Aus : Gerhard Jelinek : Reden , die die Welt veränderten. Salzburg 2009 , S. 173 f. Vgl. : Rüdiger Overmans : Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg = Schriftenreihe des militärgeschichtlichen Forschungsamtes 46 , München 3 2004.
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ten ( darunter 2,6 Millionen in Gefangenschaft Verstorbenen ) und sieben Millionen getöteten Zivilisten , also insgesamt einem Zehntel der Gesamtbevölkerung zu beklagen. In China kamen 6,4 Millionen Soldaten ums Leben , von den 1,7 Millionen im Krieg gebliebenen Jugoslawen waren 1,4 Millionen Zivilisten. Ein noch größeres Missverhältnis zwischen Zivil- und Militärverlusten gab es in Polen : Auf 100. 000 Wehrmachtstote kamen 4,2 Millionen getötete Zivilisten und 1,5 Millionen Verluste in den polnischen Ostgebieten. Japan beklagte etwa 1,8 Millionen Tote , Frankreich 600. 000 ( darunter 350. 000 Zivilisten ), Großbritannien 388. 000 ( darunter 62. 000 Zivilisten ) und die USA 259. 000 Gefallene. Der Zweite Weltkrieg war zum Teil mit dem Ziel geführt worden , durch Vernichtung , Vertreibung und Umsiedlung eine neue , nach ethnischen Grenzen orientierte Ordnung in Europa zu schaffen. Hitler hatte mit dieser Kriegspolitik begonnen , Stalin griff sie auf , und nach Kriegsende setzten die osteuropäischen Staaten unter sowjetischer Aufsicht und mit Billigung des Westens die „ethnischen Säuberungen“ fort , um allfälligen Minderheitenproblemen in Hinkunft vorzubeugen. Infolgedessen setzte während und nach dem Krieg in Europa ( ebenso wie in Asien ) die größte Völkerwanderung aller Zeiten ein. Allein aus Ostmitteleuropa waren zwischen 1939 und 1948 etwa 46 Millionen Menschen durch Flucht , Umsiedlung oder Zwangsarbeit entwurzelt worden.10 Von den zwölf Millionen heimatvertriebenen Deutschen waren fünf Millionen aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches vor der Roten Armee geflüchtet , sieben Millionen mussten ihre angestammten Wohngebiete in der Tschechoslowakei , in Polen , Rumänien , Jugoslawien und Ungarn verlassen. Die Zahl der Todesopfer unter den Flüchtlingen schwankt zwischen einigen Hunderttausend und zwei Millionen.11 Wollte man die Kriegskosten ermitteln , so gelangt man rasch in den Bereich des Unmöglichen , weil weder Menschenleben noch Verstümmelungen mit Geld zu bewerten sind ; auch die Heilungskosten Verwundeter lassen sich nicht feststellen , ebenso wenig wie die seelischen Leiden , die psychischen Traumata von Soldaten und Zivilisten , Kriegswitwen und -waisen , Opfern von Gefangenschaft , Beraubung und Vergewaltigung. Desgleichen sind die Schäden an zivilen Einrichtungen , die durch Kampfhandlungen oder Bombenkrieg entstanden sind , kaum zu beziffern. Die reinen Militärkosten ( Rüstungskosten , Betriebskosten , Personalkosten ) werden auf 1. 500 Milliarden US-Dollar ( zum Wert von 1945 ) geschätzt. Davon entfielen auf die USA 21 Prozent , auf Großbritannien 20 , auf Deutschland 18 und auf die Sowjetunion 13 Prozent. 10 Mark Mazower : Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert. Berlin 2000 , S. 311. 11 Heinz Nawratil : Die deutschen Nachkriegsverluste unter Vertriebenen , Gefangenen und Verschleppten. Mit einer Übersicht über die europäischen Nachkriegsverluste = Herbig Materialien zur Zeitgeschichte. München / Berlin 1986. – Theodor Schieder ( Hg. ): Dokumente der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Bonn 1953 ff.
C ) KRIEGSVERBRECHERPROZESSE
Europa hatte nun endgültig aufgehört , in der Weltpolitik den Ton anzugeben – dies blieb den beiden gestärkt aus dem Weltkrieg hervorgegangenen Supermächten USA und UdSSR für die kommenden vier Jahrzehnte vorbehalten. Großbritannien und Frankreich zählten zwar zu den Siegern , konnten aber ihren Großmachtstatus nicht halten und mussten in den Folgejahren ihr koloniales Imperium auflösen. Deutschland und Japan waren keine Großmächte mehr , ihre militärischen Ressourcen waren vernichtet , die Häfen zerstört , die Infrastruktur desolat und die Ernährungssituation kritisch. In die vom Bombenkrieg verwüsteten Städte strömten Millionen Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer. Allein Deutschlands Wirtschaftsdaten sprechen für sich : Die Reichsmark besaß infolge der Kriegswirtschaft und Schuldenpolitik keinerlei Wert , weil eine riesige Geldumlaufmenge auf ein unzureichendes Warenangebot stieß ; betrug 1938 die Geldumlaufmenge 60 Milliarden Reichsmark , so überschwemmten 1945 nicht weniger als 400 Milliarden den Markt. Die Kohleproduktion des Ruhrgebietes sank von monatlichen 400. 000 Tonnen im Jahr 1938 auf 25. 000 Tonnen 1945. Mit Kriegsende arbeiteten nur 15 Prozent der Fabriken mit fünf Prozent der Gesamtkapazität. C ) K RIEGSVERBRECHERPROZESSE
Bereits während der oben erwähnten Außenministerkonferenz von Moskau ( Oktober 1943 ) erklärten die Alliierten ihre Absicht , Kriegsverbrechen zu bestrafen. Auf Jalta ( Februar 1945 ) wurde dieses Vorhaben präzisiert , unmittelbar nach Kriegsende in Europa beschlossen die vier Besatzungsmächte in London ein Statut für ein internationales Militärtribunal. Dieses trat am 20. November 1945 in Nürnberg zusammen , wobei ein rückwirkendes alliiertes Recht erst geschaffen werden musste. Im Wesentlichen wurden drei Anklagepunkte verhandelt : Verbrechen der Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges , Kriegsverbrechen ( betraf insbesondere die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener ) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ( Massenmord an Zivilpersonen ). Der ehemalige US-Justizminister ( 1940/41 ) und Richter am „Supreme Court“ ( seit 1941 ), Robert Houghwout Jackson , fungierte im Nürnberger Prozess als Hauptankläger gegen die 24 deutschen Hauptkriegsverbrecher. Seine Eröffnungsrede lautete : „Hoher Gerichtshof ! Eine gerichtliche Verhandlung über Verbrechen gegen den Frieden der Welt zu eröffnen , wie sie hier zum ersten Mal in der Geschichte abgehalten wird , legt uns eine ernste Verantwortung auf. Die Untaten , die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen , waren so ausgeklügelt , so böse und von so verwüstender Wirkung , dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann , sie unbeachtet zu lassen , da sie eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben würde. Dass vier große Nationen , erfüllt von ihrem Siege und schmerzhaft gepeinigt von dem gesche-
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1. DAS ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES henen Unrecht , nicht Rache üben , sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes überlassen , ist eines der bedeutendsten Zugeständnisse , das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt hat. [ … ] Auf der Anklagebank sitzen einige zwanzig gebrochene Männer. Von der Demütigung derer , die sie einmal geführt , fast ebenso bitter geschmäht wie von dem Elend derer , die sie angegriffen , ist ihnen die Möglichkeit , jemals wieder Unheil zu stiften , für immer genommen. Man vermag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten , wie sie hier als Gefangene vor uns sind , kaum die Macht vorstellen , mit der sie als Nazi-Führer einst einen großen Teil der Welt beherrscht und fast die ganze Welt in Schrecken gehalten haben. Als Einzelpersonen gilt der Welt ihr Schicksal wenig. Da die Angeklagten aber unheilvolle Gewalten vertreten , die noch lange in der Welt umherschleichen werden , wenn sie selbst schon zu Staub geworden sind , ist diese Verhandlung von solcher Wichtigkeit. Sie sind lebende Sinnbilder des Rassenhasses , der Herrschaft des Schreckens und der Gewalttätigkeit , der Vermessenheit und Grausamkeit der Macht. Sie sind Sinnbilder eines wilden Nationalismus und Militarismus und all jener ständigen Umtriebe , die Generation auf Generation Europa in Kriege verstrickt , seine Männer vernichtet , seine Heime zerstört und sein Leben arm gemacht haben. [ … ] Wir werden Ihnen geduldig und mit Mäßigung enthüllen , für welche Dinge diese Männer einzustehen haben , wir werden Ihnen unwiderlegbare Beweise für unglaubliche Vorfälle unterbreiten. In der Liste der Verbrechen wird nichts fehlen , was krankhafte Überhebung , Grausamkeit und Machtlust nur ersinnen konnten. Diese Männer errichteten in Deutschland unter dem „Führerprinzip“ eine nationalsozialistische Gewaltherrschaft , der nur die Dynastien der östlichen Antike gleichkommen. Sie nahmen dem deutschen Volk all jene Würden und Freiheiten , die wir als natürliche und unveräußerliche Rechte jedes Menschen erachten. Stattdessen weckten sie im Volke hitzige und billig zu stillende Hassgefühle gegen jene , die als „Sündenböcke“ gekennzeichnet wurden. [ … ] Sie stachelten den deutschen Ehrgeiz auf , sich als eine „Herrenrasse“ zu fühlen , was natürlich Sklaventum für die anderen bedeutete. [ … ] Wir werden Sie , meine Herren Richter , nicht auffordern , sich Ihr Urteil über diese Männer nach dem Zeugnis ihrer Feinde zu bilden. Die Anklageschrift enthält nicht einen Punkt , der nicht durch Bücher und Aufzeichnungen belegt werden kann. Die Deutschen waren von je her peinlich genau in ihren Aktenaufzeichnungen , und die Angeklagten teilten durchaus die teutonische Leidenschaft für Gründlichkeit , Dinge zu Papier zu bringen. Auch waren sie nicht ohne Eitelkeit und deshalb häufig darauf bedacht , dass das Bild ihr Tun bezeuge. Wir werden Ihnen ihre eigenen Filme zeigen. Sie werden ihr eigenes Gehaben beobachten und ihre eigene Stimme hören , wenn die Angeklagten Ihnen von der Leinwand her noch einmal einige Ereignisse aus dem Verlaufe der Verschwörung vorführen werden. [ … ] Ich möchte die Beweisführung [ … ] eröffnen und mich mit dem gemeinsamen Plan oder der Verschwörung beschäftigen , deren Ziele nur durch Verbrechen gegen
C ) KRIEGSVERBRECHERPROZESSE den Frieden , durch Kriegsverbrechen und durch Verbrechen gegen die Menschlichkeit erreichbar waren.“12
Adolf Hitler und Propagandaminister Josef Goebbels hatten sich ebenso wie Innenminister und SS-Chef Heinrich Himmler durch Selbstmord der Verantwortung entzogen. Zwölf Personen wurden zum Tod durch den Strang verurteilt : Martin Bormann ( Chef der Reichskanzlei ; posthum ), Hans Frank ( Generalgouverneur von Polen ), Wilhelm Frick ( Reichsprotektor von Böhmen und Mähren ), Alfred Rosenberg ( Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ), Hermann Göring ( Reichsmarschall , Chef der Luftwaffe ), Alfred Jodl ( Generaloberst , Chef des Wehrmachtsführungsstabs ), Ernst Kaltenbrunner ( Chef des Reichssicherheitshauptamtes ), Wilhelm Keitl ( Generalfeldmarschall , Chef des Oberkommandos der Wehrmacht ), Joachim von Ribbentrop ( Außenminister ), Fritz Sauckel ( Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz ), Arthur Seyß-Inquart ( Reichskommissar in den Niederlanden ) und Julius Streicher ( Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“ ). Am 16. Oktober 1946 wurden die Verurteilten gehenkt , Göring gelang am Hinrichtungstag der Suizid. Rudolf Hess , Stellvertreter des Führers und Minister ohne Geschäftsbereich , wurde zu lebenslangem Kerker verurteilt ; er setzte 1987 , 93-jährig , seinem Leben ein Ende. Rüstungsminister und Architekt Albert Speer musste ebenso wie Reichsjugendführer und Gauleiter von Wien , Baldur von Schirach , 20 Jahre , Großadmiral und zuletzt Reichspräsident Karl Dönitz zehn Jahre im Spandauer Gefängnis in Berlin verbringen. Die Rechtmäßigkeit der Nürnberger Urteile wurde lange diskutiert , bisweilen wurde von Fehlurteilen der Siegerjustiz gesprochen – so wurde Alfred Jodl 1953 rehabilitiert , und 1959 erklärte das Oberste Gericht der BRD in Karlsruhe die Nürnberger Urteile für rechtswidrig , weil der Rechtsgrundsatz „nulla poena sine lege“ nicht beachtet worden war. Nach dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher folgten in den Jahren 1946 bis 1949 noch zwölf weitere Verfahren in Nürnberg gegen Funktionäre des NS-Regimes ; als verbrecherische Organisationen wurden eingestuft : SS , SD , GESTAPO sowie das Führungskorps der NSDAP , nicht jedoch die Reichsregierung , der Generalstab , das Oberkommando der Wehrmacht ( OKW ) und die SA. Von den 177 Angeklagten wurden zwölf hingerichtet und 35 freigesprochen ; die zu Gefängnisstrafen Verurteilten kamen alle 1956 frei. Unabhängig von den Nürnberger Prozessen führten die Besatzungsmächte eigenständig Kriegsverbrecherprozesse durch. In den drei westlichen Besatzungszonen wurden insgesamt 5025 Personen verurteilt , davon 806 zum Tode ; 481 Todesstrafen wurden auch vollstreckt. In der sowjetischen Besatzungszone wurden geschätzte 45. 000 Personen verurteilt , die Zahl der Hinrichtungen ist nicht bekannt. Staaten , die von Deutschland besetzt worden waren , 12 Original in : Staatsarchiv Nürnberg , Bestand KV-Prozesse IMT , Nr. B 150.
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wie Belgien , Frankreich , Jugoslawien , Polen , Tschechoslowakei und Sowjetunion , führten in Eigenverantwortung Kriegsverbrecherprozesse durch. Auch in Japan wurde ein internationales Militärtribunal eingerichtet. Die unter Vorsitz des US-Richters John P. Higgins geführten Tokioter Prozesse dauerten von 1946 bis 1948. Insgesamt wurden sieben höchste Politiker und Militärs zum Tode verurteilt und hingerichtet. Prominentester unter ihnen war Hideki Tojo , von 1941 bis 1944 Ministerpräsident und anschließend Chef des Generalstabes ; er galt als wesentlicher Befürworter der expansionistischen Außenpolitik und hatte das parlamentarische System durch eine totalitäre Regierung ersetzt. Je nach Schwere des Verbrechens gab es unterschiedlich lange Gefängnisstrafen , 15 Personen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt ; etliche starben im Gefängnis , wer überlebte , kam 1954/55 frei. Noch unter der Militärregierung von General Douglas MacArthur ( siehe Kap. 1.B ) verabschiedete Japan 1947 eine nach US-Richtlinien entworfene Verfassung , in der dem Kaiser nur mehr eine symbolische Rolle zugewiesen wurde. Infolge des Koreakrieges erhielt Japan im Friedensvertrag von San Francisco ( 8. September 1951 ) seine volle Souveränität zurück , wurde aber territorial auf den Besitzstand des Jahres 1854 beschränkt. Die Sowjetunion verweigerte die Unterzeichnung des Vertrages.
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2. DER KALTE KRIEG Dem totalen Krieg folgte ein totaler Frieden. Bald stellte sich jedoch die Frage , ob nicht die USA sowohl in Fernost13 als auch in Europa den Krieg zwar gewonnen , den Frieden aber verloren hatten. Denn die Nachkriegsordnung entsprach in keiner Weise ihren Interessen. Die Westmächte hatten wohl mit Hitler-Deutschland und mit Japan zwei gefährliche Feinde niedergerungen , dabei aber der Sowjetunion als erklärtem Systemfeind die Möglichkeit gegeben , zur konkurrierenden Supermacht aufzusteigen. Tatsächlich bewirkten die Kampfhandlungen der letzten Kriegsmonate , dass die Rote Armee in Asien weit nach China und Korea vorgedrungen war und in Europa Rumänien , Bulgarien , Polen , Ungarn und Jugoslawien besetzt hielt. Mithilfe der militärischen Besatzung konnte die Sowjetunion genügend Druck auf die jeweiligen Staaten ausüben , um den ohnehin schon relativ starken kommunistischen Parteien zur Übernahme der Regierung zu verhelfen. US-Präsident Harry Truman ( 1945–1953 ) hielt zunächst – in Fortsetzung der Politik Roosevelts – Stalins Vorgehen als Akt legitimer sowjetischer Sicherheitsinteressen. Nach und nach erkannte er freilich die Gefahr , welche dem Weltfrieden drohte , wenn man dem sowjetischen Diktator nicht mit eiserner Faust entgegenkam. Er gewann die Überzeugung , dass Stalins Argumente nur in die Kategorie „Macht“ passten , und dass er nur die Sprache der militärischen Überlegenheit verstand. A ) P OLITISCHE BEGRIFFE DES KALTEN KRIEGES
Als sichtbar wurde , dass die Sowjetunion ihren Einflussbereich in Europa nahezu hermetisch von der restlichen Welt abschloss , meinte Churchill 1946 , ein Eiserner Vorhang sei nun zwischen den westlichen und östlichen Staaten des Kontinents heruntergefallen. Touristen aus dem Westen durften zwar in die Ostblockstaaten reisen , umgekehrt war dies aber nicht möglich. Die augenfälligsten Abschnitte des Eisernen Vorhanges lagen an der deutschen Zonengrenze , insbesondere in Berlin ( 1961 : Berliner Mauer , siehe Kap. 3.B ). Der Begriff Kalter Krieg wurde von US-Journalisten geprägt und war seit 1947 allgemein gebräuchlich. Dieser Krieg zwischen den Supermächten USA und UdSSR wurde wie ein „totaler Krieg“ mit allen Mitteln geführt. Es konkurrierten zwei einander ausschließende Systeme , die sich jeweils von der anderen Seite bedroht fühlten und – mit Ausnahme von Atomwaffen – sämtliche verfügbaren Ressourcen mobilisierten , um den Gegner zu schwächen : Die Palette an feindseligen Maßnahmen reichte von der Organisation militärischer und wirtschaftlicher Bünd13 Daniel Yergin : Der zerbrochene Frieden. Der Ursprung des Kalten Krieges und die Teilung Europas. Frankfurt am Main 1979.
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nisse über handelspolitische Kampfmaßnahmen ( z. B. Embargo ), Förderung von Putschen und Staatsstreichen im anderen Lager bis zu indirekten oder gar direkten Kriegsdrohungen. Da die Ost-West-Konfrontation nicht auf die Zentren Europa und Ostasien beschränkt blieb , sondern bis in die peripheren Räume Afrikas , Asiens und Lateinamerikas getragen wurde , handelt es sich um eine globale Auseinandersetzung , die auch als Dritter Weltkrieg bezeichnet werden kann. Jedenfalls forderte er über 30 Millionen Todesopfer und kostete mehr als zehn Trillionen USDollar.14 Nur in Europa blieb der Kalte Krieg wirklich „kalt“, in anderen Kontinenten war er also außerordentlich „heiß“. Das Jahr 1947 wurde zu einem „Schlüsseljahr“ im Kalten Krieg : In den osteuropäischen Staaten waren die kommunistischen Gleichschaltungsmaßnahmen bereits weit gediehen , in China und Griechenland tobte der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Antikommunisten , und in der Türkei , im Iran , in Nordkorea sowie in der Mandschurei konnte die Sowjetunion ihre Machtposition entscheidend verstärken. Zugleich drohte auch Westeuropa politisch zu kippen : Schlechte Wirtschaftsdaten und Versorgungsengpässe sowie eine hohe Arbeitslosigkeit in den westdeutschen Besatzungszonen , in Frankreich und in Italien führten zu Massenstreiks und politischen Anschlägen. So hatte es den Anschein , als wollten die Kommunisten zum großen Schlag ausholen. Daher sahen sich die USA zu sofortigen Gegenmaßnahmen veranlasst. Truman versprach in einer Rede vor dem Kongress ( 12. März 1947 ), die USA würden die Verpflichtung übernehmen , „alle freien Völker zu unterstützen , die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen widersetzen“ ( Truman-Doktrin ).15 Als Sofortmaßnahme wurde Griechenland und der Türkei , etwas später auch China eine massive Militär- und Wirtschaftshilfe zugesagt. Vor allem musste Westeuropa durch eine großzügige Unterstützung für den Wiederaufbau stabilisiert werden ( Marshallplan , siehe Kap. 3.A ), die Politik der Eindämmung ( Containmentpolitik ) sollte den expansionistischen Tendenzen des Weltkommunismus fortan Einhalt gebieten ( Scheitern der Containmentpolitik im Vietnamkrieg , siehe Kap. 2.B ). Noch im September 1947 reagierte die kommunistische Seite mit der Gründung des „Informationsbüros der kommunistischen und Arbeiterparteien“ ( Kominform , 1956 aufgelöst ), welches die kommunistischen Agitationen in Europa zu koordinieren 14 Klaus-Jürgen Gantzel , Torsten Schwinghammer : Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg 1945–1992. Daten und Tendenzen. München 1995. – Valerij N. Vartanov : Die Sowjetunion in Lokalkriegen und bewaffneten Konflikten in der Zeit des Kalten Krieges. In : Stefan Karner , Erich Reiter , Gerald Schöpfer ( Hgg. ): Kalter Krieg. Beiträge zur Ost-West-Konfrontation 1945 bis 1990. Wien 2002 , S. 60. 15 Bernd Stöver : Die Befreiung vom Kommunismus. Amerikanische Liberation Policy im Kalten Krieg 1947–1991. Köln 2002.
A ) POLITISCHE BEGRIFFE DES KALTEN KRIEGES
hatte. Stalin propagierte von nun an die „Zwei-Lager-Theorie“: Die Sowjetunion und ihre Verbündeten sowie die USA und deren Verbündete stünden einander wie zwei unversöhnliche Lager gegenüber. Mit einer politischen Offensive ohnegleichen sollte das kapitalistische Lager gelähmt werden : Grundsätzlich wurde jegliche Kooperation mit den USA vermieden , daher wurde auch die Politik der Vereinten Nationen durch die systematische Anwendung des Vetorechts im Weltsicherheitsrat blockiert. Nicht zuletzt ergriff die UdSSR eine vermeintliche Friedensoffensive zur geistigen Unterwanderung des Westens : Mithilfe der orthodoxen Kirche ( 1948 Moskauer Kirchenversammlung ), eines Weltfriedenskongresses ( Paris und Prag 1949 ), der Gründung eines Weltfriedensrates ( 1950 ) und der Initiative für einen Völkerkongress zum Schutze des Friedens ( Wien 1952 ) sollten der Welt die friedlichen Absichten der Sowjetunion im Gegensatz zur aggressiven Hochrüstung der USA vor Augen geführt werden. Stalins Nachfolger Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ( Chruščev , 1. Parteisekretär 1953–1964 ) ersetzte die Zwei-Lager-Theorie durch die Politik der „friedlichen Koexistenz“ ( siehe unten ). Der chinesische Staatschef Mao Zedong ( 1949–1976 ) hingegen hielt an der Zwei-Lager-Theorie fest und überwarf sich nicht zuletzt ihretwegen 1960 mit der Sowjetunion. Als Reaktion auf die Machtergreifung der Kommunisten in der Tschechoslowakei und die Berlinblockade ( siehe unten ) verhängten die USA ein Embargo für alle kommunistischen Staaten. Die Sowjetunion antwortete am 25. Januar 1949 mit der Gründung des RGW ( Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe ) bzw. COMECON ( Council of Mutual Economic Assistance ) als Gegengewicht zum Internationalen Währungsfonds und insbesondere zum Marshallplan ( OEEC ).16 Gedacht war an eine Koordinierung der nationalen Volkswirtschaftspläne im Sinne einer Arbeitsteilung der Mitgliedsländer. In der Realität beschränkte sich der Außenhandel jedoch auf bilaterale Geschäfte , wobei mangels konvertierbarer Währungen der „Transferrubel“ als Verrechnungsbasis galt. 1991 wurde der insgesamt mäßig effiziente RGW , dem auch außereuropäische Staaten wie Kuba , Vietnam oder Afghanistan angehörten , aufgelöst. Unter dem Eindruck des sich verschärfenden Ost-West-Konfliktes und der Tatsache , dass in Europa den 200 sowjetischen Divisionen lediglich 14 westeuropäische Divisionen gegenüberstanden , schlossen die freien demokratischen Staaten des Kontinents mit den USA am 4. April 1949 den Nordatlantikpakt ( NATO = North Atlantic Treaty Organisation ). Die Mitglieder verpflichteten sich zu einem friedlichen Ausgleich bei Konflikten untereinander , zur politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit und zur gegenseitigen Konsultation. Der bewaffnete Angriff auf eines der Mitglieder bedeutet den Angriff auf alle Mitglieder , es herrscht 16 Alexander Uschakow : Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe ( COMECON ). Köln 1962.
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aber keine automatische militärische Beistandsverpflichtung. Dennoch bewies das militärische Konzept eine glaubwürdige Abschreckung für den Fall einer bewaffneten Aggression gegen eines der Mitglieder. Bis 1967 galt für die NATO die Verteidigungsdoktrin einer „massiven Vergeltung“ auf Basis der Überlegenheit an Kernwaffen. Angesichts des seit den 1960er-Jahren eingetretenen atomaren Gleichgewichts der Supermächte ( „Gleichgewicht des Schreckens“ ) wurde 1967 die Doktrin der „flexiblen Reaktion“ entwickelt , nach welcher auf die jeweilige Art der Aggression angemessen , also „flexibel“ reagiert werden sollte. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums änderte die NATO ihren Einsatzgrundsatz dahingehend , nun nicht mehr einer aktuellen Bedrohung entgegenzuwirken , sondern das Risiko von Konflikten jeder Art zu vermeiden. Während der Präsidentschaft von Dwight David Eisenhower ( 1953–1961 ) propagierte der US-Außenminister John Foster Dulles ( 1953–1959 ) die – nicht realisierte – Politik des „Rollback“: Angesichts der mäßig zufriedenstellenden Containmentpolitik ( siehe oben ) und im Bewusstsein der nuklearen Überlegenheit sollten die USA die kommunistische Macht zurückdrängen ( „zurückrollen“ ) und dabei eventuell auch einen Krieg riskieren. Um die globale Machtverteilung zu ändern , wurde rund um die Sowjetunion ein Gürtel von Stützpunkten mit Atomraketen errichtet , ferner initiierten die USA neben der NATO auch die Gründung anderer Militärbündnisse : ANZUS-Pakt für den Pazifik-Raum ( 1951 ), SEATO für Südostasien ( 1954 ), CENTO- oder Bagdad-Pakt für den Mittleren Osten ( 1955 ). Anlässlich der Aufnahme der BRD in die NATO rief die Sowjetunion am 14. Mai 1955 den Warschauer Pakt , das Militärbündnis der kommunistischen Staaten Europas unter Moskaus Führung , ins Leben.17 Die Terminwahl konnte kein Zufall sein , denn tags darauf unterzeichnete der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow ( 1939–1949 , 1953–1956 ) in Wien den österreichischen Staatsvertrag , womit die UdSSR vor der Weltöffentlichkeit ihren vermeintlichen Friedenswillen demonstrierte ; in der Sowjetpropaganda galt ja das Militärbündnis als Antwort auf das vermeintlich aggressive Verhalten der westlichen Allianz. Die Vertragspartner verpflichteten sich zu Konsultationen in Fragen der internationalen Politik , zu gegenseitigem militärischen Beistand und zur Unterstellung ihrer Streitkräfte unter ein gemeinsames Oberkommando ( mit Sitz in Moskau ). Die Militärdoktrin ging von der eigenen zahlenmäßigen Überlegenheit aus , um im Falle eines Krieges die Kampfhandlungen ausschließlich auf gegnerischem Gebiet auszutragen. Im Frieden diente der Warschauer Pakt der Erhaltung des Kommunismus und der sowjetischen Hegemonie , im gedachten Krieg gegen die NATO sollte er zum Sieg des Kommunismus und zur Weltrevolution führen. In der Praxis dienten die Verbände des War17 Alexander Uschakow : Der Warschauer Pakt und seine bilateralen Bündnisverträge. Analyse und Texte. Berlin ( West ) 1987.
A ) POLITISCHE BEGRIFFE DES KALTEN KRIEGES
schauer Paktes zur Niederschlagung von Separationsversuchen 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Als Rechtfertigung für den Einmarsch in der Tschechoslowakei , der den „Prager Frühling“ jäh beendete ( siehe unten ), ließ Moskau die Breschnew-Doktrin ( benannt nach dem Generalsekretär der KPdSU , Leonid Breschnew [ Brežnev , 1966–1982 ] ), verlauten : „Die Souveränität eines einzelnen kommunistischen Staates findet ihre Grenzen an den Interessen der kommunistischen Gemeinschaft.“ 1991 wurde der Warschauer Pakt formell aufgelöst. Ein Jahr nach Gründung des Warschauer Paktes und in der festen Überzeugung , die Sowjetunion würde binnen eines Jahrzehnts die USA in der Pro-Kopf-Produktion überholen , verkündete Partei- und Regierungschef Nikita Sergejewitsch Chruschtschow den neuen sowjetischen Außenkurs , die Politik der „friedlichen Koexistenz“: Die beiden Systeme Kapitalismus und Sozialismus stünden im friedlichen Wettbewerb zueinander. Weil dies ein Ende der stalinschen „Zwei-Lager-Theorie“ bedeutete , rückten die USA auch von der Idee des „Rollback“ ab. Sie glaubten , fortan würden die beiden Supermächte die Welt bzw. ihre Interessenssphären untereinander aufteilen und friedlich nebeneinander existieren. In Wahrheit aber verstand Chruschtschow unter „friedlicher Koexistenz“ niemals ein Friedensangebot an die andere Seite , für ihn bedeutete sie den Klassenkampf mit dem Ziel der Weltrevolution , also die Durchdringung des Westens mit den Ideen des Marxismus-Leninismus , allerdings ohne bewaffnete Konfrontation , dafür aber mit ideologischer Unterwanderung. Chruschtschows Nachfolger , Ministerpräsident Aleksej Nikolajewitsch Kossygin ( 1964–1980 ), erläuterte dies am 6. Februar 1965 in der „Prawda“: „Die Politik der friedlichen Koexistenz [ … ] ergibt sich aus der Unzulässigkeit der Gewaltanwendung bei der Lösung strittiger Fragen zwischen Staaten. Doch das bedeutet keinesfalls , dass das Recht der Völker , mit der Waffe in der Hand einer Aggression Widerstand entgegenzusetzen oder für die Befreiung von ausländischen Unterdrückern zu kämpfen , aufgehoben wäre. Denn es ist ein heiliges und unveräußerliches Recht , und die Sowjetunion hilft ohne Wenn und Aber allen.“18
Infolgedessen unterstützte die Sowjetunion auch die von England sich über Frankreich nach Deutschland ausbreitende Friedensbewegung , welche sich in breit angelegten Protesten gegen die staatliche Rüstungspolitik , gegen das Wettrüsten und insbesondere gegen die NATO manifestierte. Der Westen antwortete verspätet , indem er im Ostblock Regimegegnern und Dissidenten ideellen und materiellen Rückhalt bot ; als Angehörige einer Bürgerrechtsbewegung konnten sie sich auf die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( KSZE ) und ihre 1975 verabschiedete Schlussakte von Helsinki ( siehe Kap. 2.C ) 18 Aus : Bernd Stöver , a. a. O. , S. 388.
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berufen und die jeweilige Staats- und Parteiführung auffordern , die Grund- und Menschenrechte einzuhalten. Die beiden Weltmächte vermieden also die direkte bewaffnete Konfrontation , trugen aber ihre politischen Gegensätze in peripheren Weltgegenden aus. Dort beteiligten sie sich an Konflikten , die sich entweder an regionalen Motiven entzündeten oder direkt von ihnen geschürt wurden. Für solche Stellvertreterkriege stellten sie Berater , Geld und Waffen zur Verfügung , den beteiligten Staaten gewährten sie Garantien und übernahmen für sie Verpflichtungen. Zugleich unterstützten sie Terrorgruppen zur Destabilisierung der Gegenseite. So förderten die USA neben zahlreichen Terrorgruppen in Afrika und Asien , welche gegen den Kommunismus kämpften , wie die „Contras“ in Nicaragua oder die al-Qaida in Afghanistan , auch die „KgU“ ( „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ ) in Westberlin sowie die in 16 westeuropäischen Staaten aufgestellte „GLADIO“, die bereit war , im Kriegsfalle hinter den feindlichen Linien zu operieren ( sie kam nie zum Einsatz ). Die Sowjetunion wiederum unterstützte unter anderem die RAF ( „Rote-Armee-Fraktion“ ), die italienischen „Roten Brigaden“, die baskische ETA , die nordirische IRA , die Gruppe rund um den Terroristen „Carlos“ und im Nahen Osten die PLO , Al Fatah sowie die von ihr abgespaltene PFLP ( „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ ). B ) D IE PHASEN DES KALTEN KRIEGES
Die viereinhalb Jahrzehnte währende Periode des Kalten Krieges19 verläuft keineswegs einheitlich , vielmehr lässt sie sich in mehrere Phasen gliedern , wobei es angesichts der Komplexität der Ereignisse zeitliche und räumliche Überschneidungen gibt. Zu einer formellen Kriegserklärung kam es nie , trotzdem kann man von einer Phase der Eröffnung des Krieges sprechen ( 1945–1947 ), in der sich die Fronten dermaßen verhärteten , dass man in dem einstigen Alliierten einen gefährlichen Feind sah. In diese Zeit fällt das aggressive Vordringen des Kommunismus in Europa und Asien und als Antwort darauf die Truman-Doktrin sowie die ERP-Hilfe ( Marshallplan ). Der amerikanischen Containment-Politik stand die sowjetische Zwei-Lager-Theorie als außenpolitischer Grundsatz gegenüber. In der zweiten Phase des Kalten Krieges ( 1948–1957 ) setzte die Blockbildung ein : 1948 schlossen die BeNeLux-Staaten eine Zollunion ; ein weiterer , entscheidender Baustein für ein wirtschaftlich zusammenwachsendes Westeuropa wurde zwei Jahre später mit der Montanunion ( „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, 19 David Horowitz : Kalter Krieg. Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam. 2 Bde. , Berlin 1965. – Jeremy Isaacs , Taylor Downing : Der Kalte Krieg. Eine illustrierte Geschichte 1945–1991. München 1991. –Bernd Stöver : Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991. München 2007.
B ) DIE PHASEN DES KALTEN KRIEGES
EGKS ) gesetzt : Sie war die weltweit erste Organisation , in der die Mitgliedsländer Teile ihrer Souveränität an eine übergeordnete Zentrale abgaben. Aus BeNeLux , EGKS und EURATOM ( Europäische Atomgemeinschaft ) wurde 1957 die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ ( EWG ). 1949 , im Jahr der Staatengründung von BRD und DDR , schuf die Sowjetunion das Wirtschaftsbündnis RGW ( COMECON ), während die USA die NATO ins Leben riefen. Anlässlich des Koreakrieges ( 1950– 1953 ) planten die demokratischen Staaten Europas 1949 eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ ( EVG ), die dann in die „Westeuropäische Union“ ( WEU ) umgebildet wurde ( 1954 ) und sich dem NATO-Oberbefehl unterstellte. ( Erst 2010 wurde die WEU auf Beschluss der zehn Vollmitglieder Frankreich , Großbritannien , BRD , BeNeLux-Staaten , Italien , Spanien , Portugal und Griechenland aufgelöst. ) Als Gegengewicht zur WEU gründete die UdSSR 1955 den Warschauer Pakt , obwohl von der WEU niemals eigene Truppenkontingente aufgestellt wurden. 1956 verkündete die Sowjetunion die „Politik der friedlichen Koexistenz“. Die Existenz der beiden Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt beherrschten jahrzehntelang das politische und militärische Denken der Staaten Europas. Selbst das neutrale Österreich , das in seiner Wahrnehmung die NATO als freundliches , den Warschauer Pakt jedoch als bedrohliches Gebilde ansah , spielte in den Planungen von Ost und West eine wesentliche Rolle und war tatsächlich aufgrund seiner eigenen militärischen Schwäche einer vielfältigen Bedrohung ausgesetzt.20 Die dritte Phase des Kalten Krieges ( 1948–1962 ) brachte die Rüstungsspirale zum Drehen , die globalen Gegensätze eskalierten und führten die Welt an den Rand des Atomkrieges ; zugleich erstarrten die politischen Systeme in Europa. Seit 1949 verfügte auch die Sowjetunion über die Atombombe. Als sie 1957 mit dem Sputnik den ersten Satelliten um die Erde schoss , löste diese technische Leistung in den USA einen gewaltigen Schock aus , weil die Sowjets nun in der Lage waren , mit atombombenbestückten Raketen jeden Punkt der Erde zu treffen. Angriffsraketen , Abfangraketen , atombetriebene U-Boote als Raketenbasen usw. zählten fortan zum Rüstungsprogramm beider Supermächte. In der ersten Berlinkrise ( 1948/49 ) operierten zwar die beiden Supermächte direkt gegeneinander , scheuten jedoch vor einem Waffeneinsatz zurück. Der Koreakrieg ( 1950–1953 , siehe Kap. 4.C ) blieb trotz seiner ungeheueren Opfer regional begrenzt , zumal zwar China , nicht aber die Sowjetunion beteiligt war. Gefährlich wurde die Lage 1956 anlässlich der Suezkrise ( siehe Kap. 6.B ), als die Sowjetunion mit dem Raketenbeschuss westeuropäischer Städte drohte. Die sich gleichzeitig ereignende Tragödie des ungarischen Volksaufstandes geriet dabei aus dem Blickwinkel der Weltöffentlichkeit. Der Westen versäumte in Un20 Mario Duić : Unbewältigte Landesverteidigung. System und Verantwortung , Mängel und Chancen. Graz / Wien / Köln 1977. – Manfried Rauchensteiner ( Hg. ): Zwischen den Blöcken. NATO , Warschauer Pakt und Österreich. Wien / Köln / Weimar 2010.
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garn die Chance , das Gebäude des Ostblocks vielleicht doch noch zum Wanken zu bringen. Der Bau der Berliner Mauer 1961 ( siehe Kap. 3.B ) symbolisiert die Erstarrung der Fronten in Europa ; bis 1989 sollte sich keine Veränderung der politischen Systeme auf dem Alten Kontinent ergeben. Waren es anlässlich der Suezkrise die USA , welche die gespannte Lage entschärften , so lenkte letztlich die Sowjetunion in der noch weit gefährlicheren Kubakrise ( 1962 , siehe Kap. 9.C ) ein und beorderte die Raketen aus der Karibikinsel zurück , als US-Präsident John Fitzgerald Kennedy ( 1961–1963 ) mit deren Bombardierung drohte.21 In unmittelbarer Folge installierten die Supermächte zur Verbesserung des Krisenmanagements den „heißen Draht“, die direkte Telefonverbindung Kreml – Weißes Haus.22 Um den Sowjets fortan entgegenzukommen , rüsteten die USA etwas ab , die UdSSR aber rüstete massiv auf , um nie wieder „schmachvoll“ nachgeben zu müssen. Mit der vierten Phase verlagerte sich der Kalte Krieg endgültig in die Dritte Welt. Dort begann das Zeitalter der Stellvertreterkriege , zugleich erlebten drei Großmächte ihre katastrophalen Niederlagen ( siehe Kap. 4.D ; 5.C ): Der erste Indochinakrieg ( 1946–1955 ) stürzte Frankreich ins Desaster , der zweite Indochinakrieg ( 1964–1973/75 ) die USA , der Afghanistankrieg ( 1979–1989 ) die UdSSR. Das krisengeschüttelte Afrika erlebte ab ca. 1960 seinen Entkolonialisierungsprozess und in diesem Zusammenhang eine Reihe von Sezessionskriegen , bei denen die Supermächte eifrig mitmischten ( z. B. Biafra / Nigeria 1967–1970 , Sudan 1983–1989 ). Auch nützten sowohl die USA als auch die UdSSR die zahlreichen Stammesrivalitäten und Rebellionen , um auf dem Schwarzen Kontinent Fuß zu fassen. Ab 1961 unterstützten die Sowjets die sogenannten „Frontstaaten“ gegen das Apartheidregime in Südafrika , ab 1966 auch jene gegen Rhodesien. Auf Moskaus Veranlassung griff Kuba mit massiven Kräften in Angola und Moçambique ( 1975–1989 ), in Namibia ( 1978–1988 ) und in Äthiopien ( 1978–1989 ) ein. Infolge der Suezkrise verfügte die Sowjetunion über einen Flottenstützpunkt in Ägypten ( 1956–1977 ), anlässlich der Nahostkriege ergriff Moskau , der Logik des Kalten Krieges folgend , Partei der Palästinenser , während Israel auf das enge Bündnis mit den USA vertrauen durfte. In Lateinamerika gewann Moskau mit Kuba 1961 einen dauerhaften , mit Bolivien , Peru , Chile und Nicaragua einen zeitweiligen Partner. Parallel zu den vier oben genannten Phasen gab es immer wieder Phasen der Entspannung ( 1953–1979 ), erstmals nach dem Tod Stalins ( 1953 ) durch Chruschtschows „Entstalinisierung“ ( 1956 ). Ebenso war der österreichische Staatsvertrag 21 Dimitrij N. Filippovych , Matthias Uhl ( Hgg. ): Vor dem Abgrund. Die Streitkräfte der USA und der UdSSR sowie ihrer deutschen Bündnispartner in der Kubakrise. München 2005. 22 Klaus Schoenthal ( Hg. ): Der neue Kurs. Amerikas Außenpolitik unter Kennedy 1961– 1963. München 1964.
B ) DIE PHASEN DES KALTEN KRIEGES
( 1955 ) ein Zeichen der Entspannung ,23 desgleichen die Verlegung des „heißen Drahtes“ nach der Kubakrise ( 1962 ). Auch bedeuteten die „Gipfeltreffen“ zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Staatsoberhaupt immer wieder Momente der Entspannung ( erstmals 1961 : Chruschtschow-Kennedy ;24 zuletzt 1985 : Gorbatschow-Reagan ). Den vielleicht wichtigsten Beitrag für ein friedliches Ende des Kalten Krieges brachte die „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ ( KSZE ) 1973 und ihr in den Schlussakten von Helsinki ( 1975 ) zusammengefasstes Ergebnis ( siehe Kap. 2.C ). Dieses auch von den kommunistischen Staaten unterzeichnete Dokument enthielt nicht nur militärische und politische „vertrauensbildende Maßnahmen“, sondern auch die Verpflichtung , die Menschen- und Bürgerrechte zu beachten. Darauf beriefen sich nun die im Ostblock immer stärker werdenden Dissidentenbewegungen , die schließlich einen wesentlichen Beitrag zum Fall des Eisernen Vorhanges ( 1989 ) leisteten. Das tatsächliche Ende des Kalten Krieges leitete aber dessen sechste Phase ein , als die Supermächte ihre letzte Konfrontation riskierten ( 1979–1989 ): Angesichts der wachsenden Überlegenheit des Warschauer Paktes seit den 1970er-Jahren und der Stationierung von nuklear bestückten Mittelstreckenraketen ( SS–20-Raketen ) nahmen die Westmächte den überraschenden Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan ( 1979 , siehe Kap. 5.C ) zum Anlass für die Nachrüstung der NATO. Die Initiative ging vom deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt ( 1974–1982 ) und vom US-Präsidenten Jimmy Carter ( 1976–1981 ) aus und wurde im NATO-Doppelbeschluss ( 12. Dezember 1979 ) formuliert : Sollten die Sowjets ihre entsprechenden Waffen nicht abbauen , würde die NATO ab Ende 1983 neue nuklear bestückte Mittelstreckenraketen aufstellen. Als die diesbezüglichen Verhandlungen scheiterten , begann die NATO mit der Stationierung ihrer Raketen. 1985 setzten die Sowjets – nicht zuletzt unter dem Eindruck der von den USA geplanten „Strategischen Verteidigungsinitiative“ ( SDI ) – die Verhandlungen fort und einigten sich mit den USA 1987 auf die beidseitige „doppelte Nulllösung“. Die siebente Phase des Kalten Krieges bedeutete auch dessen Ende. Der seit 1985 amtierende 1. Generalsekretär der KPdSU , Michail Gorbatschow ( Gorbačev ), musste erkennen , dass die Sowjetunion im Rüstungswettlauf mit den USA nicht bestehen konnte. Um den Kommunismus zu retten , leitete er umfangreiche Reformen ein , die jedoch vonseiten der eigenen Partei und des Geheimdienstes systematisch sabotiert wurden. Da die kommunistischen Parteien in den anderen Ostblockländern dem Reformdruck der Bürger nicht standhalten konnten , mussten sie 23 Peter Ruggenthaler : Zur Bedeutung der österreichischen Neutralität für Nikita Chruščev und die sowjetische Außenpolitik. In : Historicum , Frühling / Sommer 2010 , S. 64–69. 24 Vgl. die Aufsätze von Stefan Karner , Barbara Stelzl-Marx , Günter Bischof und Martin Kofler sowie Ingrid Bauer in : Historicum , Frühling / Sommer 2010.
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1989 , im Jahr der Wende ( siehe Kap. 10.B ), demokratische Wahlen zulassen. Damit endeten die Volksdemokratien in Europa. Im Jahr 1990 wurde die deutsche Einheit wieder hergestellt , am 31. Dezember 1991 erklärte Gorbatschow die Sowjetunion für aufgelöst. Zwei einander ausschließende Weltsysteme beendeten ihren Kampf. Die USA gingen als Sieger aus dem Kalten Krieg , dem Dritten Weltkrieg , hervor. C ) KONFERENZ FÜR SICHERHEIT UND ZUSAMMENARBEIT IN EUROPA
Trotz mancher Entspannungsversuche herrschte tiefes Misstrauen zwischen den Supermächten. Zugleich wurde offenkundig , dass in den Staaten der Dritten Welt auf immer dramatischere Weise die Menschenrechte verletzt wurden. In Erkenntnis dieser Tatsachen suchten die europäischen Staaten ebenso wie die USA und die Sowjetunion nach Regeln , welche die gemeinsame Sicherheit gewährleisten könnten. 1973 trafen einander in Helsinki die Vertreter der NATO , des Warschauer Paktes sowie der neutralen und blockfreien Staaten Europas zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( KSZE ), um über vertrauensbildende Maßnahmen zu beraten. Dazu gehörten nicht nur die gegenseitige Beobachtung bei militärischen Manövern ( mit mehr als 25. 000 beteiligten Soldaten ), sondern auch eine bessere politische , wirtschaftliche , wissenschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit , ferner die Lösung von grenzüberschreitenden Umweltproblemen , Fragen der Abrüstung usw. Anno 1975 wurde die Schlussakte von Helsinki verabschiedet : Auf Basis souveräner Gleichheit bekannten sich alle Unterzeichnenden zur Enthaltung von Androhung und Anwendung jeglicher Gewalt , zur Unverletzlichkeit der Grenzen , zur territorialen Integrität der Staaten , zur friedlichen Regelung in Streitfragen und zur Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Ferner sollten sich alle Regierungen für die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten , für die Gleichberechtigung und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie für die Zusammenarbeit der Staaten einsetzen.25 Die Schlussakte von Helsinki ( 1. August 1975 ) hatte nicht den Charakter eines verbindlichen Abkommens , vielmehr war sie lediglich eine Absichtserklärung. Allerdings galt sie in gewissem Sinne als Richtlinie , an der die Regierungen bewertet werden konnten. In der Praxis interpretierten West und Ost die Schlussakte höchst unterschiedlich und warfen einander deren Verletzung vor. So meinten die Ostblockstaaten , dass die Menschenrechte zur Destabilisierung der Gesellschaft instrumentalisiert werden könnten , während wiederum die westlichen Demokratien fürchteten , dass nun die sowjetischen Gewinne von 1945 und der Eiserne Vorhang für immer unverrückbar festgelegt wären. Nichtsdestoweniger trugen die KSZE und die drei Nachfolgekonferenzen ( Belgrad 1977/78 , Madrid 1980–1983 , 25 Hans-Adolf Jacobsen ( Hg. ): Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( KSZE ). Analyse und Dokumentation. Köln 1973.
D ) DIE BLOCKFREIEN STAATEN
Wien 1986–1989 ) Wesentliches zur Entspannung bei , zumal sie Gelegenheit für vertrauensbildende Gipfeltreffen zwischen den Staatsoberhäuptern der USA und der UdSSR boten. Die neutralen und blockfreien Staaten Europas ( Österreich , Schweden , Schweiz , Finnland , Jugoslawien , Malta , Zypern , Vatikan ) konnten durch ihre aktive Vermittlerrolle bei festgefahrenen Verhandlungen ihre internationale Reputation entsprechend steigern. Nach erfolgreichem Abschluss eines Vertrages über die Abrüstung in Europa ( in Wien ) fand in Paris am 21. November 1990 das historische KSZE-Gipfeltreffen statt , an dem 34 Staaten die „Charta für ein neues Europa“ unterzeichneten und damit formell das Ende des Kalten Krieges erklärten. Aus der KSZE ging die OSZE ( Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ) hervor. Heute zählt die Organisation – mit Sitz in Wien – 56 Mitgliedsstaaten , ihre Präsidentschaft wechselt jährlich ( 2009 : Griechenland , 2010 : Kasachstan , 2011 : Litauen , 2012 : Irland , 2013 : Ukraine ). D ) D IE BLOCKFREIEN STAATEN 26
Etliche Regierungen wollten sich im Ost-West-Konflikt nach keiner Seite hin öffnen und ohne Bündnis und Fremdherrschaft nach den Regeln der Gleichberechtigung ein starkes Gegengewicht zu den beiden Supermächten bilden. Zu diesem Zweck trafen einander die Vertreter von 29 unabhängigen Staaten auf Einladung des indonesischen Präsidenten Achmed Sukarno ( 1945–1967 ) im April 1955 zu einer Konferenz in Bandung. Bei diesem ersten Versuch , die Bedeutung der Dritten Welt zu verbessern , engagierten sich insbesondere Indiens Ministerpräsident Jawaharlal Nehru ( 1947–1964 ), Chinas Ministerpräsident Zhou Enlai ( 1949–1976 ) und Ägyptens Staatspräsident Gamal Abdel Nasser ( 1954–1970 ). Sie traten insbesondere für das Ende der europäischen Kolonialherrschaften , für das Selbstbestimmungsrecht der Völker , für die Gleichwertigkeit aller Rassen und Nationen , für die friedliche internationale Zusammenarbeit und für die atomare Abrüstung ein. 1956 lud der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito ( 1953–1980 ) die Präsidenten Nasser und Nehru zur Vorbereitung der ersten Gipfelkonferenz der blockfreien Staaten auf die jugoslawische Insel Brioni ein. Da festgelegt wurde , dass dem Gastgeberland die Präsidentschaft der Bewegung bis zum Zusammentritt der nächsten Konferenz zufallen sollte , berief Tito im September 1961 die erste Gipfelkonferenz der Blockfreien nach Belgrad. Die 77 Teilnehmerstaaten einigten sich auf eine 27 Punkte umfassende Erklärung. Unter anderem forderten sie die restlose Entkolonialisierung , das Recht aller Nationen auf Einheit , Selbstbestimmung und Unabhängigkeit , die freie Nutzung ihrer Bodenschätze , die Aufhebung des wirtschaftlichen 26 Volker Matthies : Die Blockfreien. Ursprünge , Entwicklung , Konzeptionen. Opladen 1994.
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Ungleichgewichts zwischen entwickelten und unterentwickelten Staaten und eine allgemeine Abrüstung. Im Speziellen wurde das Ende der Apartheidpolitik in Südafrika , die Unabhängigkeit Algeriens , die Wiedereinsetzung der Palästinenserflüchtlinge in ihre alten Rechte und eine friedliche Lösung der Berlin- und Deutschlandfrage angesprochen. Der Blockfreienbewegung gehörten nicht nur Länder der Dritten Welt an , vielmehr arbeitete sie auch mit neutralen europäischen Staaten , wie Österreich , Schweiz und Schweden , zusammen. Heute umfasst sie 190 Mitglieder , die aber höchst unterschiedliche Interessen verfolgten und daher auch in heftigen Streit miteinander gerieten. Gegensätze traten beispielsweise zutage , als arabische Länder die Bewegung im Sinne einer Anti-Israel-Politik missbrauchten oder als Kuba offen eine pro-sowjetische Haltung bekundete. Spannungen ergaben sich auch angesichts des unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Teilnehmerstaaten und insbesondere dadurch , dass manche Entwicklungsländer wie Libyen oder der Irak selbst imperialistische Absichten hegten. Es gab sogar Austritte aus der Blockfreienbewegung ( z. B. Birma ). Auch nach Ende des Kalten Krieges existiert die Blockfreienbewegung weiter , nur bewegen sich ihre Interessen nunmehr entlang anderer Konfliktlinien : Dies wurde beispielsweise 2012 deutlich , als der Iran seine Vorsitzfunktion zur einseitigen Parteinahme für das Assad-Regime im bürgerkriegszerrütteten Syrien missbrauchte ( siehe Kap. 7.D ). E ) DIE SOWJETUNION – ERSTE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES
Die Geschichte der Sowjetunion von ihrer Gründung bis zum Tod Stalins kann als eine der größten menschlichen Katastrophen betrachtet werden , die einem Volk von seiner eigenen Regierung bereitet worden ist.27 Dies gilt sowohl für die Kriegsals auch für die Friedenszeiten. Das Terrorregime von Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili , gen. Stalin , seit 1922 Generalsekretär der KPdSU und seit 1927 unumschränkter Diktator , zählte 42 bis 52 Millionen Sowjetbürger zu seinen Opfern.28 27 Vgl. : Helmut Altrichter , Heiko Haumann : Die Sowjetunion. 2 Bde. , München 1987. – Manfred Hildermeier : Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998. – Gerhard Simon ( Hg. ): Weltmacht Sowjetunion. Umbrüche – Kontinuitäten – Perspektiven. Köln 1987. – Günther Stökl : Russische Geschichte. Stuttgart 1965 , S. 704 ff. 28 Vgl. : Jörg Baberowski : Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012. – I. W. Dobrowolski ( Hg. ): Schwarzbuch GULAG. Die sowjetischen Konzentrationslager. Aus dem Russischen von Beate Spehr. Graz / Stuttgart 2002. – Nicolas Werth : Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt , Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion. In : Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung , Verbrechen , Terror. München / Zürich 1997 , S. 51–298.
E ) DIE SOWJETUNION – ERSTE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES
Solches errechnete der sowjetische Historiker und Dissident Roy Alexandrowitsch Medwedjew ( Medvedev ) in seiner 1968 verfassten Aufarbeitung der Geschichte des Stalinismus ( deutsch 1972 : „Die Wahrheit ist unsere Stärke“ ). Allein die Zwangskollektivierung der Bauern ( 1930–1932 ) kostete sechs bis sieben Millionen Menschenleben ( „Kulakenmorde“, Deportation , Aushungern der Bevölkerung ), anlässlich der großen Säuberungsaktion der Jahre 1936 bis 1938 wurden zwischen fünf und sieben Millionen Menschen deportiert und 700. 000 hingerichtet – jeder Provinz war eine bestimmte Zahl von zu Liquidierenden vorgegeben worden. Auch während des Krieges ging der Terror weiter , die Verschärfung der Arbeitspflicht brachte ab 1940 zwei bis drei Millionen in die sowjetischen Konzentrationslager ( GULag ), 600. 000 von ihnen starben. Mit Kriegsende befanden sich etwa fünfeinhalb Millionen sowjetische Staatsbürger in Westeuropa , teils als Kriegsgefangene , teils als Hilfswillige der Deutschen Wehrmacht ( „HiWi“ ), teils als Angehörige von Freiwilligenverbänden. Gemäß dem Abkommen von Jalta wurden sie alle an die Sowjetunion ausgeliefert , weil die Westalliierten nicht ihre eigenen Soldaten und Zivilisten , die in deutsche Gefangenen- und Internierungslager geraten waren und nun im Machtbereich der Roten Armee lagen , gefährden wollten. Von den zwangsweise repatriierten Sowjetbürgern blieb nur etwa ein Fünftel unbehelligt , ein Fünftel wurde sofort hingerichtet , die restlichen drei Fünftel verschwanden im GULag. Im Todesjahr Stalins waren 2,75 Millionen Sowjetbürger in Lagern inhaftiert ; eine neue Verhaftungswelle , diesmal mit stark antisemitischem Akzent , drohte. Doch dazu kam es nicht mehr. Die Sowjetunion hatte unter Stalins Führung den „Großen Vaterländischen Krieg“ siegreich beendet. Zwar war das Land verwüstet und hatte ungeheure Verluste erlitten – insgesamt starben 25 Millionen Soldaten und Zivilisten , Hunger und Not prägten den Alltag. Aber viele Sowjetbürger sahen in Stalin den „Retter der Sowjetunion“ – auch wenn in Wahrheit seine Eingriffe in die militärische Operationen vielfach Chaos und unnötige Menschenverluste bewirkt hatten – und dankten ihm für den Wiederaufbau , für die Industrialisierung Russlands und für Russlands Aufstieg zur Weltmacht. Die Propaganda leistete diesen Gefühlen Vorschub und entfaltete einen gewaltigen Personenkult um den Diktator. Offene oder auch nur in kleinem Kreis ausgesprochene Kritik war nicht möglich , denn die Geheimpolizei sorgte für ein Klima des Misstrauens und der Angst. Die Rüstungsausgaben der Sowjetunion verschlangen auch nach dem Weltkrieg Unsummen , die sich um den Faktor der „brüderlichen Waffenhilfe“ an verbündete Staaten und Aufstandsbewegungen noch erhöhten. Aber seit den Tagen Lenins ( Wladimir Iljitsch Uljanow , Diktator 1918–1924 ) waren die Kremlherren von der Idee besessen , die Sowjetunion wäre einer ständigen Bedrohung durch den inneren und äußeren Feind ausgesetzt. Um dieser Bedrohung zu begegnen , müsste die UdSSR einerseits dem Sozialismus in möglichst vielen Teilen der Welt zum Sieg über den Kapitalismus verhelfen ; aus dieser Logik ergibt sich , dass sich in den vier-
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einhalb Jahrzehnten des Kalten Krieges die Sowjetunion an fast 40 lokalen Kriegen beteiligte , der kommunistischen Ideologie gemäß jedoch die Schuld für den Ausbruch dieser Konflikte dem kapitalistisch-imperialistischen Lager gab.29 Andererseits musste die Sowjetunion – entsprechend der Bedrohungstheorie – stets bewaffnete Kräfte unterhalten , die stärker wären als jene aller potenziellen Gegner zusammen. Die gigantischen Rüstungsausgaben konnten aber nur durch eine Mobilisierung der gesamten industriellen , technischen und wissenschaftlichen Kapazitäten erreicht werden und überstiegen das wirtschaftliche Potenzial des Staates bei Weitem. Letztlich mussten sie durch einen niedrigen Lebensstandard der eigenen Bevölkerung erkauft werden ; Terror und andere Unterdrückungsmaßnahmen machten sie gefügig. Der „militärisch-industrielle Komplex“30 der Sowjetunion erbrachte enorme technische Leistungen , aber er blieb eine abgeschirmte Enklave von „unsichtbaren“ Städten , Betrieben , Produktions- und Bildungszentren innerhalb der Sowjetunion , deren übrige Wirtschaft aufgrund der Geheimhaltung nicht von den Innovationen profitierte. So wurde der militärisch-industrielle Komplex zu einer schweren Bürde des ineffizienten Staatsapparates und konnte nicht einmal über die Umwegrentabilität zur Modernisierung der Sowjetunion beitragen. Stalin war es nicht nur gelungen , den Zweiten Weltkrieg siegreich zu beenden , vielmehr schaffte er es binnen weniger Jahre , die UdSSR mit einem Kranz von sowjetisierten Satellitenstaaten zu umgeben , sodass die Sowjetunion erstmals seit ihrer Gründung ihren Geltungsüberschuss weltweit ausspielen konnte. Die Explosion der ersten sowjetischen Atombombe 1949 nahm dem Diktator auch die ernste Sorge vor einem rüstungstechnischen Vorsprung der USA. Wenn man ein Politikerleben nur unter dem Aspekt der Macht betrachtet , so war Stalins drei Jahrzehnte währende Regierung zweifellos erfolgreich ; die Hekatomben von Opfern , die sein Terrorregime der Bevölkerung abverlangte , stellen ihn jedoch mit den schlimmsten Massenmördern der Geschichte auf eine Stufe. Am 5. März 1953 erlag er im Alter von 74 Jahren einem Schlaganfall. Sofort entbrannte ein heftiger Machtkampf um sein Erbe zwischen dem bisherigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Georgi Maximilianowitsch Malenkow und dem ersten Sekretär des Zentralkomitees , Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ( Chruščev ). Der allmächtige Chef des staatlichen Sicherheitsdienstes NKWD , Lavrenti Pawlowitsch Berija , konnte zunächst seine Position noch stärken und das Innenministerium übernehmen , wurde aber Mitte 1953 von seinen Konkurrenten gestürzt und wenige Monate später hingerichtet. Das nunmehrige Duumvirat von Ministerpräsident Malenkov und dem ersten Parteisekretär Chruschtschow sollte nur zwei Jahre halten. Denn als Malenkov einen neuen 29 Vartanov , a. a. O. , S. 59–66. 30 Alexander B. Bezborodov : Der militärisch-wissenschaftlich-industrielle Komplex der UdSSR im Kalten Krieg. In : Karner : Kalter Krieg , a. a. O. , S. 67–72.
E ) DIE SOWJETUNION – ERSTE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES
Kurs verkündete , in dem er bessere Konsumgüterversorgung , Erleichterungen für die Kolchosbauern , allgemeine Amnestie , Milderung der Strafjustiz , Aufhebung der Strafarbeitslager und nicht zuletzt das Ende von Verbannung und Sippenhaft versprach , warfen ihm Chruschtschow und hohe Militärs vor , er vernachlässige die Stahl- und Rüstungsproduktion zugunsten der Konsumgüterproduktion. Offiziell wurde er des Nachgebens in der Deutschlandfrage beschuldigt , wodurch sein Sturz gerechtfertigt schien. Seine Stelle übernahm 1955 der bisherige Verteidigungsminister und Marschall der Sowjetunion , Nikolai Alexandrowitsch Bulganin. Auf Auslandsreisen trat dieser gemeinsam mit Chruschtschow auf und verkündete den neuen außenpolitischen Kurs der „friedlichen Koexistenz“. Statt einer möglicherweise von Bulganin angedachten Wiedervereinigung Deutschlands bequemte sich Chruschtschow nur zum wesentlich „billigeren“ österreichischen Staatsvertrag. Als der geschmeidige Taktiker Chruschtschow erkannt hatte , dass Malenkov mit seiner Politik der Entstalinisierung eine Erwartungshaltung innerhalb der sowjetischen Gesellschaft losgetreten hatte , die sich auch gegen ihn , den treuen Weggefährten Stalins , richten konnte , stellte er sich selbst an die Spitze der Reformkräfte und desavouierte zugleich seine bisherigen konservativen Verbündeten : Auf dem 20. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 enthüllte er in einer Geheimrede die Verbrechen Stalins – obwohl er einst selbst an ihnen maßgebend beteiligt war. „Genossen ! [ … ] Nach dem Tode Stalins begann das ZK der Partei , exakt und konsequent eine Politik durchzuführen , die darin bestand , nachzuweisen , dass es unzulässig und dem Geist des Marxismus-Leninismus fremd ist , eine einzelne Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen , gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. [ … ] Eine solche Vorstellung über einen Menschen , konkret gesagt , über Stalin , war bei uns viele Jahre lang verbreitet. [ … ] Allgemein bekannt ist die Rolle Stalins bei der Vorbereitung und Durchführung der sozialistischen Revolution , während des Bürgerkrieges sowie im Kampf um die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande. Darüber wissen alle gut Bescheid. Zurzeit geht es um die Frage , die für die Partei in Gegenwart und Zukunft gewaltige Bedeutung besitzt – darum , wie sich allmählich der Kult um die Person Stalins herausgebildet hat , der in einer bestimmten Phase zur Quelle einer ganzen Reihe von äußerst ernsten und schwerwiegenden Entstellungen der Parteiprinzipien , der innerparteilichen Demokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit wurde. [ … ] Es gilt festzustellen , dass die Partei einen ernsthaften Kampf gegen die Trotzkisten , die Rechtsabweichler , die bürgerlichen Nationalisten führte , dass sie alle Feinde des Leninismus ideologisch zerschlug. Dieser ideologische Kampf wurde erfolgreich geführt , in seinem Verlauf kräftigte und stählte sich die Partei noch mehr. Hier spielte Stalin eine positive Rolle. [ … ] Stellen wir uns vor , was geschehen wäre , wenn in den Jahren 1928/29 bei uns die Linie der politischen Rechtsabweichung gesiegt hätte , die Orientierung auf die
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2. DER KALTE KRIEG ‚Kattun-Industrialisierung’ , auf die Kulaken u. a. Wir hätten keine mächtige Schwerindustrie , keine Kolchose , wir wären der kapitalistischen Einkreisung gegenüber ohne Verteidigung und machtlos gewesen. [ … ] Doch nach Ablauf einiger Jahre , als der Sozialismus in unserem Lande eigentlich schon errichtet war , als die Ausbeuterklassen im Prinzip liquidiert waren , [ … ] als die ideologischen Gegner der Partei schon seit Langem zerschlagen waren , da begannen gegen sie die Repressalien. Und gerade in dieser Periode ( der Jahre 1935 bis 1938 ) kam es zur Praxis der massenweisen Repressalien von Staats wegen , zuerst gegenüber den Gegnern des Leninismus : gegenüber Trotzkisten , Sinowjewleuten und Bucharinleuten , die schon seit Langem politisch von der Partei zerschlagen waren , später auch gegenüber vielen ehrlichen Kommunisten , gegenüber denjenigen Parteikadern , die die schwere Last des Bürgerkrieges sowie der ersten und schwierigsten Jahre der Industrialisierung und Kollektivierung auf ihren Schultern getragen hatten , die aktiv gegen die Trotzkisten und Rechtsabweichler um eine einheitliche Parteilinie gekämpft hatten. Stalin führte den Begriff ‚Volksfeind’ ein. Dieser Terminus befreite umgehend von der Notwendigkeit , die ideologischen Fehler eines oder mehrerer Menschen , gegen die man polemisiert hat , nachzuweisen ; er erlaubte die Anwendung schrecklichster Repressionen , wider alle Normen der revolutionären Gesetzlichkeit , gegen jeden , der in irgendetwas mit Stalin nicht übereinstimmte , der nur gegnerischer Ansichten verdächtigt , der einfach verleumdet wurde. [ … ] Als hauptsächlicher und im Grunde einziger Schuldbeweis wurde entgegen allen Normen der heutigen Rechtslehre das ‚Geständnis’ der Verurteilten betrachtet , wobei dieses ‚Bekenntnis’ – wie eine spätere Überprüfung ergab – durch physische Mittel zur Beeinflussung des Angeklagten erreicht wurde. [ … ] Die Willkür einer einzelnen Person regte auch andere zur Willkür an und ermöglichte sie. Massenverhaftungen und Deportationen vieler tausend Menschen , Vollstreckung ohne Gerichtsurteil und ohne normale Untersuchung riefen einen Zustand der Unsicherheit und der Furcht , sogar der Verzweiflung hervor. [ … ] Aufgedeckt wurde , dass viele Parteiarbeiter , Sowjet- und Wirtschaftsfunktionäre , die in den Jahren 1937/1938 als ‚Feinde’ angesehen wurden , in Wirklichkeit niemals Feinde , Spione , Schädlinge u. a. gewesen sind , dass sie tatsächlich immer ehrliche Kommunisten waren. Aber man hat sie angeschwärzt , und manchmal hielten sie die barbarischen Foltern nicht aus und beschuldigten sich selbst ( unter dem Diktat der mit Fälschungen arbeitenden Untersuchungsrichter ) sämtlicher schwerer und unwahrscheinlicher Verbrechen. [ … ] Festgestellt wurde , dass von den 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees , die auf dem 17. Parteitag gewählt worden waren , 98 Personen , d. h. 70 Prozent ( hauptsächlich in den Jahren 1937/1938 ), verhaftet und erschossen wurden. [ … ] Am Abend des 1. Dezember 1934 unterschrieb der Sekretär des Präsidiums des Zentralkomitees , Jenukidse , auf Initiative Stalins ( ohne Beschluss des Politbüros [ … ] ) folgende Anordnung : „I. Die Untersuchungsbehörden werden angewiesen , die Angelegenheiten der der Vorbereitung und Durchführung [ konterrevolutionärer
E ) DIE SOWJETUNION – ERSTE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES Verbrechen ] Beschuldigten im Schnellverfahren durchzuführen. II. Die Gerichtsorgane werden angewiesen , mit der von Straffälligen dieser Kategorie geäußerten Bitte auf Gnadenerlass von der Ausführung des Todesurteils keinen Abstand zu nehmen , da das Präsidium des Zentralkomitees der UdSSR es nicht für möglich hält , derartige Bitten zur Bearbeitung anzunehmen. III. Die Organe des Kommissariats für Innere Angelegenheiten ( NKWD ) werden angewiesen , Todesurteile gegen oben genannte Kategorien von Verbrechen sofort nach Verhängung des Urteils zu vollstrecken.“[ … ] Indem sie sich der Formulierung Stalins bedienten , wonach es immer mehr Feinde geben wird , je näher man dem Sozialismus kommt , [ … ] begannen in die Staatssicherheitsorgane eingedrungene Provokateure und gewissenlose Karrieristen , den Massenterror gegen Kader der Partei und des Sowjetstaates , gegen einfache Sowjetbürger mit dem Namen der Partei zu tarnen. Es genügt zu sagen , dass die Anzahl derjenigen , die aufgrund von Beschuldigungen wegen konterrevolutionärer Verbrechen verhaftet wurden , sich im Jahre 1937 im Vergleich zu 1936 um mehr als das Zehnfache vergrößerte. [ … ] Wenn Stalin sagte , der oder jener sei festzunehmen , so musste man glauben , dass dies ein „Volksfeind“ war. Und die Berija-Bande , die die Macht in den Staatssicherheitsorganen hatte , ließ nichts unversucht , um die Schuld der verhafteten Personen und die Schlüssigkeit der von ihr fabrizierten Materialien zu beweisen. Und welche Beweise wurden vorgelegt ? Das Geständnis der Verhafteten. Und die Untersuchungsrichter führten diese ‚Geständnisse’ herbei. Aber wie kann man einen Menschen dazu bringen , sich zu einem Verbrechen zu bekennen , das er nie begangen hat ? Nur auf eine Art – durch Anwendung von physischen Methoden der Beeinflussung , durch Folter , Beraubung des Bewusstseins , des Verstandes , der menschlichen Würde.[ … ] Die Sowjetunion wird zu Recht als Muster eines multinationalen Staates angesehen , denn bei uns wurden in der Praxis Gleichheit und Freundschaft aller Völker gewährleistet , die unsere große Heimat bewohnen. Umso ungeheuerlicher sind die Aktionen , deren Initiator Stalin war. [ … ] Die Rede ist von der Massenumsiedlung ganzer Völker aus ihren heimatlichen Orten , [ … ] wobei derartige Aussiedlungsaktionen durch keinerlei militärische Beweggründe diktiert waren. So wurde noch 1943 , als an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges ein dauerhafter Umschwung zugunsten der Sowjetunion eingetreten war , der Beschluss über die Aussiedlung aller Karatschaier aus ihrem angestammten Gebiet gefasst und durchgeführt. Im gleichen Zeitraum , Ende Dezember 1943 , traf die gesamte Bevölkerung der Kalmykischen Autonomen Sowjetrepublik das gleiche Schicksal. Im März 1944 wurden Tschetschenen und Inguschen ausgesiedelt , die Tschetschenisch-Inguschische Autonome Republik wurde liquidiert. Im April 1944 wurden alle Balkaren aus der Kabardinisch-Balkarischen Autonomen Republik in entlegene Gebiete ausgesiedelt. [ … ]Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal deshalb , weil sie zu viele sind und es keine Möglichkeit ihrer Umsiedlung gab. Sonst hätte er auch sie ausgesiedelt. [ … ]
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2. DER KALTE KRIEG Man muss feststellen , dass sich die Situation nach dem Krieg noch mehr komplizierte. Stalin wurde noch launenhafter , gereizter , brutaler , insbesondere wuchs sein Argwohn. Der Verfolgungswahn erreichte unwahrscheinliche Ausmaße. Viele Mitarbeiter wurden in seinen Augen zu Feinden. [ … ] Den unerhörten Argwohn Stalins nutzte geschickt der elende Provokateur , der schäbige Feind Berija aus , der tausende Kommunisten , ehrliche Sowjetbürger ermorden ließ. [ … ] Berija wurde vom Zentralkomitee kurz nach dem Tod Stalins entlarvt. Im Ergebnis eines eingehenden Gerichtsverfahrens wurden Berijas ungeheuerliche Verbrechen festgestellt , und Berija wurde erschossen. [ … ] Die Tatsache , dass wir heute die grundlegenden Probleme der Überwindung des mit dem Marxismus-Leninismus unvereinbaren Personenkults sowie der Beseitigung seiner schwerwiegenden Folgen in ganzem Umfang aufwerfen , zeugt von der großen moralischen und politischen Kraft unserer Partei. [ … ] Es lebe das siegreiche Banner unserer Partei – der Leninismus.“31
Bereits Ende März 1956 wurde auf Chruschtschows Befehl den Schuldirektoren , Lehrern sowie führenden Persönlichkeiten aus Verwaltung und Wirtschaft die Geheimrede vom XX. Parteitag vorgelesen.32 Auf diese Weise erfuhr sie auch der israelische Geheimdienst und machte sie in den USA bekannt. Bereits am 4. Juni veröffentlichten „New York Times“ und „Washington Post“ ihren Inhalt , durch Flugblätter wurde dieser in den Ostblockländern verbreitet. Die Folgen waren verheerend , denn sie ermutigten im Herbst desselben Jahres polnische und ungarische Arbeiter zu Protestdemonstrationen und zur Forderung nach Reformen. Da insbesondere der ungarische Volksaufstand ( siehe Kap. 3.D ) das von Stalin geschaffene Machtimperium der Sowjetunion zu erschüttern drohte , musste Chruschtschow Stärke demonstrieren , um seiner Absetzung vorzubeugen. Er griff in Polen , vor allem aber in Ungarn hart durch und nahm auch zur Suezkrise ( siehe Kap. 6.B ) eine unnachgiebige Haltung ein , wobei er dank einer Kriegsdrohung gegen England und Frankreich die konservativen Militärs auf seine Seite brachte. Der erfolgreiche Abschuss des „Sputnik“, des weltweit ersten Satelliten , brachte ihm große innen- und außenpolitische Anerkennung und löste in den USA den oben ( siehe Kap. 2.B ) erwähnten „Sputnikschock“ aus. Chruschtschow war am Höhepunkt seiner Macht angelangt , als ihn 1958 der Oberste Sowjet anstelle Bulganins zum Ministerpräsidenten und 1961 auch zum Staatspräsidenten wählte. Von maßloser Selbstüberschätzung beseelt , verkündete er am 21. Parteitag 1959 den Siebenjahresplan zur Überholung der USA in der Pro-Kopf-Produktion. Die Kremlherren meinten tat31 Zitiert nach : www.stalinwerke.de/sonstiges/geheimrede.de.vu/geheimrede.pdf. – Erstmalige autorisierte Veröffentlichung in : Iswestija ZK KPSS , 1989 , Nr. 3 , S. 128–170. 32 Vgl. den Augenzeugenbericht des Historikers Roy Medwedjew in : Die Zeit , 1986 , Nr. 9.
E ) DIE SOWJETUNION – ERSTE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES
sächlich , zumindest militärisch und atomar dem Westen überlegen zu sein , übersahen dabei aber vor allem die enormen Probleme der Landwirtschaft , die nicht nur wegen katastrophaler Missernten , sondern vor allem wegen der völlig verfehlten Kollektivierung ( Kolchosen ) und der Errichtung sogenannter „Agrostädte“ ( durch Zusammenlegung von Kolchosen ) nicht in der Lage war , die Sowjetbürger ausreichend zu ernähren , sodass große Getreideimporte aus den USA vonnöten waren. Vorübergehende Erfolge durch Neulandgewinnung in den Wüstensteppen Kasachstans führten zu langfristigen ökologischen Schäden , die freilich erst viel später sichtbar wurden. Außenpolitisch provozierte der impulsive , sprunghafte Chruschtschow den Westen , wo er nur konnte : Er sprach theatralisch von Entspannung , demonstrierte aber unablässig weltrevolutionäre Aktivität : so in den Berlinkrisen 1958 und 1961 ( siehe Kap. 3.B ) und vor allem in Kuba 1962 ( siehe Kap. 9.B ), wo er unter enormem Prestigeverlust nachgeben musste. Letzteres und die schlechten Ernteergebnisse führten 1964 zu seinem überraschenden Sturz. Er starb als Politpensionist 1971 im Alter von 77 Jahren.33 Nach dem Sturz Chruschtschows gelangte eine Troika an die Macht : Leonid Iljitsch Breschnew ( Brežnev ), von 1960 bis 1964 Vorsitzender der Präsidiums des Obersten Sowjets und damit Staatsoberhaupt , hatte sich führend an der Absetzung Chruschtschows beteiligt und übernahm nun an seiner statt das Amt des Generalsekretärs der KPdSU. Aleksej Nikolajewitsch Kossygin trat als Ministerpräsident an die Spitze der Regierung ( bis 1980 ), Nikolaj Wiktorowitsch Podgornyj wurde Vorsitzender des Obersten Sowjets , musste aber seine Position 1977 an Breschnew abgeben. Der innenpolitische Kurs der Sowjetunion verschärfte sich nun wieder , Partei- und Staatsführung tendierten sogar zu einer gewissen Rehabilitierung Stalins. Kritiker des Systems , die sogenannten „Dissidenten“, wurden mit Berufsverbot belegt , in Gefängnisse oder psychiatrische Kliniken überwiesen , zur Zwangsarbeit verurteilt , verbannt oder ausgebürgert. Insbesondere war das Regime bemüht , die seit der Schlussakte von Helsinki ( 1975 , siehe Kap. 2.C ) entstandene Bürgerrechtsbewegung zu unterdrücken. So wurde schon 1974 der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger ( 1970 ) Alexander Solschenizyn ( Solženicyn ) ausgebürgert , 1980 wurde der Kernphysiker , Bürgerrechtler und Friedensnobelpreisträger ( 1975 ) Andrej Sacharow nach Gorki verbannt. In wirtschaftlicher Hinsicht bahnte sich ab den 1970er-Jahren eine zunehmende Krise an : Die Produktivität nahm beständig ab , trotzdem investierte der Staat weiterhin in die Schwerindustrie , Rüstung und Raumfahrt. Gewiss erbrachten der Rüstungswettlauf mit den USA sowie der Forschungswettlauf im Weltraum hohe Leistungen , doch blieben sowohl Konsumgüterproduktion als auch landwirtschaftliche Produktion mangelhaft. Immerhin funktionierte die Versorgung der Bevölkerung 33 Nikita Chruschtschow : Chruschtschow erinnert sich. Stuttgart 1971.
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mit Grundnahrungsmitteln einigermaßen , und die staatlichen Sozialleistungen garantierten eine gewisse Grundversorgung. Dadurch konnte die Sowjetunion nach innen und außen den Schein einer Weltmacht wahren , obwohl ihr die ökonomischen Grundlagen dazu fehlten. Das Regime benötigte Devisen , aus welcher Quelle auch immer , und erniedrigte sich sogar zu einem modernen zwischenstaatlichen Menschenhandel ( bei dem Wien als Drehscheibe fungierte ), indem es auswanderungswillige russische Juden durch Israel förmlich herauskaufen ließ. Die sowjetische Außenpolitik verfolgte unter Breschnew zwei Linien : Einerseits trachtete Moskau danach , die europäischen Satellitenstaaten unter starker Kontrolle zu halten : Dies zeigte sich besonders deutlich , als 1968 im Sinne der BreschnewDoktrin der „Prager Frühling“ gewaltsam beendet und 1980/81 die Aktivität der polnischen Gewerkschaft „Solidarität“ verboten wurden ( siehe Kap. 3.D ). Andererseits entfaltete der Kreml eine intensive Entspannungs- und Abrüstungsdiplomatie. Insbesondere sollten die „Strategic Arms Limitation Talks“ ( SALT ) 1972 und 1979 ein Gleichgewicht an strategischen Waffen zwischen USA und UdSSR herstellen und den Rüstungswettlauf begrenzen. Die Unglaubwürdigkeit der sowjetischen Seite , die sich zwar an die festgelegten Höchstzahlen von strategischen Waffen hielt , ihr Arsenal an taktischen Waffen jedoch enorm ausweitete , vor allem aber der Einmarsch in Afghanistan im Dezember 1979 ( siehe Kap. 5.C ) führten zum Abbruch der Abrüstungsverhandlungen und zum NATODoppelbeschluss. Weitere Vorschläge zur Abrüstung , die der zuletzt schon greisenhaft erstarrte Breschnew dem Westen unterbreitete , wurden nicht mehr ernst genommen. Nach seinem Tod anno 1982 wählte das Zentralkomitee den bisherigen Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB ( seit 1967 ), Juri Wladimirowitsch Andropow , zum Generalsekretär der KPdSU , 1983 zum Vorsitzenden des Obersten Sowjet ( Staatsoberhaupt ), doch starb dieser schon ein Jahr später. Ihm folgte das 73-jährige ZK-Mitglied Konstantin Tschernenko ( Černenko ) in beiden Funktionen , doch überlebte dieser seine hohen Ämter nur knapp über ein Jahr. Als 1985 der 46-jährige Jurist und Agrarfachmann Michail Sergejewitsch Gorbatschow ( Gorbačev ) zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde , waren die Politiker des Westens froh , nach drei alten , kranken Sowjetführern nun einen jungen , gesunden Mann an der Spitze der UdSSR zu sehen , und hofften , dass dieser die festgefahrenen außenpolitischen Strukturen des Kalten Krieges beenden würde. Niemand konnte ahnen , dass die nach außen vor Waffen strotzende , aber im Inneren völlig heruntergewirtschaftete Sowjetunion nur mehr ein Koloss auf tönernen Füßen war , der binnen sechs Jahren zusammenbrechen sollte.
F ) DIE USA – ZWEITE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES F ) DIE USA – ZWEITE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES
Der Zweite Weltkrieg bedeutete für die USA keinen so tiefen wirtschaftlichen und politischen Einschnitt wie für Europa oder Japan.34 Im Gegenteil : Der US-Dollar konnte seinen Wert behalten und ( bis zum Vietnamkrieg ) sein gleichbleibendes Austauschverhältnis zu Gold garantieren. Der Wohlstand der US-Bevölkerung wuchs stetig , sie entwickelte sich zur Konsum- und Überflussgesellschaft. Die ersten Supermärkte entstanden , und 1950 brachte „Diners Club“ die weltweit erste Kreditkarte heraus. Dieser gewaltige Wirtschaftsboom resultierte aus dem wachsenden Konsum , aus der Wiederaufbauhilfe für Europa ( Marshallplan 1947 , siehe Kap. 3.A ) und aus der Rüstungsindustrie. Wie die UdSSR hatten auch die USA einen „militärisch-industriellen Komplex“, aber dieser blieb , anders als in der Sowjetunion , nicht von der Umwelt abgeschottet , vielmehr war er privatwirtschaftlich strukturiert und profitorientiert , sodass technische Innovationen rasch auch für zivile Güter Verwendung fanden und dadurch die gesamte Wirtschaft stimulierten. Nach Kriegsende wurden die Streitkräfte zunächst stark abgerüstet ; viele US-Politiker meinten , Amerika könnte sich wie in der Zwischenkriegszeit isolationistisch aus der Weltpolitik verabschieden und zum Tagesgeschäft zurückkehren , frei nach dem Grundsatz „the business of USA is business“. Der beginnende Kalte Krieg belehrte sie bald eines Besseren , und mit dem Koreakrieg ( 1950–1953 , siehe Kap. 4.C ) setzte die Wiederaufrüstung ein. 1956 übertraf der Wert der produzierten Rüstungsgüter jenen der Konsumgüter um das Doppelte. In der Intellektuellenszene der 1930er-Jahre galt es noch als schick , sich wie der Schriftsteller Ernest Hemingway zum Kommunismus zu bekennen – der spätere Literaturnobelpreisträger ( 1954 ) nahm sogar am Spanischen Bürgerkrieg ( 1936–1939 ) aufseiten der Internationalen Brigaden teil. In den 1940er-Jahren wendete sich das Blatt , Kommunisten wurden nun verfolgt. Da eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion nicht möglich schien , verkündete Präsident Harry Truman ( 1945–1953 ), ein Demokrat , die „Truman-Doktrin“ ( siehe Kap. 2.A ). Im selben Jahr ( 1947 ) erließ er die „Loyality Order“: Alle Bundesangestellten mussten eidesstattlich erklären , keiner kommunistischen Organisation anzugehören , andernfalls drohten nicht nur Entlassung , sondern sogar Haftstrafen. Letztere trafen auch Eid verweigernde Hollywood-Regisseure und Produzenten. Der Republikaner Joseph McCarthy löste dann nachgerade eine antikommunistische Hysterie aus : Als Vorsitzender des Senatsaus34 Erich Angermann : Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917. München 8 1987. – Christian Hacke : Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von Kennedy bis Clinton. Berlin 1997. – Gert Raeithel : Geschichte der Nordamerikanischen Kultur. Bd. 3 : Vom New Deal bis zur Gegenwart 1930–1995. Frankfurt am Main 3 1997. – Klaus Schwabe : Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart. Eine Jahrhundertgeschichte. Paderborn 2011.
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schusses für „unamerikanische Umtriebe“ bezichtigte er zahlreiche Künstler , Beamte und Wissenschaftler , ja sogar Offiziere , Diplomaten und Politiker einer kommunistenfreundlichen Einstellung und sorgte für deren Arbeitsplatzverlust. Die McCarthy-Ära dauerte von 1947 bis 1954 , sie war durch ein Klima des Misstrauens und der Denunziationen geprägt. Präsident Dwight David Eisenhower ( 1953–1961 ), ebenfalls Republikaner , kritisierte zunächst vorsichtig die Auswüchse der McCarthy Ära ( „No nonsense !“ ), bis er zuletzt selbst als Verdächtiger galt. 1954 beendete schließlich der Senat das Treiben , indem er McCarthy das Vertrauen entzog. Präsident Eisenhower verfolgte unter dem Begriff „modern republicanism“ einerseits eine konservative Wirtschaftspolitik mit Einsparungen und Schuldenabbau , andererseits setzte er soziale Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut um. Sein Nachfolger , John Fitzgerald Kennedy ( 1961–1963 ), ein Demokrat , verkündete noch deutlicher den Kampf gegen die Armut im eigenen Land. Er bemühte sich um eine Erhöhung der Mindestlöhne , um die Sanierung der Slums , Verringerung der Arbeitslosigkeit , Verbesserung der Krankenversorgung und der Bildungschancen. Nach Kennedys Ermordung in Dallas / Texas ( während des Wahlkampfes für eine zweite Amtsperiode ) setzte sein bisheriger Vizepräsident Lyndon Baines Johnson ( Präsident 1963–1969 ) die Sozialpolitik fort. Sein „Feldzug gegen Arme“ konnte einige Erfolge aufweisen , da sich die Zahl der Armen in den USA von 35 auf zehn Millionen verringerte. Aber die Verstrickung der USA in den Vietnamkrieg ( seit 1964 , siehe Kap. 4.D ) überstieg ihre finanzielle Leistungsfähigkeit. Die Reformen stagnierten. Schwere Rassenunruhen und Studentenproteste überschatteten zuletzt Johnsons Regierung , sodass er auf eine weitere Kandidatur verzichtete.35 Hundert Jahre nach Ende des amerikanischen Bürgerkrieges ( 1861–1865 ), als dessen Folge die Sklaven befreit worden waren , herrschte in den USA noch immer keine Gleichberechtigung der Rassen. Schwarze waren wirtschaftlich , gesellschaftlich und politisch gegenüber den Weißen benachteiligt , insbesondere in den Südstaaten herrschte auch strikte Rassentrennung. In den beiden Weltkriegen hatten allerdings Schwarze und Weiße Schulter an Schulter gekämpft , desgleichen im Korea- und Vietnamkrieg – die Zeit war also längst reif für eine vollständige Integration der Afroamerikaner. Die Bürgerrechtsbewegung ( „Civil Rights Movement“ ) suchte dies auf gewaltlosem Wege zu erreichen , zumal sich allmählich sowohl Demokraten als auch Republikaner zu einem Ende der Rassendiskriminierung bekannten. Präsident Truman machte den Anfang und hob 1948 die Rassentrennung in allen staatlichen Einrichtungen auf , Präsident Eisenhower beendete 1954 die Rassentrennung in den Schulen. Allerdings wurde in den Südstaaten die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts gegen die Missachtung des Gleichheitsprinzips ( z. B. getrennte 35 Joachim Arenth : Johnson , Vietnam und der Westen. Transatlantische Belastungen 1963–1969. München 1994.
F ) DIE USA – ZWEITE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES
Benutzung von Verkehrsmitteln ) ignoriert. Seit 1955 demonstrierten Anhänger der Bürgerrechtsbewegung in gewaltlosen Aktionen ( Sit-ins oder Freedom rides ) gegen die Diskriminierung von Schwarzen. Weiße Südstaatenbewohner versuchten hingegen mit allen Mitteln , den Zug der Zeit aufzuhalten , und schreckten auch nicht vor Gewalt und Terror zurück. Im Jahr 1957 eskalierte die Situation durch Mordanschläge auf schwarze Aktivisten und durch den vom Präsidenten angeordneten Einsatz von Bundestruppen zur Durchsetzung der Rassenintegration , unter anderem an einer High School in Little Rock / Arkansas. Unter solchen Vorzeichen verabschiedete der Senat das erste Bürgerrechtsgesetz des 20. Jahrhunderts , die „Civil Bill of Rights“, welche den Schwarzen das Wahlrecht gewährte. Weitere Gesetze zur völligen Gleichstellung der Schwarzen folgten von 1960 bis 1968. Allerdings kam es vor , dass sich einige Gouverneure weigerten , diesbezügliche Gesetze der Bundesregierung auch durchzuführen. Die immer heftigeren Unruhen in den Städten , namentlich in jenen der Südstaaten , gründeten sich aber nicht mehr ausschließlich auf die rassischen , sondern zunehmend auch auf die sozialen Gegensätze zwischen Weiß und Schwarz. Am 28. August 1963 hielt Martin Luther King , die Ikone der Bürgerrechtsbewegung , anlässlich des „Marsches auf Washington“ beim Lincoln Memorial vor etwa 250. 000 Personen ( darunter 90. 000 Weiße ) seine berühmteste Rede : „[ … ] Vor einem Jahrhundert unterschrieb ein berühmter Amerikaner , in dessen symbolischen Schatten wir heute stehen , die Freiheitsproklamation. [ … ] Aber hundert Jahre später ist der Schwarze [ im Original : Negro ] immer noch nicht frei. Einhundert Jahre später ist das Leben des Schwarzen leider immer noch von den Handfesseln der Rassentrennung und den Ketten der Diskriminierung eingeschränkt. Einhundert Jahre später lebt der Schwarze immer noch auf einer einsamen Insel der Armut in der Mitte eines weiten , weiten Ozeans des materiellen Wohlstandes. [ … ] Es gibt aber etwas , was ich meinen Brüdern sagen muss , die auf der abgenutzten Schwelle stehen , die zum Palast der Gerechtigkeit führt. Bei dem Prozess , den gerechten Platz zu erreichen , dürfen wir nicht ungerechter Taten schuldig werden. Versuchen wir nicht , unseren Durst nach Freiheit zufriedenzustellen , indem wir aus dem Kelch der Bitterkeit und des Hasses trinken. Wir müssen unseren Kampf immer mit Würde und Disziplin führen. Wir dürfen nicht erlauben , dass unser kreativer Protest in physische Gewalt ausartet. [ … ] Ich habe einen Traum , dass sich eines Tages die Söhne der früheren Sklaven und die Söhne der früheren Sklavenhalter auf den roten Hügeln von Georgia brüderlich an einen Tisch setzen können. [ … ] Ich habe einen Traum , dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden , in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut , sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden. [ … ] Ich habe einen Traum , dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt werden. [ … ] Dies ist unsere Hoffnung. Dies ist der Glaube , mit dem ich in den Süden zurückgehen werde. Mit diesem Glauben
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2. DER KALTE KRIEG werden wir den Berg der Verzweiflung bebauen , einen Stein der Hoffnung. Mit diesem Glauben werden wir gemeinsam arbeiten können , gemeinsam beten können , gemeinsam kämpfen können , gemeinsam in das Gefängnis gehen , um gemeinsam einen Stand für Freiheit mit dem Wissen zu machen , dass wir eines Tages frei sein werden. [ … ] Wenn dies geschieht , und wenn wir erleben , dass die Glocken der Freiheit läuten und wenn wir sie von jedem Dorf und jedem Weiler , von jedem Staat und jeder Stadt läuten lassen , werden wir diesen Tag schneller erleben , wenn alle Kinder Gottes , Schwarze und Weiße , Juden und Christen , Protestanten und Katholiken , sich gemeinsam die Hände reichen und die Worte des alten Neger-Spirituals singen : ‚Endlich frei , endlich frei. Danke Gott , Allmächtiger , endlich frei.‘ “36
1964 erhielt Martin Luther King den Friedensnobelpreis verliehen , weil er in Anlehnung an Gandhi ( siehe Kap. 5.A ) den gewaltlosen Widerstand vorgelebt hatte. Aber die Bewegung blieb nicht immer gewaltlos. Längst hatten sich von der Bürgerrechtsbewegung gewaltbereite Gruppen abgespaltet. Militante , wie die Anhänger der „Black Panther Party of Self-Defense“, kämpften nicht mehr für die Integration , sondern verschrieben sich einem eigenen „Schwarzen Nationalismus“. Insbesondere beschleunigten die Ermordung Kennedys 1963 sowie ein Aufstand in den schwarzen Wohngebieten von Los Angeles 1965 , der 34 Menschenleben und gigantische Sachschäden forderte , die weitere Radikalisierung. Den Höhepunkt der Krise bildeten das gewaltsame Ende des einst prominenten Mitgliedes der „Black Muslim“, Malcom X ( 1965 ), vor allem aber jenes von Martin Luther King ( 1968 ). Ab Beginn der 1970er-Jahre erlahmte der Kampfeswille auf beiden Seiten. Wenn auch zwei Drittel der Schwarzen arm blieben , bildete sich doch eine schwarze Mittelschicht , deren Angehörige selbst in die höchsten Stellen vorrückten. 1989 kam der Durchbruch : Mit David Dinkins wurde erstmals ein Schwarzer Bürgermeister von New York , auch in anderen US-Städten setzten sich nun schwarze Bürgermeister durch ; im selben Jahr erhielt der Bundesstaat Virginia mit Douglas Wilder den ersten schwarzen Gouverneur , und General Colin Powell rückte als erster Schwarzer zum Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der Streitkräfte auf , 2001 avancierte Powell sogar zum Außenminister , ihm folgte die ebenfalls farbige Condoleezza Rice im Amt ( 2005–2008 ). Mit Barack Obama zog 2009 der erste schwarze Präsident ins Weiße Haus ein ( siehe Kap. 10.E ). Die 1960er-Jahre waren nicht nur wegen der Rassenkrawalle eine unruhige Zeit. Ab 1964 mehrten sich auch die Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg , insbesondere an der Universität Berkeley / Kalifornien. Hinzu kam die Flower-Power-Bewegung oder Hippie-Szene der jungen Linken , die gegen die Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft rebellierten , bürgerliche Tabus infrage stellten , statt der prü36 Aus : Jelinek , a. a. O. , S. 213 ff.
F ) DIE USA – ZWEITE PROTAGONISTIN DES KALTEN KRIEGES
den Sexualmoral die freie Liebe propagierten und für den freien Drogenkonsum eintraten. Die Forderung nach einer neuen , humanen , friedvollen und naturbezogenen Welt fand auch jenseits des Atlantiks in der Frankfurter Schule bzw. 68er-Bewegung ihre Anhänger ( siehe Kap. 3.F ). Das lautstarke Auftreten der jungen Linken in den USA initiierte eine starke konservative Gegenbewegung , welche den Republikaner Richard Milhous Nixon ( 1969–1974 ) ins Weiße Haus brachte. Nixon versprach die Wiederherstellung der Ordnung im Inneren und eine Verbesserung der Beziehungen zu den kommunistischen Staaten , insbesondere die Beendigung des US-Engagements in Vietnam. Angesichts der ersten bemannten Mondlandung ( 20. Juli 1969 ) und des dadurch dokumentierten technischen Vorsprungs der USA konnte er aus der Position der Stärke mit der Sowjetunion Abrüstungsverhandlungen führen , die 1972 in den Abschluss des SALT–1-Abkommens mündeten. Im selben Jahr gelang Nixon die Aufnahme diplomatischer Kontakte zur Volksrepublik China. Die „Vietnamisierung“ des Vietnamkrieges brachte 1973 nur einen geheuchelten Waffenstillstand , dem 1975 die bedingungslose Kapitulation Südvietnams folgte ( siehe Kap. 4.D ). Die USA hatten ihren ersten Krieg verloren. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Handlungsfähigkeit des Präsidenten durch die Watergate-Affäre bereits gelähmt : Engste Mitarbeiter Nixons hatten einen Einbruch ins Wahlkampfzentrum der Demokraten im Watergate-Hotel / Washington D. C. angeordnet. Nach einer immer heftiger ausartenden Polit- und Medienkampagne trat Nixon als bisher erster und einziger Präsident zurück , um der Amtsenthebung durch Impeachment zuvorzukommen. Sein bisheriger Vizepräsident , Gerald Rudolph Ford , übte die Amtsgeschäfte des Präsidenten bis 1976 aus , unterlag aber bei den Präsidentschaftswahlen knapp dem Demokraten James ( Jimmy ) Earl Carter ( 1977–1981 ). Der verlorene Vietnamkrieg lastete schwer auf der amerikanischen Gesellschaft. Inflation , Arbeitslosigkeit , wirtschaftliche Stagnation und Zahlungsbilanzschwierigkeiten erschütterten den Glauben an das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Jimmy Carter gelang es nicht , dieser Probleme Herr zu werden. Außenpolitisch steuerte er einen neuen Kurs , indem er Staaten mit Menschenrechtsverletzungen jegliche Militärhilfe verweigerte. 1979 vermittelte er den Frieden von Camp David zwischen Israel und Ägypten ( siehe Kap. 6.B ), wenige Monate später unterzeichnete er den SALT–2-Vertrag mit der Sowjetunion zur Begrenzung strategischer Waffen. Als diese jedoch die Rote Armee in Afghanistan einmarschieren ließ , beendete er weitere Abrüstungsgespräche und initiierte gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt den NATO-Doppelbeschluss ( „Nachrüstung“ ). Alle diese Erfolge wurden von der Geiselaffäre im Iran überschattet , die Carter letztlich die Wiederwahl kostete : Nach dem iranischen Umsturz ( siehe Kap. 6.A ) besetzten etwa 3. 000 sogenannte „Studenten“ die US-Botschaft in Teheran und nahmen das gesamte Botschaftspersonal ( anfangs 66 , zuletzt 52 Personen ) unter dem Vorwurf vermeintlicher Spionage als Geiseln. Sie forderten – vergebens – die Ausliefe-
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rung des in die USA zur medizinischen Behandlung eingereisten ehemaligen Schah Reza Pahlevi. Die Geiselnahme begann im November 1979 und dauerte bis zum Januar 1981. Ein Befreiungsversuch , an dem acht Hubschrauber und sechs Transportflugzeuge beteiligt waren , scheiterte an der Kollision eines Hubschraubers mit einem Transportflugzeug in der iranischen Wüste. Acht US-Soldaten starben dabei. Ronald Wilson Reagan , der 40. US-Präsident ( 1981–1989 , gest. 2004 ), leitete die konservative Wende ein. Seine Politik gab den Amerikanern ihr Selbstbewusstsein zurück und machte ihn daher zu einem der populärsten US-Präsidenten überhaupt. Zur Belebung der Wirtschaft führte er einerseits Steuersenkungen und administrative Deregulierungen , andererseits drastische Einsparungen , insbesondere im Sozialbereich , durch. Diese unter dem Schlagwort „Reagonomics“ bekannte Politik zeitigte insofern Erfolge , als die Arbeitslosigkeit zurückging , der US-Dollar aufwertete und das Bruttoinlandprodukt anstieg. Allerdings führte sie auch zu einer massiven Umverteilung der Einkommen von den Armen zu den Reichen sowie zu einem vergrößerten Haushaltsdefizit angesichts des verringerten Steueraufkommens und der stark erhöhten Rüstungsausgaben. Manche Nationalökonomen bezeichnen Reagan als „Keynesianisten“, der alle Investitionen zur Schaffung von ( meist schlecht bezahlten ) Arbeitsplätzen steuerte. Außenpolitisch fuhr Reagan auf einer strikt antikommunistischen Linie und unterstützte rechtsgerichtete Bewegungen und Regierungen , auch wenn sie sich , wie in El Salvador , der Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hatten. Mit dem Einmarsch in die winzige Karibikinsel Grenada ( 1983 ) wollte er zwar Stärke demonstrieren , handelte sich aber wegen der Unverhältnismäßigkeit der Kräfte viel Kritik ein. Zum Verlust seiner Glaubwürdigkeit führten geheime Waffenlieferungen an die „Contras“ in Nicaragua , die er durch illegale Waffenverkäufe an den Iran , mit dem es ja seit 1979 keine diplomatischen Kontakte gab , finanzieren ließ ( „Iran-Contra-Affäre“ ). Nichtsdestoweniger gilt Ronald Reagan als Sieger im Kalten Krieg : Die konsequente Durchführung des NATODoppelbeschlusses und die Entwicklung der „Strategischen Verteidigungsinitiative“ ( SDI ) zwangen die Sowjetunion zur Einstellung des für sie ruinösen Wettrüstens.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG37 A ) VON POTSDAM BIS PARIS
Vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 trafen einander im Potsdamer Schloss Cecilienhof die Vertreter der drei Siegermächte : Josef Stalin , Harry Truman und Winston Churchill , der aber Ende Juli von Clement Richard Attlee als Premierminister ( 1945–1951 ) abgelöst wurde. Sowohl Truman als auch Attlee waren noch unerfahren im Umgang mit Stalin und gaben ihm in weiten Teilen nach , zumal sie damals noch meinten , auf den Kriegseintritt der Sowjetunion gegen Japan angewiesen zu sein. Die Potsdamer Konferenz38 war für das besiegte Deutschland keine Friedenskonferenz , aber sie legte die gemeinsame Verantwortung der Alliierten für Deutschland fest. Das Potsdamer Abkommen bestätigte im Wesentlichen die Abmachungen von Jalta ( siehe oben ), also die Aufteilung Deutschlands ( und Österreichs ) in vier Besatzungszonen , den Sonderstatus von Berlin ( und die Spezialregelung von Wien ), die Errichtung eines Alliierten Kontrollrats in Berlin ( und Wien ) sowie die Demobilisierung , Demokratisierung und Entnazifizierung Deutschlands ( und Österreichs ). Deutschland sollte auch Reparationszahlungen leisten , deren Höhe allerdings nie geklärt wurde ; Stalin forderte zunächst zehn , dann fünf Milliarden US-Dollar , begnügte sich aber zuletzt mit der Demontage deutscher Fabriken ( und mit der Arbeitskraft deutscher Kriegsgefangener ). Der neue Grenzverlauf Deutschlands brachte einen Gebietsverlust von etwa 25 Prozent der einstigen Fläche : Königsberg und der Nordteil Ostpreußens fielen an die Sowjetunion , Pommern und Schlesien , also alle Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie ( inklusive Stettin und der Oder-Mündung ) an Polen. Die „ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile aus Ostmitteleuropa“ bedeutete die Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen – keiner der sogenannten „Großen Drei“ bekundete ein Interesse an der sofort einsetzenden humanitären Katastrophe. In Artikel 13 des Potsdamer Abkommens hieß es lediglich : „Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen , der Tschechoslowakei und Ungarn : Die drei Regierungen haben die Frage 37 Vgl. : Gordon A. Craig : Geschichte Europas 1815–1980. Vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart. München 1983. – Curt Gasteyger : Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945–1990. Eine Darstellung und Dokumentation über das Europa der Nachkriegszeit. Köln 1990. – Tony Judt : Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München / Wien 2006. 38 Ernst Deuerle , in : Potsdam 1945. Quellen zur Konferenz der „Großen Drei“. München 1963.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an , dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben , die in Polen , der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind , nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmen darin überein , dass jede derartige Überführung , die stattfinden wird , in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. Da der Zustrom einer großen Zahl Deutscher nach Deutschland die Lasten vergrößern würde , die bereits auf den Besatzungsbehörden ruhen , halten sie es für wünschenswert , dass der Alliierte Kontrollrat in Deutschland zunächst das Problem unter besonderer Berücksichtigung der Frage einer gerechten Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen prüfen soll. Sie beauftragen demgemäß ihre jeweiligen Vertreter beim Kontrollrat , ihren Regierungen sobald wie möglich über den Umfang zu berichten , in dem derartige Personen schon aus Polen , der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland gekommen sind , um eine Schätzung über Zeitpunkt und Ausmaß vorzulegen , zu dem die weiteren Überführungen durchgeführt werden könnten , wobei die gegenwärtige Lage in Deutschland zu berücksichtigen ist.“39
Zur Vorbereitung einer Friedenskonferenz sollte in London ein Außenministerrat zusammentreten. Die Londoner Viermächtekonferenz schuf aber nur ein Statut ( 8. August 1945 ) für den Internationalen Militärgerichtshof und damit die Grundlage für den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ( siehe Kap. 1.C ). Auch die Pariser Außenministerkonferenz ( April bis Juni 1946 ) erzielte keine Einigung hinsichtlich der Deutschlandfrage. Am 10. Februar 1947 wurden aber in Paris die Friedensverträge zwischen den Alliierten und Bulgarien , Finnland , Italien , Rumänien und Ungarn abgeschlossen : Finnland verlor Karelien an die Sowjetunion , Italien musste auf Istrien zugunsten Jugoslawiens verzichten , wobei Triest zunächst als Freistaat unter Verwaltung eines UN-Hochkommissärs stand , 1954 aber an Italien wieder angeschlossen wurde. Italien durfte auch Südtirol behalten. Ungarn blieb in den Grenzen von 1937 bestehen , Rumänien musste Bessarabien und die Bukowina sowie die Süddobrudscha an Bulgarien abtreten. Die Tschechoslowakei galt nach dem Krieg als Siegerstaat , hatte sich aber schon 1943 verpflichtet , die Ostslowakei der Sowjetunion zu übertragen , sodass diese nun auch an Ungarn grenzt. Bezüglich Deutschlands fanden die Alliierten keine Einigung – ein allfälliger Friedensvertrag hätte sämtliche Besatzungszonen umfassen müssen , es gab aber keine Beschlüsse über das Selbstbestimmungsrecht Deutschlands. Finnland lag für Stalin außerhalb des eigentlichen Interessensgebietes , ihm genügte seine Neutralisierung und sein politisches Wohlverhalten ; unter dem politischen Begriff „Finnlandisierung“ verstand 39 Aus : Ludger Kühnhardt : Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem. Massenzwangswanderungen in Geschichte und Politik = Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen 17 , Wien 1984 , S. 57.
A ) VON POTSDAM BIS PARIS
man hinfort den diplomatischen Versuch Moskaus , andere Staaten zu einer ähnlichen Einstellung gegenüber der UdSSR zu verpflichten. Auch Österreich wurde von Stalin als peripher betrachtet ; wenn es nur dauerhaft von Deutschland getrennt blieb und eine Politik der Neutralität verfolgte , könnte die Alpenrepublik unter Umständen in die Unabhängigkeit entlassen werden. Vorerst aber blieb Österreich noch ein Faustpfand Stalins und wurde zum Spielball im Kalten Krieg. Immerhin vertraute der Diktator dem ersten Regierungschef und Bundespräsidenten Karl Renner ( 1945–1950 ) und unterstützte auch keinen kommunistischen Putschversuch. Das offensive Vordringen des Kommunismus veranlasste US-Präsident Truman zu einer Neuausrichtung seiner Politik : Statt Zusammenarbeit mit der Sowjetunion wollte er deren Machtausdehnung fortan eindämmen ( „Containment-Politik“, siehe Kap. 2.A ). Die „Truman-Doktrin“ versprach allen Ländern wirtschaftliche und militärische Hilfe zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit. Unter diesen Vorzeichen entstand der Marshallplan bzw. das European Recovery Program ( ERP ). Der Entwurf zu dieser größten humanitären und wirtschaftlichen Hilfsaktion der Geschichte stammt u. a. vom Diplomaten und Leiter des Planungsstabes im Außenamt ( 1947– 1949 ), George Frost Kennan , für die Durchführung zeichnete der ehemalige Generalstabschef ( 1939–1945 ) und nunmehrige US-Außenminister ( 1947–1949 ) George Catlett Marshall verantwortlich ( er erhielt 1953 den Friedensnobelpreis ). Die Grundkonzeption war gewagt , aber in sich schlüssig : Da die USA als einzige Großmacht mit unzerstörter Wirtschaft aus dem Weltkrieg hervorgingen , waren ihre Kapazitäten in Landwirtschaft , Industrie und Handel derart angewachsen , dass eine Wirtschaftskrise drohte , sollten diese nicht entsprechend genützt werden. Europa hingegen war zerstört und benötigte dringend Wirtschaftshilfe für den Wiederaufbau. Nur konnten weder Sieger noch Besiegte die Wirtschaftshilfe bezahlen , da sie alle verarmt waren. In seiner viel zitierten Rede an der Harvard-Universität vom 5. Juni 1947 führte er aus : „Meine Herren , ich muss Ihnen nicht erklären , dass die Lage der Welt sehr ernst ist. [ … ] In der Beurteilung der Erfordernisse für den Wiederaufbau Europas wurden die Verluste an menschlichem Leben , der sichtbaren Zerstörung von Städten , Fabriken , Bergwerken und Eisenbahnverbindungen korrekt berechnet. Aber während der vergangenen Monate ist klar geworden , dass die sichtbaren Zerstörungen möglicherweise weniger weitreichende Folgen hatten als die Auflösung der gesamten europäischen Wirtschaftsstruktur. [ … ] Das moderne System der Arbeitsteilung , auf dem Austausch von Produktion basierend , droht zusammenzubrechen. Die Wahrheit ist es , dass die Bedürfnisse Europas für die nächsten drei oder vier Jahre an ausländischen Nahrungsmitteln und anderen lebenswichtigen Produkten , in der Hauptsache aus Amerika , um vieles größer sind als die gegenwärtige Fähigkeit Europas , dafür zu bezahlen. Europa muss deshalb eine wesentliche zusätzliche Hilfe erhalten oder einer wirtschaftlichen , sozialen und politischen Verelendung schwersten Charakters entgegengehen.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Das Hilfsmittel besteht darin , den gefährlichen Kreislauf zu unterbrechen und das Vertrauen der europäischen Völker in die wirtschaftliche Zukunft ihrer Länder und Europas als Ganzes wiederherzustellen. Der Fabrikant und der Landwirt müssen wieder fähig und willens sein , die Produkte gegen eine Währung auszutauschen , deren Wert nicht ständig infrage gestellt ist. Auch abgesehen von dem demoralisierenden Effekt auf der Welt als Ganze und den Möglichkeiten von Unruhen , die aus der Verzweiflung der betreffenden Völker entstehen können , würden die Konsequenzen der geschilderten Entwicklung für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten eindeutig sein. Es ist daher logisch , dass die Vereinigten Staaten alles Mögliche tun sollten , um die Wiederkehr normaler wirtschaftlicher Verhältnisse in der Welt herbeizuführen , ohne welche eine politische Stabilität und ein gesicherter Friede nicht bestehen können. Unsere Politik ist nicht gegen irgendein Land oder eine Doktrin , sondern gegen Hunger , Armut , Verzweiflung und Chaos gerichtet. [ … ] Jede Regierung , welche den Wiederaufbau anderer Länder zu verhindern sucht , kann keine Hilfe von uns erwarten. Regierungen , politische Parteien oder Gruppen , welche bestrebt sind , das menschliche Elend zu verewigen , um daraus politisch oder in anderer Weise zu profitieren , werden auf den Widerstand der Vereinigten Staaten stoßen. [ … ]“40
Mit Absicht stellte Marshall die ERP-Hilfe so dar , dass sie jene Staaten , die bereits unter sowjetischem Einfluss standen , nicht annehmen konnten , ohne ihr System zu ändern. Daher lehnten die Sowjetunion und auf Befehl Stalins die von ihr kontrollierten Ostblockstaaten die Teilnahme ab – laut Stalin wäre der Marshallplan ( so wie der Internationale Währungsfonds IWF ) ein imperialistisches Instrument zur Unterdrückung Europas. 16 demokratische westeuropäische Staaten folgten hingegen der Einladung zur Konferenz nach Paris ( 12. Juli bis 22. September 1947 ) und bildeten das CEEC ( „Comitee on European Economic Cooperation“ ). Bis Mitte 1952 sollten die Teilnehmerstaaten Geschenke in Form von Geld ( ausschließlich zum Kauf von US-Produkten ), Lebensmitteln , Dünger und Saatgut , Rohstoffen , Investitionsgütern ( z. B. Maschinen ), Medikamenten und nicht zuletzt von Frachtkosten erhalten. Am 3. April 1948 verabschiedete der Senat den Marshallplan als „Auslandshilfegesetz“, noch im selben Jahr lief die Aktion an. Alles in allem umfasste sie einen Wert von 12,4 Milliarden US-Dollar ( heutiger Wert etwa 70 Milliarden Euro ); Präsident Truman meinte dazu , das wären nur fünf Prozent der amerikanischen Kriegskosten gewesen. Die westlichen Besatzungszonen Deutschlands ( inklusive Westberlin ) erhielten 3,3 Milliarden US-Dollar ,41 die westlichen Besat40 Jelinek : Reden , a. a. O. , S. 179 ff. – Otto Frass : Quellenbuch zur österreichischen Geschichte 4 ( 1918–1955 ), Wien 1967 , S. 293 f. 41 Gerd Hardach : Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952. München 1994.
B ) DIE DEUTSCHE FRAGE NACH 1945
zungszonen Österreichs beachtliche 1,6 Milliarden. ( Seit 1962 darf Österreich über die ERP-Mittel frei verfügen ; der ERP-Fonds bildet eine eigene Rechtspersönlichkeit , die von der Austria Wirtschaftsservice Gesellschaft mbH verwaltet wird ; ihr Vermögen beträgt etwa drei Milliarden Euro , die jährlich an die Wirtschaft vergebenen Kredite belaufen sich auf 450 bis 600 Millionen Euro. ) Die ERP-Hilfe fiel auf fruchtbaren Boden , nicht zuletzt , weil durch entsprechende Kontrollen Korruption ausgeschlossen war. Sie wendete eine Nachkriegsrezession ab , wie sie nach dem Ersten Weltkrieg eingetreten war , und verhinderte auch die Machtergreifung des Kommunismus außerhalb des sowjetischen Einflussgebietes. Bereits 1953 konnte die Wirtschaft der CEEC-Staaten den Vorkriegsstand erreichen , dank des Marshallplans setzte dort das größte Wirtschaftswunder der Geschichte ein. Im Jahr 1960 mutierte das CEEC durch den Beitritt der USA und Kanadas zur „Organization for Economic Cooperation and Development“ ( OECD ), 1963 trat auch Japan bei , andere Staaten folgten dieser bedeutendsten wirtschaftlichen Organisation westlicher Industrieländer , deren Ziel das höchste mögliche Wirtschaftswachstum auf marktwirtschaftlicher Basis ist. B ) D IE DEUTSCHE FRAGE NACH 1945 42
Unmittelbar nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht übernahmen die vier Oberbefehlshaber der Alliierten die oberste Gewalt in den ihnen zugewiesenen Besatzungszonen : General Eisenhower , der spätere US-Präsident , wurde Oberbefehlshaber in Bayern und Hessen ( sowie in der Hansestadt Bremen gemeinsam mit den Briten );43 der britische Feldmarschall Bernard Law Montgomery in Nordrhein-Westfalen , in Niedersachsen , Schleswig-Holstein sowie in den Hansestädten Hamburg und Bremen ); der französische General Jean de Lattre de Tassigny in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ; das Saarland wurde ebenfalls der französischen Zone zugerechnet , später wurde es zum Saarprotektorat umgewandelt.44 In der sowjetischen Besatzungszone ( SBZ ), die Thüringen , Sachsen , Sachsen-Anhalt , Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern umfasste , erhielt Marschall Georgi Konstan42 Ernst Nolte : Deutschland und der Kalte Krieg. Stuttgart 21985. – Rolf Steininger : Deutsche Geschichte seit 1945. Darstellung und Dokumente in vier Bänden. Frankfurt am Main 1996–2002. – Ders. : Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und deutsche Frage in den Fünfzigern. München 1993. 43 Klaus-Dietrich Henke : Die amerikanische Besatzung Deutschlands. München 1995. – Detlef Junker ( Hg. ): Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945– 1990. Ein Handbuch. 2 Bde. , Stuttgart 2001. – Klaus Larres : Politik der Illusionen. Churchill , Eisenhower und die deutsche Frage 1945–1955. Göttingen 1995. 44 Raymond Poidevin ( Hg. ): Die Deutschlandpolitik Frankreichs und die französische Zone 1945–1949. Wiesbaden 1983.
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tinowitsch Schukow ( Žukov ) den Oberbefehl.45 ( Österreich wurde derart aufgeteilt , dass Salzburg und Oberösterreich südlich der Donau an die USA fielen , Niederösterreich , Oberösterreich nördlich der Donau und das Burgenland an die UdSSR , Kärnten und die Steiermark an England , Tirol und Vorarlberg an Frankreich. Anders als Berlin , das in vier Sektoren mit einem überdimensionalen sowjetischen Sektor geteilt wurde , hingen in Wien die jeweiligen Besatzungszonen räumlich nicht zusammen , auch wurde die Innenstadt gemeinsam verwaltet. ) Sehr bald zeigte sich , wie verschieden unter dem Vorzeichen des beginnenden Ost-West-Konflikts die Besatzungspolitik gehandhabt wurde , sodass sich die drei westlichen Zonen ganz anders entwickelten als die sowjetische. Das oben erwähnte Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 sah unter anderem die „Vernichtung des Nationalsozialismus“ vor. Während die westlichen Besatzungsmächte unter Entnazifizierung eine politische Säuberung verstanden , verfolgten die Sowjets mit Säuberung auch einen sozialrevolutionären Zweck ( Enteignung von Adeligen und Besitzbürgern ). Gemäß einem von der amerikanischen Militärregierung entwickelten und von den beiden westlichen Besatzungsmächten übernommenen Verfahren wurde die gesamte Bevölkerung überprüft ; jeder der ca. sechs Millionen Parteigenossen ( PG ) musste sich einem Fragebogenverfahren unterziehen ( dies galt auch für die 600. 000 österreichischen PG ). Für sie wurde eine Unterteilung in fünf Kategorien getroffen : Hauptschuldige , Belastete , Minderbelastete , Mitläufer und Entlastete. Deutsche Spruchkammern fällten die Urteile , gegen die nur einmal berufen werden durfte. Der Strafrahmen reichte von Internierung bzw. Gefängnis bis zu zehn Jahren , Amtsverlust bzw. Berufsverbot , Vermögensentziehung bzw. Geldbuße sowie befristete Aberkennung des Wahlrechts ( in Österreich bis 1949 ). In der US-Zone wurden die Sühnemaßnahmen strenger gehandhabt46 als in der englischen und französischen. In der sowjetischen Besatzungszone verlief die Entnazifizierung nach einem anderen Schema , dort erfasste sie nicht die gesamte Bevölkerung , vielmehr wurden nur etwa 800. 000 ehemalige PG überprüft. Mitläufer , die sich zur Politik der Sowjetunion und der SED ( Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ) bekannten , gingen straffrei aus. In Potsdam wurde auch die Wirtschaftspolitik für Deutschland festgelegt. Es ging den Alliierten zunächst um die sogenannte Entflechtung und Zerschlagung der Konzerne und Kartelle sowie der Großbanken. Die deutsche Handelsflotte war ebenso beschlagnahmt worden wie die Patentrechte und das Auslandsvermögen. Damit die Produktion , namentlich in der Landwirtschaft und in den Bergwerken , wieder in 45 Norman M. Naimark : Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945–1949. Berlin 1997. – Stefan Creuzberger : Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ. Weimar / Wien 1996. 46 Vgl. den ironisch-sarkastischen Lebensbericht von Ernst von Salomon : Der Fragebogen. Hamburg 1951.
B ) DIE DEUTSCHE FRAGE NACH 1945
Gang kam , wurde eine Arbeitspflicht für Männer und Frauen verfügt , Facharbeiter und Wissenschaftler wurden zwangsverpflichtet. Eine Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone sah die entschädigungslose Enteignung und Neuverteilung allen Grundbesitzes über 100 Hektar vor. Zwar hatten die USA den Morgenthau-Plan ( Zerstückelung , Entindustrialisierung , Agrarisierung Deutschlands , siehe Kap. 1.A ) verworfen , doch beschloss der Alliierte Kontrollrat im März 1946 den Deutschen Industrieplan : Demgemäß sollte die Industrieproduktion maximal 55 Prozent des Vorkriegsstandes erreichen ( z. B. nur 40. 000 Kfz ), bestimmte Produkte , wie Kugellager , Werkzeugmaschinen , Traktoren , Flugzeuge , Aluminium , synthetisches Benzin und Gummi durften überhaupt nicht erzeugt werden. Allerdings sahen die USA und Großbritannien sehr rasch , dass derartige Restriktionen ins Chaos führen mussten und änderten ihre Wirtschaftspolitik : Mit 1. Januar 1947 schlossen sie ihre Zonen zu einem „Vereinigten Wirtschaftsgebiet“ zusammen ( „Bizone“ ), die Franzosen traten ein Jahr später angesichts des kommunistischen Staatsstreichs in Prag der „Bizone“ bei. In der SBZ wurden indessen jene Produktionsstätten , die nicht demontiert worden waren , in „Volkseigene Betriebe“ umgewandelt , Bergwerke wurden verstaatlicht. Noch im Jahr 1945 konstituierten sich unter Zustimmung der Alliierten die politischen Parteien in Deutschland : KPD , SPD , CDU / CSU und FDP. In der SBZ wurden 1946 KPD und SPD zwangsweise zur SED fusioniert ,47 in den westlichen Zonen kam es zu keinen Parteizusammenschlüssen. Dort wurden die Bundesländer neu errichtet und erhielten durch Landtagswahlen ihre ersten parlamentarischen Regierungen. Anfang 1948 gewährten Großbritannien und die USA der „Bizone“ bereits staatsähnliche Verwaltungskompetenzen. Vom 23. Februar bis zum 5. März 1948 tagte die Londoner Sechsmächtekonferenz , an der die USA , Großbritannien , Frankreich , Belgien , die Niederlande und Luxemburg teilnahmen. Die sechs Staaten einigten sich auf eine gemeinsame Ordnung für die westlichen Besatzungszonen und empfahlen in den „Frankfurter Dokumenten“ den Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer , eine verfassungsgebende Nationalversammlung einzuberufen. Daraufhin verließen die Sowjets den Alliierten Kontrollrat , sodass sich dieser von selbst auflöste. Da es nun keine gemeinsame Politik zur Deutschlandfrage gab , lief alles auf eine Zwei-Staaten-Lösung hinaus. ( In Österreich hatten sich noch vor Kriegsende die politischen Parteien selbst gegründet , bereits am 23. April 1945 begann die provisorische Regierung unter Karl Renner zu arbeiten , und am 25. November desselben Jahres fanden die ersten Nationalratswahlen der Zweiten Republik statt. Die Kommunisten erlebten – trotz massiver Unterstützung durch die UdSSR – mit nur vier von 165 Mandaten ein Desaster ; manche Historiker sind der Meinung , dass genau mit diesem
47 Vgl. die autobiografische Beschreibung der Anfangsjahre in der DDR von Wolfgang Leonhard : Die Revolution entlässt ihre Kinder. Köln 1955.
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Wahlergebnis der Kalte Krieg begonnen hätte.48 Erster österreichischer Bundeskanzler : Leopold Figl [ 1945–1953 ] ; erster Bundespräsident : Karl Renner [ 1945–1950 ]. )49
Besatzungszonen in Deutschland und Österreich Luftkorridore nach Berlin während der Blockade 1948/49
48 Günter Bischof : Österreich – ein geheimer Verbündeter des Westens ? In : Michael Gehler , Rolf Steininger ( Hgg. ): Österreich und die europäische Integration 1945–1993. Aspekte einer wechselseitigen Entwicklung = Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen 1 , Wien / Köln / Weimar 1993 , S. 430. 49 Manfried Rauchensteiner : Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945–1955. Graz 1979.
B ) DIE DEUTSCHE FRAGE NACH 1945
Die deutsche Kriegswirtschaft hatte zu einer enormen Geldvermehrung ( ohne Teuerung ) geführt , mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches verursachte der Geldüberhang eine galoppierende Inflation. Die Reichsmark verlor weitgehend ihre Funktion als Zahlungsmittel , an ihrer statt trat ein moderner Tauschhandel , wobei begehrte Waren wie Zigaretten oft als Zwischentauschmittel Verwendung fanden. Als die Verhandlungen der Westmächte um eine in allen Zonen gültige Währung an der Sowjetunion scheiterten , wurde ab 20. Juli 1948 in den drei westlichen Zonen sowie in Westberlin die Währungsreform durchgeführt : Im Verhältnis zehn zu eins konnte die Reichsmark in die neue D-Mark eingewechselt werden. Die Sowjets nahmen dies zum Anlass für die Berlinblockade : In der Zeit vom 24. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 sperrten sie sämtliche Zufahrtswege von West- nach Ostberlin und zugleich auch die Transitwege in die westlichen Besatzungszonen. Ihr Ziel , durch diese Blockade ganz Berlin unter ihre Kontrolle zu bringen , scheiterte am Durchhaltevermögen der Westberliner und an der Entschlossenheit der Westmächte. US-Gouverneur General Lucius Dubignon Clay ( 1947–1949 ) veranlasste den Aufbau einer Luftbrücke : Mit insgesamt 277. 728 ( täglich bis zu 927 ) Transportflügen ( „Rosinenbomber“ ) brachten amerikanische und britische Flugzeuge 2. 110. 235 Tonnen ( täglich bis zu 6393 Tonnen ) Lebensmittel , Industriewaren und Kohle in den Westsektor Berlins. Während dieser ersten Berlinkrise kam es zur Teilung der Stadt : Das Stadtparlament wurde nach Westberlin verlegt , Ostberlin erhielt seinen eigenen Ost-Magistrat. Erster Oberbürgermeister Westberlins wurde der SPDKommunalpolitiker Ernst Reuter ( 1947–1952 ), erster Oberbürgermeister Ostberlins der SED-Mitbegründer Friedrich Ebert ( 1948–1967 ). Nach Ende der Blockade wurde Ostberlin zur Hauptstadt der DDR , die inzwischen ebenfalls eine Währungsreform nach demselben Umtauschverhältnis ( zehn Reichsmark zu einer Ost-Mark ) durchgeführt hatte. ( Eine Zeitlang befürchteten die Westalliierten auch eine „Wienblockade“ durch die Sowjets. Da sich in den Westsektoren Wiens im Gegensatz zu Berlin kein Flughafen befand , planten US-Militärs die Anlage eines provisorischen Flugplatzes auf der Simmeringer Haide.50 ) Am 1. September 1948 konstituierten 65 von den Landtagen der westlichen Bundesländer gewählte Personen in Bonn , der künftigen Hauptstadt , einen „Parlamentarischen Rat“ unter dem Präsidium des CDU-Vorsitzenden Konrad Adenauer. Diese konstituierende Versammlung beschloss – im Einvernehmen mit den Alliierten – am 8. Mai 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Mit dessen
50 Erwin A. Schmidl : „Rosinenbomber“ über Wien ? Alliierte Pläne zur Luftversorgung Wiens im Falle einer sowjetischen Blockade 1948–1953. In : Erwin A. Schmidl ( Hg. ): Österreich im frühen Kalten Krieg 1945–1958. Spione , Partisanen , Kriegspläne. Wien / Köln / Weimar 2000 , S. 171–192.
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Verkündung am 23. Mai 1949 wurde die Staatsgründung der BRD vollzogen.51 Nach den ersten Bundestagswahlen am 14. August 1949 gingen CDU / C SU als stärkste politische Verbindung hervor. Konrad Adenauer , einst Oberbürgermeister von Köln ( 1917–1933 und 1945 ), wurde erster Bundeskanzler der BRD ( 1949–1963 ; gest. 1967 ). Zum ersten Bundespräsidenten wählte der Bundestag den Schriftsteller , Historiker und FDP-Politiker Theodor Heuss ( 1949–1959 ; gest. 1963 ). Gestützt auf ERP-Hilfe und sanierte Währung , verschrieb sich die Regierung Adenauer innenpolitisch ganz der sozialen Marktwirtschaft und dem Wiederaufbau. Die Außenpolitik war durch eine Strategie der Vertrauensbildung gegenüber den Westmächten bestimmt mit dem Ziel , den Besatzerstatus zu beenden. 1951 wurde dieser zunächst nur revidiert und damit der Kriegszustand beendet , auch endeten endlich die Demontagen und die Industrieverbote. Der verschärfte Ost-West-Konflikt beschleunigte den Weg der BRD zur vollen Souveränität , insbesondere kam ihr der Koreakrieg zugute , da US-Präsident Truman auch einen deutschen Beitrag zur Verteidigung Europas wünschte. Als sich daher 1952 die Bundesrepublik verpflichtete , deutsche Streitkräfte im Rahmen einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ ( EVG ) aufzustellen , erreichte sie im „Deutschlandvertrag“ ( 26. Mai 1952 ) das Ende des Besatzungsstatus‘ ( obwohl die EVG wegen Frankreichs Veto nie zustande kam ). Noch am 10. Mai hatte Stalin versucht , den heftigen innerdeutschen Widerstand gegen eine Wiederbewaffnung für sowjetische Zwecke zu instrumentalisieren und in einer Note den Vorschlag eines vereinten , neutralisierten Deutschlands unterbreitet ; dieses Einigungsangebot war aber nie ernst gemeint und wurde von Bonn als Störmanöver durchschaut. 1955 entließen die Westmächte die BRD schließlich in die volle Souveränität. Mit dem Beitritt zur NATO begann der Aufbau der Deutschen Bundeswehr. In der SBZ mobilisierte schon 1947 die SED eine Versammlung von aus ihr genehmen Vertretern der Parteien und Massenorganisationen , die sich „Deutscher Volkskongress“ nannte. Im März 1948 wählte der Volkskongress den ersten , im Mai 1949 den zweiten „Deutschen Volksrat“, letzterer nahm am 30. Mai 1949 den Verfassungsentwurf an , konstituierte sich am 7. Oktober 1949 als „provisorische Volkskammer“ und rief am selben Tag die Deutsche Demokratische Republik ( DDR ) aus.52 Der Volkskongress hingegen mutierte zur „Nationalen Front der DDR“, deren Aufgabe darin bestand , die Bevölkerung im Sinne der SED zu lenken und Kandidaten für Richter- , Schöffen- und Volkskammerwahlen ( erstmals 1950 ) zu benennen. Sie 51 Michael Gehler : Deutschland von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute. Wien / Köln / Weimar 2010. –Christoph Kleßmann : Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955. Bonn5 1991. – Bernd Stöver : Die Bundesrepublik Deutschland. Kontroversen um die Geschichte. Darmstadt 2002. 52 Kleßmann , a. a. O.
B ) DIE DEUTSCHE FRAGE NACH 1945
schlug auch gleich ihren Präsidenten , den ehemaligen SPD-Politiker Otto Grotewohl , zum ersten Ministerpräsidenten der DDR vor ( 1949–1964 , gest. 1964 ). Ihn beauftragte die Volkskammer mit der Bildung einer „Blockregierung“ aus allen Parteien , allerdings unter dem Machtmonopol der SED. Stellvertretender Ministerpräsident wurde Walter Ulbricht ; dieser Vertrauensmann Stalins hatte 1945 den Wiederaufbau der KPD organisiert und bestimmte von 1950 bis zu seinem Tod 1973 als Generalsekretär der SED die Politik der DDR. Wesentlich geringer war der politische Einfluss des Staatspräsidenten Wilhelm Pieck ( 1949–1960 ), obwohl auch er ein KPD-Politiker der ersten Stunde war und sich schon am Spartakusaufstand 1919 beteiligt hatte. Ulbricht gestaltete Partei , Staat und Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild um und bediente sich auch stalinistischer Herrschaftsmethoden. „Oberste Gerichte“, eine „Oberste Staatsanwaltschaft“ und vor allem der „Staatssicherheitsdienst“ ( seit 1950 ) sorgten als Überwachungs- und Repressionsorgane für die Kontrolle von Staat und Gesellschaft sowie für die Disziplinierung der Bevölkerung. 1952 beschloss die SED den „Aufbau des Sozialismus“: Die Landwirtschaft wurde zunehmend kollektiviert , der Staatsanteil an der Industrie systematisch vergrößert. Die fünf Bundesländer wurden nun in 14 Verwaltungsbezirke umgewandelt. Als nach Stalins Tod ( 1953 ) der sowjetische Ministerpräsident Malenkov einen „Neuen Kurs“ verkündete , beschloss auch die SED eine neue Politik zur Verbesserung des Lebensstandards , vermochte aber weder der Versorgungskrise Herr zu werden noch das Angebot an Konsumgütern zu verbessern. Als sie die Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent verkündete , womit die reale zehnprozentige Senkung des Lohnniveaus verbunden war , blieben offene Proteste nicht aus. Diese gipfelten im Juniaufstand ( 17. Juni 1953 , siehe Kap. 3.D ) in Berlin und anderen Industriestädten , der blutig niedergeschlagen wurde. Die DDR-Führung behielt die stalinistischen Praktiken bei und setzte die Umwandlung der Wirtschafts- und Sozialordnung nach sowjetischem Vorbild verstärkt durch. 1954 verzichtete die Sowjetunion auf weitere Reparationsleistungen der DDR und gewährte ihr 1955 die volle Unabhängigkeit ; 1956 trat die neu aufgestellte „Nationale Volksarmee“ ( NVA ), deren äußere Erscheinung verblüffend der Deutschen Wehrmacht ähnelte , dem Warschauer Pakt bei.53 Bis 1955 propagierte die DDR-Führung die Wiedergewinnung der deutschen Einheit , schwenkte aber dann , nach einer Ansprache Chruschtschows im Juli 1955 , auf dessen Zweistaatentheorie ein : Sollte es doch zu einer Wiedervereinigung kommen , müssten die „sozialistischen Errungenschaften“ beibehalten werden. Wie zur Antwort formulierte der westdeutsche Staatssekretär im Bundeskanzleramt ( 1951–1957 ) Walter Hallstein den Alleinvertretungsanspruch der BRD : Die nach dem prominenten Juristen und beharrlichen Verfechter der europäischen Union benannte „Hallsteindoktrin“ vom 29. Septem53 Bruno Thoß ( Hg. ): Volksarmee schaffen – ohne Geschrei. Studien zu den Anfängen einer verdeckten Aufrüstung in der SBZ / DDR. München 1994.
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ber 1955 erlaubte keine völkerrechtlichen Beziehungen zu Staaten , welche die DDR diplomatisch anerkennen ( ausgenommen die UdSSR ). Tatsächlich brach die BRD deshalb 1957 die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien und 1963 zu Kuba ab. Angesichts der neuen Deutschland- und Ostpolitik des Bundeskanzlers Willy Brandt ( 1969–1974 ; gest. 1992 ) gab Bonn 1969 die Hallsteindoktrin auf. Am 27. November 1958 löste Nikita Chruschtschow die zweite Berlinkrise aus , indem er ultimativ den Abzug der Westmächte aus Berlin binnen sechs Monaten und die Bildung einer „Freien Stadt Westberlin“ forderte , andernfalls würde er alle sowjetischen Rechte über Berlin , gemeint waren die Zufahrtskontrollen zu Westberlin , an die DDR abtreten. Die Westmächte ließen sich jedoch nicht einschüchtern und gaben Garantieerklärungen für ihre drei Sektoren ab , sodass Moskau schließlich einlenkte.54 Keine der Großmächte war an einer militärischen Konfrontation wegen Berlin interessiert. Nichtsdestoweniger erneuerte der sowjetische Ministerpräsident anlässlich eines Gipfeltreffens mit dem US-Präsidenten John F. Kennedy in Wien im Juni 1961 sein Berlin-Ultimatum vom November 1958 , worauf Kennedy drei Grundbedingungen zur Berlinfrage außer Diskussion stellte : Verbleib der Westmächte in Berlin , freier Zugang von und nach dem Westen und freie Entscheidung der Westberliner über ihr politisches System. Daraufhin gab Moskau der DDR-Führung die Weisung zum Bau der Berliner Mauer. Nikita Chruschtschow sagte im Gespräch mit Ulbricht am 1. August 1961 über die für 13. August geplante Schließung der Sektorengrenze : „Ich hatte unseren Botschafter gebeten , Ihnen meine Vorstellungen dazu darzulegen , wie die entstandene Situation der Spannung zum Westen genutzt und ein eiserner Ring um Berlin gelegt werden soll. Das lässt sich [ gegenüber der DDR-Öffentlichkeit ] leicht erläutern : Man droht uns mit Krieg , und wir wollen nicht , dass man Spione zu uns schickt. So eine Erklärung verstehen die [ Ost ]Deutschen. Dann würden sie im Interesse des Warschauer Pakts handeln und nicht nur in ihrem eigenen Interesse. Ich denke , dass unsere Truppen so einen Ring legen müssen , und ihn kontrollieren werden Ihre Truppen. Erstens muss man das vor Abschluss des Friedensvertrags [ mit Deutschland ] machen. Das wird ein Druckmittel sein und uns zeigen , dass wir an diese Frage mit allem Ernst herangehen , und wenn man uns einen Krieg aufzwingt , wird es Krieg geben. Zweitens hilft ihnen das , weil es den Exodus [ gemeint : die Republikflucht ] verhindert. [ … ] Ich habe mir den Bericht unseres Generalstabes angehört , und wir tun alles , was nötig ist. Wir graben Panzer an der Grenze zur BRD ein , 54 Joachim Arneth : Der Westen tut nichts ! Transatlantische Kooperation während der zweiten Berlin-Krise ( 1958–1962 ) im Spiegel neuer amerikanischer Quellen. Frankfurt am Main 1993. – Gerhard Wettig : Chruschtschow und die Berlin-Krise im Kalten Krieg. In : Historicum , Frühling / Sommer 2010 , S. 16–31.
B ) DIE DEUTSCHE FRAGE NACH 1945 hinter den Stellungen Ihrer Soldaten. Wir werden dies „geheim“ tun , sodass der Westen es erfährt. Das ist nicht schlecht. Möglicherweise werden wir einige Divisionen in die DDR verlagern. Ich habe dem Berater Kennedys [ John J. McCloy ] am 27. Juli gesagt : Für jede Ihrer Divisionen stellen wir zwei auf ; wenn Sie die Mobilisierung erklären , dann werden auch wir sie erklären. [ … ]“55
Die aus dem Mauerbau resultierende dritte Berlinkrise hatte sich schon seit Langem abgezeichnet ,56 denn die schlechteren Lebensumstände , der geringere Wohlstand und die drückenden politischen Verhältnisse hatten bereits allzu viele DDR-Bürger , insbesondere junge und gut ausgebildete Fachkräfte , veranlasst , in den Westen zu flüchten. Zwischen 1949 und 1961 waren nicht weniger als 2,7 Millionen , also 15 Prozent der DDR-Bevölkerung ( insgesamt 18 Millionen ), in die BRD emigriert , sodass die Wirtschaft Ostdeutschlands zu kollabieren drohte.57 Im selben Zeitraum zogen lediglich 400. 000 bis 600. 000 aus der BRD in den Osten.58 Schon 1952 waren an den Zonengrenzen Sperren errichtet worden , die in der Folge durch Wachttürme , Minenfelder usw. ständig verstärkt wurden ; ein Passgesetz stellte 1957 die Republikflucht und die Beihilfe zur Republikflucht unter Strafe ( drei Jahre , ab 1979 acht Jahre Gefängnis ), die Fluchtbewegungen dauerten jedoch an. Um diese endgültig zu verhindern , gab Ulbricht am 13. August 1961 den Befehl zur Errichtung der Berliner Mauer , in seiner Diktion eines „antifaschistischen Grenzwalles“ zur „Verhinderung eines militärischen Überfalls“. Die Mauer , welche West- von Ostberlin trennte , hatte eine Länge von 45,1 Kilometern , ein ähnliches Sperrsystem schloss Westberlin vom DDR-Territorium und die DDR von der BRD ab. Erst 1963 wurde nach langwierigen Verhandlungen das „Erste Passierscheinabkommen“ getroffen , sodass Westberliner erstmals ihre Verwandten in Ostberlin besuchen durften ; über eine Million Menschen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. 1964 und 1965 folgten weitere entsprechende Abkommen. Die Bewachung der Berliner Mauer erfolgte durch Soldaten der Nationalen Volksarmee , denen der Schießbefehl erteilt worden war. Bis zur Wende 1989 wurden 133 Flüchtlinge in Berlin und etwa 700 an der innerdeutschen Grenze erschossen.59 55 Wettig , a. a. O. , S. 22. 56 Manfred Wilke : Ulbrichts Weg zur Mauer. In : Historicum , Frühling / Sommer 2010 , S. 56–63. 57 Volker Ackermann : Der „echte“ Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–1961. Osnabrück 1995. 58 Andrea Schmelz : Politik und Migration im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges. West-Ost-Migration in die DDR in den 1950er- und 1960er-Jahren. Opladen 2002. 59 Peter Bender : Die „Neue Ostpolitik“ und ihre Folgen. Vom Mauerbau bis zur Vereinigung. München 31995. – Hendrik Thoß ( Hg. ): Europas Eiserner Vorhang. Die deutschdeutsche Grenze im Kalten Krieg. Berlin 2008.
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Die Berliner Mauer war mehr als nur ein Symbol des Kalten Krieges , sie schien die Grenzen des demokratischen Westens zum kommunistischen Ostblock endgültig festzulegen , demgemäß dürften sich in Europa keine territorialen und gesellschaftlichen Veränderungen mehr ergeben. Die beiden einander gegenüberstehenden waffenstarrenden Blöcke sahen sich in einer Pattsituation und riskierten keine militärische Provokation des Gegners in Mitteleuropa. Die großen Auseinandersetzungen fanden ausschließlich in anderen Teilen der Welt statt. Die DDR entwickelte sich zum Vorzeigeland des Kommunismus , in dem das marxistisch-leninistische System zur Perfektion und die Moskautreue ebenso wie die Moskauabhängigkeit zum Prinzip erhoben wurden.60 Neben der ČSSR war sie der einzige hoch industrialisierte Ostblockstaat. Dass die wirtschaftliche Produktivität mit westlichen Verhältnissen keinesfalls mithalten konnte , wurde freilich erst nach der Wende offenkundig , ebenso übersah man im Westen oft die schweren Restriktionen , denen sich die DDR-Bevölkerung ausgesetzt sah. Denn trotz einer Anfang der 1960er-Jahre einsetzenden Entstalinisierung wurde die Integration der Bevölkerung in das sozialistische System mit aller Konsequenz vorangetrieben ; eine Maßnahme dazu war das 1963 verordnete „einheitliche sozialistische Bildungssystem“. Die „klassenlose Gesellschaft“ blieb nichtsdestoweniger ein Schlagwort , denn die Klassenunterschiede wurden nur scheinbar aufgehoben : Eine privilegierte Oberschicht hob sich deutlich von der Masse der Bevölkerung ab ( z. B. mit Reiseerlaubnis in den Westen ), was der Unzufriedenheit vieler Bürger mit der politischen und gesellschaftlichen Situation zusätzliche Nahrung gab. Aus ganz anderen Gründen herrschte auch in Westdeutschland in der Studenten- und Intellektuellenszene eine Unzufriedenheit mit dem System , aus der die 68er-Bewegung und mit ihr eine neue Aufklärung hervorging ( siehe Kapitel 3.F ). In der DDR fand die 68er-Revolution nicht statt ( deswegen gab es so starke Verständigungsschwierigkeiten zwischen „Ossis“ und „Wessis“ nach der Wiedervereinigung 1989 ), die DDR-Bevölkerung erlebte demnach keine neue Aufklärung , andernfalls wäre das Lied „Die Partei hat immer recht“ wohl nicht möglich gewesen. Auf Systemkritiker und Dissidenten reagierte der Staatsapparat wie jener der Sowjetunion , also mit Berufsverbot , Verhaftung , oder – wie im Falle des prominenten Liedermachers Karl Wolf Biermann – mit Ausbürgerung ( 1976 ). In den 1970er-Jahren wurde die DDR außenpolitisch in der Dritten Welt aktiv : Im Sinne der kommunistischen Weltrevolution gewährte sie kommunistischen Staaten und Bewegungen in Afrika ( Äthiopien , Angola , Moçambique , SWAPO , ANC ), Asien ( Volksrepublik Jemen , PLO ) und Lateinamerika ( Kuba , Nicaragua ) militärische und wirtschaftliche Hilfe beim Kampf gegen „Imperialismus , Kolonialismus und Neokolonialismus“.61 60 Armin Mitter , Stefan Wolle : Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte. München 1995. 61 Hans Siegfried Kupper : DDR und Dritte Welt. München 1976.
B ) DIE DEUTSCHE FRAGE NACH 1945
Walter Ulbricht konnte 1960 seine Macht noch ausweiten , als er neben der schon bisher innegehabten SED-Führung den Vorsitz der beiden für ihn neu geschaffenen Ämter „Nationaler Verteidigungsrat“ und „Staatsrat“ übernahm und dadurch bis zu seinem Tod 1973 Staatsoberhaupt blieb. Nach dem Tod von Otto Grotewohl wurde Willi Stoph Ministerpräsident ( 1964–1973 und 1976–1989 ) und war von 1973 bis 1976 Vorsitzender des Staatsrats. 1971 wurde Erich Honecker Nachfolger Ulbrichts als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats , 1976 bis 1989 auch Vorsitzender des Staatsrats und damit Staatsoberhaupt. Nach der Wende konnte sich Honecker nach Moskau absetzen ( siehe Kap. 10.C ), ein Gerichtsverfahren gegen Stoph platzte wegen Prozessunfähigkeit des Angeklagten. Während die DDR in der öffentlichen Meinung der westlichen Welt nur zu oft als Erfolgsmodell des Kommunismus gepriesen wurde , entwickelte sich die BRD tatsächlich zu einer Musterdemokratie und zur Wirtschaftslokomotive Europas , die mit Japan um Rang zwei der größten Wirtschaftsmächte der Erde ( nach den USA ) ritterte. Ein solcher Aufschwung nach dem Prinzip der sozialen Marktwirtschaft war nicht zuletzt dem Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard ( 1949– 1963 ) zu verdanken , der als Nachfolger Adenauers von 1963 bis 1966 als deutscher Bundeskanzler eine kleine Koalition ( CDU / CSU-FDP ) anführte. Ihm folgte der CDU-Politiker Kurt Georg Kiesinger ( 1966–1969 ) mit einer Regierung der großen Koalition ( CDU / CSU und SPD ); Studentenunruhen ( 1967 Gründung der „Außerparlamentarischen Opposition“ APO ) kündeten eine Neubewertung herkömmlicher Tabus und Moralvorstellungen an , welche im Sinne der „Frankfurter Schule“ zur 1968er-Revolution führte ( siehe Kap. 3.F ). Dagegen versuchte Bundeskanzler Willy Brandt ( 1969–1974 )62 , der „linken Szene“ den Wind aus den Segeln zu nehmen , indem er – wie der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky ( 1970–1983 ) – etliche Forderungen der „68er-Revolution“ in das Programm seiner Regierung ( sozialliberale Koalition ) aufnahm. Einige zur Gewalt entschlossene Radikale versuchten jedoch , durch Terror die Veränderung der Gesellschaft zu erzwingen ( „Rote Armee Fraktion“ RAF ) und hielten über ein Jahrzehnt hindurch die Innenpolitik in Schach. Die RAF-Mitglieder benutzten die DDR als „Anlehnungsstaat“, in dem sie jederzeit untertauchen konnten , ihre Ausbildungslager befanden sich im Nahen Osten in PLO-Camps. Außenpolitisch bekannte sich der SPD-Kanzler Willy Brandt zur Politik der Entspannung und daher zur „Existenz von zwei deutschen Staaten in einer Nation“. Im Dezember 1972 schloss er mit der DDR den Grundvertrag , der die gegenseitige Anerkennung der beiden deutschen Staaten zum Inhalt hatte. Als Folge dieses Vertrages wurden BRD und DDR 1973 in die UNO aufgenommen. Der 1971 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Willy Brandt 62 Willy Brandt : Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975. Hamburg 1978.
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musste zurücktreten , weil sein persönlicher Referent im Bundeskanzleramt , Günter Guillaume , als DDR-Spion enttarnt wurde. Nun führte sein bisheriger Verteidigungs- bzw. Finanzminister ( 1969–1972 bzw. 1972–1974 ) Helmut Schmidt als Bundeskanzler ( 1974–1982 ) die sozialliberale Koalition fort und sah ebenfalls in der Entspannungspolitik die wesentlichste Verwirklichung deutscher Sicherheitsinteressen. Angesichts der sowjetischen Hochrüstung und anlässlich des Einmarsches in Afghanistan vollzog Schmidt eine außenpolitische Wende und wurde treibende Kraft im NATO-Doppelbeschluss 1979 ( siehe Kap. 2.E ). Helmut Kohl , ehemals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz ( 1966–1974 ) und CDU-Vorsitzender ( ab 1976 ), führte nach dem Sturz von Helmut Schmidt eine CSU / CDU-FDP-Koalitionsregierung an ( 1982–1998 ), die trotz einiger personeller Veränderungen 16 Jahre halten sollte. Als Kanzler der deutschen Einheit ( 1990 ) ist er in die Geschichte eingegangen. C ) D IE MACHTERGREIFUNG DER KOMMUNISTEN IN EUROPA
Kurz vor Kriegsende meinte Stalin einmal : „Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit. Wer immer ein Gebiet besetzt , erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein , so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“63 Allein aufgrund der Abmachungen anlässlich der Moskauer Besprechungen ( Oktober 1944 ) sowie während der Konferenz von Jalta ( Februar 1945 – siehe Kap. 1.A ) fühlte sich Stalin dazu legitimiert , den sowjetischen Einflussbereich in Mittel- und Osteuropa dauerhaft zu sichern. Mit Ausnahme der baltischen Länder , welche die Sowjetunion direkt einverleibte , war es sein Ziel , die Sowjetunion mit einer Reihe kleinerer , von Moskau abhängiger Volksdemokratien zu umgeben. Als Besatzungsmacht in Bulgarien , Rumänien , Ungarn , Tschechoslowakei , Polen und in der SBZ gewährte die Sowjetunion den lokalen kommunistischen Parteien jedwede Unterstützung und förderte deren Machtübernahme. Nichtsdestoweniger wurde das sowjetische Besatzungsregime überall auf sehr drückende Art und Weise gehandhabt , denn Moskau unterschied nicht zwischen Staaten , die im Bündnis mit Hitler gegen die Sowjetunion gekämpft hatten , und solchen , die , wie Polen , von der Deutschen Wehrmacht überfallen worden waren. Die Ausgestaltung der Ostblockstaaten zu volksdemokratischen Satelliten erfolgte in sechs Phasen , wobei nicht ganz geklärt ist , ob Stalin eine sorgfältig geplante Strategie verfolgte oder lediglich den Lauf der Dinge konsequent für seine Interessen zu nutzen verstand.64 Die erste Phase fällt noch in die Zeit des Zweiten Weltkrieges , als sich in Anbetracht der zunehmenden Schwäche der Deutschen Wehrmacht kommunistische 63 Aus : Mark Mazower , S. 310. – Siehe auch : Bernd Stöver , a. a. O. – Tony Judt , a. a. O. 64 Jens Hacker : Der Ostblock. Entstehung , Entwicklung und Struktur 1939–1980. BadenBaden 1983. – Bernd Stöver , a. a. O.
C ) DIE MACHTERGREIFUNG DER KOMMUNISTEN IN EUROPA
Gruppen für den aktiven Widerstand positionierten. Gemeinsam mit Nichtkommunisten formierten sie sogenannte „patriotische Fronten“. So agitierte der polnische KP-Generalsekretär ( 1942–1948 ) Władisław Gomułka seit 1942 im Untergrund gegen die deutsche Besatzung , wobei er auch mit der nationalpolnischen Untergrundarmee zusammenarbeitete. Solange solche patriotische Fronten mehrheitlich von Kommunisten durchsetzt waren , erhielten sie von der Roten Armee massive Unterstützung. Diese Hilfe verweigerten die Sowjets der polnischen Untergrundarmee jedoch während des Warschauer Aufstandes ( 1. August bis 2. Oktober 1944 ), weil sie in diesem Fall ohne Kommunisten gekämpft hatte und von ihr daher kein Beitrag für eine künftige kommunistische Machtübernahme zu erwarten war. Auf dem Balkan gelang es den Anführern kommunistischer Partisanen , ihre Truppe sogar zur Armeestärke anwachsen zu lassen und dann mit eigener Kraft die Staatsführung zu übernehmen : Josip Broz , gen. Tito , einstiger k. u. k.-Unteroffizier und seit 1937 Generalsekretär der jugoslawischen KP , führte als „Marschall“ die kommunistischen Partisanen im Kampf gegen die Deutsche Wehrmacht an , zugleich ging er gegen konkurrierende Partisanengruppen wie die Četniki mit aller Härte vor. 1942 betrieb Tito die Bildung eines „Antifaschistischen Volksbefreiungsrates“ ( AVNOJ ), der 1943 eine provisorische Regierung unter seiner Führung formierte. Im engen Bündnis mit Tito kommandierte Enver Hoxha ( Hodscha ) seit 1943 die „Albanische Nationale Volksbefreiungsarmee“ und wurde 1944 Ministerpräsident Albaniens ( bis 1954 , KP-Chef bis 1985 ). In der zweiten Phase kehrten Exilkommunisten im Gefolge der Roten Armee in ihr Land zurück. Sie genossen eher das Vertrauen Stalins als jene Widerstandskämpfer , die in der Heimat geblieben waren , und gewannen daher in der Regel rascher an Einfluss : Die sowjetischen Besatzer hievten sie sogleich in führende Positionen in Partei und Staat , zumal sie in Moskau die entsprechende ideologische Schulung erhalten hatten. Für viele von ihnen , die in der Vorkriegszeit , insbesondere ab den 1930er-Jahren , alle nur denkbaren Repressionen erdulden mussten , kam jetzt die Zeit der Genugtuung : So hatte der Rumäne Gheorge Gheorghiu-Dej lange Jahre in KZ-Haft verbracht ; nach der Niederlage der rumänischen Armee beteiligte er sich dann 1944 maßgebend am Sturz des Militärdiktators Marschall Ion Antonescu , stieg 1945 zum Generalsekretär der KP ( bis 1965 ) und später zum Ministerpräsidenten ( 1952–1955 ) und Staatsoberhaupt auf ( 1961–1965 ). Desgleichen saß der einstige Volkskommissär der ungarischen Räterepublik ( 1919 ), Mátyás Rákosi , zwischen 1925 und 1940 die meiste Zeit im Gefängnis und durfte erst 1940 in die Sowjetunion emigrieren ; nach seiner Rückkehr 1944 baute er die ungarische KP neu auf und amtierte 1952–1953 als Ministerpräsident. Manchen kommunistischen Funktionären war es noch rechtzeitig gelungen , der Verhaftung zu entgehen und sich in die Sowjetunion abzusetzen. Auch ihnen winkten nach der Rückkehr in die Heimat hohe und höchste Positionen in Partei und Staat : So er-
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hielten Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht , die 1943 in Moskau gemeinsam mit kriegsgefangenen deutschen Offizieren das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ als Kaderschmiede gegründet hatten , sofort Schlüsselstellungen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Imre Nagy weilte seit 1930 in der Sowjetunion , kam 1944 mit der Roten Armee nach Ungarn zurück und hatte ohne jegliche demokratische Legitimation sofort die Gelegenheit , eine rigorose Bodenreform durchzuführen ( entschädigungslose Enteignung von Kirche , Volksdeutschen , Faschisten , Kollektivierung unrentabler Betriebe ).
Kommunistische Machtergreifung, Eiserner Vorhang, ERP-Hilfe, Griechischer Bürgerkrieg
C ) DIE MACHTERGREIFUNG DER KOMMUNISTEN IN EUROPA
Der ideologische Wegbereiter der dritten Phase war der nachmalige bulgarische Ministerpräsident Georgi Michajlow Dimitrow ( 1946–1949 ): Als Generalsekretär der ( 1943 aufgelösten ) Komintern ( Kommunistische Internationale ) schuf er das Konzept der „Volksfrontregierungen“, die als Übergangslösung bis zur marxistischleninistischen Revolution gedacht waren : Kommunisten sollten eine Koalition mit Sozialisten und bürgerlichen Linken bilden , wobei darauf zu achten war , dass das Innenministerium und mit ihm die Polizeigewalt in kommunistische Hände fiel. Der sowjetische KGB sorgte dafür , dass die regulären Polizeikräfte von Kommunisten durchsetzt und neue , parteiabhängige Spezialeinheiten der Polizei angegliedert wurden. Freie Wahlen waren in dieser Phase durchaus möglich , weil populäre Maßnahmen ( Bodenreform , Verstaatlichung der Industrie usw. ) von der Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wurden. Tito fusionierte in Jugoslawien seine AVNOJRegierung mit der Londoner Exilregierung zu einer kommunistisch dominierten Volksfrontregierung. Gemäß AVNOJ-Dekreten kam es zu umfangreichen ethnischen Vertreibungen der deutsch- und italienischsprachigen Bevölkerung ( erst 2013 entschloss sich die serbische Regierung zur Restitution geraubter Immobilien bzw. zur Wiedergutmachung an den „Donauschwaben“ ). An die 60. 000 Angehörige serbischer , kroatischer und slowenischer Einheiten , die mit Deutschland kollaboriert hatten , wurden liquidiert. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Bulgarien putschte sich 1944 die „Vaterländische Front“ unter Dimitrows Führung an die Macht , 1946 wurde durch ein Plebiszit die Monarchie abgeschafft. Petru Groza bildete 1944 die kommunistisch geführte Nationaldemokratische Front Rumäniens , in der auch noch Mitglieder der Bauernpartei und der Liberalen vertreten waren. Auch Enver Hoxha regierte 1944 mit einer albanischen Volksfrontregierung , schaltete die Nichtkommunisten allerdings sehr bald aus. In Polen hatte sich 1944 das kommunistische „Lubliner Komitee“ ( „Polnisches Komitee zur nationalen Befreiung“ ) konstituiert und stellte die Regierung in den von der Roten Armee besetzten deutschen Ostgebieten. Trotz Protesten der polnischen Exilregierung in London nannte sich das Lubliner Komitee am 1. Januar 1945 „Polnische Provisorische Regierung“ und führte bereits erste gesellschaftspolitische Umstrukturierungen durch ( Enteignung des Großgrundbesitzes , Verstaatlichung von Industrien und Banken ). Unter Aufnahme von Vertretern des bürgerlich-demokratischen Lagers konstituierte sich am 28. Juni 1945 die auch von Westalliierten anerkannte „Regierung der Nationalen Einheit“, wobei KP-Chef Władisław Gomułka Kommunisten in die Schlüsselpositionen holte. Die Regierung anerkannte die neuen Staatsgrenzen Polens ( Verschiebung nach Westen auf Kosten Deutschlands ) und löste eine gewaltige Bevölkerungsbewegung aus : Die meisten Deutschen wurden vertrieben , Polen aus den polnischen Ostgebieten , die nun zur UdSSR gehörten , wurden zwangsumgesiedelt. Allerdings versöhnte die Aussicht auf die wohlhabenden ehemaligen deutschen Gebiete entlang der Oder-Neiße-Linie viele polnische Nationalisten. Auch für die
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Tschechoslowakei hatte sich in London eine Exilregierung unter dem ehemaligen Staatspräsidenten Eduard Beneš ( 1935–1938 ) gebildet , die seit 1943 ein Bündnis mit Moskau zur Wiederherstellung des Staates , allerdings unter Abtretung der KarpatoUkraine , geschlossen hatte. Gleichzeitig gründete Klement Gottwald im russischen Exil ( 1939–1945 ) die kommunistisch gelenkte Nationale Front der Tschechoslowakei , der dann 1945 die Exilregierung beitrat. Zdeněk Fierlinger , Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei , wurde Ministerpräsident ( 1945–1946 ) einer Koalitionsregierung aus Sozialisten , Kommunisten und Bürgerlichen , Gottwald wurde stellvertretender Ministerpräsident ( Staatspräsident 1948–1953 ) und Beneš bis zu seinem Tod ( 1948 ) Staatspräsident. Die nach ihm benannten Beneš-Dekrete konstruierten eine Kollektivschuld aller Sudetendeutschen ( etwa 3,5 Millionen ) und erlaubten deren Vertreibung. Ende 1945 zogen sowohl die Sowjets als auch die USA ihre Truppen aus der Tschechoslowakei zurück. Anders als in den sonstigen Ostblockländern gewannen die Kommunisten in der hoch industrialisierten Tschechoslowakei 1946 die ersten Wahlen mit 38 Prozent der Stimmen ; Gottwald übernahm nun das Amt des Ministerpräsidenten einer Regierung der „Nationalen Front“. In Ungarn erlangten die Kommunisten bei den Wahlen ( November 1945 ) lediglich 14 Prozent der Stimmen , während die Kleinlandwirte-Partei 60 Prozent aller Mandate gewann. Deren Chef , Ferenc Nagy , führte als Ministerpräsident die Regierung der Nationalen Front an ( bis zu seiner Flucht 1947 ), in der trotz ihres mangelnden Stimmgewichts vier Kommunisten den Ton angaben , unter ihnen Landwirtschaftsminister Imre Nagy und Sonderminister Mátyás Rákosi ( KP-Chef bis 1956 ). In der vierten Phase galt es , die nichtkommunistische Parlamentsmehrheit systematisch auszuschalten. Mit Terror , Verleumdung , Anklage und Nötigung gelang es , bürgerlich-demokratische Politiker kaltzustellen. Damit wurden die Volksfrontregierungen erschüttert. An ihrer statt traten nun die Einheitsparteien : Mehrere an sich selbstständige Parteien wurden – bisweilen unter großem Druck – ideologisch mit der kommunistischen Partei gleichgeschaltet und zur „Blockpartei“ fusioniert.65 Die Kommunisten behaupteten nun den alleinigen Führungsanspruch. Oppositionsführer wurden mundtot gemacht , wer konnte , floh in den Westen. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung Jugoslawiens im November 1945 gewann die Einheitsliste „Volksbefreiungsfront“ 90 Prozent der Stimmen. Sogenannte „Kollaborateure“ waren von den Wahlen ausgeschlossen worden. Als in Rumänien 1946 der fulminante Wahlsieg der Nationalen Demokratischen Front mit 89 Prozent von der Opposition angezweifelt wurde , wurde diese zerschlagen ; 1947 wurde die Bauernpartei verboten , ihr Anführer ( Ministerpräsident 1928–1930 und 1932–1933 ) Şimleul Silvaniei Maniu zu lebenslanger Haft verurteilt 65 Stefan Creuzberger , Manfred Görtemaker ( Hgg. ): Gleichschaltung unter Stalin ? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949. Paderborn 2002.
C ) DIE MACHTERGREIFUNG DER KOMMUNISTEN IN EUROPA
( er starb 1953 ). 1948 vereinigte Gheorgiu-Dej die Kommunistische mit der Sozialdemokratischen Partei zur Rumänischen Arbeiterpartei , die den alleinigen Führungsanspruch erhob. Auch in Bulgarien wurde die oppositionelle Bauernpartei 1947 verboten , ihr Anführer , Nikola Dimitrow Petkow ( 1944–1945 stellvertretender Ministerpräsident ), nach einem Schauprozess hingerichtet. Wie in Rumänien und Bulgarien fanden die Bauernparteien auch in den agrarisch strukturierten Ländern Ungarn und Polen mächtigen Zuspruch in der Bevölkerung und stellten sich naturgemäß gegen den Kommunismus , der für die Bauern die Zwangskollektivierung verhieß. In Polen bildete die Bauernpartei nach der Ausschaltung nationalistischer Widerstandsgruppen und missliebiger Politiker die einzige nennenswerte Opposition. Nachdem Władisław Gomułka die Verschmelzung der Sozialistischen Partei mit der KP zur „Vereinigten Arbeiterpartei“ ( PVAP ) durchgesetzt hatte , wagte er im Januar 1947 die ersten freien Wahlen. Allerdings gelangte der kommunistisch dominierte „Demokratische Block“ nur durch Wahlfälschung zu jenen 90 Prozent der Stimmen , die ihm fortan das Machtmonopol garantierten ; einer Million Bürger war wegen angeblicher Kollaboration mit den Deutschen das Wahlrecht verweigert worden. In Ungarn hatten die zurückgekehrten Exilkommunisten bereits mit terroristischen Methoden die vermeintlichen „Überreste des Faschismus“ beseitigt ,66 1947 glückte ihnen die Zerschlagung der übermächtigen Kleinlandwirte-Partei , indem sie deren Mitglieder der Verschwörung bezichtigten ; ihr Anführer , Ministerpräsident Ferenc Nagy , konnte in die Schweiz flüchten. Mit Rückendeckung der Roten Armee erzwang KP-Chef Mátyás Rákosi 1948 die Fusion der KP mit den Sozialdemokraten zur „Partei der ungarischen Werktätigen“ ( USAP ), die bei den Neuwahlen die erwünschte Mehrheit erhielt. Die Fusion von Sozialisten und Kommunisten war mit Ausnahme der Tschechoslowakei in allen Ostblockländern gelungen , dort aber verweigerten sich im Februar 1948 die Sozialdemokraten vorerst einer Verschmelzung und lösten damit eine Regierungskrise mit weitreichenden Folgen aus : Aus Protest gegen die Diffamierungskampagnen nichtkommunistischer Regierungsmitglieder sowie gegen die kommunistische Unterwanderung der Polizei traten zwölf Minister zurück , Außenminister ( seit 1945 ) Jan Masaryk verlor beim „dritten Prager Fenstersturz“ sein Leben ( erster und zweiter Prager Fenstersturz 1419 und 1618 ). Gleichzeitig organisierte der Führer der kommunistisch geprägten Einheitsgewerkschaft , Antonin Zapotocky ( 1948– 1953 Ministerpräsident , 1953–1957 Staatspräsident ), Streiks und Demonstrationen wegen einer angeblichen Verschwörung , sodass sich letztlich Staatspräsident Beneš gezwungen sah , dem Druck nachzugeben und KP-Chef Klement Gottwald 66 Klaus-Dieter Henke , Hans Woller ( Hgg. ): Politische Säuberungen in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1991 , S. 317 ff.
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mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Mit stalinistischen Methoden vollzog nun Gottwald eine Gleichschaltung von Presse , Rundfunk und Verwaltung. Der mit der KP sympathisierende Sozialdemokrat Zdeněk Fierlinger ( Ministerpräsident 1945–1946 ) hatte Gottwald beim Umsturz nach Kräften unterstützt und verschmolz nun seine Partei mit den Kommunisten zu einer Einheitsliste , welche die Scheinwahlen im Mai 1948 gewann. Als Reaktion auf den kommunistischen Staatsstreich verhängten die USA ein Embargo über alle kommunistischen Staaten. Anfangs unterstützte zwar die Sowjetunion die Kommunisten nach Kräften , gestattete jedoch jedem Staat seine eigene Entwicklung. In die Politik ihrer künftigen Satelliten griff sie erstmals 1947 ein , als es galt , sie an der Teilnahme am Marshallplan zu hindern. Insbesondere in der Tschechoslowakei hatten sich alle Parteien für die Annahme der ERP-Hilfe erklärt , bis Moskau dies ultimativ verbot. Mit der Gründung des „Kominform“ ( Kommunistisches Informationsbüro ) im Herbst 1947 besaß Moskau ein Instrument zur Gleichschaltung aller kommunistischen Parteien ; fortan beanspruchte Stalin ihnen gegenüber die uneingeschränkte Führungsrolle der KPdSU. Deshalb verweigerte Jugoslawien die Gefolgschaft :67 Marschall Tito hatte von Anfang an einen Sonderweg beschritten , zumal er mit eigener Kraft die Macht im Staat übernehmen konnte. Als Gegenleistung für einen Beistandspakt mit der Sowjetunion erreichte er noch vor Kriegsende den Abzug der Roten Armee. Schon Ende 1945 rief er die Republik aus und gab ihr im Januar 1946 eine der Sowjetunion angeglichene Verfassung als „Föderative Volksrepublik Jugoslawien“. Nach marxistisch-leninistischem Modell wurden Gesellschaft , Staat und Wirtschaft umgeformt , politische Gegner ausgeschaltet bzw. hingerichtet , Handel , Industrie , Banken und Versicherungen verstaatlicht. Als Stalin 1948 Titos Plan einer Balkanföderation mit Bulgarien und Albanien untersagte und zugleich Titos Forderung nach dem Recht eines jeden Landes , seinen eigenen Weg zum Sozialismus zu gehen , verbot , kam es 1948 zum Bruch mit Moskau ( und damit auch zum stalinhörigen Albanien ). Um einer Wirtschaftsblockade der kommunistischen Staaten zu entgehen , näherte sich Tito nun wirtschaftlich den USA und dem Westen an , Stalin hingegen brandmarkte fortan jeden Sonderweg zum Kommunismus , der nicht nach sowjetischer Weisung erfolgte , als „Titoismus“ und nahm die weitere Entwicklung des Ostblocks selbst in die Hand. In der fünften Phase wurden kommunistische Regierungen gebildet ; angesichts gelenkter Wahlen mit einer Einheitsliste blieben die Wahlergebnisse eine Farce. Die sechste Phase , die Errichtung einer Volksdemokratie nach sowjetischem Muster , erfolgte binnen weniger Monate. Den politischen Alltag prägten 67 Ernst Halperin : Der siegreiche Ketzer. Titos Kampf gegen Stalin. Köln 1957. – Beatrice Heuser : Western „Containment“ Policies in the Cold War. The Yugoslav Case 1948– 1953. London 1989.
C ) DIE MACHTERGREIFUNG DER KOMMUNISTEN IN EUROPA
nun Kirchenverfolgung , Säuberungsmaßnahmen gegen politische Gegner und Schauprozesse gegen Abweichler in der eigenen Partei , die meist des Titoismus bezichtigt wurden. Analog zum sowjetischen „Archipel GULag“ durchzog zwischen 1948 und 1953 ein Netz von Arbeitslagern die Ostblockländer ; in Bulgarien wurden 100. 000 , in der Tschechoslowakei 136. 000 , in Rumänien 180. 000 und in Ungarn 200. 000 Menschen interniert ; nur Polen blieb von dieser Art des stalinistischen Terrors verschont.68 Albanien hatte durch Enver Hoxha ( Ministerpräsident bis 1959 , KP-Chef bis 1985 ) ebenso wie Jugoslawien durch Tito ( 1945 Ministerpräsident , ab 1953 Staatspräsident ) bereits 1946 volksdemokratische Verfassungen erhalten. 1947 setzte Georgi Michajlow Dimitrow eine gemäß sowjetischem Vorbild geschaffene Verfassung Bulgariens durch , nach seinem Tod 1949 kam es zu umfangreichen Säuberungen und Schauprozessen , auch in der kommunistischen Partei : Allein von den 40 Mitgliedern des Zentralkomitees wurden 17 des „Titoismus“ bezichtigt und hingerichtet. Petru Groza führte als Ministerpräsident Rumäniens ( 1945–1952 ) nach der erzwungenen Abdankung des Königs Michael ( 1940–1947 ) von 1947 bis 1957 die Umwandlung Rumäniens in eine Volksdemokratie durch. Die Tschechoslowakei erhielt nach dem kommunistischen Staatsstreich 1948 ihre Verfassung dem sowjetischen Vorbild entsprechend ; da sich Staatspräsident Beneš weigerte , die volksdemokratische Verfassung zu unterzeichnen , musste er zurücktreten. Sein Nachfolger wurde Gottwald ( 1948–1953 ), an seiner statt wurde der Gewerkschafter Zapotocky Ministerpräsident ( 1948–1953 ). Gottwald nutzte den Konflikt Stalins mit Tito zur Ausschaltung von Konkurrenten innerhalb der Partei : Sie wurden in Schauprozessen des „Titoismus“ bezichtigt und zum Tod bzw. zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Für die Verfolgungswelle gegen den katholischen Klerus zeichnete der einstige Sozialdemokrat Fierlinger , nunmehr u. a. Minister für kirchliche Angelegenheiten ( 1950–1953 ), verantwortlich. Auch in Ungarn kam es zur Verfolgung von Geistlichen durch Innenminister Janos Kadar ( 1948–1950 ), weil die Kirche gegen die Verstaatlichung von Schulen Widerstand leistete ; unter dem Vorwand des Hochverrats wurde Kardinal József Mindszenty in einem Schauprozess 1949 zum Tod verurteilt , dann aber zu lebenslanger Haft begnadigt ( 1956 befreit ). Seit der 1950 erfolgten Umwandlung Ungarns in eine Volksrepublik baute der bedingungslose Erfüllungsgehilfe Stalins , KP-Chef Rakosi ( Ministerpräsident 1952–1953 ), mithilfe einer „Staatsschutzbehörde“ seine persönliche Machtstellung aus. Mit ihm begann der Terror , nicht nur gegen führende Funktionäre , die wie Kadar als „Titoisten“ eingekerkert ( 1950–1953 ) oder , wie Innen- und Außenminister ( 1946–1948 ) László Rajk ,69 hingerichtet wurden ; 50. 000 Städter wurden aufs Land deportiert , etwa eine 68 Mark Mazower , S. 378. 69 Béla Szász : Freiwillige für den Galgen. Die Geschichte eines Schauprozesses. Nördlingen 1986.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
Million Ungarn ( von insgesamt neun Millionen ) erhielten zwischen 1952 und 1956 eine politisch motivierte Anzeige. Nach Stalins Tod proklamierte Ministerpräsident Imre Nagy ( 1953–1955 ) vergeblich einen „Neuen Kurs“ der verbesserten Lebensqualität und Rechtssicherheit , konnte sich aber gegen Rakosi nicht durchsetzen und wurde gestürzt. Bevor in Polen als letztem der Ostblockstaaten eine volksdemokratische Verfassung in Kraft trat ( 1952 ), tobten innerhalb der Vereinigten Arbeiterpartei schwere Richtungskämpfe. So wurde KP-Chef Władisław Gomułka des „bourgeoisen Nationalismus“ bzw. des Titoismus geziehen und 1949 verhaftet ( 1956 rehabilitiert , wieder KP-Chef ). Die Verfechter des stalinistischen Kurses behielten die Oberhand. Als Drahtzieher der nunmehrigen Sowjetisierung Polens ( Kollektivierung der Landwirtschaft , einseitiger Ausbau der Schwerindustrie ) fungierte der zum Verteidigungsminister aufgestiegene sowjetische Marschall Konstantin Rokossowski ( 1949–1956 ). Der Kampf gegen die katholische Kirche gipfelte im Krakauer Schauprozess gegen Kardinal Stefan Wyszyński ( 1953–1956 inhaftiert ), doch die tief katholische Bevölkerung reagierte mit passivem Widerstand und Streiks , was wiederum einen Rückgang der Produktion und auch der Einkommen bewirkte. Die kommunistische Machtübernahme ging also in den Ostblockstaaten mehr oder weniger nach Stalins Plan über die Bühne , in Griechenland aber scheiterte sie.70 Denn im griechischen Bürgerkrieg ( 1944–1949 ) konnten sich die Kommunisten nicht auf die Rote Armee stützen , vielmehr gerieten sie in direkte Konfrontation mit den Briten und Amerikanern. Die kommunistische Widerstandsbewegung EAM sowie ihr militärischer Arm ELAS formierten sich – analog zu den Partisanen in Jugoslawien und Albanien – während der deutsch-italienischen Besatzung ab 1941. Nach Abzug der Deutschen Wehrmacht ( November 1944 ) verfügte die ELAS über 20. 000 gut bewaffnete Kämpfer , die in äußerst blutigen Aktionen griechische und britische Truppen angriffen und das Kampfgeschehen bis ins Zentrum von Athen trugen. Gleichzeitig eröffnete „General“ Markos einen Partisanenkrieg auf dem flachen Land , der die Dorfbewohner zu einer Massenflucht in die Städte veranlasste. Gemäß der Truman-Doktrin , die jedem von einer Minderheit bedrohten Land die US-Unterstützung verhieß ( siehe Kap. 2.A ), spendeten 1947 die USA 300 Millionen US-Dollar Wirtschafts- und Militärhilfe , schickten Militärberater und bildeten die regulären griechischen Streitkräfte aus. Bis zum Bruch Titos mit Stalin verfügten die Partisanen mit Jugoslawien über einen „Anlehnungsstaat“, in dem sie sich jederzeit zurückziehen und neu formieren konnten , 1948 endete diese Möglichkeit. Im Oktober 1949 erklärten EAM bzw. ELAS die Einstellung der Kämpfe. Die Bilanz des mit großer Grausamkeit geführten Bürgerkrieges lautet : 12. 800 gefallene und 4. 500 vermisste reguläre Soldaten der griechischen Armee , über 50. 000 70 Wolfgang Etschmann , In : Truppendienst 1/1985 , S. 24–28. Vgl. auch den authentischen Familienroman von Nicolas Gage : Eleni. Bern / München / Wien 1983.
D ) AUFSTÄNDE GEGEN DEN KOMMUNISMUS
ermordete Zivilisten , 38. 000 getötete und 40. 000 gefangene Partisanen – hunderte Inhaftierte wurden noch hingerichtet , von den 20. 000 in die kommunistischen Nachbarländer verschleppten Kindern kehrten nur 10. 000 in die Heimat zurück. D ) AUFSTÄNDE GEGEN DEN KOMMUNISMUS
Die jungen Volksdemokratien erzielten erstaunliche Anfangserfolge bezüglich der Industrialisierung. Die Forcierung der Schwerindustrie und der Energieversorgung bewirkten ein rasches Wirtschaftswachstum , wobei die Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie bewusst in Kauf genommen wurde. Dies verursachte allerdings nachhaltige Probleme , weil einerseits der arbeitsintensiven Produktion gegenüber der kapitalintensiven der Vorrang eingeräumt wurde , sodass sich ein technologischer Rückstand gegenüber dem Westen stetig vergrößerte. Andererseits schuf die mangelnde Versorgung der Bevölkerung eine latente Unzufriedenheit , die noch durch das restriktive politische System , das ein Klima des Terrors , der Angst und des Misstrauens geschaffen hatte , zusätzlich genährt wurde. Auf dem flachen Land stieß die Zwangskollektivierung auf massiven Widerstand und konnte vielfach nur mit Gewalt durchgesetzt werden ( in Polen und Jugoslawien wurde sie später rückgängig gemacht ). Aber erst 1953 , im Todesjahr Stalins , erhoben sich die Bürger in den Ostblockstaaten gegen das kommunistische System. Anlass für den Pilsener Aufstand war eine Währungsreform in der Tschechoslowakei : Der durch Hochrüstung überschuldete Staat dekretierte einen äußerst ungünstigen Wechselkurs zwischen alter und neuer Währung , sodass er de facto die privaten Sparguthaben abschöpfte. Es folgten Proteste , Streiks und Demonstrationen im ganzen Land , in Pilsen wurden sogar öffentliche Gebäude in Brand gesteckt. Die Regierung antwortete mit hunderten Festnahmen , änderte jedoch nichts an ihrem Kurs. Immerhin waren keine Todesopfer zu beklagen , im Unterschied zum Juniaufstand in der DDR ( 17. Juni 1953 ), der ausbrach , als die Arbeitsnormen um zehn Prozent erhöht und damit in Wahrheit die Löhne gesenkt wurden :71 Aufgebrachte Arbeiter besetzten in Berlin , Leipzig , Görlitz , Halle / Saale , Brandenburg , Magdeburg und anderen Industriestädten die Rathäuser , befreiten politische Häftlinge und forderten neben der Herabsetzung der Normen und einer Senkung der Preise auch den Rücktritt der Regierung sowie freie Wahlen. Noch im Laufe des Tages schlugen sowjetische Truppen den Aufstand , der in SED-Diktion als „konterrevolutionärer Putsch“ bezeichnet wurde , nieder. 51 Personen starben , etwa 1. 400 Beteiligte wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt , Standgerichte vollstreckten mindestens 21 Todesurteile. Als der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 einige der Verbrechen Stalins offenbarte und des71 Thomas Flemming : Der 17. Juni 1953. Berlin 2003.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
sen Personenkult geißelte ( siehe Kap. 2.E ), löste er heftige Unruhen in Polen und Ungarn aus. Denn die als Geheimrede gedachte Abrechnung mit dem Stalinismus blieb nicht geheim und weckte Hoffnungen auf eine Änderung des Systems. Obwohl in Polen unmittelbar nach Bekanntwerden des Inhalts erste Maßnahmen der Entstalinisierung gesetzt , die Zensur gelockert und politische Häftlinge entlassen wurden , griff die Unzufriedenheit um sich. Unmutsäußerungen über die verhasste sowjetische Präsenz – das kollektive Gedächtnis hatte das Massaker von Katýn ( 1940 – siehe Kap. 1.A ) nicht vergessen – und die schlechte Versorgungslage gipfelten im Juni 1956 im Posener Aufstand.72 Die Protestwelle , an der sich 100. 000 Demonstranten beteiligten , wurde von der Sowjetarmee sofort niedergeworfen ; 54 Personen fanden den Tod , 200 wurden verwundet. Fortgesetzte Demonstrationen erzwangen im „Polnischen Oktober“ einen Kurswechsel : Der seit 1949 inhaftierte Gomolka wurde rehabilitiert und wieder mit der Parteiführung betraut ( bis 1970 ; gest. 1982 ), auch Kardinal Wyszyński wurde wieder auf freien Fuß gesetzt. Dieser freilich nur kurz andauernde „Polnische Frühling“ bescherte der Bevölkerung eine liberalere Kirchenpolitik , die Abkehr von der Zwangskollektivierung sowie eine bessere Versorgung mit Konsumgütern. Blieb der Posener Aufstand auch nur Episode , so löste der Ungarische Volksaufstand schwerste Erschütterungen aus , denn die Ungarn versuchten – anders als die Polen – den Austritt aus dem Warschauer Pakt und provozierten dadurch ein kompromisslos hartes Vorgehen der Sowjetunion. Die politische Dramatik ergab sich aus der Gleichzeitigkeit der beiden Aufstände in Polen und Ungarn mit der Suezkrise ( siehe Kap. 6.B ), die erstmals einen Atomkrieg zwischen den beiden Supermächten in greifbare Nähe rückte. Die Weltöffentlichkeit blickte gespannt nach Ägypten und ignorierte weitgehend die Vorgänge in Ungarn , wo man den Sowjets freie Hand ließ. Der ungarische Volksaufstand73 entzündete sich an Demonstrationen gegen den verhassten stalinistischen Ministerpräsidenten Mátyas Rákosi ( 1952–1956 ; gest. 1971 im Exil ). Trotz seines Rücktritts im Juli 1956 und unter dem Eindruck des „polnischen Oktobers“ folgten Ende Oktober weitere Demonstrationen , nunmehr gegen den sowjetischen Einfluss : Studenten forderten ultimativ den Abzug sowjetischer Truppen , freie Wahlen , Pressefreiheit , die Auflösung der Geheimpolizei usw. Nach blutigen Zusammenstößen zwischen Arbeitern , Studenten und ungarischen Truppen unter General Pál Maléter einerseits und sowjetischen 72 Hans Lemberg ( Hg. ): Zwischen „Tauwetter“ und neuem Frost. Ostmitteleuropa 1956– 1970. Marburg 1993. 73 Paul Lendvai : Der Ungarn-Aufstand 1956. Eine Revolution und ihre Folgen. München 2006. – György Litván , J. M. Bak ( Hgg. ): Die Ungarische Revolution 1956. Reform – Aufstand – Vergeltung. Wien 1994. – Emilio Vasari : Die ungarische Revolution 1956. Ursachen , Verlauf , Folgen. Stuttgart 1981.
D ) AUFSTÄNDE GEGEN DEN KOMMUNISMUS
Truppen andererseits zog sich die Rote Armee im Oktober scheinbar zurück. Die neue Mehrparteienregierung unter dem Reformkommunisten Imre Nagy erklärte am 1. November Ungarns Neutralität und den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Regierungserklärung , im Rundfunk gesendet am 1. November 1956 : „Volk von Ungarn ! Die ungarische Nationalregierung , erfüllt von tiefer Verantwortung für Ungarns Volk und Geschichte und als Sprecherin des ungeteilten Willens der Millionen Ungarn , erklärt die Neutralität der Ungarischen Volksrepublik. Das ungarische Volk wünscht – auf der Grundlage von Unabhängigkeit und Gleichberechtigung und im Geiste der Charta der Vereinten Nationen – in wahrer Freundschaft mit seinen Nachbarn , mit der Sowjetunion und allen anderen Völkern der Welt zu leben. Das ungarische Volk wünscht die Festigung und weitere Entwicklung der Errungenschaften seiner nationalen Revolution , ohne sich einem Machtblock anzuschließen. Der jahrhundertealte Traum des ungarischen Volkes ist erfüllt. Der revolutionäre Kampf des ungarischen Volkes und seiner Helden hat endlich die Sache der Freiheit und Unabhängigkeit zum Siege geführt. Dieser heroische Kampf hat ermöglicht , in den internationalen Beziehungen unseres Volkes dessen fundamentales Nationalinteresse durchzusetzen : die Neutralität. Wir appellieren an unsere Nachbarn , an nahe und ferne Länder , diesen unveränderlichen Beschluss des ungarischen Volkes zu respektieren. Es ist tatsächlich wahr , dass unser Volk mit diesem Beschluss so geeint ist wie wahrscheinlich nie zuvor in seiner Geschichte. Millionenheer der Schaffenden Ungarns ! Schützt und stärkt mit revolutionärer Entschlossenheit , mit aufopfernder Arbeit und Festigung der Ordnung unsere Heimat , das freie , unabhängige , demokratische und neutrale Ungarn.“74
Tags darauf marschierte die Rote Armee auf , am 4. November begannen sowjetische Panzerverbände mit dem Großangriff auf Budapest ; im ganzen Land tobten heftige Kämpfe , bis am 11. November der Widerstand erlahmte. Verzweifelte Appelle an die Vereinten Nationen und an das westliche Ausland blieben ungehört , zumal die Weltöffentlichkeit durch die Suezkrise abgelenkt war. Etwa 2. 000 Aufständische wurden hingerichtet , 20. 000 inhaftiert , 170. 000 Ungarn flohen nach Österreich.75 Nagy , 74 Aus : Die Presse , 20. Oktober 1986 , S. 4. 75 Norbert Sinn : Volksaufstand in Ungarn 1956. Der Einsatz des jungen Österreichischen Bundesheeres. In : Wolfgang Etschmann , Hubert Speckner ( Hgg. ): Zum Schutz der Republik Österreich. 50 Jahre Bundesheer , 50 Jahre Sicherheit : gestern – heute – morgen … Wien 2005 , S. 235–267. – Hubert Speckner : Von drüben … Die Flüchtlingshilfe des Österreichischen Bundesheeres in den Jahren 1956–1999 = Schriften der Geschichte des Österreichischen Bundesheeres 10. Wien 2006.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
Maleter und andere Führungspersönlichkeiten der Volkserhebung wurden 1958 in geheimen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt ( 1989 an ihrem Hinrichtungstag rehabilitiert ). Erst 1963 erfolgte eine allgemeine Amnestie , verbunden mit Enthaftungen. Ministerpräsident János Kádár ( 1956–1958 sowie 1961–1965 ), zugleich Generalsekretär der neu gegründeten „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei“ ( 1956–1988 ), gewährte den Ungarn fortan ein gewisses Maß an Freiheiten und eine bessere Versorgung mit Konsumgütern ( „Gulaschkommunismus“ ). Der Begriff „Ungarischer Volksaufstand“ war im Ostblock bis 1989 verpönt , offiziell hießen die Ereignisse „Aufbegehren gegen die sozialistische Revolution“ oder schlicht „Gegenrevolution“. In der Tschechoslowakei äußerte sich in- und außerhalb der KP ab den 1960erJahren eine allgemeine Unzufriedenheit , einerseits wegen einer unzulänglichen Wirtschaftspolitik , andererseits wegen der ideologischen Erstarrung der Parteiführung ; insbesondere fühlten sich die Slowaken gegenüber den Tschechen zurückgesetzt. Im Januar 1968 gewannen Reformkräfte innerhalb des Zentralkomitees der KP die Oberhand und setzten die Wahl von Alexander Dubček zum Generalsekretär der KPČ , General Ludvik Svoboda zum Staatspräsidenten ( bis 1975 ) und Oldrich Černik zum Ministerpräsidenten durch ( bis 1970 ). Es blieb bei der kommunistischen Einparteienherrschaft , doch praktizierte sie nunmehr einen „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“: Der „Prager Frühling“76 bescherte der Bevölkerung nicht nur die Reiseerlaubnis in den Westen und unzensurierte Medien ; politische Häftlinge erfuhren eine großzügige Amnestie , mit der Aufnahme föderalistischer Elemente in der Verfassung kam die Regierung den slowakischen Sonderwünschen weitgehend entgegen , vor allem belebten neu eingeführte marktwirtschaftliche Elemente die Wirtschaft , neue Handelsverträge verhießen neue Absatzmärkte. Mehrmals äußerten die Sowjetunion und andere Ostblockstaaten ihre Befürchtung , der KPČ könnte die Kontrolle über den anlaufenden Demokratisierungsprozess entgleiten , worauf das tschechoslowakische Parteipräsidium antwortete , jede Partei müsse in ihrem Machtbereich nach eigenen nationalen Interessen handeln. Bis zuletzt versuchte Leonid Breschnew , KPČ-Chef Dubček , den er in seiner Position halten wollte , zum Abgehen von den Reformen zu veranlassen , blieb aber erfolglos. Die nach ihm benannte BreschnewDoktrin ( siehe Kap. 2.E ) mochte weniger von ihm als von Scharfmachern innerhalb der KPdSU formuliert worden sein : „Die Souveränität eines einzelnen kommunistischen Staates findet ihre Grenzen an den Interessen der kommunistischen Gemeinschaft.“ In der Nacht vom 20. auf den 21. August wurde sie zur bitteren Realität , als die Armeen aller Warschauer-Pakt-Staaten ( ausgenommen Rumänien ) in die Tsche76 Stefan Karner , Natalja Tomilina , Alexander Tschubarjan ( Hgg. ): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Bd. 1 : Beiträge. Bd. 2 : Dokumente. Köln / Wien / Weimar 2008. – Horst Pleiner : Die ČSSR-Krise 1968. Der Einsatz des Österreichischen Bundesheeres. In : Etschmann , Speckner : Zum Schutz , a. a. O. , S. 467–530.
D ) AUFSTÄNDE GEGEN DEN KOMMUNISMUS
choslowakei einmarschierten. Die Militäraktion und die auf sie folgenden Demonstrationen kosteten 72 Menschenleben , 702 Personen wurden verwundet , 160. 000 flüchteten nach Österreich.77 Damit endete der Prager Frühling , alle demokratischen Reformen wurden rückgängig gemacht , lediglich die Föderalisierung des Staates , welche eine Trennung in Tschechische Sozialistische Republik und Slowakische Sozialistische Republik vorsah , blieb bestehen. Anders als beim ungarischen Volksaufstand 1956 gab es keine Hinrichtungen von Politikern , sie verloren nur nach und nach ihr Amt. 1969 musste Dubček abtreten , 1970 Černik und andere. Nach einem neuen „Freundschaftsvertrag“ mit der Sowjetunion kam es 1970 zu umfangreichen Säuberungen im Parteiapparat und auch zu politischen Prozessen. Im westlichen Europa aber hieß es , seit den Vorgängen von 1968 stellte der in seiner kompromisslosen Brutalität entlarvte Kommunismus keine Gefahr mehr für den Kontinent dar. Nach den Schlussakten von Helsinki ( 1975 , siehe oben ) entwickelte sich in der Tschechoslowakei die Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“, an deren Manifest der ehemalige Politiker und Reformkommunist Jiři Hájek ( 1968 Außenminister ) federführend mitgewirkt hatte. Die Mitglieder der Bewegung , meist Intellektuelle , Künstler , Schriftsteller und Priester , forderten die Verwirklichung der gesetzlich anerkannten Menschenrechte. Das Regime unternahm alles , um sie mundtot zu machen. So erhielt der Schriftsteller Pavel Kohout Publikationsverbot und wurde schließlich ausgebürgert ( 1979 ); der Dramatiker Václav Havel , ebenfalls mit Publikations- und Aufführungsverbot belegt , wurde sogar mehrere Jahre inhaftiert ( 1990–1993 tschechoslowakischer , dann bis 2003 tschechischer Staatspräsident ; siehe Kap. 10.B ). In Polen führten Preiserhöhungen , soziale Spannungen und die mangelhafte Versorgung mehrmals zu Studenten- und Arbeiterunruhen ( 1970 , 1978 , 1980/81 ), die jeweils von der Regierung blutig unterdrückt wurden. Zum Schutz der Verhafteten entstand das „Komitee für die Verteidigung der Arbeiter“, aus der sich in Berufung auf die Schlussakte von Helsinki eine Bewegung bildete , die sich für die Menschenrechte in Polen einsetzte. Die Wahl des Krakauer Kardinals Karol Wojtyla zum Papst ( Johannes Paul II. , 1978–2005 ) verlieh den Polen einen gewaltigen Schub des Selbstvertrauens , die polnische Bevölkerung identifizierte sich fortan mit dem Papst und mit der Kirche und assoziierte mit ihnen Freiheit und Antikommunismus. Aus dieser Geisteshaltung erwuchsen 1980 anlässlich neuerlicher Preiserhöhungen bei unzureichendem Warenangebot die Massenstreiks in Danzig und in anderen Städten , welche in der Gründung der Gewerkschaft Solidarność durch Lech Wałesa ( 1984 Friedensnobelpreis , Staatspräsident 1990–1995 ) gipfelten. Daraufhin verhängte 1981 General Wojciech Jaruzelski ( 1981–1985 Ministerpräsident , 1981–1989 Parteichef ) das Kriegsrecht ( bis 1983 ), verbot die Solidarność , verfügte über Wałesa Hausarrest und ließ andere Gewerkschaftsaktivisten verhaften. Terrormaßnahmen gegen die Kirche , wie die 1984 77 Hubert Speckner : Von drüben , a. a. O.
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erfolgte Entführung und Ermordung des Priesters Jan Popiełuszko ( 2010 selig gesprochen ) durch den polnischen Geheimdienst , brachten das Regime in schweren Misskredit und machten deutlich , dass die moralische Autorität Polens weder bei Partei noch Regierung , sondern allein bei der Kirche lag. Später verantwortete Jaruzelski das von ihm befohlene Kriegsrecht damit , einem sowjetischen Einmarsch analog zur gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings 1968 zuvorgekommen zu sein. In einer Rundfunkansprache sagte Ministerpräsident Jaruzelski anlässlich der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 : „Bürgerinnen und Bürger der Volksrepublik Polen ! Ich wende mich heute an euch als Soldat und als Chef der polnischen Regierung. Ich wende mich an euch in einer Sache größter Bedeutung. Unser Vaterland befindet sich am Rande des Abgrunds. Das Werk vieler Generationen , das aus den Ruinen wiedererstandene polnische Haus , steht erneut vor der Zerstörung. Die Strukturen des Staates hören auf zu funktionieren. Der zusammenbrechenden Wirtschaft werden täglich neue Schläge versetzt. Die Lebensbedingungen drücken auf die Menschen mit immer größerer Last. Durch jeden Betrieb , durch viele polnische Haushalte verlaufen schmerzhafte Trennlinien. Die Atmosphäre nicht endender Konflikte , Missverständnisse und des Hasses sät psychische Leere , verletzt die Traditionen der Toleranz. Streiks und Streikbereitschaft , Protestaktionen werden zur Norm. Sogar die Schuljugend wird hineingezogen. Gestern Abend waren viele öffentliche Gebäude besetzt. Es werden Aufrufe verteilt , mit den Roten physisch abzurechnen , mit Menschen , die andere Meinungen vertreten. Es häufen sich Fälle des Terrors , der Drohungen und der moralischen Willkür sowie der direkten Gewalt. Eine breite Welle dreister Verbrechen überflutet das ganze Land. Es wachsen ins Millionenfache die Gewinne der Haie der wirtschaftlichen Unterwelt. Chaos und Demoralisierung haben katastrophale Ausmaße angenommen. [ … ] Nicht Tage , sondern nur noch Stunden trennen uns von der nationalen Katastrophe. [ … ] In dieser Situation wäre Untätigkeit Verbrechen am Volk. Man muss sagen : Genug ! Man muss eine Konfrontation verhindern , ihr den Weg versperren , eine Konfrontation , die die Führer der Solidarność offen angekündigt haben. [ … ] Wir haben nicht das Recht , zuzulassen , dass die angekündigten Demonstrationen zum Funken werden , der das ganze Land in Brand setzen kann. [ … ] Den Abenteurern muss man die Hände binden , ehe sie das Vaterland in den Abgrund eines Bruderkampfes stürzen. [ … ] Ich verkünde , dass sich am heutigen Tag ein Militärrat für die nationale Rettung konstituiert hat. [ … ] Der Militärrat wird dann aufgelöst , wenn im Lande die Rechtsordnung wiederhergestellt ist , wenn die Voraussetzungen für die normale Tätigkeit der zivilen Verwaltung und der Vertretungskörperschaften gegeben sind. Mit zunehmender Stabilisierung der inneren Lage werden die Einschränkungen der Freiheiten im öffentlichen Leben verringert oder aufgehoben. Aber niemand möge mit Schwäche oder Zögern rechnen ! Im nationalen Interesse wurde eine Gruppe von
E ) SYSTEMÄNDERUNGEN IN WESTEUROPA Personen vorbeugend interniert , die die Sicherheit des Staates gefährden. In dieser Gruppe befinden sich extreme Funktionäre von Solidarność sowie illegaler staatsfeindlicher Organisationen. [ … ] Die heute unternommenen Schritte dienen der Wahrung der Grundvoraussetzungen der sozialistischen Erneuerung. [ … ] In diesem schweren Augenblick wende ich mich an unsere sozialistischen Verbündeten und Freunde. Wir schätzen ihr Vertrauen und ihre ständige Hilfe hoch. Das polnisch-sowjetische Bündnis ist und bleibt Eckpfeiler der polnischen Staatsräson , Garantie der Unantastbarkeit unserer Grenzen. Polen ist und bleibt ein festes Glied des Warschauer Vertrages , ein zuverlässiges Mitglied der sozialistischen Staatengemeinschaft. [ … ] Brüder und Schwestern ! Ich wende mich an euch alle als Soldat , der sich gut an die Grausamkeit des Krieges erinnert. Möge in diesem gepeinigten Land , das schon so viel Not und Leiden erfahren hat , kein Tropfen polnisches Blut fließen. [ … ] Landsleute ! Vor dem ganzen polnischen Volk und der ganzen Welt möchte ich jene unsterblichen Worte wiederholen : Noch ist Polen nicht verloren , so lange wir leben !“78 E ) S YSTEMÄNDERUNGEN IN WESTEUROPA
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte für die europäischen Kolonialmächte der Prozess der Entkolonialisierung ein. Grossbritannien entließ die Kolonien in die Unabhängigkeit und wandelte das British Commonwealth of Nations in einen Verband souveräner Partner um , sodass sich das britische Weltreich , einst mit 40 Millionen Quadratkilometern das größte Reich der Weltgeschichte , allmählich auflöste. Die Außenpolitik Großbritanniens verfolgte also – trotz enger Anlehnung an die USA – den allmählichen Richtungswechsel von der weltpolitischen zur europäischen Option ( 1973 EG-Beitritt ). Obwohl der Entkolonialisierungsvorgang in den betroffenen Regionen bisweilen große Erschütterungen hervorrief , verlief er für Großbritannien selbst im Wesentlichen friedlich , sodass er zu keinen innenpolitischen Störungen führte. Auch der von 1970 bis 2002 herrschende bürgerkriegsähnliche Zustand in Nordirland verursachte keine Systemänderung Großbritanniens. In Frankreich hingegen zerbrach die im Oktober 1945 von General Charles de Gaulle ( Präsident 1945–1946 ) errichtete 4. Republik an der gescheiterten Kolonialpolitik , denn die „Grande Nation“ versuchte mit Waffengewalt , den Prozess der Entkolonialisierung aufzuhalten. Nach der Niederlage im ersten Indochinakrieg ( 1946–1955 ; siehe Kap. 4.D ) entließ Frankreich zwar 1956 Marokko und Tunesien in die Unabhängigkeit , versuchte allerdings mit allen Mitteln , das zum Bestandteil des französischen Mutterlandes erklärte Algerien zu behalten , da sich dort bis Anfang der 50er-Jahre bereits 1,7 Millionen Fran78 Aus : Die Presse , 14. Dezember 1981 , S. 3.
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zosen niedergelassen hatten. Der zu diesem Zeitpunkt schon anachronistische Algerienkrieg ( 1954–1962 ; siehe Kap. 7.B ) brachte die innenpolitische Wende : Als im Mai 1958 französische Streitkräfte und französische Siedler in Algerien durch einen Putsch die bereits angedachte Loslösung des Landes von Paris zu verhindern trachteten , schlitterte Frankreich in die Staatskrise. Zu deren Behebung wurde de Gaulle zum Ministerpräsidenten berufen und mit großen Vollmachten ausgestattet. Er brach mit der republikanisch-parlamentarischen Verfassungstradition und begründete das präsidiale System der 5. Republik. Die neue Verfassung vom 4. Oktober 1958 wurde durch ein Plebiszit legitimiert , de Gaulle zum Staatspräsidenten gewählt ( bis 1969 ; gest. 1970 ). Anders als in der 3. und 4. Republik ist seither die Regierung vom Parlament getrennt , auch ist die gesetzgebende Kompetenz des Parlaments auf bestimmte Bereiche beschränkt. Die einst breit gefächerte Parteienlandschaft erfuhr eine wesentliche Konzentration. Die Staaten der Iberischen Halbinsel konnten auch nach 1945 ihr faschistisches System beibehalten , da sie im Weltkrieg strikte Neutralität bewahrt hatten. Ursprünglich von den westlichen Demokratien ignoriert bzw. isoliert , erfuhren sie mit Ausbruch des Kalten Krieges als antikommunistische Bollwerke eine politische Aufwertung. Portugal wurde schon 1949 in die NATO aufgenommen , Spanien zwar erst 1982 , gewährte aber bereits 1953 den USA etliche Militärstützpunkte. In Portugal hatte Ministerpräsident Antonio de Oliveira Salazar von Carmona ( 1932–1968 ) eine ständisch-autoritäre Einparteiendiktatur errichtet ; wie Frankreich trachtete auch Portugal danach , mit militärischen Mitteln seine Kolonien zu erhalten. 1951 erklärte Salazar die Überseekolonien zum Bestandteil des Mutterlandes und forcierte die Einwanderung von Portugiesen in Angola , Moçambique und Portugiesisch Guinea. Lebten 1950 in Angola und Moçambique 128. 000 Europäer , so war ihre Zahl bis 1973 , am Vorabend der Entkolonialisierung , auf 600. 000 angewachsen.79 Seit 1961 sah sich Portugal in Unabhängigkeitskriege verwickelt , die letztlich die militärischen und wirtschaftlichen Kapazitäten des kleinen Landes mit seinen neun Millionen Einwohnern überforderten. Salazars Nachfolger Marcello José das Neves Alves Caetano ( 1968–1974 ) erleichterte zwar durch eine gewisse Liberalisierung das innenpolitische Leben , war aber auf Dauer der Belastung durch einen nicht zu gewinnenden Kolonialkrieg nicht gewachsen. Ein unblutiger Staatstreich durch eine Offiziersgruppe führte zum Sturz der Regierung ( „Nelkenrevolution“ ); eine Militärjunta unter António Sebastião Ribeiro de Spínola bereitete ein demokratisches Mehrparteiensystem vor und entließ die Kolonien überhastet in die Unabhängigkeit. Eine Zeitlang schien Portugals System unter dem kommunistenfreundlichen Ministerpräsidenten ( 1974–1975 ) Vasco dos Santos Gonçalves in Richtung Volksde79 Reinhard Wendt : Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa und die Welt seit 1950 = UTB 2889. Paderborn / München / Wien / Zürich 2007 , S. 315.
E ) SYSTEMÄNDERUNGEN IN WESTEUROPA
mokratie zu kippen. Ein Putschversuch des gemäßigten Generals Spínola schlug zwar fehl , als aber die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme in greifbare Nähe gerückt schien , wurde Gonçalves von konservativen Militärs abgesetzt : Zunächst hatten Kommunisten versucht , das Offizierskorps mit ihren Anhängern zu infiltrieren ; da dies nicht gelang , wagten revolutionäre Fallschirmjägereinheiten im November 1975 einen Putsch , scheiterten jedoch an einem vorbereiteten Gegenschlag von „unpolitischen“ Offizieren. Bei den ersten freien Wahlen im April 1976 erhielten die Kommunisten lediglich 14,6 Prozent der Stimmen. Angesichts der blutigen Ereignisse in den ehemaligen afrikanischen Kolonien ( siehe Kap. 8.B ) remigrierten die meisten verbliebenen Portugiesen und stellten den Staat vor schwere Integrationsprobleme ( Arbeitslosigkeit , Inflation ), die letztlich nur mithilfe der Europäischen Gemeinschaft zu bewältigen waren ; 1985 trat Portugal der EG bei. Die faschistische Diktatur von General Francisco Franco Bahamonde in Spanien ( seit 1939 ) geriet nach dem Zweiten Weltkrieg in eine außenpolitische und wirtschaftliche Isolation. Die „letzte Diktatur Europas“ durfte auch nicht am Marshallplan teilnehmen , obwohl eine Wiederaufbauhilfe nach den Jahren des Bürgerkrieges ( 1936–1939 ) durchaus gerechtfertigt erschien ; erst 1960 wurde Spanien OECD-Mitglied. Im Gegensatz zu Portugal gab Spanien zwischen 1956 und 1975 freiwillig alle afrikanischen Kolonien auf. Innenpolitische Spannungen ergaben sich durch die Autonomiebestrebungen der Katalanen und Basken , denen Franco keinerlei Zugeständnisse gewährte. Hingegen stellte er die Monarchisten im Land zufrieden , indem er Prinz Juan Carlos , den Sohn des letzten spanischen Königs , zu seinem Nachfolger heranzog. Der Regierungswechsel ging auch reibungslos vor sich , unmittelbar nach dem Tod Francos ( 1975 ) wurde Juan Carlos I. zum König proklamiert und inthronisiert. Damit endete der Faschismus in Spanien , der junge König setzte seine ganze Autorität für die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie ein. 1978 wurde durch Volksabstimmung die neue Verfassung angenommen , 1979 erhielten Katalonien und das Baskenland ihre Autonomiestatute , Andalusien und Galicien folgten 1981. In diesem Jahr unternahmen faschistisch orientierte Militärs und Mitglieder der Guardia Civil einen Putschversuch , der nur durch das mutige Auftreten des Königs , der via Rundfunk die Bevölkerung zur Verfassungstreue aufrief , scheiterte. In Griechenland konnte sich nach Beendigung des Bürgerkrieges ( siehe Kap. 3.C ) die Monarchie wieder etablieren , allerdings löste König Konstantin II. ( 1964– 1973/74 ) durch die Absetzung des liberal-demokratischen Ministerpräsidenten Georgios Papandreou ( 1963–1965 ) eine schwere Verfassungskrise aus. Papandreou wollte die griechische Armee stärker der Zivilregierung unterstellen , König Konstantin hingegen beanspruchte für sich das Recht , Minister und Militärführung selbst auszuwählen. Im April 1967 putschten sich konservative Offiziere unter Georgios Papadopoulos an die Macht und errichteten eine strikte Militärdiktatur mit Massenverhaftungen , Deportationen , Konzentrationslagern ( auf den Inseln Jaros und Leros ), Sistierung
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der Menschenrechte und Gleichschaltung der Presse. Ein Gegenputsch des Königs im Dezember 1967 scheiterte , Konstantin musste das Land verlassen. Nach einem abermaligen Putschversuch des Königs im Mai 1973 rief Papadopoulos die Republik aus. Im November wurde er nach blutigen Straßenkrawallen allerdings selbst von rivalisierenden Militärs gestürzt ( er starb 1999 im Gefängnis ). Im Juli 1974 legte das Militär die Regierung in die Hände des aus dem Exil zurückgekehrten ehemaligen Ministerpräsidenten ( 1955–1963 ) Konstantinos Karamanlis , der das parlamentarischdemokratische System wiederherstellte ( Ministerpräsident bis 1980 , Staatspräsident 1980–1985 ). Im Dezember 1974 votierte die griechische Bevölkerung für die republikanische Staatsform. Die Militärdiktatur war letztlich gescheitert , weil sie den Putsch der Zyperngriechen gegen die zypriotische Regierung unter Erzbischof Makarios III. ( Staatspräsident 1960–1977 ) unterstützt hatte , um den Anschluss ( „Enosis“ ) Zyperns an Griechenland zu vollziehen ; die Landung türkischer Truppen in Nordzypern beendete die blutigen Auseinandersetzungen auf der Insel und führte zu deren Teilung in einen griechischen und in einen türkischen Staat ( Letzterer wurde international nicht anerkannt ). Schwere diplomatische Verstimmungen mit der benachbarten Türkei , einerseits wegen deren Besetzung von Nordzypern , andererseits wegen des Streits um die Hoheitsrechte in der Ägäis , in der Erdölvorkommen vermutet werden , eskalierten nur deswegen nicht zu einer bewaffneten Auseinandersetzung , weil beide Staaten NATO-Mitglieder sind. 1981 trat Griechenland der EG bei , 2004 wurde die Republik Zypern ( ohne das türkische Nordzypern ) EU-Mitglied. Beide Staaten nahmen den Euro als Währung an. Da Griechenland den Euro-Beitritt nur mittels gefälschter Bilanzen geschafft hatte und 2008 von einer schweren Rezession heimgesucht wurde , drohte ( und droht ) der Staatsbankrott , der bisher nur durch umfangreiche Rettungspakete von IWF und EZB ( bisher 240 Milliarden Euro ) sowie durch einen „Haircut“ ( Schuldenverzicht privater Gläubiger in der Höhe von 105 Milliarden Euro ) aufgefangen werden konnte. Zwischen 2008 und 2012 schrumpfte das griechische BIP um 25 Prozent ; von IWF und EU erzwungene Spar- und Reformmaßnahmen sowie Steuererhöhungen treiben die Massenarbeitslosigkeit voran ( derzeit schon 27,6 Prozent ) und unterstellen die soziale Sicherheit einer schweren Belastungsprobe. Das viel kleinere Steuerparadies Zypern drohte im März 2013 ebenfalls in den Staatsbankrott zu schlittern , weil die beiden größten Banken des Landes , deren Bilanzsumme das Bruttoinlandsprodukt des Inselstaates um das Dreifache überstiegen , zahlungsunfähig wurden ; sie hatten sich nicht nur mit griechischen Staatsanleihen verspekuliert , sondern scheiterten auch aufgrund hochriskanter Kredite , eigener Misswirtschaft und nicht zuletzt wegen Geldwäsche ( namentlich für den ehemaligen serbischen Machthaber Milosević – siehe Kap. 10.D ). Die EU musste einspringen , erzwang aber als Voraussetzung für ihre Finanzhilfe einen „Haircut“ der Kontoinhaber. Die Euro-Länder versprachen ein Hilfspaket von bis zu neun Milliarden Euro , der Internationale Währungsfonds ( IWF ) von bis zu einer Milliarde.
F ) PROTESTBEWEGUNG IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND F ) PROTESTBEWEGUNG IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
Von England ausgehend , verbreitete sich in Westeuropa seit den 1960er-Jahren eine Friedensbewegung , die sich ursprünglich gegen den Bau von Kernwaffen sowie später gegen die NATO-Aufrüstung im Allgemeinen und gegen den Vietnamkrieg im Besonderen richtete. Sie fiel in der BRD bei den „jungen Linken“ auf fruchtbaren Boden , zumal es schon ab 1955 Protestdemonstrationen gegen die Wiederbewaffnung und den NATO-Beitritt Westdeutschlands gegeben hatte.80 Auch die in den USA um sich greifende Flower-Power-Bewegung und HippieSzene blieb in Europa nicht ohne Nachhall. Ihre Vorstellungen von einer neuen Gesellschaft , frei von bürgerlichen Moralvorstellungen und autoritären Zwängen , frei vom Leistungs- und Konsumzwang und vor allem frei von Krieg und staatlicher Gewalt machten sich in der Bundesrepublik studentische und gewerkschaftliche Gruppen zu eigen. Da sie auf demokratischem Weg keine Möglichkeit zur Verwirklichung ihrer Ideen sahen , gründeten sie eine „Außerparlamentarische Opposition“ ( „ APO“ ), die mithilfe aggressiver Demonstrationstechniken eine Veränderung des politisch-gesellschaftlichen Gefüges zu erzwingen trachtete. Ihren Ausgangspunkt fand die APO in den Westberliner Hochschulen , von dort verbreitete sie sich auf die übrigen westdeutschen Universitätsstädte. Den ideologischen Überbau der Protestbewegung vermittelte die Frankfurter Schule ( Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt ) und ihre seit 1923 entwickelte kritische Gesellschaftsanalyse , die sich an den Lehren von Karl Marx und Sigmund Freud orientierte. Das Institut war während des NS-Regimes geschlossen und wurde 1950 neu gegründet. Die Philosophen und Soziologen Theodor Adorno und Max Horkheimer attackierten in ihrem 1947 erschienenen Werk „Dialektik der Aufklärung“ die moderne Industriegesellschaft , welche so strukturiert wäre , dass in ihr das rationale Denken der Menschen gezielt zur Sicherung von Herrschaft über Beherrschte manipuliert würde ; in diesem Sinne wäre die moderne Industriegesellschaft antiaufklärerisch. Der deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Marcuse geißelte u. a. in seinen „Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“ ( 1969 ) die „repressive Toleranz“ des kapitalistischen Wirtschaftssystems , in welchem die Menschen bei scheinbarer Toleranz allein durch die Macht der Medien und Werbung mehr als in der kommunistischen Diktatur unterdrückt würden. Die von der Frankfurter Schule vertretene „kritische Theorie“ forderte von jeder Wissenschaft , sich in den Dienst der fortschreitenden Emanzipation des Menschen aus den Zwängen von Natur und Gesellschaft zu stellen. ( Dagegen richtet sich die von 80 Wolfgang Kraushaar : Die Protest-Chronik 1949–1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung , Widerstand und Utopie. Hamburg 1996. – Hans Karl Rupp : Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Köln 1980.
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Karl Popper vertretene „analytische Theorie“, welche die Wissenschaft wertfrei sieht und in ihren Lehren einzig von den Kriterien der „Falsifizierbarkeit“ ausgeht. ) Die Protestbewegung erreichte in den Jahren 1967/1968 ihren Höhepunkt , nicht nur in der BRD , sondern auch in Frankreich ( vgl. Jean-Paul Sartre , Simone de Beauvoir ) und Italien sowie desgleichen in Japan und in Südkorea. Sie prägte spezifische Erscheinungsformen und Lebensgewohnheiten , ihre Anhänger verwendeten bestimmte Schlagworte und verherrlichten ihre eigenen Idole. Mädchen der Hippiebewegung trugen den Minirock , junge Männer ließen sich die Haare wachsen und zeigten sich in betont legerer Kleidung. Die Popkultur wurde als Gegenkultur zur bürgerlichen Kultur etabliert , antikapitalistische Revolutionäre wie Ernesto „Che“ Guevara , Ho Chi Minh und Mao Zedong wurden verklärt , die jungen Menschen lebten in Kommunen und praktizierten die freie Liebe ( die groß auf den Markt gekommene Antibabypille machte es möglich , AIDS war noch unbekannt ). Mit Hausbesetzungen , Go-ins , Sit-ins , Love-ins usw. schufen sie eine permanente Protestsituation , die nach und nach das öffentliche Leben in ihren Bann zog. Gefordert wurden die antiautoritäre Erziehung , der gefängnisfreie Staat , die Abkehr von der Leistungs- und Konsumgesellschaft , verurteilt wurden die Angehörigen des bürgerlichen „Establishments“, der Kapitalismus und vor allem der Faschismus. In der BRD eskalierten die von der APO inszenierten Unruhen , als im Juni 1967 anlässlich einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Westberlin der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten scheinbar unabsichtlich erschossen wurde. Der schießwütige Ordnungshüter , Karl-Heinz Kurras , wurde vor Gericht freigesprochen , erhielt aber ein vierjähriges Berufsverbot , danach trat er wieder in den Polizeidienst ein. Die weitere Geschichte Europas wäre womöglich anders verlaufen , wäre damals bekannt geworden , was erst im Mai 2009 durch das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ enthüllt werden konnte :81 Bei Kurras handelte es sich um einen Agenten , der seit 1955 im Dienste des DDRMinisteriums für Staatssicherheit stand und Informationen über die Arbeit der Westberliner Polizei , über DDR-Flüchtlinge und deren Fluchthelfer nach Ostberlin übermittelte. Einen weiteren Anlass für Straßenschlachten in Westberlin und in anderen westdeutschen Städten bot das Attentat auf den marxistischen Studentenführer Rudi Dutschke , der im April 1968 von einem Zivilisten niedergeschossen wurde. Weitere Aktionen der APO richteten sich gegen die „Springer-Presse“ und gegen das militärische Engagement der USA in Vietnam. Ab Herbst 1968 zerfiel die APO , die meisten ihrer Anhänger fanden in der SPD unter Bundeskanzler Willy Brandt eine politische Heimat , wo sie den „Marsch durch die Institutionen“ antraten , um von innen die Gesellschaft zu verändern ; de facto wurden sie aber bald vom System assimiliert und auch in Bezug auf die bürgerlichen Werte so81 Der Spiegel 22/2009.
F ) PROTESTBEWEGUNG IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
zialisiert. Nichtsdestoweniger haben sie eine nachhaltige Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung bewirkt , die auch Werthaltungen der 68er-Bewegung ,82 der dritten abendländischen Aufklärung , verinnerlichte ( erste Aufklärung : Sophisten im 5. vorchristlichen Jahrhundert , zweite Aufklärung : Montesquieu , Voltaire , Rousseau usw. im 18. Jahrhundert ). Zu diesen neuen Werthaltungen gehören die kompromisslose Frauenemanzipation , die Gleichberechtigung von Randexistenzen der Gesellschaft und die Ablehnung des autoritären Verhaltens bei Beamten und Lehrern ( Service statt Autorität ). Nur wenige Aktivisten der APO verschrieben sich dem Terrorismus : Andreas Baader , Ulrike Meinhof , Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe gründeten die Rote Armee Fraktion ( „RAF“ ), vulgo Baader-Meinhof-Bande , um das „imperialistische System“ zu zerstören.83 Die RAF zog mit Banküberfällen , Kaufhaus-Brandstiftungen , Entführungen und Morden eine Spur der Gewalt durch Westdeutschland. Das Kampftraining absolvierten ihre Mitglieder in PLO-Lagern , die Logistik kam aus der DDR , ihrem „Anlehnungsstaat“, in dem sie jederzeit eine Rückzugsmöglichkeit fanden.84 Mit anderen ideologisch gleichgerichteten Terrororganisationen des Auslandes , insbesondere mit jenen in Italien , Frankreich und Palästina , hielt die RAF engen Kontakt.85 1972 wurden Baader und Meinhof sowie andere RAF-Mitglieder der ersten Generation verhaftet ( Meinhof beging 1976 im Gefängnis Selbstmord ), ab 1977 machte eine zweite RAF-Generation durch brutale Terror- und Mordanschläge von sich reden : In kurzer Folge wurden Generalbundesanwalt Siegfried Buback und der Banker Jürgen Ponto ermordet. Mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer sollte die Freilassung inhaftierter RAF-Mitglieder erzwungen werden. Als Reaktion auf die Entführung richtete der ehemalige Bundeskanzler ( 1969–1974 ) und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt , Ikone der linksliberalen Szene , folgenden Appell an die Sympathisanten ( September 1977 ): „In der Nachtstunde , in der ich diese Zeilen schreibe , weiß ich nichts vom Schicksal Hanns-Martin Schleyers. Aber ich bin in großer Sorge : Der Mord an den drei Polizeibeamten und dem Fahrer , die Hanns-Martin Schleyer begleiteten , zeigt , dass wir mit äußerster Brutalität und kaltem Willen zur Vernichtung rechnen müssen. Ich denke an die Familien der Ermordeten. Ich denke an den Entführten und seine Familie. Ich denke nicht zuletzt an die Polizeibeamten , die sich in dieser Nacht wie in 82 83 84 85
Wolfgang Kraushaar : 1968 als Mythos , Chiffre und Zäsur. Marburg 2000. Stefan Aust : Der Baader-Meinhof-Komplex. Hamburg 1987. Michael Müller , Andreas Kanonenberg : Die RAF-Stasi-Connection. Berlin 1992. Claire Sterling : Das internationale Terrornetz. Der geheime Krieg gegen die westlichen Demokratien. Bern 1991.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG den kommenden Tagen und Nächten wieder für unser aller Sicherheit in höchste Gefahr begeben. [ … ] Ich denke auch an jene , die die Morde von Köln und die Entführung jetzt wohl als Erfolg feiern – die Terroristen. Es sind Mörder , die mit den Zerstörern der Weimarer Republik auf einer Stufe stehen ; ja die den Faschismus , den sie angeblich bekämpfen , buchstäblich herbeischießen würden – wenn sie es könnten. Und ich denke an die Sympathisanten , die durch ihre geistige und praktische Unterstützung den blutigen „Erfolg“ von Köln erst möglich machten , so wie sie die Morde an Siegfried Buback und an Jürgen Ponto durch ihre aktive Zuarbeit ermöglicht haben. An sie wende ich mich mit allem mir zu Gebote stehenden Nachdruck. Denn sie sind vielleicht in einem unvergleichbar höheren Maße für die Schreckenstaten verantwortlich als jene Fanatiker , die den Abzughebel der Maschinenpistole bedienen. Warum ? Ohne sie wären die Attentäter hilflos. Sie bilden die ermunternde Kulisse , vor der die Mörder als Helden agieren können , agieren müssen , weil ohne diese psychische und psychologische Ausstattung das Leben im Untergrund und das Morden nicht zu verkraften sind. Sie bieten die Nahrung , die Ausrüstung , den Unterschlupf , ohne die die Terroristen ihren absurden und blutigen Träumen vom Volkskrieg nicht nachhängen könnten. Ich frage die Sympathisanten direkt : Sind Sie von Sinnen ? Wissen Sie nicht , die Sie politisch zu denken vorgeben , dass Sie , statt mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit für die breiten Schichten in diesem Lande zu schaffen , die Geschäfte der finsteren Reaktion , ja der Neonazis betreiben ? Dass Sie das Bewusstsein der Bevölkerung über den Rand hinausbomben , hinter dem es nur noch den Abgrund von Chaos , Polizeistaat oder Diktatur gibt ? Oder wollen Sie genau das ? Ich fordere Antwort , jedenfalls eine solche , die Sie sich selbst geben. Sie mögen es schick finden , in verborgenen Hinterzimmern von der Revolution zu schwätzen. Aber ich nenne es nicht schick , sondern feige und verbrecherisch , für seine Überzeugung nicht öffentlich einzustehen , sondern andere wie in Gangsterfilmen als Killer auszuhalten und zu unterstützen. Wohin soll das führen ? Soll unser Land vor Waffen starren ? Darin kann keine Zukunft liegen , weil Freiheit , soziale Gerechtigkeit und mitbürgerliche Solidarität von den Waffen erdrückt würden. Wollen Sie das ? [ … ]. Ich vertraue der Jugend in diesem Land. Ich vertraue der kritischen Intelligenz , die zu Unrecht verdächtigt worden ist. Darum appelliere ich an die jungen Arbeiter , an die Studenten , an die jungen Theologen , Lehrer , Ärzte und Rechtsanwälte , an Journalisten und Schriftsteller : Helft jetzt entschlossen mit , dem Terror den Boden zu entziehen ! Helft mit , dass unser Land nicht zum Polizeistaat werden muss ! [ … ] Aber noch einmal an die Adresse derer , die sich im aktiven Umfeld des Terrorismus haben ansiedeln lassen : Machen Sie – bevor es zu spät sein könnte – Schluss mit jeder Form von Unterstützung , weil unser Land sonst zur leibhaftigen Hölle wird , in dem der Vater dem Sohn misstraut , der Nachbar den Nachbarn beargwöhnt , die Organe des Staates seine Bürger ausspähen , ein Land , in dem Mord und Totschlag die Straße
G ) EUROPÄISCHE INTEGRATION beherrschen. Helfen Sie mit , dass das ein Alptraum bleibt. Helfen Sie mit , dass die Organisationen des Terrorismus verschwinden ! Sie können es. Wenn Sie es nicht tun , kann der Alptraum Wirklichkeit werden.“86
Die Bundesregierung ging auf die Forderung der Schleyer-Entführer nicht ein , auch dann nicht , als im Oktober 1978 palästinensische Terroristen eine Lufthansa-Maschine mit 92 Passagieren an Bord kaperten , um mit Nachdruck die Enthaftung der zu lebenslangem Gefängnis verurteilten RAF-Mitglieder zu verlangen. Eine Spezialeinheit des deutschen Bundesgrenzschutzes befreite in Mogadischu / Somalia die Insassen des Flugzeuges. Unmittelbar darauf begingen Baader , Ensslin und Raspe im Gefängnis Selbstmord. Einen Tag später wurde die Leiche Schleyers gefunden. Zu diesem Zeitpunkt machte das deutsche Bundeskriminalamt in Wiesbaden etwa 1. 200 Aktivisten und 6. 000 Sympathisanten der Terrorszene aus. Im selben Jahr 1978 entführten und ermordeten die „Brigate Rosse“ ( Rote Brigaden ) den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro ( 1963–1968 , 1974–1976 ). 1982 wurden zwar etliche Exponenten der zweiten RAF-Generation verhaftet ( Christian Klar , Brigitte Mohnhaupt , Adelheid Schulz u. a. ), aus dem militanten Umfeld wuchsen aber neue Terroristen heran. Drohte ihnen der polizeiliche Zugriff , flüchteten sie in die DDR , wo sie mit neuer Identität ausgestattet wurden. Nach der Wende ( siehe Kapitel 10.C ) wurden sie enttarnt und verhaftet. Dies bedeutete das Ende der RAF , die sich 1993 endgültig auflöste. Viele ihrer Mitglieder wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Über deren vorzeitige Entlassung entbrannten ab 2007 heftige Diskussionen ; u. a. kam Christian Klar 2009 frei. G ) EUROPÄISCHE INTEGRATION
Als loses Staatenbündnis zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts wurde 1949 der Europarat gegründet. Obwohl das europäische Parlament mit Sitz in Straßburg viele Konventionen und Vertragswerke verabschiedete , die den Alltag in den Mitgliedsländern maßgebend und positiv beeinflussen ( Sozialcharta , Naturschutz , Datenschutz , Minderheitenschutz usw. ), gelang dem Europarat kein Schritt zu einer realen Vereinigung der Staaten. Das sollte dem gemeinsamen Wirtschaftsbündnis , das sich im Laufe mehrerer Jahrzehnte zur Europäischen Union entwickelte , vorbehalten bleiben. Die Keimzelle der europäischen Union bildete die 1948 geschaffene Zollunion der BeNeLux-Staaten ( Belgien , Niederlande , Luxemburg ). Zur gemeinsamen Aufsicht über Schwerindustrie und Kohlevorkommen sowie zur Überwindung der alten deutsch-französischen Gegensätze gründeten 1951 die BeNeLux-Staaten gemeinsam mit der BRD , Frankreich und Italien die Montanunion ( „EGKS“: 86 Aus : Kurier , 9. September 1977 , S. 3.
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3. DIE NEUORDNUNG EUROPAS NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ): Deutschland gab also freiwillig die Kontrolle über seine mächtige Kohle- und Stahlindustrie an eine staatenübergreifende Gemeinschaft ab ; dafür erlaubte Frankreich den Deutschen – obwohl diese zwei Weltkriege verloren hatten – , als gleichberechtigte Partner am Aufbau Europas teilzunehmen. Die Montanunion-Staaten vereinigten sich 1957 zur EURATOM , der „Europäischen Atomgemeinschaft“, welche sich der friedlichen Nutzung der Atomenergie widmet. Gleichzeitig wurde mit den „Römischen Verträgen“ die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ ( „EWG“ ) gegründet. Für Staaten , die – wie das neutrale Österreich – aus politischen Gründen oder – wie Großbritannien – aus wirtschaftlichen Erwägungen der EWG nicht beitreten konnten oder wollten , wurde 1960 die „Europäische Freihandelszone“ ( „EFTA“ – „European Free Trade Association“ ) ins Leben gerufen. In der Folge zeigte sich freilich , dass die EFTA , welche ausschließlich handelspolitische Ziele verfolgte , nicht jene integrative Funktion übernehmen konnte , wie sie im Hinblick auf ein geeintes Europa wünschenswert wäre. Gegenüber der „Europäischen Gemeinschaft“ ( „EG“ ), die 1967 aus der Fusion von EWG , Montanunion und EURATOM entstand , verlor die EFTA an Bedeutung ; wichtige EFTA-Staaten traten nach und nach der EG bei und machten diese zum bedeutendsten Handelsmarkt und zur größten Wirtschaftsmacht der Welt. Die EG wuchs nun über rein ökonomische Aufgaben hinaus : Obwohl selbst kein Staat , nahm sie ( so wie heute die EU ) staatliche Funktionen wahr und verfolgte das langfristige Ziel eines europäischen Zusammenschlusses durch eine gemeinsame Agrar- , Energie- , Forschungs- , Umweltschutz- und Bildungspolitik. Mit den Verträgen von Maastricht ( 1992 ) kamen die Aufgaben von gemeinsamer Außen- , Innen- , Justiz- , Sicherheits- und Währungspolitik hinzu , sodass die EG zu einer politischen Gemeinschaft mutierte. Zu diesem Zeitpunkt zählte die EG bereits zwölf Mitgliedsstaaten : Dänemark , Großbritannien und Irland waren 1973 beigetreten , Griechenland 1981 , Spanien und Portugal 1986. Im Jahr 1994 schlossen sich die zwölf EG-Staaten und die verbliebenen sieben EFTA-Staaten zum „Europäischen Wirtschaftsraum“ ( „EWR“ ) zusammen ; in diesem gelten die „vier Freiheiten“ des freien Waren- , Personen- , Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Mit der Gründung des EWR änderte die EG ihren Namen in „Europäische Union“ ( „EU“ ). 1995 traten die bisherigen EFTA-Länder Österreich , Finnland und Schweden der EU bei. Die „Osterweiterung“ des Jahres 2004 vergrößerte die EU um zehn Länder , die meisten aus dem ehemaligen Ostblock ; 2007 erfolgten mit Bulgarien und Rumänien und 2013 mit Kroatien die vorerst letzten EU-Aufnahmen. Die wirtschaftlich am meisten prosperierenden Länder führten anno 2000 die gemeinsame europäische Währung Euro ein. Vielleicht war für Deutschland der Verzicht auf die starke D-Mark , der wie seinerzeit die Montanunion einer Art wirtschaftlicher Selbstentmachtung gleichkam , jener Preis , den Frankreich für die deutsche Wiedervereinigung gefordert hatte. 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis.
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4. DIE NEUORDNUNG OST-UND SÜDOSTASIENS A ) JAPANS NEUE IDENTIFIKATION
Japan ( Nippon ) war das erste nichtwestliche Land , das unter Beibehaltung seiner traditionellen Kultur die westliche Technik und bald darauf den westlichen Imperialismus übernommen hatte. Als 1854 US-Kriegsschiffe die Öffnung japanischer Häfen für amerikanische Handelsschiffe erzwangen und bald darauf auch die europäischen Mächte Handelsverträge mit Japan schlossen , setzte ab 1868 eine Erneuerungsbewegung von atemberaubendem Tempo ein ( „Meiji-Restauration“ ): Binnen zweier Jahrzehnte durchlebte Japan alle Phasen der Industriellen Revolution und passte seine Gesellschaftsordnung , Verwaltung , Währung und Verfassung sowie sein Recht , sein Heerwesen und seinen Kalender den europäischen Verhältnissen an , wobei sich die Armee eine besondere Machtstellung sicherte. 1900 nahm Japan bereits als gleichberechtigte Großmacht an der Niederwerfung des chinesischen Boxeraufstandes teil , 1905 ging Japan im russisch-japanischen Krieg als Sieger hervor , 1910 wurde Korea von Japan annektiert. Während des Ersten Weltkrieges unterstützte Japan die Entente. Bald nach der Thronbesteigung von Kaiser Hirohito ( 1926–1989 ) verstärkte Nippon seine nationalistisch-imperialistischen Absichten zur Neuordnung Ostasiens unter Japans Hegemonie. 1932 besetzte Japan die Mandschurei , 1936 wurde der Antikomintern-Pakt mit Deutschland unterzeichnet , 1937 begann der japanisch-chinesische Krieg , gleichsam als Vorgriff auf den Zweiten Weltkrieg. Die von den USA daraufhin verhängten Wirtschaftssanktionen beantwortete Japan am 7. Dezember 1941 mit dem Angriff auf Pearl Harbor. Dem totalen Krieg folgte die totale Niederlage mit der bedingungslosen Kapitulation. Die Japaner waren völlig verwirrt und standen wie unter Schock , denn sie hatten ihren Krieg mit der Überzeugung geistiger , moralischer und kultureller Überlegenheit geführt. Der Ernüchterung nach dem verlorenen Krieg folgte die bittere Erkenntnis , dass die eigenen Traditionen wertlos wären , dass fortan allein die Kultur der siegreichen USA bewunderungswürdig und nachahmenswert schien. Und wie im besetzten Deutschland ( und Österreich ) scheute auch in Japan die US-Propaganda keine Kosten und Mühen , den „American Way of Life“ als einzig anzustrebende Lebensform darzustellen. Von 1945 bis 1950 stand Japan unter der US-Militärregierung von Douglas MacArthur. Das Inselreich wurde entmilitarisiert , über die Kriegsverbrecher richtete ein internationales Militärtribunal ( Tokioter Prozesse – siehe Kapitel 1.C ), wirtschaftliche Maßnahmen umfassten eine Bodenreform sowie die Entflechtung der großen Kapitalgesellschaften. 1947 erhielt Japan eine nach USRichtlinien geschriebene Verfassung , wobei der einst göttliche Kaiser auf eine repräsentative Funktion beschränkt wurde. Das auf die ursprünglichen japanischen Inseln reduzierte Staatsgebiet hatte angesichts des Zurückflutens japanischer Bevölkerungs-
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4. DIE NEUORDNUNG OST-UND SÜDOSTASIENS
teile aus Korea , Sachalin , der Mandschurei und der Südsee ( insgesamt 6,5 Millionen Menschen ) mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Erst der Koreakrieg ( 1950–1953 ) brachte den wirtschaftlichen und politischen Aufschwung , weil einerseits die USTruppen mit japanischen Produkten beliefert wurden und andererseits die USA Japan als Bundesgenossen zu gewinnen trachteten. Daher unterzeichneten die USA und Japan am 8. September 1951 den Frieden von San Francisco , dem sich 48 Staaten , nicht aber die Sowjetunion , anschlossen. Japan musste zwar formell auf alle Erwerbungen seit 1854 verzichten , durfte aber mit den USA einen Militärvertrag schließen , der – zum beiderseitigen Vorteil – den US-Truppen Militärstützpunkte auf dem Inselreich wie auf einem „unsinkbaren Flugzeugträger“ einräumte. Mit der 1954 beginnenden Wiederaufrüstung des nunmehr souveränen Staates setzte das große fernöstliche Wirtschaftswunder ein. 1956 beendeten Japan und die UdSSR formell den Kriegszustand ; auch ohne Friedensvertrag nahmen die beiden Mächte diplomatische Beziehungen miteinander auf. Dafür durfte Japan noch im selben Jahr der UNO beitreten. 1963 wurde Japan OECD-Mitglied , 1972 erfolgte die wechselseitige diplomatische Anerkennung mit der Volksrepublik China. Etwa vier Jahrzehnte nach Kriegsende erwachte in Japan das neue Selbstbewusstsein. Das Inselreich hatte sich inzwischen zur zweitgrößten Ökonomie der Welt entwickelt und konnte es sich allmählich leisten , das bisher unkritisch verehrte Vorbild USA zu relativieren. Schließlich gewannen die Japaner die Überzeugung , dass ihre Erfolge doch auf der eigenen Kultur gründeten. Damit fanden sie zu einer neuen Identifikation mit ihrer Kulturtradition , in der Fleiß und Disziplin den höchsten Stellenwert genossen und den Gruppeninteressen der Vorrang gegenüber den Einzelinteressen gebührte. Zugleich sahen sie in der Globalisierung abermals ihre Chance : Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Japan der erste asiatische Staat gewesen , der sich der Kräfte der Globalisierung bedient hatte und so zur politisch-militärischen Großmacht aufgestiegen war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nutzte Nippon erneut die Spielregeln der Globalisierung zum eigenen Vorteil und mutierte zur wirtschaftlichen Supermacht , zugleich zur Weltmacht der technischen Innovationen.87 Gegenwärtig steht Japan vor den politischen Problemen , einerseits das allzu enge Bündnis mit den USA etwas zu lockern , gleichzeitig die durch die Vorgänge im Zweiten Weltkrieg schwer belasteten Beziehungen zur Volksrepublik China zu verbessern und nicht zuletzt Druck auf Russland hinsichtlich der Rückgabe der Kurilen-Inseln auszuüben. Mehr als die politischen werden Japan in Zukunft allerdings die demografischen Probleme beschäftigen : Die Population der überalterten Bevölkerung schrumpft , zumal es fast keine Zuwanderung gibt , gleichzeitig droht das 87 M. Morishima : Warum Japan so erfolgreich ist. Westliche Technologie und japanisches Ethos. München 1985.
B ) CHINAS LEIDVOLLER WEG ZUR GROSSMACHT
Sozialsystem zu kollabieren , weil die anwachsende Zahl der Alten bald nicht mehr entsprechend versorgt werden kann. Ein schwerer Schlag traf Japan durch die Tsunami-Katastrophe vom 11. März 2011 , ausgelöst durch ein Erdbeben der nie zuvor gemessenen Stärke 9 : Die 14 Meter hohe Flutwelle tötete 16. 000 Menschen und zerstörte das Kernkraftwerk Fukushima ; der Boden im Umkreis von 20 Kilometern wurde verseucht , 80. 000 Personen mussten evakuiert werden. B ) C HINAS LEIDVOLLER WEG ZUR GROSSMACHT
Im Gegensatz zu Japan gelang es China im 19. Jahrhundert nicht , sich gegenüber dem Westen zu behaupten und die Errungenschaften der modernen Technik für sich zu nutzen. Das „Reich der Mitte“ war unter der niedergehenden Mandschu-Dynastie von den imperialistischen Mächten militärisch besiegt , wirtschaftlich ausgebeutet und moralisch gedemütigt worden. 1912 dankte der letzte Kaiser Pu Yi ab , aber das durch revolutionäre Wirren zerrüttete Land kam nicht zur Ruhe. Ab 1927 tobte der Bürgerkrieg zwischen Anhängern der Kuomintang-Partei ( KMT ) unter Chiang Kai-shek ( Tschiang Kai-schek , Oberbefehlshaber und Staatschef seit 1927 ) und jenen der kommunistischen Partei ( KPCh ) unter Mao Zedong ( Mao Tse-tung , 1. Generalsekretär seit 1935 ).88 Zwar wurde der Bürgerkrieg 1937 wegen des japanischen Angriffs vorübergehend beendet , aber insgesamt hatte China von allen Krieg führenden Staaten den zweithöchsten Blutzoll ( nach der Sowjetunion ) zu entrichten und ging aus dem Zweiten Weltkrieg völlig verarmt und aufgrund der japanischen Besatzung zusätzlich demoralisiert hervor. Demgegenüber war es nur von vordergründigem Wert , dass Chiang Kai-shek im engen Bündnis mit den USA , Großbritannien und Frankreich stand , sodass seiner Regierung ein Mitspracherecht auf den alliierten Weltkriegskonferenzen und letztlich sogar ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat gewährt wurde. Als dann 1947 der Bürgerkrieg von Neuem ausbrach , schränkten die USA ihre Hilfe für die KMT ein und verspielten so ihre Chance auf ein westlich orientiertes , verbündetes China. Stalin hingegen ließ den Kommunisten alle japanischen Beutewaffen zukommen , wodurch der „Volksbefreiungsarmee“ Maos 1949 die Eroberung ganz Festlandchinas gelang. Chiang Kai-shek zog sich mit den Resten seiner geschlagenen Kuomintang-Armee ( etwa 150. 000 Mann , dazu noch 2,2 Millionen Zivilisten ) nach Taiwan ( Insel Formosa ) zurück und behauptete von dort aus den diplomatischen Alleinvertretungsanspruch über ganz China , bis ihm 1971 die internationale Anerkennung und der Sitz im UN-Sicherheitsrat aberkannt wurde. ( Chiang starb 1975. ) Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao Zedong die Volksrepublik China und übernahm als Präsident des Zentralrates der Volksregierung 88 J. Chang , J. Halliday : Mao. Das Leben eines Mannes. Das Schicksal eines Volkes. München 2005.
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die Staatsführung. Ministerpräsident wurde Zhou Enlai ( 1949–1976 ). 1950 zählte die Volksrepublik China etwa 450 Millionen Einwohner. Obwohl die gesellschaftliche Umgestaltung in Richtung Marxismus-Leninismus nach chinesischem Muster ( „Maoismus“ ) erst begonnen hatte , leistete sich China den entscheidenden Eingriff im Koreakrieg ( 1950–1953 , siehe Kap. 4.C ); der mit 900. 000 Gefallenen teuer erkaufte militärische Erfolg bescherte der KP-Führung im In- und Ausland einen enormen Prestigegewinn , allerdings auch die Feindschaft mit den USA , die fortan Taiwan militärisch unterstützten. Erst 1978 respektierte Washington die Volksrepublik China als eigenen Staat und nahm diplomatische Beziehungen auf. Im Jahr 1950 besetzte die „Volksbefreiungsarmee“ das Hochland von Tibet , welches im darauffolgenden Jahr der Volksrepublik angegliedert wurde ; nach einem Aufstand der Tibeter 1959 musste der 14. Dalai Lama ( Jetsun Jamphel Ngawang Lobsang Yeshe Tenzin Gyatso ) flüchten ; zehntausende Tibeter folgten ihm ins indische Exil ( nach Dharamsala ). Damals begannen die Spannungen mit dem benachbarten Indien , die 1962 im indisch-chinesischen Krieg gipfelten ; China eroberte den nahezu menschenleeren nordöstlichen Teil von Ladakh ( erst 2013 anerkannten beide Staaten ihre gemeinsame Grenze ). Im ersten und zweiten Indochinakrieg ( 1946–1954 bzw. 1958/59–1975 , siehe Kap. 4.D ) gewährte China Nordvietnam militärische Hilfe , führte aber paradoxerweise 1979 eine Strafexpedition gegen Vietnam durch , nachdem dieses das Regime Pol Pots in Kambodscha gestürzt hatte. Das Verhältnis zur Sowjetunion blieb zu Lebzeiten Stalins auf freundschaftlicher Ebene ; die UdSSR lieferte an die 300 Industrieanlagen und entsandte etwa 10. 000 Fachkräfte. In der Ära Chruschtschow kühlten die Beziehungen ab ; einerseits wollte Mao Zedong nicht von Stalins Zwei-Lager-Theorie abrücken ( siehe Kap. 2.A ), andererseits auch nicht die ideologische Vormacht Moskaus über den Weltkommunismus akzeptieren. Der Bruch erfolgte 1960 , als der Kreml die gesellschaftliche Entwicklung Chinas ( Errichtung der Volkskommunen , siehe unten ) nicht guthieß.89 Grenzstreitigkeiten um eine kleine Insel im Fluss Ussuri provozierten 1969 harte Kämpfe mit einer unbekannten Zahl von Toten ; bis heute ist nicht geklärt , wie nahe die Welt damals am Rande eines Atomkrieges stand ; bekannt ist , dass die Sowjetunion 225 Bomber im Krisengebiet konzentrierte hatte. Erst 2008 wurden die offenen Fragen entlang der 4. 300 Kilometer langen Grenze friedlich beigelegt. Der Aufbau der Volksrepublik begann 1950 mit der Bodenreform sowie mit der Verstaatlichung der Schwerindustrie und des Außenhandels. Die Verteilung von 47 Millionen Hektar Land auf 300 Millionen Landbewohner bescherte diesen erstmals in der Geschichte einen bescheidenen Wohlstand , doch kam ihnen ihr individuelles Eigentum durch die Zwangskollektivierung bald wieder abhanden , als ab 1955 landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften ( analog zu den sowjetischen Kolchosen ) flächendeckend durchorganisiert wurden. Die Bauern sahen sich mehr als 89 Edward Crankshaw : Moskau – Peking oder der neue Kalte Krieg. Reinbek 1963.
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je zuvor in einen sklavenähnlichen Zustand versetzt. In einer Rede vor der Obersten Staatskonferenz am 25. Januar 1956 erläuterte Mao Zedong die wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung des Landes : „Das Ziel der sozialistischen Revolution ist die Befreiung der Produktivkräfte. Die Verwandlung des individuellen Eigentums in der Landwirtschaft und im Handwerk in sozialistisches Kollektiveigentum und die Verwandlung des kapitalistischen Eigentums in den privaten Industrie- und Handelsbetrieben in sozialistisches Eigentum wird unweigerlich zu einer enormen Freisetzung von Produktivkräften führen. So werden die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine gigantische Entwicklung der Industrie- und Agrarproduktion geschaffen.“ 90
Hand in Hand mit den wirtschaftlichen Maßnahmen erfolgte die ideologische Umerziehung des Volkes : Der Einzelne sollte in selbstloser Aufopferung sein Leben dem Gemeinwohl widmen und sämtliche individuellen Bedürfnisse dem Kollektiv hintanstellen. Aus den Chinesen wurde ein Volk von willenlosen Arbeitssklaven , die man im Westen wegen der blauen Drillichkleidung „blaue Ameisen“ nannte. Wer sich nicht anpasste , wurde als „Konterrevolutionär“ gebrandmarkt und erlitt das Schicksal der alten Führungseliten , die in mehreren Säuberungswellen liquidiert wurden. Mindestens zehn Millionen Chinesen kamen in diesen Anfangsjahren der Volksrepublik ums Leben , Radio Moskau sprach 1969 sogar von 26,4 Millionen hingerichteter Chinesen ; nach einem Bericht der Vereinten Nationen befanden sich anno 1955 an die 25 Millionen Chinesen in Arbeitslagern und 12,5 Millionen in Umerziehungslagern.91 Mao Zedong hatte bereits in einer Rede vom 14. August 1949 das zu erwartende Blutbad gerechtfertigt , indem er sich auf das „Kommunistische Manifest“ des Jahres 1848 berief und mithilfe der – wissenschaftlich unhaltbaren – Klassenkampftheorie die revolutionäre Umgestaltung Chinas aus der Geschichte zu erklären versuchte : „Im Klassenkampf siegen gewisse Klassen , während andere vernichtet werden. Das ist der Lauf der Geschichte , das ist die Geschichte der Zivilisation seit Tausenden von Jahren. Erklärt man die Geschichte von diesem Standpunkt aus , so heißt das historischer Materialismus ; nimmt man den entgegengesetzten Standpunkt ein , so ist das historischer Idealismus.“92 90 Aus : Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Peking 1966 ( erste Miniaturausgabe deutsch , vulgo „Mao-Bibel“ ). 91 Ludger Kühnhardt : Die Flüchtlingsfragen als Weltordnungsproblem. Massenzwangswanderungen in Geschichte und Politik = Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen Bd. XVII , Wien 1984 , S. 86. 92 Worte des Vorsitzenden Mao , a. a. O.
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Der 1953 ins Leben gerufene erste Fünfjahresplan zur Industrialisierung des Landes scheiterte , weil es an Fachkräften mangelte und die Verstaatlichung der gesamten vorhandenen Industrie deren Produktivität zunächst lähmte. 1958 begann der zweite Fünfjahresplan ( „Großer Sprung nach vorne“ ) mit der Errichtung von Volkskommunen. Die rund 750. 000 landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden zu 26. 500 Volkskommunen zusammengefasst. Diese waren zum Teil nach militärischen Grundsätzen organisiert ( „jeder Bauer ist ein Soldat“ ) und gliederten sich auf unterster Ebene in die Produktionsgemeinschaften , bestehend aus jeweils zehn bis zwanzig Familien , und in die übergeordneten Produktionsbrigaden , die den ehemaligen Dorfgemeinschaften entsprachen. Mehrere Brigaden ergaben dann die Volkskommune mit 10. 000 bis 30. 000 Personen. Sie bildeten wirtschaftlich autarke Zonen , in denen es kein Privatleben gab und die traditionelle chinesische Familie aufgelöst wurde. Die Verpflegung erfolgte in öffentlichen Speisehäusern , für die entsprechende Erziehung und linientreue Indoktrinierung von Jung und Alt wurde gesorgt , Kindergärten waren ebenso vorhanden wie Altersheime. Seit 1960 wurden auch in Städten Volkskommunen organisiert , sodass nach und nach 74. 000 Volkskommunen mit 500. 000 Produktionsbrigaden und drei Millionen Produktionsgemeinschaften gezählt wurden. Der „Große Sprung nach vorne“ zerstörte die Existenzgrundlagen der Bauernfamilien und endete in einer Katastrophe mit 36 Millionen Hungertoten ,93 mit Plünderungen und konterrevolutionären Unruhen , die von Taiwan zusätzlich unterstützt wurden. 1962 setzte eine Massenflucht aus China in die benachbarten Staaten und auch in die britische Kronkolonie Hongkong ein , wo die Bevölkerung von einer Million auf 3,7 Millionen Menschen anwuchs. Unbeirrt von diesen Vorgängen lief das 1959 begonnene chinesische Atomprogramm ab , das 1964 mit der Zündung der ersten Atombombe und 1967 mit jener der ersten Wasserstoffbombe seine Effizienz bewies. In diesem Jahr stellte der chinesische Außenminister und Vize-Premier , Marschall Chen Yi , in einem Interview die chinesische Sichtweise der Weltpolitik dar : „Die Völker aller Länder der Welt sind revolutionär , da sie , konfrontiert mit dem Imperialismus und der einheimischen reaktionären Herrschaftsklasse , keine andere Alternative haben. Niemand kann Völker zur Revolution anstiften noch sie von der Revolution abhalten. Nicht nur die kolonialen Völker sind revolutionär. Zurzeit ist auch das Volk der USA , beherrscht von der Gruppe der Monopolkapitalisten , revolutionär. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der US-Imperialismus seine Krallen in der ganzen Welt ausgestreckt. Er hat hunderte militärische Stützpunkte überall in der Welt errichtet , er hat die Völker aller Länder versklavt. [ … ] Doch die Le93 Yang Jisheng : Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958–1962. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Frankfurt am Main 2012.
B ) CHINAS LEIDVOLLER WEG ZUR GROSSMACHT bensverhältnisse der Werktätigen in den USA wurden als Resultat dieser Expansion des amerikanischen Imperialismus nicht verbessert. Im Gegenteil , da er seine Kräfte für die Expansion außerhalb des Landes benötigte , hat der US-Imperialismus die Ausbeutung und Unterdrückung der Werktätigen zu Hause noch intensiviert und dadurch den Prozess der Polarisation zwischen Reich und Arm beschleunigt. [ … ] Um die eigentlichen Herren ihres Landes zu werden , müssen die breiten Massen der amerikanischen Werktätigen einen revolutionären Kampf führen , um ihre eigene reaktionäre Herrschaftsklasse zu besiegen. [ … ] Das chinesische Volk hat ein ähnliches historisches Schicksal wie die Völker anderer Länder in Asien , Afrika und Lateinamerika. Nachdem das chinesische Volk nach langen Kämpfen den Sieg errungen hat und jetzt in einem sozialistischen Land den Leninismus-Marxismus hochhält , ist es natürlich verpflichtet , mit den revolutionären Kämpfen aller unterdrückten Nationen zu sympathisieren und die revolutionären Kämpfe aller Völker der Welt zu unterstützen. [ … ] Es ist unsere unverbrüchliche internationale Pflicht , solche revolutionären Kämpfe zu unterstützen.“94
Das Scheitern der Agrarrevolution und die Wirtschaftskrise schwächten Maos Führungsrolle , sodass dieser 1959 sein Amt als Staatspräsident ( seit 1954 ) an seinen Stellvertreter Liu Shaoqi ( Liu Shao-ch’i ) abtreten musste. Liu trat gemeinsam mit dem KP-Generalsekretär Deng Xiaoping ( Teng Hsiao p’ing ) für eine pragmatischere Regierungslinie ein , wodurch beide in schärfsten ideologischen Gegensatz zu Mao Zedong gerieten. Weil es Mao nicht gelungen war , die Partei auf seine Linie einzuschwören , löste er die Kulturrevolution aus ( 1966–1969 ): Sie sollte einerseits einen neuen , sozialistischen Menschentyp formen , andererseits die kultische Verherrlichung des KP-Vorsitzenden Mao Zedong zum obersten gesellschaftlichen Ziel erheben. Eine wohlvorbereitete Kampagne richtete sich gegen westliche ebenso wie gegen traditionell chinesische Denk- und Lebensweisen , wie sie von den Intellektuellen aus den Bereichen der Literatur , Publizistik und des Erziehungswesens vertreten worden waren. Von 1966 bis 1968 blieben die Schulen und Universitäten geschlossen. Mao rief die Jugend zum Eintritt in die „Roten Garden“ und damit zum offenen Kampf für die Kulturrevolution auf und manipulierte sie derart , dass sie einerseits die allgemein herrschende Unzufriedenheit gegen pragmatische Funktionäre des Partei- und Staatsapparates lenkten , andererseits ihn selbst als den über jede Kritik erhabenen „Großen Vorsitzenden und Steuermann“ priesen. Der Forderungskatalog der Roten Garden enthielt folgende Punkte : Jeder Bürger hat manuelle Arbeit zu verrichten ; in allen öffentlichen Räumen , Verkehrsmitteln , Kinos usw. sind Mao-Bilder aufzuhängen ; jedwede Opposition ist rücksichtslos zu 94 Interview mit Hugo Portisch , abgedruckt in der Tageszeitung „Kurier“ am 1. August 1964 , S. 2.
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beseitigen ; die Lehre Mao Zedongs soll schon im Kindergarten verbreitet werden ; Bücher und sonstige Schriften sind zu verbrennen , wenn sie nicht der Lehre Maos entsprechen. Auf diese Weise wurde der gesamte mittlere und untere Parteiapparat zerschlagen , drei von vier Parteifunktionären verloren ihr Amt. KP-Generalsekretär Deng Xiaoping wurde 1967 wegen seines vermeintlichen „kapitalistischen Weges“ entlassen , Staatspräsident Liu Shaoqi als „Chruschtschow Chinas“ diffamiert , 1968 abgesetzt und aus der Partei ausgeschlossen. In den folgenden , auf das ganze Land übergreifenden Terror- und Säuberungsaktionen der Roten Garden wurde – mit Wissen Maos – öffentlich gefoltert , auch gab es zahlreiche Hinrichtungen. Insgesamt fanden rund eine Million Chinesen den Tod. Nach und nach gewann die Kulturrevolution eine ungewollte Eigendynamik , die Mao zu entgleiten drohte ; zugleich verhärtete sich der Widerstand gegen die Roten Garden , sodass ein Bürgerkrieg drohte. Daher blieb Mao nichts anderes übrig , als die Armee gegen die Roten Garden vorgehen zu lassen und die „Große proletarische Kulturrevolution“ zu beenden. Scheinbar ging er als Sieger aus den Wirren hervor , tatsächlich aber musste er zusehen , wie die Pragmatiker in der Partei unter Führung von Ministerpräsident Zhou Enlai , dem die Wirren der Kulturrevolution nichts anhaben konnten , wieder Oberhand gewannen und nach und nach rehabilitiert wurden. So konnte Deng Xiaoping 1973 wieder in seine Position als stellvertretender Ministerpräsident und Generalstabschef eingesetzt werden. Das Jahr 1976 brachte ebenfalls schwerste innenpolitische Erschütterungen : Am 8. Januar starb Zhou Enlai. Noch einmal gewannen einige der sich schon während der Kulturrevolution als radikale Ideologen exponierten Spitzenpolitiker , allen voran Maos Gemahlin Jiang Qing ( Chiang Ch’ing ), die Oberhand und stürzten Deng Xiaoping. Als am 9. September 1976 Mao Zedong starb , versuchte Jiang Qing gemeinsam mit drei Mitkämpfern , die Macht an sich zu reißen , doch wurde diese „Viererbande“ binnen Kurzem verhaftet und wegen bewusster Missinterpretation der Lehren Maos von einem Sondergericht zum Tode verurteilt , dann zu lebenslanger Haft begnadigt ( Jiang Qing setzte 1991 ihrem Leben ein Ende ). Mao Zedong verstarb im Alter von 84 Jahren. Er ist als erfolgreicher Guerillaführer und Staatsgründer ebenso in die Geschichte eingegangen wie als rücksichtsloser , menschenverachtender Ideologe , der den Tod von bis zu 70 Millionen Chinesen zu verantworten hatte.95 Sein Mausoleum erhebt sich auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ ( Tiananmen-Platz ) gegenüber dem Eingang in die Verbotene Stadt. Der abermals rehabilitierte Deng Xiaoping übernahm nun die Nachfolge Maos , bis er 1987 altersbedingt auf die Partei- und Staatsführung verzichtete. Sein neuer Wirtschaftskurs im Rahmen des fünften Fünfjahresplans betraf zunächst die Land95 Felix Wemheuer ( Hg. ): Maoismus. Ideengeschichte und revolutionärer Geist. Wien 2008.
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wirtschaft , indem der Boden den bäuerlichen Familien als Pachtbesitz zurückgegeben wurde , wobei ein Teil der Ernte abzuliefern war. Die Einrichtung freier Märkte verbesserte die Versorgung der Bevölkerung augenblicklich. Der sechste Fünfjahresplan brachte die endgültige wirtschaftliche Wende , als 1982 die Marktwirtschaft eingeführt und die Volkskommunen aufgelöst wurden. Diese Wende bescherte dem Land ein schier unglaubliches Wirtschaftswachstum , zugleich aber auch ein wachsendes soziales Ungleichgewicht. Lag das Bruttosozialprodukt pro Kopf im Todesjahr Maos noch unter 300 US-Dollar , so hatte es 2006 die 2. 000 US-DollarGrenze bereits überschritten , seit 2010 zählt China nach den USA zur zweitgrößten Weltwirtschaft und ist ex aequo mit der BRD Exportweltmeister. Allein im Jahrzehnt zwischen 2001 und 2011 vervierfachte sich das Bruttosozialprodukt von 9,6 auf 37 Billionen Yan. Zudem besitzt China die weltweit größten Devisenreserven mit zwei Billionen US-Dollar. Durch die Eingliederung der britischen Kronkolonie Hongkong und der portugiesischen Kolonie Macao 1997 gewann die Volksrepublik zusätzliche wirtschaftliche Ressourcen ; Peking verpflichtete sich , das demokratische System der beiden ehemaligen Kolonien auf die Dauer von 50 Jahren nicht anzutasten ( „ein Land , zwei Systeme“ ), womit ein Modell für die künftige Vereinigung mit der „abtrünnigen Provinz“ Taiwan geschaffen werden sollte. Das westlich orientierte „Nationalchina“ versagt sich allerdings bis dato den Verlockungen „Rotchinas“, vermeidet aber auch angesichts der ständigen Kriegsdrohung Pekings die Erklärung der eigenen Unabhängigkeit. 1979 verpflichteten sich die USA im „Taiwan Relations Act“ zum militärischen Beistand für den Fall eines Angriffs von Rotchina. So wie Japan musste sich China nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals umorientieren : Galten in den 1950er-Jahren der Marxismus-Leninismus als unwidersprochene Staatsdoktrin und die Sowjetunion als nachahmenswertes Vorbild , so brach sich Ende der 1970er-Jahre die Erkenntnis Bahn , dass der Kommunismus keine wirtschaftliche Entwicklung brachte. Unter Deng Xiaoping wandte sich China vom sowjetischen Modell ab. Gorbatschow kam mit der nach 1985 eingeleiteten marktwirtschaftlichen Umgestaltung der UdSSR ( „Perestroika“, siehe Kap. 10.A ) zu spät , um noch eine Vorbildfunktion zu übernehmen. Hingegen wirkte dessen dekretierte Meinungs- und Medienfreiheit ( „Glasnost“ ) abschreckend auf die Entscheidungsträger in Peking , insbesondere als die aufkeimende Liberalisierung und Demokratiebewegung zu unerwünschten Massendemonstrationen führte , die im Frühjahr 1989 in einem mehrwöchigen Sitz- und Hungerstreik Hunderttausender auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ ( Tiananmen-Platz ) gipfelten. Die Streikenden rüttelten erstmals am Machtmonopol der KPCh. Daher ließ die Regierung am 4. Juni die „Volksbefreiungsarmee“ gegen die Demonstranten vorgehen ; bei dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz starben über 3. 000 Menschen , anschließend setzte eine Treibjagd auf die „Konterrevolutionäre und Unruhestifter“ ein , die mehrere tausend
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Verhaftungen und Hinrichtungen nach sich zog.96 Die KP-Führung erklärte , dass die wirtschaftlichen Reformen weitergehen würden , dass aber das politische System nicht anzutasten wäre. Allerdings wurde von den Chinesen nicht mehr verlangt , sich mit dem Maoismus zu identifizieren , vielmehr sollte fortan der chinesische Nationalismus als Quelle der Selbstfindung dienen. Erstmals seit der Kulturrevolution galt wieder der Konfuzianismus als Grundlage für den Fortschritt , denn er verlangte vom Einzelnen Gehorsam und Disziplin und erhob im Gegensatz zum demokratischen Westen nicht den Individualismus , sondern den Kollektivismus zur Richtschnur von Recht und Ordnung. Die Werte der europäischen Aufklärung ( Demokratie , Menschenrechte u. a. ) genießen demnach im Reich der Mitte keinen Stellenwert. Im selben Jahr 1989 kam es in Tibets Hauptstadt Lhasa zu schweren Ausschreitungen wegen der systematischen Überfremdung durch chinesische Zuwanderer ; die Behörden verhängten sogar das Kriegsrecht. Zur Empörung Pekings erhielt der exilierte Dalai Lama auch noch den Friedensnobelpreis. Wie sehr der chinesische Nationalismus die Bevölkerung erfasst hat , konnte anlässlich des abermaligen Aufstandes der Tibeter im März 2008 und der Erhebung der Uiguren 2009 beobachtet werden : Die Anliegen der ethnischen Minderheiten fanden bei den Han-Chinesen keinerlei Sympathie. Dafür entfachten die pompösen Olympischen Spiele im August 2008 sowie die Weltausstellung 2010 eine breite Welle des Nationalstolzes. Durch ihn können allerdings die schweren inneren Widersprüche , die das ungeheuere Wirtschaftswachstum der letzten 30 Jahre verursachten , nicht auf Dauer kaschiert werden : Denn in den sozialen Spannungen , in der Korruption , in der gewaltigen Binnenwanderung , im Umweltdesaster und nicht zuletzt in der Überalterung der Gesellschaft und im Frauenmangel , hervorgerufen durch die Ein-Kind-Politik , liegt genügend Sprengstoff , um das System kollabieren zu lassen. Es stellt sich die Frage : Wie lange kann eine kommunistische Diktatur den Widerspruch von wirtschaftlicher Freiheit und politischer Unfreiheit überdauern ? Um die fragile innere Stabilität nicht zu gefährden , braucht China eine stetig wachsende Wirtschaft und den äußeren Frieden. Seine Außenpolitik ist demnach nur offensiv gegenüber kleineren Anrainerstaaten des Chinesischen Meeres , aber defensiv gegenüber der Supermacht USA und vor allem auf langfristiges Stillen des immensen Erdöl- und Rohstoffhungers orientiert. Nichtsdestoweniger ist die Volksrepublik China zu einer weltweit handlungsfähigen Großmacht aufgestiegen , die wirtschaftlich mit Europa und den USA bereits derart eng verflochten ist , dass ihr Zusammenbruch unabsehbare Folgen für den Westen nach sich ziehen würde. Jährlich tauschen China und die USA Waren und Dienstleistungen im Wert von 500 Milliarden US-Dollar aus , China hält 1,2 Billionen US-Dollar an amerikanischen Staatsschulden. Seit Juni 2013 gibt es 96 Andrew J. Nathan , P. Link : Die Tiananmen-Akte. Die Geheimdokumente der chinesischen Führung zum Massaker am Platz des Himmlischen Friedens. München 2001.
C ) KOREA UND DER „VERGESSENE KRIEG“
erste Anzeichen dafür , dass das „kommunistische“ China in eine ähnliche Finanzkrise fallen könnte wie der kapitalistische Westen sechs Jahre zuvor ( Kapitel 10.D ): Die Banken weisen eine gigantische Überschuldung auf , sitzen auf uneinbringbaren „faulen“ Krediten und können nur durch massive staatliche Finanzspritzen ihre Zahlungsunfähigkeit abwenden ; zugleich zeigen sich erste Tendenzen zur Bildung einer gewaltigen Immobilienblase. Die Welt blickt gebannt nach Peking und fragt sich , ob und wie die Staatsführung eine neue „Subprime-Krise“ abwenden kann. C ) KOREA UND DER „VERGESSENE KRIEG“
Die exponierte Lage der koreanischen Halbinsel verstrickte die alte Kulturnation Korea seit Jahrhunderten in Konflikte mit China , Japan und Russland. 1910 wurde Korea schließlich von Japan annektiert. Auf der Konferenz von Jalta ( 1945 , siehe Kap. 1.A ) sicherten die Alliierten den Koreanern zwar die staatliche Unabhängigkeit zu , beschlossen aber zugleich die territoriale Aufteilung in ein sowjetisches und in ein US-amerikanisches Interessensgebiet , wobei die Demarkationslinie südlich des 38. Breitengrades verlief. Korea wurde damit nicht nur in die Rolle eines Spielballs im Kalten Krieg gedrängt , sondern sollte alsbald auch das Zeitalter der Stellvertreterkriege einleiten. Das Vorgehen der Kommunisten in Nordkorea ähnelte jenem in den europäischen Ostblockstaaten : Als „Koreanische Arbeiterpartei“ unter Führung des „Ersten Sekretärs“ Kim Il-sung ( Kim Ilsông , Ministerpräsident 1948–1972 , Staatsoberhaupt bis 1994 ) vollzogen sie mit einer Bodenreform und mit der Verstaatlichung von Industrie , Banken und Transportwesen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Umformung zur Volksdemokratie. Dank einer Einheitsliste und gelenkter Wahlen im August 1948 sicherten die Kommunisten ihre Machtbasis ab und proklamierten am 9. September 1948 die „Demokratische Volksrepublik Korea“. Südkorea stand zunächst unter US-Militärverwaltung , auch hier fanden im August 1948 Wahlen statt , allerdings unter UNO-Aufsicht. Danach konstituierte sich die „Republik Korea“ unter Präsident Syngman Rhee ( bis 1960 ). Nach den Staatsgründungen zogen sowohl Sowjets als auch Amerikaner ihre Truppen ab. Letztere fühlten sich sicher , obwohl General Douglas MacArthur , dem Militärbefehlshaber in Japan , nicht mehr als 83. 000 Soldaten zur Verfügung standen. Nordkoreas Invasion in Südkorea war von langer Hand vorbereitet.97 1949 holte sich Kim Il-sung Moskaus Zustimmung ; vielleicht suchte Stalin in Fernost die Revanche für das Scheitern der Berlinblockade ( siehe Kap. 3.B ), gewiss aber ermu97 Mario Duić : Der Korea-Krieg 1950 bis 1953. In : Truppendienst 1984 , Hefte 3 bis 6. – Christoph Kleßmann , Bernd Stöver ( Hgg. ): Der Koreakrieg. Wahrnehmung – Wirkung – Erinnerung. Wien / Köln / Weimar 2008. – Rolf Steininger : Der vergessene Krieg. Korea 1950–1953. München 2006.
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tigte ihn der US-Abzug aus Südkorea dazu , sich an der Invasionsvorbereitung zu beteiligen und dadurch sein Einflussgebiet zu erweitern. Auch Mao Zedong unterstützte Kim bei seinem Vorhaben , das den westlichen Geheimdiensten anscheinend verborgen geblieben war. Daher kam der Angriff am 25. Juni 1950 völlig überraschend. Der Koreakrieg begann als Blitzkrieg und endete als Stellungskrieg : In der Blitzkriegsphase eroberte die nordkoreanische Armee mit 125. 000 Mann bereits nach vier Tagen Seoul und drängte die nur 65. 000 Mann starke südkoreanische Armee bis zum 5. Juli auf den schmalen Brückenkopf bei Pusan im äußersten Südwesten der Halbinsel zurück. Zwei Tage nach Kriegsbeginn verurteilte der UN-Sicherheitsrat auf Betreiben der USA Nordkorea als Angreifer. Diese UN-Resolution konnte nur zustande kommen , weil unmittelbar vor der Abstimmung der sowjetische Vertreter aus Protest gegen die Diskriminierung der Volksrepublik China den Saal verlassen hatte. Die USA stellten nun eine UN-Armee aus Kontingenten von 16 Nationen zusammen. Diese zählte gemeinsam mit der südkoreanischen Armee an die 600. 000 Mann ( davon 300. 000 US-Amerikaner ). Das Kommando führte Douglas MacArthur. Mit dieser Streitmacht und einer gewaltigen Luftflotte leitete er ab 15. September 1950 die Gegenoffensive ein , in deren Verlauf die nordkoreanischen Streitkräfte systematisch vernichtet wurden. Nach knapp einem Monat stießen die UNO-Truppen bis zur chinesischen Grenze vor. Nun griffen aber überraschend 180. 000 „Freiwillige“ der chinesischen Volksbefreiungsarmee ein und drängten die Alliierten wieder nach Süden. Im Frühjahr 1951 stabilisierte sich die Front am 38. Breitengrad , wo in der Folge ein verlustreicher Stellungskrieg geführt wurde , den keine Seite für sich entscheiden konnte. Als General MacArthur die chinesischen Luft- und Nachschubbasen bombardieren lassen wollte , befürchtete USPräsident Truman eine Eskalation bis hin zu einem neuen Weltkrieg , womöglich mit nuklearem Einsatz. MacArthur wurde im April 1951 durch General Matthew Bunker Ridgway abgelöst. Im Juli 1951 begannen die langwierigen Waffenstillstandsverhandlungen , die zu Lebzeiten Stalins kein Ergebnis zeitigten. Am 7. Februar 1953 hielt Mao Zedong auf der 4. Tagung des 1. Nationalkomitees der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes folgende Ansprache : „Wir wollen den Frieden. Solange der US-Imperialismus seine anmaßenden und unberechtigten Forderungen und seine Machenschaften zur Ausweitung der Aggression nicht aufgibt , kann der Entschluss des chinesischen Volkes nicht anders sein , als Seite an Seite mit dem koreanischen Volk den Kampf fortzusetzen. Das heißt nicht , dass wir kriegslüstern wären. Wir sind bereit , sofort die Kriegshandlungen einzustellen und die verbliebenen Fragen einer künftigen Regelung zu überlassen. Der USAImperialismus ist aber nicht bereit , das Gleiche zu tun. Nur recht so , mag denn der Krieg weiter gehen. Wir sind darauf vorbereitet , so viele Jahre den Kampf mit dem amerikanischen Imperialismus zu führen , wie viel er wünscht , bis zu dem Moment ,
C ) KOREA UND DER „VERGESSENE KRIEG“ da er bereit ist aufzuhören , bis zu dem Moment , da die Völker Chinas und Koreas den vollen Sieg errungen haben.“98
Vier Wochen nach dieser Propagandarede starb Maos engster Verbündeter Stalin , wodurch der Weg für ein Ende der Verhandlungen frei wurde. Der Waffenstillstand von Panmunjon am 27. Juli 1953 definierte wieder den 38. Breitengrad als Grenze zwischen Nord- und Südkorea und legte je eine vier Kilometer breite demilitarisierte Zone zu beiden Seiten der Grenze fest. Zu einem Friedensschluss ist es bis heute nicht gekommen. Die Bilanz des mit großer Härte geführten Koreakrieges ergibt drei Millionen Tote und ein verwüstetes Land. Von der nordkoreanischen Armee fielen 520. 000 Soldaten , von der chinesischen 900. 000. Die südkoreanische Armee verzeichnete 415. 000 Gefallene , die UN-Truppen 94. 000 , davon 55. 000 Amerikaner ; 11. 000 alliierte Kriegsgefangene wurden in nordkoreanischen Lagern ermordet. Fünf Millionen nordkoreanische Flüchtlinge fanden im Süden eine neue Heimat. Die 2. 800 abgeschossenen US-Flugzeuge illustrieren den gewaltigen Materialeinsatz der Westmächte in diesem Krieg. Sowohl die Sowjetunion als auch China leisteten massive Aufbauhilfe und verliehen dadurch der Wirtschaft Nordkoreas starke Wachstumsimpulse , sodass die Volksrepublik um 1970 noch wohlhabender als das westlich orientierte Südkorea schien. Doch dann zeichnete sich die Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft ab : Während sich Südkorea unter die „Jungen Tiger“ einreihte und zu einem modernen Industrie- und Dienstleistungsstaat entwickelte , verharrte das hermetisch abgeschlossene Nordkorea in einem stalinistischen „Steinzeitkommunismus“. Versorgungsengpässe standen und stehen auf der Tagesordnung. Mit Ende des Kalten Krieges endeten russische und chinesische Hilfslieferungen , wodurch in Nordkorea im wahrsten Sinne des Wortes die Lichter ausgingen : Aufgrund des Energiemangels fehlt nicht nur in den meisten Städten die nächtliche Straßenbeleuchtung , vielmehr stellten die Betriebe ihre Produktion ein ; auch die landwirtschaftliche Produktion ging dramatisch zurück , das Volk begann zu hungern. Dies hinderte jedoch Kim Il-sungs Sohn und Nachfolger Kim Jong-il ( Staatsoberhaupt 1994–2011 ) nicht daran , ein Atomprogramm zu entwickeln. Die erste A-Bombenexplosion im Oktober 2006 gelang noch nicht vollkommen , die zweite im Mai 2009 jedoch schon. Was bezweckt die Staatsführung der verarmten , aber hochgerüsteten Volksrepublik , deren einziger nennenswerter Devisenbringer der Export selbst produzierter Waffen , insbesondere von Raketen , zu sein scheint ? Vordergründig wohl militärische Abschreckung und Dominanz über das reiche Südkorea , zugleich wohl auch eine Warnung an Japan , China und die USA , keinerlei politischen , wirtschaft98 Aus : Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung. Peking 1966.
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lichen und militärischen Druck auf Nordkorea auszuüben. Jedenfalls soll sich das grundsätzlich verbündete China nicht mit den USA über die Volksrepublik verständigen , vielmehr will diese selbst direkte Beziehungen zu den USA knüpfen , um von ihnen möglichst viel Unterstützung für die eigene marode Wirtschaft zu lukrieren. Denn Kim Jong-il war in Wahrheit der „Bettelkönig“, der die westliche Welt gewinnbringend erpresste : Jedes vorübergehende Einfrieren des Kernwaffenprogramms brachte Milliarden US-Dollar , jedes kurzfristige Innehalten bei der Aufrüstung , jede vordergründige diplomatische Annäherung an Seoul verschaffte Lebensmittel aus Südkorea. Hierbei handelte es sich um nichts anderes als ein Pokerspiel , das der Westen zwar durchschaute , aber nicht für sich entscheiden konnte. Denn alle freundlichen Gesten Kims mündeten bei erster Gelegenheit in eine neue diplomatische Eiszeit , die so lange anhielt , bis er wieder Hilfe benötigte , erneut ein scheinbares Tauwetter signalisierte und für sein vermeintliches Entgegenkommen Geld und Nahrung erhielt. 2011 starb Kim Jong-il ; unter seiner Herrschaft starben eine Million Nordkoreaner den Hungertod ( von 23 Millionen Einwohnern ).99 Die Diktatur über das kommunistische Nordkorea scheint in Erbpacht an die Familie des Staatsgründers gebunden zu sein. So wie Kim Jong-il seinem Vater als Staatsoberhaupt folgte , wurde dessen dritter Sohn Kim Jong-un als Nachfolger aufgebaut. Obwohl Letzterer für die gescheiterte Währungsreform verantwortlich zeichnete , zog man nicht ihn zur Rechenschaft , um seinen Ruf nicht zu gefährden. An seiner statt wurde der für die Planwirtschaft zuständige 77-jährige Pak Nam-ki im März 2010 von einem Erschießungskommando in einer Kaserne in Pjöngjang exekutiert. Der kränkelnde Kim Jong-il ließ seinen Sohn trotz dessen Jugend noch rechtzeitig zum General befördern und präsentierte ihn am 30. September 2010 auf dem KP-Parteitag als künftigen Führer Nordkoreas. Tatsächlich trat dieser dann nach dem Tod seines Vaters im Dezember 2011 dieses hohe Amt an. Anfangs hatte es den Anschein , als ob der junge Diktator sein Land vorsichtig aus den Zwängen des Stalinismus befreien würde , doch spätestens im Februar 2013 wurde klar , dass das alte Spiel von vermeintlicher Entspannung – Hilfe aus dem Westen – Rückkehr zur Konfrontationspolitik fortgesetzt wird. Denn unbeeindruckt von den Verurteilungen durch den Weltsicherheitsrat , durch die EU und durch seinen mächtigen Mentor China ließ Kim Jong-un Nordkoreas dritte Atombombe zünden und brüskierte damit Freund und Feind. Damit nicht genug , nahm er ein gemeinsames südkoreanisch-amerikanisches Militärmanöver zum Anlass , um im März 2013 den Waffenstillstand mit Südkorea aufzukündigen und unverhohlen mit Krieg zu drohen. Zwei Monate später ließ er die explosive Lage wieder deeskalieren – auch das 99 Eindrucksvolle und authentische Schilderungen des Alltags in Nordkorea siehe Barbara Demick : Die Kinogänger von Chongjin. Eine nordkoreanische Liebesgeschichte. München 2010. – Ingrid Steiner-Gashi , Dardan Gashi : Im Dienst des Diktators. Wien 2011.
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ohne ersichtlichen Grund. Vielleicht resultierte sein Verhalten aus Machtkämpfen im innersten Zirkel des Parteiapparates. F ) INDOCHINA
Die drei Staaten Vietnam , Laos und Kambodscha ( Kampuchea ) nehmen die Fläche des einstigen Französisch-Indochina ein , das zwischen 1887 und 1893 als französische Kolonie eingerichtet worden war. In der Zwischenkriegszeit stellte sich der Kolonialmacht eine nationale Unabhängigkeitsbewegung entgegen , deren Führung 1930 die von Ho Chi Minh ( eigentlich : Nguyen That Thangh ) gegründete Kommunistische Partei Indochinas übernahm. Ho weilte mehrmals in Frankreich und in der Sowjetunion und erhielt dort seine einschlägigen Schulungen , durch die er auch die Überzeugung gewann , dass ein Unabhängigkeitskampf nur im Zusammenhang mit einer revolutionären Ideologie zum Erfolg führen kann. 1927 formulierte dies der damals 37-Jährige wie folgt : „Man muss zuerst eine revolutionäre Partei haben. Nur mit einer starken Partei kann eine Revolution Erfolg haben. Ohne Doktrin [ gemeint : Ideologie ] ist eine Partei wie ein Mann ohne Arme , ein Schiff ohne Kompass. Heute gibt es viele Theorien und Doktrinen , aber die authentischste , wahrste , revolutionärste Doktrin ist der Leninismus.“100
Ab 1940 besetzten japanische Streitkräfte Indochina , beseitigten die französische Kolonialverwaltung und initiierten zu Kriegsende die Gründung der Staaten Vietnam ( bestehend aus Tongking , Annam und Cochinchina ), Laos und Kambodscha. Alteingesessene , bereits von den Franzosen eingesetzte einheimische Monarchen beließen sie im Amt , so den König von Kambodscha , Norodom Sihanouk ( 1941–1955 ), oder den Kaiser von Annam , Bao Dai ( 1925–1945 ). Im September 1945 rief Ho Chi Minh in Hanoi die „Demokratische Republik Vietnam“ aus und wurde deren Präsident. Die Rückkehr der Franzosen führte noch nicht unmittelbar zum Krieg , denn zunächst tolerierte Ho Chi Minh die Anlandung französischer Truppen unter General Jacques Leclerc ( Soldaten aus Frankreich , aus den afrikanischen Kolonien sowie Fremdenlegionäre , darunter viele ehemalige SS-Soldaten , die noch in den Kriegsgefangenenlagern rekrutiert worden waren ). Als Verhandlungen zwischen Hanoi und Paris über die Unabhängigkeit Vietnams im Rahmen eines möglichen Staatenverbundes mit Frankreich kein Ergebnis brachten , riefen französische Ultras eigenmächtig die „Republik Cochinchina“ aus und initiierten damit den Ersten Indochinakrieg ( 1946–1954 ). 100 Ausstellungsobjekt im Ho-Chi-Minh-Museum , Hanoi.
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Indochina 1954-1975
Der ehemalige Geschichtslehrer Vo Nguyen Giap hatte noch während des Weltkrieges die Partisanenarmee Vietminh ( Abkürzung für : Viet-Nam Doc Lap Dong Minh Hoi = Liga der Verbände für die Unabhängigkeit Vietnams ) aufgebaut ,
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1946 ernannte ihn Ho Chi Minh zum Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ( bis 1980 ). Seine speziell für den Kampf gegen einen überlegenen Feind entwickelte Taktik ( „vom Guerillakrieg zum Feldzugkrieg“ ) sollte fortan beispielgebend für jeden Guerillakampf werden und speziell zunächst gegen die Franzosen , später gegen die Amerikaner zum Erfolg führen.101 In der ersten Phase des Krieges lieferten die auf 80. 000 bis 100. 000 Mann geschätzten Vietminh-Partisanen dem nach und nach auf 167. 000 Mann aufgestockten französischen Expeditionsheer verlustreiche Einzelaktionen. Die entscheidende Wende kam 1949 mit dem Sieg Mao Zedongs und der Errichtung der Volksrepublik China , weil ab 1950 die offene Unterstützung Chinas für die Vietminh anrollte , wodurch den Franzosen die waffentechnische Überlegenheit abhanden kam. Auch die Truppen der Saigoner frankophilen Marionettenregierung unter Ex-Kaiser Bao Dai ( Staatschef 1949–1955 ) vermochten trotz ihrer beachtlichen Zahl von 260. 000 Mann die besser motivierten und straffer geführten Vietminh nicht zu schlagen. Zwar lehnten die USA eine militärische Intervention ab , Präsident Eisenhower gewährte aber eine gewaltige Finanzhilfe von 3,6 Milliarden US-Dollar , die 1953 und 1954 etwa 80 Prozent der französischen Kriegskosten ausmachte ; hinzu kamen etliche CIA-Agenten und Militärberater.102 Die französische Kriegsplanung unter dem 1953 ernannten Oberbefehlshaber General Henri Navarre sah nun vor , die Vietminh an eilends errichteten Festungen verbluten zu lassen. Um den Guerillakämpfern die Nachschublinie abzuschneiden , ließ Navarre im November 1953 die Dschungelfestung Diên Biên Phu errichten ,103 in der Hoffnung , daselbst den Vietminh in der zu erwartenden offenen Konfrontation das Rückgrat zu brechen. Diese unzugängliche Rodungsinsel inmitten des Urwaldes liegt 270 Kilometer Luftlinie westlich von Hanoi , sie wurde von 18. 000 Mann verteidigt und mit 28 Geschützen und zehn Panzern dotiert. Von den Franzosen unbemerkt , transportierten jedoch die Vietminh unter unvorstellbaren Strapazen in knapp einem halben Jahr tausende Tonnen Waffen und Gerät vor Diên Biên Phu. Als Transportmittel dienten 200. 000 Fahrräder. Man hat errechnet , dass die Träger während des endlosen Anmarsches je vier Kilogramm Reis verzehrten , um dann auch nur ein Kilogramm in die vorderste Belagerungslinie zu bringen. Letztlich verfügten die Vietminh über eine Belagerungsarmee von 72. 000 Mann mit 300 Geschützen und schweren Granatwerfern sowie 100 Fliegerabwehrkanonen , als sie im März 1954 ihren völlig überraschenden Angriff begannen. Einen Monat später kapitulierten die Franzosen , die lange Zeit vergeblich auf einen amerikani101 Wolfgang Etschmann : Guerillakrieg nach 1945. In : Truppendienst 1986 , Heft 3 , 265–271. 102 Graham Greene spielt in seinem Roman „Der stille Amerikaner“ ( 1955 ) auf den CIAAgenten Edward Lansdale an. 103 Siegbert Kreuter : Diën Biën Phu. Eine zeitlose Mahnung. In : ÖMZ 5 , 1984 , S. 421–431.
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schen Atombombeneinsatz zu ihrer Entlastung gehofft hatten. Von den 10. 000 gefangenen französischen Soldaten überlebten nur 3. 500 den Todesmarsch zur Küste. Mit der Niederlage von Diên Biên Phu , dem „französischen Stalingrad“, endete die französische Herrschaft in Indochina. Der erste Indochinakrieg hatte unter den Soldaten 27. 000 Vietnamesen , 20. 000 Franzosen , 11. 600 Fremdenlegionären und 15. 000 Nordafrikanern sowie 150. 000 Vietminh das Leben gekostet. Die zivilen Opfer lagen weit über einer halben Million. Auf der Genfer Indochinakonferenz wurde am 21. Juli 1954 die Auflösung Indochinas beschlossen ; Laos , Kambodscha und Vietnam erhielten ihre volle Souveränität , wobei Vietnam entlang des 17. Breitengrades geteilt wurde. Französische Truppen hatten aus Nordvietnam , die Vietminh aus Südvietnam abzuziehen. Gemeinsame Wahlen sollten die Einheit von ganz Vietnam wiederherstellen. In Nordvietnam ( Hauptstadt : Hanoi ) übte die Kommunistische Partei ( „Lao Dong“ ) unter Führung von Parteichef und Staatspräsident Ho Chi Minh ( 1954–1969 ) sowie unter dessen langjährigem Mitkämpfer und nunmehrigen Ministerpräsidenten Pham Van Dong ( 1955–1976 ) die alleinige Macht aus. Unter Inkaufnahme schwerer Versorgungsengpässe , die Zehntausende das Leben kosteten , wurde eine Bodenreform durchgeführt ; auch bei der gewaltsamen Industrialisierung , die nur mithilfe von China und der Sowjetunion sowie anderer Ostblockstaaten möglich gemacht wurde , spielte der Verlust von Menschenleben eine untergeordnete Rolle. Da sich Nordvietnam als alleiniger legitimer Vertreter von Gesamtvietnam betrachtete , fand von dort aus die kommunistische Guerillabewegung in Südvietnam , der Vietcong ( Abkürzung für : Viet-Nam Cong San = Kommunisten von Vietnam ), Anleitung und reiche Förderung. Unter Nordvietnams Bevölkerung verbreitete sich ein starkes Nationalbewusstsein , das in Südvietnam ( Hauptstadt : Saigon ) nahezu fehlte. Dort etablierte sich der ehemalige Mandarin Ngo Dinh Diem ( „der Unbestechliche“ ) mit US-Unterstützung als Ministerpräsident ( 1954–1963 ); er setzte 1955 den Ex-Kaiser Bao Dai ab ( dieser starb 1997 in Paris ) und rief die Republik aus. Mit diktatorischen Mitteln baute Diem einen pro-westlichen Staat auf , wobei er , selbst Katholik , die zahlreichen katholischen Flüchtlinge aus Nordvietnam voll integrierte ; ihm gelang es , die Armeeführung zu disziplinieren , die bewaffneten Sekten auszuschalten ( z . B. Cao Dai ) und die meisten kommunistischen Zellen zu zerschlagen. Als er die auf der Genfer Indochinakonferenz beschlossenen gesamtvietnamesischen Wahlen ablehnte , weil er die kommunistische Machtübernahme befürchtete , lieferte er 1957 den Vietcong-Partisanen den willkommenen Vorwand , mit Stör- und Terroraktionen das Regime zu destabilisieren.
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Damit begann der Zweite Indochinakrieg oder Vietnamkrieg ( 1957–1975 ).104 In diesem Krieg waren die USA nicht nur durch Gewährung massiver Wirtschaftshilfe , sondern durch den Kampfeinsatz eigener Soldaten unmittelbar beteiligt , während sich das kommunistische Lager zwar durch Waffen- und Wirtschaftshilfe , aber nicht kämpfend engagierte. Allerdings mobilisierte der Ostblock die öffentliche Meinung in den westlichen Staaten und fand dort reichlich Sympathisanten , insbesondere unter den Anhängern der 68er-Bewegung ; diese „zweite Front“ erwies sich letztlich als kriegsentscheidend. Die USA hatten schon vor Kriegsbeginn wenige hundert Militärberater für die südvietnamesische Armee in Vietnam stationiert. Auch aus Nordvietnam waren einige tausend Bewaffnete in Südvietnam eingesickert. Sie nutzten von Anfang an ein verzweigtes Wegesystem durch den Osten von Laos und Kambodscha ( „Ho Chi Minh-Pfad“ bzw. „Sihanouk-Pfad“ ) für den Nachschub von Menschen und Material. ( Auf dem Höhepunkt des Krieges verkehrten hier täglich 1. 000 Lkws. ) Ministerpräsident Diem versuchte , durch den Bau von Wehrdörfern sowie durch rigoroses Vorgehen gegen korrupte Beamte und Kriminelle dem Aufstand der Vietcong zu begegnen , allein er verlor nach und nach das Vertrauen der Bevölkerung. Denn die Korruption blühte weiter , zumal er selbst seinen Familienmitgliedern immer mehr politischen Einfluss gewährte ; auch wurde ihm das Ausbleiben einer Bodenreform angekreidet. Möglicherweise war es den Vietcong-Agenten sogar gelungen , die Pagoden zu unterwandern , jedenfalls stellten buddhistische Mönche im Namen der Mehrheitsbevölkerung politische und religiöse Forderungen , die die ( k atholisch dominierte ) Regierung zu unterdrücken trachtete. Es kam zu aufsehenerregenden Selbstverbrennungen buddhistischer Mönche und Nonnen vor laufenden Kameras auf dem Hauptplatz von Saigon. Gleichzeitig unternahm der Vietcong zur Destabilisierung des Regimes immer wieder Mordanschläge , dem tausende Beamte und Regierungsfunktionäre zum Opfer fielen. Auf dem Höhepunkt der Staatskrise ordnete US-Präsident Kennedy den Sturz des Präsidenten an ( 1963 ): Anlässlich eines blutigen Militärputsches verlor Ngo Dinh Diem das Leben ( einen Monat später folgte ihm auch Kennedy ins Grab ). Die Verfassung wurde nun außer Kraft gesetzt , fortan wechselten einander verschiedene Militärregierungen in rascher Folge ab , bis General Nguyen Van Thieu als Vorsitzender des nationalen Verteidigungsrates die Funktion des Staatsoberhauptes in der instabilen , politisch zerrissenen Republik Südvietnam übernahm ( 1965–1975 ). Ihm ging es nur mehr darum , mithilfe der USA den von ihm geführten Staat zu erhalten. 104 Mario Duić : Der Vietnam-Krieg. In : Truppendienst 1987 , Hefte 2–5. – Marc Frey : Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München 6 2002. – Barbara Tuchman : Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam. Frankfurt am Main 1984 , S. 290–475.
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Das steigende US-Engagement in Vietnam ist ein Gradmesser dafür , wie sehr sich der Kalte Krieg von Europa in die entlegenen Teile der Welt verlagert hatte ; die dritte Berlinkrise ( Bau der Berliner Mauer 1961 , siehe Kap. 3.B ) ging vorüber , ohne dass die USA einen neuen Weltkrieg riskieren wollten. Hingegen zog die Kuba-Krise ( 1962 , siehe Kap. 9.B ) die volle Aufmerksamkeit Washingtons auf sich , und als sich die bewaffneten Zwischenfälle in Südvietnam häuften , konzentrierten sich die USA zunehmend auf Südostasien. Standen 1960 lediglich 500 amerikanische Militärberater in Vietnam , so waren es 1962 bereits 16. 500 , und 1964 , als der Vietnamkrieg voll entbrannte , 23. 500 Mann. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Kommunisten Südvietnam bereits regional und hierarchisch straff durchorganisiert ; zahlreiche Parteikader gehorchten ebenso wie die „Volksbefreiungsarmee“ mit weit über 100. 000 Bewaffneten einheitlichen militärischen Vorgaben und organisierten auf Dorfebene sogar soziale Projekte. Für die USA bot die SEATO ( „ South East Asia Treaty Organization“ ) die rechtliche Grundlage für einen bewaffneten Eingriff : Dieser Südostasienpakt wurde als Verteidigungsbündnis unmittelbar nach der Niederlage Frankreichs in Vietnam geschlossen ( 1977 aufgelöst ) und sollte im Rahmen der US-Containment-Politik ( siehe Kap. 2.A ) der Ausdehnung des Kommunismus entgegentreten. Gründungsmitglieder waren : USA , Frankreich , Großbritannien , Australien , Neuseeland , Pakistan , Thailand und die Philippinen. Die Staaten Südvietnam , Laos und Kambodscha wurden im Sicherheitsvertrag explizit als SEATO-Interessensgebiete genannt. Amerikas strategische Überlegung für die Teilnahme am Vietnamkrieg gründete sich auf das „Gegenküsten-Konzept“: So sollten die USA im Kriegsfalle nicht auf eigenem Territorium , sondern an den Küsten der gegenüberliegenden Kontinente verteidigt werden.105 Die US-Soldaten ( damals galt noch die allgemeine Wehrpflicht ) erhielten zur Begründung ihres Einsatzes die Formel : „San Francisco wird am Mekong verteidigt.“ Nicht zuletzt waren die amerikanischen Strategen von der Domino-Theorie überzeugt : Diese einst anlässlich des japanischen Einmarsches in die Mandschurei ( 1931 ) und dann wieder im Zuge des siegreichen Vordringens der Truppen Mao Zedongs ( ab 1946 ) geprägte Theorie wurde 1954 im Hinblick auf Vietnam erneut aufgegriffen und besagte , dass die kommunistische Machtübernahme in Südvietnam nicht nur Laos und Kambodscha , sondern auch Thailand und Burma mitreißen könnte. So wie fallende Dominosteine würde der Fall eines Staates auch die benachbarten Staaten zu Fall bringen und der unaufhörlichen Verbreitung des Kommunismus Vorschub leisten. Diesbezüglich meinte US-Präsident Eisenhower :
105 Friedrich W. Korkisch : Globale Strategie : Die Geopolitik der USA. Von der Western Reserve über den Panama-Kanal zur Gegenküste , NATO , Combatant Commands und Energiepolitik. Teil 1. In : ÖMZ 2 , 2010 , S. 151–167.
F ) INDOCHINA „Strategisch gesehen würde die Eroberung Südvietnams durch die Kommunisten deren Gewalt mehrere hundert Meilen in eine bisher freie Region bringen. [ … ] Sie kennen eine Reihe von Domino-Aufstellungen : Sie stoßen den ersten um , und alles , was passiert , ist die Gewissheit , dass alle sehr rasch umkippen werden.“
Dazu auch Eisenhowers Nachfolger John F. Kennedy anno 1961 : „Die ‚Domino-Theorie’ ? Ich glaube , ich glaube an sie. Ich denke , dass der Entscheidungskampf nahe genug ist. [ … ] Sobald Südvietnam gefallen wäre , würde es ihnen [ den Chinesen ] eine verbesserte geografische Position für einen Guerilla-Sturmangriff auf Malaya geben , aber es würde auch den Eindruck erwecken , dass die Zukunft in Südostasien China und den Kommunisten gehört. Daran glaube ich.“106
Das Seegefecht im Golf von Tongking am 4. August 1964 gab den Anlass für die Entfesselung des Vietnamkrieges : Nordvietnamesische Schnellboote griffen angeblich die beiden US-Zerstörer Maddox und Turner Joy an und wurden von diesen versenkt. Bis heute ist nicht geklärt , wer das Feuer eröffnet und ob sich der Vorfall inner- oder außerhalb des nordvietnamesischen Hoheitsgebietes ereignet hat. Jedenfalls erteilte der US-Kongress dem Präsidenten Lyndon B. Johnson in der drei Tage später verabschiedeten „Tongking-Resolution“ die Vollmacht zu „allen notwendigen Maßnahmen“ für die Kriegsführung. Unmittelbar darauf setzten Fliegerangriffe auf Nachschubbasen in Nordvietnam ein , zunächst noch in Form einer begrenzten Strafaktion. Als 1965 die Angriffe des Vietcong eskalierten , begannen die USA mit dem strategischen Bombardement ( Stichwort : „Rolling Thunder“ ). Im weiteren Kriegsverlauf – zwischen 1964 und 1973 – betrug das Abwurfgewicht der US-Bomben über sechs Millionen Tonnen – mehr als doppelt so viel wie während des Zweiten Weltkrieges auf Deutschland und Japan zusammen ; damit zerstörte die amerikanische Luftwaffe 45 Prozent der nordvietnamesischen Städte ( Hanoi blieb aber weitgehend verschont ), 75 Prozent der Industrie und 25 Prozent der Reisfelder ; trotzdem gelang es der US-Air-Force nicht , den Gegner zur Aufgabe seiner Eroberungspläne zu bewegen. Zwar wurde die US-Luftwaffenkapazität voll ausgeschöpft , allerdings verzichteten die USA auf den Einsatz von Atomwaffen aus Angst vor einem Weltkrieg ; desgleichen planten sie auch keine Invasion in Nordvietnam , weil diese die bewaffnete Konfrontation mit China zur sicheren Folge gehabt hätte. Eine Invasion wäre auch kaum zu gewinnen gewesen , da General Vo Nguyen Giap nahezu jedes Dorf mit ober- und unterirdischen Befestigungen ausgestattet hatte. Schließlich wollten die USA nur einen begrenzten Krieg führen , nicht ahnend , dass Nordvietnam dazu entschlossen war , einen totalen Krieg zu führen. 106 Beide Zitate nach ebenda , S. 165.
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Als offenkundig wurde , dass der „Rolling Thunder“ den Kampfeswillen des Feindes nicht beeinträchtigte , fiel in Washington die Entscheidung , auch amerikanische Infanterie einzusetzen. Damit begann die Amerikanisierung des Krieges. Zunächst wurde die Truppenstärke auf 82. 000 Mann gebracht , am 28. Juni 1965 begann die erste „Search-and-Destroy“-Operation ( „aufsuchen und vernichten“ ) amerikanischer Bodentruppen , die bis Ende des Jahres auf über 200. 000 Mann anwuchsen. Oberbefehlshaber der US-Truppen war General William Childs Westmoreland ( 1964–1968 ). Ihm führte US-Verteidigungsminister Robert Strange McNamara ( 1961–1968 ) von Jahr zu Jahr mehr Soldaten zu : 1966 standen bereits 245. 000 Mann in Vietnam , 1967 dienten daselbst 463. 000 Wehrpflichtige ihren einjährigen Kriegseinsatz ab , 1968 schließlich 525. 000. Dann aber trat der einst vehemente Befürworter des US-Engagements , von schweren Zweifeln über sein erfolgreiches Ende geplagt , zurück.107 Denn die Methode des „Search and Destroy“ erwies sich letztlich als Fehlschlag : Fast immer hatte der Vietcong Ort und Zeit der Kämpfe bestimmt und diese bewusst so angelegt , dass es zahlreiche Zivilopfer gab , um den Hass der einheimischen Bevölkerung gegen die USA zu schüren und propagandistisch auszuschlachten. ( Vielleicht hätte die Methode „Clear and Hold“ [ säubern und sauber halten ] eher zum Ziel geführt , weil sie die südvietnamesischen Selbstverteidigungskräfte gestärkt , zivile Opfer vermindert und dem Vietcong die Basis geraubt hätte. )108 Trotz hoher Eigenverluste schienen die personellen Ressourcen Nordvietnams unerschöpflich zu sein , während für die USA jeder gefallene Soldat die Stimmung im eigenen Land gegen den Krieg aufheizte : Die monatlichen Verlustziffern beliefen sich 1966 auf 477 Tote , 1967 bereits auf 861 , und das Fernsehen lieferte unzensierte Bilder in die amerikanischen Haushalte. Washingtons großer Fehler war es , sich auf einen Krieg eingelassen zu haben , der ohne formelle Kriegserklärung und ohne Beschluss des Kongresses vor der eigenen Bevölkerung nicht legitimiert war und demnach auch nicht die Unterstützung der Öffentlichkeit gewann , vielmehr einer breiten , sich stetig vergrößerten Protestbewegung Vorschub leistete. Nordvietnams General Giap hatte diese inneramerikanischen Proteste seit Langem einkalkuliert. Noch vor 1964 hatte er seine Strategie formuliert : „Der Feind wird langsam aus der Offensive in die Defensive gedrängt und gerät dabei in ein Dilemma. Er muss sich auf einen langen Kampf einlassen , aber er verfügt nicht über die psychologischen und politischen Mittel , einen so langen Kampf durchzustehen.“109
107 Robert S. McNamara : Das Trauma einer Weltmacht. Hamburg 1995. 108 Mario Duić : Vietnam-Krieg , a. a. O. , S. 224 ff. 109 Aus : Weekend-Kurier , 22. August 1964 , S. 18.
F ) INDOCHINA
Im Jahr 1966 trat der Vietnamkrieg in eine neue Phase , als die US Air Force ( letztlich erfolglose ) Luftangriffe auf den ( oben erwähnten ) „Ho-Chi-Minh-Pfad“ begann , um die Nachschubwege des Vietcong zu unterbrechen. Damit wurden die beiden Nachbarländer Laos und Kambodscha in den Vietnamkrieg hineingezogen : Denn das Bombardement verursachte unvermeidbare Kollateralschäden an der Zivilbevölkerung und untergrub dadurch das Vertrauen zu den eigenen Regierungen , die sich amerikafreundlich gaben. Kommunistische Guerillatruppen , der Pathet-Lao in Laos und die Roten Khmer in Kambodscha , gewannen die Sympathie breiter Massen und erhielten einen starken Zustrom. Die laotische Regierung sah angesichts der Rivalität dreier Prinzen – der eine Kommunist , der zweite Kapitalist , der dritte Neutralist – dem Vordringen der Pathet-Lao mehr oder weniger tatenlos zu. Kambodschas Staatschef ( 1960–1970 ), Ex-König Prinz Sihanouk , hatte schon 1964 einen politischen Schwenk vollzogen , indem er die US-Wirtschaftshilfe aufkündigte und mit Peking Freundschaft schloss. Seine Zukunftsängste , 1964 geäußert , sollten sich teilweise bewahrheiten : „Der Kommunismus in Asien ist unabwendbar. Ich hoffe nur , dass uns die Chinesen nicht von der Landkarte auslöschen. An dem Tag , an dem Vietnam unter dem Kommunismus vereinigt ist und auch Thailand in dieses Lager überwechselt , an diesem Tag werden wir in Todesgefahr sein.“110
1970 begann der Bürgerkrieg in Kambodscha , als der beim Volk beliebte Sihanouk von General Lon Nol gestürzt wurde. Der Prinz flüchtete nach Peking und gründete dort gemeinsam mit den Roten Khmer eine Exilregierung. Lon Nol rief die Republik aus ( Staatspräsident 1972–1975 ), konnte aber den nun unaufhaltsamen Vormarsch der Roten Khmer nicht verhindern. Seine schwache Position vermochte er nur mithilfe von Truppen der USA und Südvietnams zu halten. Am 30. Januar 1968 begannen Vietcong und nordvietnamesische Truppen während des buddhistischen Têt-Festes ( Mond-Neujahrsfest ) ihre erste Großoffensive. Die Têt-Offensive überraschte Amerikaner und Südvietnamesen in gleicher Weise. Gleichzeitig mit dem militärischen Generalangriff unternahmen Vietcongs unzählige Attentate und selbstmörderische Angriffe , beispielsweise auf die US-Botschaft in Saigon ; Vietcong-Agenten wollten in den Dörfern die Bauern zum Aufstand gegen die Regierung veranlassen , hatten dabei aber keinen Erfolg. Die alte Kaiserstadt Hué wurde besetzt , Kommunisten veranstalteten ein Massaker an regierungstreuen Beamten ; auch ausländische Ärzte zählten zu den Opfern. Letztlich brach die Offensive , die General Giap gegen seinen Willen und nur auf Befehl des Politbüros angeordnet hatte , zusammen ; Nordvietnam erlitt eine verheerende Niederlage , zumal 110 Ebenda.
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alle bisher verdeckt operierenden Vietcongaktivisten in Südvietnam nun enttarnt waren und hingerichtet wurden. Nichtsdestoweniger konnten die Amerikaner ihren militärischen Sieg nicht nützen , weil er im eigenen Land zur moralischen Niederlage deklariert wurde : Studenten , Intellektuelle , Veteranen und Frauenverbände entfachten einen Sturm der Entrüstung gegen den „schmutzigen Sieg“. Insbesondere wurde der großflächige Einsatz des Entlaubungsmittels „Agent Orange“ kritisiert , weil er nicht nur ganze Ökosysteme vernichtete , sondern auch schwere gesundheitliche Schäden an den Menschen verursachte. Für weltweite Empörung sorgte das Massaker von My Lai , als im März 1968 amerikanische Soldaten 504 Alte , Frauen und Kinder ermordeten ; der zuständige Kommandant ( Leutnant William Calley ) wurde zu lebenslanger Haft verurteilt , aber schon nach drei Jahren begnadigt. Vor allem in Europa , namentlich in der BRD , verbreitete sich eine antiamerikanische Stimmung ; Linksintellektuelle erhoben Ho Chi Minh zur Symbolfigur des Kampfes gegen die USA und ihren „ungerechten Krieg“. Ende März 1968 gab US-Präsident Johnson dem innenpolitischen Druck nach , leitete Verhandlungen mit Hanoi ein und ließ ab 1. November die Bombenangriffe gegen Nordvietnam einstellen. Im Januar 1969 begannen die Pariser Friedensgespräche. Bis zu diesem Zeitpunkt waren über 30. 000 amerikanische Soldaten in Vietnam gefallen und 200. 000 verwundet worden , die Luftwaffe hatte seit Kriegsbeginn 2550 Flugzeuge , darunter 1. 300 Hubschrauber , verloren. Der amerikanische Sicherheitsberater ( ab 1969 ) und spätere Außenminister ( 1973–1975 ), Henry Alfred Kissinger , analysierte Anfang 1969 treffend das bisherige Scheitern des US-Einsatzes in Vietnam : „Wir kämpfen einen militärischen Krieg , unsere Gegner aber einen politischen. Wir erstreben ihre physische Erschöpfung , unsere Gegner aber unsere psychologische [ … ]. Die Guerilla gewinnt , solange sie nicht verliert ; die konventionelle Armee verliert , wenn sie nicht gewinnt.“111
Ein neuer US-Präsident , Richard Nixon , schlug 1969 einen Friedensplan für Vietnam vor und kündete einen stufenweisen Abzug der rund 543. 000 amerikanischen Soldaten an , obwohl etwa 90. 000 nordvietnamesische Soldaten und Vietcongs in Südvietnam operierten und sowohl amerikanischen als auch südvietnamesischen Einheiten erbitterte Kämpfe lieferten. Sein Ziel war die „Vietnamisierung des Vietnamkrieges“. Im selben Jahr starb Ho Chi Minh , sein Nachfolger Pham Van Dong ( 1976–1987 Ministerpräsident von ganz Vietnam ) setzte dessen Politik unverändert fort. Ab Ende 1969 wurden die US-Streitkräfte kontinuierlich verringert , zugleich erfolgte eine systematische Stärkung der südvietnamesischen Armee durch bessere Ausbildung und moderneres Material , um diese selbstverteidigungsfähig zu ma111 Mario Duić : Vietnam-Krieg , a. a. O. , S. 349 f.
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chen. Die innere Konsolidierung Südvietnams gelang freilich nicht , die Wirtschaft schrumpfte , Inflation , Schmuggel und Korruption lasteten schwer auf der Bevölkerung , 1970 ereigneten sich die heftigsten Buddhisten-Proteste seit 1966. Angesichts unverminderter Vietcong-Attacken nahm die US-Luftwaffe ihre Bombardements gegen Ziele in Süd- und Nordvietnam wieder auf. Massive Militärhilfe durch die Sowjetunion ermöglichten es den nordvietnamesischen Truppen aber , am 31. März 1972 zur zweiten Großoffensive , der Osteroffensive , anzusetzen : Zwölf Divisionen mit 600 Panzern durchbrachen alle südvietnamesischen Sperrlinien. Dennoch gelang es der südvietnamesischen Armee trotz anfänglicher Auflösungserscheinungen , sich zu behaupten , obwohl die zu diesem Zeitpunkt nur mehr 70. 000 Mann zählenden US-Bodentruppen nicht in die Kämpfe eingriffen. Dafür intensivierte die auf 1. 000 Kampfflugzeuge verstärkte Luftwaffe ihre Bombardements nun auch wieder auf Nordvietnam , wo in einigen Provinzen drei Bomben pro Quadratmeter fielen. Auch verminten die Seestreitkräfte den Hafen von Tongking. Schließlich brach die nordvietnamesische Offensive unter dem Bombenhagel der Air Force zusammen. Durch derartige Maßnahmen hofften Präsident Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger , Hanoi zum Einlenken zu bewegen und somit das Kriegsende zu erzwingen. Tatsächlich hatte Nordvietnam ja seine zweite große militärische Niederlage ( nach 1968 ) erlitten , konnte jedoch abermals sein Scheitern in einen moralischen Sieg umfunktionieren , weil die US-Luftangriffe weltweite Proteste auslösten. Nach Einstellen des Bombardements stimmte Hanoi der Wiederaufnahme der Pariser Verhandlungen zu , welche am 27. Januar 1973 zu einem Waffenstillstandsabkommen führten. Im Namen Südvietnams unterzeichneten die Regierung in Saigon sowie die „Provisorische Revolutionsregierung“ ( Vietcong ) als gleichberechtigte Partner für die jeweils kontrollierten Gebiete. Die USA verfügten nun über einen triftigen Grund zu ihrem Truppenabzug und übersahen geflissentlich , dass Nordvietnam 130. 000 Soldaten im Dschungel Südvietnams in Stellung gebracht hatte. Ende April 1973 verließen die letzten US-Soldaten das Land , Henry Kissinger und Nordvietnams Delegationsleiter in Paris , Ex-Außenminister Le Duc Tho ( 1963–1965 ), erhielten den Friedensnobelpreis , den Letzterer freilich ablehnte. Denn der Krieg ging mit unverminderter Heftigkeit weiter. Präsident Nixon aber war durch die Watergate-Affäre handlungsunfähig geworden ( siehe Kap.10.E ) und konnte weder das Bombardement Nordvietnams wieder aufnehmen noch seinem südvietnamesischen Verbündeten die Wirtschafts- und Waffenhilfe in bisheriger Höhe zukommen lassen. In der südvietnamesischen Armee wurden allmählich Munition und Treibstoff knapp , bald mangelte es an Ersatzteilen aller Art. Der US-Abzug machte 160. 000 Südvietnamesen arbeitslos , zugleich verlor das Land etwa 400 Millionen US-Dollar , welche die US-Soldaten jährlich ausgegeben hatten. Die Inflation stieg auf über 300 Prozent , Korruption , Schmuggel und Drogenkriminalität zerrütteten zusehends die Gesellschaft , die sich immer weniger mit ihrem Staat und kaum noch mit ihrer Regierung solidarisierte.
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Zu Beginn des Jahres 1975 setzte Nordvietnam zur Schlussoffensive an. Die demoralisierte südvietnamesische Armee leistete nur noch hinhaltenden Widerstand , der aber bald zusammenbrach und in panikartige Flucht mündete. Ein Strom von hunderttausenden Soldaten und Zivilisten bewegte sich nach Saigon. Am 21. April trat Präsident Thieu zurück , am 30. April marschierten nordvietnamesische Truppen in Saigon ein. Die südvietnamesische Armee musste bedingungslos kapitulieren. Wer in den Augen Hanois als Kriegsverbrecher galt , wurde hingerichtet , südvietnamesische Beamte und Offiziere kamen für viele Jahre in Umerziehungslager. Eine gewaltige Flüchtlingswelle bewegte sich in Richtung Indonesien und Malaysia ; diese sogenannten „Boat People“ fanden in den moslemischen Staaten jedoch nur dann Asyl , wenn sie selbst Moslems waren. Wer im Lande blieb , musste sich eine rigorose ideologische Erneuerung , die Vernichtung der Ersparnisse ( Währungsreform ) und Unterdrückung der Religionen gefallen lassen. 1976 erfolgte die Wiedervereinigung mit Nordvietnam , Saigon wurde in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt. 1977 wurde Vietnam in die UNO , 1978 in den COMECON aufgenommen. Die Bilanz112 des Vietnamkrieges ergibt : 56. 000 gefallene US-Soldaten , 282. 000 gefallene südvietnamesische Soldaten , 430. 000 Ziviltote und 187. 000 Terroropfer in Südvietnam. Zu den amerikanischen Verlusten müssen auch die 60. 000 Suizide von Vietnam-Veteranen gezählt werden , die , demoralisiert , drogensüchtig und entwurzelt , keinen Anschluss an das zivile Leben fanden. Nordvietnam dürfte 65. 000 Bombenopfer und 440. 000 Gefallene zu beklagen haben. Die amerikanischen Flugzeugverluste betrugen bei diesem längsten und intensivsten Bombenkrieg der Geschichte 3744 Flächenflugzeuge und 4868 Hubschrauber. Die errechneten Gesamtkosten beliefen sich für die USA auf 135,5 Milliarden US-Dollar , das war mehr , als die US-Wirtschaft verkraften konnte : Der US-Dollar verlor seine Funktion als Weltleitwährung und wertete auf rund die Hälfte gegenüber der D-Mark ( und dem Schilling ) ab. Die „Domino-Theorie“ bewahrheitete sich noch 1975 , denn mit dem Fall Südvietnams wurden auch Laos und Kambodscha kommunistisch. In Laos errichteten die siegreichen Pathet Lao ein vietnamesisches Vasallenregime , das aber noch zwei Jahre benötigte , um den Widerstand der Bergstämme zu brechen. In Kambodscha verwirklichten die siegreichen Roten Khmer unter Führung von Pol Pot eine Art „Steinzeitkommunismus“, der das Land zum „Schlachthaus hinter dem Bambusvorhang“ werden ließ. Einst hatten Pol Pot und seinesgleichen in Paris die Lehren der utopischen Frühsozialisten studiert – beispielsweise jene von Etienne Cabet ( 1783–1856 ), der meinte , menschliches Glück stelle sich erst bei Aufhebung des Eigentums , der Familie und der Ehe ein , zudem seien die Städte als Träger der Zivilisation zu zerstören , damit die Menschen in völliger Gemeinschaft der Arbeit , der Güter und der Genüsse leben könnten. In grausamer Verwirklichung solcher 112 Mario Duić : Vietnam-Krieg , a. a. O. 5 , S. 468 ff.
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Vorstellungen befahlen die siegreichen Roten Khmer wenige Tage nach Eroberung von Phnom Penh ( 17. April 1975 ) die Evakuierung der über zwei Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt sowie aller anderen Städte. Die gesamte Bevölkerung wurde in Zwangs- und Konzentrationslagern zum kollektiven Reisanbau verurteilt. Durch Hunger , Krankheit , vor allem aber durch Massenhinrichtungen verloren etwa 1,7 Millionen Menschen ( ein Viertel der Gesamtbevölkerung ) ihr Leben.113 Zunächst amtierte der aus dem Pekinger Exil zurückgekehrte Prinz Sihanouk als Staatschef des nunmehr „Volksrepublik Kampuchea“ genannte Staates , 1976 musste er sein Amt an Khieu Samphan übergeben , als Ministerpräsident fungierte Pol Pot. Da sich der Terror auch gegen die vietnamesische Minderheit richtete und an die 600. 000 Vietnamesen in die Flucht trieb , unterstützte Vietnam eine Oppositionsbewegung innerhalb der kommunistischen Führungsschicht unter Heng Samrin. Im Dezember 1978 rückten 20 vietnamesische Divisionen , unterstützt von Exiltruppen , in Kambodscha ein und vertrieben am 7. Januar 1979 das Regime Pol Pots aus Phnom Penh. Die Roten Khmer zogen sich in unwegsames Gelände zurück und zwangen nunmehr die vietnamesischen Soldaten zu einem Rollentausch : Jene , die einst gegen die US-Besatzer einen blutigen Guerillakrieg geführt hatten , mussten nun selbst als Besatzungsmacht gegen die Roten-Khmer-Guerillas kämpfen. Unter dem neuen Regierungschef von Hanois Gnaden , Heng Samrin ( 1981–1991 Staatsoberhaupt ), endeten zwar Terror und Zwangsarbeit , für die Not leidende Bevölkerung gab es aber kaum Hilfe , zumal die Infrastruktur des verwüsteten Landes völlig zusammengebrochen war. Anhaltende Kämpfe führten zu einem Flüchtlingsstrom nach Thailand , wo an der Grenze große Lager errichtet wurden. Heng Samrin genoss zwar die Unterstützung Vietnams und der Sowjetunion , wurde aber international nicht anerkannt. Insbesondere hielt die Volksrepublik China treu zu ihrem Schützling Pol Pot und unternahm vom 17. Februar bis 5. März 1979 eine Strafexpedition gegen Vietnam :114 600. 000 chinesische Soldaten drangen bis auf eine Tiefe von 35 Kilometern in vietnamesisches Gebiet vor , konnten aber von den kriegserfahrenen Vietnamesen aufgehalten werden. Nach „Erfüllung ihres Auftrages“ – der Zerstörung der vietnamesischen Grenzprovinz – zogen sie vier Wochen später wieder ab. Auf beiden Seiten gab es etwa 45. 000 Tote. Der Kriegszustand dauerte jedoch an ; an der chinesisch-vietnamesischen Grenze kam es in den folgenden zehn Jahren immer wieder zu Gefechten und Artillerieduellen mit jeweils etlichen hundert Todesopfern. Ein Krieg zwischen zwei kommunistischen Staaten – zunächst Vietnam und Kambodscha , dann Vietnam und China – wider113 Ben Kiernan : The Pol Pot Regime. Race , Power and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge. 1975–79. Chiang Mai 1999. 114 Horst Günter Tolmein : Fünf Jahre Krieg zwischen China und Vietnam. In : Truppendienst 4 , 1985 , S. 373–378.
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sprach an sich der marxistischen Ideologie. Nationale Ressentiments wiegen aber bisweilen schwerer als die reine kommunistische Lehre , zumal die Reihe der Konflikte zwischen China und Vietnam bis zu 2. 000 Jahre zurückreicht. Lediglich während des Indochinakrieges gab es angesichts des gemeinsamen Feindes USA massive Unterstützung seitens China : Peking bezifferte die bis 1978 geleistete Militärhilfe mit 20 Milliarden US-Dollar. In diesem Jahr endete die Hilfe , was Hanoi durch ein engeres Zusammengehen mit Moskau zu kompensieren versuchte. Mit der Vertreibung von 260. 000 chinesischstämmigen Vietnamesen lebte die alte chinesisch-vietnamesische Rivalität wieder auf , die Eroberung Kambodschas veranlasste Peking schließlich zur militärischen Intervention. Vietnam genoss zwar einen Achtungserfolg , musste aber seine Armee fortan im mobil gemachten Zustand belassen und seine Divisionen an der Grenze zu China sowie als Besatzungstruppen in Laos und Kambodscha bereithalten. An eine wirtschaftliche Erholung der ausgebluteten Volksrepublik war dabei nicht zu denken. Der chinesisch-vietnamesische Konflikt dauert bis in unsere Tage und kreist um strittige Hoheitsgebiete im Südchinesischen Meer , namentlich um die von beiden beanspruchten ( unbewohnten ) Paracel- und Spratly-Inseln , wo große Erdöl- und Erdgasvorkommen vermutet werden. Immer wieder kommt es dort zu bewaffneten Zwischenfällen. 1986 gab die kommunistische Führung Vietnams die Reformparole „doi moi“ ( „Erneuerung“ ) aus , um der Wirtschaftskrise Herr zu werden : Einige demokratische Freiheiten , eine Öffnung nach außen und Erleichterungen für ausländische Investitionen zeitigten allerdings erst 1989 erste Erfolge , als das bankrotte Vietnam seine Truppen aus Kambodscha abziehen musste , weil die Sowjetunion ihre Entwicklungshilfezahlungen eingestellt hatte. Seither vollzog sich – ähnlich wie in China – ein atemberaubendes Wirtschaftswachstum. Im Rahmen der kommunistischen Einparteiendiktatur zog ein ungezügelter Kapitalismus ins Land , der zwar an den Manchester-Liberalismus gemahnende Ausbeutungsmechanismen in Gang setzte , insgesamt aber das Nationalprodukt in die Höhe schnellen ließ. Westliche Firmen lassen nun in dem Billiglohnland Schuhe und Textilien produzieren , und die Regierung in Hanoi sorgt dafür , dass deren ungehinderte Exporte allmählich zur Steigerung des Wohlstandes beitragen. In Kambodscha versuchte die von Hanoi und der Sowjetunion unterstützte kommunistische Regierung unter Staatspräsident Heng Samrin und Regierungschef Hun Sen ( seit 1985 ) der nach wie vor aktiven , von China und den USA ( sic ! ) unterstützten Roten Khmer Herr zu werden. Während des Abzugs der vietnamesischen Truppen 1989 eskalierten die Kämpfe , gleichzeitig einigten sich Hun Sen und Ex-König Prinz Sihanouk , Führer der nichtkommunistischen Rebellenkoalition , zur Abhaltung allgemeiner Wahlen unter UN-Aufsicht. Die Roten Khmer lehnten das Abkommen ab. 1991 wurde Sihanouk als Präsident des neu gegründeten Obersten Nationalrates wieder Staatsoberhaupt , zugleich wurde das Mehrpartei-
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ensystem und der Aufbau einer privatwirtschaftlichen Marktordnung beschlossen. Vorübergehend übernahmen die Vereinten Nationen , gestützt auf 20. 000 UNOSoldaten , die Verwaltung des Landes , bis im März 1993 das kambodschanische Volk bei hoher Wahlbeteiligung eine verfassungsgebende Nationalversammlung wählte , welche dem Land die Verfassung einer parlamentarischen Monarchie gab. Der im Volk beliebte König Sihanouk amtierte bis zu seinem freiwilligen Rücktritt im Jahr 2004 als konstitutioneller Monarch ( er starb 2012 ). Ihm folgte sein Sohn Norodom Sihamoni. Der Widerstand der Roten Khmer wurde 1998 gebrochen , nachdem Pol Pot in seinem Versteck gestorben war. Aber erst 2007 begannen die ersten Prozesse gegen überlebende Funktionäre der Roten Khmer , die sich vor einem „international gestützten Sondertribunal“ der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten müssen. Prominentester Angeklagter ist Ex-Staatschef Khieu Samphan. Der bereits seit 28 Jahren regierende Premier Hun Sen blockierte 2011 die Ausdehnung des „größten Kriegsverbrechertribunals seit den Nürnberger Prozessen“ auf Khmer-Funktionäre der zweiten Ebene , gehörte er ihnen doch selbst bis zu seiner 1977 erfolgten Flucht an. Das Erbe der Roten Khmer , die überall im Land vergrabenen etwa fünf Millionen Landminen , wird noch in vielen Jahren seine Opfer , vor allem unter den Kindern , fordern. G ) „JUNGE TIGER“, VIELVÖLKERSTAATEN UND DIKTATUREN
Wie ehemalige Kolonien nach Erreichung der Unabhängigkeit und bürgerkriegsähnlichen Wirren den raschen Wandel vom Entwicklungsland zum Schwellen- und Industrieland bewältigen konnten , zeigen die sogenannten „Jungen Tiger“ Taiwan , Südkorea , Hongkong und Singapur vor. In ihrem Fahrwasser schlossen später auch Malaysia , Thailand und Indonesien auf , heute vollziehen die Philippinen den Sprung in die Moderne. Auch die politisch noch dem Kommunismus zugerechneten , wirtschaftlich aber längst sich der Marktwirtschaft geöffneten Staaten China und Vietnam beweisen mit ihrem rasanten Wirtschaftswachstum , dass sich in Ostund Südostasien ein neuer Schwerpunkt der Weltökonomie bildet. Während sich der seinerzeitige Aufschwung des Westens unter dem Vorzeichen der Aufklärung bewegte , sehen die Menschen in den asiatischen Tigerstaaten im Konfuzianismus die Quelle des Fortschritts. In der Erkenntnis , dass nicht alle Ideen , die der dekadent gewordene euro-amerikanische Westen brachte , positiv zu bewerten sind , wuchs die Überzeugung , dass der eigene wirtschaftliche Erfolg ein Produkt der asiatischen Kultur ist. Die Staatslehre des Konfuzius ( K’ung-fu-tzu , 551–479 v. Chr. ) postuliert Einzeltugenden wie Pietät , Loyalität , Rechtlichkeit , Zuverlässigkeit und Bescheidenheit ; übertragen auf den modernen Menschen bedeutet dies das Hintanstellen der Individual- hinter die Kollektivinteressen , zudem Ordnung , Disziplin , harte Arbeit , Enthaltsamkeit und Familienzusammenhalt. In den Augen der Ost- und
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Südostasiaten dominieren im euro-amerikanischen Westen unter dem Deckmantel der Menschenrechte die Individualinteressen und in ihrem Zusammenhang Faulheit , Missachtung der Autorität , minderwertige Bildung und Kriminalität. Diese Denkweise initiiert das neue asiatische Selbstbewusstsein und erlaubt den „Jungen Tigern“, frei von jeglichem ideologischen Ballast ihren Weg zum asiatischen Wirtschaftswunder zu beschreiten. Die britischen Kronkolonien Malaya und Singapur waren in den Jahren 1941 bis 1945 von japanischen Truppen besetzt und nach deren Abzug Schauplatz eines jahrelangen kommunistischen Guerillakrieges ( 1948–1960 ), den die Briten schließlich dank besserer Bewaffnung und des Einsatzes von 100. 000 Soldaten gewannen.115 Nicht zuletzt verloren die chinesischstämmigen Kommunisten den Rückhalt unter der Bevölkerung , weil die Briten die Forderungen nach Selbstverwaltung und Unabhängigkeit im Jahr 1957 erfüllten. 1963 schlossen sich Malaya , Singapur und die beiden auf der Insel Borneo gelegenen Provinzen Sarawak und Sabah – gegen den Widerstand Indonesiens – zur Föderation Malaysia zusammen. Zwei Jahre später trennte sich Singapur von der Föderation und wurde selbstständige Republik , während das nunmehr aus 13 Bundesstaaten – davon neun Sultanaten – bestehende Malaysia die Staatsform einer parlamentarischen Wahlmonarchie behielt. Gemäß Verfassung von 1957 haben die neun Sultane aus ihrer Mitte den König für eine fünfjährige Amtszeit zu wählen ( Wiederwahl ist möglich ). Das gegenwärtige Problem des Vielvölker- und Vielkonfessionenstaates liegt in den ethnischen Spannungen zwischen den islamischen Malaien , die mit 65 Prozent die Bevölkerungsmehrheit stellen , und den nichtmoslemischen Minderheiten , insbesondere den Chinesen und Indern. Auch kontrastieren die Bewohner der beinahe noch steinzeitlich anmutenden Urwaldsiedlungen ( z. B. vom Volk der Orang Asli ) scharf mit jenen der hochmodernen , auf Elektronikindustrie konzentrierten Hauptstadt Kuala Lumpur. Auch die ehemals niederländische Kolonie Indonesien verzeichnet ein starkes Wirtschaftswachstum , kann aber aufgrund innerer Wirren nicht mit Malaysia konkurrieren. In beiden Staaten dominiert der Islam , beide Staaten waren während des Zweiten Weltkrieges von japanischen Truppen besetzt , doch in der Nachkriegszeit gingen sie verschiedene Wege. 1945 proklamierte der Führer der Befreiungsbewegung , Sukarno , die Unabhängigkeit Indonesiens und übernahm selbst das Amt des Staatspräsidenten ( „auf Lebenszeit“ ). Er war der Erste , der den Konflikt zwischen einer Kolonialmacht und ihrer Kolonie vor die UNO gebracht hatte. 1949 anerkannten die Niederlande die Unabhängigkeit , hielten aber noch bis 1954 an der Personalunion mit Indonesien fest. Außenpolitisch verfolgte Sukarno eine Politik der Bündnislosigkeit und initiierte als Gastgeber der Konferenz von Bandung 1955 die Bewegung der Blockfreien Staaten ( siehe Kap. 2.D ). Innenpolitisch trachtete er da115 Wolfgang Etschmann : Guerillakrieg nach 1945. In : Truppendienst 1986 H. 1 , S. 25–29.
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nach , die Republik trotz der sezessionistischen Bestrebungen auf zahlreichen Inseln ( insbesondere auf Sumatra , Celebes und den Molukken ) mit militärischer Gewalt zusammenzuhalten , wobei er ab 1959 zunehmend auf diktatorische Methoden zurückgriff. Sein „indonesischer Sozialismus“, der sich ideologisch auf eine Kombination von Nationalismus , Kommunismus und islamischer Religion gründete , verschärfte die inneren Spannungen , namentlich zwischen Armee und Kommunisten. Nach einem kommunistischen Umsturzversuch 1965 entmachteten Militärs den Präsidenten und zerschlugen die Kommunistische Partei. Bei der sich nun über Jahre hinziehenden Verfolgung von Kommunisten und der des Kommunismus bezichtigten chinesischen Minderheit verloren 90. 000 Menschen ihr Leben. 1967 wurde Sukarno ( er starb 1970 ) von General Suharto abgesetzt , der selbst das Amt des Staatsund Regierungschefs übernahm. In seiner 32-jährigen Herrschaft führte Suharto das Land wie ein Familienunternehmen , das den gesamten Banken- und Industriesektor kontrollierte ; er und sein Clan besaßen 1. 247 Firmen und häuften ein Vermögen von 40 Milliarden US-Dollar an , das im Ausland angelegt wurde. Die Wirtschaftskatastrophe blieb nicht aus und führte 1998 zu seinem Sturz ( erst 2007 wurde er vor Gericht gestellt , im darauffolgenden Jahr starb er ). Der von endemischer Korruption geplagte viertgrößte Staat der Erde ( hinsichtlich der Einwohnerzahl ) stand in den letzten Jahren wiederholt im Brennpunkt des islamistischen Terrors. Die ehemalige US-Kolonie Philippinen erlangten als erster Staat nach dem Zweiten Weltkrieg bereits 1946 die Unabhängigkeit , wobei sich die USA wirtschaftspolitische Vorrechte sicherten und auch Militärstützpunkte im Land unterhielten ( bis 1991 ). Von 1965 bis 1986 sorgte Diktator Ferdinand Edralin Marcos für die US-amerikanischen Interessen , im Inneren konnte er der sich verstärkenden Aktivitäten maoistischer und islamistischer Guerillagruppen nicht Herr werden ( Kriegsrecht 1972–1980 ). Machtmissbrauch , Korruption , Wahlmanipulationen und letztlich der Mord an seinem innenpolitischen Widersacher Benigno Aquino führten 1986 zu seinem Sturz ( er starb 1989 ). Aquinos Witwe Corazon Cojuangco Aquino folgte ihm im Präsidentenamt ( bis 1992 ). Ihre Versöhnungsversuche mit den Rebellen blieben ebenso erfolglos wie jene ihrer Nach-Nachfolgerin Gloria Macapagal Arroyo , die sich einst als „Retterin des Landes“ apostrophieren ließ. Zwischen Marcos Sturz und Arroyos Amtsantritt 2001 erschütterten nicht weniger als zwölf Putschversuche das politische System. Der Versuch , den islamistischen Rebellen im Jahr 2008 eine autonome Region in dem zu über 80 Prozent katholischen Land zu gewähren , scheiterte am Widerstand der Bevölkerungsmehrheit ; seither eskalieren die Kämpfe. Die „autistische“ Militärdiktatur in Burma , seit 1989 Myanmar , machte aus der ehemals britischen Kolonie Birma , die 1948 in die Unabhängigkeit entlassen worden war , einen Paria-Staat , dessen vorindustrielle Gesellschaft bewusst von der Globalisierung abgekoppelt wurde. Schon die missglückten Wirtschaftsexperimente
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des ersten Ministerpräsidenten , U Nu ( ab 1947 , mit Unterbrechungen bis 1962 ), der einen „buddhistischen Sozialismus“ versucht hatte , blockierte jegliche Entwicklung. 1962 gewann General Ne Win durch einen Staatsstreich die Macht ( Staatspräsident bis 1981 ), etablierte eine Militärdiktatur und schottete das Land von der Außenwelt ab ; die wenigen Touristen , welche hereingelassen wurden , fanden sich in einem „buddhistischen Disneyland“ wieder , bar jeglicher Industrie , aber reich an Tempeln und Pagoden. Ne Win ging mit großer Härte gegen ethnische Minderheiten vor116 und ignorierte das Panglong-Abkommen von 1947 , bei dem sich alle ethnischen Gruppierungen zum gemeinsamen Staat Burma bekannt hatten. Der Kampf gegen die ( christlichen ) Karen und die Shan-Ethnie dauerte bis 2012 an , jener gegen die moslemischen Rohingya , denen das Bürgerrecht verweigert wird , bis in die Gegenwart. Eine Verfassungsänderung gab der Regierung 1973 zwar ein ziviles Aussehen , das Militär behielt aber de facto die Macht. Nachdem der von Ne Win fortgesetzte Staatssozialismus ( Verbot des privaten Handels usw. ) zum wirtschaftlichen Zusammenbruch geführt hatte , kam es 1988 zu Hungerrevolten , deren gewaltsame Niederschlagung 3. 000 Menschenleben forderte. Ne Win musste zurücktreten ( er starb 2002 ). Anhaltender Widerstand veranlasste die Militärjunta 1990 endlich zur Ausschreibung der ersten allgemeinen Wahlen seit 30 Jahren. Dabei siegte die Oppositionspartei „Nationalliga für Demokratie“ ( NLD ) unter Führung von Frau Aung Suu Kyi mit 60 Prozent der Stimmen. Dennoch war das Militär nicht bereit , seine Macht abzugeben , ließ Anhänger der Opposition verhaften und löste alle Demonstrationen gewaltsam auf. Auf einen Protest der Mönche , die sich weigerten , von Soldaten Reisspenden entgegenzunehmen , was einer Exkommunikation gleichkam , wurden über 150 Klöster geschlossen. Aung Suu Kyi , 1991 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet , verbrachte bis zum Jahr 2010 die meiste Zeit unter Hausarrest. Im Jahr 2005 verlegte die Junta , anscheinend von paranoider Furcht vor gewalttätigen Protesten geleitet , den Regierungssitz in das 400 Kilometer von Rangun entfernte und völlig abgelegene Naypydaw ( Nay Pyi Taw ). Die offizielle Begründung lautete , dass die zentrale Lage der neuen Hauptstadt die Entwicklung des Landes fördern würde. 2007 entzündete sich aus Demonstrationen gegen die Preiserhöhung von Benzin ein Volksaufstand , an dessen Spitze sich die etwa 500. 000 Mönche stellten ; auch diesmal nahmen sie keine Almosen von Funktionären des Regimes an , nichtsdestoweniger schlug die Armee den Aufstand nieder. Etwa 3. 000 Mönche und Bürgerrechtler wurden verhaftet. Das international geächtete Regime trotzte den Wirtschaftssanktionen und knüpfte noch engere Bindungen mit China und seit 2009 auch mit Nordkorea , mit dem es militärtechnisch zusammenarbeitet ; ob Myanmar dabei den Erwerb von A-Bomben ins Auge fasst , 116 Vgl. die Autobiografie von Inge Sargent : Dämmerung über Birma. Mein Leben als Shan-Prinzessin. Zürich 2006.
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ist vorerst ungewiss. Mit dem Amtsantritt von Präsident Thein Sein 2011 scheint für Burma eine neue Ära anzubrechen : Gewerkschaften wurden wieder erlaubt , die Zensur gemildert und vor allem die NLD unter Aung Suu Kyi wieder zugelassen. Neuwahlen im April 2012 brachte Aung Suu Kyi endlich als Abgeordnete ins Parlament. Aber die Menschenrechtslage ist nach wie vor schlecht – immer noch werden zwischen 700 und 1. 500 politische Häftlinge gefangen gehalten , auch begehen Armeeeinheiten im Kampf gegen die ethnische Minderheit im Kachin-Staat schwere Kriegsverbrechen.
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5. SÜDASIEN A ) INDIEN – DER ZWEITE ERWACHENDE RIESE
Seit dem Jahr 1818 dominierte Großbritannien den südasiatischen Subkontinent , 1858 wurde Indien zum britischen Kaiserreich erhoben , dessen Gouverneur den Titel eines Vizekönigs erhielt. Während des Ersten Weltkrieges kämpften indische Soldaten in der Erwartung baldiger politischer Gleichberechtigung auf Europas Schlachtfeldern und erlitten hohe Verluste. Doch nach Kriegsende waren die Briten nicht bereit , Indien die Souveränität zu gewähren. Die gewaltsame Auflösung einer Protestversammlung durch britisches Militär gab Mohandas Karamchand Gandhi , der den Ehrentitel Mahatma ( = Große Seele ) trug , 1920 den Anlass zur ersten Kampagne des „zivilen Ungehorsams“, um die britische Regierung zu Zugeständnissen zu bewegen. Damit setzte er eine Massenbewegung in Gang , der die Briten nicht mehr Herr werden konnten. Träger des gewaltlosen Widerstandes gegen „ungerechte“ britische Gesetze wurde der „Indische Nationalkongress“ ( INC ), eine Partei , die alle sozialen Schichten ansprach und anlässlich der Wahlen zu den Provinzparlamenten 1936/37 die Mehrheit in sieben Provinzen erlangte. Das Versprechen Londons , nach Kriegsende die Unabhängigkeit zu gewähren , wenn Indien dafür in den Krieg einträte , lehnten Gandhi und der INC ab – sie forderten die Briten auf , Indien sofort zu verlassen. Am 8. August 1942 hielt Gandhi folgende Rede vor dem All India Congress Committee in Bombay : „Ich glaube , in der Geschichte der Welt hat es bisher kein demokratischeres Ringen um Freiheit gegeben als unseren Kampf. Im Gefängnis las ich Carlyles Buch über die Französische Revolution und Pandit Jawaharlal [ Nehru ] hat mir einiges über die russische Revolution erzählt. Aber es ist meine feste Überzeugung , dass jene Revolutionen , die mit Gewalt erkämpft wurden , gescheitert sind , ihre demokratischen Ideale zu verwirklichen. In einer Demokratie , wie ich sie mir vorstelle , einer Demokratie gegründet auf Gewaltlosigkeit , wird es Gleichheit und Freiheit für alle geben. Jeder wird sein eigener Herr sein. Ich lade euch hiermit ein , gemeinsam mit mir diesen Kampf zu führen. Wenn ihr das erkannt habt , werdet ihr die Differenzen zwischen Hindus und Muslimen vergessen und euch selbst nur noch als Inder betrachten , im gemeinsamen Kampf für die Unabhängigkeit. Dann stellt sich die Frage nach eurer Einstellung gegenüber den Briten. Ich musste feststellen , dass das indische Volk den Briten mit Hass begegnet. Die Leute sagen , sie seien abgestoßen von deren Benehmen. Das Volk unterscheidet nicht zwischen dem britischen Imperialismus und dem britischen Volk. [ … ] Wir müssen uns von dieser Haltung befreien. Wir bekämpfen nicht das britische Volk , wir bekämpfen ihren Imperialismus. Wir haben nicht im Zorn die Forderung nach einem Rückzug der Briten erhoben. Es ist
A ) INDIEN – DER ZWEITE ERWACHENDE RIESE die Voraussetzung dafür , Indien in die Lage zu versetzen , seine wahre Aufgabe in dieser kritischen Situation wahrnehmen zu können. [ … ]“117
Südasien und Flüchtlingsbewegungen 1947
117 Aus : Gerhard Jelinek : Reden , die die Welt veränderten. Salzburg 2009 , S. 117 f.
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5. SÜDASIEN
Gandhis Aufruf „Verlasst Indien !“ entfachte eine flächendeckende Streik- und Protestwelle , auf welche die Briten mit harten Repressionsmaßnahmen antworteten. Nichtsdestoweniger zogen zahlreiche indische Truppenverbände für Großbritannien in den Krieg , was zu einer Verschuldung Englands bei seiner Kolonie in der Höhe von 1,3 Milliarden Pfund führte. Nach Kriegsende war Englands Status als Kolonialmacht in Indien unhaltbar geworden , daher entließ London Südasien am 15. August 1947 in die Unabhängigkeit. Die Loslösung Pakistans war ein unvermeidbarer Nebeneffekt , den Indiens letzter Vizekönig , Lord Louis Mountbatten ( Earl of Burma ), sogar gefördert hatte : Die Teilung des Subkontinents in einen überwiegend hinduistischen und in einen moslemischen Staat sollte den Bürgerkrieg verhindern. Aber trotz der geplanten Sezession kam es zu blutigen Grenzstreitigkeiten , Vertreibungen und Pogromen : Anlässlich der Umsiedlung von 8,4 Millionen Menschen gab es eine Million Tote. Mahatma Gandhi konnte zwar in Kalkutta durch eine Fastenaktion die lokalen blutigen Ausschreitungen beenden , wurde aber selbst von einem fanatischen Hindu ermordet ( 1948 ). Jawaharlal Nehru entstammte einer Brahmanenfamilie und trug den Ehrentitel „Pandit“ ( Gelehrter ). Als Mitkämpfer Gandhis nahezu von der ersten Stunde an und führende Persönlichkeit des INC wurde er bereits 1946 vom Vizekönig mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt , von 1948 bis 1964 amtierte er als Ministerpräsident Indiens. Seine von europäischen Ideen beeinflusste Politik sollte Indien zu einem demokratischen , säkularen und sozialistischen Staat machen , wobei er und seine Nachfolger im INC insofern scheiterten , als sie die indischen Traditionen mit den westlichen Werten nicht in Einklang zu bringen vermochten. Die insgesamt 566 indischen Fürsten ( Radschas und Maharadschas ) wurden gezwungen , auf ihre Souveränität zu verzichten und der Indischen Union beizutreten ; wer sich , wie der Nisam ( Ehrentitel des Maharadschas ) von Heyderabad , weigerte , wurde mit Waffengewalt vertrieben. Indien erhielt 1949 eine neue föderative Verfassung , 1956 wurden die innerstaatlichen Grenzen nach sprachlichen Kriterien neu definiert. Da sich das schon im ersten vorchristlichen Jahrtausend eingeführte Kastenwesen aus religiösen Gründen nicht beseitigen ließ , trachtete Nehru danach , zumindest in den Städten die gesellschaftliche Emanzipation der kastenlosen Parias ( Unberührbaren ) einzuleiten. Schon die Briten hatten zu diesem Zweck 1934 eine Quotenregelung für die Vergabe öffentlicher Stellen getroffen. Nehru erneuerte bzw. erweiterte das Quotensystem , sodass den Angehörigen jeder Kaste eine festgelegte Anzahl von Schul- , Studien- und Abgeordnetenplätzen zuerkannt wurde ( z. B. : Parias erhalten entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung 15 Prozent der Parlamentssitze ). Indiens Hauptproblem , die Ungleichheit der Gesellschaft , wurde damit aber nicht gelöst , vielmehr verursachte die Quotenregelung fortwährende Unruhen , weil Schüler mit besten Noten oft keine Collegeplätze erhielten , wenn sie einer zu hohen Kaste angehörten. 1990 kam es in nordindischen Städten zu einem regelrechten Krieg der
A ) INDIEN – DER ZWEITE ERWACHENDE RIESE
Kasten mit zahlreichen Todesopfern ; mehrere Studenten verbrannten sich selbst , während zugleich Unberührbare wie rechtloses Freiwild gejagt wurden. Nachhaltig und negativ wirkten sich Nehrus sozialistische Wirtschaftsexperimente aus : Die von ihm eingeführte „mixed economy“ sicherte dem Staat Schlüsselbetriebe auf dem Banken- , Stahl- und Rüstungssektor , die privaten Betriebe erhielten vom Staat Lizenzen für jene Produkte , die sie erzeugen durften ; damit sollte der Wettbewerb vermieden werden. Die Folgen einer solcherart durch Fünfjahrespläne gelenkten Wirtschaft lagen in der Entstehung riesiger , ineffizienter Staatsbetriebe , in einer gewaltig aufgeblähten Bürokratie und in einem korrupten Monopolsystem , welches einige Unternehmer zu Milliardären werden ließ , das Millionenheer der Arbeitslosen aber nicht verringerte. Außenpolitisch engagierte sich Nehru seit 1955 stark in der Bewegung der Blockfreien Staaten ( siehe Kap. 2D ) bei gleichzeitiger Freundschaft mit der Sowjetunion , was Indien die Feindschaft mit China und die Niederlage im indisch-chinesischen Krieg 1962 einbrachte ( Verlust einiger kaum besiedelter Landstriche in Ladakh / Kaschmir ). Um bei künftigen Konflikten besser bestehen zu können , ließ Nehru ein Atomwaffenprogramm entwickeln und 1964 , in seinem Todesjahr , die erste A-Bombe zünden. Auch Nehrus Tochter und Nachfolgerin Indira Gandhi ( 1964–1984 ) verschrieb sich einer sozialistischen Wirtschaftspolitik , forcierte im Rahmen von Fünf-Jahresplänen die Schwerindustrie und ließ die Banken verstaatlichen. Der Armut konnte sie damit nicht beikommen , zumal eine explosionsartige Bevölkerungsvermehrung das Heer der Arbeitslosen stetig vergrößerte. Südasien blieb ein Unruheherd , der Dauerkonflikt mit dem benachbarten Pakistan forderte unnötige Opfer und hohe Kosten : Anlässlich der Staatengründung 1947 war das mehrheitlich von Moslems bewohnte Kaschmir Indien zugesprochen worden , die damals nach heftigen Kämpfen erzwungene Waffenstillstandslinie gilt bis zum heutigen Tag , wird aber von Pakistan nicht akzeptiert.118 Insgesamt haben die beiden verfeindeten Nachbarn zwei ihrer drei Kriege um Kaschmir geführt : Pakistan begann und verlor 1965 den ersten Krieg gegen das mit sowjetischer Hilfe hochgerüstete Indien. 1971 verhalf Indien durch einen Angriff auf Westpakistan der aufständischen Provinz Ostpakistan ( Bangladesh ) zum Sieg im Unabhängigkeitskampf ( siehe Kap.5.B ). Zwischen 1989 und 2005 führten die von Pakistan unterstützten Moslems in Kaschmir einen blutigen Guerillakrieg in Kaschmir , 1991/1992 gab es schwere Kämpfe zwischen den verfeindeten Nachbarn , und von 1999 bis 2003 drohte bereits die Gefahr eines Atomkrieges , als beide Armeen in mobil gemachtem Zustand einander gegenüber standen. 2003 schlossen die beiden Staaten einen brüchigen Waffenstillstand. Indira Gandhi erlebte diese letzten Eskalationen nicht mehr ; sie wurde 1984 Opfer innerer 118 Ulrich Stahnke : Der Kaschmirkonflikt zwischen Pakistan und Indien – auch ein Hindernis für die Befriedung Afghanistans. In : ÖMZ 4/2011 , S. 407–417.
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5. SÜDASIEN
Unruhen , als extremistische Sikhs mit blutigen Gewaltaktionen die Unabhängigkeit eines eigenen Staates „Khalistan“ ( Bundesland Punjab ) erzwingen wollten und Indira Gandhi die Revolte niederschlagen ließ. Aus Rache für die Erstürmung des Goldenen Tempels von Amritsar , des größten Sikh-Heiligtums , wurde Indira Gandhi in ihrer Residenz von zwei Sikh-Leibwächtern ermordet. Auch ihr Sohn und Nachfolger , Rajiv Gandhi ( 1984–1991 ), starb eines gewaltsamen Todes , weil er sich in dem Bürgerkrieg auf Sri Lanka ( 1982–2009 ), der sich zwischen der singhalesischen ( buddhistischen ) Mehrheit und der tamilischen ( hinduistischen ) Minderheit abspielte , engagiert hatte. Mit der Ermordung Rajiv Gandhis endete die viereinhalb Jahrzehnte währende Ära der Kongresspartei. Sie hatte Indien nahezu in den Bankrott getrieben. Die nunmehr einsetzende wirtschaftliche Wende vom Sozialismus zum Liberalismus bescherte Indien ein gigantisches Wirtschaftswachstum mit bisweilen sogar zweistelligen Zuwachsraten. Anfangs ging dies zu Lasten der Kleinbauern , die sich dem Weltmarkt ausgesetzt sahen und verschuldeten ; viele fanden im Selbstmord den einzigen Ausweg. 2008 bezahlte die Regierung die Schulden der Kleinbauern und initiierte groß angelegte Arbeitsbeschaffungsprogramme , um die Landflucht einzubremsen. China hatte mit seinen Reformen 1982 , also fast ein Jahrzehnt früher begonnen als Indien , ist demnach in seiner ökonomischen Entwicklung weiter fortgeschritten ( siehe Kap. 4.B ). Auch wirkt Indien auf den ersten Blick rückständiger ( erst 2009 Einführung der allgemeinen Schulpflicht ) und ist in seinem inneren Gefüge durch religiöse Eiferer bedroht. Indien genießt allerdings gegenüber China den Vorteil , dass seine Reformen demokratisch erfolgen. Anders als in China boomt Indiens Wirtschaft weniger durch die industrielle Produktion als durch den Dienstleistungssektor ( Informatik ). B ) PAKISTAN
Schon im Jahr 1930 tauchte erstmals die Vision eines selbstständigen indischen Moslemstaates auf , 1933 wurde für diesen der Name „Pakistan“ vorgeschlagen : „P“ stand für Punjab , „A“ für afghanische Provinz , „K“ für Kaschmir , „S“ für Sind und „TAN“ für Belutschistan. Als 1947 Indien die Unabhängigkeit erlangte , spaltete sich , wie oben erwähnt , Pakistan ab. Die beiden Territorien Pakistans , West- und Ostpakistan , lagen allerdings über 1. 600 Kilometer voneinander entfernt und waren ethnisch ganz unterschiedlich zusammengesetzt. Angesichts der Staatenteilung wurden 2,4 Millionen Hindus aus Pakistan vertrieben , sechs Millionen Moslems zogen nach Westpakistan , das waren zwei Drittel aller indischen Moslems ; ein Drittel der Moslems blieb in Indien , dessen hinduistische Mehrheitsbevölkerung damals noch religionstolerant eingestellt war. 1956 proklamierte Islamabad die „Islamische Republik Pakistan“, 1988 wurde das islamische Recht , die Scharia , eingeführt. Sie sollte dem Kampf gegen Indien dienen , richtete sich allerdings nach und nach gegen die eigene Regierung.
B ) PAKISTAN
Vom ersten Moment der Staatsgründung an bildete der Konflikt um Kaschmir und die damit zusammenhängende Feindschaft mit Indien die fixe außenpolitische Konstante Pakistans. Indiens Freundschaft mit der Sowjetunion trieb Pakistan den USA in die Arme ( 1959 US-Beistandsgarantie ). Beide Staaten lieferten einander einen ruinösen Rüstungswettlauf , wobei Indien seit 1964 und Pakistan seit 1998 auch über Atomwaffen verfügen. Die vermeintliche Bedrohung durch den Nachbarstaat verhalf der pakistanischen Armee zu unglaublichem Einfluss , trübte allerdings ihren Blick auf die tatsächlichen Gefahren , die seitens islamistischer Gruppen aus dem Grenzgebiet zu Afghanistan drohen. Überspitzt formuliert hält sich nicht der Staat Pakistan eine Armee , vielmehr hält sich die mit 600. 000 Mann fünftgrößte Armee der Welt einen Staat namens Pakistan. Die wirtschaftliche Macht der Armee gründet sich auf den Besitz von einem Drittel der Schwerindustrie und etwa 100 Fabriken ; dank seiner wirtschaftlichen Autarkie verfügt das Militär auch über die Möglichkeit , seinen Geheimdienst ISI ( „Inter-Services-Intelligence“ ) in das politische Gefüge eingreifen zu lassen ( z. B. durch Wahlfälschung oderDiffamierung politischer Gegner ).119 Die Innenpolitik Pakistans war einerseits durch ethnische Gegensätze der weit auseinanderliegenden Provinzen , andererseits durch die wachsende Islamisierung gekennzeichnet. In diesem Spannungsfeld , das durch Stammesfehden , Unterentwicklung und weitverbreitete Armut noch akzentuiert wird , können sich demokratische bzw. zivile Regierungen immer nur kurze Zeit halten. Blutige Demonstrationen , Streiks und Kriegsrecht bzw. Ausnahmezustand prägen den Alltag.120 Anlässlich der Wahlen für eine verfassungsgebende Nationalversammlung proklamierten ostpakistanische Politiker , allen voran Scheich Mujibur Rahman , 1971 die Unabhängigkeit von Ostpakistan ( Bangladesh ). Die von westpakistanischen Truppen heftig bekämpfte Sezession gelang letztlich durch militärische Hilfe aus Indien. ( Mujibr Rahman , erster Regierungschef und Staatspräsident von Bangladesh , wurde 1975 im Verlauf eines Militärputsches ermordet. ) Das ehemalige Westpakistan hieß fortan Pakistan. Ministerpräsident Zulfikar Ali Bhutto ( 1971–1977 ) versuchte nach Jahren der Militärherrschaft ein ziviles Regierungssystem aufzubauen , ließ 1971 die ersten demokratischen Wahlen durchführen , regierte aber zunehmend autoritär und wurde nach Unruhen wegen Wahlfälschungen 1977 gestürzt. General Zia ul-Hak übernahm als Militärdiktator die Macht ( 1977–1988 ), verhängte wieder das Kriegsrecht und ließ 1979 Zulfikar Ali Bhutto hinrichten. Anlässlich des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan 1979 ( siehe Kap. 5.C ) veranlasste er den Armeegeheimdienst ISI , mit amerikanischer Hilfe die islamischen Untergrundgruppen im Kampf gegen die UdSSR zu unterstützen. 1988 starb er bei einem durch ein Bombenatten119 Hein G. Kiessling : ISI und R & AW – die Geheimdienste Pakistans und Indiens. Konkurrierende Atommächte , ihre Politik und der internationale Terrorismus. Berlin 2011. 120 Kamal Siddiqi : Conflict , Crisis and War in Pakistan. New York 1972.
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5. SÜDASIEN
tat verursachten Flugzeugabsturz. Im folgenden Jahrzehnt erlebte Pakistan demokratische Regierungen , zweimal amtierte Zulfikar Alis Tochter , Benazir Bhutto , als Ministerpräsidentin ( 1988–1990 und 1993–1996 ). Sie war die erste Frau , die einem islamischen Land vorstand , musste aber aufgrund angeblichen Amtsmissbrauchs das Land verlassen. ( Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil 2007 wurde sie während einer Wahlveranstaltung – wohl mit Wissen des Geheimdienstes – ermordet. ) Die versuchte Einmischung in Afghanistan ging auch unter dem zivilen Regime weiter , zumal der Militärgeheimdienst ISI seine eigene Politik verfolgte , ohne sich um zivile Vorgaben zu kümmern : Da es ihm nicht gelungen war , in dem durch Bürgerkrieg zerrütteten Nachbarland eine pakistanfreundliche Mudschaheddin-Regierung zu installieren , züchtete er aus jungen Männern in Flüchtlingslagern eine schlagkräftige Bewegung heran ( „Taliban“ ), welche 1996 in Afghanistan die Macht übernahm. Von 1999 bis 2008 erlebte Pakistan seine dritte Militärdiktatur unter General Pervez Musharraf. Auch er verhängte den Ausnahmezustand , setzte unliebsame Richter ab , verordnete für Regimekritiker einen Hausarrest und versuchte , das Land mit eiserner Hand ruhig zu halten. Seit den Terroranschlägen vom 9. September 2001 auf das World Trade Center in New York ( siehe Kap. 10.E ) musste sich Musharraf offen für die USA erklären ; er reduzierte die finanzielle und militärische Hilfe für die Taliban , sodass er in den Augen radikaler Moslems als Verräter galt. Westliche Regierungen sahen in ihm hingegen ein notwendiges Übel im Kampf gegen islamistische Extremisten. Aber Pakistan spielte ein Doppelspiel : Offiziell verbot die Regierung die Taliban , unterstützte aber zugleich Gruppen dieser Bewegung , die unter anderem Namen weiter von Pakistan aus in Afghanistan operierten. Nur wendeten sich die radikalen Moslems allmählich auch gegen Pakistan als Staat , gegen seine Armee und seine Regierung. Die Spirale der Gewalt drehte sich immer schneller und erreichte im Sommer 2007 ihren vorläufigen Höhepunkt , als sogenannte Märtyrer die Rote Moschee in Islamabad besetzten und solcherart die Militärmacht offen herausforderten. 2008 sah sich Musharraf angesichts eskalierender Unruhen , des drohenden Staatsbankrotts und einer Anklage wegen Verfassungsbruchs gezwungen , zurückzutreten und einer Zivilregierung Platz zu machen. Die Unruhen dauern fort , immer öfter werden selbst die Militäranlagen Ziel von Attentätern , es droht die „Talibanisierung“ Pakistans – eines Staates mit Atomwaffen. Die Armeeführung sieht im benachbarten Indien immer noch ihren Hauptfeind und erkennt nicht die wahre Bedrohung Pakistans , und der Geheimdienst ISI betreibt seine eigene Politik : So konnte es geschehen , dass Osama bin Laden , der meistgesuchte Terrorist der Erde , jahrelang und unangefochten in Abbottabad , einem Städtchen nahe Islamabad , eine Nobelvilla bewohnen durfte , ohne dass dies bekannt geworden wäre ; ein US-Spezialkommando spürte den 54-jährigen Milliardärssohn aus Saudi-Arabien schließlich auf und tötete ihn Anfang Mai 2011.
C ) AFGHANISTAN C ) A FGHANISTAN
Dreimal versuchte Großbritannien im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert , Afghanistan dauerhaft in Besitz zu nehmen , scheiterte jedoch. Das unwegsame , wilde , in zahlreiche Stämme zersplitterte Land blieb unabhängig.121 Von 1933 bis 1973 regierte König Sahir Schah. Unter seiner Herrschaft erlebte Afghanistan seine glücklichsten , weil friedlichsten Jahre , 1964 gewährte der König eine Verfassung und leitete die Demokratisierung ein. 1973 putschte der ehemalige Ministerpräsident ( 1953–1963 ) und Vetter des Königs , Mohammed Daud Chan , mithilfe der Armee , vertrieb den König , rief die Republik aus und stellte sich selbst an die Spitze des Staates. Fünf Jahre später putschten die Kommunisten unter Nur Mohammed Taraki und versuchten , das Land in eine Volksdemokratie umzuwandeln. Damit begann der Bürgerkrieg , der mit wenigen Unterbrechungen bis zum heutigen Tag andauert. Daud und alle Minister wurden ermordet , der kommunistische Terror verursachte aber landesweiten Widerstand. Obwohl Taraki Tausende hinrichten ließ , konnte er keine Ruhe herstellen und starb ebenso wie seine kommunistischen Nachfolger eines gewaltsamen Todes. Als das KP-Regime 1979 zusammenzubrechen drohte , marschierte die sowjetische Armee mit 115. 000 Soldaten ein – und erlebte ein totales Fiasko ( siehe Kap. 2.E ): Es hagelte weltweite Proteste , die UNO-Generalversammlung forderte den sofortigen Abzug der Sowjets , die USA stoppten für zwei Jahre den Getreideexport in die UdSSR , und die westlichen Staaten boykottierten die olympischen Sommerspiele in Moskau. Militärisch blieben die Sowjets erfolglos , zahlreiche islamische „Glaubenskämpfer“ ( Mudjahedin ), die über Pakistan von den USA und sogar von China unterstützt wurden , bereiteten den Besatzern enorme Verluste und gewaltige Kosten. Die UdSSR erlebte in den neun Jahren ihres Afghanistan-Engagements „ihr Vietnam“ – und nebenbei den totalen Prestigeverlust in der Dritten Welt.122 Als die Sowjets 1988 Afghanistan wieder verließen , zog man Bilanz : eine Million Tote , fünf Millionen Flüchtlinge ( von 19 Millionen Einwohnern ), eine völlig ruinierte Wirtschaft , 75 Prozent der Kommunikationseinrichtungen und 50 Prozent der Schulen zerstört. Die Tragödie setzte sich fort in diesem ärmsten Land außerhalb Afrikas , das zwar die höchste Geburtenrate der Welt ( 6,1 Prozent ), aber auch die höchste Kindersterblichkeit ( 27,5 Prozent ), die höchste Analphabetenquote und die höchste Rate an Witwen und Waisenkindern aufwies. 1992 wurde der letzte kommunistische Staatspräsident Mohammed Najibollah ( seit 1987 ) gestürzt. Die im gemeinsamen 121 Wolfgang Etschmann : Afghanistan , Konfliktherd über Jahrhunderte. In : Truppendienst 6 , 1985 , S. 628–635. 122 Dieter Braun , Karlernst Ziem : Sowjetische Machtpolitik – islamische Selbstbestimmung. Baden-Baden 1988.
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Kampf gegen das KP-Regime verbündeten etwa dreißig Mudjahedin-Gruppen entzweiten sich aber alsbald und lieferten einanderblutige Auseinandersetzungen. Die beiden wichtigsten Gruppen waren die radikale „Partei des Islam“ des Paschtunen Gulbuddin Hekmatyar und die gemäßigte „Islamische Union“ des Tadschiken Ahmed Shah Massud. Als 1994 die Kämpfe eskalierten und das politische System angesichts von Massenmorden , Folter und Vergewaltigungen zusammenbrach , tauchten in der Provinz Kandahar die Taliban auf.123 Diese islamisch-fundamentalistische Miliz rekrutierte ihre Angehörigen , sogenannte „Koranstudenten“, aus dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Ihr unaufhaltsamer Vormarsch endete 1996 mit der Einnahme von Kabul und der Errichtung eines „islamischen Gottesstaates“: Ehemalige Politiker wie Najibollah wurden , sofern sie nicht flüchten konnten , gefoltert und gehenkt , Frauen durften fortan weder eine Schule besuchen noch einem Beruf nachgehen.124 An der Spitze der Taliban-Schreckensherrschaft regierte der Mullah Mohamad Omar Achund. Er baute keinerlei Verwaltung auf , sondern ließ Shuras ( das sind Versammlungen von Mullahs ) über Regionen und Städte herrschen. Öffentliche Kommunikationseinrichtungen wurden lahmgelegt. Im Laufe ihrer sechsjährigen Herrschaft gelang es den Taliban allerdings nie , das gesamte Staatsgebiet unter Kontrolle zu bringen , denn die usbekischen und tadschikischen Anhänger der „Nordallianz“ unter Massud ( 2001 bei einem Bombenanschlag getötet ) leisteten erfolgreich Widerstand. Weil sich die Taliban weigerten , den wegen der Bombenanschläge auf US-Botschaften in Kenia und Tansania gesuchten Terroristenführer Osama bin Laden auszuliefern , verhängten die USA 1999 Handelssanktionen ; UNO-Sanktionen folgten im Jahr darauf. Wie zur Antwort befahl Mullah Omar die Zerstörung der Buddhastatuen von Bamian aus dem 3. und 5. Jahrhundert , die weltweit höchsten menschlichen Statuen ( 38 und 55 Meter ). Nach sechs Jahren Taliban-Terror zählte man 2,2 Millionen Binnen- und 4,4 Millionen Außenflüchtlinge ( davon 2,4 Millionen im Iran , 2 Millionen in Pakistan ); ein Drittel der Bevölkerung hungerte. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 ( siehe Kap. 10.E ) veranlassten USPräsident George Bush jun. zur militärischen Intervention in Afghanistan , weil die Taliban den al-Qaida-Mitgliedern – unter ihnen auch dem Top-Terroristen Osama bin Laden – Unterschlupf gewährt hatten. Am 7. Oktober 2001 , unmittelbar nach Angriffsbeginn der USA , erläuterte Osama bin Laden in einer vom arabischen Sender Al-Jazeera ausgestrahlten Botschaft , welche Beweggründe den islamischen Terrorismus treiben :
123 Ahmed Rashid : Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad. München 2001. 124 Vgl. die autobiografische Darstellung von Latifa ( mit Chékéba Hachemi ): Das verbotene Gesicht. Mein Leben unter den Taliban. München 2001.
C ) AFGHANISTAN „Gott der Allmächtige hat Amerika in einem seiner lebenswichtigen Organe getroffen , ihre höchsten Gebäude wurden zerstört. [ … ] Amerika ist voller Horror vom Norden bis zum Süden und vom Osten bis zum Westen , und , Dank sei Gott , dass das , was Amerika jetzt zu spüren bekommt , nur ein Abklatsch dessen ist , was wir zu spüren bekommen. Unsere islamische Nation hat dasselbe seit mehr als 80 Jahren erlebt , Erniedrigung und Schande , ihre Söhne wurden ermordet und ihr Blut vergossen , ihre heiligen Orte geschändet. Gott hat eine Gruppe der moslemischen Avantgarde gesegnet , [ … ] Amerika zu zerstören. Gott segne sie und gebe ihnen einen Platz im Himmel , denn nur Er ist dazu befähigt und berechtigt. Als diese [ die Avantgarde ] sich erhob zur Verteidigung ihrer schwachen Kinder , ihrer Brüder und Schwestern in Palästina und anderen moslemischen Nationen , hat die ganze Welt aufgeschrien , die Ungläubigen gefolgt von den Heuchlern. Eine Million unschuldiger Kinder stirbt in diesem Moment , ohne jede Schuld werden sie im Irak ermordet [ gemeint sind vermutlich jene Zivilopfer , welche bei Durchsetzung der Flugverbotszonen durch britische und US-Luftstreitkräfte zu beklagen waren ]. Wir hören keine öffentliche Verurteilung dessen. [ … ] Dieser Tage wüten israelische Panzer in Palästina , in Ramallah , Rafah und Beit Jala und in vielen anderen Teilen des islamischen Landes [ gemeint sind Israels Reaktionen auf die Al-Aqsa-Intifada – siehe Kap. 6.B )] , und wir hören niemanden , der die Stimme erhebt und darauf reagiert. Aber als das Schwert nach mehr als 80 Jahren auf Amerika fiel , reckte die Heuchelei ihr Haupt empor und beklagte die Mörder , die mit dem Blut , der Ehre und den Heiligtümern der Moslems gespielt hatten. Das Geringste , was über diese Heuchler gesagt werden kann , ist , dass sie Abtrünnige sind , die dem falschen Pfad gefolgt sind. Sie stützen die Schlächter gegen das Opfer , den Unterdrücker gegen das unschuldige Kind. [ … ] Die Sache ist ganz klar. Nach diesem Ereignis muss jeder Moslem für seine Religion kämpfen [ … gegen ] die hohen Funktionäre der USA , angefangen mit dem Kopf der Ungläubigen , Bush und seine Leute[ … ]. Sie erzählen der Welt Lügen , dass sie gegen Terrorismus kämpfen. In einer Nation am fernen Ende der Welt , in Japan , wurden Hunderttausende getötet [ gemeint ist der A-Bombeneinsatz 1945 ] , Junge , Alte , und sie sagen , das ist kein Weltverbrechen [ … ]. Aber als ein wenig mehr als zehn Menschen in Nairobi und Daressalam getötet wurden , wurden Afghanistan und der Irak bombardiert , und die Heuchelei stand [ … ] hinter dem Symbol des modernen Heidentums , Amerika und seinen Alliierten. [ … ] Diese Ereignisse haben die Welt in zwei Lager geteilt , in das der Gläubigen und in das der Ungläubigen. [ … ] Jeder Moslem muss aufstehen und seine Religion verteidigen. [ … ] Ich schwöre beim mächtigen Gott , dass Amerika niemals Frieden erleben wird , bevor nicht der Friede in Palästina regiert und bevor alle ungläubigen Truppen vom Boden Mohammeds verschwunden sind. [ … ]“125 125 Aus : Die Presse , 9. Oktober 2001 , S. 6.
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5. SÜDASIEN
Etwa 28. 000 amerikanische und 20. 000 britische Soldaten fegten das TalibanRegime binnen sechs Wochen hinweg , allerdings gelang es dem Gros der TalibanMilizen ebenso wie der al-Qaida , nach Pakistan auszuweichen , sich dort zu reorganisieren und wieder in Afghanistan einzusickern. In Kabul rief inzwischen eine Übergangsregierung unter Hamid Karzai eine Loja Dschirga , eine Versammlung der Stammesführer , zusammen , den Vorsitz übernahm der aus dem Exil zurückgeholte Ex-König Sahir Schah ( 2007 gestorben ). Aber die Loja Dschirga brachte nur magere Ergebnisse , zumal die Stämme die Zentralregierung kaum anerkannten. Immerhin gelang eine Flüchtlings-Rückholaktion , der Wiederaufbau zeitigte aber keine echten Erfolge. Trotz des militärischen Rückhalts durch US- und NATOTruppen ( „ISAF“ ) war und ist die Regierung Karzai ( 2009 mithilfe massiver Wahlfälschungen wiedergewählt ) nicht in der Lage , das Land zu kontrollieren. Auch die 2010 bereits auf 130. 000 Mann aufgestockte ISAF ( davon ca. 70. 000 Amerikaner ) konnte nicht verhindern , dass die Taliban bereits in drei Vierteln des Staatsterritoriums präsent sind. Deutlich wurde zweierlei. Erstens : Die NATO hatte ihre Kapazitätsgrenze erreicht , sie stand am Ende ihrer militärischen Handlungsfähigkeit außerhalb ihres Bündnisgebietes ; auch die USA , die den Hauptanteil der NATOTruppen stellten , waren angesichts des Doppelengagements in Afghanistan und Irak ( siehe Kap. 6.A ) an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Zweitens : Ohne ISAF würde das als „failed state“ ( gescheiterter Staat ) qualifizierte Afghanistan sofort zusammenbrechen. Die von US-Präsident Barack Obama ( seit 2009 ) 2010 formulierte Exit-Strategie sieht vor , dass die kontinuierlich verringerten USStreitkräfte eine schlagkräftige afghanische Armee ausbilden , die nach und nach das gesamte Staatsgebiet kontrollieren kann , sodass die US-Soldaten 2014 abziehen könnten. Mitte 2012 erreichte die afghanische Armee tatsächlich ihre Sollstärke von 195. 000 Mann ; die Gewaltspirale aber dreht sich ungehindert weiter , und die Taliban verüben zahlreiche terroristische Attacken , selbst die Hauptstadt Kabul bleibt nicht von ihnen verschont. Opfer sind nicht immer unbeteiligte Zivilisten , vielfach werden gezielt Funktionäre der Regierung , Abgeordnete und Stammesälteste zum Ziel von Attentaten. Das Zukunftsszenario sieht demnach düster aus : Die afghanischen Truppen gewähren offensichtlich keinerlei Sicherheitsgarantie , denn wo immer sich die Alliierten zurückziehen , rücken die Taliban nach ; das Kriegsziel , Afghanistans archaische Stammesgesellschaft in eine demokratische Zivilgesellschaft zu transformieren , ist definitiv gescheitert.
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6. MITTLERER UND NAHER OSTEN A ) IRAN UND IRAK
Beide Staaten erstrecken sich auf dem Boden uralter Kulturen , der Irak sogar der ältesten Hochkultur der Menschheit. Im 8. Jahrhundert wurde der Iran islamisiert , vom 8. bis zum 10. Jahrhundert bildete Bagdad das Zentrum des islamischen Weltreiches. Der Zwist zwischen sunnitischen und schiitischen Moslems verursachte dann den Niedergang des Zweistromlandes , das schließlich von 1683 bis 1918 Teil des Osmanischen Reiches wurde. Ein irakisches Nationalbewusstsein hat sich nie eingestellt , im Gegensatz zum Iran , wo sich ab dem 15. Jahrhundert der persische Nationalcharakter entwickelte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden beide Territorien von den Briten besetzt , in Bagdad setzte London den Haschemiten Feisal I. als König ein ( 1920–1933 ), in Teheran ließ Großbritannien 1925 Resa Khan ( PahlewiDynastie ) zum Schah wählen. Während des Zweiten Weltkrieges blieben in beiden Staaten britische Truppen präsent.126 Da sich Resa Khan als Freund Hitler-Deutschlands zu erkennen gab , erzwangen die Engländer 1941 seinen Rücktritt zugunsten von dessen Sohn Mohammed Resa. Der junge Schah regierte despotisch , trieb in seinem Land eine extreme Säkularisierung voran und veranlasste Reformen , deren Nutznießer allerdings vor allem Militärs , Beamte und Großgrundbesitzer waren. Ministerpräsident Mohammed Mossadegh ( 1951–1953 ) stellte sich an die Spitze einer anti-britischen Bewegung und riskierte einen schweren außenpolitischen Konflikt , als er die Anglo-Iranian Oil Company verstaatlichte. Innenpolitisch versuchte er , die Macht des Schahs einzuschränken. Im Zuge der von ihm provozierten Verfassungskrise 1953 musste der Schah sogar aus dem Land fliehen , doch inszenierte der amerikanischen CIA einen Putsch zum Sturz von Mossadegh , sodass der USfreundliche Resa Pahlewi in sein Land zurückkehren konnte. Dem Haschemiten-König Feisal II. ( 1939–1958 ) war ein weniger gutes Schicksal beschieden : Er wurde 1958 im Zuge eines blutigen Staatstreichs gemeinsam mit seinen engsten Vertrauten ermordet.127 General Abd al-Karim Kassem rief im Irak die Republik aus , machte sich zum Ministerpräsidenten , bis auch er anlässlich eines neuerlichen Militärputsches 1963 sein Leben verlor. Kassem hatte seinem Land mit eiserner Hand eine Bodenreform nach kommunistischem Muster aufgezwungen. Außenpolitisch hatte er den pro-westlichen Kurs verlassen und sich an der Sowjet126 Jana Forsmann : Testfall für die „Großen Drei“. Die Besetzung Irans durch Briten , Sowjets und Amerikaner 1941–1946 = Dresdner Historische Studien 10 , Köln / Wien / Weimar 2009. 127 Marian Farouk-Sluglett , Peter Sluglett : Der Irak seit 1958. Von der Revolution zur Diktatur. Frankfurt am Main 1991.
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6. MITTLERER UND NAHER OSTEN
union orientiert. In den beiden Nachbarstaaten Irak und Iran spiegelte sich fortan der Kalte Krieg auf regionaler Ebene wider. Dessen Logik forderte , dass die USA die iranische Armee zur viertgrößten Streitmacht der Erde aufrüsteten , während die UdSSR den Irak nach Kräften unterstützte. Während sich das Schah-Regime bemühte , außenpolitisch nach allen Seiten hin ein gutes Verhältnis aufzubauen , geriet der Irak mit anderen arabischen Staaten in Konflikt , als er die Forderung nach Einverleibung Kuwaits erhob. Traditionell gut blieb das Verhältnis zu Jordanien , an dessen Seite der Irak auch 1967 am Sechs-Tage-Krieg gegen Israel teilnahm ( siehe Kap. 6.B ). Als Folge der Niederlage putschte sich 1968 die Baath-Partei an die Macht und festigte ihr Regime durch Massenverhaftungen und Hinrichtungen. Die guten Beziehungen mit der UdSSR endeten , als in den späten 1970er-Jahren die Mitglieder der irakischen KP blutig verfolgt wurden. Teheran hatte die längste Zeit alles zur Destabilisierung Bagdads beigetragen , insbesondere unterstützte der Iran die irakischen Kurden , welche sich 1961 und 1974/1975 empörten. Erst als sich der Irak 1975 zu einem neuen Grenzabkommen am Schatt-el-Arab ( Zusammenfluss von Euphrat und Tigris ) bereiterklärt hatte , stellte der Schah die Unterstützung der Kurden ein. Der Iran blieb in all diesen Jahren nur nach außen hin ein Hort der Stabilität. Zwar versuchte Resa Pahlewi ab 1960 , mithilfe der Petro-Dollars im Rahmen einer „Weißen Revolution“ sein Land binnen einer Generation zum sozialen Wohlfahrtsstaat nach mitteleuropäischem Muster umzugestalten. Die Reformen betrafen das Bildungs- und Gesundheitswesen , die Landwirtschaft und die Gesellschaft als solche ( u. a. Gewährung politischer Rechte für die Frauen ). Ausländische Konzerne investierten fortan in dem erdölreichen Land mit vermeintlich blendender wirtschaftlicher Zukunft in großem Umfang. Aber die Masse der Bevölkerung , die sich nicht zur neuen städtischen Konsumgesellschaft rechnen durfte , hatte an den Reformen keinen Anteil. Aus den Studenten , die an ausländischen Universitäten studiert hatten , wuchs eine kritische Intelligenzschicht heran , die gegen das autoritäre Schah-Regime opponierte – und vom iranischen Geheimdienst SAVAK verfolgt wurde. Und die Unterschicht litt unter der Korruption und der durch das Wirtschaftswachstum hervorgerufenen Teuerung sowie unter der Missachtung der Traditionen durch die arrogant auftretenden Beamten und Funktionäre des Staates. Sie fand unter den schiitischen Geistlichen ein Sprachrohr ihrer Unzufriedenheit und solidarisierte sich mehr und mehr mit ihren religiösen Vorbildern anstatt mit dem autokratischen Schah. Der bis dahin weitgehend unbekannte Ayatollah Ruhollah Mussawi Hendi Khomeini geißelte im Frühjahr 1963 in seiner Moschee in Ghom die kaiserliche Reformpolitik , worauf Fallschirmjäger die Moschee stürmten. Nun identifizierten sich zehntausende Gläubige mit ihrem islamisch-fundamentalistischen Führer und inszenierten einen Volksaufstand , dessen gewaltsame Unterdrückung etwa 4. 000 Menschenleben kostete. Khomeini wurde des Landes verwiesen und ging in den benachbarten Irak und zuletzt nach Frankreich ins Exil.
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Iran, Irak und die Golfkriege
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Eineinhalb Jahrzehnte später erhoben sich erneut die Massen gegen das laizistische Schah-Regime. Khomeini schickte aus seinem Exil Tonbandkassetten mit Hetzpredigten , die in den Moscheen zu den Freitagsgebeten abgespielt wurden und die Gläubigen zum Sturz des Schahs aufriefen. Die Unruhen begannen im Januar 1978 und kosteten tausende Tote. Als auch die Armee auseinanderzufallen drohte und sich die Desertionen häuften , sah sich der Schah am 16. Januar 1979 schließlich genötigt , nach 37 Regierungsjahren sein Land für immer zu verlassen.128 Er erlag 1980 in Kairo seinem Krebsleiden. In seinen Memoiren beschreibt er u. a. das Ende seiner Regierung und den Beginn des Exils : „Die letzten Tage vor unserer Abreise waren Tage voller Verzweiflung , und die Nächte waren ohne Schlaf. Es war vereinbart worden , dass die Kaiserin und ich unmittelbar nach der Bestätigung von Bakhtiar als Premierminister für einige Wochen auf eine Erholungsreise gehen würden. [ … ] Mein Geist war voller trüber Vorahnungen , und ich wusste aus eigener Erfahrung , was alles passieren könnte. Doch ich redete mir ein , dass meine Abreise die Gemüter beruhigen , den Hass besänftigen , die Mörder entwaffnen würde. Die treuen Bezeugungen im Augenblick meiner Abreise zerrissen mir das Herz. Alles spielte sich in beklemmendem , von gelegentlichem Schluchzen unterbrochenen Schweigen ab. Die erste Etappe unseres Exils war Assuan. Bei unserer Ankunft erteilte ich der Besatzung den Befehl , das Flugzeug mitsamt den zu meinem Schutz mitgereisten Beamten nach Teheran zurückzufliegen. Bei mir behielt ich nur einige Obristen der kaiserlichen Wache , die ihr Schicksal mit dem meinen verbanden. Dass Präsident Sadat und seine Gemahlin am Flughafen warteten , erstaunte mich keineswegs , denn ich kannte seine Seelengröße. [ … ] Ich hatte die Absicht , in die Vereinigten Staaten zu reisen , wo meine Kinder bereits auf mich warteten. Aber man riet mir von allen Seiten ab. [ … ] In jedem Fall aber hatte ich geplant , in Marokko Station zu machen , was ich denn auch tat. König Hassan nahm mich auf wie einen Bruder. [ … ] Als ich mich dann Anfang Mai entschloss , nach den Bahamas zu fliegen , stellte mir der König für die Reise eines seiner Flugzeuge bereit. Dieser Abschnitt war der schwerste unseres Exils. Tag für Tag erreichten uns immer neue Nachrichten über die Hinrichtungen im Iran. Der Albtraum wollte kein Ende nehmen.“129
Am 1. Februar 1979 kehrte Ayatollah Khomeini in den Iran zurück , veranlasste die Bildung einer provisorischen Regierung , installierte einen elfköpfigen „Rat der Wächter des Islams“ ( Revolutionsrat ) als übergeordnetes Legislativ- und Exekutivorgan und ließ durch von Volksmilizen unterstützte Revolutionsgerichte alle Re128 Abdol Behrawan : Iran – die programmierte Katastrophe. Anatomie eines Konflikts. Frankfurt am Main 1980. 129 Aus : Kurier , 10. Dezember 1979 , S. 3.
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präsentanten des verhassten Schah-Regimes aus Regierung , Verwaltung , Armee und Geheimpolizei – bis 1983 etwa 20. 000 Menschen – hinrichten. Nach einer Volksabstimmung proklamierte er am 2. April 1979 die „Islamische Republik Iran“, eine Theokratie nach fundamentalistisch-schiitischen Grundsätzen , welche alle westlichen Lebensgewohnheiten als gottlos brandmarkte und mithilfe der militärisch organisierten islamischen „Revolutionswächter“ blutig verfolgte. Auch die einzige nennenswerte Opposition , die marxistisch orientierten militanten „Volksmudjahedin“, konnte sich nicht behaupten. Die Macht konzentriert sich seither im Wächterrat , der nicht nur Militär , Polizei , Gerichte und Regierung kontrolliert , sondern auch die Kandidaten für allfällige Wahlen aussucht ; dessen Vorsitz übernahm Khomeini selbst und beanspruchte für sich , als „Fakih“ ( Führer der Nation ) letzte Instanz in allen politischen und religiösen Fragen zu sein. Obwohl das Khomeini-Regime die USA zum erklärten Feindbild hochstilisierte , unterhielten die Vereinigten Staaten auch nach dem Umsturz eine stark besetzte Vertretung in Teheran. Der Krankenhausaufenthalt des gestürzten Schahs in den USA gab das Signal für einen einzigartigen Verstoß gegen die diplomatischen Gepflogenheiten : Etwa 3. 000 sogenannte „Studenten“ stürmten am 4. November 1979 die US-Botschaft und nahmen sämtliche Botschaftsangehörige – anfangs 66 , zuletzt 52 Personen – als Geiseln. Ein gewagter Befreiungsversuch durch US-Militärs am 24. April 1980 scheiterte an technischen und menschlichen Unzulänglichkeiten. Er kostete acht Menschenleben – und dem glücklosen Präsidenten Jimmy Carter ( seit 1977 ) die Wiederwahl. Erst 1981 , nach dem Tod des Schahs und dem Amtsantritt von Ronald Reagan ( 1981–1989 ), wurde die Botschaftsbesetzung auf algerische Vermittlung hin beendet. Im selben Jahr 1979 , als der Schah von Persien gestürzt wurde , gelangte im Irak Saddam Hussein an die Macht. Als Vorsitzender des Revolutionsrates , Generalsekretär der sozialistisch-laizistischen Baath-Partei und Staatspräsident schürte er den Gegensatz zur Islamischen Republik Iran , kündigte schließlich den Grenzvertrag von 1975 und entfesselte im September 1980 den ersten Golfkrieg ( 1980–1988 ) gegen den Iran. Die Kriegsursachen lagen nicht nur in den langjährigen politischen Grenzkonflikten und in den neuen religiös-ideologischen Gegensätzen , sondern auch in dem Kampf um die Vormachtrolle in der ölreichen Golfregion. Saddam Hussein hielt den Iran dank der Revolution für dermaßen geschwächt , dass er sich gute Siegeschancen ausrechnete. Tatsächlich gelang es seinen – nun durch US-Hilfe und durch finanzielle Unterstützung der arabischen Anrainerstaaten – hochgerüsteten Streitkräften im ersten Kriegsjahr , Teile Khusistans mit der Stadt Khorramschar zu erobern und in Kurdistan eine zweite Front zu eröffnen. Der iranischen Führung kam der Krieg indes nicht ungelegen , denn er lenkte die Bevölkerung vom revolutionären Chaos ab und einte das Volk im Kampf gegen den äußeren Feind. Mit der Mobilisierung aller Humanreserven – im Rahmen der Revolutionswächter wurden auch Frauen und Kinder in den „Heiligen Krieg“ geschickt – gelang es bis 1982 den
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zahlenmäßig überlegenen Iranern , fast alle irakischen Eroberungen zurückzugewinnen. Von nun an entwickelte sich der Krieg zum operativ und taktisch durchaus unintelligent geführten Stellungs- und Abnutzungskrieg , bei dem beide Seiten sogar Giftgas einsetzten , Städte bombardierten und danach trachteten , die Verlade- und Transporteinrichtungen für den Erdölexport des Kriegsgegners zu vernichten. Die Fronten waren längst festgefahren , als es dem UNO-Generalsekretär Pérez de Cuéllar im August 1988 endlich gelang , Waffenstillstandsverhandlungen einzuleiten. Die Bilanz des mit dem status quo ante endenden ersten Golfkrieges ergibt eine Million Tote und eine Schadenshöhe von 200 Milliarden US-Dollar. Beide Staaten fanden auch im folgenden Jahr zu keinem Friedensvertrag , vielmehr bemühten sie sich , die Waffenvorräte ihrer Armeen wieder zu vergrößern. 1989 starb Revolutionsführer Ajatollah Khomeini ; anlässlich seines Leichenzuges , an dem Hunderttausende teilnahmen , wurden 11. 000 Personen verletzt. Zu Khomeinis Nachfolger wurde der bisherige ( seit 1981 ) Staatspräsident Ajatollah Sayed Ali Khamenei gewählt. Obwohl Saddam Hussein während des von ihm begonnenen zweiten Golfkrieges Versöhnungsgesten setzte , um den Iran als Verbündeten zu gewinnen , versagte sich Teheran , blieb neutral und forderte von Bagdad eine Kriegsentschädigung von 900 Milliarden US-Dollar. Als Saddam Hussein am 2. August 1990 seine Armee in das benachbarte Emirat Kuwait einmarschieren ließ , wähnte er sich im Einvernehmen mit den USA und übersah , dass der Westen ihm gegenüber bereits tiefes Misstrauen hegte , seit in Großbritannien eine für den Irak bestimmte Lieferung von vermutlich nuklearen Zwecken dienenden Zündern beschlagnahmt worden war. Schon seit geraumer Zeit argwöhnte man , der Irak betreibe den Bau einer A-Bombe – deshalb hatten 1981 israelische Jagdbomber den Kernreaktor Osirak bei Bagdad zerstört. Dem zweiten Golfkrieg gingen jahrelange Gebietsansprüche seitens des Irak und zuletzt Anschuldigungen voran , Kuwait hätte an der gemeinsamen Grenze illegal Erdöl im Wert von 2,4 Milliarden US-Dollar gefördert. Tatsächlich benötigte der durch den ersten Golfkrieg hoch verschuldete Irak neue Einnahmequellen und glaubte sie durch die Annexion des kleinen , aber reichen Nachbarlandes gefunden zu haben. Die Weltöffentlichkeit aber nahm diesen Gewaltakt nicht hin , der UN-Sicherheitsrat verhängte ein Wirtschaftsembargo und verabschiedete im November 1990 eine Resolution , die den Einsatz militärischer Mittel durch UNO-Truppen androhte , sollte der Irak nicht bis Mitte Januar 1991 seine Truppen aus Kuwait abgezogen haben. Da Saddam Hussein das Ultimatum verstreichen ließ , begannen am 17. Januar 1991 die Kampfhandlungen. US-Präsident George Bush sen. ( 1989–1993 ) sah durch die Besetzung Kuwaits die amerikanischen Interessen unmittelbar gefährdet , demgemäß stellten die US-Truppen das Gros einer nahezu eine halbe Million Mann zählenden alliierten Armee und übernahmen auch den Oberbefehl. Der Krieg begann mit der systematischen Bombardierung aller irakischen Infrastruktureinrichtungen. In dieser ersten Phase des Krieges feuerte der Irak zur
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Vergeltung Scud-Raketen auf Israel und Saudi-Arabien ab. Die irakische Luftwaffe entging ihrer Vernichtung , indem sie in den Iran verlegte – wo sie als Kompensation für die Kriegsschäden des ersten Golfkrieges beschlagnahmt wurde. Ein neuerliches Ultimatum an Bagdad fand keine Antwort , sodass am 24. Februar mit der alliierten Bodenoffensive zur Befreiung Kuwaits die zweite Phase des Krieges begann. Binnen dreier Tage brach die irakische Armee zusammen , von den 42 Divisionen wurden 29 völlig aufgerieben , 60. 000 Iraker gerieten in Gefangenschaft. Bei diesem 42 Tage dauernden Krieg wurde insofern Militärgeschichte geschrieben , als erstmals eine Landstreitmacht von der Luft aus geschlagen wurde ; die alliierte Luftwaffe warf insgesamt 88. 500 Bomben ab – von denen allerdings 70 Prozent ihr Ziel verfehlten. Es wurde auch Mediengeschichte geschrieben , denn im Gegensatz zum Vietnamkrieg , der in seiner vollen Grausamkeit auf den Fernsehbildschirmen der US-Haushalte zu beobachten war , lieferten nun die Militärs ausschließlich zensurierte Bilder eines vermeintlich „klinisch sauberen“ Krieges , bei dem alle Kollateralschäden ausgeblendet worden waren. Während ihres Rückzugs plünderten und verwüsteten irakische Truppen das Emirat und setzten 727 kuwaitischen Ölquellen in Brand ; die Umweltkatastrophe hielt sich insofern in Grenzen , als die Brände bis November gelöscht werden konnten. Am 28. Februar 1991 ruhten die Waffen , die Tragödie des Krieges setzte sich aber nun innerhalb des Iraks fort , denn die USA hatten Kurden und Schiiten zum Aufstand gegen das Regime ermuntert , ließen aber dann die Aufständischen im Stich , sodass Saddam Hussein an ihnen blutige Rache üben konnte. Hunderttausende flüchteten in den Iran und in die Türkei.130 Die vom UN-Sicherheitsrat beschlossenen Friedensbedingungen für den Irak waren drückend : Abgesehen von der Verpflichtung , die eigenen atomaren , biologischen und chemischen Waffenarsenale auf eigene Kosten zerstören und ein weltweites Waffenembargo hinnehmen zu müssen , durfte nur eine beschränkte Menge Erdöl für den Erwerb dringend benötigter Medikamente sowie Lebensmittel und Wasser exportiert werden. Außerdem verhängten die Alliierten sowohl im Norden ( Kurdengebiet ) als auch im Süden ( Schiitengebiet ) Flugverbotszonen , die durch britische und amerikanische Militärjets überwacht wurden. Auch in den Folgejahren bombardierten die Alliierten wiederholt irakische Abwehrstellungen. In der Praxis unterlief Saddam Hussein das Verbot des Erdölexportes , indem er riesige Ölmengen durch Tankwagen in die Türkei schmuggeln ließ ,131 vor allem aber behinderte und täuschte er die internationalen Waffeninspektoren , sodass die Weltöffentlichkeit und sogar der amerikanische Geheimdienst nie genau wussten , über welche Waffen der Irak tatsächlich verfügte. 1998 ließ der Diktator alle UN-Waffen130 Peter Billing , Gert Krell ( Hgg. ): Krieg und Frieden am Golf. Ursachen und Perspektiven. Frankfurt am Main 1991. 131 Eigenbeobachtung des Verfassers im Januar 2000.
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inspektoren des Landes verweisen. Nichtsdestoweniger öffnete im August 2000 der Flughafen Bagdad den Betrieb , ohne dass die Alliierten Einspruch erhoben. Saddam Hussein spielte ein gefährliches Spiel , zumal US-Präsident George Bush jun. ( 2001–2009 ) am 29. Januar 2002 den Irak als Teil der „Achse des Bösen“ bezeichnet hatte und sich ein möglicher amerikanisch-britischer Militärschlag abzeichnete : „Unser [ … ] Ziel ist es , Regime , die den Terrorismus unterstützen , davon abzuhalten , Amerika oder unsere Freunde und Verbündeten mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen. Einige dieser Regime haben sich seit dem 11. September recht ruhig verhalten. Aber wir kennen ihre wahre Natur. Das Regime in Nordkorea rüstet mit Raketen und Massenvernichtungswaffen auf , während es seine Bürger verhungern lässt. Der Iran strebt aggressiv nach diesen Waffen und exportiert Terror , während einige wenige , die niemand gewählt hat , die Hoffnung des iranischen Volkes auf Freiheit unterdrücken. Der Irak stellt weiterhin seine Feindseligkeit gegenüber Amerika offen zur Schau und unterstützt den Terrorismus. Schon seit über einem Jahrzehnt versucht das irakische Regime insgeheim , Milzbranderreger , Nervengas und Atomwaffen zu entwickeln. Dieses Regime hat bereits Giftgas eingesetzt , um Tausende seiner eigenen Bürger zu ermorden – und ließ danach Leichen von Müttern zurück , zusammengekauert über ihren toten Kindern. Dieses Regime hat in internationale Inspektionen eingewilligt – und dann die Inspektoren hinausgeworfen. Dieses Regime hat etwas vor der zivilisierten Welt zu verbergen. Staaten wie diese und die mit ihnen verbündeten Terroristen bilden eine Achse des Bösen , die aufrüstet , um den Frieden der Welt zu bedrohen.“132
Nach Monaten ergebnislosen Verhandelns , in denen Saddam Hussein als Gegenleistung für die Zulassung von UN-Waffeninspektoren das Ende der UN-Sanktionen forderte , begannen die USA mit militärischen Vorbereitungen für einen Einmarsch in den Irak ; im Herbst 2002 erteilte der Kongress dem Präsidenten die Ermächtigung für einen Gewalteinsatz gegen Saddam Hussein. Denn entgegen den Beteuerungen aus Bagdad vermutete der US-Geheimdienst Massenvernichtungswaffen – Vermutungen , die von George Bush bereitwillig aufgenommen wurden. Er wollte den dritten Golfkrieg führen , gleichsam um das Werk seines Vaters ( Befreiung Kuwaits ) zu vollenden. Seine Beweggründe waren aber vielschichtig : Gewiss bildete Iraks Ölreichtum ein wichtiges Moment , zumal Saudi-Arabien als Öllieferant des Westens nicht die gewünschte Sicherheit bot und bietet – schließlich stammen die meisten islamistischen Terroristen aus Saudi-Arabien oder werden von reichen Saudis unterstützt. Ein verbündeter Irak wäre von unschätzbarem Vorteil , insbesondere dann , wenn er als demokratischer Staat Vorbildcharakter für die Nachbarregionen 132 Aus : http://de.wikipedia.org/wiki/Achse_des_Bösen. Übernommen am 2. Januar 2011.
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demonstrierte und einen Dominoeffekt der Demokratisierung des Mittleren und Nahen Ostens mit sich brächte. Die USA hätten dann in dieser strategisch sensiblen Zone leichteres Spiel , ihre Interessen durchzusetzen. Nicht zuletzt sollte der Sturz des Saddam-Regimes anderen Gewaltherrschern eine Warnung sein , nicht an der nuklearen Rüstungsschraube zu drehen. ( Libyen beendete 2003 tatsächlich sein Atomprogramm. ) Einer Resolution des UN-Sicherheitsrates vom 8. November 2002 , zur Vermeidung „ernster Konsequenzen“ endlich Waffeninspektionen wieder zuzulassen , gab Saddam Hussein nach. Doch die Arbeit der Inspektoren wurde von seinem Regime eher behindert als gefördert , sodass es schließlich unklar blieb , ob der Irak über Massenvernichtungswaffen verfügte oder nicht. Im letzten Moment setzte Saddam noch eine Geste des guten Willens , indem er 120 Samud-Raketen ( Reichweite über 150 Kilometer ) vernichten ließ , dennoch stellten ihm die USA am 17. März 2003 ein Ultimatum , den Irak gemeinsam mit seinen Söhnen binnen 48 Stunden zu verlassen. Da der irakische Präsident nicht reagierte , begannen am 20. März die Kampfhandlungen. Der Krieg dauerte 21 Tage und endete mit der vollständigen Vernichtung der etwa 300. 000 Mann starken irakischen Armee. Die nur 250. 000 Soldaten zählende alliierte Armee ( Amerikaner , Briten , Polen usw. ) entschied den Krieg aufgrund besserer Waffensysteme und besserer Ausbildung sowie wegen der gezielten Ausschaltung der politischen und militärischen Führung durch amerikanische Luftangriffe. Wie bei jedem Blitzkrieg hielten sich die Verluste in Grenzen : 114 gefallene US-Soldaten , 30 gefallene Briten , 2320 gefallene Iraker , allerdings 65. 000 Tote unter der Zivilbevölkerung. Saddam Hussein wurde erst im Dezember 2003 in seinem Versteck aufgestöbert und am 30. September 2006 kraft eines irakischen Gerichtsurteils gehenkt. Das bittere Nachspiel des dritten Golfkrieges konnte niemand voraussehen : Die Amerikaner hatten zwar die Erdölanlagen und wichtige Kommunikationseinrichtungen gesichert , aber nichts zum Schutz der Bevölkerung , der UN-Einrichtungen und der kulturellen Schätze unternommen. Saddam Hussein hatte in den letzten Kriegstagen alle Gefängnisse öffnen lassen , Kriminelle unternahmen ab dem 9. April Plünderungen und Zerstörungen in Bagdad und in anderen Städten. Aus den Museen und Ausgrabungsstätten gingen Kunstschätze von unschätzbarem Wert verloren. Anhänger des gestürzten Saddam Hussein leisteten erbitterten Widerstand , Sunniten begannen an den Schiiten alte Rechnungen zu begleichen , längst vergessen geglaubte Stammesfehden zwischen den etwa 600 irakischen Stammesführern brachen wieder aus , vor allem aber sickerten nach und nach Terroristen aus allen islamischen Ländern ein , sodass der Irak im Bürgerkrieg versank. Die USA hatte eine Reihe strategischer Fehler begangen , die nicht wiedergutzumachen sind : Allein der Kriegsgrund , Saddam Hussein hätte ABC-Waffen und unterhielte Verbindungen zur al-Qaida , erwies sich als falsch. Ferner war die irakische Armee nicht nur
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vernichtend geschlagen , sondern restlos liquidiert worden , sodass keine lokale Ordnungsmacht mehr verfügbar war und 300. 000 arbeitslose Soldaten , Nationalgardisten und Polizisten ein riesiges Reservoir von potenziellen Terroristen bildeten , die nur darauf warteten , für Terroranschläge angeworben zu werden. Ein dritter Fehler lag in der Auflösung der seit 1968 allein regierenden Baath-Partei , wodurch die zivile Verwaltung zu existieren aufhörte. Somit konnten die von den USA angeführten Alliierten zwar den Krieg gewinnen , keinesfalls jedoch den Frieden sichern , dafür waren die 130. 000 Besatzungssoldaten zahlenmäßig nicht in der Lage. Erst 2007 entschloss sich Präsident Bush zur vorübergehenden Aufstockung der Besatzungstruppen auf 166. 000 Mann in der Hoffnung , die zu diesem Zeitpunkt gezählten durchschnittlich 163 Anschläge pro Tag würden sich verringern. Offiziell hieß es dann auch , die Sicherheitslage hätte sich verbessert , weil auch bereits eigene irakische Sicherheitskräfte wieder aufgebaut wurden und die Aufgaben der Besatzungssoldaten übernahmen. Tatsächlich starben aber auch noch 2009 täglich bis zu 200 Iraker sowohl durch eigenen ( ehemalige Baath-Mitglieder , religiöse Extremisten , gewöhnliche Kriminelle ) als auch durch importierten ( al-Qaida ) Terror.133 Neben den anderen Verbündeten ( Polen , Georgier , Japaner , Rumänen ) hatten bis 2009 auch die Briten ihre Soldaten abgezogen , zugleich reduzierten die USA ihre Streitkräfte auf 90. 000 – US-Präsident Barack Obama ( seit 2009 ) versprach bei Amtsantritt , den Konflikt mit vollständigem Truppenabzug bis Ende 2011 letztlich nationalisieren zu können. Bis Sommer 2010 waren 4. 500 gefallene US-Soldaten und 300 gefallene Soldaten der Verbündeten , 9. 600 getötete irakische Polizisten und Soldaten sowie geschätzte 180. 000 bis 190. 000 ermordete Zivilsten zu beklagen. Der Krieg kostete die Amerikaner 810 Milliarden US-Dollar an unmittelbaren Militärausgaben ( 5. 000 US-Dollar pro Sekunde , 390. 000 US-Dollar pro Soldat und Jahr ), insgesamt aber , wenn man auch Zahlungen an Veteranen einrechnet , 2,1 Billionen US-Dollar. Im Dezember 2011 verließ der letzte amerikanische Soldat das Land ; dennoch bleibt die US-Präsenz am Golf deutlich , mit über 16. 000 Mitarbeitern ist die US-Botschaft in Bagdad die größte der Welt. Doch die Situation des Landes bleibt prekär , zumal die 900. 000 irakischen Soldaten und Polizisten als mangelhaft ausgebildet , unfähig und korrupt gelten. Das Zukunftsszenario sieht im günstigsten Fall die Teilung des Landes in drei autonome Regionen vor ( Kurdengebiet im Norden , Sunnitengebiet in der Mitte , Schiitengebiet im Süden ), im ungünstigsten Fall einen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten , der alsbald in einen Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ausarten dürfte. Nutznießer der katastrophalen Situation im Irak ist jedenfalls der benachbarte Iran , der sich als stärkste regionale Macht profilieren kann und durch Unterstüt133 Vgl. den Augenzeugenbericht von Paul Flieder : Der Barbier von Bagdad. Leben , Sterben und Glauben im Irak. St. Pölten / Salzburg 2009 , S. 42.
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zung schiitischer Milizen mehr und mehr Einfluss im Zweistromland gewinnt. Der Iran mischt aber nicht nur im Irak , sondern auch im Nahostkonflikt durch die Unterstützung der Hisbollah im Libanon und der Hamas im Gazastreifen mit ( siehe Kap. 6.B ). Gleichzeitig betreibt er – trotz gegenteiliger Beteuerungen – intensive Anstrengungen zur Entwicklung einer Atombombe und lässt sich auch durch UNund EU-Sanktionen nicht davon abhalten. Wirtschaftsblockaden nützen nichts , solange das nach Erdöl durstende China am funktionierenden Handel mit dem Iran interessiert bleibt. Heftige Unruhen nach den Präsidentenwahlen 2009 , die der von 2005 bis 2013 amtierende Präsident , Mahmud Ahmadinedschad , nur durch massive Wahlfälschungen für sich entscheiden konnte , vermochten in der auf Konfrontationskurs segelnden iranischen Außenpolitik nichts zu ändern. B ) N AHER OSTEN UND DER JAHRHUNDERTKONFLIKT UM PALÄSTINA
Als der Korrespondent der Wiener „Neuen Freien Presse“, Theodor Herzl , anno 1896 sein Buch „Der Judenstaat“ veröffentlichte , rief er den modernen Zionismus ins Leben , eine Bewegung , die sich das Ziel gesetzt hatte , allen Juden in Palästina , dem „Land der Väter“, einen eigenen Staat zu schaffen. Während des Ersten Weltkrieges sicherte der britische Außenminister ( 1916–1919 ) Arthur James Lord Balfour tatsächlich den Juden eine Heimstätte im bis dato osmanischen Palästina zu ( „Balfour Declaration ), setzte diese aber nach Kriegsende nicht durch.134 Kraft Völkerbundmandats wurde Palästina britisches , Syrien französisches Mandatsgebiet. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Palästina 85. 000 Juden und 600. 000 palästinensische Araber. Mit Beginn der 1930er-Jahre setzte eine verstärkte jüdische Einwanderung ein ; zunächst kamen nur 4. 000 Immigranten , 1933 waren es schon 37. 300 , im Jahr darauf 45. 200 und 1936 gar 66. 000 , danach gingen die Einwandererzahlen wieder zurück und bewegten sich jährlich zwischen 10. 000 und 30. 000. Von allem Anfang an griffen die ortsansässigen Araber ( Palästinenser ) zu den Waffen , zwischen 1936 und 1939 tobte der arabische Aufstand , dem die britische Mandatsmacht eher hilflos gegenüberstand.135 Der arabische Widerstand , geleitet vom Großmufti von Jerusalem ( 1926–1937 ), Mohammed Said Amin al-Husaini , blieb erfolglos , während die jüdische Selbstschutzor134 Monika Brockhaus : „Ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung“. Die BalfourDeklaration in der veröffentlichten Meinung = Ina Ulrike Paul , Uwe Puschner ( Hgg. ): Zivilisationen & Geschichte 8. Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2011. 135 Heimo Matzken : Ewiger Krieg im Nahen Osten. Konsequenz verkorkster Staatengründung. Norderstedt 2011. – Helmut Mejcher ( Hg. ): Die Palästina-Frage 1917–1948. Paderborn / Wien 1981. – Hubert Speckner : Unruheprovinz Palästina. In : ÖMZ 5 , 2001 , S. 626–632.
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ganisation „Haganah“ erfolgreich den Einwanderungsstrom sicherte. Zugleich bauten die Juden politische , wirtschaftliche , kulturelle und insgeheim auch militärische Strukturen auf. Während des Zweiten Weltkrieges diente Palästina den Alliierten als Versorgungszentrum. Al-Husaini hingegen , den die Briten als Großmufti abgesetzt hatten , diente sich Adolf Hitler an ( Berlinreise 1941 ), um ihm bei der „Endlösung der Judenfrage“ behilflich zu sein ; er bekämpfte Israel und die Juden bis zu seinem Tod ( 1974 ). Gegen Kriegsende ( 22. März 1945 ) riefen Ägypten , Syrien , Transjordanien , Irak , Saudi-Arabien , Jemen und der Libanon die Arabische Liga ins Leben ( siehe Kap. 7 ) mit dem Ziel einer politischen , militärischen , wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit der arabischen Staaten. Anfangs bemühte sich die Liga um die Entkolonialisierung arabischer Gebiete und darum , die Gründung des Staates Israel zu verhindern , später setzte sie sich für die Errichtung eines eigenen Palästinenserstaates ein. 1946 erhielten Syrien , Libanon und Transjordanien die Unabhängigkeit. Für die politische Neugestaltung Palästinas schaltete Großbritannien nun die UNO ein , welche am 29. November 1947 den Teilungsplan zwischen dem neu zu gründenden Staat Israel und Transjordanien , nunmehr Jordanien , beschloss. Die Araber lehnten diesen Teilungsplan erwartungsgemäß ab und überzogen Palästina mit einer Reihe von Anschlägen , die das Land ins Chaos stürzten. Unmittelbar nach dem Abzug der Briten proklamierte am 14. Mai 1948 der jüdische Nationalrat die Gründung des Staates Israel. Der junge Staat zählte damals ca. 800. 000 Einwohner , sein erster Ministerpräsident wurde David Ben Gurion ( 1948–1953 , 1955–1963 ; gest. 1973 ),136 erster Präsident war der Biochemiker Chaijim Weizmann ( 1948 bis zu seinem Tod 1952 ). Bereits einen Tag nach der Staatsgründung erklärten die Mitglieder der Arabischen Liga Israel den Krieg. Im Laufe dieses ersten Nahostkrieges hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den schwedischen Philanthropen und Präsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes , Folke Bernadotte , zur Vermittlung zwischen Juden und Arabern nach Palästina entsandt ; er fiel mitten in Jerusalem dem Mordanschlag einer paramilitärischen jüdischen Geheimorganisation ( „Lechi“ ) zum Opfer. Der Mörder hieß Jehoschua Cohen , einer seiner Auftraggeber war der spätere israelische Ministerpräsident und Außenminister ( 1980–1992 ) Jitzhak Schamir. Ben Gurion nahm diesen Mord zum Anlass , gegen die nunmehr unerwünschten terroristischen Untergrundbewegungen vorzugehen und deren Mitglieder verhaften zu lassen. Als im Frühjahr 1949 der Krieg mit einem brüchigen Waffenstillstand endete , markierte der Verlauf der Frontlinien die neuen Staatsgrenzen : Jerusalem wurde zwischen Israel und Jordanien geteilt , auch fiel das Westjordanland an das Königreich Jordanien , während Ägypten den Gazastreifen behielt. Nach Kriegsende setzte der systematische Aufbau des Staates Israel ein , zu136 Michael Bar-Zohar : David Ben-Gurion. Der Gründer des Staates Israel. Bergisch-Gladbach 1992.
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gleich wurde die neuhebräische Sprache ausgebildet. Als Wiedergutmachung für die Shoah leistete die BRD 1952 eine Finanzhilfe von 3,5 Milliarden D-Mark , gleichzeitig flossen reiche Spendengelder aus den USA. Entscheidend für den zukünftigen Bestand des Staates war aber weniger der ausländische Geldsegen als ein starker Bevölkerungsanstieg , daher setzte Israel auf eine gezielte Einwanderungspolitik : Bereits 1964 hatte sich die Bevölkerung auf 2,4 Millionen verdreifacht , heute zählt Israel 7,3 Millionen Einwohner , davon 80 Prozent Juden , 20 Prozent israelische Araber. Nicht alle der in Palästina ansässigen Araber durften im Lande bleiben : Etwa 750. 000 Palästinenser ,137 welche sich während des ersten Nahostkrieges gegen Israel erhoben hatten , mussten fliehen oder wurden vertrieben. Sie und ihre Nachkommen leben seither in den benachbarten Staaten in Flüchtlingslagern , lediglich im Königreich Jordanien fanden sie volle Integration als gleichberechtigte Staatsbürger. Der – erfolglos geführte – gemeinsame Kampf gegen Israel galt und gilt einem eigenen Palästinenserstaat , die Mittel dieses Kampfes bestanden einerseits aus Anschlägen gegen israelische und westliche Einrichtungen , andererseits in der hohen Geburtenrate : Heute stellen die Palästinenser allein in Gaza und im Westjordanland bereits ein Volk mit vier Millionen Menschen , nahezu ebenso viele leben in den Nachbarstaaten. Zur Durchführung des Guerillakampfes gegen Israel entstanden etliche Untergrundbewegungen , deren stärkste , die 1958 in Kuwait gegründete Al-Fatah , 1964 mit Sabotageakten und bewaffneten Aktionen gegen Israel von Libanon und Jordanien aus begann ; da die arabischen Staaten Israel keinen Vorwand für einen Angriff liefern wollten , versuchten sie , die Fatah-Aktionen zu verhindern und verhafteten viele ihrer Mitglieder. Ebenfalls 1964 wurde in Kairo auf Initiative des ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el-Nasser ( 1954–1970 ) die PLO ( Palestine Liberation Organization ) ins Leben gerufen , damit sich Ägypten die Kontrolle über die Freischärlergruppen sicherte. 1969 wählten die PLO-Funktionäre den Fatah-Führer Jassir Mohammed Arafat ,138 einen Verwandten al-Husainis , zum Vorsitzenden des Exekutivrates der PLO , sodass die Fatah nun beherrschenden Einfluss in dieser Organisation innehatte. Das einstige britische Protektorat Ägypten hatte 1936 die Souveränität erlangt , musste aber die Präsenz britischer Truppen beiderseits des Suezkanals akzeptieren. Eine Militärrevolte gegen die korrupte Monarchie zwang König Faruk ( seit 1936 ) zur Abdankung , Ägypten erhielt eine republikanische Verfassung. Von 1954 bis 1970 regierte Oberst Nasser das Land am Nil und propagierte einen „arabischen Sozialismus“ ( Parteienverbot , Bodenreform ), wobei er sich außenpolitisch immer stärker an die 137 Ders. : Wenn David zum Goliath wird. Geschichte und Entwicklung der israelischpalästinensischen Konflikte. München 1992. 138 Vgl. : Gerhard Konzelmann : Arafat. Vom Terroristen zum Mann des Friedens. Köln 4 1998.
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UdSSR lehnte , zumal die USA eine finanzielle Hilfe für den Bau des Assuan-Dammes ablehnten. Im Frühjahr 1956 zogen die Briten ihre Truppen von der Kanalzone ab , daraufhin verkündete Nasser überraschend die Nationalisierung der bis dato in britisch-französischem Aktienbesitz befindlichen Suezkanalgesellschaft. Ägyptens Blockade des Suezkanals und des Golfes von Akaba für israelische Schiffe rief Israel auf den Plan , das sich von England und Frankreich zum Angriff auf Ägypten motivieren ließ. Im Verlauf dieses Suezkrieges oder zweiten Nahostkrieges ( Oktober bis November 1956 ) drangen israelische Truppen in die Halbinsel Sinai und in Gaza ein , zugleich unternahmen britisch-französische Streitkräfte Luftlandungen in Suez und Port Said. Während die Weltöffentlichkeit gebannt nach Ägypten blickte , schlug die sowjetische Armee den ungarischen Volksaufstand nieder ( siehe Kap. 3.D ), der international keiner weiteren Beachtung wert schien , weil er sich im sowjetischen Einflussbereich abspielte. Die Vereinten Nationen , die USA , vor allem aber die Sowjetunion verurteilten den Angriff auf Ägypten und forderten ultimativ den Abzug aller Truppen aus dessen Territorium , Moskau drohte sogar mit einem Raketenangriff auf europäische Städte. Schließlich zogen sich die Angreifer zurück , als Gegenleistung verpflichtete sich Kairo , die Suezkanalaktionäre zu entschädigen. Der Westen hatte eine moralische und vor allem strategische Niederlage erlitten , denn der Sowjetunion wurde nun die Möglichkeit eröffnet , sich direkt in die Nahostpolitik einzuschalten : Sie leistete Militär- und Wirtschaftshilfe für Ägypten ( Finanzierung des Assuan-Dammes ) und gewann an Ägyptens Küste einen Flottenstützpunkt , der fortan die Mittelmeerpräsenz der sowjetischen Kriegsmarine garantierte. Präsident Nassers Prestige erhielt in der arabischen Welt einen enormen Bedeutungszuwachs , sodass er sich an die Spitze der panarabischen Bewegung setzen konnte. Eine unter dem Namen Vereinigte Arabische Republik ( VAR ) versuchte Staatenfusion von Ägypten mit dem befreundeten Syrien ( und einer losen Föderation mit dem Königreich Jemen ) hielt freilich nur von 1958 bis 1961 , weil Kairo zu stark dominierte. Um von der katastrophalen Wirtschaftslage in Ägypten abzulenken , brach Nasser den dritten Nahostkrieg oder Sechstagekrieg ( 5. bis 10. Juni 1967 ) vom Zaun :139 Sein ( und der Sowjetunion ) Kriegsziel bestand in der Vernichtung der israelischen Atomanlagen ( Reaktor Dimona ), als Verbündete konnte er Syrien und Jordanien gewinnen. Noch während des arabischen Aufmarsches schlug Israel präventiv zu : Unter Umgehung der nach Osten gerichteten ägyptischen Luftabwehr zerstörten Israels Kampfjets die ägyptische Luftwaffe am Boden , dann eroberten israelische Bodentruppen in einem Drei-Fronten-Blitzkrieg den Gazastreifen , die Halbinsel Sinai bis zum Suezkanal , ganz Jerusalem , das Westjordanland und die syrischen Golanhöhen. Die Araber erlitten eine vernichtende Niederlage , und nur ein 139 Helmut Mejcher : Sinai , 5. Juni 1967. Krisenherd Naher und Mittlerer Osten. München 2 1999.
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von den USA erzwungener Waffenstillstand hinderte Israel am weiteren Vorstoß ins Feindesland. Die UNO-Resolution Nr. 242 fordert seither den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten. Israels Soldaten konnten siegen , weil sie eine bessere Moral und einen höheren Kampfwert aufwiesen. Die arabischen Soldaten wurden einerseits schlecht geführt , auch koordinierten die verbündeten Armeen unzulänglich , tapfer kämpften lediglich die Jordanier. Andererseits minderten arabisches Klassendenken ( der Offizier verachtet den Soldaten , der Soldat misstraut dem Offizier ) und die arabische Mentalität , Dinge nicht beim Namen zu nennen , sondern nur indirekt anzusprechen , die Chancen auf einen Erfolg. Der arabische Soldat kannte ausschließlich seine eigene Funktion und gab auch sein Wissen nicht weiter , um unverzichtbar zu bleiben , während jeder israelische Soldat auch die Funktionen seiner Kameraden , Vorgesetzten und Untergebenen beherrschte und diese gegebenenfalls ersetzen konnte. Die 260. 000 Mann starke israelische Armee hatte 700 Gefallene zu beklagen , die 280. 000 Araber insgesamt 8. 500. Ägypten stand angesichts der Niederlage vor dem Bankrott und war fortan ganz von der sowjetischen Hilfe abhängig , russische Offiziere bildeten jetzt auch die ägyptische Armee aus – die sowjetische Militärhilfe währte bis 1977. Später erfuhr man , dass die Sowjetunion zum Eingreifen in den Sechstagekrieg bereit gewesen wäre und nur durch einen rechtzeitigen Waffenstillstand davon abgehalten worden war. Jedenfalls betrachteten sowjetische Militärs Israels Atomwaffen als Bedrohung ihrer Südostflanke. Während die Al Fatah im Sechstagekrieg untätig geblieben war , kämpften die PLO-Verbände im Rahmen der regulären arabischen Armeen und teilten deren Niederlage. Daher gewannen sie große Sympathien unter den Arabern , und allmählich ließen sich alle anderen palästinensischen Guerillaverbände in die PLO eingliedern. Als , wie oben erwähnt , Jassir Arafat 1969 zum Vorsitzenden des PLO-Exekutivkomitees gewählt wurde , etablierte er in Jordaniens Hauptstadt Amman eine Nebenregierung. Bald aber gab es Spannungen mit der jordanischen Regierung , die den Palästinensern jegliche politische Betätigung und den Gebrauch von Schusswaffen verbot. Im Juni 1970 begannen Kampfhandlungen zwischen den palästinensischen Widerstandsbewegungen und der jordanischen Armee , die im September in einen blutigen Bürgerkrieg mündeten. Vom Norden drangen sogar syrische Truppen zur Unterstützung der Palästinenser ein. Die reguläre jordanische Armee schlug im September den Aufstand nieder ( „Schwarzer September“ ), die Palästinenser hatten weder den von ihnen geforderten Sturz des allseits beliebten Königs Hussein ( Husain , 1952–1999 ) noch die Errichtung eines palästinensischen Separatstaates erreicht. Im Gegenteil , die Angehörigen der PLO wurden im Frühjahr 1971 aus Jordanien vertrieben. Arafat übersiedelte in den Libanon. Der vierte Nahostkrieg oder Jom-Kippur-Krieg ( Oktober 1973 ) begann mit einem ägyptisch-syrischen Überraschungsangriff an einem der höchsten jüdischen Feiertage und bereitete den israelischen Streitkräften empfindliche Anfangsverlus-
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te. Ägyptische Truppen überquerten den Suez-Kanal und durchbrachen die israelischen Sperren , um am Ostufer des Kanals einen Brückenkopf zu bilden. Dieser Achtungserfolg bescherte dem ägyptischen Präsidenten Mohammed Anwar as-Sadat ( 1970–1981 ), der für den ägyptischen Angriff verantwortlich zeichnete , enormen Prestigegewinn , sodass er sich später eine Kehrtwende in der Außenpolitik leisten konnte ( siehe unten ). Gleich nach Beginn der Kampfhandlungen setzten die Erdöl exportierenden Länder als Solidaritätsbezeugung für die vom Nahostkrieg betroffenen arabischen Staaten erstmals das Erdöl als politische Waffe ein : Sie reduzierten nach und nach die Erdölfördermenge um 25 Prozent und lösten damit den weltweiten Ölschock aus. ( Während die Preissteigerung für alle Erdölprodukte den Erdölfirmen sagenhafte Gewinne bescherte , sahen sich die Industriestaaten zu Verbrauchsbeschränkungen wie autofreien Tagen , Geschwindigkeitsreduktionen oder – in Österreich – zur Einführung sogenannter „Energieferien“, also Semesterferien für die Schulen , veranlasst. ) Wenige Tage nach Kriegsbeginn gelangen den Israelis die Überquerung des Kanals und die Errichtung eines Brückenkopfes an dessen Westufer. Darüber hinaus eroberten israelische Einheiten weitere Teile der Golanhöhen und standen bereits 30 Kilometer vor Damaskus , als eine UN-Resolution den Waffenstillstand erzwang und US-Außenminister Henry Kissinger ( 1973–1977 ) ein Truppenentflechtungsabkommen vermittelte. Nach jahrelanger Sperre konnte der Suezkanal wieder geöffnet werden , und UN-Friedenstruppen überwachten eine Pufferzone entlang des Kanals sowie auf den entvölkerten Golanhöhen. Friedensverhandlungen scheiterten vorerst. Ende 1974 gab Israel bekannt , dass es über die Fähigkeit zur Herstellung von Atomwaffen verfüge. Nachdem die von den Ölstaaten den Ägyptern in Aussicht gestellte großzügige Wirtschaftshilfe ausgeblieben war , dafür aber die USA 1976 und 1977 mit jeweils knapp einer Milliarde US-Dollar eingesprungen waren , gedachte Ägyptens Präsident as-Sadat , das Verhältnis zu Israel im Alleingang auf eine neue Grundlage zu stellen , also von der Politik der übrigen arabischen Welt abzukoppeln. Seine ab November 1977 forcierte Friedensinitiative führte zwar zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit anderen arabischen Staaten und zum Ausschluss von der Arabischen Liga , gipfelten aber in einer Friedenskonferenz in Camp David , wo unter Vermittlung des US-Präsidenten Jimmy Carter ( 1977–1981 ) Israels Ministerpräsident Menachim Begin ( 1977–1983 ) und Ägyptens Präsident as-Sadat jene Lösung des Nahostkonfliktes aushandelten , welche am 26. März 1978 zum Frieden von Washington führten. Demgemäß hatte Israel die gesamte Halbinsel Sinai – mit Ausnahme des Gazastreifens – binnen dreier Jahre zu räumen. Wenige Wochen , bevor der letzte israelische Soldat Sinai verlassen hatte , wurde as-Sadat während einer Militärparade am 6. Oktober 1981 von radikalen Moslems ermordet. Sein Vizepräsident Hosni Mubarak folgte ihm im Präsidentenamt ( 1981–2011 ) und führte dessen pro-amerikanische Außenpolitik fort.
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1980 verabschiedete das israelische Parlament das Gesetz , welches Jerusalem zur ungeteilten Hauptstadt Israels sowie zum Regierungs- und Parlamentssitz proklamierte ; der UN-Sicherheitsrat erklärte dieses Gesetz für völkerrechtswidrig. 1981 zerstörte die israelische Luftwaffe den irakischen Kernreaktor Osirak in der Meinung , hier würden Atombomben gebaut werden. Im selben Jahr annektierte Israel die seit 1967 besetzten Golanhöhen – auch dies beeinspruchte der UN-Sicherheitsrat vergebens. Der blutige Bürgerkrieg im Libanon ( 1975–1990 ) hatte Israel schon mehrmals zum bewaffneten Eingreifen veranlasst , weil dort von inzwischen gut gerüsteten palästinensischen Kampfverbänden eine ständige Bedrohung für Nordgaliläa ausging. Im Juni 1982 startete Israel die Invasion in den Südlibanon mit dem Ziel , die Palästinenser aus einer 40 Kilometer breiten , an Israel angrenzenden Zone zu vertreiben ( fünfter Nahostkrieg ). Dabei stießen israelische Kampfeinheiten bis nach Beirut vor. Im Verlauf der monatelangen Kämpfe wurde die militärische und wirtschaftliche Basis der PLO in Beirut und im Südlibanon zerstört , sodass etliche palästinensische Freischärler – etwa 12. 000 Mann – den Libanon schließlich verließen ; eine etwa gleich große Anzahl blieb freilich im Lande und wich lediglich in den von Syrien kontrollierten nördlichen und östlichen Teil der Zedernrepublik aus. Arafat und die PLO-Führung verlegten ihr Hauptquartier vorübergehend nach Tunis. Der Libanon selbst blieb ein zerrissenes Land mit vielen Kriegsparteien und ständig wechselnden Fronten und Bündnissen unter den nicht weniger als 18 verschiedenen Religionen bzw. Konfessionen und deren Milizen. Eine der – schiitischen – Guerillagruppen , die sich erst anlässlich der Invasion Israels formiert hatte und vom Iran unterstützt wurde , nannte sich „Hizbullah“ ( Hisbollah – Partei Gottes ); aus wenigen kampfbereiten Mitgliedern wuchs die Bewegung binnen Kurzem zur stärksten politischen Fraktion und größten islamischen Strömung im Libanon. Die Multikulturalität dieses einst wegen seiner zahlreichen Banken „arabische Schweiz“ titulierten Landes gestaltete sich nunmehr zu dessen Fluch. Als am 14. September 1982 der zum neuen libanesischen Staatspräsidenten gewählte christliche Milizenführer Béchir Gemayel noch vor Amtsantritt einem Sprengstoffattentat zum Opfer fiel , verübten christlich-libanesische Milizen – unter Duldung der israelischen Besatzungsmacht – ein Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung in den beiden Palästinenserlagern Sabra und Schatila ( mindestens 800 Tote ). Die Spirale der Gewalt drehte sich weiter : So ließ eine vom Iran gesteuerte schiitische Gruppe „Front der Rächer von Sabra und Schatila“ im April 1983 auf dem Gelände der US-Botschaft eine Autobombe explodieren ( 59 Tote ), ein weiterer Anschlag auf das israelische Hauptquartier forderte 60 Menschenleben. Trotz massiver militärischer Vergeltungsaktionen der Israelis schien die Lage für alle Beteiligten aussichtslos , denn die Anzahl der von Selbstmordkommandos verübten Terroranschläge nahm ständig zu. Schließlich sah sich Israel angesichts schwerer eigener Wirtschaftsprobleme und einer Hyperinflation 1985 zum Abzug aus den be-
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setzten Gebieten – ausgenommen eine Sicherheitszone im Südlibanon – veranlasst. Damit aber nahmen die Kämpfe der Bürgerkriegsparteien an Intensität nur noch zu , bis 1990 eine allgemeine Ermattung eintrat : Nach 150. 000 Bürgerkriegsopfern und einer zerstörten Beiruter Innenstadt einigten sich die verfeindeten Parteien auf eine neue Verfassung , die eine Ämtertrennung nach strengen konfessionellen Richtlinien erzwang : Seither muss der Präsident ein Maronit , der Premierminister ein Sunnit , der Parlamentspräsident ein Schiit sein , jedes Ministerium und auch sonstige Einrichtungen wie Fernsehsender , ja sogar Sportclubs sind einer bestimmten Religion zugeordnet. Die Libanesen bauten ihr Land wieder auf , Beirut hieß wieder „Paradies des Nahen Ostens“. Syriens Armee sorgte als mit UNO-Mandat ausgestattete Schutzmacht für die Einhaltung des Friedens , polarisierte aber allzu deutlich die Innenpolitik. Als Israel im Jahr 2000 auch den südlichen Grenzstreifen des Libanon räumte , rückte sogleich die pro-iranische und von Syrien unterstützte Kampforganisation Hisbollah nach. Das Autobombenattentat auf den ehemaligen libanesischen Premierminister Rafik Hariri ( 1992–1998 , 2000–2004 ) löste Massenproteste gegen die syrische Besatzungsmacht aus ; auf internationalen Druck hin zog Syrien 2005 alle Soldaten ab. Aber Damaskus hielt im Libanon weiterhin die Fäden in der Hand. Denn in der nun scheinbar souveränen Zedernrepublik stellt die Hisbollah einen unübersehbaren Machtfaktor dar. Sie beteiligt sich seit 2005 an der Regierung , kontrolliert den Südlibanon und bedroht – wie einst die palästinensischen Freischärler – den Norden Israels. Die Entführung zweier israelischer Soldaten im Juli 2006 veranlasste Israel zum bewaffneten Einmarsch ( „ Sommerkrieg“, sechster Nahostkrieg ) mit dem Ziel , die Hisbollah zu entwaffnen ( siehe unten ). Auch Israel kam in der Zwischenzeit nicht zur Ruhe : Ein Autounfall im Flüchtlingslager Jabalia ( nördlich von Gaza ) mit mehreren Toten gab den Anlass zur ersten Intifada ( intifada = sich erheben , abschütteln ), einem Palästinenseraufstand ( „Krieg der Steine“ ) in Westjordanland und im Gazastreifen ( 1987 , 1988 ), dem sich auch die in Israel wohnenden Araber bisweilen durch Streiks anschlossen. Israels Armee ging mit großer Härte gegen Intifada-Kämpfer vor , indem sie deren Häuser sprengte und damit ihnen und ihrer Familie die existenzielle Basis entzog. Dessen ungeachtet vollzog Jassir Arafat eine Kehrtwende seiner Politik und erreichte dadurch eine internationale Aufwertung der PLO. Diese war schon 1975 in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zugelassen worden ; 1988 legte Arafat vor der UN-Generalversammlung einen Friedensplan vor , der erstmals die Anerkennung Israels , das Ende aller Terroraktivitäten und die Bildung eines eigenen Palästinenserstaates vorsah. Im März 1989 wählte ihn der palästinensische Zentralrat einstimmig zum ersten Präsidenten Palästinas. Verhandlungen mit Israel gestalteten sich aber als schwierig , weil sowohl Arafat mit Widerständen in den eigenen Reihen , namentlich mit der radikalen und vom Iran gesteuerten Hamas , kämpfen musste , als auch die israelische Regierung auf die ultraorthodoxen Siedler und andere konservative
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Parteien Rücksicht zu nehmen hatte. Ein Zeitfenster für einen dauerhaften Frieden öffnete sich in der kurzen Regierungszeit von Premierminister Ytzak Rabin ( 1992– 1994 ), der 1993 unter Patronanz des US-Präsidenten Bill Clinton ( 1993–2001 ) einen historischen Handschlag mit Arafat vollzog , den Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland die Teilautonomie ( als Zwischenlösung vor der palästinensischen Eigenstaatlichkeit ) gewährte und für eine endgültige Lösung des Nahostproblems auch die heftigsten Demonstrationen der eigenen Bevölkerung in Kauf nahm. Denn laut Umfragen billigte nur jeder zweite Israeli Rabins Politik. Brief von PLO-Chef Jassir Arafat an Israels Premierminister Ytzak Rabin , 9. September 1993 :140 „Die Unterzeichnung der Grundsatzerklärung markiert eine neue Ära in der Geschichte des Nahen Ostens. In dieser festen Überzeugung möchte ich die nachfolgenden Verpflichtungen der PLO bestätigen : Die PLO erkennt das Recht des Staates Israel an , in Frieden und Sicherheit zu leben. [ … ] Die PLO beteiligt sich am Friedensprozess im Nahen Osten und an der friedlichen Lösung des Konflikts zwischen beiden Seiten und erklärt , dass alle offenen Fragen , die mit dem ständigen Status zusammenhängen , durch Verhandlungen gelöst werden sollen. Die PLO ist der Ansicht , dass durch Unterzeichnung der Grundsatzerklärung [ … ] eine neue Ära der friedlichen Koexistenz eingeleitet wird , eine Ära ohne Gewalt und ohne andere Akte , die den Frieden und die Stabilität gefährden könnten. So verzichtet die PLO darauf , sich des Terrorismus oder jedweder anderer Gewaltaktionen zu bedienen. Sie wird die Verantwortung für alle Gliederungen und das gesamte PLO-Personal übernehmen , um die Einhaltung dieser Verpflichtungserklärung sicherzustellen , Verletzungen dieser Verpflichtung vorzubeugen und gegen Zuwiderhandelnde Disziplinarmaßnahmen ergreifen. Mit Blick auf eine neue Ära [ … ] versichert die PLO , dass diejenigen Artikel und Punkte der Charta , die das Existenzrecht Israels verneinen und alle Punkte der Charta , die im Widerspruch zu den Verpflichtungen dieses Schreibens stehen , in Zukunft wirkungslos und ungültig sind. Dementsprechend wird die PLO dem Palästinensischen Nationalrat die erforderlichen Veränderungen der Palästinensischen Charta zur formellen Bestätigung vorlegen.“
Antwortschreiben des israelischen Außenministers Shimon Peres an Arafat :141 „Als Antwort auf Ihr Schreiben vom 9. 9. 1993 möchte ich Ihnen bestätigen , dass die Regierung Israels im Lichte der Verpflichtungen der PLO , die darin enthalten sind , entschieden hat , die PLO als Vertretung des palästinensischen Volkes anzu140 Aus : Die Presse , 11. September 1993 , S. 5. 141 Ebenda.
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6. MITTLERER UND NAHER OSTEN erkennen und mit der PLO im Rahmen des Friedensprozesses im Nahen Osten Verhandlungen aufzunehmen.“
Radikale Gegner einer israelisch-palästinensischen Aussöhnung verübten sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite zahlreiche blutige Anschläge. Die Weltöffentlichkeit honorierte freilich die Friedensbemühungen , sodass 1994 Arafat , Rabin und Israels Außenminister Shimon Peres ( Staatspräsident seit 2007 ) mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden. Im selben Jahr unterzeichneten Ministerpräsident Rabin und König Hussein von Jordanien den Friedensvertrag von Eilat. Das Königreich ist damit nach Ägypten der zweite arabische Staat , der den vier Jahrzehnte währenden Kriegszustand mit Israel beendete. Wenige Wochen später wurde Ytzak Rabin ermordet. Der Friedensprozess geriet ins Stocken. Neue Friedensgespräche in Camp David im Juli 2000 unter der Patronanz des US-Präsidenten Bill Clinton zwischen Arafat und Israels Regierungschef Ehud Barak ( 1999– 2001 ) scheiterten an Arafats Forderungen , insbesondere hinsichtlich Ostjerusalems als künftiger Hauptstadt eines Palästinenserstaates , der Kontrolle des Tempelberges ( al Aqsa ) und einer Rückkehr von etwa 3,6 Millionen im Libanon , in Syrien und Jordanien lebenden palästinensischen Flüchtlingen. Ein provokanter Besuch des Tempelberges durch den nationalistischen Likud-Chef Ariel Sharon am 28. September 2000 entfachte die zweite Intifada ( „ Al-Aqsa-Intifada“ ) und beendete rasch alle Friedensbemühungen. Tausende Tote , zehntausende Verletzte und die Verwüstung der palästinensischen Autonomiegebiete waren das Ergebnis heftigster Kampfhandlungen , die sogar noch eskalierten , nachdem Ariel Sharon zum Regierungschef gewählt worden war ( 2001–2006 ). Wegen der nicht enden wollenden Serie von Anschlägen ließ Israel ab Sommer 2003 einen 364 Kilometer langen Sperrwall rund um das Westjordanland bauen , ähnlich jenem , der bereits seit Jahren den Gazastreifen nahezu hermetisch vom übrigen Staatsgebiet trennt. Zusätzlichen Konfliktstoff bot der Verlauf des Sperrwalls , da er sich zum Nachteil der Palästinenser nicht überall an die 1967 festgelegte Grenze hielt. Ein „Fahrplan für den Frieden“ ( „Road Map“ ), der unter der Schirmherrschaft der USA , der EU , der UNO und Russlands einen augenblicklichen Gewaltverzicht , ein Ende der israelischen Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten und die Zwei-Staaten-Lösung bis 2005 vorsah , scheiterte an fortgesetzten Selbstmordanschlägen und Gewaltaktionen der Palästinenser , denen automatisch harte israelische Militärschläge und sogar ein kriegsmäßiger Einmarsch im Gazastreifen folgten. Am 11. November 2004 starb Jassir Arafat , ein Politiker , der zwar weltweite Reputation genoss , aber in allen seinen Vorhaben gescheitert ist : Weder ist ihm eine zufriedenstellende Verwaltung der palästinensischen Autonomiegebiete gelungen , noch konnte er einen eigenen Palästinenserstaat geschweige denn eine Rückkehr der Palästinenserflüchtlinge durchsetzen. Zu Arafats Nachfolger als Palästinenserpräsident wurde von der PLO Mahmud Abbas gewählt.
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Im Jahr 2005 ordnete Ariel Sharon die Räumung des Gazastreifens an : 8518 jüdische Siedler in den 21 zwischen 1970 und 2001 errichteten Siedlungen wurden trotz heftigster Proteste evakuiert. Sharons Motiv mochte demografischer Natur gewesen sein , da er angesichts der 1,4 Millionen Palästinenser im Gazastreifen ( und 2,4 Millionen im Westjordanland ) ein allmähliches palästinensisches Übergewicht im eigenen Land befürchtete. Ständige Anschläge der im Südlibanon operierenden und von Teheran gesteuerten Hisbollah-Milizen und zuletzt die Entführung zweier israelischer Soldaten gaben im Sommer 2006 den Anlass für den oben erwähnten sechsten Nahostkrieg : In einem 34-tägigen Waffengang versuchten Israels Streitkräfte , die Hisbollah zu entwaffnen , was ihr trotz des Einsatzes von Streubomben und giftigen Phosphorbomben nicht gelang. Die hoch motivierten Hisbollah-Kämpfer hatten sich schon seit 1990 zu einer gut bewaffneten kleinen Armee formiert ; ihre Taktik im Kampf gegen die Israelis sah eine Kombination von Guerilla-Operationen und konventioneller Kriegführung vor ( „hybrid warfare“ ) und zeitigte den überraschenden Erfolg , dass Israels Armee bald nach Überschreiten der libanesischen Grenze aufgehalten und teilweise sogar zurückgedrängt wurde. Auf libanesischer Seite starben 1. 200 , auf israelischer 160 Menschen. Die erfolglose Militäraktion ruinierte nicht nur Israels Wirtschaft , sondern auch den guten Ruf der israelischen Armee , die erstmals eine Niederlage hinnehmen musste. Nachträgliche Untersuchungen listeten schwere militärische und politische Fehler auf , da der Krieg von Israel ohne klares Kriegsziel und ohne ausreichende Schutzmaßnahmen für die eigene Zivilbevölkerung begonnen worden war. Ein Friedensschluss mit der Hisbollah aber war ebenso wenig möglich wie mit der vom Iran und von Syrien abhängigen radikalen Hamas , die im Juni 2007 nach einem blutigen Staatsstreich im Gazastreifen die Macht übernahm. Das Ergebnis dieses palästinensischen Bürgerkrieges war eine Teilung der palästinensischen Gebiete in ein „Hamastan“ ( Gazastreifen ) und ein „Fatah-Land“ ( Westjordanland ). Israel anerkannte nur die gemäßigte Fatah-Regierung im Westjordanland als Verhandlungspartner , während der Gazastreifen von der Außenwelt abgeschnitten und mehr oder weniger ausgehungert wurde ; ein Wiederaufbau der kriegszerstörten Häuser und Infrastrukturen war daher nicht möglich. Allerdings blühte der Schmuggel durch illegale unterirdische Stollen , die den Gazastreifen mit Ägypten verbanden und ein Versorgungsminimum der Bevölkerung sicherstellten. Die Spirale der Gewalt drehte sich weiter , als Israels Armee im Januar 2009 in den Gazastreifen einrückte , um den ständigen Beschuss israelischer Siedlungen durch selbstgebaute „Kassem-Raketen“ zu verhindern. Der 22 Tage dauernde Gazakrieg ( siebenter Nahostkrieg ) kostete 1340 Palästinensern und 13 Israelis das Leben , endete aber insofern ergebnislos , als der Raketenbeschuss auf israelische Siedlungen nicht aufhörte. Angesichts der Teilung des Palästinensergebietes und der nicht enden wollenden Gewalt scheint ein Frieden zwischen Israel und den Palästinensern
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in weite Ferne gerückt , Verhandlungen mit Mahmud Abbas , dem Präsidenten der Autonomiebehörde und Fatah-Chef , scheitern am fortgesetzten Siedlungsbau der Israelis im Westjordanland sowie in Ostjerusalem , wo auf derzeit 2,5 Millionen Araber 286. 000 , in Ostjerusalem zusätzlich 194. 000 Juden kommen. 2011 hatte es den Anschein , als ob Bewegung in die festgefahrene Nahost-Politik gekommen wäre , denn PLO-Präsident Mahmud Abbas hatte von den Vereinten Nationen die internationale Anerkennung des Palästinenserstaates beantragt : Trotz heftiger Proteste Israels und der USA leistete zumindest die UN-Teilorganisation UNIDO dem Antrag Folge ; dies hatte allerdings nur symbolischen Wert , denn am Status der Palästinenser änderte sich vorerst nichts. Doch neue Chancen taten sich auf , als im Frühjahr 2011 Hamas und Al-Fatah endlich Frieden schlossen und im Dezember 2011 die Hamas der PLO beitrat. Auf anderer Ebene zeigt sich , dass der arabische Frühling ( siehe Kap. 7.D ) die außenpolitische Situation Israels verändert hat. Fast hätte es einen zweiten Gaza krieg bzw. achten Nahostkrieg gegeben , als im November 2012 die israelische Luftwaffe gezielt einen Hamas-Kommandanten tötete. Zunächst schienen die Bilder einander zu gleichen : Die Hamas ließ einen Raketenhagel auf Israel los , Israel mobilisierte die Bodentruppen und bombardierte ausgewählte Ziele im Gazastreifen. Doch dann schalteten sich , anders als knapp vier Jahre zuvor , die Politiker der zu neuem Selbstbewusstsein erwachten arabischen Bruderländer ein. Unter Ägyptens Führung vermittelten sie einen Waffenstillstand und bewiesen , dass sich das diplomatische Kräfteverhältnis verschoben hat , dass die politische Initiative nicht mehr von den USA oder von Europa ausging , sondern von den Mächten der Region. Diese aber sind seit dem arabischen Frühling unberechenbar geworden : Statt des verlässlichen Militärdiktators Hosni Mubarak regierten in Ägypten kurzfristig die Moslembrüder , und statt des berechenbaren Feindes Bashar al-Assad droht im bürgerkriegszerrütteten Syrien das Chaos , in dem sich al-Qaida nahestehende Terrororganisationen etablieren konnten. Seit der Gründung Israels vor über 60 Jahren ist das Bündnis mit den USA die wichtigste außenpolitische Konstante der israelischen Politik. Die USA , wo mit etwa sechs Millionen jüdischen Einwohnern knapp so viele Juden leben wie in Israel selbst , leisten eine jährliche Wirtschaftshilfe von etwa drei Milliarden US-Dollar und verhindern kraft ihres Vetorechts jegliche gegen Israel gerichtete UN-Resolution. Seit 1967 wirkt die AIPAC ( „ American Israel Public Affairs Committee“ ) als einflussreiche Lobby und Sachwalterin der israelischen Interessen in der US-Politik. Sie zählt 250 Mitarbeiter und 100. 000 Mitglieder , ihre Aufgabe besteht darin , den Kongress-Abgeordneten Dossiers und Expertisen zukommen zu lassen , deren Abstimmungsverhalten zu registrieren , Seminare zu veranstalten , zu Gruppenreisen nach Israel einzuladen und Spendengelder für die US-Wahlkämpfe aufzutreiben – und zwar für beide großen Parteien.
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7. ARABISCHE LIGA Der Kalte Krieg bestimmte zeitweise auch die Politik der arabischen Staaten , zumal die Feindschaft mit Israel nahezu automatisch ein Zusammengehen mit der Sowjetunion zur Folge hatte und ein „arabischer Sozialismus“ ( z. B. Baath-Partei , siehe unten ) die Gegnerschaft zur USA unterstrich. Doch auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR kamen der Nahe Osten und Nordafrika nicht zur Ruhe , der IsraelKonflikt dauert fort , und Gegensätze zwischen Laizismus und Fundamentalismus142 bestimmen die Innenpolitik ebenso wie die Opposition zu selbstherrlichen Langzeitdiktatoren. Am 22. März 1945 gründeten Ägypten , der Irak , Jemen ( Arabische Republik Jemen ), der Libanon , Saudi-Arabien , Syrien und Jordanien ( Transjordanien ) in Kairo die „Arabische Liga“. Die bald 22 Mitglieder zählende Staatengemeinschaft sollte die politische , wirtschaftliche , kulturelle und militärische Zusammenarbeit fördern und setzte sich einerseits für die Entkolonialisierung des arabischen Raumes , andererseits für die Errichtung eines arabischen Staates Palästina und zugleich für die Verhinderung eines jüdischen Staates Israel ein. Darüber hinaus sieht sie ihre Aufgabe in der Schlichtung von Streitigkeiten unter den sehr heterogenen arabischen Staaten. Ihr oberstes Beschlussorgan ist der Rat , in dem jedes Mitgliedsland über eine mit Vetorecht ausgestattete Stimme verfügt , ferner gibt es eine Reihe von Unterausschüssen und ein Generalsekretariat. Nur drei Jahre Bestand und daher wenig Gewicht hatte die 1958 ins Leben gerufene „Vereinigte Arabische Republik“ ( VAR ), zu der sich Ägypten , Syrien und später das damalige Königreich Jemen fusionieren wollten. Dem Staatenbund sollten sich auch andere arabische Staaten anschließen. Ein Militärputsch in Syrien führte zur Auflösung der VAR , Ägypten behielt den Namen VAR bis 1971 bei. Ebenfalls 1971 vereinigten sich die sieben kleinen Scheichtümer ( Emirate ) am Persischen Golf , Abu Dhabi , Dubai , Sharja , Ras al-Khaima , Fujaira , Umm al-Kaiwain und Ajman zur Föderation der „Vereinigten Arabischen Emirate“ ( VEA ). In diesem dank des Ölreichtums wirtschaftlich erfolgreichen Bündnis verfügt ein Oberster Rat , bestehend aus den sieben Fürsten , über die legislative , exekutive und judikative Gewalt ; politische Parteien existieren nicht. A ) A RABIEN
Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges wurde die politische Karte Arabiens neu gezeichnet : Der Völkerbund erteilte Frankreich ein Mandat über Syrien , Großbritannien eines über Mesopotamien und 142 Allgemein siehe Peter Heine : Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte im Islam. Freiburg im Br. 2001. – Bassam Tibi : Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik. München 3 1993.
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7. ARABISCHE LIGA
Palästina. 1923 errichtete Großbritannien ein eigenes Mandatsgebiet in Transjordanien , 1926 schuf Frankreich im ursprünglich zu Syrien gehörenden Libanon ebenfalls ein eigenes Mandatsgebiet. Darüber hinaus standen schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Oman , Bahrein und die Emirate ( ehemals Piratenküste ) sowie Kuwait unter britischer Schutzherrschaft. 1918 nahm der vormals von Konstantinopel abhängige Imam Jahja den Königstitel von Jemen an , 1925 schuf Ibn Saud aus der Dynastie der Wahabiten das Königreich Saudi Arabien. In Transjordanien und im Irak übernahmen unter britischer Duldung Herrscher aus der Haschemiten-Dynastie die Regierung. Nach und nach erlangten alle Staaten der arabischen Halbinsel ihre Unabhängigkeit. Den Anfang machte der Irak 1932 , es folgten 1944 Libanon und Syrien , 1946 Transjordanien ( Jordanien ), 1961 Kuwait , 1971 Bahrein und die Vereinigten Arabischen Emirate. Gemeinsam ist allen die Stammesgesellschaft , die ein Regieren entweder nur auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners ( z. B. Jemen ) oder mit harter diktatorischer Gewalt ( z. B. Irak , Syrien ) möglich macht. Gemeinsam ist fast allen der Erdölreichtum ( ausgenommen Syrien , Jordanien , Libanon ), der vor allem den Herrschenden zu ungeahntem Reichtum verhalf , diese jedoch nicht immer dazu veranlasste , das Geld für die Entwicklung des eigenen Landes auszugeben. Die politische Ausrichtung ist unterschiedlich. In Jordanien , Saudi-Arabien , Kuwait , den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Oman konnten sich die Monarchien bis in die Gegenwart halten , weil sie entweder glaubwürdig die Interessen des Volkes oder zumindest einer Mehrheit der Stämme vertraten ( König Abdallah Ibn al Husain II. von Jordanien , 1946–1999 ) oder dank des Erdölsegens die Bevölkerung durch ständige Geldgeschenke still hielten. Tatsächlich bemerkenswert ist der Oman , wo Sultan Qabus bin Said ( seit 1970 ) anscheinend die gesamten Erdöleinnahmen zur Entwicklung der Infrastruktur und für Sozialprojekte investierte – nachdem er seinen extrem rückständigen Vater gestürzt hatte. Kuwait und die Vereinigten Emirate sind ihrerseits so reich , dass für die gewaltigen Bauprojekte und die Verwaltung durchwegs Gastarbeiter herangezogen werden. In Saudi-Arabien sorgt eine die Gesellschaft bestimmende wahabitisch-fundamentalistische Auslegung des Islam dafür , dass das Königshaus vorerst nicht infrage gestellt wird. Im Jahr 1958 wurde der letzte König des Irak entthront und ermordet ( siehe Kap. 6.A ), 1962 stürzte ein Militärputsch den Jemen in einen Bürgerkrieg zwischen Republikanern und Royalisten – Letztere von 50. 000 ägyptischen Soldaten unterstützt – , in dem 1970 die Republikaner die Oberhand gewannen : Der Jemen wurde in eine „Arabische Republik Jemen“ ( Nordjemen , Hauptstadt Sanaa ) und eine „Demokratische Volksrepublik Jemen“ ( Südjemen , Hauptstadt Aden ) geteilt. Nach jahrelangen Grenzkämpfen gelang den beiden Staaten 1990 die Wiedervereinigung , bürgerkriegsähnliche Unruhen prägen aber bis heute das innenpolitische Geschehen : Schon 1986 ist Aden verwüstet worden , 1994 kämpften rivalisierende Armeeeinhei-
A ) ARABIEN
ten aus Nord- und Südjemen gegeneinander , seit 2004 lassen sich separatistische Tendenzen ausmachen , die teils von Saudi-Arabien , teils vom Iran gesteuert werden , zugleich festigte die sunnitisch-islamistische Terrororganisation al-Qaida ihre Positionen. Zu deren Bekämpfung pumpen die USA Milliarden von US-Dollars in das Land , wobei nicht immer klar ist , wohin das Geld tatsächlich fließt. Präsident Ali Abdallah Saleh ( 1990–2012 ) ließ wiederholt die Armee gegen die Aufständischen vorrücken ( zuletzt 2010 ), konnte aber das zerrissene , aufgrund der Stammesstrukturen nur schwer regierbare und extrem rückständige Land nicht befrieden. Sozialistisch-laizistische Diktaturen arabischen Zuschnitts gab es nicht nur im Jemen , sondern auch zeitweise im Irak ( siehe Kap. 6.A ) und in Syrien , allerdings kooperierten die Staaten trotz ihres Bündnisses mit der Sowjetunion keineswegs miteinander , ja selbst zwischen dem Irak und Syrien , in denen jeweils die BaathPartei mit Gewalt die Regierung übernommen hatte ( 1963 in Damaskus , 1968 in Bagdad ), gab es heftige Spannungen. An sich sollte die panarabisch-sozialistische „Hisb al-Baath al-Arabi al Ischtiraki“ ( zu Deutsch : Sozialistische Partei der arabischen Wiedergeburt ) eine gemeinsame , insbesondere anti-israelische Politik verfolgen , die Gegensätze der jeweils herrschenden Clique dominierten jedoch über das Gemeinsame. 1970 putschte sich Hafez al-Assad an die Macht ( Ministerpräsident 1971– 2000 ) und war bemüht , seinem Land eine regionale Großmachtstellung zu sichern. Daher ließ er über 30. 000 Soldaten in den durch Bürgerkrieg ( 1975–1990 ) zerrütteten Libanon einmarschieren und torpedierte alle Friedensbemühungen zwischen Israel und dem Libanon. Innenpolitisch machte er die Minderheit der Alawiten ( sieben Prozent der Bevölkerung ; Moslems mit eigenen Riten und dem Glauben an die Seelenwanderung ) zur herrschenden Elite , indem er ihnen die wichtigsten Ämter , insbesondere die Führung in Armee und Geheimpolizei zusicherte und jegliche Opposition im Keim erstickte. In Erinnerung ist die große Härte geblieben , mit der Assad ( von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt , weil der Kalte Krieg die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte ) gegen aufständische fundamentalistische „Muslimbrüder“ in der Stadt Hama vorging ( 1981 und 1982 ) – die geschätzte Zahl der Ziviltoten schwankt zwischen 12. 000 und 35. 000. Assads Sohn und Nachfolger Bashar al-Assad ( seit 2000 ) setzte die Politik seines Vaters fort. Auch er sorgte dafür , dass sich seine Familienangehörigen an den lukrativsten Betrieben des Staates bedienen konnten und oppositionelle Regungen mundtot gemacht wurden. Die seit dem Sechstagekrieg 1967 ( siehe Kap. 6.B ) andauernde Besetzung der Golanhöhen durch Israel lieferte ihm den Vorwand , den Nahostkonflikt am Köcheln zu halten – einerseits durch Förderung der Hisbollah-Milizen im Südlibanon , andererseits durch Unterstützung der Hamas im Gazastreifen ; da sowohl die Hisbollah als auch die Hamas vom Iran unterstützt werden , gingen auch Damaskus und Teheran – trotz der unterschiedlichen Konfession – eine enge Partnerschaft ein. Insgeheim dürfte Syrien an einem Atomwaffenprogramm gearbeitet haben , das jedoch durch einen
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israelischen Luftangriff auf den Atomreaktor in Al Kibar ( Dair Alzour ) 2007 ein jähes Ende fand. Damaskus verzichtete auf einen militärischen Gegenschlag , wohl wissend , dass ein nicht zu gewinnender Krieg gegen Israel die Stabilität des AssadRegimes gefährdet hätte.143 B ) N ORDAFRIKA
Die arabischen Länder Nordafrikas standen einst unter britischer , italienischer und französischer Kolonialherrschaft. Ägypten hatte , wie erwähnt , bereits 1936 die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangt , Libyen 1951 von Italien , Tunesien und Marokko 1956 sowie Algerien 1962 von Frankreich. Die monarchische Regierungsform konnte sich nur in Marokko halten. Ägyptens König Faruk ( seit 1936 ) wurde 1954 von Oberst Nasser gestürzt ( siehe Kap. 6.B ), der Bey von Tunis durch Habib Bourguiba ( siehe unten ) und Libyens König Idris as-Senussi ( seit 1951 ) anno 1969 von Oberst Muammar al-Gaddafi. Nasser ( bis 1970 ), Bourgiba und insbesondere Gaddafi regierten diktatorisch und zwangen ihren Ländern den „arabischen Sozialismus“ auf ( Verstaatlichungen , Bodenreform , Verbot politischer Parteien ). Nasser und Gaddafi lehnten sich eng an die Sowjetunion an. Gaddafis anti-westliche Außenpolitik veranlasste ihn zu einer unversöhnlichen Haltung gegenüber Israel und später zur Unterstützung zahlreicher Terrororganisationen in der ganzen Welt ( logistische und finanzielle Hilfe , Ausbildungslager ). Als Antwort auf Anschläge des libyschen Geheimdienstes auf die Flughäfen von Rom und Wien verhängten die USA im Januar 1986 ein totales Wirtschaftsembargo – was das Land trotz seines Erdölreichtums in derartige Bedrängnis brachte , dass 110. 000 Gastarbeiter aus Tunesien und Ägypten ausgewiesen werden mussten. Ein Bombenanschlag auf die von amerikanischen Soldaten besuchte Berliner Diskothek „La Belle“ veranlasste die USA zum Luftangriff auf Bengasi und Tripolis. US-Präsident Ronald Reagan sagte am 15. April 1986 : „Heute Abend um 19 Uhr hiesiger Zeit haben die amerikanische Luftwaffe und Marine eine Serie von Anschlägen gegen das Hauptquartier und die terroristischen und militärischen Einrichtungen , die die subversive Tätigkeit von Muammar Gadhafi unterstützen , gestartet. Die Angriffe waren konzentriert und wurden sorgfältig gezielt , um Opfer unter dem libyschen Volk , mit dem wir keinen Streit haben , möglichst klein zu halten. [ … ] Vor ein paar Wochen , in New Orleans , warnte ich Oberst Gadhafi , dass wir sein Regime für jegliche terroristische Attacke gegen amerikanische Bürger haftbar machen würden. [ … ] Die Beweise sind nun schlüssig , dass der ter143 Martin Hofbauer , Thorsten Loch : Nordafrika. Wegweiser zur Geschichte. Paderborn 2011.
B ) NORDAFRIKA roristische Bombenangriff auf die Diskothek „La Belle“ auf direkte Anordnung des libyschen Regimes ausgeführt wurde. [ … ] Heute haben wir getan , was wir tun mussten. Wenn nötig , werden wir es wieder tun. [ … ] Europäer , die sich an die Geschichte erinnern , verstehen besser als die meisten Völker , dass die Beschwichtigung von Übel keine Sicherheit bringen kann. [ … ] Lange bevor ich dieses Amt antrat , hatte Oberst Gadhafi sich an Aktionen des internationalen Terrors beteiligt. [ … ] Jahrelang erfuhr er jedoch keine wirtschaftliche , politische oder militärische Sanktion. Und die Zahl seiner Abscheulichkeiten steigerte sich. [ … ] Ich mache mir keine Illusionen , dass mit der heutigen Aktion über Gadhafis Schreckensherrschaft der Vorhang fällt. Aber diese Mission , gewalttätig , wie sie war , wird eine sicherere Welt für anständige Männer und Frauen näher bringen. [ … ] Gadhafi setzte darauf , dass Amerika passiv bleibt. Er hat sich verrechnet. Ich habe gewarnt , dass es auf der Erde keinen Platz geben sollte , wo Terroristen sich ausruhen und trainieren und ihre tödlichen Künste üben können. Ich habe es ernst gemeint. [ … ]“144
Als direkte Antwort auf diesen schwersten amerikanischen Luftangriff seit dem Vietnamkrieg ließ Gaddafi zwei Raketen auf Lampedusa abfeuern ; sie verfehlten ihr Ziel. Die Weltöffentlichkeit aber verurteilte mehrheitlich das amerikanische Vorgehen , insbesondere versprach die Sowjetunion , ihre Verpflichtungen zur Stärkung der libyschen Verteidigungsfähigkeit zu erfüllen ; den Worten folgten aber keine Taten. Vielmehr geriet Gaddafi zusehends in außenpolitische Isolation. Doch der Terror ging weiter und erreichte 1988 seinen Höhepunkt , als der libysche Geheimdienst ein US-Verkehrsflugzeug über dem schottischen Ort Lockerbie durch eine Bombenexplosion zum Absturz brachte ; 270 Personen ( darunter 189 US-Bürger ) starben. Das Ende des Kalten Krieges beraubte Libyen endlich seines stärksten Verbündeten , und die Wirtschaftssanktionen verfehlten nicht ihre Wirkung. Erst 2003 entsagte Gaddafi dem Terror , um Libyen vom Ruf als „Schurkenstaat“ zu befreien. Er bot hohe Entschädigungszahlungen ( zehn Millionen US-Dollar für jedes Opfer von Lockerbie ) als Gegenleistung für die Aufhebung des Handelsembargos an und wurde auch tatsächlich bis knapp vor seinem Sturz ( 2011 – siehe Kap. 7.D ) wieder in die Staatengemeinschaft aufgenommen. Auch das Urlauberparadies Tunesien , von 1881 bis 1956 französisches Protektorat , hätte nach der Unabhängigkeit eine monarchische Staatsform unter der seit 1705 etablierten Dynastie der Husainiden erhalten sollen , doch setzte der Freiheitskämpfer Habib Bourguiba ( Staatspräsident 1956–1987 ) den letzten Bey von Tunis ( Mohammed VIII. al-Amin ) ab und begründete eine Präsidialrepublik. Die allein bestimmende islamo-sozialistische „Neo-Destur-Partei“ konnte ihre Stellung als Staatspartei allerdings nicht auf Dauer halten , weil sich die ländliche Bevölkerung 144 Aus : Die Presse , 16. April 1986 , S. 2.
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gegen die Kollektivierung wehrte. 1987 setzte Premierminister Zine al Abidne ben Ali den 84-jährigen Bourguiba wegen vorgeblicher altersbedingter Regierungsunfähigkeit ab ( er starb 2000 ) und übernahm dessen Amt ( bis 2011 ). Trotz grassierender Korruption und schamloser Bereicherung des autoritär regierenden Staatspräsidenten und seiner Familie durch gezielte Vergabe von Wirtschaftsmonopolen gilt Tunesien nach der Republik Südafrika als zweitreichstes Land des Kontinents. Wenige Wochen nach Ende des ersten Indochinakrieges ( siehe Kap. 4.D ) schlitterte Frankreich in einen neuen Guerillakrieg ,145 weil die „Grande Nation“ die Zeichen der Zeit – die weltweite Entkolonialisierung – nicht erkennen wollte. Algerien war freilich mehr als eine Kolonie , vielmehr galt das Territorium seit 1848 als Bestandteil des französischen Staatsgebietes. Viele Algerier kämpften daher im Ersten und Zweiten Weltkrieg für Frankreich. Aber bereits 1945 gab es im Raum Sétif erste blutige Ausschreitungen gegen die französische Herrschaft ( 4. 000 Tote ). Der weltkriegserfahrene ehemalige Unteroffizier der französischen Armee , Ahmet Ben Bella ( 1963 Ministerpräsident , 1963–1965 Staatspräsident ), gründete mit Gleichgesinnten die „Front de Liberation National“ ( FLN ) und entfesselte mit ihr am 1. November 1954 den Algerienkrieg. Die FLN ging bewusst brutal gegen die eineinhalb Millionen französischen Siedler und deren Sympathisanten vor , um harte französische Gegenschläge zu provozieren und ein Klima des Hasses zu schaffen ; außerdem infiltrierte sie in Frankreich lebende algerische Industriearbeiter und trug damit den Krieg nach Europa. Nachdem Frankreich 1956 Marokko und Tunesien in die Unabhängigkeit entlassen hatte , verfügte die FLN über „Anlehnungsmächte“ und konnte in ihnen sogar reguläre Truppen aufstellen ( „ Armée de Liberation Nationale“, ALN ). Nichtsdestoweniger errang die bis auf 500. 000 Mann angewachsene französische Algerienarmee militärische Erfolge : 1956 ging ihr Ben Bella ins Netz , 1957 durchkämmte sie Algier und konnte unter Anwendung von Folter die gesamte FLN-Organisation aufdecken und zerschlagen. Aber gerade durch diesen Sieg um Algier schlitterte Frankreich in eine Staatskrise , einerseits , weil die Weltöffentlichkeit die französischen Foltermethoden verurteilte , andererseits , weil die Regierung längst des offenkundig sinnlosen Krieges überdrüssig war und Algeriens Unabhängigkeit ins Auge gefasst hatte. Angeführt von ihrem Oberkommandierenden , General Raoul Salan , putschte 1958 die französische Algerienarmee in Algier gegen die 4. Republik und stellte damit die französische Regierung vor ein scheinbar unlösbares Dilemma. Zur Überwindung der Staatskrise bestellte diese General Charles de Gaulle , der schon nach Kriegsende das Amt des Präsidenten bekleidet hatte ( siehe Kap. 3.E ), erneut zum Präsidenten , statteten ihn mit großen Vollmachten aus und ließ ihn die Verfassung für eine 5. Republik ausarbeiten , welche dann durch ein Plebiszit legitimiert wurde. De Gaulle amtierte als Staatspräsident bis 1969 ( gest. 145 Wolfgang Etschmann : Guerillakrieg. In : Truppendienst 5 , 1986 , S. 490 ff.
B ) NORDAFRIKA
1970 ). Obwohl auch er die Unabhängigkeit Algeriens plante und 1959 den Algeriern Selbstbestimmung zubilligte , ließ er den Krieg mit höchster Intensität weiterführen. In der Zwischenzeit hatte sich der Widerstand innerhalb der französischen Algerienarmee ( unter Führung des zwangspensionierten Generals Salan ) und der nationalistischen Algerien-Franzosen zur Geheimorganisation „Organisation de l’Armée Sécrète“ ( OAS ) formiert. Sie überzog ab 1960 das Land mit Terror , der sich insbesondere gegen die FLN , gegen de Gaulles Algerienpolitik und sogar gegen den Staatspräsidenten selbst richtete ( Putschversuch 1961 ). Nach Verhaftung ihrer Kommandanten löste sich die OAS 1963 auf. Aber schon 1962 war es der französischen Algerienarmee gelungen , die Guerillastreitkräfte vollkommen aufzureiben. Sie feierte einen sinnlosen , mit allzu vielen Opfern erkauften Sieg , denn eine in Frankreich und in Algerien abgehaltene Volksabstimmung brachte die Mehrheit für die Unabhängigkeit Algeriens. Im Vertrag von Evian wurde diese Unabhängigkeit besiegelt und trat am 1. Juli 1962 in Kraft. Die tragische Bilanz des Algerienkrieges lautete : 150. 000 Gefallene unter der ALN bzw. FLN , 17. 400 gefallene französische Soldaten ( darunter 2. 000 Fremdenlegionäre ), 100. 000 Ziviltote und zwei Millionen zwangsweise Umgesiedelte. 20. 000 Kollaborateure hatte die FLN ermordet , 40. 000 die OAS. Nach Abzug der Franzosen flüchteten 800. 000 französische Siedler ( rund 50 Prozent der Algerien-Franzosen ) zurück nach Frankreich ; von den Moslems , die für Frankreich gekämpft hatten , wurden 30. 000 ermordet , 250. 000 gelang die Flucht nach Marokko und Tunesien. Mit Erlangung der Unabhängigkeit proklamierte die Einheitspartei FLN die „Volksdemokratische Algerische Republik“ und wählte Ben Bella zum Staatspräsidenten , der nach dem Muster anderer arabischer Staaten ( Ägypten , Irak , Libyen , Syrien und Tunesien ) die Gesellschaft im Sinne eines „islamischen Sozialismus“ umzuformen trachtete. Ein Putsch brachte Ben Bella von 1965 bis 1980 ins Gefängnis , der neue Staatspräsident , Houari Boumedienne ( bis 1978 ), setzte die Politik des islamischen Sozialismus fort und trieb die durch Erdöleinnahmen finanzierte Industrialisierung ( 80 Prozent Staatsbetriebe ) rascher voran , als dem Staat guttat , denn sie zerstörte die alten Sozialstrukturen und ließ die Preise in die Höhe schnellen. Gleichzeitig trieb die Vernachlässigung der Landwirtschaft die Menschen in die Städte und verursachte dort eine Massenarbeitslosigkeit von Hunderttausenden. Die Unruhen begannen 1980 , zunächst unter den Berbern in der Großen Kabylei , einerseits wegen einer Arabisierungskampagne der Regierung , andererseits wegen Übergriffen islamistischer Fundamentalisten gegen das zu einem Drittel christliche Berbervolk. Seit 1982 musste sich die Regierung endlich gegen die Kommunisten und ihre gescheiterte Wirtschaftspolitik , aber auch gegen die Fundamentalisten abgrenzen. 1989 endete die Alleinherrschaft der FLN , aus den ersten freien Regionalwahlen ging 1990 die „Fundamentalistische Islamische Heilsfront“ ( FIS ) als Siegerin hervor. Damit begann eine neue Serie von blutigen Auseinandersetzungen , zumal
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in Vorbereitung auf die ersten Parlamentswahlen die FIS im Falle ihres Wahlsieges die Umwandlung Algeriens in einen islamischen Staat ankündigte. Noch vor dem Wahlgang verbot 1992 die FLN-Regierung die FIS , verhaftete alle führenden Parteimitglieder und verhängte den Ausnahmezustand. Der nun entbrannte blutige Machtkampf zwischen den Sicherheitskräften , insbesondere der Armee , und islamisch-fundamentalistischen Guerilleros eskalierte zum Bürgerkrieg , der vornehmlich zu Lasten der Zivilbevölkerung ging und an die 200. 000 Todesopfer forderte. An einer anderen Front kämpften die Berber um mehr Autonomie und um die amtliche Zulassung ihrer Sprache. Vergeblich bewaffnete die Regierung 500. 000 Zivilisten , die sich zu Bürgerwehren zusammenfanden , um die willkürlichen Massaker der Islamisten zu verhindern , denn inzwischen kam es auch zu Entführungen und Kämpfen durch kriminelle Banden. Der Armee warf man vor , dass sie letztlich gar kein sonderliches Interesse daran gehabt hätte , dem gewalttätigen Treiben ein rasches Ende zu bereiten , weil sie dadurch ihre Sonderrolle im Staate sichern und ihre illegalen Gewinne am Wirtschaftsleben verdecken könnte. 1999 wurde der ehemalige Außenminister Abdelaziz Bouteflika ( 1963–1979 ) zum Staatspräsidenten gewählt ; seine Politik der Versöhnung durch umfangreiche Amnestieangebote und Begnadigungen zeitigte nur langsamen Erfolg ; die Massaker , Attentate und Entführungen flauten ebenso wie die Kämpfe der Berber bis in die Gegenwart nicht gänzlich ab. 2005 ernannte Bouteflika den inzwischen 86 Jahre alten ehemaligen Staatschef Ahmed Ben Bella ( siehe oben ) zum Vorsitzenden der Nationalen Versöhnungskommission ( Ben Bella starb 2012 ). Da die Terroristengruppen zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend zerschlagen waren , weiteten deren überlebenden Mitglieder nunmehr ihren Aktionsradius auf die angrenzenden Staaten aus und begannen damit , ihren personellen Nachschub unter nordafrikanischen Migranten in Europa zu rekrutieren. Das Gefährliche dieser „al-Qaida im islamischen Maghreb“ ist ihre dezentrale Organisationsstruktur , die ihre gezielte Bekämpfung nahezu unmöglich macht. Obgleich Marokko ebenso wie Algerien seit dem beginnenden 20. Jahrhundert von Franzosen in großem Umfang besiedelt wurde , erlangte das Land gleichzeitig mit Tunesien 1956 die Unabhängigkeit. Der einst von den Franzosen vertriebene Sultan Mohammed Allal Al-Fasi ( 1927–1961 ) durfte angesichts einer sich formierenden „Befreiungsarmee“ und des in Algerien ausgebrochenen Aufstandes 1955 in sein Land zurückkehren und proklamierte als Mohammed V. 1957 das „Königreich Marokko“. Sein Sohn , König Hasan II. ( 1961–1999 ), steuerte einen autoritären Kurs und degradierte das Parlament zum Akklamationsforum ; außenpolitisch hielt er zu West- und Ost gleichermaßen kritische Distanz , ohne sich wie die anderen arabischen Staaten als Feind Israels zu exponieren ; im zweiten Golfkrieg ( siehe Kapitel 6.A ) unterstützte Marokko die Alliierten gegen den Irak. Als Spanien 1975 nach dem Tod des Diktators Franco auf den weiteren Besitz von Spanisch-Sahara ( Westsahara ) zugunsten Marokkos und Mauretaniens verzichtete , ließ der König 1979 an die 350. 000 un-
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bewaffnete Marokkaner in den mauretanischen Teil von Westsahara einmarschieren ( „Grüner Marsch“ ) und annektierte dieses Land. Dadurch entbrannte ein Konflikt mit der „Frente Polisario“ ( „Befreiungsfront für die Unabhängigkeit von Westsahara“ ), welche die „Demokratische Arabische Republik Sahara“ ausrief und mit Unterstützung von Algerien und Libyen die marokkanische Armee bis 1991 in einen langwierigen Guerillakrieg verwickelte , der bis in die Gegenwart andauert.1461999 bestieg Mohammed VI. den Thron. Er leitete umfangreiche Reformen ein , verbesserte die prekäre Menschenrechtssituation und schrieb auch allgemeine Wahlen aus ; die Wahlbeteiligung blieb allerdings angesichts der Machtlosigkeit des Parlaments gering. Des Königs Hauptaugenmerk gilt einerseits dem Kampf gegen den islamistischen Terror , andererseits der Beendigung des Westsahara-Konflikts. 2007 begannen unter UN-Vermittlung die – bis dato ergebnislosen – Friedensgespräche mit der Frente Polesario ; die Rebellen fordern die vollständige Unabhängigkeit , Rabat bietet aber lediglich die Autonomie an und lehnt jegliche Volksabstimmung kategorisch ab. C ) D ER SUDAN
Unter Sudan versteht man einerseits den südlich an die Sahara grenzenden Landschaftsraum zwischen Atlantik und Rotem Meer , andererseits die Republik Sudan , bis zu ihrer Teilung 2011 der flächengrößte Staat Afrikas. Die etwa 42 Millionen Menschen zählende Bevölkerung ist sehr heterogen , sie gliedert sich in viele Gruppen mit 134 Sprachen und höchst unterschiedlichen Ethnien , Religionen und Lebensformen. 1883 begann die britische Kolonialherrschaft , wobei das Land von Ägypten aus verwaltet wurde. Die Faschodakrise des Jahres 1898 regelte die koloniale Aufteilung zwischen England und Frankreich in der Art , dass der Sudan westlich von Darfur bis zum Tschadsee französisches , der Oberlauf des Weißen Nils hingegen britisches Interessensgebiet sein würde. Schon während der britischen Kolonialzeit , die bis 1956 währte , gab es für den Norden und den Süden Sudans getrennte Administrationen. Wenige Jahre nach Erlangung der Unabhängigkeit begannen die Auseinandersetzungen um einen eigenständigen Staat Südsudan , wobei sich sehr unterschiedliche Gruppen mit verschiedenem ethnischen , kulturellen und religiösen Hintergrund für das gemeinsame Ziel zusammenfanden und unter dem Namen „Anya Nya“ ( Schlangengift ) von 1963 bis 1972 einen Guerillakrieg gegen die Zentralregierung in Khartum führten. 1969 putschte sich Generalmajor Jaafar Mohammed an-Numeiri an die Macht , übernahm das Amt des Premierministers , schlug einen kommunistischen Putschversuch blutig nieder und ließ sich 1971 zum Staatspräsidenten wählen ( 1985 gestürzt ). 1972 gelang es ihm , den Bürgerkrieg für elf Jahre zu 146 Martin Pabst : Der „Arabische Frühling“ bringt Bewegung in den Westsaharakonflikt. In : ÖMZ 6/2012 S. 651–661.
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beenden , indem er den drei südlichen Provinzen ( Südsudan ) den Autonomiestatus gewährte. Doch die Unzufriedenheit blieb , weil der Süden weder politische noch wirtschaftliche Gleichberechtigung erfuhr. 1978 wurden im Süden große Erdölvorkommen entdeckt – die Raffinerien sollten jedoch im Norden gebaut werden , sodass der Süden von den erwarteten Einnahmen nur wenig profitieren würde. Im selben Jahr begann der Bau des 350 Kilometer langen Jonglei-Kanals , der den Lauf des Weißen Nils verkürzen und östlich des Sumpfgebietes Sudd , wo der Weiße Nil die Hälfte seines Wassers verliert , vorbeiführen sollte. Abgesehen von der ökologischen Katastrophe , die einer Trockenlegung des Sudd unweigerlich gefolgt wäre und etlichen Stämmen die Lebensgrundlage geraubt hätte , bangte den Völkern im Süden auch vor einer besseren Verkehrsanbindung an und einer stärkeren Kontrollmöglichkeit durch den Norden. Als an-Numeiri 1983 im gesamten Staatsgebiet das mittelalterliche islamische Strafrecht ( Scharia ) einführte , weil er den erstarkenden islamistischen Fundamentalisten entgegenkommen wollte , und als deswegen in den drei nichtmoslemischen Südregionen die Guerillatätigkeit wieder aufflackerte , hob der Präsident deren Autonomiestatus auf und verhängte den Ausnahmezustand. Damit entbrannte der Sezessionskrieg von Neuem. Er dauerte bis zum Jahr 2002 und kostete zwei Millionen Menschen das Leben. ( Die Bauarbeiten am umstrittenen Jonglei-Kanal sind seither eingestellt. ) Alsbald mischten die beiden Supermächte im Sinne des Kalten Krieges mit und überschwemmten das Land förmlich mit Waffen : Der islamische Norden , wo seit 1989 Militärdiktator Omar Hassan Ahmad al-Baschir das Heft in der Hand hält , holte sich die Unterstützung durch die USA , während die im Süden formierte „Southern People’s Liberation Movement / Army“ ( SPLM / A ) Hilfe von der Sowjetunion erhielt und sich an das damals kommunistische Nachbarland Äthiopien ( siehe Kap. 8.C ) anlehnte. Das Ende des Kalten Krieges und auch das Ende des Kommunismus in Äthiopien führten insofern zu einer Umkehr der Bündnisse , als sich al-Baschir 1992 mit dem Iran verbündete und den „Heiligen Krieg“ zur Vernichtung der Gegner im Süden erklärte , während der auf sich selbst gestellte Süden interne Machtkämpfe auszutragen hatte und letztlich dem Druck der USA zur Beilegung des Konfliktes nachgeben musste. Im 2005 geschlossenen Friedensabkommen wurde für 2011 ein Referendum über die Abspaltung des Südens festgelegt. Das international anerkannte Plebiszit vom Januar 2011 brachte eine überwältigende Mehrheit von 98,8 Prozent für die Sezession von Südsudan. Die Erdöleinnahmen sollten 50 zu 50 geteilt werden. Ein anderer , im Jahr 2003 ausgebrochener Konflikt innerhalb der Republik Sudan artete nachgerade in einen Genozid aus : der schleichende Völkermord in Darfur , der im Westen an der Grenze zum Tschad gelegenen Provinz. Das mit drei Millionen Menschen nur spärlich besiedelte Hochland von der Größe Frankreichs konnte sich bis 1885 als unabhängiges Sultanat behaupten , wurde aber dann dem Sudan einverleibt. Die gegenwärtige Krise resultiert aus einer Klimaverschiebung ,
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die die Wüste immer weiter vordringen lässt und die – hellhäutigen – Nomaden zwingt , mit ihren Rinderherden nach Süden zu ziehen. Dort stoßen sie auf ortsansässige – dunkelhäutige – Ackerbauern und Viehzüchter , die auf ihr ohnehin karges , von einer Dornsavanne bedecktes Land nicht verzichten können. Mehrere Dürreperioden verschärften noch die Lage. Im Zuge des Krieges mit Südsudan ließ Präsident Baschir nach 1989 alle nichtarabischen Bevölkerungsgruppen entwaffnen , weil er deren Loyalität anzweifelte. Tatsächlich verfolgten die Darfur-Völker ähnliche Ziele wie jene des Südsudans und wurden 1991 auch in deren Konflikt hineingezogen , als die SPLM / A in Darfur eindrang , aber von regierungstreuen Truppen zurückgeworfen werden konnte. Die Kämpfe gaben den Anlass für bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den arabisch sprechenden Nomaden ( „Janjaweed“ ) und den „afrikanischen“ Ackerbauern , wobei die Regierung in Khartum die berittenen Janjaweed mit Geld und Waffen unterstützt. Die attackierten Völker ( Fur , Zaghawa und Massalit ) griffen aber ihrerseits zu den Waffen : 1992 gründeten sie – mit Unterstützung durch den benachbarten Tschad – die „Justice and Equality Movement“ ( JEM ), im Jahr darauf die „Sudan Liberation Movement / Army“ ( SLM / A ). Beide Organisationen bekämpfen mehr oder weniger erfolgreich Armee- und Regierungseinrichtungen ; 2008 gelang es den JEM-Rebellen sogar , bis nach Khartum vorzudringen. Das änderte aber nichts an der Lage der Darfur-Bewohner , die durch Janjaweed-Terror , Stammeskonflikte und Banditentum bis heute etwa 300. 000 Tote , 2,6 Millionen Binnenflüchtlinge und 250. 000 ins Nachbarland Tschad Vertriebene zu beklagen haben. Im Jahr 2009 erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen den Präsidenten Omar al-Baschir wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur – es war dies der erste Haftbefehl gegen einen amtierenden Präsidenten überhaupt. D ) ARABISCHER FRÜHLING 2011
Weder bescherten der sogenannte „arabische Sozialismus“ noch der autokratische Führungsstil von Herrschern und Diktatoren den arabischen Völkern Entwicklung und Wohlstand. Vielmehr stagnierte vielfach die Wirtschaft trotz hoher Erdöleinnahmen. Die jeweiligen Machthaber bereicherten sich schamlos am Volksvermögen ( „Kleptokraten“ ) und trugen nichts zur Schaffung von Arbeitsplätzen , zur Steigerung des Wohlstandes und zur Etablierung eines qualifizierten Mittelstandes bei. Lange Zeit – insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center – unterstützten die USA und die EU-Staaten die arabischen Potentaten , weil sie in ihnen die Garanten vor einer Machtübernahme der alQaida sahen. Vor dem Schreckgespenst eines islamistischen Gottesstaates schienen den westlichen Regierungen die bewährten arabischen Regime trotz deren gravierender Menschenrechtsverletzungen das kleinere Übel zu sein. Tatsächlich hatten
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sich die Islamisten den Arabern lange Zeit als beste Alternative zu den korrupten herrschenden Cliquen angeboten. Seit dem Ende des Kalten Krieges wuchs jedoch eine Schicht junger Gebildeter heran , die nach adäquater Arbeit verlangen und politische Mitbestimmung fordern , keinesfalls jedoch dem Islamismus Vorschub leisten wollen. Das iranische Beispiel wirkt für sie lediglich abstoßend. Nur in sehr rückständigen Regionen wie im Jemen findet die Vorstellung von einer fundamentalistisch-islamischen Staatsform mit der Scharia als Rechtsgrundlage noch größeren Anklang. Die moderne arabische Jugend setzt hingegen nicht mehr auf den Islamismus , sondern auf eine moderne Demokratie , die ihre Lebenschancen deutlich verbessern würde. Und sie ist mit den modernsten Kommunikationsmedien wie Facebook oder Twitter vertraut , sodass amtliche Zensoren deren Aufrufe zu gemeinsamen Aktionen kaum mehr unterbinden können. Unter solchen Voraussetzungen begann der „Arabische Frühling“.147 Ob sich die – wie unten zu zeigen sein wird – blutig erkämpften liberalen Werte und demokratischen Staatsmodelle auf Dauer behaupten werden , bleibt jedoch im Ungewissen. Denn unter der ländlichen , wenig gebildeten Bevölkerung fanden die von den bisherigen Diktatoren unterdrückten Muslimbrüder großen Anhang : Bis 2011 war die politische Herrschaft der Muslimbrüder auf die Hamas im Gazastreifen beschränkt ( siehe Kap. 6.B ); die Revolution verhalf dieser Bewegung dann in Ägypten und Tunesien zum Durchbruch. Die Muslimbruderschaft war im Jahr 1928 von Hassan al-Banna ( 1906–1949 ) mit dem Zweck gegründet worden , der Moderne zu entsagen und zum Ur-Islam zurückzukehren. Ideologisches Ziel der Muslimbrüder ist die globale islamische Revolution , das Mittel zur Erreichung des Zieles ist der Märtyrertod im „Dschihad“ ( Heiliger Krieg ), die vordringlich zu bekämpfenden Feinde sind die Juden. Heute geben sich die Muslimbrüder gemäßigt , doch fürchtet man nicht nur im Westen , sondern auch in der arabischen Welt , dass sie irgendwann ihr wahres Gesicht zeigen könnten. Den Anfang machte Tunesien , das trotz vergleichbar guter Wirtschaftsdaten große Defizite hinsichtlich Demokratie und Meinungsfreiheit aufwies. Als problematisch zeigte sich , dass das Regime nichts gegen die hohe Arbeitslosigkeit unternahm und insbesondere der gebildeten Jugend ( 30 Prozent Arbeitslosigkeit der 15bis 29-Jährigen ) keine Zukunftsaussichten bot. Langzeitpräsident Zine al-Abidine Ben Ali ( 1987–2011 ) ließ unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit jeglichen Protest im Keim ersticken ; tatsächlich verhinderte er dadurch den Aufstieg der Islamisten , zugleich förderte er aber auch die schamlose Bereicherung seiner Familie. Als im Dezember 2010 ein arbeitsloser Jungakademiker ( Mohamed Bouazizi ), der mit einem fahrenden Gemüseladen sein Auslangen zu finden trachtete , das von der korrupten Polizei geforderte Schutzgeld nicht zahlen konnte und sich aus Protest 147 Annette Großbongardt , Norbert F. Pötzl ( Hgg. ): Die neue arabische Welt. Geschichte und politischer Aufbruch. München 2011.
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mit Benzin übergoss und selbst verbrannte , deuteten dies die unzufriedenen Massen als Fanal zum Sturz der Regierung. Anfängliche Proteste weiteten sich zu Großdemonstrationen aus , und als sich die Armee weigerte , gegen die Demonstranten vorzugehen , brach das Regime zusammen. In zwei gerichtlichen Schnellverfahren ( Juni und Juli 2011 ) wurden zunächst Ben Ali und seine Frau wegen Diebstahls sowie unerlaubten Besitzes von Bargeld und Schmuck zu je 35 Jahren Gefängnis verurteilt , zusätzlich erhielt der nach Saudi-Arabien geflüchtete Diktator noch eine 15-jährige Haftstrafe wegen Waffen- und Drogenbesitzes. Auch nach dem Sturz der Regierung folgten noch zahlreiche Demonstrationen , denn nach wie vor herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit und Korruptionsanfälligkeit der staatlichen Funktionsträger. Insgesamt hatte der tunesische Aufstand 219 Tote und 510 Verwundete gekostet. Die ersten Wahlen im Oktober 2011 bescherten den gemäßigten Islamisten ( „Ennahda“, d. i. „Erwachen“ ) den Sieg , im Dezember legte der ehemalige Dissident und nunmehrige Staatspräsident Moncef Marzouki seinen Amtseid ab. Anfang 2013 gingen die Tunesier wieder auf die Straße : Fortschrittliche , Gebildete und Liberale fürchten , dass ihnen die revolutionären Errungenschaften gestohlen werden , dass die islamistische Regierungspartei Ennahda auf schleichendem Weg den sogenannten „Gottesstaat“ einführen will. Anlass für die Proteste mit anschließendem Generalstreik war die Ermordung des laizistischen Oppositionspolitikers Chokri Belaid ; die Spannung wuchs , als im Juli 2013 abermals ein liberaler Politiker ( Mohammed Brahmi ) von radikalen Moslems ermordet wurde und oppositionelle Abgeordnete das Parlament verließen , um eine Gegenregierung zu bilden. Auch in Ägypten suchten viele Jugendliche eine adäquate Arbeitsmöglichkeit , fanden aber keine ordentliche Beschäftigung. Nach dem Beispiel des jungen Tunesiers verbrannte sich Anfang Januar 2011 auch in Kairo ein Mann , der sich von der Obrigkeit ungerecht behandelt fühlte. Dies gab auch hier den Anlass für eskalierende Demonstrationen , in denen sich der Wut der Ägypter über hohe Lebensmittelpreise , Arbeitslosigkeit und Korruption der herrschenden Elite artikulierte. Zentrum des 18-tägigen Aufstandes war der Kairoer Tahir-Platz , den Hunderttausende besetzt hielten , bis die Militärführung – in Absprache mit den USA – den greisen Präsidenten Hosni Mubarak absetzte. Anfang August 2011 wurde der Prozess gegen Hosni Mubarak eröffnet. Die Revolution hatte 846 Menschenleben und über 6. 000 Verletzte gefordert. Doch auch in den Folgemonaten wurden die Demonstrationen fortgesetzt , weil viele Ägypter erkannt hatten , dass das Militär lediglich seinen obersten Anführer fallen gelassen hatte , die alte Herrschaftsclique unter Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi aber die Macht unter geändertem Namen beibehielt. Zeichen dafür gab es genug – so wurde gezielt Chaos verbreitet , indem beispielsweise fanatische Moslems ( vermutlich von Saudi-Arabien unterstützte Salafisten ) gegen Kopten gehetzt wurden. Zahlreiche Tote waren die Folge , und die Streitkräfte konnten ihre Machtposition stärken. Beunruhigend wirkte auch das zögerliche Vorge-
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hen der Justiz gegen jene , die den Tod von Demonstranten zu verantworten hatten , während gleichzeitig die Sicherheitskräfte wie zu Zeiten Mubaraks mit unnötiger Härte gegen die Demonstranten vorgingen und es immer wieder Tote gab. Bei den Parlamentswahlen Anfang 2012 triumphierten die islamischen Parteien , insbesondere konnte die langjährige Oppositionsgruppe der Muslimbruderschaft große Erfolge erzielen , zumal sie seit Jahrzehnten gut funktionierende Parteistrukturen aufgebaut hatte. Die zweitstärkste islamistische Partei , die radikale salafistische Nour-Partei , hatte großzügige Geldspenden aus Katar und Kuwait erhalten und war dadurch in der Lage , in den Armenvierteln Kairos karitativ wirksam zu werden ; die Slumbewohner belohnten diese Hilfe durch ihr Wahlverhalten. Die Lage blieb gespannt , der Militärrat wollte seine Macht nicht abgeben und ließ auch noch im Frühjahr 2012 auf Demonstranten auf dem Tahir-Platz schießen , zugleich aber ist ihm durch die Partei der Muslimbruderschaft ein mächtiger Konkurrent erwachsen. Die ersten Präsidentschaftswahlen ( Juni 2012 ) gewann denn auch der Kandidat der Muslimbrüder , Mohammed Mursi , der es zur Überraschung der Weltöffentlichkeit wenige Wochen nach Amtsantritt wagte , den Militärrat zu entmachten , indem er den bisher allmächtigen Oberkommandierenden der Streitkräfte , Feldmarschall Tantawi , sowie Generalstabschef Sami Enan ihres Amtes enthob. Ende 2012 peitschte Mursi trotz heftigster Proteste der Opposition einen von den Muslimbrüdern diktierten Verfassungsentwurf durch , der dem Land weder Stabilität noch Frieden bringen konnte , denn die Rechte der Kopten ( zehn Prozent der Bevölkerung ), der Frauen und der Liberalen fanden keine Berücksichtigung. Angesichts einer Wahlbeteiligung von lediglich einem Drittel der Stimmberechtigten votierten de facto nur 20 Prozent für diese Verfassung. Nach nur einem Jahr hatte Mursi das Land mehr oder weniger zugrunde gerichtet ; Rechtsunsicherheit und überbordende Kriminalität , Preissteigerung , Wirtschaftsrückgang und Arbeitslosigkeit trieben wieder Tausende auf den Tahir-Platz in Kairo , bis die Armee am 4. Juli 2013 in einer zweiten Revolution Mursi absetzte , gemeinsam mit zahlreichen Funktionären seiner Partei in Verwahrung nahm und eine provisorische Regierung installierte. Armeechef Abdel Fattah al –Sisi wird zwar von einem Teil der Bevölkerung bejubelt , aber er riskiert einen Bürgerkrieg mit den um ihren Sieg gebrachten Muslimbrüdern und den radikal-islamistischen Salafisten. Weder Armee noch Polizei verfügen über die Fähigkeit oder den Willen , Demonstrationen deeskalierend zu begleiten ; so kostete die gewaltsame Auflösung zweier Protestcamps in Kairo am 14. August 2013 offiziell 523 Menschenleben , davon 43 Polizisten ; inoffizielle Berichte sprechen von mehr als 3. 000 Toten. Im Gegenzug griffen Islamisten christliche Kirchen und Polizeiwachstuben im ganzen Land an. Weitere Zusammenstöße in den folgenden Tagen kosteten jeweils mehrere Dutzend Tote. Die Militärführung beweist mit ihren Aktionen , dass sie die Islamisten förmlich zur Radikalisierung drängt , um sie dann endgültig zerschlagen zu können. Vorerst kann sie mit der Zustimmung der meisten liberal denkenden Ägypter
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rechnen ; der in der Übergangsregierung von Präsident Adly Mansour als Vizepräsident und liberales Aushängeschild eingesetzte ehemalige Chef der Internationalen Atomenergiekommission ( IAEA ) und Friedensnobelpreisträger ( 2005 ), Mohammed ElBaradei , trat allerdings nach dem angerichteten Blutbad zurück , denn er wollte nicht Handlanger einer zu erwartenden neuen Militärdiktatur werden. Libyens „Revolutionsführer“ Gaddafi ( seit 1969 ) hielt sich länger an der Macht als jeder andere arabische Diktator. Im Februar 2011 kam es zu ersten Demonstrationen von Regimegegnern , die blutig niedergeschlagen wurden. Daraufhin verhängten die UNO , die EU und die USA erste Sanktionen. Erbitterte Kämpfe im März veranlassten den UN-Sicherheitsrat zur Einrichtung einer Flugverbotszone : Die Luftwaffen von Frankreich , den USA und Großbritannien nutzten das UN-Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung , um im Rahmen der NATO in die Kampfhandlungen einzugreifen. Zum Einsatz von Bodentruppen kam es nicht – man wollte den Fehler , der im Irak begangen worden war , nicht wiederholen. Da Gaddafi immer mehr in Bedrängnis geriet , heuerte der Diktator schwarzafrikanische Söldner an , auch animierte er seine Soldaten zu gezielten Vergewaltigungen. Anfang Juli 2011 rief er zum „Heiligen Krieg“ auf und formierte Einheiten von „Gotteskriegern“, die gegen die Kreuzritter ( gemeint : die NATO ) und gegen die Verräterbanden ( gemeint : die Rebellen , die sich zum „Nationalen Sicherheitsrat“ konstituiert hatten ) kämpfen sollten. Dennoch geriet Tripolis im August in die Hände des Nationalen Sicherheitsrats , der von der Staatenwelt längst als legitimer Vertreter Libyens anerkannt worden war. Am 20. Oktober 2011 ereilte Gaddafi nach 42 Regierungsjahren sein Schicksal : Er wurde bei der Flucht aus seiner Heimatstadt Sirte , wo er sich zuletzt verschanzt hatte , ergriffen und von den Rebellen gelyncht. Die Kämpfe kosteten insgesamt 50. 000 Menschenleben. Ein nationaler Übergangsrat ( „NTC“ ) versucht nun , ein neues Libyen aufzubauen , was insofern kein leichtes Unterfangen ist , als hunderte verschiedene Rebellenfraktionen autonom gegen Gaddafi gekämpft hatten und nun entwaffnet werden müssen. Auch zwei Jahre nach dem Sturz des Diktators kommt es immer wieder zu Gewaltexzessen , wobei immer deutlicher der Hass zwischen Säkularen und Islamisten ( Muslimbrüder ) zum Ausdruck kommt. Gaddafis Sturz hatte noch ein Nachspiel , denn im unübersichtlichen Grenzgebiet zwischen Algerien , Mauretanien und Mali konnten sich diverse Terrororganisationen und Jihadisten , die von Schmuggel und Entführungen leben , rechtzeitig am Waffenarsenal des libyschen Diktators bedienen. So auch das Nomadenvolk der Tuareg , das sich zunächst am libyschen Bürgerkrieg beteiligt und sich nach dessen Ende in die alte Heimat Mali durchgeschlagen hatte. Dort nutzten sie innere Wirren und den völlig desolaten Zustand der regulären Armee , um 2012 handstreichartig den Norden des dünn besiedelten Wüstenstaates zu erobern und die „Republik Azawad“ auszurufen. Allerdings hielten sich die Tuareg nur wenige Monate an der Macht , dann mussten sie den radikalen Islamisten ( „al-Qaida im Maghreb“ ) wei-
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chen , die von der Stadt Timbuktu ausgehend binnen Kurzem den Norden Malis in Besitz nahmen und einen mittelalterlichen „Gottesstaat“ einrichteten. Das weitere Vordringen der Islamisten bis in die Nähe der Hauptstadt Bamako rief die ehemalige Kolonialmacht Frankreich auf den Plan : Die „Grande Nation“ unterhält noch immer intensive Beziehungen zu den Saharaländern und ist es ihrem Prestige ( und ihren wirtschaftlichen Interessen ) schuldig , ein totales Chaos zu verhindern. Mitte Januar 2013 landeten französische Spezialeinheiten ( insgesamt 2. 500 Mann ) in Bamako ; ihre Aufgabe wird es sein , die malische Armee kriegstauglich auszubilden und mit ihr gemeinsam den Kampf gegen die Islamisten aufzunehmen. Bewaffnete Unterstützung erfahren sie durch reguläre Einheiten aus Nigeria , Togo , Burkina Faso , Niger und Senegal. Viele Franzosen fürchten jedoch , dass ihre Soldaten in ein „zweites Afghanistan“ verwickelt werden könnten. Das droht ihnen jedenfalls der Führer der „Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika“ ( MUJAO ), Omar Hamaha , an. Vorerst konnten die Verbündeten ohne allzu große Schwierigkeiten die Islamisten binnen weniger Tage aus den Städten vertreiben und in den unwegsamen Norden des Landes zurückdrängen. Im von Unruhen gezeichneten Jemen eskalierten 2010 die gewaltsamen Proteste gegen den Langzeitherrscher Ali Abdullah Saleh , der im Mai 2011 bei einem Raketenattentat in der Palastmoschee in Sanaa schwer verletzt wurde. Nach fünf Wochen Spitalsaufenthalt in Saudi-Arabien nutzte er sein erstes öffentliches Auftreten , indem er den Regimegegnern vorwarf , sie hätten ein „falsches Verständnis von Demokratie.“ Jemen versank im Chaos : Der Bürgerkrieg brachte die Wirtschaft zum Erliegen , und da es Erdöl und Diesel nur mehr auf dem Schwarzmarkt gab , konnten die Bauern keine Wasserpumpen zur Bewässerung der Felder betreiben. Die Ernte verdorrte , eine Hungersnot drohte. In zwei südlichen Küstenprovinzen hatte sich inzwischen die al-Qaida festgesetzt. Erst auf Druck der USA verzichtete Saleh schließlich auf die Rückkehr in sein Amt : Anfang 2012 ließ er sich zum Rücktritt und zu Neuwahlen bewegen und vollzog damit im Gegensatz zu Tunesien , Ägypten und Libyen den ersten vertraglich ausgehandelten Machtwechsel im Rahmen des „Arabischen Frühlings“. Die Unruhen dauern aber fort. Syrien liegt geostrategisch derart exponiert , dass die Staatengemeinschaft lange Zeit das ungemein brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegenüber den Regimegegnern lediglich mit Protesten quittierte.148 Zu groß schienen die Komplikationen bei einem möglichen bewaffneten Eingriff zugunsten der Aufständischen zu sein , schließlich zählt Damaskus den benachbarten Iran zu seinen engsten Freunden , außerdem mischt Syrien über die Schiitenmiliz Hisbollah immer noch in Libanons 148 Larissa Bender ( Hg. ): Syrien. Der schwierige Weg in die Freiheit. Bonn 2012. – Samar Yazbek : Schrei nach Freiheit. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution. Mit einem Vorwort von Rafik Schami. München 2012.
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Innenpolitik mit , grenzt an das verfeindete Israel auf der einen und an den Irak auf der anderen Seite und hat eine lange Grenze zum NATO-Mitglied Türkei. Angesichts des fortdauernden Blutvergießens – von März 2011 bis Sommer 2013 etwa 93. 000 Getötete ( 5. 000 bis 6. 000 pro Monat ), 850. 000 Syrer sind bereits vor den Kämpfen ins Ausland geflohen – verfiel Assads Regime schließlich doch internationalen Strafsanktionen , zunächst seitens der EU und der USA , Ende November 2011 – durch Betreiben von Saudi-Arabien und Katar – auch seitens der Arabischen Liga. Nur der Iran hält felsenfest zur Regierung Assad , denn dessen Sturz könnte auch die Herrschaft der Ayatollahs ins Wanken bringen. Allmählich zeigt sich , dass der Bürgerkrieg in Syrien ein Stellvertreterkrieg der Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien ist ; beide Staaten beliefern ihren Interessenspartner mit Waffen ; wie Anfang 2013 bekannt wurde , rüstet der Iran in Syrien regimetreue Milizen in der Stärke von 50. 000 Mann aus. Eine Verurteilung Syriens durch den UN-Weltsicherheitsrat scheiterte Anfang 2012 am Veto Russlands und Chinas : China begründete sein Verhalten mit dem Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten , Russland mit der Angst vor Anarchie in Syrien ; Moskau bangt aber in Wahrheit vor dem Verlust seines weltweit einzigen Marinestützpunktes außerhalb der GUS ( in Tartus ). Beide Großmächte wollen vermeiden , dass die NATO wie in Libyen einen Regimewechsel ermöglicht ( siehe oben ) und die USA auch hier ihren Einfluss geltend macht. Nachdem quasi vor den Augen von UNO-Beobachtern im Mai 2012 regelrechte Massenhinrichtungen stattgefunden hatten , brachen zahlreiche Länder ihre diplomatischen Beziehungen mit dem Assad-Regime ab. Gleichwohl befürchten westliche Staaten die Unterwanderung der Aufständischen durch die al-Qaida , für die ein Kampf der „rechtgläubigen“ Sunniten ( Mehrheit der Syrer ) gegen die „ungläubige“ alawitische Minderheit propagandistisch ausgeschlachtet wird. Was angesichts der humanen Katastrophe in den Medien bestenfalls als Randnotiz vermerkt wird , ist der nicht wiedergutzumachende Schaden an Kulturdenkmälern : So wurden der weltberühmte Basar von Aleppo zerstört , die Kreuzritterburg Crac de Chevalier und die antike Wüstenstadt Palmyra verwüstet. In der einzigen in Nordafrika verbliebenen Monarchie , Marokko , regiert König Mohammed VI. ( seit 1999 ) mit absoluter Gewalt , wobei er sich insbesondere der staatlich überwachten Moscheen bedient , um das Volk unter Kontrolle zu halten. Von den 32 Millionen Einwohnern dieses ärmsten nordafrikanischen Landes ist zwar knapp die Hälfte illiterat , aber unter den jungen Gebildeten keimte auch hier eine Protestbewegung auf , die sich ab 20. Februar 2011 in immer heftigeren Demonstrationen äußerte. Wie in den anderen arabischen Ländern wurden Rufe nach Demokratie , Meinungsfreiheit und nach einem Ende der Korruption laut. Um den revolutionären Unruhen den Wind aus den Segeln zu nehmen , ließ König Mohammed Anfang Juli 2011 ein Referendum für eine neue Verfassung abhalten , die das Regierungssystem in eine „demokratische Monarchie“ umwandeln soll. Nichtsdes-
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toweniger behält er in allen wichtigen Angelegenheiten die letzte Entscheidungskompetenz , daher lehnen die Revolutionäre das Referendum ab. Europa hingegen lobt die neue Verfassung und hofft insgeheim , dass Marokko von Ereignissen wie in Tunesien , Ägypten oder Libyen verschont bleibt.
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Die Staaten Afrikas
Dem „Schwarzen Kontinent“ ist ( ausgenommen die Republik Südafrika ) bis heute der Anschluss an westliche Lebensformen und an eine moderne Industriegesellschaft versagt geblieben.149 Die globale Vernetzung erfolgt höchst einseitig und 149 Herta Däubler-Gmelin , Ann Kathrin Helfrich , Stefanie Hirsbrunner , Eckehard Münzing ( Hgg. ): Entwicklung in Afrika. Fortschritt oder Rückschritt ? Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York / Oxford / Wien 2011. – Inge Grau , Christian Mährdel ,
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kaum zugunsten der afrikanischen Bevölkerung , denn die einseitig auf den Rohstoffexport gegründete Wirtschaft schafft lediglich Abhängigkeiten vom Weltmarkt und seinen Preisschwankungen , jedoch keine ausgewogene wirtschaftliche Verflechtung mit den anderen Weltregionen. Gewiss steigt auch in Afrikas Staaten die Wirtschaftsleistung , nur profitieren die Massen nicht von ihr , vielmehr nimmt die Verarmung und Verelendung zu ; gleichzeitig sinkt die Lebenserwartung , die für Frauen 47 , für Männer 46 Jahre ausmacht. Bei 13 Prozent der Weltbevölkerung bringt es Schwarzafrika nur auf jeweils ein Prozent des Welthandels , des Weltsozialproduktes , aller Internetzugänge und aller Ärzte , hingegen auf 17 Prozent aller Analphabeten und auf 65 Prozent aller HIV-Infizierten. Auch nach 50 Jahren Entwicklungshilfe , die insgesamt geschätzte 500 Milliarden US-Dollar ausmachte , liegen von den 49 Staaten , die von der UNO als die „geringst entwickelten Länder“ bezeichnet werden , 38 in Afrika. Von den 18 „gescheiterten Staaten“ ( „failed states“ ) der Erde befinden sich 12 in Schwarzafrika ( Guinea , Sierra Leone , Liberia , Elfenbeinküste , Tschad , Sudan , Uganda , Zentralafrikanische Republik , Burundi , Demokratische Republik Kongo , Somalia , Simbabwe ). Die Ursachen für das Elend sind vielfältig , sie sind historischer , gesellschaftlicher , geografischer und politischer Natur. Die Berliner Kongo-Konferenz 1884/85 schuf einen Kongostaat unter Hoheit des belgischen Königs und fügte dem „Schwarzen Kontinent“ schweres Leid zu , das bis heute nicht verheilt ist. Denn fortan zogen die europäischen Kolonialmächte beliebige Grenzen , zwangen verfeindete Ethnien , in einem Land zu leben oder teilten Volksgruppen auf mehrere Länder auf. Blutige Sezessionskriege waren bzw. sind nach Erlangung der Unabhängigkeit die Folge ( siehe unten ). Allerdings wurden auch in anderen Erdteilen immer wieder Grenzen verschoben , ohne dass auf die Bevölkerung Rücksicht genommen wäre ; das viel beschworene „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ existiert ja nur auf dem Papier – vergleiche die willkürlichen Grenzziehungen in Europa gemäß den Pariser Vororteverträgen von 1919. Bemerkenswerterweise akzeptierte und legitimierte die 1963 gegründete Organisation Afrikanischer Einheit ( OAU ) die koloniale Aufteilung der Territorien , da diese im Laufe der Zeit neue Identitäten geschaffen hat , welche sich innerhalb genau festgelegter Linien definieren lassen. Analog zu den europäischen Staaten waren politische Gebilde entstanden , die durch eine eigene Hauptstadt , durch ein einheitliches Rechtssystem und durch ein einheitliches Zahlungsmittel gekennzeichnet waren.150 Walter Schicho ( Hgg. ): Afrika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Wien 2000. – Walter Sauer ( Hg. ): Vom Paradies zum Krisenkontinent. Afrika , Österreich und Europa in der Neuzeit. Wien 2010. – Arno Sonderegger , Ingeborg Grau , Birgit Englert ( Hgg. ): Afrika im 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft. Wien 2011. 150 Henning Melber : Koloniale Grenzziehung und afrikanischer ( National- )Staat. In : Sonderegger , Grau , Englert , a. a. O. , S. 27 ff.
8. ENTKOLONIALISIERTES AFRIKA SÜDLICH DER SAHARA
Die vorkoloniale afrikanische Gesellschaft kannte noch keine Stämme , aber vielerlei Abhängigkeiten , die sich von einem Häuptling ( „chief“ ), einem Kult , einem Clan oder einer berufsmäßigen Zunft ableiten ließen. Eindeutige Stammesgliederungen gab es im vorkolonialen Afrika hingegen nicht. Deren Konstruktion vollzog sich erst im Rahmen der Kolonialverwaltung.151 Denn einerseits schufen sich die kolonisierten Völker regionale Identitäten , um ihre Interessen gegenüber der Kolonialmacht und auch gegenüber den Nachbarvölkern durchzusetzen , andererseits benötigten auch die Kolonialherren die Stämme , um die Verwaltung zu erleichtern , indem sie deren Häuptlingen bestimmte Verwaltungsaufgaben ( Steuereintreibung , Zwangsarbeit usw. ) übertrugen. Nicht zuletzt spielten die Kolonialherren oft den einen gegen den anderen Stamm aus , um nach dem Motto „divide et impera“ ihre Herrschaft zu sichern. Die solcherart bewusst aufgebaute Stammesrivalität entlud und entlädt sich in Stammeskriegen , die bis zum Völkermord eskalierten ( siehe unten ). Während des Zweiten Weltkrieges banden die alliierten Kolonialmächte sowohl die afrikanische Agrarproduktion als auch die Rohstoffförderung in ihre Kriegswirtschaft ein. Der Ablieferungszwang für die afrikanischen Bauern wurde vielerorts verschärft , sodass die immer deutlicher sichtbare Ausbeutung und Unterdrückung eine wachsende Verbitterung hervorriefen. Auf dieser fußte ein neuer afrikanischer Nationalismus , den die einheimische gebildete Elite für ihre Interessen zu instrumentalisieren verstand. Junge Intellektuelle , die in Europa studiert und dort nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung und das Wesen der Demokratie , sondern auch den Nationalismus und den Marxismus kennen gelernt hatten , gründeten in ihrer Heimat Parteien und Gewerkschaften und führten den oft gewaltsamen Widerstand gegen die durch den Weltkrieg ohnehin geschwächte Kolonialherrschaft an. Die erste schwarzafrikanische Kolonie , welche die Unabhängigkeit erreicht hatte , war 1956 der Sudan. Ihm folgte 1957 Ghana. 1960 , dem „Jahr Afrikas“, wurden gemäß einer UNO-Resolution ( „alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung“ )17 Kolonien selbstständig. Nachzügler blieben 1975 Angola und Moçambique , 1980 das ehemalige Rhodesien ( Simbabwe ) und zuletzt 1990 Namibia. Die jungen Staaten erlebten zunächst eine große Aufbruchsstimmung ; sie brachen nicht ganz mit der ehemaligen Kolonialmacht , vielmehr schlossen sie mit ihr wirtschaftliche und militärische Verträge in der Hoffnung , dadurch bald selbst den Status eines demokratischen Wohlfahrts- und Industriestaates zu erlangen. Doch der demokratische Frühling währte nicht lange : Einerseits fehlte es an Geld , zumal just in den 1960erJahren die Weltmarktpreise für Rohstoffe nachgaben ; andererseits und vor allem fehlte und fehlt den afrikanischen Gesellschaften der bürgerliche Mittelstand , ohne 151 Andreas Eckert : Nation , Staat und Ethnizität in Afrika im 20. Jahrhundert. In : Sonderegger , Grau , Englert , a. a. O. , S. 40 ff. – Ingeborg Grau : Interaktion afrikanischer Gesellschaften mit dem kolonialen System. In : Grau , Mährdel , Schicho , a. a. O. , S. 164 f.
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den eine Demokratie nicht funktionieren kann. Sehr bald etablierten sich Präsidialregierungen , Militär- oder Einparteiendiktaturen , denen vielfach auch die kommunistischen Einparteiendiktaturen Europas als Vorbild galten. Der Westen unterstützte die autoritären Herrscher , da sie berechenbar waren und der Ausbeutung afrikanischer Bodenschätze nicht im Wege standen.152 Das koloniale Erbe ist mannigfach , die afrikanischen Völker haben viele europäischen Kulturelemente übernommen ( europäische Sprachen und Religion , Geldwirtschaft , Architektur , Technik , Bildungssystem ), die auf den ersten Blick positiv erscheinen. Dazu zählen auch die modernen Infrastruktureinrichtungen , aber gerade diese tragen weniger zur Entwicklung bei als man annehmen könnte : Denn die Eisenbahnlinien wurden so trassiert , dass sie Rohstoffe vom Inneren zur Küste transportieren , nicht aber die Landesteile miteinander verbinden. Wohl trägt Afrika schwer an der Bürde des kolonialen Erbes , aber dieses ist nicht allein schuld am Elend. Anno 1957 wurde Ghana als zweites Land Schwarzafrikas in die Unabhängigkeit entlassen , damals war der junge Staat wohlhabender als Südkorea ; 2010 lag Südkorea auf dem HDI ( Human Development Index ) weltweit auf Platz 26 , Ghana nur mehr auf Platz 135. Mit der einseitig auf Rohstoffexport orientierten Wirtschaft spüren die schwarzafrikanischen Staaten die Schwankungen des Weltmarktpreises besonders hart. Fallende Rohstoffpreise bei gleichzeitiger Bevölkerungsexplosion führten zur Überschuldung. Prestigeträchtige , aber unproduktive Investitionen blockierten die gedeihliche industrielle und technologische Entwicklung : In den 1970er-Jahren stiegen die Lebens- und Produktionskosten , während bei gleichbleibenden Lebensmittelpreisen ( staatliche Preisregelung ) die bäuerlichen Einkünfte fielen ; die Landflucht nahm immer stärkere Ausmaße an , manche Städte expandierten zu Megacities ( Khartum , Kinshasa , Lagos usw. ). Ab etwa 1980 stagnierte die Wirtschaft , und angesichts sich weiter verringernder Rohstoffpreise kam die Industrialisierung nicht mehr voran. Massenarbeitslosigkeit bzw. informelle Arbeit von einem Großteil der Bevölkerung führten zur Verelendung und Gewaltbereitschaft der Bevölkerung. Angesichts der geringen Kaufkraft – knapp die Hälfte der Afrikaner südlich der Sahara lebt heute von weniger als einem US-Dollar pro Tag – kann sich einerseits kein Sparkapital bilden , sodass auch keine Investitionen möglich sind , andererseits bleibt auch die Produktivität in der Landwirtschaft sehr niedrig. Darüber hinaus bietet Schwarzafrika nur einen kleinen Markt , zumal im Landesinneren die Transportkosten extrem hoch sind. Während des Kalten Krieges sahen sich manche Diktatoren zu marxistischen Wirtschaftsexperimenten veranlasst ; damit führten sie aber die wenigen profitablen Betriebe in den Bankrott , zerstörten jeglichen Prozess einer 152 Walter Schicho : Das Scheitern von Demokratie und Staat. In : Grau , Mährdel , Schicho , a. a. O. , S. 221 ff.
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organischen Modernisierung und trieben die hungernde Bevölkerung in den Bürgerkrieg ( Volksrepubliken in Angola und Moçambique 1975 bzw. 1977 bis 1990 , Republik Kongo 1969 bis 1979 , Äthiopien 1974 bis 1991 , siehe unten ). Robert Mugabe , seit 1980 Regierungschef von Simbabwe , hat im Sinne eines vermeintlichen „wissenschaftlichen Sozialismus“ alle weißen Farmer enteignet und damit die Wirtschaft seines Landes vernichtet ( siehe unten ). Bis um 1990 mussten sich fast alle afrikanischen Staaten der wichtigsten staatlichen Aufgaben entledigen ( Schul- und Gesundheitswesen , Ausbau der Infrastruktur , Minimum an sozialer Fürsorge usw. ). Wie einst die Kolonialmächte übernahmen nunmehr internationale Finanzinstitutionen ( Weltbank , IWF , Banken ) die Kontrolle über die zahlungsunfähig gewordenen afrikanischen Staaten und zwangen ihnen „Strukturanpassungsprogramme“ auf : Es wurden die Währungen abgewertet , staatliche Subventionen gestrichen und die Verwaltung redimensioniert.153 Solcherart konnte zwar die Zahlungsfähigkeit teilweise wiederhergestellt werden , die Probleme der Verarmung und Arbeitslosigkeit eskalierten hingegen. So wurden die 1990er-Jahre zu Jahren des Chaos , der Bürgerkriege und der Gewalt. Ab etwa 2000 tritt in Afrika ein neues Problem auf , das die Versorgung der ortsansässigen Bevölkerung dramatisch gefährdet : das sogenannte „land grabbing“. Große chinesische und indische Agrarunternehmen pachten riesige Flächen fruchtbaren Landes und nützen sie zugunsten ihres Herkunftsstaates ( z. B. in Madagaskar und Uganda ). So wie Robert Mugabe haben auch andere , buchstäblich wahnsinnige Diktatoren ihre Staaten sehenden Auges „gegen die Wand gefahren“. Zu diesen zählen Mobutu Sese Seko von der Demokratischen Republik Kongo ( 1965–1997 ) und Idi Amin Dada von Uganda ( 1971–1979 ), ferner der selbsternannte „Kaiser“ Bokassa aus Zentralafrika ( 1960–1979 ) oder Charles Taylor aus Liberia ( 1979–2003 ) ( alle siehe unten ). Allzu selten kamen auch wirklich „große“ Staatsmänner an die Regierung , wie Nelson Mandela in der Republik Südafrika ( 1994–1999 ), Jomo Kenyatta in Kenya ( 1964–1978 ) oder Moise Tschombe in der Demokratischen Republik Kongo ( 1964/65 ). Mit Ausnahme Mandelas gelang es diesen jedoch nicht , die Weichen für eine nachhaltig positive Entwicklung zu stellen , die auch nach ihrem Tod fortwirkte. Eine entscheidende Ursache für das Elend Schwarzafrikas ist die Korruption. Auf unterer Ebene wird sie angesichts des Mangels an sozialen Einrichtungen vielfach zur Überlebensfrage : Wenn beispielsweise ein Grenzbeamter für das Abstempeln eines Reisepasses dem Einreisenden illegal ein paar US-Dollar abverlangt , so fließt das Geld nicht nur in die eigene Tasche , vielmehr speist es ein soziales Netzwerk innerhalb einer Familie oder eines Clans ; der Beamte ist förmlich zum illegalen Handeln verpflichtet , weil er damit die Aufgaben des Staates übernimmt , der weder für Bil153 Walter Schicho : Von der „zivilisatorischen Mission“ zur „Partnerschaft“. In : Sonderegger , Grau , Englert , a. a. O. , S. 60 ff.
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dung noch für die Kranken- oder Altersversicherung sorgt. Auf oberster Ebene bereichern sich die afrikanischen Machthaber – so wie die einstigen Kolonialmächte – oft auf schamlose Weise am Volksvermögen ( „Kleptokratie“ ); sie empfinden keinerlei Verantwortung für die Bevölkerung , vielmehr tradieren sie die Mentalität der einstigen Häuptlinge , welche die Menschen und Territorien als ihr persönliches Eigentum betrachteten ( und ihre besten jungen Frauen und Männer an Sklavenhändler verkauften oder für den Eigenbedarf zu Sklaven machten ). Zur Absicherung der Macht lassen die Machthaber ihre erweiterte Familie , ihre Heimatregion oder ihre Ethnie an den gestohlenen Gütern ( und Privilegien ) teilhaben. Extreme Kleptokratie und Korruption herrschen seit 1970 in Nigeria , berüchtigte Kleptokraten waren z. B. Idi Amin Dada in Uganda , Mobutu Sese Seko in der Demokratischen Republik Kongo bzw. Zaïre oder Eduardo dos Santos in Angola ( seit 2002 ). Mit der hohen Korruption ist die extreme Kriminalität verbunden , es herrscht vielfach Gesetzlosigkeit , und die staatlichen Sicherheitsorgane arbeiten völlig ineffizient : Vielfach sind sie unterbezahlt und neigen daher selbst zur Kriminalität , oder sie dienen einzig dem Machterhalt des Diktators , nicht aber dem die Sicherheit suchenden Menschen. Oberflächlich betrachtet scheint Schwarzafrika mit seinen schon sechs Jahrzehnte währenden Dauerkonflikten dem Schicksal Mitteleuropas während des Dreißigjährigen Krieges ( 1618–1648 ) zu gleichen. Der endemische Kriegszustand – weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit – frisst die gesamte Entwicklungshilfe auf : Allein zwischen 1990 bis 2005 verzeichnet die Statistik 25 blutige Konflikte , deren Kosten – 284 Milliarden US-Dollar – genau dem Betrag der Entwicklungshilfe jener Zeit entsprachen ; gleichzeitig schrumpfte die Wirtschaft pro Jahr um 15 Prozent. Die Kriegskosten werden aus der Summe von Rüstungsausgaben , zerstörter Infrastruktur und wirtschaftlichen Folgekosten ( Inflation , Verschuldung , Arbeitslosigkeit ) errechnet. Nicht enthalten sind die humanen Kosten wie Tod , Verstümmelung und Demoralisierung einer Bevölkerung , die in diesen Jahrzehnten des Chaos nur die Sprache der Gewalt kennen gelernt hat. Ebenfalls nicht bezifferbar sind die Kosten für die weit über zehn Millionen Außen- und Binnenflüchtlinge. Eine Systematik der afrikanischen Kriege lässt beinahe keine denkbare Kriegsursache aus. Einige Beispiele : Ethnische Säuberungen – Vertreibungen – Genozide : Uganda ( 1972 Vertreibung von 500. 000 Indern ) Äthiopien ( 1980 Umsiedlung der Tigre ; 35. 000 Juden nach Israel ausgewandert ) Ruanda ( 1994 Genozid an Tutsi – eine Million Tote ) Burundi ( 1972 Massaker unter den Hutus – 100. 000 Tote ) Simbabwe ( ab 1998 Enteignung und Vertreibung der Weißen ) Sudan ( ab 2003 Konflikt in Darfur , „Genozid auf Raten“ mit bisher 300. 000 Toten )
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Kalter Krieg – indirekte Intervention der Supermächte Unterstützung der „Frontstaaten“ gegen Apartheidregime in Südafrika und Rhodesien ( 1966–1978 ) sowie Namibia ( 1964–1988 ) durch die UdSSR Bewaffnete Interventionen Kubas zur Errichtung der Volksdemokratien in Angola und Moçambique ( 1975–1988 ) sowie in Äthiopien und Somalia ( 1978–1989 ; gemeinsam mit der DDR ). Daraus resultierten Kriege zwischen Marxisten und Antimarxisten. Sezessionskriege : Kongo ( Katanga / Shaba 1960–1962 ) Äthiopien ( Eritrea 1961–1993 ) Sudan ( Teilung 2011 ) Nigeria ( Biafra 1967–1970 ) Bürgerkriege Republik Kongo ( 1997–2000 ) Kongo ( Zaïre ): Bürgerkrieg ist Dauerzustand ; verlustreichster Krieg seit 1945 in den Jahren 1998–2003 : Beteiligung von acht Nachbarstaaten – fünf Millionen Tote Uganda ( seit 1979 ) Äthiopien ( 1961–1991 ) Liberia und Sierra Leone ( 1989–2003 ) Religiös motivierte Kriege Kenia ( Mau-Mau Aufstand 1952–1956 ) Nigeria ( Haussa = Moslems gegen Ibo = Christen ) Unabhängigkeitskriege Belgisch Kongo ( 1956–1960 ) Angola ( 1961–1975 ) Moçambique ( 1964–1975 ) Namibia ( 1975–1988 ) Willkürliche Rebellion von Stämmen oder religiösen Gruppen Kriege um den Besitz von Rohstoffquellen angeheizt z. B. von „Blutdiamanten“ ( Liberia und Guinea 1991–2003 , Angola 1975– 2002 , Zentralafrika 2013 usw. ) Zu all dem vom Menschen selbst verursachten Leid tragen auch Naturkatastrophen das ihre zum Elend Afrikas bei. Namentlich in der Sahel-Zone kommt es immer
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wieder zu Dürrekatastrophen , die den Ackerbauern ebenso wie den Hirtennomaden die Lebensgrundlage nehmen. So starben in den Jahren 1968–1974 in Niger , Senegal und Obervolta ( heute : Burkina Faso ) an die 500. 000 Menschen , 1984/1985 fielen der Dürre in Äthiopien eine Million zum Opfer , 1998–2000 forderten die Dürrekatastrophen im Südsudan und in Äthiopien über 100. 000 Menschenleben. Die ärgste Hungerkatastrophe seit Ende des Zweiten Weltkrieges ereignete sich 2011 : Mehr als elf Millionen Menschen aus Somalia , Djibuti , Äthiopien , Kenia und Uganda waren betroffen , riesige Flüchtlingsströme bewegten sich in den Süden. A ) S ÜDAFRIKA UND DAS ENDE DER APARTHEID
Der lange Weg zur Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen brachte in den Staaten Südafrikas keinesfalls gleichlautende Ergebnisse : Hat sich in der Republik Südafrika und in Namibia die Geschichte zum Positiven gewendet , so ist in Simbabwe das Gegenteil eingetreten – das einstige Rhodesien gilt heute als gescheiterter Staat ( „failed state“ ). Die Republik Südafrika154 blickt auf eine lange Geschichte zurück , die das große Land schon früh mit Europa verband. Bereits 1652 gründete die Niederländische Ostindien-Kompanie Kapstadt als Proviantstation für ihre Handelsschiffe. Zahlreiche Europäer , insbesondere niederländische Hugenotten , sogenannte „Buren“ ( „ Afrikaander“ ), siedelten sich in der Kapkolonie an. 1806 annektierte Großbritannien die niederländische Kolonie , in den Jahren 1834 bis 1838 zogen etwa 5. 000 Buren nach Norden ( „Großer Treck“ ) und gründeten die Burenrepubliken Natal , OranjeFreistaat und Transvaal. Ständige Kriege mit der autochthonen schwarzen Bevölkerung ( Bantu-Völker ) begleiteten den Alltag in den jungen Republiken , bis sie in den „Burenkriegen“ ( 1899–1902 ) ihre Souveränität an Großbritannien verloren. 1910 erhielt die nunmehrige „Union of South Africa“ das Recht auf Selbstverwaltung , 1931 wurde sie im Rahmen des British Commonwealth in die Unabhängigkeit entlassen. Von diesem Augenblick an erfuhr die vor allem von den Afrikaandern getragene diskriminierende Rassenpolitik eine neue Akzentuierung. Schon in den Jahren 1906 bis 1913 hatte der Rechtsanwalt Mahatma Gandhi ( siehe Kap. 5.A ) vergebens die Massen mobilisiert , um der indischen Minderheit die bürgerlichen Rechte zu sichern. Die systematische Rassentrennungspolitik ( „ Apartheid-Politik“ ) begann 1950 mit dem „Population Registration Act“, dem gemäß jeder Bewohner Südafrikas einer bestimmten „Rasse“ zugeordnet wurde ; man unterschied „Weiße“, „Schwarze“, „Coloureds“ und „Asiaten“. Jeder musste stets einen Ausweis mit sich tragen , in dem die Zugehörigkeit zur jeweiligen „Rasse“ eingetragen war. Alle Nichtweißen wurden in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt , wobei im „Group Areas Act“ 154 Martin Pabst : Südafrika. München 2008.
A ) Südafrika und das Ende der Apartheid
jeder „Rasse“ bestimmte Wohngebiete zugewiesen wurden. Man unterschied nun die „kleine“ von der „großen Apartheid“: Die kleine Apartheid betraf die Rassentrennung im täglichen Leben , wie in Schulen , Krankenhäusern , öffentlichen Verkehrsmitteln und Kirchen , auch verbot sie den Sexualverkehr von Angehörigen unterschiedlicher „Rassen“. Die „Große Apartheid“ sah die getrennten Wohngebiete vor , wobei Schwarze und Coloureds jederzeit umgesiedelt werden konnten , sofern ihre Wohngebiete von Weißen beansprucht wurden. Zunächst wurden für die Schwarzen im Umkreis der Städte sogenannte „Townships“ errichtet , 1959 sah der „Bantu Self-Government Act“ die Errichtung eigener „Homelands“, also scheinbar unabhängiger Staaten für die Schwarzen ( Zulu , Xhosa usw. ) innerhalb der Südafrikanischen Union vor. Tatsächlich wurden zwischen 1977 und 1981 die vier Homelands Transkei , Ciskei , Boputhatswana und Venda gegründet , sie waren aber wirtschaftlich und politisch vollkommen von der Union abhängig und verfügten jeweils auch über kein zusammenhängendes Territorium. Die Homeland-Einwohner mussten nach wie vor in die Republik Südafrika arbeiten gehen , erhielten dort aber als nunmehrige Ausländer weniger Lohn. Die Apartheidpolitik initiierte im In- und Ausland heftige Proteste : Seit den 1950er-Jahren leistete der ANC ( „ African National Congress“ ) Widerstand ; die Massenproteste blieben nicht immer friedlich , zumal sich ab 1960 – unter dem Einfluss von Nelson Mandela – die militanten Gruppen innerhalb des ANC durchsetzten , sodass es auch zu Gewaltaktionen kam. Mandela wurde 1964 verhaftet und zu lebenslanger Haft auf der Gefängnisinsel Robben Island verurteilt. In seiner Verteidigungsrede sagte Nelson Mandela am 20. April 1964 : „[ … ] Ich lege Wert auf die Feststellung , dass die Anschuldigungen des Staates , der Kampf in Südafrika finde unter dem Einfluss fremder Mächte oder des Kommunismus statt , zur Gänze falsch sind. Alles , was ich getan habe , habe ich als Individuum und als Führer meines Volkes aufgrund meiner Erfahrungen in Südafrika und meiner stolzen afrikanischen Herkunft unternommen , keineswegs aufgrund irgendeines Einflusses von außen. [ … ] Ich leugne keineswegs , dass ich Sabotageakte geplant habe. Ich habe sie keinesfalls in einem Geist der Verantwortungslosigkeit geplant oder weil ich irgendeine Neigung zur Gewalt habe. Ich habe diese Sabotageakte nach einer nüchternen und ruhigen Beurteilung der politischen Situation vorbereitet , die während vieler Jahre der Tyrannei , Ausbeutung und Unterdrückung meines Volkes durch die Weißen entstanden ist. [ … ] Wir haben uns dafür entschieden , uns dem Gesetz zu widersetzen. In einem ersten Schritt haben wir die Gesetze auf gewaltlose Weise gebrochen. Als dieser Widerstand kriminalisiert wurde und die Regierung Gewaltmaßnahmen gesetzt hat , um die Opposition zu zerschlagen , erst dann haben wir Gewalt mit Gewalt beantwortet. [ … ] Vier Formen der Gewalt sind möglich : Sabotage , Guerilla-Krieg , Terrorismus und offene Revolution. Wir haben uns für die ersten
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8. ENTKOLONIALISIERTES AFRIKA SÜDLICH DER SAHARA Maßnahmen entschieden. [ … ] Sabotage kostet kein Menschenleben und lässt Hoffnung für die Zukunft der Beziehungen zwischen den Rassen aufkommen. [ … ] Ich habe mein ganzes Leben für das afrikanische Volk gekämpft. Ich habe sowohl gegen die weiße als auch gegen die schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich habe die Ideale der demokratischen und freien Gesellschaften , in der alle Menschen in Harmonie und mit gleichen Chancen leben dürfen , hochgehalten. Es ist ein Ideal , für das ich lebe und das wir hoffentlich erreichen werden. Aber wenn es denn sein muss : Ich bin darauf vorbereitet , für dieses Ideal zu sterben.“155
Kritik von außen führte nach einer Volksabstimmung unter den Weißen 1961 zum Austritt aus dem Commonwealth und zur Proklamation der „Republik Südafrika“. 1963 verhängte der UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo , 1974 wurde die Republik Südafrika von der UN-Generalversammlung ausgeschlossen , schon zuvor war dem ANC Beobachterstatus bei der UNO eingeräumt worden. Die internationale Ächtung , permanente Unruhen im Inneren und ständige , wenn auch erfolglose Angriffe der sogenannten „Frontstaaten“ ( Angola , Botswana , Moçambique , Sambia , Simbabwe und Tansania ) zwangen die Regierung ab 1985 , die Bestimmungen der „kleinen Apartheid“ nach und nach aufzuheben , zugleich verschärfte sie angesichts wachsender Unruhen die Sicherheitsgesetze. Die Wende erfolgte 1989 mit Amtsantritt von Präsident Frederik de Klerk : Er legalisierte verbotene Organisationen der Schwarzen ( u. a. den ANC ), hob den Ausnahmezustand auf , ließ politische Gefangene wie Nelson Mandela frei ( 1990 ) und beendete schließlich die Apartheid – auch die Homelands wurden wieder aufgelöst. Freie Wahlen 1994 brachten dem ANC 63 Prozent der Stimmen , ihr Anführer Nelson Mandela wurde erster schwarzer Ministerpräsident ( bis 1999 , gest. 2013 ). Ihm folgten Thabo Mbeki und Jacob Zuma ( ab 2009 ), beide vom ANC. Heute steht das neben Tunesien reichste Land Afrikas vor enormen gesellschaftlichen Problemen : Die sozialen Spannungen zwischen Schwarzen und Weißen führen immer wieder zu Unruhen und Streiks , welche durch die Misswirtschaft und Korruption der ANC-Regierung stets neue Nahrung finden. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot der Schwarzen , vor allem aber die weltweit höchste HIV-Infektionsrate ( täglich 1. 000 Tote ! ) begründen die wachsende Unzufriedenheit. Während trotz aller Schwierigkeiten die Republik Südafrika einen Hort der Stabilität im südlichen Afrika darstellt , müssen die Einwohner des benachbarten Rhodesien , heute Simbabwe , miterleben , wie ein Diktator sein Land systematisch zerstört. In den Jahren 1889 und 1890 hatte die „British South Africa Company“ unter dem Kolonialpolitiker Cecil Rhodes Südrhodesien besetzt. In der Folgezeit kamen Nordrhodesien ( heute : Sambia ) und Njassaland ( Malawi ) hinzu , die drei Kolonien 155 Aus : Gerhard Jelinek : Reden , die die Welt veränderten. Salzburg 2009 , S. 225 ff.
A ) Südafrika und das Ende der Apartheid
wurden 1953 in der „Zentralafrikanischen Föderation“ zusammengefasst. 1963/1964 erhielten Sambia und Malawi die Unabhängigkeit. Rhodesien , das schon 1930 strikte Apartheidbestimmungen eingeführt hatte , erklärte gegen den Willen Großbritanniens 1965 einseitig die Unabhängigkeit. Diese wurde allerdings international nicht anerkannt und vom UN-Sicherheitsrat mit Wirtschaftssanktionen bestraft. Zugleich mit der Unabhängigkeitserklärung begannen Guerillakämpfe im Inneren und Angriffe von außen durch die „Frontstaaten“ ( Sambia , Tansania , ab 1975 auch Moçambique ). Als der Ministerpräsident der weißen Minderheitenherrschaft , der Farmer und ehemalige Jagdflieger Jan Douglas Smith ( 1964–1979 ), erkennen musste , dass er dem inneren und äußeren Druck nicht mehr standhalten konnte , hob er 1978 die rassendiskriminierenden Gesetze auf und vereinbarte mit dem gemäßigten schwarzafrikanischen Politiker und Methodisten-Bischof Abel Tendekayi Muzorewa eine neue Verfassung , die für die schwarze Mehrheit 72 von 100 Parlamentssitzen vorsah. 1979 wurde Muzorewa erster schwarzer Premierminister. Er führte sein Land kurzfristig unter die Herrschaft Großbritanniens zurück und ließ unter Aufsicht eines britischen Gouverneurs Wahlen abhalten. Wahlsieger wurde Robert Gabriel Mugabe , Anführer der von Moçambique aus operierenden Guerillatruppe ZANU ( „Zimbabwe African National Union“ ). Im April 1980 wurde Rhodesien , nunmehr Simbabwe , als letzte britische Kolonie Afrikas in die Unabhängigkeit entlassen. Im Lande kehrte jedoch noch lange kein Frieden ein , weil sich die Guerilla gruppen nur zögerlich in die nationale Armee integrieren ließen und Anhänger und Gegner Mugabes einander blutige Gefechte lieferten. Außenpolitisch schloss sich Mugabe der Bewegung der Blockfreien an , innenpolitisch schonte er vorerst die Besitzungen der Weißen , um auch ausländische Investoren zu gewinnen. Doch behinderten die wachsende Korruption der Führungselite sowie der verschwenderische Stil des Präsidenten , gepaart mit einem zunehmend autoritären Kurs , die gedeihliche Entwicklung des Staates. Die Exportwirtschaft kam zum Erliegen , und der Fremdenverkehr brach zusammen , Inflation und eine Arbeitslosigkeit von über 50 Prozent steigerten die Unzufriedenheit. Um von den selbstverschuldeten Fehlern abzulenken , verschrieb sich Mugabe der Politik des „wissenschaftlichen Sozialismus“, versprach eine Landreform und förderte ab 1998 die entschädigungslose Enteignung der weißen Großfarmen durch sogenannte Kriegsveteranen. Zahlreiche Menschen , weiße Farmer wie auch schwarze Landarbeiter , wurden bei diesen Gewaltaktionen ermordet. Im Laufe weniger Jahre verloren etwa 4. 000 der insgesamt 4. 500 Großfarmer ihren Besitz , worauf die Wirtschaft Simbabwes völlig zusammenbrach , zumal gleichzeitig auch weiße Bergwerksbesitzer enteignet worden waren. Im einstigen landwirtschaftlichen Überschussgebiet brach Hunger aus. Hinzu kam 2005 eine humanitäre Katastrophe , als der Präsident etwa 700. 000 Slumbewohner und Straßenhändler aus der Hauptstadt Harare vertreiben ließ. Angesichts einer Arbeitslosigkeit , die inzwischen 80 Prozent der Bevölkerung
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erfasst hatte , setzte eine Massenflucht von drei Millionen Menschen ( bei einer Gesamtbevölkerung von 13 Millionen ) in die Republik Südafrika ein , wo sie jedoch unter den dort lebenden Schwarzen auf wenig Gegenliebe stießen , weil sie das Lohnniveau drückten ; es kam zu blutigen Ausschreitungen. 2006 hatte die Inflation die 1. 000-Prozent-Grenze überschritten , bis 2007 galoppierte sie auf 3. 000 Prozent , um bis Ende 2008 auf 89,7 Trillionen Prozent zu explodieren. Seither gibt es keine eigene Währung mehr , es werden nur mehr Devisen ( US-Dollar ) als Zahlungsmittel anerkannt. Mugabe verbot sich indes jegliche Kritik , schränkte die politischen Freiheiten ein und ignorierte 2008 seine Wahlniederlage ; Parteilokale des Wahlsiegers ( Morgan Tsvangirai ) wurden gestürmt , Oppositionelle verhaftet und gefoltert ; es kam zu neuerlichen Farmbesetzungen sowie zu Übergriffen auf Frauen , Kinder und Alte. Nichtsdestoweniger musste sich Mugabe anlässlich fortdauernder Unruhen 2009 zur Bildung einer Koalitionsregierung mit seinem erbitterten Gegner Tsvangirai bereit erklären. Die wirtschaftliche Situation bessert sich seither , dank der nun offiziell anerkannten Dollarwährung hält sich auch die Inflation in Grenzen. Politisch bleibt die Lage aber weiterhin trist , und die Menschenrechtssituation verschlechtert sich sogar kontinuierlich , denn Mugabe diktiert weiterhin das Geschehen. Im Sommer 2013 konnte er dank manipulierter Wahlen seine bereits 33 Jahre währende Herrschaft abermals verlängern. Das negative Vorbild von Simbabwe hat bis heute die Regierung von Namibia daran gehindert , die etwa 4. 000 weißen Farmer , welche zwei Drittel der nutzbaren Fläche bewirtschaften , zu enteignen. Man geht hier vorsichtiger vor und animiert die Schwarzen dazu , den Weißen die Farmen abzukaufen ; tatsächlich haben bisher elf Prozent der Farmen den Besitzer gewechselt. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte hätte freilich eine andere , weit weniger positive Entwicklung erwarten lassen : Die einstige deutsche Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ ( 1884–1915 ) musste nach dem Ersten Weltkrieg an den Völkerbund abgetreten werden , der die Verwaltung an die „Südafrikanische Union“ übertrug. Wenige Jahre nach der Proklamation der „Republik Südafrika“ ( 1961 ) wurde auch in Südwestafrika die Apartheid eingeführt , worauf die UN-Generalversammlung der Republik Südafrika das Mandat über Südwestafrika entzog ( 1966 ) und diesem Land den Namen „Namibia“ gab. Die schon 1960 im Exil gegründete marxistisch orientierte Befreiungsbewegung SWAPO ( „ South West Africa People’s Organization“ ) erhielt von der UNO die Anerkennung als „einzige authentische Vertretung des namibischen Volkes“. Sie kämpfte mit Guerillaaktionen gegen die südafrikanischen Besatzungstruppen und erhielt ab 1975 , nachdem Portugal seine Kolonien Angola und Moçambique in die Unabhängigkeit entlassen hatte , Unterstützung von kubanischen Streitkräften. Nun sah sich die Republik Südafrika genötigt , auch für Namibia die Unabhängigkeit vorzubereiten ; sie hob die Apartheidgesetze auf und förderte die Bildung der verfassunggebenden „Turnhallenallianz“, in der alle eth-
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nischen Gruppen vertreten waren. An den ersten Wahlen 1978 nahm die SWAPO allerdings nicht teil , vielmehr führte sie von Angola aus den Krieg zusammen mit kubanischen Truppen weiter und provozierte mehrmals die Intervention südafrikanischer Truppen. Erst 1988 erklärte sie sich zum Waffenstillstand bereit , weil auch Kuba versprochen hatte , seine Truppen abzuziehen. Neuwahlen bescherten 1989 der SWAPO den überwältigenden Wahlsieg , die Turnhallenallianz erreichte den zweiten Platz ; bis dato stellt die SWAPO das Staatsoberhaupt und den Regierungschef. 1990 erlangte Namibia die Unabhängigkeit im Rahmen des British Commonwealth. Wider Erwarten vollzog sich seither in Namibia ein vorbildlicher Demokratisierungsprozess. B ) ZENTRALAFRIKA UND DIE GESCHEITERTEN STAATEN
Das düstere Bild des kriegs- und krisengeschüttelten Zentralafrika gibt Beispiele , wie der Kalte Krieg und der von Moskau exportierte Kommunismus verarmte Länder restlos zerstörte ( Angola und Moçambique ), wie Bürgerkriege , die in einem Fall sogar die Dimension eines Weltkrieges annahmen , jegliche Entwicklung erstickten und die Bodenschätze zum Fluch werden ließen ( die beiden Kongos ) und wie ein größenwahnsinnig gewordener Diktator seinen Staat sehenden Auges ins Chaos stürzte ( Zentralafrikanische Republik ). Angola und Moçambique ( Mosambik ) erlebten Jahrhunderte hindurch eine parallele Geschichte : In beiden Ländern etablierte sich schon im 16. Jahrhundert die portugiesische Herrschaft , wichtigstes Exportprodukt der beiden Handelskolonien waren bis 1850 nach Brasilien verschickte Sklaven. 1951 erklärte Portugal seine beiden Kolonien zu Überseeprovinzen – zu diesem Zeitpunkt siedelten in Angola etwa 400. 000 , in Moçambique etwa 250. 000 Portugiesen ; die meisten von ihnen haben nach 1975 Afrika verlassen. Schon in den frühen 1960er-Jahren begann in beiden Provinzen der Aufstand gegen die portugiesische Herrschaft : In Moçambique organisierte sich die von der Sowjetunion gelenkte FRELIMO ( „Frente de Libertação de Moçambique“ ) und lieferte der Kolonialmacht einen Guerillakrieg , in Angola kämpften gleich drei Unabhängigkeitsbewegungen gegen Portugal und – im Sinne eines klassischen Stellvertreterkrieges – gegeneinander : Die vom benachbarten Zaïre geförderte FNLA ( „Frente Nacional de Libertação de Angola“ ), die von der Sowjetunion und von Kuba unterstützte MPLA ( „Movimento Popular de Libertação de Angola“ ) und die von der Republik Südafrika abhängige UNITA ( „União Nacional para Independência Total de Angola“ ). Nach der portugiesischen Nelkenrevolution ( 1974 – siehe Kap. 3.E ) entließ Portugal die beiden Überseeprovinzen überhastet in die Unabhängigkeit. In beiden jungen Staaten begann sofort der Bürgerkrieg , weil Kuba jeweils 20. 000 bis 25. 000 Soldaten schickte , die es der MPLA in Angola sowie der FRELIMO in Moçambique erlaubten , die Volksrepublik auszurufen und
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eine marxistische Diktatur zu errichten.156 Antimarxistische Bewegungen , in Angola die von Jonas Savimbi angeführte UNITA , in Moçambique die RENAMO , erhielten massive Unterstützung durch die Republik Südafrika. Insbesondere Savimbi finanzierte seinen Krieg durch den Verkauf von Diamanten ( „Blutdiamanten“ ), die in dem von ihm kontrollierten Landesteil gefördert wurden. Erst 1988 zog Kuba seine Truppen zurück. Von nun an verlief die Entwicklung der beiden Staaten in verschiedene Richtungen : In Moçambique entsagte die FRELIMO dem Marxismus , bekannte sich zu freien Wahlen und zum Mehrparteiensystem und ermöglichte so 1992 das Ende des 16 Jahre dauernden Bürgerkrieges. Seither bemüht sich eine vernünftige Regierung ( nach wie vor von der FRELIMO gestellt ) um den Wiederaufbau und um die Reduktion der Armut , die anfangs 70 Prozent der Bevölkerung erfasst hatte , in der aber gegenwärtig nur noch 40 Prozent leben. 1995 wurde Moçambique als erster Staat ohne historische Verbindung mit Großbritannien in den Commonwealth of Nations aufgenommen. Trotz einiger Schönheitsfehler wie Korruption und Drogenschmuggel wandelt sich das Land zum positiven Vorbild in der Region. Ganz anders Angola : Hier heizten die Rohstofffunde – insbesondere Erdöl und Diamanten – den Bürgerkrieg noch weiter an. Er endete erst 2002 , als Jonas Savimbi im Kugelhagel fiel. Jetzt erst schloss die UNITA Frieden und ließ sich in die reguläre Armee der MPLA integrieren. Die katastrophale humanitäre Situation mit 4,5 Millionen Binnenflüchtlingen ( darunter 100. 000 Kinder ) veranlasste zwar zahlreiche internationale Hilfsorganisationen zur Aufnahme ihrer Tätigkeit , motivierte aber keineswegs die Regierung unter Staats- und Regierungschef José Eduardo dos Santos ( seit 1979 ) zur Investition in die nach 27 Jahren Bürgerkrieg verwüstete Infrastruktur. Obwohl Angola 2006 zum zweitgrößten Erdölproduzenten Afrikas ( nach Nigeria ) aufgestiegen und 2007 OPEC-Mitglied geworden war , leben immer noch etwa 70 Prozent der Bevölkerung von weniger als einem US-Dollar pro Tag. Trotzdem siegte 2008 anlässlich der ersten Parlamentswahlen seit Erlangung der Unabhängigkeit die M PLA unter dos Santos. Dieser Prototyp eines „Kleptokraten“ missbraucht seine Macht ausschließlich zur persönlichen Bereicherung , vernachlässigt Bildungswesen und medizinische Versorgung und glänzt stattdessen mit sinnlosen Prestigeprojekten ( Errichtung des höchsten Wolkenkratzers Afrikas usw. ). Die dadurch entstehenden neuen Arbeitsplätze schaffen aber kaum Beschäftigung für die Einheimischen , vielmehr profitieren ausländische Fachkräfte , namentlich aus der einstigen Kolonialmacht Portugal , von ihnen ; heute ( 2013 ) leben bereits 100. 000 Portugiesen in Angola , weil sie dort im Gegensatz zur krisengeschüttelten Heimat neue Arbeit finden. Nichtsdestoweniger behindern Korruption und Willkürakte des Präsidenten ( z. B. 2010 : entschädigungslose Vertreibung tausender Menschen , um auf deren Wohngebiet eine neue Stadt zu errichten ) die gedeihliche Entwicklung des Landes. 156 Michael Offermann : Angola zwischen den Fronten. Pfaffenweiler 1988.
B ) ZENTRALAFRIKA UND DIE GESCHEITERTEN STAATEN
Ganz besonders negativ verlief die Geschichte im Kongo : Entsprechend den Abmachungen der Berliner Kongokonferenz ( 1884/1885 ) wurde „Kongo Brazzaville“ 1891 französische Kolonie ( heute : Republik Kongo ), während das von Belgien in Besitz genommene „Kongo Leopoldville“ ( heute : Demokratische Republik Kongo ) zum Privateigentum des belgischen Königs erklärt wurde. Beide Kolonien erhielten 1960 die Unabhängigkeit , ihr weiteres Schicksal verlief jedoch auf verschiedenen Bahnen. In der kleineren Republik Kongo ( etwa 3,6 Millionen Einwohner ) etablierte sich eine sozialistische Einheitspartei und proklamierte 1969 die Volksrepublik. Häufige , meist durch einen Putsch ausgelöste Regierungsumbildungen , ständige Unruhen und eine völlig ruinierte Wirtschaft veranlassten 1979 eine Verfassungsänderung , doch auch sie konnte keine Aufwärtsentwicklung initiieren. Zwischen 1997 und 2002 tobte ein Bürgerkrieg , in dessen Folge sogar die Hauptstadt Brazzaville zerstört wurde. Im Hintergrund des mörderischen Treibens stand die Rivalität zwischen der französischen „Elf Aquitane“ und der konkurrierenden US-Gesellschaft „Golf Oil“ um Erdölkonzessionen , sodass hier kurioserweise Frankreich und die USA einander einen Stellvertreterkrieg lieferten : Staatspräsident Pascal Lissouba ( 1992–1997 ) erhielt für seine Truppen amerikanische Rüstungsgüter , während die „Cobra“-Miliz des ehemaligen Diktators Denis Sassou-Nguessu ( 1979–1992 ) mit französischen Waffenlieferungen dotiert wurde. Um die Auseinandersetzungen noch zu komplizieren , griff auch das benachbarte Angola ( siehe oben ) ein : Als UNITA-Rebellen zur Unterstützung Lissoubas ausrückten , marschierten angolanische Regierungstruppen in der Republik Kongo ein , um an der Seite von Sassou-Nguessu die UNITA zu schlagen. Sassou-Nguessus militärischer Sieg sicherte ihm das Präsidentenamt ( seit 1997 ), der Bürgerkrieg endete aber erst Jahre später und ließ ein zerstörtes , demoralisierte Land zurück , in dem immer wieder Unruhen aufflackern. Bis heute gelang es nicht , die etwa 30. 000 Ex-Kombattanten zu reintegrieren. Andererseits erholte sich die Wirtschaft dank ergiebiger Erdölfunde allmählich und wies für 2010 sogar eine zweistellige Wachstumsrate auf ( 2013 ca. 5 Prozent ). Komplizierter und wesentlich dramatischer verlief die Geschichte der riesigen , 64 Millionen Einwohner zählenden Demokratischen Republik Kongo. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit 1960 brach der Bürgerkrieg einerseits zwischen Anhängern des Präsidenten Joseph Kasavubu ( 1960–1965 ; gest. 1969 ) und jenen seines Premierministers Patrice Lumumba aus : Lumumba wollte das rohstoffreiche Land von der Abhängigkeit ausländischer Minenbesitzer befreien , wurde aber 1961 von Oberst Mobutu und mithilfe des CIA sowie des belgischen Geheimdienstes gestürzt und nach schwerer Folterung erschossen. Andererseits sagte sich die Bergbauprovinz Katanga ( Shaba ) unter Moïse Kapenda Tshombé vom Gesamtstaat los. UNOGeneralsekretär Dag Hammerskjöld wollte vermitteln , erlitt aber 1961 einen tödlichen Unfall. In diesem Chaos verließen 100. 000 Europäer fluchtartig das Land , 20. 000 UNO-Soldaten ( darunter das erste österreichische UNO-Kontingent , das
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nur knapp einer Katastrophe entgangen war ) verhalfen schließlich der Zentralregierung zum Sieg. Nach Abzug der UNO-Truppen 1964 brach das totale Chaos aus , sodass sich Kasavubu genötigt sah , Tshombé als Premierminister einzusetzen. Diesem gelang es mithilfe weißer Söldner , die Rebellen zu besiegen ; er musste aber 1965 abermals ins Exil gehen ( er starb 1969 in Haft ), als sich der Armeechef Mobutu Sese Seko an die Macht putschte ( Staatschef 1965–1997 ). Von 1971 bis 1997 trug die Demokratische Republik Kongo den portugiesischen Namen Zaïre. Mobutus prowestliche Einstellung sicherte ihm die Unterstützung durch Weltbank und IWF sowie eine französisch-belgische Militärhilfe anlässlich neuerlicher Aufstände in Katanga ( 1978/1979 ); seine despotische Regierungsform fand in Europa weitgehende Akzeptanz , weil er viele Regierungen reichlich mit Schürfrechten , Geschenken und Wahlkampfspenden ( z. B. für Frankreichs Staatspräsidenten Giscard d’Estaing und Jacques Chirac ) bediente. Mit Ende des Kalten Krieges versiegten aber die westlichen Geldquellen zusehends. Mobutu hatte schon in den Anfangsjahren seiner Regierung erkannt , woran es seinem Land mangelte ; in einer 1977 gehaltenen Rede warnte er vor der allseits grassierenden Korruption : „Um es genau zu sagen : Alles ist verkäuflich und käuflich in unserem Land. [ … ] Selbst der Anspruch des Einzelnen auf seine legitimen Rechte ist einer unsichtbaren Besteuerung unterworfen , deren Wert offen einkassiert wird. Dieser unsichtbaren und doch allen bekannten Abgabe ist vieles unterworfen : das Recht , angehört zu werden , die Schuleinschreibung der Kinder , die Ausstellung der Zeugnisse am Ende des Jahres , der Zugang zur medizinischen Behandlung , ein Platz im Flugzeug , eine Importberechtigung , der Erhalt eines Diploms und vieles mehr. Als Folge daraus riskiert unsere Gesellschaft , ihren politischen Charakter zu verlieren und ein großer kommerzieller Raum zu werden , den gemeinsten Regeln von Schiebern und Ausbeutern unterworfen.“157
Mobutu wollte freilich nicht anerkennen , dass in erster Linie seine kleptokratische Diktatur die Wurzel allen Übels war und letztlich zur völligen Zerstörung der Wirtschaftsstruktur führte. Bekannt geworden sind die unglaublichen Fälle , dass Mobutus Generäle zur persönlichen Bereicherung Mirage-Kampfflugzeuge verkauften oder dass der Gesandte in Tokio das Botschaftsgebäude zur Dotierung seines eigenen Kontos veräußerte.158 1997 kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regierungstreuen und meuternden Armeeeinheiten , Stammesmilizen , aus Ruanda eingesickerten Hutu-Truppen sowie mit den mit ihnen verfeindeten , aus 157 Aus : Walter Schicho : Das Scheitern von Demokratie und Staat. In : Grau , Mährdel , Walter , a. a. O. , S. 221 ff. 158 Andreas Eckert , in : Sondereegger , Grau , Englert , a. a. O. , S. 54 f.
B ) ZENTRALAFRIKA UND DIE GESCHEITERTEN STAATEN
Ruanda und Uganda kommenden Tutsi-Rebellen ( im Kongo „Banyamulenge“ genannt ). Der mörderische Konflikt zwischen Hutus und Tutsis ( siehe unten ) hatte sich von Ruanda in den Kongo verlagert. An der Spitze der Tutsi-Rebellen konnte Laurent-Desiré Kabila den Langzeitdiktator Mobutu stürzen ( dieser starb 1997 in Marokko ) und sich selbst als Staatschef etablieren ( 1997–2001 ). Er erwies sich allerdings als unfähig , die zerrüttete Wirtschaft in Gang zu bringen , die Währung zu stabilisieren und das Land zu befrieden. Von 1998 bis 2003 tobte im Kongo „Afrikas erster Weltkrieg“, wie ihn US-Außenministerin Madelaine Albright ( 1997–2001 ) bezeichnet hatte : Er begann mit der Rebellion von Tutsis und Teilen der Armee gegen Kabila , den seinerseits wieder reguläre Soldaten aus Angola , Zimbabwe und Namibia unterstützten. Die Lage wurde völlig unübersichtlich , als einmarschierende ruandische und ugandische Truppen einander wegen der Ausbeutung von Bodenschätzen zu bekämpfen begannen. Deutlich wie selten offenbarte sich hier im Kongo , wie sehr die Bodenschätze Afrika nicht zum Segen , sondern zum Fluch gereichten. Reguläre Armeeeinheiten von Uganda , Ruanda und Burundi plünderten in den von ihnen besetzten Gebieten systematisch Kupfer , Diamanten , Gold , Kobalt und Edelhölzer , auch die zur Unterstützung der Regierung einmarschierten Verbände von Angola , Namibia und Zimbabwe beteiligten sich an der Ausbeutung des Landes. Gleichzeitig brachen nach dem Muster des Hutu-Tutsi-Genozids alte ethnische Konflikte zwischen den Acker bauenden Lendu und den Vieh züchtenden Hema aus , Konflikte , die alsbald den Charakter eines Völkermordes annahmen und zwischen 25. 000 und 50. 000 Todesopfer forderten ; vordergründig ging es um die Landnutzung , tatsächlich aber auch hier um Bodenschätze. 2001 wurde Laurent Kabila von seiner eigenen Palastwache ermordet , seither regiert sein Sohn Joseph Kabila. Obwohl er wieder Parteien und 2002 allgemeine Wahlen zuließ und mit den Bewaffneten ein Truppenentflechtungsabkommen schloss , dauerten die Kämpfe unvermindert an , bis 2003 alle Soldaten aus Uganda , Ruanda , Zimbabwe und Angola das ausgeblutete Land verließen. Der von 1998 bis 2003 tobende Krieg zählte mit seinen 5,4 Millionen Toten und 500. 000 Binnenflüchtlingen zum verlustreichsten Krieg nach 1945. Eine starke UN-Eingreiftruppe ( bis 2010 : 18. 000 Mann ) kann allerdings bis heute nicht verhindern , dass es immer wieder zu Gewaltausbrüchen , Massakern und Massenexekutionen kommt. Nach wie vor kämpfen Rebellen und 200 Volksstämme um die Rohstoffe. Kabilas Plan , die Stammesmilizen in die reguläre Armee zu integrieren , findet wenig Zuspruch , weil die Stämme ihre Krieger nicht in entfernte Regionen zur Armee ziehen lassen wollen – sie wären dann wehrlos geworden. Die Menschenrechtssituation und Ernährungslage in diesem gescheiterten Staat wird gegenwärtig von der UNICEF als „katastrophal“ definiert. Einen kleinen Erfolg von Symbolcharakter buchten die Vereinten Nationen durch die Verhaftung des kongolesischen „Warlords“ Thomas Lubanga , der hunderte Kinder als Soldaten missbraucht , 2002 in der Regionalhauptstadt Bunia ein Blutbad angerich-
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tet und überdies neun UN-Soldaten ermordet hat ; er ist der erste Kriegsverbrecher , gegen den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ( ICC ) ein Verfahren eröffnet und ein Urteil gesprochen hat ( 14 Jahre Haft ). Andere prominente Rebellenführer , die auf der Fahndungsliste des Internationalen Strafgerichtshofes stehen ( z. B. Bosco Ntaganda , gen. Terminator ), befinden sich aber noch in Freiheit. Chaos ohne Ende findet man auch in der Zentralafrikanischen Republik. Die ebenfalls in die Reihe der gescheiterten Staaten einzureihende einstige französische Kolonie zählte gemeinsam mit dem Tschad und Kongo Brazzaville zur „Föderation Französisch-Äquatorialafrika“. 1960 erhielt das Land die Unabhängigkeit , 1962 putschte sich der Generalstabschef Jean Bedel Bokassa an die Macht , 1972 ließ er sich zum Präsidenten auf Lebenszeit wählen , 1976 proklamierte er das „Zentralafrikanische Kaiserreich“ und ernannte sich selbst zum Kaiser. Allein die Krönungsfeier soll 20 Millionen US-Dollar ( 50 Prozent der jährlichen Entwicklungshilfe ) gekostet haben. Bokassas Regierungsstil wurde zunehmend skurriler und willkürlicher159 und artete in schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen aus – so nahm er persönlich an der Ermordung demonstrierender Schulkinder teil. Auch wurde ihm Kannibalismus vorgeworfen. Schließlich entzog ihm das verbündete Frankreich jegliche Hilfe und unterstützte eine oppositionelle Einheitsfront , die ihn 1979 stürzte. 1986 kehrte der in absentia zum Tode verurteilte Bokassa aus dem Exil zurück , wurde sofort verhaftet , neuerlich zum Tode verurteilt , 1991 zu lebenslanger Haft begnadigt und 1993 freigelassen ( er starb 1996 ). Zu diesem Zeitpunkt hatte es den Anschein , als ob sich das bitterarme Land langsam zu Demokratie und Frieden entwickeln würde. Aber jede Wahl war von schweren Zusammenstößen begleitet , und seit 2002 eskalieren die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Regierungssoldaten , Rebellen und Banditen. Ein Ende des Bürgerkrieges , der durch sogenannte „Blutdiamanten“ stets aufs Neue angeheizt wird , scheint in dem rohstoffreichen Land nicht absehbar. C ) O STAFRIKA – GESCHEITERTE STAATEN AUCH HIER
Die breite Palette an Möglichkeiten , wie Staaten zum Scheitern gebracht werden können , wird in Ostafrika voll ausgenützt : Sei es , dass ein wahnsinnig gewordener Diktator sein Land sehenden Auges in den Untergang führte ( Uganda ), sei es , dass Stammesrivalitäten zum Genozid ausarteten ( Ruanda , Burundi ) oder ein aufwärtsstrebender Staat nach dem Tod seines führenden Politikers ins kriminelle Chaos abgleitet ( Kenia ). Äthiopien war niemals Kolonie , war aber Schauplatz eines Stellvertreterkrieges , eines Bürgerkrieges , eines Duellkrieges und eines Sezessionskrieges 159 Vgl. den authentischen Bericht von Reinhard Bindseil : Im innersten Afrika. Ein Botschafter erlebt Bokassa I. und sein Kaiserreich. Berlin 2010.
C ) OSTAFRIKA – GESCHEITERTE STAATEN AUCH HIER
( Eritrea ). Heute entsendet Äthiopien Interventionstruppen in das von Islamisten beherrschte Somalia , in dem jegliche staatliche Struktur zusammengebrochen ist. Als die Briten 1890 Uganda gemeinsam mit Kenia und Tanganjika zum Protektorat Britisch-Ostafrika vereinten , ließen sie die autochthonen politischen Systeme bestehen. So blieb auch in Buganda ( südlicher Teil des heutigen Uganda ) die Erbmonarchie erhalten. Der letzte Kabaka ( König ) Mutesa II. ( 1939–1966 ) weigerte sich zunächst , im Zuge des Entkolonialisierungsprozesses sein Land in einen Zentralstaat Uganda einzugliedern , akzeptierte aber schließlich die Vereinigung , sofern Buganda autonom blieb. Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit 1962 und Errichtung der Republik ( 1963 ) blieb Mutesa II. Kabaka von Buganda und wurde zugleich Präsident von Uganda. 1966 wurde er von seinem Ministerpräsidenten ( seit 1962 ), Apollo Milton Obote , gestürzt und ging nach London ins Exil , wo er 1969 starb. Nach einer Verfassungsänderung , welche die historisch gewachsenen Gliedstaaten auflöste , verlor Buganda seinen Autonomiestatus , Obote übernahm das Amt des Staatspräsidenten , errichtete einen sozialistischen Einparteienstaat und führte Verstaatlichungen durch. Um angesichts der niedergehenden Ökonomie ein Zeichen zu setzen , verbot Obote 1970 jegliche Arbeit von Ausländern , worauf 30. 000 kenianische Facharbeiter das Land verließen. Ein Armeeputsch beendete 1971 fürs Erste seine Regierung und brachte Armeechef Idi Amin Dada ( Staatspräsident 1971–1979 ) an die Macht. Amins Militärregime verbot jegliche politische Tätigkeit und stellte die Armee und sich selbst über jegliches Recht. Damit begann ein Terrorregime mit willkürlichen Verhaftungen und Folter ; 300. 000 Menschen wurden Opfer von Massenhinrichtungen. Ein Grenzkonflikt mit dem benachbarten Tansania 1972 gab Amin den Vorwand , etwa 500. 000 Inder und Pakistani , die als Kleinindustrielle und Händler die Wirtschaft in Gang gehalten hatten , auszuweisen. Zugleich ließ er alle im ausländischen Besitz befindlichen Teeplantagen und Handelsunternehmen enteignen. Ein abermaliger Waffengang mit Tansania bereitete 1979 Amins Regierung ein Ende , als eine neu gegründete Nationale Befreiungsfront mit tansanischen Truppen in der Hauptstadt Kampala einmarschierte ( Idi Amin starb 2003 in Saudi-Arabien ). Nur dank der Anwesenheit tansanischer Militärs wagte der wegen seiner sozialistischen Politik im Volk verhasste Milton Obote die Rückkehr aus dem Exil. Von 1980 bis 1985 amtierte er wieder als Staatspräsident , konnte aber der großen Unzufriedenheit und der daraus resultierenden ständigen Unruhen nicht Herr werden. Exzesse und Massaker disziplinloser Militärs an der Zivilbevölkerung forderten ca. 100. 000 Menschenleben und trieben ebenso viele zur Flucht nach Ruanda , Zaïre und in den Sudan. Ein Militärputsch beendete 1985 Obotes Herrschaft ( er starb 2005 in Johannesburg ), der Bürgerkrieg ging jedoch weiter , bis 1986 ein abermaliger Militärputsch einen brüchigen Frieden versprach. Seither ist Generalleutnant Yoweri Kaguta Museveni Staatspräsident. Mit Maßnahmen wie der Wiedereinführung der Marktwirtschaft und vor allem mit
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der Wiederherstellung des bugandischen Königreiches 1993 sicherte sich Museveni anfangs große Sympathien unter der Bevölkerung. Der Kabaka ( König ) Ronald Mutebi wurde auf rein zeremonielle Aufgaben beschränkt. Das Land kam dennoch nicht zur Ruhe , zumal sich reguläre und rebellierende Truppen auch in den Nachbarstaaten einmischten : So entführten Rebellen 1986 im benachbarten Sudan etwa 20. 000 Kinder , um sie zu Kindersoldaten heranzuziehen. 1999 plünderten reguläre Soldaten gemeinsam mit Rebellenmilizen die Bodenschätze der Demokratischen Republik Kongo aus. Besondere Probleme bereiten der Regierung die Lord’s Resistance Army ( LRA ), die unter der Führung von Joseph Kony seit etwa 1990 gegen die ugandische Regierung kämpft und nicht nur im eigenen Land , sondern auch in den Nachbarländern Sudan , Kongo und Zentralafrika extrem grausame Raubzüge durchführt. Ihretwegen sollen seit 2009 an die 320. 000 Kongolesen und mehrere zehntausend Bewohner der Zentralafrikanischen Republik die Flucht ergriffen haben. Nicht nur zur Bekämpfung der LRA gewähren die USA der Republik Uganda massive Unterstützung , sondern auch wegen des Einsatzes von 3. 000 ugandischen Soldaten in Somalia. Der Westen sieht heute Uganda als wichtigen Vorposten gegen den von Somalia und dem Sudan ausgehenden Islamismus. Tatsächlich scheint das erdölreiche Land nach außen einigermaßen stabil , es leidet aber im Inneren an ständigen Unruhen und an der Korruption , die von der Staatsspitze ausgeht und auch das „land grabbing“ in großem Umfang möglich macht. In Ruanda und Burundi führte die seit Jahrzehnten herrschende Stammesrivalität zwischen der bäuerlichen Bantubevölkerung der Hutu und den eingewanderten Rinderhirten vom Stamm der Tutsi zu nicht enden wollenden Gewaltaktionen , die 1994 sogar in einen Völkermord ausarteten. Von Anfang an etablierten sich die nur 14 Prozent der Bevölkerung zählenden Tutsi als Oberschicht und stellten auch die Könige in jenem dicht besiedelten ostafrikanischen Zwischenseengebiet , das entsprechend dem Sansibar-Helgoland-Vertrag von 1890 Teil von Deutsch-Ostafrika wurde und nach dem Ersten Weltkrieg gemäß Völkerbundmandat an Belgien fiel. Die Tutsi-Monarchie blieb bestehen und wirkte als ausgleichendes Element , auch nachdem 1961 in einem Referendum die Gleichstellung der Hutu mit den Tutsi beschlossen worden war. Die Tragödie begann , als sich 1962 bei der Entlassung in die Unabhängigkeit die beiden Staaten Ruanda und Burundi bildeten. In Burundi hielt sich die Monarchie noch bis 1966 , in Ruanda wurde gleich die Republik ausgerufen. Nahezu vom ersten Moment der Staatsgründung an begannen in beiden Staaten blutige Ausschreitungen zwischen den verfeindeten Ethnien , in deren Folge 1963 an die 500. 000 Tutsi aus Ruanda in die Flucht getrieben wurden. In Burundi initiierte 1972 ein gescheiterter Hutu-Putsch ein Massaker unter den Hutus , dem etwa 100. 000 Menschen zum Opfer fielen , im Jahr darauf eskalierten wieder in Ruanda die Kämpfe zwischen Hutus und Tutsis , bis nach einem Militärputsch eine Militärregierung die Macht übernahm. 1990 drangen exilierte Tutsi von Uganda aus
C ) OSTAFRIKA – GESCHEITERTE STAATEN AUCH HIER
in Ruanda ein ; die sich daraus entwickelnden schweren Kämpfe veranlassten sogar die französische Armee zum Eingreifen ; erst 1993 wurden Friedensgespräche eingeleitet. In Burundi wurde 1990 erstmals ein Hutu zum Staatsoberhaupt gewählt ; nach seiner Ermordung 1993 im Zuge eines Tutsi-Militärputsches überzog wieder eine Gewaltwelle das Land , Tausende wurden ermordet , 600. 000 flüchteten in die Nachbarstaaten Ruanda , Tansania und Zaïre. Der Tragödie letzter Teil ereignete sich am 6. April 1994 , als die beiden Regierungschefs von Ruanda und Burundi bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen ; als Unglücksursache wurden zwei Raketentreffer ausgemacht , dabei hatten ruandische Militärs ihre Hände im Spiel. Dieses Attentat wirkte als Fanal für einen von langer Hand vorbereiteten Genozid an den Tutsi ( und auch an gemäßigten Hutus ), bei dem binnen weniger Wochen rund eine Million Menschen ermordet wurden , drei bis vier Millionen konnten in die benachbarten Länder Tansania und Zaïre fliehen. Hauptbeteiligte an den Massakern waren marodierende Hutu-Soldaten , insbesondere die Präsidialgarde , und bewaffnete Banden. Trotz Anwesenheit französischer Interventionstruppen im Auftrag der UNO endete das große Töten erst , als bewaffnete Tutsi-Rebellen unter Führung des Verteidigungsministers Paul Kagame ( ab 2000 Staatsoberhaupt ) von Zaïre aus in Ruanda eindrangen und die Regierungstruppen besiegten. In Tansania wurde ein internationales Tribunal errichtet , das erstmals seit der 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Völkermord-Konvention Schuldsprüche wegen Verbrechens des Völkermords fällte : 1998 wurden die Rädelsführer des Genozids zu lebenslangem Kerker verurteilt , in Ruanda selbst fehlte es jedoch an Richtern für rund 120. 000 Inhaftierte und zusätzliche 640. 000 Fälle. Daher wurden nach und nach ein Drittel der Gefangenen freigelassen und für die leichteren Fälle etwa 12. 000 Laien-Tribunale ( „Gacaca“ ) errichtet ( ein Laienrichter fungiert zugleich als Staatsanwalt und als Zeuge ), die 2005 ihre Arbeit aufnahmen. Ziel dieses Verfahrens wäre eine Versöhnung zwischen Hutus und Tutsis , doch gelang dies kaum. 2009 wurde Ruanda als 54. Mitglied in den Commonwealth of Nations aufgenommen – nach Moçambique das zweite Commonwealth-Mitglied ohne historische Verbindung mit Großbritannien. In Burundi dauerte der 1993 ausgebrochene Bürgerkrieg bis 2006 und machte das Land zum ärmsten der Welt ; gemäß Verfassung von 2005 sind alle öffentlichen Ämter , Parlamentssitze und Ministerien zwischen den Volksgruppen Hutu und Tutsi im Verhältnis 60 zu 40 aufgeteilt. Der Vielvölkerstaat Kenia mit seinen etwa 40 höchst unterschiedlichen ethnischen Gruppen wurde 1887 von den „Imperial British East Africa Company“ zur Sicherung der Landverbindung zu Uganda besetzt , 1895 zum britischen Protektorat Ostafrika proklamiert und 1920 in eine Kronkolonie umgewandelt , welche 1922 Teil von Britisch-Ostafrika ( gemeinsam mit Tanganjika und Uganda ) wurde. Zu diesem Zeitpunkt besiedelten etwa 12. 500 Weiße das Hochland , bis 1950 stieg ihre Zahl auf 66. 000 ( heute : 34. 000 ). Gegen die Ausbeutung der Landarbeiter durch die Briten
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während und nach dem Zweiten Weltkrieg wendete sich eine Protestbewegung der Kikuyu ( Bantuvolk , mit 17 Prozent die größte Ethnie des Landes ), die sich nach dem Zweiten Weltkrieg zur antikolonialen „Kenya African Union“ ( KAU ) formierte. 1947 übernahm Jomo Kenyatta deren Führung , wurde aber wegen vermeintlicher Involvierung in den Mau-Mau-Aufstand von 1952 bis 1961 inhaftiert. Die „MauMau“160 waren ein mystischer Geheimbund der Kikuyu , der sich die Ziele gesetzt hatte , alle Ausländer zu vertreiben , das Christentum zugunsten animistischer Glaubensinhalte zu vernichten und jegliche westliche Schulbildung zu verbieten. Um ihre autoritäre Macht zu festigen , schreckten die etwa 16. 000 Guerillakämpfer nicht vor Terror und Gräueltaten , insbesondere unter den eigenen Stammesmitgliedern , zurück , sodass sie theoretisch auf eine halbe Million Gefolgsleute zählten , in Wahrheit aber vielfach abschreckend wirkten und ursprüngliche Anhänger in die Arme der Engländer trieben. Damit ging ihnen allmählich die Massenbasis verloren , auch verfügten sie über keinen benachbarten „Anlehnungsstaat“, waren also ganz auf sich gestellt. Der Aufstand dauerte von 1952 bis 1956 ; er kostete 95 Weißen , 29 Indern und 1290 Afrikanern auf der einen , 115. 000 Mau-Mau-Kämpfern auf der anderen Seite das Leben. Jomo Kenyatta , dessen Biografie gewisse Ähnlichkeiten mit jener Nelson Mandelas aufweist ( siehe Kap. 8.A ), gründete – noch in der Haft – 1960 anstelle der seit 1952 verbotenen KAU die „Kenya African National Union“ ( KANU ). Nach einem Wahlsieg der KANU 1963 wurde Kenyatta Premierminister des in die Unabhängigkeit entlassenen Staates , 1964 bis zu seinem Tod 1978 amtierte er als Staatspräsident. Er regierte mit nahezu unumschränkter Macht , seine Autorität überdeckte manche Spannungen und Konflikte , die unter seinem Nachfolger , Daniel arap Moi ( bis 2002 ), deutlich wurden. Dessen lange Regierung war durch Autokratie , Ineffizienz und Korruption gekennzeichnet. Die Kriminalität nahm dramatisch zu , und im Nationalpark begann wieder die Wilderei , die einst Kenyatta dank drakonischer Strafen verhindert hatte. Auch häuften sich die ethnischen Unruhen , namentlich zwischen den Kikuyu , die an den Schalthebeln der Macht sitzen , den Massai und den Luo ; zumeist ging ( und geht ) es um die Land- und Wassernutzung. Aus demselben Grund kommt es auch zwischen Nomaden aus Uganda und kenianischen Viehhirten zu gewaltsamen Zusammenstößen. Ende der 1980er-Jahre wurde die Mungiki-Sekte gegründet ( „ Mungiki“ bedeutet Vielzahl oder Masse ); sie beruft sich auf eine Prophezeiung , dass ihre Mitglieder ( heute mehrere Zehntausend , hauptsächlich Kikuyu ) die wahren Christen wären. Da ihre Forderung nach Wohlstand für breite Schichten keinen Widerhall fand und die kleptokratische Regierung bzw. der Kikuyu-Clan keinerlei Sozialreformen durchführte , bediente sich die Mungiki-Bewegung bald krimineller Praktiken , beteiligte sich 1992 und 1997 160 Wolfgang Etschmann : Die „Mau-Mau“. Ein Geheimbund in Kenia nach 1945. In : ÖMZ 3/2003 S. 331–335.
C ) OSTAFRIKA – GESCHEITERTE STAATEN AUCH HIER
an ethnischen Auseinandersetzungen und sorgt mit Mafia-Methoden ( z. B. Schutzgelderpressung , illegale Versorgung mit Strom und Wasser ) für eigene Einnahmen. Wer sich widersetzt , muss mit grausamen Racheakten rechnen. So bietet die Mungiki-Sekte heute auch keine Lösung für die steigende Zahl der Armen , vielmehr stellt sie ein zusätzliches Problem in dem an Problemen reichen Land dar. Nach 1999 setzte eine dreijährige Dürrekatastrophe der Landwirtschaft schwer zu , Kämpfe zwischen somalischstämmigen und kenianischen Viehzüchtern um das karge Weideland waren die Folge. Als 2. 000 Viehhirten begannen , Großfarmen der Weißen zu besetzen , unterband dies Daniel arap Moi , weil er nicht das gleiche Chaos wie in Simbabwe heraufbeschwören wollte. Dessen Nachfolger als Staatspräsident , Mwai Kibaki ( 2002–2013 ), fälschte 2007 das Wahlergebnis und löste dadurch ausgedehnte Unruhen aus , die 1. 300 Menschenleben kosteten. Wie zuvor entzündete sich der Konflikt an den Gegensätzen der Volksgruppen , diesmal zwischen den dominierenden Kikuyus und den Kalenjins : Deren jeweilige Anführer , der Kikuyo Uhuru Kenyatta , ein Sohn des Staatsgründers , und der Kalenjin William Ruto , hetzten die Stämme gegeneinander auf ; deshalb wurden sie vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt – was bisher ohne Folgen blieb. 2010 wurde nach einer Volksabstimmung eine neue Verfassung verabschiedet , die den Weg in eine bessere Zukunft weisen sollte : Sie sieht eine Erweiterung der Grundrechte , Beschränkung der Macht des Präsidenten und Aufwertung der parlamentarischen Kontrolle , eine Justizreform und Stärkung der Frauen- und Minderheitenrechte vor. Schwere Erschütterungen ergeben sich allerdings durch die etwa 500. 000 Flüchtlinge und 1,5 Millionen illegalen Emigranten aus Somalia. Schwierigkeiten bereitet auch der Konflikt mit den somalischen al-Shabaab-Milizen , in dessen Folge Terroristen nach Kenia eindringen können. Insgesamt aber stabilisierte sich die wirtschaftliche Lage , wenngleich auch 2011 wieder die Regenfälle ausgeblieben sind. Im Frühjahr 2013 gab es Neuwahlen : Sieger mit hauchdünner Mehrheit war der unermesslich reiche Kenyatta ; sein Schachzug , mit dem Rivalen William Ruto eine Koalitionsregierung anzugehen , könnte den Tribalismus eindämmen ; ganz beseitigen wird er ihn wohl nicht , weil jetzt zwei Stämme die anderen dominieren. Außerdem sind beide Staatsmänner des Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt. Obwohl Äthiopien als einer der wenigen Staaten der Dritten Welt niemals einer Kolonialmacht unterworfen war ( ausgenommen die Jahre 1935 bis 1941 ), kämpft das riesige Vielvölkerreich mit denselben Problemen wie die anderen Länder südlich der Sahara. Dabei blickt es auf eine fast dreieinhalb Jahrtausende währende eigenständige Kultur mit jüdischen , christlichen und islamischen Wurzeln zurück. So soll Menelik ( oder David ), Sohn der Königin von Saba und des Königs Salomon , die bis 1974 herrschende Dynastie gegründet haben. ( Angeblich entwendete er aus Salomons Tempel die Originaltafeln mit den Zehn Geboten und brachte sie in die alte Krönungsstadt Aksum , wo sie sich noch heute befinden sollen. ) Seit 1270
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trug der Herrscher den Titel „Negus Negesti“ ( König der Könige ), er residierte in Gondar , ab 1889 in Addis Abeba. 1882 machten die Italiener das nördlich gelegene Eritrea zur Kolonie ( ihr Angriff auf Äthiopien scheiterte 1896 ), 1896 nahmen die Briten Somalia in Besitz , gleichzeitig erhielt das kleine Dschibuti ( Djibouti ) den Status einer französischen Kolonie ( „Französisch-Somaliland“ ). Eritrea wurde durch UNO-Beschluss 1952 an Äthiopien angegliedert und erlangte erst nach blutigen Sezessionskämpfen 1993 seine Unabhängigkeit , Somalia erhielt seine Unabhängigkeit 1960 und Dschibuti 1977. Die lange Regierung von Äthiopiens letztem Kaiser , Haile Selassie ( 1930–1974 ), erfuhr nur durch den Angriff Italiens ( „ Abessinienkrieg“ 1935–1941 ) eine kurze Unterbrechung. Nach seiner Restauration blieb der „Negus“ außenpolitisch blockfrei , innenpolitisch stützte er sich auf den Adel und die koptische Kirche ; der Autokrat vermied jegliche Reform und Maßnahme zur Volksbildung , weil er seine Macht nur durch die Unwissenheit der Bevölkerung gewährleistet sah. Dennoch gelang es ihm nicht , dem bitterarmen Land Frieden zu sichern. Dürrekatastrophen , Hungersnöte , Meutereien und Unruhen kennzeichneten seit dem Zweiten Weltkrieg den Alltag. Anno 1961 erhob sich die marxistische „Eritreische Volksbefreiungsfront“ gegen die äthiopische Herrschaft , zugleich revoltierte die in Eritrea , Sudan und Nordäthiopien beheimatete Volksgruppe der Tigre. Damit begann ein 30 Jahre währender Bürgerkrieg ( bis 1991 ), der sich alsbald zum Stellvertreterkrieg und Stammeskrieg ausweitete und das ganze Land in den Abgrund zog. Ein blutiger Umsturz beendete 1974 Regierung und Leben von Kaiser Haile Selassie – man ließ den Negus in seinem Arbeitszimmer verhungern. Als Sieger aus den Wirren ging Mengistu Haile Mariam ( Staatsoberhaupt 1974–1991 ) hervor , der den untauglichen Versuch wagte , Äthiopien in eine Volksrepublik nach marxistisch-leninistischem Vorbild umzugestalten. Adel und Kirche wurden enteignet , Banken und Industrien verstaatlicht , oppositionelle Bewegungen mit aller Härte zerschlagen. Gegen den „Roten Terror“ der Kommunisten setzte 1977 der „Weiße Terror“ der Antikommunisten ein. Die Regierungstruppen bedienten sich der Methode , umkämpfte Gebiete auszuhungern und revoltierende Volksgruppen , wie die Tigre , umzusiedeln. Weil der Erfolg ausblieb , entsendete Kuba auf Geheiß der Sowjetunion 15. 000 Soldaten , auch die DDR leistete dem kommunistischen Regime Hilfe. 1989 endete die sowjetische Hilfe , Kuba musste seine Soldaten abziehen , 1991 wurde Mengistu gestürzt und ging nach Simbabwe ins Exil. In Äthiopien wurde das Mehrparteiensystem wiederhergestellt. Die Bilanz des Bürgerkrieges beläuft sich auf 250. 000 Tote und sieben Millionen Flüchtlinge.161 Von 1974 bis 1989 war Äthiopien Schauplatz des Kalten Krieges , der Interessenskonflikt zwischen den USA und der Sowjetunion überdeckte teilweise die lokalen Gegensätze der Stämme und Clans. 161 Gunnar Hasselblatt : Äthiopien am Rande des Friedens. Tigre , Oromo , Eritreer , Amharen im Streit. Streiflichter und Dokumente. Stuttgart 1992.
C ) OSTAFRIKA – GESCHEITERTE STAATEN AUCH HIER
Krisenregion Äthiopien und Somalia
Aber auch nach der Wende kam Äthiopien nicht zur Ruhe , wie die Kriege um Ogaden beweisen , das Somalia für sich beansprucht , dessen Bevölkerung aber bei Äthiopien bleiben will ( 1963 , 1977/1978 , 1990/1991 , 2007 ). 1998 bis 2000 kostete der von Eritrea begonnene Grenzkrieg jeweils 100. 000 Menschenleben. ( Eritrea , innenpolitisch einer der repressivsten Staaten der Erde , führte 2008 bis 2010 auch einen
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Grenzkrieg mit Dschibuti und wurde dafür mit UN-Sanktionen belegt. ) Obwohl Äthiopien im Jahr 2000 von einer der periodisch wiederkehrenden Dürrekatastrophen heimgesucht worden war und acht Millionen Menschen hungerten , kaufte die Regierung russische Kampfjets ; Trockenheit und Hunger hinderten Addis Abeba auch 2007 nicht daran , Interventionstruppen gegen die islamischen Fundamentalisten im benachbarten Somalia zu entsenden und 2010 einen militärischen Konflikt um Wasser und Land an der Grenze zu Kenia auszutragen. Der seit 1995 amtierende Regierungschef Meles Zenawi festigt sein zunehmend autoritäres Regime , indem er Entwicklungshilfegelder ( jährlich drei Milliarden US-Dollar , das sind 50 Prozent des Staatshaushalts ) für Repressionen gegen die eigene Bevölkerung verwendet und Regimegegner durch Bestechung gefügig macht. Westliche Geberländer schweigen jedoch dazu , da für sie die strategische Bedeutung eines politisch verbündeten Äthiopien wichtiger ist als die dort zu beobachtenden Menschenrechtsverletzungen. Im Seeräuberstaat Somalia sind seit Jahren sämtliche öffentliche Strukturen zusammengebrochen , das Horn von Afrika gilt als gefährlichste Krisenregion der Welt. Dabei hätte sich der Bevölkerung angesichts ihrer ethnischen , kulturellen und religiösen Homogenität – eine Ausnahme in Afrika – die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung geboten , wären nicht durch regionale Forderungen gegenüber Nachbarstaaten und Zwistigkeiten unter den Clans tiefreichende Konfliktlinien aufgebrochen.162 Die Gesellschaft ist in vier große , bis zu 20 Generationen alte Clans geteilt , die ihrerseits in zahlreiche Untergruppen zersplittert sind und immer wieder miteinander in Streit geraten. Die Konfliktanfälligkeit ist einerseits das Resultat der nomadischen Gesellschaftsstruktur , andererseits bedingt durch das Fehlen einer Zentralgewalt. Während der sozialistischen Diktatur von Siad Barre ( 1969–1991 ) war zwar jegliche Clanaktivität verboten , doch wurde ein Clan für die Interessen der Regierung im Sinne der Unterdrückung und Ausbeutung der Bevölkerung bevorzugt. Ursprünglich stand Siad Barre in enger Verbindung mit der Sowjetunion , als er aber 1977/1978 den – ergebnislosen – Krieg mit dem damals kommunistischen Äthiopien um die Provinz Ogaden führte , brach er , der Logik des Kalten Krieges folgend , mit der Sowjetunion und schloss ein Bündnis mit den USA. Seit 1979 operierten Guerillagruppen gegen Siad Barre , der trotz härtester Maßnahmen und zehntausender Toter 1991 seinen Sturz nicht verhindern konnte ( er starb 1995 in Lagos ). So endeten sowohl in Somalia als auch im benachbarten Äthiopien die marxistischen Diktaturen im selben Jahr. Bürgerkrieg , Terrorismus und Staatszerfall prägen seither das Geschick des Landes.163 Noch 1991 erklärte der Norden Soma162 Georg Sebastian Holzer : Sudan. In : ÖMZ 4 , 2008 S. 439–450. 163 Hans Krech : Der Bürgerkrieg in Somalia ( 1988–1996 ). Ein Handbuch. München 1996. – Walter Feichtinger , Gerald Hainzl ( Hgg. ): Somalia. Optionen – Chancen – Stolpersteine = Internationale Sicherheit und Konfliktmanagement 6 , Wien / Köln / Weimar 2011.
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lias , das ehemals britische Somaliland , einseitig die Unabhängigkeit ; sie wurde international ebenso wenig anerkannt wie jene von Puntland , das sich 1998 die Autonomie vom Gesamtstaat ertrotzte. Beide Provinzen verfügen über eigene Regierungen und Parlamente und bilden heute Orte von relativer Ruhe und Sicherheit. Die wahre Katastrophe ereignet sich im demoralisierten , verwüsteten und mit Waffen überschwemmten Süden , dem ehemals italienischen Somalia : Sie begann 1991/1992 mit einer Hungerkatastrophe , die etwa 300. 000 Menschenleben kostete. An internationalen Hilfslieferungen mangelte es damals keineswegs , aber die Clanführer , allen voran Mohammed Farah Aidid , der wesentlich am Sturz von Siad Barre beteiligt war und sich seither als selbst ernannter , wenn auch nie anerkannter Präsident gerierte , blockierten die Lebensmittelspenden , um sie zum eigenen Gewinn zu verkaufen. Auch eine 20. 000 Mann starke , von den USA im UNO-Auftrag gestellte Truppe vermochte es nicht , sich gegen die Clans durchzusetzen. Nachdem ein Attentat auf die US-Botschaft in Mogadischu 18 US-Soldaten in den Tod gerissen hatte und Bilder von einem toten Soldaten , der vor einer johlenden Menge durch die Straßen geschleift wurde , um die Welt gingen , zog Washington 1994 seine Männer ab. Eine international koordinierte humanitäre Intervention war gescheitert , Somalia blieb sich selbst überlassen und versank im Bürgerkrieg zwischen dem Clan von Farah Aidid ( er erlag 1996 einer Schussverletzung ) und den anderen Clans. Als Alternative zu den Clans mit ihren „Warlords“ und einer machtlosen Regierung , die sich nicht einmal mehr ins eigene Land wagte , etablierten sich nun allerorten „Islamische Gerichtshöfe“. Sie übernahmen 2006 die Macht ( „Union of Islamic Courts“, UIC ). Chef der UIC , Sharif Sheikh Ahmed ( Staatspräsident 2009–2013 ), mühte sich vergebens um eine Befriedung des zerrissenen Landes , doch wurde er 2007 von einer äthiopischen Interventionstruppe vertrieben. Nach Abzug der Äthiopier 2009 setzten sich die radikal islamistischen , der al-Qaida nahe stehenden alShabaab-Milizen gegen die UIC durch. Seit 2010 sucht nun eine Friedenstruppe der Afrikanischen Union ( „ Amison“ ) zum Schutz einer Übergangsregierung an Terrain gegenüber den al-Shabaab-Milizen zu gewinnen , doch hat sie bis dato noch nicht einmal die gesamte Hauptstadt Mogadischu unter Kontrolle. Nichtsdestoweniger verlegt sich die 2011 allmählich in die Enge getriebene al-Shabaab auf Bombenanschläge und Entführungen von Zivilisten ( Touristen ) im Nachbarland Kenia. 2012 gab es erstmals seit 21 Jahren wieder freie Wahlen ; der neue Präsident Hassan Sheik Mohamud müht sich um internationale Hilfe zur Verbesserung der Lage. Angesichts des seit über zwei Jahrzehnten währenden Bürgerkrieges und des Fehlens einer funktionierenden Zentralgewalt hat sich die Piraterie zu einem lukrativen Geschäft entwickelt , das so viele Devisen ins Land bringt , dass sich sogar ein zaghafter Wiederaufbau erkennen lässt. Trotz der Präsenz von Kriegsschiffen aus der EU , der NATO , aus China , Indien und den USA wagten die immer besser und moderner ausgerüsteten Seeräuber 2011 insgesamt 439 Überfälle ; danach ging die Anzahl der
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Attacken deutlich zurück , 2012 wurden „nur“ mehr 297 gezählt : Die Anwesenheit fremder Marineeinheiten zeigte Wirkung. Befanden sich Ende 2010 noch 35 Schiffe und 650 Geiseln in der Hand der Piraten , waren es Anfang 2013 17 Schiffe und 450 Geiseln ; die Lösegeldforderungen pro Schiff haben sich allerdings von 100. 000 USDollar Mitte der 2000er-Jahre auf zurzeit fünf Millionen US-Dollar gesteigert. D ) G OLF VON GUINEA – BEISPIELE SINNLOSER GRAUSAMKEIT
Die zahlreichen Übel des geschundenen afrikanischen Kontinents finden sich auch in den fragilen , teilweise bereits gescheiterten Staaten am Golf von Guinea wieder : Auch hier sind extreme Korruption , kriminelle Staatschefs , der Einsatz von Kindersoldaten , mittels Rohstoffen finanzierte Bürgerkriege ( vgl. unten , „Blutdiamanten“ ) und die allgemein latente Gefahr von Unruhen für die geringen Lebenschancen der Bevölkerung verantwortlich. In der nördlich dieser Staaten gelegenen Sahelzone sorgen periodisch wiederkehrende Dürrekatastrophen ( zuletzt 2012 ) nicht nur für Hunger , sondern auch für einen gnadenlosen Kampf um Wasser und Land. Nigeria , der mit 163 Millionen Einwohnern ( und rund 430 Ethnien ) volkreichste Staat Afrikas , darf sich zwar demokratischer Strukturen erfreuen , ist aber ethnisch , sozial und religiös dermaßen zerrissen , dass Putschversuche , Anschläge und kriminelle Umtriebe den Alltag beherrschen. Das einst aus verschiedenen Reichen bestehende Gebiet wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch Großbritannien erobert , allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg vollständig befriedet. In den 1950er-Jahren leitete die britische Kolonialverwaltung den Weg in die Unabhängigkeit ein , indem sie autonome Regionen ( 1951 ), ein vom Volk gewähltes Parlament ( 1954 ) und einen Ministerrat schuf. 1960 wurde Nigeria eine selbstständige Republik im Rahmen des Commonwealth , doch behinderten Gegensätze zwischen den moslemischen Haussa ( 21 Prozent der Bevölkerung ) und den christlichen I( g )bo ( 15 Prozent ) einen friedlichen Aufbau der Demokratie. Blutige Gewaltaktionen gegen die Ibo und erste erfolgreiche Erdölbohrungen veranlassten den Militärgouverneur der von Ibos bewohnten Ostregion , Oberst Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu , 1967 einseitig die Republik Biafra auszurufen. In dem nun folgenden blutigen Sezessionskrieg wurde Biafra förmlich ausgehungert.164 Insgesamt verhungerten etwa zwei Millionen Menschen ( eintausend pro Tag ), das Rote Kreuz durfte nicht helfen. Obwohl die Sowjetunion die Zentralregierung mit Waffen belieferte , erhielt Biafra keinerlei internationale Unterstützung. Dies widersprach zwar der Logik des Kalten Krieges , aber die USA fand seit dem Trauma ihres eigenen Sezessionskrieges ( 1861–1865 ) keine Sympathie für Sezessionen irgendwelcher Art. Nach der Kapitulation Biafras 1970 be164 Felix Schneider : Vergessene Kriege : Der Konflikt um Biafra 1967–1970. In : ÖMZ 3/2013 , S. 292–291.
D ) GOLF VON GUINEA – BEISPIELE SINNLOSER GRAUSAMKEIT
trieb Staatschef General Yakubu Gowon ( 1966–1975 ) eine Politik der Amnestie und Versöhnung ( der aus dem Exil heimgekehrte Ojukwu durfte sich sogar in den Senat wählen lassen ; er starb 2011 ) und gliederte Nigeria zur Vermeidung künftiger Konflikte in 33 Bundesstaaten um. Wirtschaftliche Schwierigkeiten , meist durch Korruption hervorgerufen , führten aber in der Folge immer wieder zu Putschversuchen und Umstürzen. Alle Regierungen – ob zivil oder Militär – bedienten sich der Ressourcen des Landes , leisteten aber nichts für die sozio-ökonomische Entwicklung. Dabei ist zu beobachten , dass die Zivilregierungen zur Absicherung ihrer Macht die Bevölkerung nach ethnischen Kriterien mobilisierte , die Militärregierungen hingegen ethnische Konflikte zwar zu verhindern trachteten , aber ein Klima der Gewalt und Rechtsunsicherheit schufen.165 Abgesehen von den ethnisch-religiösen Konflikten war und ist die Korruption das Hauptübel von Nigeria. Es heißt , dass man hier grundsätzlich betrogen werde und dass kein Trick so absurd wäre , dass man ihn nicht wenigstens versuchen würde. Das System der Kleptokratie , der schamlosen Bereicherung einer herrschenden Clique auf Kosten des Volkes , findet in Nigeria seine volle Entfaltung. So hat man errechnet , dass das jeweilige politische Establishment zwischen 1960 und 1999 dem Volk 400 Milliarden US-Dollar aus den Erdöleinkünften gestohlen hat , anstatt dieses Geld für Infrastruktur , Gesundheit und Bildung zu investieren. Seit 1999 finden regelmäßige Wahlen statt , doch sind diese stets von viel Blutvergießen begleitet ; bewaffnete Jugendmilizen werden von den Politikern zur Einschüchterung politischer Gegner eingesetzt , nach den Wahlen bilden sie kriminelle Banden oder sie schließen sich militanten Sekten an. Ethnisch-soziale Konflikte führen ebenfalls regelmäßig zu Zusammenstößen mit Tausenden von Toten : Die Angehörigen der Stämme ringen in den Bundesstaaten um Macht und Einfluss. Heute wird Nigeria als das religiöseste Land der Welt beschrieben : 92 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als „tief religiös“, sieben Prozent als „sehr religiös“. Etwa 50 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zum Islam , 48 Prozent zum Christentum. Hinter den religiös motivierten Gewalttaten verbergen sich freilich oft höchst profane Gründe wie Streit um Land , Rache für ein Verbrechen oder private Fehden. Seit 2000 eskalieren die religiös motivierten Unruhen besonders im Norden , wo inzwischen zwölf Bundesstaaten das islamische Recht ( Scharia ) mit all seinen unmenschlichen Konsequenzen ( Verstümmelung , Steinigung ) eingeführt haben. Seit 2009 macht die islamische Sekte „Boko Haram“ ( „Westliche Bildung ist Sünde“ ) durch Straßenterror , Selbstmordattentate und durch eine Anschlagsserie gegen christliche Kirchen auf sich aufmerksam ( ca. 1. 400 Opfer seit 2010 ). Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein , wann bewaffnete Christen ihrerseits gegen die Moslems vorgehen und das Land in einen Bürgerkrieg treiben. 165 Markus Brunner : Nigeria. Politische Herrschaft zwischen Militär- und Zivilregierungen. In : Grau , Mährdel , Schicho , a. a. O. , S. 277 ff.
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Zu den durch innere Wirren und Bürgerkrieg geschundenen Staaten zählt auch Liberia , dessen Werdegang sich allerdings von den übrigen afrikanischen Staaten wesentlich unterscheidet. Denn hier siedelten anno 1822 US-amerikanische Kolonialgesellschaften 16. 400 freigelassene Sklaven an. Die Eingeborenen leisteten zwar heftigen Widerstand , doch wurde dieser gebrochen , und 1847 proklamierten die Amerikoliberianer die Republik , welche 1862 von den USA als unabhängiger Staat anerkannt wurde. Die politische Macht lag in den Händen der Amerikoliberianer , welche die eingeborenen Afroliberianer wie Kolonialherren behandelten. Versprechungen von politischer und sozialer Gleichberechtigung der beiden Volksgruppen durch die jeweiligen Präsidenten blieben leere Worte. Außenpolitisch steuerte Liberia nach dem Zweiten Weltkrieg einen Kurs der Stabilität , innenpolitisch glitt das Regime in den 1970er-Jahren in zunehmend autoritäre Bahnen ab. Blutige Unruhen wegen einer Preiserhöhung von Lebensmitteln ( „Reisunruhen“ ) 1979 und ein Militärputsch 1980 , der nahezu der gesamten Regierungsmannschaft den Tod brachte , bildeten düstere Vorzeichen für das Geschehen der kommenden Jahre. Präsident Samuel Doe , ein ehemaliger Unteroffizier und erster afroliberianischer Regierungschef ( 1980–1990 ), führte zunächst das Kriegsrecht ein , ließ aber 1984 wieder Parteien zu und wurde 1985 sogar durch Wahl im Amt bestätigt. Soziale Spannungen , ethnische Konflikte und der persönliche Ehrgeiz des skrupellosen Oppositionspolitikers Charles Ghankay Taylor stürzten das Land 1989 in einen 14 Jahre währenden Bürgerkrieg , der mit großer Grausamkeit geführt wurde ( 250. 000 Tote ) und eine gewaltige Fluchtbewegung auslöste : 1990 befand sich jeder vierte Liberianer auf der Flucht , denn Taylors Rebellen begingen ebenso wie Regierungstruppen immer wieder Massaker an der Zivilbevölkerung. In diesem Jahr wurde Präsident Doe von den Rebellen getötet. Eine Friedenstruppe der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten ( ECOWAS ) brachte 1996 einen brüchigen Waffenstillstand zustande. Obwohl Taylor den Bürgerkrieg ausgelöst hatte , wurde er bei den Präsidentschaftswahlen mit 75 Prozent der Stimmen zum Staatsoberhaupt gewählt , weil er als Einziger über ausreichende Mittel für den Wahlkampf verfügte. Er bezog seine Einkünfte aus dem Handel mit „Blutdiamanten“, die er von Rebellen aus dem benachbarten Sierra Leone erhielt und diese im Gegenzug mit Waffen ( aus Osteuropa ) belieferte. Dort war 1991 ein Bürgerkrieg ausgebrochen , der an Bestialität nichts zu wünschen übrig ließ : Bilder gingen um die Welt , wie mit Drogen aufgeputschte Rebellen , oft noch Kinder , ihren Gegnern mit Buschmessern die Gliedmaßen abhackten. Erst eine britische Militärintervention beendete im Jahr 2000 die Massaker , denen zwischen 50. 000 und 120. 000 Menschen zum Opfer gefallen waren. Zugleich verhängte der UN-Sicherheitsrat ein weltweites Handelsverbot mit Diamanten aus Sierra Leone , womit den Rebellen die wichtigste Geldquelle genommen wurde. Eine UNUntersuchungskommission erklärte Charles Taylor zum Drahtzieher des Geschäfts mit „Blutdiamanten“ aus Sierra Leone. Letzterer hatte aber nicht nur den Bürgerkrieg
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im eigenen Land begonnen und im benachbarten Sierra Leone angeheizt , vielmehr schürte er nun auch noch den Konflikt mit dem Nachbarland Guinea , indem er dort operierende Guerillatruppen unterstützte – dies wurde ihm letztlich zum Verhängnis. Denn als 2001 in Liberia die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Rebellen wieder aufflammten und sich eine gewaltige Fluchtbewegung nach Guinea in Bewegung setzte , erhielten die Rebellen Liberias massive Unterstützung aus Guinea. 2003 erging vom UN-Sondertribunal in Sierra Leone ein internationaler Haftbefehl für Taylor wegen Kriegsverbrechens und Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Als im Sommer 2003 die Hauptstadt Monrovia nach blutigen Kämpfen in die Hände der Regierungsgegner gefallen war , legte Taylor sein Amt nieder und floh nach Nigeria , wo er 2006 auf Veranlassung des UN-Sondertribunals verhaftet und – aus Sicherheitsgründen – an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ( ICC ) überstellt wurde. Ein Präzedenzfall wurde geschaffen : Erstmals seit dem Nürnberger Prozess musste sich ein krimineller Staatschef vor Gericht verantworten ; die Anklagepunkte lauteten auf Terrorismus , Mord , Vergewaltigung , Sklaverei , Körperverletzung , Anstiftung zum Kannibalismus und Einsatz von Kindersoldaten. Das Urteil wurde 2012 gefällt : 50 Jahre Haft für den inzwischen 64-jährigen Taylor. Liberia selbst kam ab 2004 dank einer 15. 000 Mann starken UN-Friedenstruppe allmählich zur Ruhe , der 14-jährige Krieg , von dem es heißt , er wäre einer der brutalsten in Afrika gewesen , hat aber überall seine Spuren hinterlassen ; außerdem blockieren die gewaltigen Staatsschulden und die grassierende Korruption den Aufstieg. 2005 wurde mit Ellen Johnson-Sirleaf erstmals in der Geschichte Afrikas eine Frau zur Präsidentin gewählt. Die Wirtschaftsexpertin musste mit der Stunde null beginnen : Es galt , die Kriminalität und die Korruption zu bekämpfen , die Flüchtlinge zurückzuholen , die zerstörte Infrastruktur aufzubauen und die Strom- und Wasserversorgung in der Hauptstadt wiederherzustellen. Auch musste das Schulwesen wieder in Gang gebracht werden , da seit eineinhalb Jahrzehnten die Kinder zu Soldaten ausgebildet worden waren. Die Weltgemeinschaft honorierte Johnson-Sirleafs Bemühen , sodass sie 2011 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Inzwischen muss sich ein weiterer ehemaliger afrikanischer Staatschef vor Gericht verantworten : Laurent Gbagbo , ehemaliger Präsident von Côte d´Ivoire / Elfenbeinküste ( 2000–2011 ), hatte sich geweigert , nach einer Wahlniederlage sein Amt aufzugeben und trieb das Land in einen Bürgerkrieg , der 3. 000 Menschenleben kostete. Mithilfe von im UNO-Auftrag operierenden französischen Truppen konnte er verhaftet und an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ausgeliefert werden , wo er im Februar 2013 wegen seiner „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt wurde.
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9. LATEINAMERIKA Als im Zuge der Napoleonischen Kriege Spanien und Portugal handlungsunfähig wurden , erkämpften die Kolonien in Lateinamerika ihre Unabhängigkeit ( 1810– 1825 ). Eine im Sinne der „Heiligen Allianz“ erwogene Intervention europäischer Staaten zugunsten der „legitimen“ Kolonialmächte Spanien und Portugal forderte 1823 die von US-Präsident James Monroe ( 1817–1825 ) verkündete „Monroedoktrin“ heraus , wonach die USA jede Einmischung europäischer Staaten in der westlichen Hemisphäre als unfreundlichen Akt bezeichneten. Damit bekundeten die USA erstmals vor der Weltöffentlichkeit ihr Interesse an ihrem „Hinterhof“, von dem sie fortan politisches und wirtschaftliches Wohlverhalten erwarteten. 1904 erweiterte Präsident Theodore Roosevelt ( 1901–1909 ) die Monroedoktrin im Sinne einer US-Polizeifunktion in Lateinamerika , womit das Hegemoniestreben Washingtons noch unterstrichen wurde. Während des Kalten Krieges erhielt die Monroedoktrin als gegen kommunistischen ( sowjetischen ) Einfluss gerichtete außenpolitische Richtlinie eine neue Dimension , indem sie diese nicht mehr nur mit wirtschaftlichen Interessen , sondern auch mit jenen der nationalen Sicherheit begründen ließ. Unbestritten diente der amerikanische „Dollarimperialismus“ – der Einsatz finanzieller Mittel zur Rüstungs- und Entwicklungshilfe – dem Ziel , die Staaten Lateinamerikas wirtschaftlich und politisch abhängig zu halten. Daher waren die USA auch an der Beibehaltung des Systems interessiert , das heißt , sie unterstützten die jeweils regierende Oberschicht und oft auch moralisch zweifelhafte Diktatoren , nur um mit ihren Erdöl- , Bergwerks- , Stahl- und Nahrungsmittelkonzernen weite Bereiche der Wirtschaft in diesen Ländern zu kontrollieren. Kleine mittelamerikanische Staaten geraten oft in direkte Abhängigkeit von Großkonzernen , wenn diese das mehr oder weniger einzige Exportprodukt monopolartig produzieren und dadurch nicht nur die Wirtschaft , sondern auch die Politik dirigieren ( „Bananenrepubliken“ ). Die für Südostasien formulierte „Dominotheorie“, wonach ein kommunistisch gewordenes Land die anderen Länder mitreißen würde ( siehe Kap. 4.D ), galt für die USA auch in Lateinamerika. Doch seit Beginn des zweiten Jahrtausends verlieren die USA allmählich ihr Interesse an ihrem Hinterhof , vielmehr konzentrieren sie sich auf die neuen Herausforderungen in Ost- und Südasien , linksorientierte Regierungen werden in Washington nicht mehr so wichtig genommen wie während des Kalten Krieges , ja selbst Kuba hat als Feindbild schon ausgedient. Auch für Europas „Linke“ hat die Faszination von einem mexikanischen Zapatisten-Aufstand an Kraft verloren , ebenso von einem brasilianischen Arbeiterführer namens Lula da Silva , von einem venezolanischen Neokommunisten Hugo Chávez oder von einem bolivianischen Indiopräsidenten Evo Morales , weil deren sozialistische Wirtschaftsexperimente offenkundig gescheitert sind.
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Die Staaten Südamerikas
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9. LATEINAMERIKA
Noch aus der Kolonialzeit stammt die Wirtschaftsform des Rentenkapitalismus :166 In dieser schöpft der Großgrundbesitzer ( Haciendado ) die in seiner Latifundie ( Hacienda ) erwirtschafteten Erträgnisse ( „Bodenrente“ ) ab , ohne produktive Investitionen zu tätigen. Haciendados betreuen ihre landwirtschaftlichen Großbetriebe nicht selbst und halten sich auch nicht daselbst , sondern lieber in den Städten auf. Ihre Besitzungen werden von entsprechend bezahlten Verwaltern geleitet , während die nahe am Existenzminimum lebenden Landarbeiter ( Campesinos ) keine Möglichkeit haben , ihren Status zu ändern ; sie bilden aber ein latentes Revolutionspotenzial. Der Rentenkapitalismus ist grundsätzlich entwicklungshemmend und begünstigt das traditionelle Machtsystem , in dem Großgrundbesitzer , Industrielle und Offiziere die Ressourcen des Staates untereinander aufteilen. Die extreme Ungleichheit zwischen dem Großgrundbesitz und der Masse an Kleinstlandwirtschaften ( Latifundium und Minifundium ) blockiert jede Entwicklung in Stadt und Land.167 Hinzu kommt die institutionelle Unsicherheit der Kleinbauern , die gegenüber den gewaltsamen Enteignungen durch Großgrundbesitzer keine Rechtsgrundsätze geltend machen können. Agrarreformen , wie sie ab den 1960er-Jahren häufig versucht wurden , blieben meist in Ansätzen stecken oder wurden , wie in Guatemala , ganz rückgängig gemacht. Nachhaltig blieben die Agrarreformen in Mexiko und auf Kuba , größere Landumverteilungen gab es auch in Chile und Peru , die sozialen Probleme wurden aber nicht entschärft. Viele lateinamerikanische Staaten leiden unter denselben Symptomen : Die Gesellschaft ist durch krasse soziale Unterschiede gekennzeichnet , ihr fehlt der Mittelstand als Basis jeglichen Wohlstandes und Garant für die moderne Entwicklung , dafür gibt es eine schmale , korrupte Oberschicht und eine breite Unterschicht mit geringem Lebens- und Bildungsstandard. Die Unterschicht ist für die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Bevölkerungsexplosion und für die aus ihr resultierende Massenzuwanderung in die städtischen Slums verantwortlich ( „Favelas“ in Brasilien , „Barriadas“ in Ecuador , Peru und Kolumbien , „Barrios“ in Venezuela , „Villas miserias“ in Argentinien , „Jacalas“ in Mexiko ).168 Die Unterschicht leidet unter der Arbeitslosigkeit bzw. geht bestenfalls einer „informellen Arbeit“ ( Straßenhändler usw. ) nach und ist für die hohe Kriminalitätsrate verantwortlich. Ab den 1990er-Jahren stieg die schon bis dahin hohe Kriminalität in La166 Diesen Begriff hat der österreichische Kultur- und Stadtgeograf Hans Bobek ( 1903–1990 ) im Rahmen seiner 1959 formulierten Kulturstufentheorie eingeführt. 167 Peter Fleer : Mangel im Überfluss. In : Walther L. Bernecker , Martina Kaller-Dietrich , Barbara Potthast , Hans Wener Tobler ( Hgg. ): Lateinamerika 1870–2000. Geschichte und Gesellschaft = Edition Weltregionen 15 , Wien 2007 , S. 67–90. 168 Barbara Potthast : Urbanisierung und sozialer Wandel. In : Bernecker : Lateinamerika , a. a. O. , S. 113–130.
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teinamerika dramatisch an – Kolumbien weist heute die weltweit höchste Mordrate auf , gefolgt von Brasilien. Inflation , eine aufgeblähte Bürokratie , die Missachtung der Menschenrechte , ständige Unruhen und häufige Umstürze prägen den Alltag in vielen Ländern. Gewalt hat zudem eine lange Tradition in Lateinamerika :169 Bauernaufstände bestimmten das Geschehen ebenso wie die in den 1960er- und 1970erJahren aufkommenden Stadtguerillas , gegen die die Armeen und Paramilitärs einen bisweilen totalen Krieg führten. Mögen die revolutionären Gruppen auch unterschiedliche Richtungen oder Ideologien verfolgen , so eint sie doch alle das Feindbild USA : Dem „Yankee“ wird die Schuld an aller Rückständigkeit gegeben. Dieser Ansicht bedienen sich auch linke Machthaber , wenn sie das Augenmerk der Bevölkerung von der eigenen Misere ablenken wollen. Sie verklären Kuba , weil es , gleich David , den Kampf gegen den Goliath USA aufgenommen hatte. Aus solcher Sichtweise ist auch der von Venezuelas Präsident Hugo Chavez 2007 ergangene Befehl zu verstehen , die Armee möge sich auf eine US-Invasion vorbereiten ( siehe Kap. 9.E ). Im Jahr 1996 publizierten der Kolumbianer Plinio Mendoza , der Kubaner Carlos Montaner und der Peruaner Álvaro Vargas Llosa das „Handbuch des perfekten lateinamerikanischen Idioten“.170 Der peruanische Politiker und Dichter Mario Vargas Llosa ( 2010 Literatur-Nobelpreis ), Vater von Álvaro , hatte das Vorwort zu dieser sarkastischen Untersuchung der Leiden Südamerikas verfasst. Unter anderem heißt es darin , dass die bedeutenden Revolutionäre , wie Simon Bolivar ( 1783–1830 ), César Augusto Sandino ( 1895–1934 ), Fidel Castro , Ernesto „Che“ Guevara oder Salvador Allende , einer verarmten Aristokratie entstammten. Alle glaubten zu erkennen , dass an der eigenen Rückständigkeit immer die anderen schuld sind – das waren zunächst die spanischen und portugiesischen Kolonialherren , heute sind es die USAmerikaner. Sie ignorierten , dass Lateinamerika noch 1880 einen gleich großen Anteil am Welthandel hatte wie die USA , dass Argentinien noch 1930 zu den reichsten Nationen der Welt zählte , und sie erkannten nicht die Defizite Lateinamerikas an Unternehmergeist , Fleiß und Sparsamkeit. Diese Revolutionäre verabscheuten die Arbeit in Landwirtschaft , Industrie und Handel und idealisierten den Kampf. Sie verdammten Markt und Profit als amoralisch und menschenunwürdig und glaubten , das Paradies auf Erden nicht durch Arbeit , sondern durch Terror , Aufstände und Volkskriege herbeizuführen. Nach Ansicht des oben genannten Autorenkollektivs stellen Nationalismus , Populismus , Paternalismus , Protektionismus und Mer169 Hans Werner Tobler : Politik und Gewalt. Bauernaufstände , Revolutionen und staatliche Gewalt von oben. In : Bernecker : Lateinamerika , a. a. O. , S. 35–44. 170 Plinio Apuleyo Mendoza , Carlos Alberto Montaner , Álvaro Vargas Llosa : Manual del perfecto idiota latinoamericano. Barcelona 1996. – Englische Ausgabe : Guide to the Perfect Latin American Idiot , o. O. , 2001. – Vgl. auch den Artikel von Carl D. Goerdeler , in : Die Presse , 7. Juli 1997 , S. 3.
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kantilismus die Haupthindernisse für die gedeihliche Entwicklung der Länder Lateinamerikas dar , es fehlen ihnen Kapitalismus , freier Handel , die Menschenrechte und der Demokratiewille. Tatsächlich ist das politische Geschehen Lateinamerikas im Wesentlichen durch fünf Elemente gekennzeichnet : den Caudillismus ( die Bevölkerung schätzt die charismatische Führergestalt ), den Populismus ( opportunistische Politik , die im Hinblick auf kommende Wahlen eine breite Zustimmung sucht , ohne mögliche Langzeitfolgen zu berücksichtigen ), den Kommunismus ( als Ideologie für Regierungen oder Guerillagruppen ), den Nationalismus ( nicht rassisch , sondern auf das auf das eigene Staatsgebilde bezogen wird mobilisiert , um von inneren Krisen abzulenken ) und nicht zuletzt den antikirchlichen Liberalismus ( z. B. Mexiko ). Im Rahmen dieser fünf politischen Elemente gab es in Lateinamerika mehrere große Wellen von Entwicklungsstrategien – die letztlich alle gescheitert sind :171 Während des gesamten 20. Jahrhunderts und stellenweise bis in die Gegenwart wurden ( und werden ) linksradikale Konzepte verfolgt ; sie propagierten den antiimperialistischen Nationalismus ; populistische Regierungschefs übten sich in sozialrevolutionärer Propaganda , um die nächsten Wahlen zu gewinnen. Da die mehr oder minder demokratisch an die Macht gekommenen Regime keinen Erfolg erbrachten , wurden sie in den 1970er- und 1980er-Jahren ( in Chile bis 1989 ) durch autoritäre Militärdiktaturen abgelöst ; auch diese versagten , weil ihre Law-and-Order-Politik eine verheerende Menschenrechtssituation schuf und weder gesellschaftliche noch wirtschaftliche Fortschritte erbrachte. Die postautoritären Demokratien ab ca. 1980 neigen wieder dazu , dem Populismus Tür und Tor zu öffnen. Sie sind „defekte Demokratien“, weil die Machtablöse zwar nicht mehr durch Putsch , sondern durch freie Wahlen stattfindet , Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte jedoch keine oder zu wenig Beachtung finden. Lateinamerikas Industrie 172 wies zwischen 1950 und 1980 ein starkes Wachstum auf , insbesondere in Mexiko und Brasilien. Zunächst orientierte sich die Produktion an der Deckung des Inlandsbedarfes. Diese Art der Importsubstitution verhieß aber kein dauerhaftes Wirtschaftswachstum , sodass ab den 1970er-Jahren die Erschließung von ausländischen Absatzmärkten im Vordergrund stand. Die Wirtschaft wuchs , aber die Staatsverschuldung wuchs schneller , außerdem fielen die Weltmarktpreise für die Rohstoffe , die in fast allen Staaten den Hauptexportartikel stellen. In den beginnenden 1980er-Jahren griff die Verschuldungskrise um sich , Mexiko wurde 1982 als erstes Land zahlungsunfähig , ihm folgten Brasilien und Argen171 Hans-Jürgen Puhle : Zwischen Diktatur und Demokratie. Stufen der politischen Entwicklung in Lateinamerika im 20. Jahrhundert. In : Bernecker : Lateinamerika , a. a. O. , S. 15–34. 172 Walther L. Bernecker : Die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas in der Neuzeit. In : Bernecker : Lateinamerika , a. a. O. , S. 45–66.
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tinien. Zur Begleichung der Auslandsschulden mussten zu Lasten des Konsums und der Investition neoliberale Strukturreformen eingeleitet werden , zur Begleichung der Inlandsschulden wurde die Inflation angeheizt. Insgesamt ging das Pro-KopfEinkommen zurück , die 1980er-Jahre gelten daher in wirtschaftlicher Hinsicht als „verlorenes Jahrzehnt“. Ab den 1990er-Jahren versuchen viele Staaten Lateinamerikas , sich durch Liberalisierung und Deregulierung in der Ära verstärkter Globalisierung zu behaupten. Die Probleme bleiben bestehen : die extreme Ungleichheit der Gesellschaft , die mangelnde Rechtssicherheit , das mangelnde Bildungssystem ( ausgenommen Kuba ) und nicht zuletzt die extreme Abhängigkeit vom Auslandskapital. Die Kirche spielt in Lateinamerika eine besondere Rolle : Sie übte einst eine hohe Anziehungskraft auf die einheimische Bevölkerung aus , weil im Gegensatz zu den indianischen Göttern der christliche Gott keine Menschenopfer forderte , sondern sich vielmehr selbst für die Menschen geopfert hatte. Die Kolonialmächte gründeten ihre Macht auf die katholische Religion , und auch nach der Erlangung der Unabhängigkeit ging die jeweils herrschende Clique die traditionelle „Symbiose von Thron und Altar“ ein. Somit stand die Kirche stets auf Seiten der Oberschicht. In den 1960er-Jahren beschritten jedoch etliche lateinamerikanische Priester mit der Befreiungstheologie 173 neue Wege : Sie solidarisierten sich nicht mehr mit der Elite , sondern mit den Armen , wie es Jesus auch getan hatte ; sie praktizierten selbst das tatsächlich gelebte Christentum , bildeten in den Elendsquartieren Basisgemeinden , setzen sich für die Rechte der Indios ein und demonstrierten die apostolische Armut. Die Amtskirche reagierte anfangs äußerst skeptisch auf die Befreiungstheologie , weil sie deren Unterwanderung durch den Kommunismus befürchtete ; als dies ( mit wenigen Ausnahmen ) nicht eintrat , söhnte sich Rom allmählich mit deren Vorstellungen aus. Priester , die sich der Befreiungstheologie verschrieben haben , leben freilich gefährlich , weil sie sich mit den Reichen und Mächtigen anlegen. Mordanschläge gegen sie sind keine Seltenheit. Spektakulärstes Beispiel bot der Erzbischof von San Salvador , Óscar Arnulfo Romero y Galdámez ( 1917–1980 ), der während des Gottesdienstes von Mitgliedern einer rechten Terrororganisation erschossen wurde ; er hatte sich für die Einhaltung der Menschenrechte und für soziale Gerechtigkeit eingesetzt. 1998 wurde der Weihbischof und Bürgerrechtler Juan Gerardi Conedera ( geb. 1922 ) in Guatemala-City auf offener Straße erschlagen ; er hatte die schweren Menschenrechtsverletzungen der Armee während des Bürgerkrieges dokumentiert. Mehrere Mordanschläge hat Erwin Kräutler , Bischof der Diözese Xingu in Brasilien , überlebt ; der 1939 in Vorarlberg geborene unermüdliche Kämpfer für die Rechte der 173 Den Begriff prägte der Theologe Merino Gustavo Gutiérrez in dem Grundsatzwerk Theologie der Befreiung. München 1973. – Siehe auch : Gerhard Kruip : Kirchen und Religionen in Lateinamerika. Neue Ambivalenzen zwischen Modernisierungs- und Retraditionalisierungsprozessen. In : Bernecker : Lateinamerika , a. a. O. , S. 213–230.
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Amazonasindianer , der Landlosen und Kleinbauern erhielt 2010 den „Alternativen Nobelpreis“. Eine gänzlich neue Dimension eröffnete sich der Befreiungstheologie im März 2013 durch die Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Papst. Der aus Argentinien stammende Jesuit und Kardinal , der den Namen Franz( iskus ) annahm , praktizierte schon als Erzbischof von Buenos Aires ein Leben in äußerster Bescheidenheit ; auch als Oberhaupt der katholischen Christenheit lehnt er jeden Luxus ab und machte sich von Anfang an zum Fürsprecher der Armen. A ) M EXIKO – EIN STAAT AN DER KIPPE
Der mittelamerikanische Staat war einst Schauplatz alter indianischer Hochkulturen ( Mayas auf Yucatán , Atzteken im Hochland von Mexiko ) und wurde nach der Vernichtung des Aztekenreiches durch Hernando Cortés ( 1521 ) als Vizekönigreich Neuspanien eingerichtet. Seine Silberminen produzierten während der drei Jahrhunderte dauernden spanischen Kolonialherrschaft zwei Drittel der Weltsilberproduktion. 1821 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung. Das 19. Jahrhundert ist durch schwere innenpolitische Konflikte und Kämpfe mit dem nördlichen Nachbarn USA gekennzeichnet. In den Kriegen mit den USA verlor Mexiko bis zur Jahrhundertmitte etwa die Hälfte seines Territoriums ; in den Bürgerkriegen bekämpften einander die Konservativ-Klerikalen und die Antiklerikal-Liberalen. Die kurze Herrschaft des Kaisers Maximilian ( 1864–1867 ), jüngerer Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph , blieb nur tragische Episode. Das ausgehende 19. Jahrhundert bescherte dem nunmehr liberal regierten Mexiko eine gute wirtschaftliche Entwicklung , verschärfte aber die sozialen Gegensätze : Der Rentenkapitalismus erfuhr seine extremste Ausprägung , als 97 Prozent der Landbevölkerung keinen eigenen Boden besaßen und großteils in Schuldknechtschaft auf den Latifundien der Großgrundbesitzer arbeiteten. 1911 erhoben sich die besitzlosen Campesinos ( prominentester Anführer : Emiliano Zapata , 1919 ermordet ). In dem sechs Jahre dauernden Bürgerkrieg starben bis zu einer Million Menschen. Erst nach Verkündung der bis heute gültigen Verfassung von 1917 ( Mexico ist seither eine „Präsidiale laizistische Bundesrepublik“ ), die eine Landreform , Arbeitsschutzgesetzgebung , Nationalisierung der Bodenschätze und die Trennung von Kirche und Staat vorsah , ebbten die Kämpfe ab. 1928 wurde die „Partido Nacional Revolucionario“ ( PNR ) durch Zusammenschluss verschiedener revolutionärer Gruppen und Persönlichkeiten gegründet. Ihre obersten Kader , etwa 250 Personen , bildeten als „familia revolucionaria“ eine Oligarchie , die von 1929 bis 1988 alle Senatorenposten und alle wichtigen Ämter im Staat besetzt hielt. Während des Spanischen Bürgerkrieges ( 1936–1939 ) unterstützte Mexiko die spanische Volksfrontregierung , im Zweiten Weltkrieg kämpfte Mexiko auf Seiten der Alliierten. Immer noch beherrschte die PNR , 1946 in „Partido Revolucionario Institucional“ ( PRI ) unbenannt , monopolartig die mexikanische Politik. Ihr gehörten bis
A ) MEXIKO – EIN STAAT AN DER KIPPE
1988 alle Präsidenten , Gouverneure , Bürgermeister und Abgeordneten an. Die ungeheure Machtfülle erlaubte zwar eine rasch vorangetriebene Modernisierung von Landwirtschaft , Industrie und Infrastruktur , betonte aber auch einen überstarken staatlichen Eingriff in die Wirtschaft. Fehlplanungen , Misswirtschaft und Korruption trieben das Land ab 1970 in eine Wirtschaftskrise , die Mexiko zum größten Schuldner der Welt werden ließ und 1982 in den Staatsbankrott führte. Mithilfe von Steuererhöhungen , Abwertung der Währung und Devisenbeschränkungen versuchte Staatspräsident Miguel de la Madrid Hurtado ( 1982–1988 ), den Staatshaushalt zu sanieren. Aber nun häuften sich die angesichts der enormen Ungleichheit der Bevölkerung hervorgerufenen sozialen Probleme ; sie wurden durch das rasche Bevölkerungswachstum ( Verdoppelung der Bevölkerung binnen 25 Jahren ), insbesondere in der Hauptstadt Mexiko City , noch verstärkt. Seinem Nachfolger , Carlos Salinas de Gortari ( 1988–1994 ), gelang durch Umschuldung , weitere Abwertung , radikale Kürzung des Staatshaushalts und vor allem mit einer allmählichen Liberalisierung der Wirtschaft , die Abwärtsspirale aufzuhalten. Zwischen 1994 und 2005 tobte im südostmexikanischen Gliedstaat Chiapas ein bewaffneter Aufstand der Ureinwohner ( vier Maya-Stämme ). Die Rebellen nannten sich nach dem prominenten Bauernführer Emiliano Zapata ( siehe oben ) „Zapatisten“ und kämpften für ein Ende der Unterdrückung , lokale Autonomie , mehrsprachige Schulen und Wahrung der traditionellen Volkskultur der meist in großer Armut lebenden Indios. Mehrere Militäroffensiven gegen die „Zapatistische Befreiungsarmee“ schlugen fehl , zumal sich die Zapatisten landesweiter Sympathien erfreuten und schließlich durchsetzten , dass ihr Anführer , „Subcommandante Marcos“ ( Rafael Guillen ), die Bewegung in eine politische Organisation umwandeln konnte. Ab 1997 zeichnete sich das Ende einer Ära ab , als bei Wahlen zum Nationalkongress die seit 1929 die Regierung stellende PRI ihre absolute Mehrheit verlor ; bei den anno 2000 stattgefundenen Präsidentenwahlen wurde der amtierende Präsident und Kandidat der PRI , Ernesto Zedillo Ponce de León ( seit 1994 ), von Vicente Fox Quesada ( 2000–2006 ), dem Vertreter der rechtsliberalen „Partido Accion Nacional ( PAN ), geschlagen. In den sieben Jahrzehnten an der Macht war es der PRI nicht gelungen , soziale Reformen umzusetzen , vielmehr drang nun an die Öffentlichkeit , dass sie jahrzehntelang das organisierte Verbrechen und den Drogenhandel kontrolliert hatte und für den Schutz von Kriminellen Geld für die Wahlkämpfe und zur persönlichen Bereicherung ihrer Funktionäre erhalten hatte. Seit dem Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón Hinojosa ( 2006–2012 ) tobt ein Drogenkrieg von unfassbarer Grausamkeit zwischen den Drogenkartellen. Auch der Einsatz des Militärs konnte nicht verhindern , dass in den letzten sechs Jahren mehr als 50. 000 Menschen ermordet worden sind. Die Situation ist völlig unübersichtlich , Mexiko droht in Richtung eines „gescheiterten Staates“, „failed state“, zu kippen – eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht , auch wenn bei den Präsidentenwahlen 2012 wieder ein Kandidat der PRI siegte.
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Die von Kolumbus auf seiner ersten Reise 1492 entdeckte Insel Haiti wurde unter dem Namen „Hispaniola“ zum Ausgangspunkt der spanischen Eroberung Amerikas. Nachdem die indigene Bevölkerung im 16. Jahrhundert weitestgehend ausgerottet worden war , siedelte im westlichen Teil der Insel , dem heutigen Haiti , eine schmale weiße Oberschicht schwarzafrikanische Sklaven in großer Zahl an ; gegen Ende des 17. Jahrhunderts geriet Haiti unter französische Herrschaft , während der östliche , hauptsächlich von Mulatten ( Mischlingen ) und Kreolen ( Nachkommen der Weißen ) bewohnte Teil abwechselnd unter spanischer und französischer Kontrolle stand. Nachdem die Französische Revolution die Sklavenbefreiung gebracht hatte , erhoben sich Schwarze und Mulatten gegen die weiße „Elite“ und zwangen 1804 die Franzosen , die Insel Hispaniola zu räumen. Nach mehreren Versuchen trennte sich 1844 der Osten endgültig als Dominikanische Republik von Haiti. Beide Staaten gingen fortan getrennte Wege , erlebten aber jeder für sich Jahrzehnte des Chaos und der Bürgerkriege. Diese boten 1915/1916 den USA den Anlass für bewaffnete Interventionen. In der Dominikanischen Republik blieb die amerikanische Besatzung bis 1924 , in Haiti bis 1934. Danach etablierten sich in beiden Staaten Diktaturen. In Santo Domingo putschte sich General Rafael Leónidas Trujillo y Molina 1930 an die Macht ( Staatspräsident bis 1952 ); er und sein Bruder Héctor Bienvenido Trujillo ( Staatspräsident 1952–1960 ) führten das Land wie ein Familienunternehmen. Unruhen nach der Ermordung von Rafael Leónidas ( 1961 ) eskalierten 1965 zum Bürgerkrieg , den auf Antrag der OAS ( Organization of American States ) eine USInterventionstruppe beendete. 1966 erhielt die Dominikanische Republik ihre bis heute geltende Verfassung als Präsidialrepublik mit Wahlen im Vierjahresrhythmus. Die Wirtschaft erholte sich und ließ das seit einiger Zeit auch als Urlauberparadies bekannt gewordene Land in positivem Kontrast zum chaotischen Haiti erscheinen , wenngleich jede Wahl von zahlreichen Anschlägen mit etlichen Todesopfern begleitet ist. Gegenwärtig bereiten die illegalen Migranten aus dem benachbarten Haiti anscheinend die größten Probleme. Haiti gilt als Musterbeispiel eines gescheiterten Staates :174 Dort wurde 1957 der Arzt François Duvalier ( „Papa Doc“ ) zum Präsidenten gewählt ( bis 1971 ), der alsbald ein diktatorisches Herrschaftssystem errichtete und mithilfe seiner paramilitärischen Spezialarmee ( „Tonton Macoute“ ) ein Regime persönlicher Willkür führte. Bei der schwarzen Landbevölkerung genoss er gewisse Sympathien , weil er einerseits die alte städtische – mulattische – Führungselite ausgeschaltet hatte , andererseits den weitverbreiteten Voodoo-Kult förderte. Unter seinem Sohn Jean-Claude Duvalier ( „Baby Doc“; Staatspräsident 1971–1986 ) ver174 Vgl. das sehr persönlich gehaltene Sachbuch von Hans Christoph Buch : Haiti. Nachruf auf einen gescheiterten Staat. Berlin 2010.
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schlechterte sich mit Beginn der 1980er-Jahre die Wirtschaftslage ( sinkende Weltmarktpreise für Kaffee ) derart , dass die sozial motivierten Unruhen überhandnahmen. Schließlich ging Duvalier , der wie sein Vater in kleptokratischer Manier das Land ausgeplündert hatte , ins französische Exil ( Rückkehr 2010 ). Seither ist die Innenpolitik Haitis von Staatsstreichen , Putschen und Militärregierungen gekennzeichnet ; sie ließen das Land allmählich zum Status eines „failed state“ absinken. Nachdem 1991 der erste demokratisch gewählte Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide , ein ehemaliger Priester , kurz nach seinem Amtsantritt von den Militärs gestürzt und ein UN-Kontingent , das die Normalisierung einleiten sollte , 1993 von Bewaffneten an der Landung gehindert worden war , intervenierten 1994 im UN-Auftrag 20. 000 US-Soldaten. Sie setzten Aristide wieder in sein Amt ein , konnten aber in ihrer fünfjährigen Anwesenheit das Land nicht befrieden und nicht verhindern , dass das Elend weiter um sich griff. Kriminelle Banden , ein für Menschenrechtsverletzungen berüchtigter Polizeiapparat und ehemalige Soldaten der 1995 aufgelösten regulären Armee machten der Staatsgewalt das Regieren unmöglich. Entführungen , Ermordungen , Lynchjustiz , Drogenhandel und Korruption prägen den Alltag. 1996 lief Aristides erste Amtszeit aus , 2001 wurde der als Freiheitsheld gefeierte und beliebte Politiker abermals zum Staatspräsidenten gewählt , aber bereits 2004 anlässlich einer Rebellion vertrieben. Wiederum intervenierte daraufhin eine UNOTruppe mit 6. 700 Soldaten und 1. 600 Polizisten , doch auch sie konnte dem Chaos kein Ende bereiten. Rebellen kontrollierten große Landstriche , Todesschwadronen ( „Chimères“ ) des gestürzten Präsidenten blockierten die Hauptstadt. Schon vor diesem bisher letzten Putsch litt die Hälfte der Einwohner unter chronischer Unterernährung , danach brach die Lebensmittelversorgung vollends zusammen. Drei Viertel der Bevölkerung sind arbeitslos , die Lebenserwartung beträgt nur 52 Jahre. Da Haiti aufgrund der ineffizienten Landwirtschaft gezwungen ist , nahezu den gesamten Bedarf an Nahrungsmitteln zu importieren , wirkten sich die 2008 dramatisch gestiegenen Weltmarktpreise besonders auf die verarmte Bevölkerung aus ; die Folge waren Hungerrevolten in den Städten , wo tausende Demonstranten marodierend und plündernd durch die Straßen zogen. Das Unglück des gescheiterten Karibikstaates resultiert aber nicht nur aus der Unfähigkeit seiner Bewohner , technische und institutionelle Infrastrukturen aufzubauen , vielmehr erschüttern auch Naturkatastrophen die geplagte Bevölkerung : Hurrikans und Tropenstürme richten immer wieder schwere Verwüstungen an : Allein 2008 forderten ein Tropensturm und drei Hurrikans 800 Menschenleben , eine Million Haitianer verloren ihr Obdach. Das Erdbeben vom 12. Januar 2010 , die weltweit schlimmste Katastrophe seit 1970 , kostete 250. 000 Menschenleben und hinterließ 300. 000 Verletzte und 1,2 Millionen Obdachlose. Angesichts der anarchischen Zustände , der Plünderungen , Gewalttaten und der Cholera-Epidemie konnte die sofort angelaufene internationale Hilfe den zusammengebrochenen Staat bis auf Weiteres nicht retten.
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Wie auf Hispaniola wurde auch im 1492 entdeckten Kuba die indigene Bevölkerung ausgerottet. Gleichermaßen diente diese größte Karibikinsel den Spaniern als Flottenstützpunkt und Ausgangsbasis für die Eroberung des amerikanischen Festlandes. Seit dem 18. Jahrhundert wurden zur Bewirtschaftung der Zuckerrohr- und Tabakplantagen schwarzafrikanische Sklaven ins Land geholt ; ihre Befreiung erfolgte 1886. Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts ist durch Aufstände und Guerillakämpfe der Kreolen ( Weiße ) gegen die spanische Kolonialherrschaft gekennzeichnet , zuletzt führte der noch heute als Freiheitsheld gefeierte Dichter José Martí ( 1853–1895 ) den Unabhängigkeitskampf an. Eine bis dato ungeklärte Explosion des US-Kriegsschiffes „Maine“ im Hafen von Havanna gab den Anlass für den Spanisch-Amerikanischen Krieg ( 1898 ), als dessen Ergebnis Spanien die Insel an die USA abtreten musste. 1902 erhielt Kuba die volle Unabhängigkeit , hatte aber die Flottenbasis in der Bucht von Guantánamo abzutreten ( 1903 ) und das amerikanische Interventionsrecht zu akzeptieren. Tatsächlich gab es bis 1922 mehrere US-Interventionen , allerdings floss auch viel amerikanisches Kapital ins Land , namentlich in den Zuckerrohranbau. Heftige soziale Unruhen aufgrund der Weltwirtschaftskrise verhalfen 1934 General Fulgencio Batista y Zaldívar an die Macht , zunächst als Drahtzieher der Regierung , 1940 bis 1944 als Präsident mit diktatorischen Vollmachten. 1952 gelangte er durch Putsch abermals auf den Präsidentenstuhl. Wirtschaftlich lag Kuba seit Langem fest in amerikanischen Händen , zumal es hier mehr Freiheiten als in den USA gab : Der Tourismus boomte , mit Mafia-Geldern finanzierte Hotelbauten schossen in den Himmel , Havanna wurde zum Eldorado für Glücksspiel und Prostitution. Doch angesichts der sozialen Ungleichheit wuchs die Unzufriedenheit , und der gescheiterte Sturm auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba im Juli 1953 leitete einen Guerillakrieg gegen das Batista-Regime ein. Anführer der Rebellen war der ehemalige Rechtsanwalt Fidel Castro Ruz. Ihm gelang mit der Zeit ein breites Bündnis aller oppositionellen Kräfte , sodass schließlich die Kämpfe auch die Städte erreichten. Als in Santa Clara ein Panzerzug , den die Regierung zur Niederwerfung des Aufstandes losgeschickt hatte , zum Entgleisen gebracht wurde , gab Batista auf. Er und seine Minister flüchteten am 1. Januar 1959 in die Dominikanische Republik , und Fidel Castro zog in Havanna ein. Er machte sich zum Ministerpräsidenten ( 1976 Staatsoberhaupt ) und festigte als „Lider Máximo“ ( höchster Führer ) seine Macht , indem er alle politischen Gegner ausschaltete. Sein Mitkämpfer , der aus Argentinien stammende ehemalige Arzt Ernesto Guevara de la Serna ( den Beinamen „Che“ [ = Kamerad ] erhielt er , weil er diese Silbe immer zwischen seinen Sätzen ausrief ), leitete als Präsident der Nationalbank und Industrieminister ( 1961–1963 ) die Verstaatlichung nordamerikanischen Besitzes ein , sodass sich US-Präsident Dwight Eisenhower ( 1953–1961 ) 1960 zu einer Wirtschaftsblockade veranlasst sah. Im April 1961 scheiterte ein dilettantisch geplanter Invasionsversuch von ca. 2. 000 Exil-Kubanern in der „Schweinebucht“ ( Bahía de Cochinos ); die vom CIA ausgebildeten und
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von der US-Regierung ( nunmehr Präsident Kennedy ) allerdings nur halbherzig unterstützte Aktion mit dem Ziel , Fidel Castro zu stürzen , kostete 300 Menschenleben. Ihr politisches Ergebnis lag in der endgültigen Wende der kubanischen Politik hin zum Marxismus-Leninismus und zum Bündnis mit der UdSSR. Dieses führte ein Jahr später die Welt an den Rand eines Atomkrieges , als im Juni 1962 die Sowjets auf Kuba mit Bauarbeiten an Abschussbasen für Mittelstreckenraketen begannen.175 Sie stationierten dort 46. 000 Soldaten , errichteten Abschussrampen für Kurz- und Mittelstreckenraketen ( Reichweite bis Washington D. C. ), lagerten 90 Atomsprengköpfe ein und verlegten vier U-Boote mit je einer Interkontinentalrakete in die Nähe der Zuckerinsel. US-Präsident Kennedy ließ im Oktober um die Insel eine Seeblockade errichten und forderte ultimativ den Abbau der Basen und die Rückholung bereits gelieferter Raketen. Zugleich gab er den Streitkräften den Befehl , die Invasion auf Kuba vorzubereiten. Ein halbes Jahrhundert später erzählte Fidel Castro einem amerikanischen Journalisten , dass er damals den sowjetischen Minister- und Staatspräsidenten Chruschtschow ( 1953–1964 ) in einem Brief aufgefordert hatte , nicht nachzugeben und sogar einen Atomschlag gegen die USA zu riskieren ; Castros Resümee : „Nach allem , was ich seither gesehen und erlebt habe , war es das alles nicht wert.“176 Kennedy setzte nicht nur auf Drohgebärden , sondern auch auf Diplomatie : Nach einem informellen Gespräch zwischen dem Präsidentenbruder und Justizminister Robert Kennedy ( 1960–1964 )und dem sowjetischen Botschafter Anatoli Fjodorowitsch Dobrynin ( 1962–1986 ) entsprach Chruschtschow dem amerikanischen Ultimatum bereits binnen einer Woche ; beide Verhandlungspartner können sich auf ihre Fahnen heften , einen wesentlichen Beitrag zur friedlichen Lösung der Kubakrise geleistet zu haben. Die Weltöffentlichkeit erfuhr erst viel später , dass Chruschtschow auch wegen dringend benötigter Weizenimporte aus den USA und wegen Kennedys Versprechen , US-Raketenstellungen in der Türkei abzubauen , eingelenkt hatte. Nach außen hin verbesserten nun beide Staaten ihr Krisenmanagement , indem sie den sogenannten „heißen Draht“, also die direkte Telefonverbindung Kreml – Weißes Haus , installierten und erste Maßnahmen zur Rüstungskontrolle setzten. Kuba hingegen forcierte seine Unterstützungsmaßnahmen für kommunistische Guerillabewegungen , insbesondere in der Dominikanischen Republik , in Venezuela und in Bolivien ( wo 1967 der Berufsrevolutionär „Che“ Guevara erschossen wurde ), von 1975 bis 1989 währte das militärische Engagement zehntausender kubanischer Soldaten 175 Graham Allison : Essence of Decision. Explaining the Cuban Missile Crisis. Boston 1971. – Rolf Steininger : Die Kubakrise 1962. Dreizehn Tage am atomaren Abgrund. München 2011. 176 Originalwortlaut des mit dem US-Journalisten Jeffrey Goldberg vom Magazin „The Atlantic“ geführten Interviews in : www.theatlantic.com. Abgedruckt in : Die Presse , 10. September 2010 , S. 6.
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in Angola , Moçambique und Äthiopien. Kubas Beitritt zum RGW ( COMECON ) behinderte de facto die Industrialisierung , weil die Sowjets bereit waren , überhöhte Preise für den Zuckerexport der Karibikinsel zu zahlen und im Gegenzug deren industrielle Entwicklung mehr oder weniger unterbanden , sodass Kuba auf Dauer in deren Abhängigkeit gehalten werden konnte. Ein niedriger Lebensstandard , der Mangel an Konsumgütern , eingeschränkte Meinungsfreiheit , Korruption und die Zwei-Klassen-Gesellschaft ( Besitzer von US-Dollars / Nichtbesitzer von US-Dollars ) führten – trotz annehmbarer medizinischer Versorgung und gutem Schulsystem – zu großer Unzufriedenheit , die sich in den 1980er-Jahren in einer starken Auswanderungsbewegung äußerte. Mit dem Ende des RGW 1991 schlitterte das Land in die Wirtschaftskatastrophe , die auch durch forcierten Tourismus ( seit 1999 ) und durch das Bündnis ( 2000 ) mit dem exzentrischen Machthaber Venezuelas , Hugo Chavez ( siehe Kap. 9.E ), nicht aufgehalten werden konnte. Fidel Castro widersetzte sich bis zu seinem krankheitsbedingten Rücktritt ( 2008 ) beharrlich jeglicher wirtschaftlicher Liberalisierung und demokratischen Öffnung. Auf die Frage des oben zitierten USJournalisten , ob das kubanische Modell weiter wert sei , exportiert zu werden , antwortete der ehemalige „Lider Máximo“ 2010 ernüchternd : „Das kubanische Modell funktioniert nicht einmal mehr bei uns.“ 177 Fidels Bruder und Nachfolger Raul Castro musste notgedrungen zaghafte marktwirtschaftliche Maßnahmen einführen ; so entließ er 2010 etwa eine Million Staatsbedienstete und forderte sie auf , in privaten Unternehmen ( z. B. in Restaurants ) neue Arbeit zu suchen. Dies war aber nur möglich , weil 2011 das Kleinunternehmertum zunächst mit Einschränkungen , 2012 mit liberalerer Handhabung zugelassen wurde. C ) M ITTELAMERIKA , DIE KLASSISCHEN „BANANENREPUBLIKEN“
Unter Mittelamerika versteht man gemeinhin Mexiko , die Karibischen Inseln und die sich von Guatemala bis Panama erstreckende Festlandbrücke zwischen Nordund Südamerika. Im engeren Sinn werden hier unter Mittelamerika jene auf der Festlandbrücke gelegenen Staaten verstanden , die oft verächtlich als „Bananenrepubliken“ oder „amerikanischer Hinterhof “ bezeichnet werden. Tatsächlich leiden diese Staaten unter intensiver US-Einflussnahme , unter Unruhen , Korruption und Kriminialität. Den Negativrekord an tödlicher Gewalt hält Honduras , wo allein im Jahr 2012 an die 7. 000 Mordopfer ( bei acht Millionen Einwohnern ) zu beklagen waren. Guatemala war seit 1906 mehr oder weniger der „United Fruit Company“ ( UFCO ) ausgeliefert , die auf ihren riesigen Gütern Monokulturen betrieb und den Kleinbauern jenen Boden wegnahm , den diese zum Überleben gebraucht hätten. 1945 erhielt das Land eine demokratische Verfassung , zugleich begannen erste Boden177 Interview 2010 mit Jeffrey Goldberg , a. a. O.
C ) MITTELAMERIKA , DIE KLASSISCHEN „BANANENREPUBLIKEN“
reformen , die der Staatspräsident Jacobo Árbenz Guzmán ( 1950–1954 ) massiv fortsetzte. Als er die UFCO – gegen Entschädigung – enteignete und somit den USamerikanischen Interessen zuwiderhandelte , unterstützten die USA auf Betreiben des Außenministers John Foster Dulles ( 1953–1959 ) einen Militärputsch gegen Árbenz Guzmán. Die Bodenreform wurde nun rückgängig gemacht , zugleich wurden Parteien und Gewerkschaften verboten. Das Militärregime sicherte seinen Angehörigen nach und nach alle wichtigen Regierungs- und Verwaltungsposten und Großgrundbesitzungen. Seit Mitte der 1970er-Jahre tobte ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Militärs und paramilitärischen Verbänden einerseits und den vornehmlich von Indios getragenen Guerillabewegungen. Zwar fanden 1985 erstmals seit Langem wieder freie Wahlen statt , da aber die indianische Bevölkerungsmehrheit von den Wahlen ausgeschlossen blieb , kam es zu keiner Waffenruhe. 1992 erhielt die unermüdliche Kämpferin für die Rechte der Urbevölkerung , soziale Gerechtigkeit und ethnisch-kulturelle Versöhnung , Rigoberta Menchú ( geb. 1959 ), den Friedensnobelpreis. Aber die Mayaaktivistin stand lange Zeit auf verlorenem Boden. Zwar endeten 1996 die Kämpfe , als sich die Regierung des neu gewählten Präsidenten Álvaro Arzú Irigoyen ( 1996–2000 ) auf ein Abkommen zum Schutz der Indios verpflichtete. Den 36 Jahre währenden Kämpfen waren etwa 200. 000 Menschen , vornehmlich jugendliche Indios , zum Opfer gefallen. Doch das Friedensabkommen wurde in der Folge nicht eingehalten , vielmehr prägen nach wie vor Menschenrechtsverletzungen an der indianischen Mehrheitsbevölkerung , höchste Gewaltkriminalität Mittelamerikas ( 6. 000 Morde pro Jahr ), Bandenkriege von Verbrecherkartellen , marodierende Jugendbanden ( „Maras“ ), Drogenhandel , Armut ( 58 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze ), Korruption und Misswirtschaft ( alle Medien , Verkehrsmittel und Betriebe befinden sich in Händen von etwa 200 Familien ) den Alltag. Es ist bezeichnend , dass der von 1982 bis 1983 amtierende Militärdiktator Efraín Ríos Montt , dem genozidartige Massaker an den Ureinwohnern vorgeworfen werden , nach seiner Amtszeit insgesamt dreimal zum Parlamentspräsidenten gewählt werden konnte. 2011 gewann General Otto Pérez Molina die Präsidentenwahl : Er versprach , mit harter Hand gegen organisiertes Verbrechen , Drogenhandel und Jugendbanden vorzugehen. Tatsächlich leitete er kurz nach Amtsübernahme die Aufarbeitung der Vergangenheit ein : Es gab bereits langjährige Haftstrafen gegen Militärs wegen Menschenrechtsverletzungen. Sogar Ríos Montt stand wegen Genozids und Kriegsverbrechen vor Gericht , das 2013 verhängte Urteil ( 80 Jahre Haft ) musste allerdings wegen Verfahrensmängeln vorerst aufgehoben werden. Die kleine Republik Panama stand seit ihrer Gründung 1903 in unmittelbarer Abhängigkeit von den USA , die sich durch Pachtvertrag eine Zone ( 16 Kilometer breit , 82 Kilometer lang ) für den Bau , Betrieb und Schutz des 1914 fertiggestellten Panamakanals gesichert hatte. Die Pacht für den Kanal und die Dienstleistungen für durchfahrende Schiffe ( sowie der Bananenexport der United Fruit Company ;
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siehe oben ) bestritten mehr oder weniger die Finanzen der Republik. Der ursprünglich festgesetzte Pachtzins von 250. 000 US-Dollar wurde 1936 verdoppelt und 1956 abermals erhöht. Schon seit Ende der 1950er-Jahre erhoben sich Stimmen , die eine volle Souveränität Panamas über die Kanalzone anstrebten und als äußeres Zeichen das Hissen der panamaischen Flagge auch in der US-Kanalzone forderten ( „Flaggenstreit“ ). 1977 unterzeichneten US-Präsident Jimmy Carter und Panamas Regierungschef , General Omar Torrijos Herrera ( 1972–1978 ), den Panamakanal-Vertrag , demgemäß sich die USA bis zur Jahrtausendwende aus der Kanalzone zurückziehen würden , die Neutralität der Wasserstraße aber sichergestellt wissen wollten und sich das Recht vorbehielten , den Kanal gegen jede Bedrohung zu verteidigen. Bereits 1982 gingen die Hoheitsrechte der Kanalzone weitgehend auf Panama über ; damals machten die Einkünfte aus der Kanalzone einschließlich Kanalgebühren etwa ein Viertel des panamaischen Bruttoinlandsproduktes aus. Die innenpolitische Szene des mittelamerikanischen Staates ist durch ein schwach ausgeprägtes Demokratiebewusstsein und durch häufige Unruhen gekennzeichnet. Hinter einer Reihe von Umstürzen zog mehrmals der mächtige Geheimdienstchef , Manuel Antonio Noriega Morena , die Fäden ( seit 1983 Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Staatspräsident ). Trotz seiner Aktivitäten im Drogenhandel und seiner Beteiligung an der Ermordung von Oppositionspolitikern arbeitete der CIA lange mit ihm zusammen ; erst als 1987 seine Machenschaften , zu denen auch eine Wahlfälschung zählte , aufgedeckt worden waren und Demonstrationen , Streiks und Gewalttaten überhandnahmen , ließen ihn die USA fallen. Sie eröffneten 1988 in Miami eine Anklage gegen Noriega und verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Panama. 1989 scheiterte ein Offiziersputsch gegen den Machthaber , vor allem , weil die in der Kanalzone stationierten amerikanischen Truppen nicht in die Straßenkämpfe eingriffen. Als sich Noriega von der Nationalversammlung zum „Obersten Führer“ ernennen ließ , erklärte dieser den USA den Krieg. Bei einem bewaffneten Zwischenfall wurde ein US-Offizier getötet. Das gab dem US-Präsidenten George Bush den Vorwand , im Dezember 1989 die Militärintervention anzuordnen. Die Kämpfe kosteten 500 panamaischen und 21 amerikanischen Soldaten das Leben. Im Januar 1990 musste sich Noriega den Amerikanern stellen. Er wurde in Miami wegen Rauschgifthandels , Verschwörung , Geldwäsche und Bestechlichkeit vor Gericht gestellt und zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt ( 2007 freigelassen , 2010 nach Frankreich ausgeliefert und dort wegen Drogenhandels zu sieben Jahren Haft verurteilt ). Im Dezember 1991 beschloss das Parlament die Abschaffung der Streitkräfte , an ihrer statt traten Polizeieinheiten mit etwa 14. 000 Mann in den Dienst. Am 31. Dezember 1999 endete die Hoheit der USA über die Kanalzone , sodass Panama seither die volle Souveränität über sein gesamtes Staatsgebiet genießt. Das von Kolumbus 1502 entdeckte und seit 1838 unabhängige Nicaragua hatte von Anfang an mit einer instabilen innenpolitischen Situation und raschem Regie-
C ) MITTELAMERIKA , DIE KLASSISCHEN „BANANENREPUBLIKEN“
rungswechsel zu kämpfen. 1912 übernahmen die USA die militärische , ökonomische und politische Kontrolle. Von 1927 bis 1932 kämpfte der Guerillaführer César Augusto Sandino erfolgreich gegen die Stationierung amerikanischer Soldaten. Die nicaraguanische Nationalgarde blieb aber weiterhin US-abhängig , ermordete 1934 Sandino und stellte in der Folge eine Reihe von Diktatoren. Nicaragua wurde zum Prototypen einer Bereicherungsdiktatur oder „Kleptokratie“, als deren Hauptvertreter der Somoza-Clan in die Geschichte eingegangen ist. Ihr Begründer , Anastasio Somoza García , gen. Tacho , gelangte als Oberbefehlshaber der Nationalgarde 1936 durch Staatsstreich auf den Präsidentenstuhl ( 1936–1947 , 1950–1956 ) und brachte wesentliche Teile der Wirtschaft unter seine Kontrolle , sodass er seinen Söhnen den Machterhalt auf Dauer sichern konnte. Nach seinem gewaltsamen Tod folgte ihm der ältere Sohn León Luis Anastasio Somoza Debayle ( bis 1963 ); er setzte die amerikafreundliche Politik seines Vaters fort und vermehrte durch unlautere Maßnahmen den Besitz seiner Familie. Sein jüngerer Bruder , Anastasio Somoza Debayle , gen. Tachito , diente zunächst als Oberbefehlshaber und fungierte 1967 bis 1972 sowie 1974 bis 1979 als Präsident. Eine Erdbebenkatastrophe 1972 ermöglichte es ihm , alle Notstandskompetenzen an sich zu reißen und seine Besitztümer auf Kosten der Not leidenden Bevölkerung noch zu vergrößern. Ein solcher Regierungsstil rief Widerstand hervor , getragen von der Oppositionspartei Frente Sandinista de Liberación Nacional ( FSLN , Sandinistische Befreiungsbewegung , benannt nach dem oben erwähnten Guerillaführer ). Ihre Forderung nach Sozialreformen quittierte Somoza mit schärfsten Repressionen. Die Ermordung des führenden Oppositionellen und Zeitungsherausgebers Pedro Joaquin Chamorro Cardenal 1978 bildete das Fanal für den nun ausbrechenden Bürgerkrieg , in dem die FSLN letztlich den Sieg davontrug. Der Volksaufstand kostete mindestens 15. 000 Tote und 100. 000 Verwundete. Somoza ging im Juli 1979 ins Exil , wo er bald darauf einem Attentat zum Opfer fiel. Eine „Junta des Nationalen Wiederaufbaus“ übernahm nun die Macht ( 1979–1984 ). Ihr gehörten unter anderem Daniel Ortega Saavedra und Chamorros Witwe , Violeta Barrios de Chamorro , an. Eine der ersten Maßnahmen der Junta war die Verstaatlichung des Somoza-Besitzes , die Auflösung der ( 12. 000 Mann starken ) Nationalgarde und des Parlaments. Schon nach einem Jahr brach die Junta wegen Uneinigkeit des künftigen wirtschaftspolitischen Kurses auseinander. Die linksmotivierten Vertreter der Sandinisten nahmen das Heft in die Hand und orientierten sich unter dem Juntachef Daniel Ortega ( 1984–1990 und ab 2007 Staatspräsident ) immer deutlicher an Moskau und Havanna. Mit sowjetischer Hilfe und kubanischen Ausbildnern wurde eine beachtliche Armee von 75. 000 Mann und 250. 000 Milizionären aufgebaut , gleichzeitig lieferte das nunmehr marxistisch-leninistische Nicaragua Waffen an die Guerilleros in El Salvador. Bodenreform und Verstaatlichung von Produktionsmitteln stürzten das Land in eine schwere Wirtschaftskrise , zugleich formierten sich ab 1981 in den Nachbarstaaten Honduras und Costa Rica antisandinistische
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Rebellen , die sogenannten „Contras“, welche von den USA unterstützt wurden und das Land nach und nach in einen Bürgerkrieg verwickelten.178 Nicaragua wurde Schauplatz eines klassischen Stellvertreterkrieges im Rahmen des Kalten Krieges. Von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt , verübten die Sandinisten zwischen 1982 und 1987 einen Genozid an den Miskito-Indianern , weil sich diese der von den Sandinisten verordneten Zwangsassimilierung widersetzt hatten ; an die 15. 000 mussten sterben , sei es , dass sie erschossen wurden , sei es , dass man sie nach der Zerstörung ihrer Dörfer gezielt dem Hungertod preisgab. Etwa 30. 000 Indios wurden in Zwangs- und Arbeitslager deportiert. 1985 verhängten die USA auf Betreiben von Präsident Ronald Reagan ein Handelsembargo. Allerdings versagte der Kongress dem Präsidenten den Wunsch nach finanzieller Unterstützung für die Contras. Daraufhin veranlasste Reagan die illegale Finanzierung der Contras mit Mitteln aus geheimen Waffenverkäufen an den Iran ( „Iran-Contra-Affäre“, 1986–1989 ). Nach sieben Jahren Bürgerkrieg mit 50. 000 Toten , 400. 000 Flüchtlingen , einer zerstörten Wirtschaft und einer Inflation von 36. 000 Prozent siegte unter den Sandinisten die Erkenntnis , dass die Verwirklichung des kubanischen Modells gescheitert ist. Um das Land vor weiterem Unheil zu bewahren , akzeptierten sie einen Waffenstillstand , richteten eine zentrale Versöhnungskommission ein und unterwarfen sich den demokratischen Spielregeln. Im Februar 1990 fanden freie Präsidentenwahlen statt. Überraschungssiegerin wurde ( die oben erwähnte ) Violeta Barrios de Chamorro ( Staatspräsidentin 1990–1996 ). Es fand ein friedlicher und geordneter Machtwechsel statt. 38 Geberländer , allen voran die USA , aber auch die zwölf Staaten der Europäischen Gemeinschaft , leisteten Finanzhilfe für den Wiederaufbau. Die amerika freundliche Politik endete mit den Wahlen vom November 2006 , als die Sandinisten wieder die Mehrheit erlangten. Seit Januar 2007 ist Daniel Ortega wieder Staatspräsident. Er hält sich zwar – mit Einschränkungen – an die demokratischen Spielregeln , lehnt sich aber eng an Kuba , Venezuela und den Iran an , um Hilfsgelder für seinen nach wie vor zweitärmsten Staat Lateinamerikas zu erhalten. D ) L A-PLATA-LÄNDER
In den Mündungstrichter Rio de la Plata strömen die Flüsse Paraná und Uruguay , deren riesiger Einzugsbereich weite Teile Argentiniens , Brasiliens , Paraguays und Uruguays ( sowie des Andenstaates Bolivien ) entwässert. Die bedeutende Wasserstraße verbindet diese Staaten. 1991 gründeten Argentinien , Brasilien , Paraguay und Uruguay den gemeinsamen Markt „Mercosur“. An der Schnittstelle der Interessenzonen von Brasilien und Argentinien liegt das dünn besiedelte Paraguay , auf dessen Boden sich im 17. und 18. Jahrhundert 178 Michael Krennerich : Wahlen und Antiregimekriege in Zentralamerika. Opladen 1996.
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der „Jesuitenstaat“ ausdehnte. Die Unabhängigkeitserklärung der heutigen Republik erfolgte 1811. Das Geschehen des frühen 20. Jahrhunderts ist durch politische und wirtschaftliche Instabilität sowie durch den verlustreichen Krieg mit Bolivien ( 1932 ) um den Besitz des Gran Chaco ( Ebene im zentralen Südamerika ) geprägt. 1954 übernahm das Militär unter General Alfredo Stroessner die Macht ( Staatspräsident bis 1989 ). Mithilfe der Armee und paramilitärischer Einheiten unterdrückte er jegliche Opposition. Seine antikommunistische Außenpolitik lehnte sich eng an die USA an , Bündnispartner waren auch die Militärregierungen in Argentinien und Brasilien. Erst 1967 erhielt Paraguay eine Verfassung , die das demokratische Leben zumindest formell in Schwung brachte. Aber sowohl Stroessner , der 1989 von den Militärs gestürzt wurde , als auch alle nachfolgenden Regierungen scheiterten daran , dringend nötige Reformen auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Sozialsystems durchzusetzen und der zunehmenden Armut auf dem Lande Herr zu werden. Korruption , Regierungskrisen wegen parteiinterner Machtkämpfe , Putschversuche , Morde an Politikern und organisierte Kriminalität prägen das Tagesgeschehen. Wahlen im Jahr 2000 bescherten der seit 53 Jahren unangefochten regierenden konservativen Partido Colorado die erste Niederlage ; sie stellte zwar noch die Präsidenten , doch mussten diese nun mit Ministern aus verschiedenen Lagern zusammenarbeiten , was das Regieren zusätzlich erschwerte. Die nun begonnene juristische Aufarbeitung der Verbrechen während der Stroessner-Ära trug keineswegs zur Beruhigung der innenpolitischen Lage bei , da es immer noch zahlreiche Anhänger des 2006 im brasilianischen Asyl verstorbenen Exdiktators gab. Wahlen des Jahres 2008 beendeten vorübergehend die Zeit der Colorado-Präsidenten. Neuer Staatspräsident wurde Fernando Lugo Méndez , den das Mitte-Links-Bündnis aufgestellt hatte. Der der Befreiungstheologie anhängende emeritierte Armenbischof versprach , den Kampf gegen Korruption und Armut aufzunehmen und eine Bodenreform durchzuführen. In Paraguay verfügen nur zwei Prozent der Bevölkerung über 77 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Trotz Widerstands der nach wie vor mächtigen Colorado-Partei und der mit ihr verbündeten Agrarlobby konnten bis 2011 ca. 100. 000 Hektar Land an 10. 000 Bauern verteilt werden , 200. 000 Bauern warten noch auf ihre Zuteilung. Wie lange sie warten werden , ist ungewiss , denn 2012 wurde Lugo durch das Parlament seines Amtes enthoben. Sein bisheriger Vizepräsident regierte interimistisch bis zu den Neuwahlen 2013 : Neuer Präsident wurde der Tabaktycoon Horacio Cartes ; mit ihm kehrte die Colorado-Partei an die Macht zurück. Uruguay , die „Republik östlich des Uruguay“, proklamierte 1825 ihre Unabhängigkeit und erlebte ähnlich wie Paraguay im 19. und frühen 20. Jahrhundert unruhige Jahrzehnte der Bürgerkriege und Kriege. Auch nach 1945 prägten Inflation und wirtschaftliche Stagnation den Alltag , aber immerhin hielten sich die demokratischen Einrichtungen so lange , bis in den späten 1960er-Jahren die Aktivitäten der Stadtguerillatruppe „Movimiento der Liberación Nacional-Tupamaros“ den Staat in
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ein diktatorisches System trieben. Der 1969 verhängte Ausnahmezustand erlaubte es Präsident Juan María Bordaberry Arocena ( 1972–1976 ), die Tupamaros mithilfe von Militär , Polizei und Paramilitärs zu zerschlagen. Erst einige Jahre später kam der Demokratisierungsprozess in Gang , und 1984 fanden nach elfjähriger Militärherrschaft wieder freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Ein Amnestiegesetz von 1989 , das die Gewaltverbrechen jener Zeit unter Straflosigkeit stellte und zur nationalen Versöhnung beitragen sollte , stieß auf heftigen Widerspruch und beschäftigt die Innenpolitik bis zum heutigen Tag. Zwei Jahre nach dem Staatsbankrott von Argentinien ( 2002 , siehe unten ) geriet auch Uruguay , die einstige „Schweiz Südamerikas“, in den Sog der Finanzkrise und konnte sich nur durch massive Umschuldungen vor dem Zusammenbruch retten. In dem Jahr der Krise ( 2004 ) beendeten Neuwahlen die 170 Jahre währende Ära der beiden konservativen Traditionsparteien Partido National ( „Blancos“ ) und Partido Colorado , welche abwechselnd oder gemeinsam regiert hatten. Der ehemalige Mitbegründer der Tupamaros und nach deren Zerschlagung jahrelang inhaftierte José Mujica Cordano trat sein Amt als Senatspräsident an ( seit 2010 Staats- und Regierungschef ). Das Amnestiegesetz von 1989 blieb bis 2011 in Kraft , wurde aber schon vorher in mehreren Einzelfällen aufgehoben ; so wurde der einstige Juntachef Bordaberry 2006 verhaftet und zu einer 30-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt , die er jedoch aus Gesundheitsgründen im Hausarrest abbüßen durfte ( er starb 2011 ). Außenpolitisch schloss sich Uruguay seit 2011 dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez an ( gest. 2013 , siehe Kap. 9.E ). Das seit 1816 unabhängige Argentinien erlebte zwischen 1880 und 1913 die beste Zeit seiner Geschichte : Rindfleisch- und Getreideexporte bescherten dem riesigen Land hohe Einnahmen , sodass sich massenweise europäische Einwanderer , namentlich aus Spanien und Italien , angezogen fühlten. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 begannen die sozialen und politischen Spannungen. Militärdiktatoren sahen sich zu Einsparungen im Sozialbereich genötigt , Oberst Juan Domingo Perón steuerte 1944 als Arbeitsminister und Vizepräsident einen gegenläufigen Kurs und setzte arbeiterfreundliche Sozialmaßnahmen um. Ein Militärputsch brachte ihn für kurze Zeit ins Gefängnis , seine Ehefrau , die als Schauspielerin und Radiosprecherin populäre Maria Eva Duarte de Perón , gen. Evita , organisierte gemeinsam mit den Gewerkschaften einen Arbeiteraufmarsch und erzwang seine Freilassung. Von nun an beherrschte der Machtkampf zwischen den Militärs , die sich dem Wirtschaftsliberalismus verschrieben haben , und den protektionistisch orientierten Peronisten , welche den sozialen Wohlfahrtsstaat anstrebten , die politische Szene. 1946 gewann der inzwischen zum General avancierte Perón die Präsidentschaftswahlen. Unter seiner zunehmend autoritären Regierung wurden große Industriebetriebe verstaatlicht , private Klein- und Mittelunternehmen aber gefördert , dank des Einflusses seiner Ehefrau Evita wurden nicht nur etliche soziale Einrichtungen für Arbeiter geschaffen , sondern 1947 auch das Frauenwahlrecht eingeführt. Evita , die „Heilige
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des Mikrofons“, starb schon 1952 und musste nicht mehr erleben , wie das Haushaltsdefizit explodierte und die Inflation alle Sparguthaben dahinschmelzen ließ. Perons populistische Maßnahmen erwiesen sich als nicht nachhaltig , weil sie nichts an der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur änderten. Nach zwei gescheiterten Putschversuchen fegte ein vom Militär unterstützter Aufstand Peróns Regime hinweg. Die folgenden Militärregierungen hoben die peronistischen Einrichtungen auf und steuerten einen wirtschaftsliberalen Kurs , der zu Lasten der unteren Bevölkerungsschichten ging. Streiks und Demonstrationen waren die Folge , vom Exil aus steuerte Perón die Aktivitäten der peronistischen Gewerkschaften , zugleich entstanden linksradikale peronistische Guerillagruppen , die einerseits den Kampf gegen die Militärherrschaft aufnahmen , andererseits die Rückkehr Peróns forderten. 1973 kehrte Perón tatsächlich nach Argentinien zurück und gewann auch die Präsidentschaftswahlen , wurde aber der innenpolitischen Unruhen nicht Herr , zumal der Terrorismus seine Eigendynamik entwickelt hatte. Nach seinem Tod 1974 übernahm seine ( dritte ) Ehefrau und bisherige Vizepräsidentin , María Estela Martínez de Perón , gen. Isabelita , die Präsidentschaft. Während ihrer zweijährigen Amtszeit verschärfte sich die wirtschaftliche und politische Lage dramatisch , selbst der von ihr verhängte Ausnahmezustand beendete den bürgerkriegsähnlichen Terrorismus linker und rechter Untergrundorganisationen nicht. Ein Militärputsch beendete ihre Regierung. Von 1976 bis 1981 führte General Jorge Rafael Videla die Militärjunta an. Parteien waren nun verboten , das Parlament wurde aufgelöst und die Pressefreiheit eingeschränkt. Im Kampf gegen den Terrorismus , auf dessen Konto monatlich hundert politische Morde gingen , ließ sich die Junta ihrerseits schwerste Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen : Sonderkommandos verschleppten , folterten und ermordeten politische Gegner , die sie unter Sozialisten , Peronisten , Kommunisten , Gewerkschaftern , Studenten , Journalisten , ja sogar Nonnen ausmachten. Tausende wurden aus Flugzeugen ins Meer geworfen , zu Land fand man später Massengräber mit 13. 000 Opfern. Die Militärdiktatur steuerte nun Hand in Hand mit drastischen Einsparungen im sozialen Bereich einen extrem wirtschaftsliberalen Kurs : Das Austerity-Programm sollte die Marktwirtschaft stärken und durch Reprivatisierung staatlicher Unternehmen die Verschuldung eindämmen und die Inflation senken. Dies führte innerhalb von fünf Jahren zu einer hohen Vermögenskonzentration und zugleich zu einem allgemeinen Kaufkraftverfall ; die Löhne sanken um ein Drittel , und gerade jene Klein- und Mittelbetriebe , die einst von Perón gefördert worden waren , gingen nun in Konkurs. Um von der schweren Krise abzulenken , riskierte die Junta außenpolitische Abenteuer : So lehnte sie 1978 im Besitzstreit um den Beaglekanal , einer Meeresstraße in Feuerland , den Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofes ab und ließ an der Grenze zu Chile sogar Truppen aufmarschieren , bis 1979 auf Vermittlung des Vatikans ein Grenzabkommen akzeptiert wurde ( die atlantische Seite wurde Argentinien , die pazifische Seite Chile
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zugesprochen ). Im März 1981 löste der als gemäßigt geltende General Roberto Eduardo Viola den glücklosen Videla im Präsidentenamt ab , musste aber schon ein halbes Jahr später krankheitshalber zurücktreten. General Leopoldo Fortunato Galtieri , der wieder eine härtere Haltung einzunehmen versprach , übernahm die Führung der Militärregierung. Auch er suchte außenpolitische Erfolge , um die katastrophale Wirtschaftslage zu kompensieren : Zuerst wärmte er den Streit um den Beaglekanal nochmals auf , nach dessen Beilegung befahl er am 2. April 1982 die Invasion auf den britischen Falklandinseln ( in Argentinien Islas Malvinas genannt ). Die knapp über hundert auf den Inseln stationierten britischen Soldaten mussten vor den 900 argentinischen Soldaten nach kurzen Gefechten kapitulieren. Eine anfängliche nationalistische Euphorie wich jedoch alsbald der Ernüchterung , als bekannt wurde , dass die britische Premierministerin Margret Thatcher ( 1979–1990 ; gest. 2013 ) der Royal Navy die Rückeroberung der 14. 800 Kilometer von England und 500 Kilometer von Argentinien entfernten Inseln angeordnet hatte. Der Falkland-Krieg war insofern ein untypischer Krieg , als er nicht , wie während des Kalten Krieges zu erwarten , zwischen zwei ideologisch verfeindeten Staaten ausgetragen wurde.179 Der UN-Weltsicherheitsrat verurteilte mit zehn Stimmen ( eine Gegenstimme , vier Enthaltungen ) das argentinische Vorgehen , die EG verhängte ein Wirtschaftsembargo , und Großbritannien mobilisierte für die nun anlaufende „Operation Corporate“ eine gewaltige Flotte von 25 Kriegsschiffen ( davon zwei Flugzeugträger und sechs U-Boote ) und 67 angemieteten zivilen Versorgungsschiffen ( Tanker , Frachter , Passagierschiffe ). Kommandant war Admiral Sir John Forster Woodward ( gest. 2013 ).180 Galtieri standen 15 Kriegsschiffe und 146 Kampfflugzeuge zur Verfügung , er stationierte auf den Inseln 14. 000 Soldaten ( drei Brigaden ), die jedoch an Ausbildung , Führung und Logistik den 9. 000 am 21. Mai 1982 angelandeten britischen Soldaten nicht gewachsen waren. Als kriegsentscheidend erwies sich aber die britische Luftüberlegenheit dank ihrer beiden Flugzeugträger , während der argentinische Flugzeugträger wegen Maschinenproblemen nicht genug Fahrt machte , um seine Flieger starten zu lassen. Die vom Festland aus operierenden argentinischen Jäger konnten sich wegen der großen Entfernung auf keinen Luftkampf einlassen und boten daher den zu begleitenden Bombern keinen ausreichenden Schutz. Nichtsdestoweniger verloren die Briten zwei Zerstörer , zwei Fregatten , zwei Begleitschiffe , zehn Jabos und 24 Hubschrauber , die argentinischen Verluste beliefen sich auf den noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Kreu179 Wolfgang Etschmann : Der Krieg um die Falkland-Inseln. In : Truppendienst 2 , 2007 , S. 102–110. 180 Vgl. das Interview mit Admiral Woodward in : Die Presse , 14. Juni 2012 , S. 8. – Siehe insbes. : John Foster Woodward : One Hundred Days. The Memoirs of the Falkland Battle Group Commander. Annapolis 1992.
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zer „General Belgrano“ und auf ein U-Boot , ferner auf 86 Flugzeuge und 16 Hubschrauber. An Gefallenen hatten die Argentinier 712 Mann , die Briten 265 Soldaten zu beklagen. Am 13. Juni kapitulierten die argentinischen Truppen , vier Tage später trat General Galtieri zurück. In der Debatte um seinen Nachfolger zerbrach die Junta ; angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage ( Hyperinflation von 20. 000 Prozent ) und der allgemeinen Verbitterung konnte das Militär seine Machtposition auf Dauer nicht halten. Nach und nach kehrte das Land zur Demokratie zurück. Militärgerichte verurteilten den Expräsidenten Videla , der für den Tod von 30. 000 Menschen verantwortlich gemacht wurde , zu lebenslanger Haft ; nach fünf Jahren vorzeitig entlassen , musste Videla 2008 endgültig ins Gefängnis zurückkehren , wo er 2013 starb. General Viola wurde nach zehnjähriger Haft 1992 begnadigt ( er starb 1994 ). Der zu zwölf Jahren Haft verurteilte General Galtieri war zwar 1989 begnadigt worden , wurde jedoch 1998 abermals verhaftet ( er starb 2003 ). Seit 1989 regieren wieder die Peronisten in Argentinien , zuerst der glücklose Carlos Menem ( bis 1999 ), dem es nicht gelang , die Wirtschaftsprobleme in den Griff zu bekommen. Die schwere Wirtschafts- und Finanzkrise gipfelte 2001 im Staatsbankrott , als die Banken alle Konten und Sparguthaben sperrten , die Währung um zwei Drittel abgewertet wurde und die Regierung die Zahlung an ihre Gläubiger einstellte. Präsident Néstor Kirchner ( 2003–2007 ) erreichte schließlich einen „Haircut“, also einen Schuldennachlass von 70 Prozent. Trotz des harten Sanierungsprogramms stieg seine Beliebtheit unter der Bevölkerung , zumal sich die Wirtschaft sichtlich erholte und auch die Zahl der Arbeitslosen halbiert werden konnte. Nach Ende seiner Amtszeit wurde dessen Ehefrau Cristina Fernández de Kirchner , ebenfalls eine Linksperonistin , zur Präsidentin gewählt ; sie galt als Platzhalterin für ihren Mann bei den nächsten Wahlen , sein überraschender Tod 2010 ließ sie abermals kandidieren. Die einstmals portugiesische Kolonie Brasilien war von 1822 bis 1889 ein unabhängiges Kaiserreich , danach erhielt der flächen- und einwohnermäßig größte Staat Lateinamerikas seine republikanische Staatsform. Die Entwicklung der jüngsten Vergangenheit zeigt zu jener der anderen Staaten Südamerikas erstaunliche Parallelen : Durch den Ersten Weltkrieg erfuhr Brasilien einen spürbaren Industrialisierungsschub und einen Boom des Kaffee-Exports. Die Weltwirtschaftskrise verlieh links- und rechtsextremistischen Parteien großen Zuwachs und ermutigte Präsident Getúlio Vargas ( 1930–1945 ), diktatorisch zu regieren. Eine Revolution erzwang 1945 Vargas Rücktritt und die Wiedereinführung der Demokratie. 1950 wurde Vargas abermals zum Präsidenten gewählt , er konnte jedoch der anstehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht mehr Herr werden und nahm sich 1954 , nachdem er von Militärs zum Rücktritt aufgefordert worden war , das Leben. Präsident Juscelino Kubitschek de Oliveira ( 1956–1961 ) förderte die industrielle Entwicklung , insbesondere die Erschließung von Erdölquellen , und betrieb mit Energie die Gründung der neuen Hauptstadt Brasilia – sie sollte die Bevölkerungsmassen von den Küsten-
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städten Rio de Janeiro und São Paulo ins Landesinnere abziehen ( was nicht wirklich gelang ). Der Staatshaushalt geriet bei solchen Vorhaben aus den Fugen , Sparmaßnahmen bei gleichzeitigem Währungsverfall und hoher Korruption ließen die unteren Bevölkerungsschichten noch mehr verarmen. Erfolglos versuchten Kubitscheks Nachfolger , durch Verstaatlichungen und Landenteignungen dieser Entwicklung gegenzusteuern. Von 1964 bis 1985 , also etwa zur selben Zeit wie in Argentinien , hatte das Militär die Macht inne und ließ sich , ähnlich wie in Argentinien , schwere Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen. Im Unterschied zu seinem südlichen Nachbarn wurden die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur aber dank eines Amnestiegesetzes von 1979 nicht gesühnt. Die Dauerkrise währte fort , auch als das Land 1985 zur Demokratie zurückkehrte. Der Korruption war nicht beizukommen , Binnen- und Auslandsschulden explodierten , und Mitte der 1990erJahre rückte der Staatsbankrott in greifbare Nähe , 1994 betrug die Inflation bereits 3. 000 Prozent. Notstandsmaßnahmen des Präsidenten Collor de Mello ( 1990–1992 ) sollten einerseits die Korruption , andererseits die an Heftigkeit zunehmenden Unruhen bekämpfen. So versuchte de Mello , die riesigen brachliegenden Ländereien auf besitzlose Landarbeiter aufzuteilen ; die betroffenen Großgrundbesitzer gingen mit gedungenen Mördern gegen Bauern und Vertreter der Bauerngewerkschaften vor und blockierten auf diese Weise die Bodenreform. Desgleichen nahm die Gewalt gegen die Amazonasindianer zu : De Mello hatte den Yanomami-Indianern 94. 000 Quadratkilometer Regenwald zugesprochen , Todesschwadronen richteten Massaker unter ihnen an. Auch die Großstädte wurden und werden von Todesschwadronen und selbsternannten Hinrichtungskommandos heimgesucht ; dort sind deren Opfer politische Funktionäre und Straßenkinder. Collor de Mello musste 1992 wegen eines später nicht erhärteten Korruptionsvorwurfs zurücktreten , Präsident Fernando Henrique Cardoso ( 1995–2003 ) gelang es , mittels einer neoliberalen Wirtschaftspolitik den Staatshaushalt zu sanieren und die Währung zu stabilisieren ; sein eiserner Sparwille ging freilich zu Lasten der Sozialfürsorge , der Arbeitsplätze und des Bildungswesens. Cardosos wichtigstes Vorhaben , das brachliegende Land von Großgrundbesitzern an Landarbeiter und Kleinbauern zu verteilen , zeitigte beachtliche Erfolge , ging aber den Betroffenen zu langsam : Bis zur Jahrtausendwende konnte seine Regierung 93 Millionen Hektar ( elf Prozent des Staatsgebietes ) enteignen ; 564. 000 besitzlose Familien wurden auf 18 Millionen Hektar angesiedelt , aber 4,8 Millionen warten noch immer auf ihre Zuteilung. Die Proteste der Bewegung der Landlosen ( Movimento dos Sem Terra ) mit ihren etwa fünf Millionen Mitgliedern ufern seither aus und lähmen zeitweise das öffentliche Leben. Bei gewaltsamen Besetzungen und Zusammenstößen mit der Polizei und mit Großgrundbesitzern gibt es immer wieder Todesopfer. Neuwahlen brachten 2003 mit Luiz Inácio ( Lula ) da Silva erstmals einen Vertreter der politischen Linken an die Staatsspitze. Mit seinem „brasilianischen Modell“ eines Staatskapitalismus ( staatlicher Einfluss auf
E ) DIE ANDENSTAATEN
Schlüsselindustrien mittels Kreditvergabe ), gepaart mit Förderungen der Privatwirtschaft , konnte er beachtliche wirtschaftliche Erfolge verbuchen : Insbesondere bildete sich in Ansätzen eine neue Mittelschicht heraus , die einen Konsumrausch auslöste und die Binnennachfrage ankurbelte , sodass Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden. Die wahren Probleme blieben und bleiben jedoch bestehen : 50 der knapp 200 Millionen Brasilianer leben unterhalb der Armutsgrenze , die Hälfte von ihnen leidet Hunger , 25. 000 Menschen werden unter sklavenähnlichen Zuständen zur Arbeit gezwungen. Zwar hat sich die zehntgrößte Volkswirtschaft zu einem der wichtigsten Lebensmittelexporteure der Erde entwickelt , doch geht mit der Erweiterung der Anbaufläche die systematische Zerstörung des Regenwaldes einher. Brasilien leidet seit Jahrzehnten unter einer beharrlich zunehmenden Gewaltkriminalität , unter Polizeiübergriffen und außergerichtlichen „Hinrichtungen“, unter Bandenkriegen zwischen Drogenhändlern und Milizen , unter Gewaltaktionen gegen die Regenwaldindianer , unter einer alle Bereiche des öffentlichen Lebens vergiftenden Korruption und – nicht zuletzt – unter der ungelösten Landlosenfrage. 2011 wurde Lula da Silva von seiner Parteigenossin und einstigen Stadtguerillera , Dilma Rousseff , abgelöst. E ) D IE ANDENSTAATEN
Das 1818 von Spanien getrennte Chile erlebte im 19. Jahrhundert eine , verglichen mit den anderen Staaten Lateinamerikas , relativ ruhige Entwicklung. Der Sieg im Salpeterkrieg ( 1879–1883 ) gegen Peru und Bolivien sicherte dem Land reiche Kupferminen und das Weltmonopol für Salpeter. Aufgrund einer raschen Bevölkerungszunahme zwischen 1890 und 1920 und einer rasanten Industrialisierung wuchsen die sozialen Gegensätze und riefen Streiks und Unruhen hervor. Der Zweite Weltkrieg stärkte die industrielle Entwicklung , während des Kalten Krieges schloss sich Chile dem westlichen Lager an , brach mit Moskau und fuhr auch innenpolitisch eine strikt antikommunistische Linie. In den 1950er- und 1960er-Jahren verschärften sich die Spannungen angesichts eines starken Ungleichgewichts bei der Einkommensverteilung. Demgemäß wagte der christlich-demokratische Präsident Eduardo Frei Montalva ( 1964–1970 ) radikale Reformen : Verstaatlichung der Kupferminen , Enteignung des Großgrundbesitzes und Landzuteilung an besitzlose Bauern sowie Sozialgesetze für Arbeitnehmer. Eine nachhaltige Veränderung der Gesellschaft gelang jedoch nicht , vielmehr erwuchsen unter den wirtschaftlich Benachteiligten neue Hoffnungen auf eine echte Sozialrevolution. Streiks und heftige Unruhen gingen den schicksalhaften Präsidentenwahlen voraus , bei denen 1970 Salvador Allende Gossens den Sieg davontrug. Er war der erste und einzige auf demokratische Weise an die Macht gekommene Kommunist in der Geschichte. Allende erklärte , ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell im Sinne eines „chilenischen Weges
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zum Sozialismus“ umzusetzen.181 Seine Volksfront-Regierung führte umfangreiche Verstaatlichungen und entschädigungslose Enteignungen durch , was einerseits zu starken Unruhen und mehrwöchigen Streiks zahlreicher Berufsgruppen , andererseits zu einem Rückgang der Produktion und einer galoppierenden Inflation führte. Schließlich musste die Regierung in allen Provinzen den Ausnahmezustand erklären , weil links- und rechtsradikale Gruppen das Land mit Terroraktionen überzogen. Im Jahr 1973 geriet die Lage außer Kontrolle , obwohl Allende die meisten Ministerien jetzt mit hohen Militärs besetzte. Als er Militär und Polizei gegen die streikenden Transportunternehmer einsetzen wollte , kam es zum Sympathiestreik der Piloten , Ärzte und 140. 000 Einzelhändler , nach und nach solidarisierten sich auch die Krankenschwestern , Bus- und Taxifahrer sowie 120. 000 Akademiker und Facharbeiter mit ihnen. Nachdem der Kongress den Präsidenten für abgesetzt erklärte , stürmten Armeeeinheiten am 11. September 1973 den Präsidentenpalast. Allende , der sich nicht demütigen lassen wollte , setzte in seinen Amtsräumen seinem Leben ein Ende. Tags darauf ernannte die Militärjunta ihren Vorsitzenden , General Augusto Pinochet Ugarte , zum Staatspräsidenten ( bis 1989 ). In den folgenden zwölf Monaten galt das Kriegsrecht , 100. 000 Chilenen wurden verhaftet und zum Teil auch gefoltert , ca. 3. 200 verloren ihr Leben , 1. 100 verschwanden spurlos , über 300. 000 mussten das Land verlassen. Ungeachtet dieser schweren Menschenrechtsverletzungen und einer zeitweiligen außenpolitischen Isolation , sicherte sich Pinochet durch Rücknahme vieler Sozialreformen und Maßnahmen zur Reprivatisierung die Zustimmung der Mittel- und Oberschicht , namentlich der Unternehmer und Landwirte. Dank der monetaristischen Wirtschaftspolitik fassten internationale Banken und Investoren wieder Vertrauen ; harte Sparmaßnahmen verursachten allerdings anfangs eine hohe Arbeitslosigkeit , die Wirtschaftsleistung ging zunächst zurück , und die Inflation schnellte 1976 auf 361 Prozent in die Höhe. Erst ab 1977 erholte sich die Wirtschaft , und Chile mutierte zum reichsten Land Lateinamerikas – nicht zuletzt deshalb , weil in Chile Korruption weitgehend unbekannt ist. Nichtsdestoweniger führten radikale Linke einen verzweifelten Untergrundkampf mit zahlreichen Anschlägen. Außenpolitisch brach die Regierung Pinochet die diplomatischen Verbindungen mit den Ostblockstaaten ab , es gab lediglich eine Einigung mit der Sowjetunion über einen Austausch politischer Gefangener – inhaftierte sowjetische Dissidenten gegen inhaftierte chilenische Kommunisten. Ein im Jahr 1975 drohender Krieg gegen Peru ( und dem mit Peru verbündeten Kuba ) konnte 1976 durch einen Nichtangriffspakt abgewendet werden ; Chile hatte sich zuvor sogar 54 amerikanische Düsenjäger und Kurzstreckenflugzeuge beschafft und die Grenze vermint. 1978 und 1979 drohte ein bewaffneter Konflikt mit Argentinien um den Beaglekanal ( siehe oben ), der schließlich 1985 beigelegt wurde ; auch an der argentinischen Grenze wur181 Dieter Nohlen : Chile. Das sozialistische Experiment. Hamburg 1973.
E ) DIE ANDENSTAATEN
den hunderttausende Landminen verlegt. Innenpolitisch kündigte sich 1988 eine Wende an , als der Ausnahmezustand aufgehoben und politische Betätigung wieder zugelassen wurde ; auch gestattete die Militärregierung die Rückkehr aller Exilchilenen , die nach dem Sturz Allendes geflohen waren. Ein Referendum sprach sich im Oktober 1988 mit 53 Prozent gegen den Verbleib Pinochets als Staatspräsident aus , eine Verfassungsänderung und Neuwahlen im Juli 1989 beendeten die Herrschaft der Militärs. Pinochet trat als Staatschef zurück , nachdem ihm lebenslange Immunität zugesichert wurde , blieb aber bis 1997 Oberbefehlshaber der Streitkräfte , danach wurde er als Senator auf Lebenszeit vereidigt. 1998 begann die Aufarbeitung der Verbrechen der Pinochet-Diktatur ; Angehörige von Opfern erstatteten immer neue Strafanzeigen , 1999 wurden die ersten fünf führenden ehemaligen Offiziere angeklagt und verhaftet. Als sich Pinochet 1999 nach Großbritannien in Spitalsaufenthalt begab , wurde er auf Forderung Spaniens inhaftiert , aber dann doch nicht an Spanien ausgeliefert , vielmehr durfte er aus humanitären Gründen nach Chile zurückkehren. 2005 wurde die Immunität des Exdiktators aufgehoben und der Hausarrest gegen ihn verhängt. Er starb 2006. Die Strafprozesse gegen die Exponenten der einstigen Militärdiktatur werden bis in die Gegenwart fortgesetzt. Peru , die einstige Hochburg des Inkareiches , erlebte im 20. Jahrhundert zahlreiche Unruhen und häufige Wechsel von Militär- und Zivilregierungen , wobei die Militärs bisweilen sozialrevolutionär , die Zivilisten eher wirtschaftsliberal auftraten. Weder die einen noch die anderen konnten die wachsenden sozialen Unruhen , hervorgerufen durch den krassen Unterschied zwischen der Landaristokratie und den landlosen Indianern , befrieden. In den 1960er-Jahren verschärfte sich die Krise in Form von Bauernaufständen und Terroraktionen. 1968 putschte sich General Juan Velasco Alvarado an die Macht. Ein Sonderfall für Lateinamerika trat nun ein : Das Militär engagierte sich für die Armen und gegen die traditionelle Elite – worunter allerdings die Wirtschaft zu leiden hatte : Mit der Verstaatlichung von USErdölgesellschaften , von Teilen der Industrie , der Landwirtschaft , der Banken und Tageszeitungen ging die Produktion dramatisch zurück. Zum Ausgleich subventionierte die Regierung Lebensmittel und Medikamente ( die dann tonnenweise ins Ausland geschmuggelt wurden ), was wiederum die Goldreserven verbrauchte und die Inflation galoppieren ließ. Dramatisch gescheitert ist Alvarados Landreform : Elf Millionen Hektar Großgrundbesitz wurden enteignet und an landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften und Bauerngemeinden übergeben. Die ehedem halbfeudalen Agrarstrukturen wurden somit zerschlagen. Als aber die Indios erstmals eigenes Land zugeteilt bekamen und nicht mehr zur Arbeit auf den Haciendas gezwungen waren , glaubten sie , als nunmehrige grundbesitzende „Herren“ nicht mehr arbeiten zu müssen ; auf diese Weise verfiel die Kulturlandschaft , ein Drittel der gesamten Anbaufläche Perus verkarstete. Kostspielig und desaströs gestaltete sich auch die Außenpolitik , die sich eng an die Sowjetunion und an Kuba anlehnte :
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Als 1973 in Chile die kommunistische Regierung Allendes gestürzt wurde ( siehe oben ), plante Alvarado , gemeinsam mit Kuba einen Krieg gegen den südlichen Nachbarn zu führen ; zu diesem Zweck schaffte sich das bitterarme Land mittels sowjetischer Kredite eine riesige Luftwaffe ( die dann in den 1980er-Jahren verrottete ) und sogar ein U-Boot an ( das angeblich bei einer Kollision mit einem Fischkutter unterging ). Zum Krieg ist es nicht gekommen , er wäre von dem durch Arbeitslosigkeit , Inflation , Streiks , Plünderungen und Guerillakämpfen gezeichneten Land auch nur schwer durchführbar gewesen. Als der schwerkranke Velasco 1975 von Militärs abgesetzt wurde ( er starb zwei Jahre später ), hinterließ er eine verelendete , demoralisierte Bevölkerung und eine ruinierte Wirtschaft. Unter den folgenden Regierungen schlitterte Peru immer tiefer in die Krise , auch wenn viele Maßnahmen Alvarados , insbesondere die Verstaatlichungen , rückgängig gemacht wurden. Seit Beginn der 1980er-Jahre erstarkten die Guerillatruppen : einerseits das „Movimiento Revolucionario Túpac Amaru“ ( benannt nach Túpac Amaru , dem letzten Inkaherrscher , den die Spanier 1572 enthaupten ließen ), andererseits die maoistische Gruppe „Sendero Luminoso“ ( Leuchtender Pfad ).182 Beide trieben den Staat in eine Bürgerkriegssituation , die zwischen 1980 ( Ende der Militärdiktatur ) und 1992 insgesamt 70. 000 Menschenleben forderte. Guerilleros und Drogenmafia , die bisweilen ein Bündnis eingingen , kämpften gegen Militär und Polizei , die sich ihrerseits schwere Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen ließen. Bei den Präsidentenwahlen 1990 kandidierte der Dichter und spätere Nobelpreisträger ( 2010 ) Mario Vargas Llosa ; er unterlag dem japanischstämmigen Alberto Kenya Fujimori ( 1990–2000 ): Unter dessen Regierung erholte sich langsam die Wirtschaft , vor allem wurden die Guerillagruppen zerschlagen und deren Anführer getötet bzw. verhaftet. Trotz seiner unbestreitbaren Erfolge wurde der zunehmend autoritär regierende Fujimori immer unbeliebter. Unter dem Druck der Massen gab er 2000 sein Amt auf und floh nach Japan , um nicht wegen Menschenrechtsverletzungen belangt zu werden. Er wurde 2005 in Chile verhaftet , 2007 nach Peru ausgeliefert und wegen Korruption , Amtsmissbrauchs und Verfassungsbruchs , vor allem aber wegen des Einsatzes von Todesschwadronen gegen die Rebellen zu insgesamt 44 Jahren Haft verurteilt. Das nach dem Freiheitskämpfer Simón Bolivar ( 1783–1830 ) benannte Bolivien erlebte wie alle Andenstaaten eine Geschichte voll der Wirren und Unruhen. Nicht einmal der als Nationalheld verehrte Simón Bolivar konnte sich an der Macht halten , obwohl er erfolgreich gegen die Spanier gekämpft hatte. Im Salpeterkrieg ( 1879–1883 ) gegen Chile verlor das mit Peru verbündete Bolivien seinen Zugang zum Meer , im verlustreichen Chacokrieg ( 1932–1935 ) gegen Paraguay konnte das 182 Sebastian Chávez-Wurm : Der Leuchtende Pfad in Peru ( 1970–1993 ). Erfolgsbedingungen eines revolutionären Projekts = Lateinamerikanische Forschungen 39 , Wien /Köln / Weimar 2011.
E ) DIE ANDENSTAATEN
Land keinen Zugang zum Atlantik gewinnen. Häufig wechselten Zivil- und Militärregierungen einander ab. Knapp vor dem Zweiten Weltkrieg verfolgten Militärs ein staatssozialistisches Programm mit Verstaatlichungen und Sozialgesetzen. Aber erst die Revolution des Jahres 1952 brach die traditionelle Herrschaft der Landaristokratie und Bergwerksbesitzer. Weitere Verstaatlichungen und eine tiefgreifende Bodenreform führten allerdings zu Produktionseinbußen und als deren Folge zu sozialen Spannungen. Kommunistische Gruppierungen gewannen starken Zulauf , ein 1961 von Kuba unterstützter Aufstand konnte niedergeschlagen werden. Verstärkte Unruhen führten 1964 zu einem Militärputsch unter General René Barrientos Ortuño ( Staatschef 1964–1969 ), der gemäßigte Reformen fortführte. 1967 zerschlug er eine von kubanischen Rebellen geführte Guerillagruppe unter Ernesto „Che“ Guevara , der nach seiner Gefangennahme ermordet wurde ( siehe Kap. 9.B ). Links- und rechtsgerichtete Militärs putschten in der Folge einander aus dem Amt. Von 1971 bis 1978 regierte Oberst ( später General ) Hugo Bánzer Suárez ; auch seine ( erste ) Regierungszeit ist durch heftige Auseinandersetzungen zwischen Studenten , Bergarbeitern , Gewerkschaften und opponierenden Militärs gekennzeichnet ; wiederholt musste er den Ausnahmezustand erklären. Noch bevor Bánzer – nach manipulierten Wahlen – die Präsidentschaft seinem Nachfolger übergeben konnte , wurde gegen ihn geputscht , danach folgte wieder Putsch auf Putsch – anno 1980 zählte man bereits den 195. erfolgreichen Putsch des geschundenen Landes. Die Wirtschaft lag trotz guter Exportergebnisse danieder , die Staatsschulden explodierten , Inflation , Streiks , Korruption , Kriminalität und Drogenhandel lähmten das öffentliche Leben. In den 1980er-Jahren war die illegale Koka-Industrie zum wichtigsten Wirtschaftszweig herangewachsen , in den 1990er-Jahren florierten zwar die Exporte von Zink , Gold und Sojaprodukten , doch profitierten nicht die Massen der Bevölkerung vom Erlös der Bodenschätze. Nach wie vor blieb Bolivien das nahezu ärmste Land Südamerikas. Bei Präsidentschaftswahlen des Jahres 1997 ging Hugo Bánzer als Sieger hervor ; er war der bisher einzige ehemalige Militärdiktator Lateinamerikas , der auf demokratischem Weg erneut an die Macht gekommen war. Nun regierte er bis zu seinem krankheitsbedingten Rücktritt 2001 mithilfe einer breiten Koalition unterschiedlichster Lager. Sein angekündigter Kampf gegen die Armut scheiterte vor allem an den Koka-Bauern , deren Felder ab 1998 auf Druck der USA vernichtet werden sollten. Jahrelang leisteten die Bauern der Polizei und Armee heftigen Widerstand , dem sich auch andere Berufsgruppen in Form von Streiks und Straßenblockaden anschlossen. Der Regierungsplan ( „Plan Dignidad“ = Plan der Würde ), den Anbau von Koka durch jenen von Obst und Blumen ersetzen zu lassen , gelang nicht , zumal die Entschädigungszahlungen für den Verlust der Koka-Ernte den Bauern – zumeist Indios – zu gering erschienen. Die Wirtschaftslage Boliviens blieb desaströs , trotz eines vollständigen Schuldenerlasses durch den Internationalen Währungsfonds ( IWF ). Ein neuer Konfliktstoff , der buchstäblich das ganze
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Land auf die Barrikaden trieb , brach auf , als 2003 riesige Erdgasfelder entdeckt wurden ; der Streit um die Nutzungsrechte und die Aufteilung des Erlöses zwischen Bolivien und den explorierenden Energie-Multis ( die nur 18 Prozent des Gewinnes an den Staat abliefern mussten ) führte – wieder einmal – zur Staatskrise. Erst durch die Wahl des Präsidenten der Kokabauern-Vereinigung , des Indios Evo Morales Ayma , im Januar 2006 zum Staatsoberhaupt beruhigte sich die Lage. Der linksnationalistische Populist verstaatlichte als eine der ersten Maßnahmen die Erdöl- und Erdgasvorkommen und versprach , die Gewinne vornehmlich den Indios , die 65 Prozent der Bevölkerung stellen , zugutekommen zu lassen. Die Andenindianer krönten Morales daher in einer feierlichen Zeremonie in der heiligen Stadt Tiwanaku am Titicaca-See zu ihrem Oberhaupt. Andere Maßnahmen betrafen die Enteignung des Großgrundbesitzes und Zuteilung von ca. 20 Millionen Hektar Landes an Landlose , Kleinbauern und indigene Gemeinschaften. Außenpolitisch steuert Morales einen deutlichen Linkskurs , der ihn zu enger Zusammenarbeit mit Kuba und Venezuela , aber auch mit Brasilien , China und Südafrika veranlasst. Evo Morales hat einen tiefen Riss in der Gesellschaft des auch vor seinem Amtsantritt nahezu unregierbaren Landes bewirkt : Die Indios zählen zu seinen Verbündeten , mächtige Gegner erwachsen ihm unter den Städtern sowie unter den ( ehemaligen ) Bergwerks- , Fabrikund Großgrundbesitzern. Letztere versäumen keine Gelegenheit , das öffentliche Leben durch Streiks , Demonstrationen und Blockaden lahmzulegen. In die Reihe der schwer regierbaren , durch Unruhen , Terror und Korruption gezeichneten Länder gliedert sich auch Kolumbien ein. Blutige Bürgerkriege durchziehen die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts , allein der von 1948 bis 1958 währende Bürgerkrieg forderte 200. 000 Opfer. Damals kämpften laizistische Liberale , denen die Landreform und Enteignung des Großgrundbesitzes ein Anliegen war , gegen die konservativen Großgrundbesitzer , die auch ihre Treue zur Kirche betonten. Bis 1978 hielt die Abmachung , dass einander alle vier Jahre ein liberaler und ein konservativer Präsident ablösten. Die sozialen Spannungen blieben aber bestehen , und die latente Bürgerkriegssituation dauert bis in die Gegenwart an. Kleinbauern und Indios , unterstützt von der Stadtguerilla „Movimiento 19 de Abril“ ( M–19 ), kämpften gegen die Großgrundbesitzer , die sich eigene Todesschwadronen ( darunter viele Militärs ) hielten. 1990 legten die Mitglieder der M–19 die Waffen nieder und gründeten eine eigene Partei. Vier Jahre zuvor war jedoch der Drogenkrieg voll entbrannt , als die Regierung unter dem Druck der USA gezielt gegen den Drogenanbau vorging. Das Medellín- und das Calí-Kartell , die vermutlich mächtigsten Rauschgiftorganisationen der Welt , hatten der Regierung den offenen Kampf „bis aufs Blut“ angesagt. Sie verfügten nicht nur über enorme Geldmittel , sondern auch über großen Rückhalt in der Bevölkerung und stellten einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor des Landes dar. Die Drogenmafia verübte in der Folge tausende Morde und Terroranschläge , die Armee erzielte nur kosmetische Erfolge , obwohl sie von den USA mit
E ) DIE ANDENSTAATEN
Ausrüstung und Beratern unterstützt wurde ; ihr wurde vor allem vorgeworfen , dass sie die rechtsgerichteten Paramilitärs „Autodefensas Unidas de Colombia“ ( AUC ) unterstützte , deren Terror sich gegen die Kleinbauern richtete. Parallel zum Drogenkrieg erschütterten zwei Linksguerillatruppen das staatliche Gefüge nachhaltig : die kommunistische „Fuerzas Armadas Revolucionarios de Columbia“ ( FARC ) und der pro-kubanische „Ejército de Liberación Nacional“ ( ELN ). Ihre Einnahmen gründeten sich auf Schutzgelder der Drogenproduzenten , auf sogenannte Steuern , die sie von Großgrundbesitzern und Industriellen einhoben , und auf Entführungen. 1998 sprach der konservative Staatschef Andrés Pastrana Arango ( 1998–2002 ) den Rebellen eine „Sicherheitszone“ zu. In diesem Staat im Staate von der Größe der Schweiz sollten die Guerilleros zu Bauern resozialisiert werden. Tatsächlich wurde in dem Gebiet eine riesige Drogenproduktion aufgezogen , zugleich wurden in dem entmilitarisierten und polizeifreien Raum über tausend Entführungsopfer gefangen gehalten ( 2012 : noch immer weit über 400 Geiseln – manche bereits seit 14 Jahren ). Die Gewalt eskalierte von Jahr zu Jahr , allein im Jahr 2000 wurden 38. 800 Menschen getötet und 3. 000 entführt. Auch das Ausland mischte inzwischen mit : Deutlich sympathisierte der venezolanische Präsident Hugo Chávez ( siehe unten ) mit der linksorientierten FARC , 2009 fanden sich unleugbare Beweise , dass er Waffen an die FARC liefern ließ , hunderte Millionen US-Dollar spendete und flüchtigen Guerilleros Unterschlupf gewährte. Von 2002 bis 2010 übte Álvaro Uribe Vélez das Präsidentenamt aus. Ihm glückte mehr als seinen Vorgängern : 2002 zerschlug er die „Sicherheitszone“, indem er die Armee einmarschieren ließ , und nahm den kompromisslosen Kampf gegen FARC und ELN auf. Aus der Politik der Stärke heraus führte er ab 2005 Friedensgespräche mit ELN und FARC und entwaffnete die AUC , die die meisten Morde zu verantworten hatte. Großzügige Amnestieangebote , gepaart mit hartem militärischem Vorgehen sorgten für einen dramatischen Rückgang der Morde und Entführungen. Als problematisch erweist sich allerdings , dass sich ehemalige Guerilleros mit ehemaligen Paramilitärs zu neuen Drogenkartellen zusammengeschlossen haben. Auch existieren die Guerillatruppen immer noch , wenn auch stark dezimiert , weiter. Der Kampf gegen sie dauert auch unter dem neuen Staats- und Regierungschef Juan Manuel Santos Calderón an. Zugleich bemüht sich die Regierung , etliche Millionen Bauern , welche von Großgrundbesitzern , Paramilitärs , Drogenbaronen und Rebellen vertrieben worden waren , wieder anzusiedeln. Die bisherige Bilanz des Guerillakrieges gibt erschütternde Daten preis : Zwischen 1958 und 2013 starben 220. 000 Menschen , vier Fünftel von ihnen waren zivile Opfer. Der Putsch war auch für das an Erdöl reiche OPEC-Mitglied Venezuela die normale Art der Regierungsablöse. 1964 kam erstmals ein verfassungsmäßiger Präsidentenwechsel zustande , nichtsdestoweniger prägten auch danach Misswirtschaft , Korruption und Kriminalität den Alltag. Obwohl 1975/76 die Eisenerz- und Ölindustrie verstaatlicht wurden , kamen die Einnahmen aus diesem Sektor nur einer
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schmalen Elite zugute. In den 1990er-Jahren schlitterte das Land in die Krise , das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte , und die Arbeitslosigkeit nahm beängstigende Ausmaße an. 1992 versuchte der bis dato unbekannte Hugo Rafael Chávez Frías einen Militärputsch ; sein Scheitern brachte ihm wohl drei Jahre Gefängnis ein , seine sozialrevolutionären Phrasen machten ihn jedoch bekannt und populär. 1998 gewann er die Präsidentenwahl , weil er glaubhaft versicherte , den Kampf gegen Armut und Kriminalität aufnehmen zu wollen. Mit Zustimmung der verarmten Bevölkerungsmehrheit baute Chávez eine populistische , autoritäre Herrschaft auf und ging bei allen Versuchen , seine Regierung durch Generalstreik oder Putsch zu stürzen , als Sieger hervor ( 2002 ). Von linksideologischen Vorstellungen geleitet , ließ Chávez umfangreiche Verstaatlichungen durchführen und den Großgrundbesitz enteignen , zugleich steigerte er die staatlichen Ausgaben für soziale Zwecke. Daraufhin brach die Produktion ein , dem Chávez mit weiteren Verstaatlichungen gegensteuerte , dadurch aber die Mangelwirtschaft nur noch verschärfte. Auf Preissteigerungen bei Lebensmitteln reagierte Chávez mit Fixpreisen , was wiederum die Supermarktketten nicht hinnehmen wollten , sodass auch diese verstaatlicht wurden. Außenpolitisch pflegte Chávez , der sich gerne als Reinkarnation des zum Idol hochstilisierten Simon Bolivar ausgab und die Welt mit großen rhetorischen Gesten verblüffte , das Feindbild USA.183 Er knüpfte eine Linksallianz mit dem Iran , Syrien , Libyen ( solange Gaddafi lebte ), Weißrussland , Russland und China , in Lateinamerika mit Bolivien , Peru und vor allem mit Kuba , außerdem unterstützte er die FARC-Rebellen in Kolumbien ( siehe oben ). Die reichlich sprudelnden Einnahmen aus dem Erdölgeschäft wurden teilweise durch Geschenke an ideologisch gleichgesinnte lateinamerikanische „Bruderländer“ vergeudet , ferner durch milliardenschwere Waffenkäufe ( in Russland ) und durch populistische Fördermaßnahmen für die ärmere Bevölkerung , deren Loyalität er sich für die siegreich geschlagene Präsidentenwahl im Oktober 2012 gesichert hatte. Sein Wahlversprechen , den Sozialismus im 21. Jahrhundert zu vertiefen , bescherte ihm die Mehrheit. Tatsächlich konnte er eine Bildungsreform zur Bekämpfung des Analphabetismus , eine bessere Gesundheitsversorgung in den Barrios , Volkssupermärkte und eine Reduktion der Armut von 49 auf 26 Prozent geltend machen. Doch die Gesellschaft ist zutiefst gespalten , denn die Reformen haben eher den Charakter eines Stimmenkaufs für die Wahlen , als dass sie das Land nachhaltig auf westliches Niveau gebracht hätten. Die Wirtschaft liegt danieder , weil die Verstaatlichungen alle Investoren abgeschreckt haben. Die Infrastruktur ist völlig desolat , regelmäßige Stromausfälle stehen auf der Tagesordnung. Korruption , Inflation ( derzeit 92 Prozent ), eine mangelhafte Verwaltung und eine unfähige Justiz bei überbordender Kriminalität verheißen für die 183 Wolfgang Taus : Hugo Chavez und seine Vision einer „antiimperialistischen Allianz“. In : ÖMZ 3/2012 , S. 318–323.
E ) DIE ANDENSTAATEN
Zukunft nichts Gutes. Im März 2013 erlag Hugo Chávez seinem Krebsleiden , das er vergebens in Kuba zu kurieren hoffte. Seine Anhänger entfachten einen gewaltigen Personenkult um den toten Präsidenten , der offenkundig von vielen Venezolanern so betrauert wurde , als wäre er ein Mitglied der eigenen Familie gewesen. Auf seine Nachfolger wartet jedenfalls ein schweres Erbe.
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10. DIE WENDE Das „annus mirabilis“ 1989 beendete definitiv die Nachkriegszeit bzw. das Zeitalter des Kalten Krieges und läutete eine neue Phase der Weltgeschichte ein.184 Noch einmal – vielleicht ein letztes Mal – ging der Impuls zur globalen Veränderung von Europa aus , wo der Fall des Eisernen Vorhanges und die Wiedervereinigung Deutschlands eine Entwicklung auslösten , die in nahezu allen Erdteilen zu spüren war. In Zentralasien zog sich die Rote Armee nach zehnjährigen verlustreichen Kämpfen aus Afghanistan zurück , in der Sowjetunion gewann die von Staatschef Gorbatschow ausgelöste Bewegung von Perestroika und Glasnost eine Eigendynamik , die letztlich zum Untergang des Riesenreiches führen sollte. In China verfolgten die Machthaber mit wachsender Sorge den Zusammenbruch des Kommunismus in Europa und beendeten im Massaker vom Tiananmen-Platz jegliche Protestbewegung , um die uneingeschränkte Führungsrolle der KPCh zu bewahren. In Kaschmir begann ein blutiger , wenn auch vergeblicher Aufstand der Moslems , die eine Trennung von Indien und die Angliederung an Pakistan forderten. In Südafrika leitete Präsident de Klerk das Ende der Apartheid ein. Im übrigen Afrika war von der Wende jedoch nicht viel zu spüren : Zwar musste Kuba seine Soldaten aus Angola , Mocambique und Äthiopien abziehen , aber Friede kehrte dennoch nicht ein ; vielmehr erschüttern neue Kriege , die sich hauptsächlich aus dem Kampf um Wasser , aus Stammesrivalitäten , aus religiösen Motiven und nicht zuletzt aus der Aneignung von Bodenschätzen nähren , den geplagten Kontinent. Keine Wende gab es auch im Mittleren Osten durch den Tod des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini. A ) D IE LETZTEN JAHRE DER SOWJETUNION
Mit dem Amtsantritt von Michail Sergejewitsch Gorbatschow ( Gorbačev ) anno 1985 ( zunächst Generalsekretär der KPdSU , 1988 Staatspräsident ) erhofften alle innerhalb und außerhalb der Sowjetunion einen neuen Aufbruch.185 Das Riesenreich schlitterte wirtschaftlich seit Ende der 1970er-Jahre immer tiefer in die Krise , das verkrustete System leninistisch-stalinistischer Prägung konnte gegenüber dem Westen nicht mehr mithalten , weder wirtschaftlich noch militärisch : Der NATO-Doppelbeschluss von 1979 verpflichtete die Staaten des Nordatlantikpaktes zur „Nachrüstung“ und setzte den Beginn eines Rüstungswettlaufes , der die Sowjetunion in den Ruin führen sollte. US-Präsident Ronald Reagan ( 1981–1989 ) initiierte 1984 ein Forschungspro184 Susanne Stemmler , Valerie Smith , Bernd M. Scherer ( Hgg. ): 1989. Globale Geschichten. Göttingen 2009. 185 Maria Huber : Moskau , 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums. München 2002.
A ) DIE LETZTEN JAHRE DER SOWJETUNION
gramm zur weltraumgestützten Raketenabwehr , „Strategische Verteidigungsinitiative“ ( SDI ) genannt , und setzte damit die Sowjetunion unter Druck , da ihr für die Entwicklung eines vergleichbaren Waffensystems die Mittel fehlten. Daher bekundete Gorbatschow Gesprächsbereitschaft zur Einschränkung des Rüstungswettlaufs. Nach einem Gipfeltreffen in Genf mit dem US-Präsidenten Reagan anno 1985 erklärte die Sowjetunion zum ersten Mal seit Beginn des Kalten Krieges ihre Kooperationsbereitschaft mit den USA in weltpolitischen Angelegenheiten. Der 1986 anlässlich eines neuerlichen Gipfeltreffens vorgetragene sowjetische Vorschlag zur Halbierung der Kernwaffenbestände wurde von den USA zwar abgelehnt. Aber das gegenseitige Vertrauen wuchs , insbesondere anlässlich eines Besuchs von Gorbatschow in Washington 1986 und Reagans Gegenbesuch in Moskau im darauffolgenden Jahr. Im Mai 1988 begann der Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan : Nach achteinhalbjährigen erfolglosen Kämpfen beklagten die Sowjets 13. 310 Tote , 35. 478 Verwundete und 311 Vermisste. Sie hinterließen ein zerstörtes und demoralisiertes Land , dessen innere Zerrissenheit für die Zukunft nichts Gutes verhieß ( siehe Kap. 5.C ). Michail Gorbatschow hatte erkannt , dass die UdSSR ohne grundlegende Reformen im globalen Wettstreit der Supermächte unterliegen würde. Er wollte den Kommunismus um jeden Preis retten , wusste aber , dass dies ohne politische und wirtschaftliche Veränderungen nicht mehr zu bewältigen war. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 25. / 26. April 1986 bestätigte aller Welt die Unfähigkeit des Systems , dem Schlamperei und Inkompetenz immanent waren. Der GAU ( Größter Anzunehmender Unfall ) forderte 28 Todesopfer , eine unbestimmte Zahl von Strahlenkranken und machte umfangreiche Evakuierungen notwendig , die auch Jahrzehnte später nicht rückgängig gemacht werden können. Schon vor dem Unfall hatte Gorbatschow mit umfangreichen Säuberungen unter den Kadern der 18,4 Millionen Parteimitglieder begonnen ; ihr fielen alle Gegner seines Kurses zum Opfer. Vom 25. Februar bis 6. März 1986 fand der XXVII. Parteitag der KPdSU statt , auf dem der Generalsekretär nach einer kritischen Bestandsaufnahme die radikale Reformierung der Planwirtschaft forderte und ein neues Parteiprogramm vorstellte. Zwei Begriffe beherrschten fortan die Schlagzeilen der Weltpresse : Perestroika ( wörtlich : Umbau ), bedeutete den grundlegenden Wandel des politischen Systems und der Wirtschaftsverfassung ;186 und Glasnost ( wörtlich : Öffentlichkeit ), worunter zu verstehen war , dass die Entscheidungsprozesse der Verantwortungsträger in Partei und Staat hinfort bekannt gemacht und offen diskutiert werden sollten , wobei allerdings die führende Rolle der Partei außer Streit zu stehen hatte. Die mit Perestroika und Glasnost verbundenen Maßnahmen stießen auf heftigste Widerstände innerhalb der Partei- und Verwaltungsbürokratie. Auf allen Ebenen gab es 186 Michail Gorbatschow : Perestroika. Die zweite russische Revolution. Eine neue Politik für Europa und die Welt. München 1987.
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scharfe Auseinandersetzungen über den gegenwärtigen Zustand der Sowjetunion und über ihre jüngste Vergangenheit , auch Stalin war wieder Gegenstand der Diskussionen und wurde höchst kontrovers beurteilt. 1988 erklärte Gorbatschow die einseitige Reduktion der sowjetischen Verteidigungsausgaben um ein Siebentel und der Rüstungsproduktion um ein Fünftel ; mit dieser von Moskau erstmals ehrlich gemeinten Friedens- und Abrüstungsinitiative beendete er den Kalten Krieg , verzichtete allerdings zugleich auf die bisherige Stellung der Sowjetunion als Supermacht , was viele Russen , denen militärische Stärke ihres Staates wichtiger war als persönlicher Lebensstandard , sehr bedauerten. Aber die katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse , die Zerrüttung der Staatsfinanzen , die weit unter dem Plansoll bleibende Ernte und die Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln und Konsumgütern , die Wohnungsnot und die schlechten Arbeitsverhältnisse ließen der Sowjetführung gar keine Wahl. Im selben Jahr 1988 wurden erstmals Leserbriefe in sowjetischen Zeitungen veröffentlicht , in denen Gorbatschow vorgeworfen wurde , den wahren Sozialismus verraten zu wollen. Auch in der westlichen Welt herrschte vielfach die Meinung , Gorbatschow wollte sich vom Kommunismus abwenden , zumal er der KPdSU die Befehlsgewalt auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens absprach. Doch das Gegenteil war der Fall , denn indem er die Allgegenwart der Partei einschränkte , glaubte er , ihren grundsätzlichen Führungsanspruch bewahren zu können. Nichtsdestoweniger entwickelte sich die Dynamik des Geschehens in eine andere , nicht beabsichtigte Richtung : So erwachte in dem Moment , da der politische Druck nachließ , der seit Jahrzehnten unter der Oberfläche schwelende Nationalitätenkonflikt : Im Februar 1988 brachen die Kämpfe in Armenien und Aserbaidschan um die Autonome Region Nagornij Karabach aus. Es folgten Unruhen in den baltischen Staaten , deren Einwohner sich zunächst nur gegen die Russifizierungspolitik und für mehr politische und wirtschaftliche Autonomie aussprachen , gegen Jahresende aber – namentlich in Estland – auch bereits separatistische Tendenzen laut werden ließen. Im Frühjahr 1989 ereigneten sich in Georgien , Abchasien , Usbekistan und Kasachstan bürgerkriegsartige Ausschreitungen. Das brutale Vorgehen der Armee passte nicht ins Bild des im Westen , insbesondere in der BRD , hofierten und von der westeuropäischen Bevölkerung umjubelten Gorbatschow. Denn außerhalb der Sowjetunion bewunderte man den anscheinend so liberalen sowjetischen Staatschef , zumal dieser 1989 in Abkehr von der Breschnew-Doktrin ( siehe Kap. 3.D ) den Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes und des RGW ein gewisses Maß an Bewegungsfreiheit zugestand und ihnen letztlich keine Direktiven gab , wie sie gegen die allumfassenden antikommunistischen Demonstrationen vorgehen und letzten Endes den Zusammenbruch der Volksrepubliken verhindern sollten. Im März 1989 fanden in der Sowjetunion erstmals Wahlen zu einem neu formierten Kongress der Volksdeputierten statt. Da in dieses Riesenparlament nur ein Drittel der 2250 Abgeordneten frei gewählt wurde , die Mehrheit aber aus Vertre-
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tern der Republiken und diverser Körperschaften bestand , behielten die Konservativen die Oberhand. Nichtsdestoweniger übten die Reformer lautstarke Kritik , namentlich Boris Jelzin , der ehemalige KP-Chef von Moskau , der bald als Chef der Opposition anerkannt wurde. Sein radikaler Reformwille machte ihn zum Gegner des zögerlich vorgehenden Gorbatschow. Dieser wiederum versuchte , durch die Einführung des Präsidialsystems mehr Einfluss auf die politischen und wirtschaftlichen Umgestaltungen zu gewinnen. Doch je mehr der Staats- und Parteichef seine verfassungsmäßige Macht steigerte , desto mehr entglitten ihm die Fäden , mit denen er das Geschehen lenken wollte : Konservative und Progressive steuerten in entgegengesetzte Richtungen und lähmten den Staat. Die Wirtschaftslage verschlechterte sich dramatisch , Nationalitätenkonflikte und Demonstrationen nahmen beängstigende Ausmaße an , zugleich verlor die KPdSU zusehends an Ansehen in der Bevölkerung. Im Juli 1989 streikten erstmals westsibirische Bergarbeiter , alsbald dehnte sich die Streikbewegung auch auf die Ukraine und auf andere Zonen aus ; eine neue , von der KPdSU unabhängige Gewerkschaft bildete sich – vorerst noch illegal. Anlässlich neuerlicher Streiks der Bergleute Anfang 1990 wurden Forderungen nach einer Auflösung der Parteiorganisationen in den Großbetrieben , in der Armee und im Geheimdienst laut. Machtvolle Demonstrationen von mehreren hunderttausend Teilnehmern in den großen Städten unterstrichen den breit gefassten Wunsch nach Veränderungen des gesellschaftlichen Systems. Gorbatschow reagierte umgehend : Er ließ das Memorandum „Für einen humanen , demokratischen Sozialismus“ ausarbeiten und veranlasste im Februar 1990 das Zentralkomitee ( ZK ) der KPdSU zum „Verzicht der KP auf die führende Rolle in der Gesellschaft“. Damit brach er das seit 70 Jahren als unantastbar geltende Machtmonopol. Kurz darauf verkündete der Oberste Sowjet die Anerkennung privaten Eigentums und das Präsidium den „kontrollierten Übergang zur Marktwirtschaft“. Aber genau das misslang , die Transformation vollzog sich chaotisch und in einer Weise , dass sich Parteimitglieder oder Geheimdienstleute , die über ein gutes Informationsnetzwerk verfügten , die wichtigsten Betriebe aneigneten und auf diese Weise ein ungeheures Vermögen anhäuften , während die Versorgungslage der Bevölkerung immer schlechter wurde und die Preise für Lebensmittel und Konsumgüter stiegen. Doch obwohl sich die Wirtschaftslage dramatisch verschlechterte und immer mehr Demonstranten den Rücktritt Gorbatschows forderten , gingen die Reformen in atemberaubendem Tempo weiter : Im Sommer 1990 verabschiedete der Oberste Sowjet Gesetze über Glaubens- und Gewissensfreiheit , sodass Gläubige fortan nicht mehr diskriminiert werden konnten und der Staat auf die Propagierung des Atheismus verzichtete. Das Gesetz zur freien Bildung von Vereinen schuf die Grundlage für das Mehrparteiensystem , im Dezember 1990 billigte der Staat die Gründung freier Gewerkschaften. Geplant war auch die freie Reiseerlaubnis ab dem Jahr 1993. Als nach außen sichtbaren
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Beweis für die neue Menschlichkeit des Regimes wurden der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn und 22 weitere Dissidenten in ihren Bürgerrechten wieder eingesetzt. Als die Staatsführung das geheime Zusatzprotokoll des 1939 geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes ( Hitler-Stalin-Pakt ) veröffentlichte , demzufolge nach der Niederwerfung Polens nicht nur das östliche Polen , sondern auch die baltischen Republiken der Sowjetunion einverleibt werden sollten , erhielten die Unabhängigkeitsbewegungen in Estland , Lettland und Litauen neuen Auftrieb : Im August 1989 wurden Massenproteste organisiert und eine 600 Kilometer lange Menschenkette gebildet , welche die drei Hauptstädte Tallinn , Riga und Wilna ( Vilnius ) miteinander verband. Zwar wurde am 1. Januar 1990 den drei baltischen Republiken die Wirtschaftsautonomie zuerkannt , doch Gorbatschows Bemühen , sie zum Verbleib in der Sowjetunion zu motivieren , scheiterte. Am 11. März erklärte Litauen einseitig die Unabhängigkeit und setzte den Obersten Sowjet unter Zugzwang : Er verabschiedete ein Gesetz , das den Austritt einzelner Republiken aus der Sowjetunion regelte ; Voraussetzung sollte ein Referendum und eine maximal fünfjährige Übergangsperiode sein. Der Zerfall der Sowjetunion nahm nun seinen Anfang. Ende Mai 1990 wurde der Radikalreformer Boris Jelzin zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der RSFSR ( Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik ) gewählt ; er war damit Staatsoberhaupt der größten Sowjetrepublik geworden. Im Juni erklärte Jelzin die Souveränität der RSFSR und stellte deren Verfassung über jene der UdSSR , im Juli trat er demonstrativ aus der kommunistischen Partei aus. In allen anstehenden Konflikten mit Gorbatschow , dessen besonnenes Vorgehen Gegenstand umfassender Kritik geworden war , behielt der überaus populäre Jelzin die Oberhand. Aber noch existierte die Sowjetunion als weltpolitische Supermacht , als Vielvölkerstaat mit ihren 15 Unionsrepubliken , 20 autonomen Republiken , acht autonomen Gebieten und zehn autonomen Kreisen. Unter der alles erdrückenden Herrschaft der KPdSU zeigten sich die historischen , kulturellen , religiösen und ökonomischen Unterschiedlichkeiten nur verdeckt. Aber mit Perestroika und Glasnost öffnete sich die Schleuse des Aufbegehrens. Gorbatschow hatte das natürlich erkannt und versuchte , das Verhältnis der 15 Republiken zum Gesamtstaat durch einen Unionsvertrag auf eine gesicherte Basis zu stellen. Im März 1991 fand die diesbezügliche Volkbefragung statt ; von den abgegebenen 200 Millionen Stimmen votierten 58 Prozent für den Fortbestand der Sowjetunion als „erneuerte Föderation“; ihr neuer Name sollte lauten : „Union der Souveränen Sowjetrepubliken“. Die drei baltischen Republiken , ferner Moldawien , Armenien und Georgien , hatten sich allerdings an dem Referendum nicht beteiligt und heftig dagegen protestiert. Im April 1991 erklärte sich Georgien , im Juli 1991 die Ukraine für unabhängig. Außenpolitisch dominierten 1989 und 1990 zwei Themen die Sowjetunion : einerseits der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Ost-
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europa und die deutsche Wiedervereinigung , andererseits die Fortsetzung der Abr üstungs- und Entspannungspolitik. Eine hektische Reisediplomatie mit wiederholten Gipfeltreffen und zahlreichen Freundschaftsbesuchen , namentlich in Deutschland , sollte nicht nur um wirtschaftliche Hilfe werben , sondern auch den Friedenswillen der Sowjetunion und ihre neue Partnerschaft mit dem Westen bekunden. Als sichtbares Zeichen wurden im Mai 1991 die letzten Mittelstreckenraketen vom Typ SS–20 vernichtet , sodass das 1987 mit den USA geschlossene Abkommen erfüllt war. Im Dezember 1990 wurde Gorbatschow mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet ; er konnte diesen Preis wegen innenpolitischer Probleme allerdings erst im Sommer des darauffolgenden Jahres entgegennehmen. Wenige Wochen danach , am 19. August 1991 , putschten konservative Politiker und Militärs gegen Gorbatschow : Er wurde „aus gesundheitlichen Gründen“ für abgesetzt erklärt und mit seiner Familie in seiner Datscha auf der Krim interniert. Die Putschisten bildeten unter Führung des Vizepräsidenten Gennadi Janajew ( seit 1990 ) ein „Notstandskomitee“, verhängten den Ausnahmezustand und hofften , das Rad der Geschichte noch einmal zurückdrehen zu können. Aber entgegen ihren Erwartungen verweigerten ihnen die Bevölkerung und weite Teile der Armee den Gehorsam ; trotz Verbots demonstrierten in Moskau und Leningrad Hunderttausende und bezeugten ihre Treue für den Staatspräsidenten und auch für Boris Jelzin , dem in diesen Tagen eine Schlüsselrolle zukam : Denn er brandmarkte die Machtübernahme des Notstandskomitees als Staatsstreich und mobilisierte von seinen Amtsräumen aus die Menge , die das Parlament vor den aufgefahrenen Panzern schützen wollte. Zuletzt erkletterte er selbst unter unbeschreiblichem Jubel einen Panzer – als Retter der Demokratie. Im allgemeinen Chaos nutzte Estland am 20. August die Gunst der Stunde und erklärte seine Unabhängigkeit , tags darauf folgte Lettland diesem Beispiel. An diesem 21. August war der Putsch gescheitert. Einer der Putschisten , Innenminister Boris Pugo , beging Selbstmord , die übrigen Putschisten wurden auf Geheiß Jelzins verhaftet ( 1994 amnestiert ). Am selben Tag kehrte Gorbatschow nach Moskau zurück und übernahm formell seine Amtsgeschäfte ; aber seine Stellung war merklich geschwächt. Am 24. August trat er als Generalsekretär der KPdSU zurück , im November wurde die Partei zwangsweise aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. Noch zuvor , im September 1991 , waren die zentralen Machtstrukturen beseitigt und die Umwandlung der UdSSR in einen Bund unabhängiger Republiken beschlossen worden. Am 21. Dezember gründeten elf Sowjetrepubliken die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ ( GUS ) – ohne die drei baltischen Staaten und ohne Georgien , das erst 1994 der GUS beitrat. Das sowjetische Parlament löste sich auf , und am 22. Dezember trat Staatspräsident Gorbatschow zurück. In seiner Abschiedsrede sagte Michail Gorbatschow :
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10. DIE WENDE „Liebe Landsleute ! Aufgrund der Lage , die sich mit der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ergeben hat , lege ich mein Amt als Präsident der UdSSR nieder. In dieser für mich und das gesamte Land schweren Stunde , in der ein großer Staat zu existieren aufhört , bleibe ich meinen Prinzipien treu , die mich bei der Verteidigung des Gedankens der neuen Union geleitet haben. Mit großer Entschiedenheit bin ich für die Autonomie , die Unabhängigkeit der Völker und die Souveränität der Republiken eingetreten. Ich habe aber auch einen einheitlichen Staat bewahren wollen und die territoriale Unversehrtheit des Landes verteidigt. Die Dinge haben sich in eine andere Richtung entwickelt. Die Linie , die für die Zerstückelung des Landes und den Zerfall des Staates eintritt , hat gesiegt. [ … ] Da ich mich das letzte Mal als Präsident der UdSSR an Sie wende , halte ich es für unverzichtbar , meine Einschätzung der Entwicklung seit 1985 darzulegen : Das Schicksal wollte es , dass es dem Land schlecht ging , als ich in höchste Staatsfunktionen aufstieg. Hier gibt es zwar alles im Überfluss : Land , Öl , Gas , Kohle , Edelmetalle und andere Bodenschätze , die Intelligenz und die Begabungen nicht gerechnet , die Gott uns mit auf den Weg gegeben hat. Und doch geht es uns schlechter als den entwickelten Ländern. Der Grund dafür war klar : Die Gesellschaft erstickte im Kommandosystem der Planung. Verdammt , der Ideologie zu dienen und die schwere Last der übermäßigen Rüstung zu tragen , hatte sie die Grenzen der Belastbarkeit erreicht. [ … ] Der Prozess der Erneuerung des Landes und der radikalen Veränderungen in der internationalen Gemeinschaft gestaltete sich schwieriger , als vorhersehbar war. Dennoch muss das , was getan wurde , nach seinem wahren Wert eingeschätzt werden. [ … ] Das totalitäre System ist aufgelöst worden. Es hat das Land um die Möglichkeit gebracht , die es lange hatte : glücklich und reich zu werden. Ein Durchbruch ist auf dem Weg der demokratischen Reformen erzielt worden. Freie Wahlen , Pressefreiheit , Religionsfreiheit , repräsentative Machtorgane und ein Mehrparteiensystem sind Realität geworden. [ … ] Der Weg hin zu einer vielfältigen Wirtschaft ist eingeschlagen , die Gleichheit aller Besitzformen festigt sich. Im Rahmen der Agrarreformen erwacht die Landwirtschaft zu neuem Leben. [ … ] Wir leben in einer neuen Welt : Der Kalte Krieg ist zu Ende , die Gefahr des Weltkrieges ist gesunken , das Wettrüsten , die unsinnige Vorherrschaft des Militärs , die unsere Wirtschaft , unser soziales Bewusstsein und unsere Moral untergraben hat , sind aufgehalten worden. [ … ] Wir haben uns der Welt geöffnet , wir haben auf Einmischung in fremde Angelegenheiten ebenso verzichtet wie auf den Einsatz unserer Armee außerhalb unseres Landes. [ … ] All diese Veränderungen haben eine große Spannung und Kampfgeist hervorgerufen. Entwickelt haben sie sich vor dem Hintergrund eines wachsenden Widerstandes der im Todeskampf begriffenen Kräfte der Vergangenheit , der alten Partei- und Staatsstrukturen sowie des Wirtschaftsapparates , aber auch vor dem
A ) DIE LETZTEN JAHRE DER SOWJETUNION Hintergrund unserer Gewohnheiten und ideologischen Vorurteile. Deshalb haben wir viel Zeit verloren. Das alte System ist zusammengefallen , bevor das neue sich in Bewegung setzen konnte , und die soziale Krise hat sich noch verschärft. [ … ] Der Putsch vom August hat die allgemeine Krise bis aufs Äußerste verschärft. Das Schlimmste an dieser Krise ist der Zusammenbruch des Staates. [ … ] Ich verlasse mein Amt mit großer Sorge. Aber auch mit der Hoffnung , in dem Glauben an Sie , an Ihre Klugheit und geistige Stärke. Wir sind Erben einer großen Kultur. Jetzt liegt es an jedem Einzelnen , dass diese sich nicht in Rauch auflöst , sondern für ein neues und modernes Leben wiederersteht. Aus ganzem Herzen möchte ich denen danken , die während all dieser Jahre an meiner Seite eine gerechte und gute Sache verteidigt haben. Zweifelsohne hätten einige Fehler vermieden und viele Dinge besser gemacht werden können. Ich bin überzeugt , dass unsere gemeinsamen Anstrengungen früher oder später Früchte tragen , und dass unsere Völker in einer demokratischen und blühenden Gesellschaft leben werden. Ich trete von meinem Amt als Präsident zurück. Ich wünsche Ihnen allen das Bestmögliche.“187
Mit dem Rücktritt Gorbatschows wurde sein Gegenspieler Boris Jelzin die mächtigste Persönlichkeit auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion. Als Präsident Russlands ( siehe Kap. 10.E ) ließ er auf dem Kreml sowie in allen diplomatischen Vertretungen der Welt die russische Trikolore hissen , auch beanspruchte er für Russland alle Rechte als Nachfolgestaat der UdSSR. Dies wurde auch allgemein akzeptiert , sodass Russland nun auch den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat einnehmen konnte. Auch das gewaltige sowjetische Atomwaffenarsenal mit 30. 000 Nuklearwaffen ging in den Besitz Russlands über. Am 31. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion offiziell zu bestehen auf – 69 Jahre nach ihrer Gründung. Kein Krieg , keine Naturkatastrophe hatte den flächenmäßig weltgrößten Staat zu Fall gebracht. Die Supermacht , deren Politik jahrzehntelang die Welt in Atem gehalten hatte , war implodiert , und zwar in dem Augenblick , da der allumfassende diktatorische Druck von Partei und Geheimpolizei nachgelassen hatte. Die zentrifugalen Kräfte der Nationalitäten wurden auf einmal wirksam und vollzogen gemeinsam mit der Masse der Bevölkerung , die des Systems der Repressionen und des Mangels überdrüssig geworden war , das Zerstörungswerk. Der „real existierende Kommunismus“, und das bewies die Geschichte , war in Wahrheit gar keine Realität , sondern lediglich eine Idee , die nur mit unmenschlichem Zwang ihr Scheindasein aufrechterhalten konnte. Real waren lediglich die Repressionen und die Planwirtschaft , und beide blockierten auf Jahrzehnte die Entfaltung des ökonomischen und geistigen Kapitals. 187 Aus : Die Presse , 27. Dezember 1991 , S. 4.
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10. DIE WENDE B ) DAS ENDE DER VOLKSDEMOKRATIEN IN EUROPA
Widerstände gegen die kommunistischen Diktaturen kamen in Osteuropa häufig vor , zu erinnern sei an den Ostberliner Volksaufstand 1953 , an den Aufstand in Polen 1956 , vor allem an die große ungarische Erhebung 1956 , an den Prager Frühling 1968 und an die polnischen Streiks 1980 ( siehe Kap. 3.D ). Alle Impulse , die in den Ostblockstaaten zur Systemänderung führen sollten , kamen zwar aus dem Inneren ebendieser Länder 188 , die wichtigsten Entscheidungen fielen jedoch in Moskau , und zwar dergestalt , dass dort eben nichts entschieden wurde. Gorbatschow spielte auch in der Entwicklung der kommunistischen „Bruderstaaten“ eine herausragende Rolle , denn er gab deren Regierungen keine Anweisungen , stellte keine Bedingungen und drohte auch nicht mit militärischer Intervention. Vielmehr überließ er die kommunistischen Parteien sich selbst und vermied es , ihnen irgendwelche Instruktionen zu erteilen , selbst wenn diese , wie die KP der ČSSR , direkt darum ersuchten. Kein Volk leistete so beharrliche Opposition gegen das kommunistische Regime wie die Polen.189 Von den Arbeiterunruhen der 1970er-Jahre , dem ungeheuren – antikommunistischen – Einfluss , der vom ersten polnischen Papst , Johannes Paul II. ( 1978–2005 ), ausging , von der Gründung der „Solidarność“ ( Solidarität ) und der Verhängung des Kriegsrechts 1981–1983 war in Kap. 3.D die Rede. Angesichts anhaltender Wirtschaftsprobleme und der kaum mehr zu bewältigenden Staatsverschuldung sah sich der Partei- und Staatschef General Wojciech Jaruzelski ( seit 1981 ) gezwungen , 1987 die Abkehr vom „stalinistischen Sozialismus“ und eine Hinwendung zur Selbstverwaltung der Betriebe zu dekretieren. Gleichzeitig fanden erste Kommunal- und Regionalwahlen statt , die aber auf wenig Interesse seitens der Bevölkerung stießen. Wie hilflos die politische Führung angesichts einer Inflation von 45 Prozent , dramatischer Preiserhöhungen und gleichzeitig verordneter Lohnerhöhungen agierte , erkannte man an einem ständigen Wechsel der Minister. Im Frühjahr 1988 erfasste eine neue Streikwelle das Land , noch einmal wurde die Polizei zur Beilegung des Ausstandes eingesetzt. Schließlich kam die Regierung nicht umhin , Verhandlungen mit dem Arbeiterführer Lech Wałęsa einzuleiten. Im Februar 1989 setzten sich Vertreter der Regierung , der Solidarność und eines von der Gewerkschaft gegründeten „Bürgerkomitees“ zusammen ; sie entschieden sich , an einem „Runden Tisch“ Platz zu nehmen , um jede protokollarische Sitzordnung zu umgehen. Im März 1989 einig188 Franz-Lothar Altmann , E. Hösch ( Hgg. ): Reformer und Reformen in Osteuropa. Regensburg 1994. – Trautl Brandstaller , Erwin A. Schmidl : Vorhang auf. Vom Kalten Krieg zum geeinten Europa = Geteilt / Geeint : 1989–2009 – Aufbruch in eine neues Europa. Graz 2009. 189 Mieczyslaw F. Rakowski : Es begann in Polen. Der Anfang vom Ende des Ostblocks. Hamburg 1995.
B ) DAS ENDE DER VOLKSDEMOKRATIEN IN EUROPA
ten sich die 56 Verhandlungspartner des „Runden Tisches“ auf einen schrittweisen Übergang zum Mehrparteiensystem und zur parlamentarischen Demokratie sowie zur Wiederzulassung der Solidarność. Wahlen im Juni 1989 bescherten den Kommunisten eine vernichtende Niederlage. Staatspräsident Jaruzelski behielt zwar noch bis 1990 sein Amt , er verzichtete jedoch auf die Parteifunktionen. Zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten wurde der Schriftsteller Tadeusz Mazowiecki ( bis Ende 1990 ) ernannt ; er leitete eine von der Solidarność dominierte Koalitionsregierung und hatte die undankbare Aufgabe , mit der Transformation von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft ( Umwandlung von 7. 600 staatlichen Unternehmen in Aktiengesellschaften ) zu beginnen. Sie gelang unter anfangs schweren Opfern der Bevölkerung ( Teuerung , Arbeitslosigkeit , Reallohnverlust ) erst nach einigen Jahren , dann aber auf mustergültige Weise. Am 27. Januar 1990 wurde die polnische Kommunistische Partei formell aufgelöst , bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1990 siegte Lech Wałęsa überragend ; er blieb bis 1995 im Amt. So wie in Polen erfolgte auch in Ungarn die Wende auf friedliche Weise.190 Ungarn war schon seit den 1960er-Jahren liberaler als die anderen Ostblockstaaten und auch mit Konsumgütern besser versorgt ( „Gulaschkommunismus“ ). Nichtsdestoweniger offenbarte sich gegen Ende der 1980er-Jahre die Unzulänglichkeit des Systems , das weder die Staatsverschuldung , die Teuerung noch die Ineffizienz der Arbeitsproduktivität in den Griff bekam. Überlegungen zur Einführung marktwirtschaftlicher Wirtschaftselemente nach sowjetischem Vorbild führten zu heftigen Kontroversen zwischen bewahrenden und reformorientierten Kommunisten und gipfelten im Mai 1988 in der Absetzung des langjährigen Parteichefs János Kádár ( seit 1956 , gest. 1989 ), die nicht zuletzt auf Moskaus Druck erfolgte. Neuer Parteichef wurde der bisherige Ministerpräsident ( seit 1987 ) Károly Grósz. Anfang 1989 gewannen die Reformkräfte innerhalb des ZK endgültig das Übergewicht : Ungarns Transformation zur Demokratie und zur Marktwirtschaft wurde also aus dem Inneren des Systems vorangetrieben. Die Gründung unabhängiger Parteien , Gewerkschaften und Interessensgruppen wurde genehmigt , Demonstrationen wurden zugelassen. So gingen anlässlich der Rehabilitierung und offiziellen Beisetzung des 1958 hingerichteten früheren Ministerpräsidenten Imre Nagy ( siehe Kap. 3.D ) am 16. Juni 1989 über zweihunderttausend Menschen auf die Straße. Als im Mai 1989 die Grenzen geöffnet wurden , nutzten dies zehntausende DDR-Bürger zur Ausreise über Österreich in die DDR ; dies beschleunigte den Untergang der DDR ( siehe Kap. 10.C ). In einer spektakulären Zeremonie durchschnitten am 27. Juni 1989 der österreichische und der ungarische Außenminister , Alois Mock und Gyula Horn ( gest. 2013 ), den Drahtzaun an der Grenze bei Klingenbach und demonstrierten 190 Zoltán Tibor Pállinger : Die politische Elite Ungarns im Systemwechsel 1985–1995. Bern 1997.
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damit die Demontage des Eisernen Vorhanges. Bis September 1989 einigten sich Regierung und Opposition am nach polnischem Vorbild eingerichteten „Runden Tisch“ auf eine Verfassungsänderung , auf freie Wahlen und auf unbeschränkte Reisefreiheit. Am 6. Oktober wurde die KP Ungarns aufgelöst und in die „Ungarische Sozialistische Partei“ umgewandelt , am 18. Oktober änderte Ungarn seine Verfassung und heißt statt „Volksrepublik“ nunmehr „Republik Ungarn“. Im Frühjahr 1990 gab es die ersten freien Parlamentswahlen , erstmals seit 1945 fanden sich unter den Abgeordneten keine orthodoxen Kommunisten mehr. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch die letzten sowjetischen Soldaten das Land verlassen. Bis zum Spätherbst 1989 hatte es nicht den Anschein , als ob die Wende in der Tschechoslowakei ähnlich gewaltlos vonstattengehen würde wie in Polen und Ungarn , letztlich erfolgte die Transformation aber doch friedlich , als sogenannte „Samtene Revolution“.191 Noch am 21. August 1989 löste die Polizei eine Demonstration anlässlich des 21. Jahrestages der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen auf ; von den 3. 000 Teilnehmern wurden 370 verhaftet , unter ihnen Václav Havel. Am 28. Oktober , dem 71. Gründungstag der Tschechoslowakei , forderten 15. 000 Demonstranten freie Wahlen und die Enthaftung politischer Gefangener ; ein PolizeiGroßeinsatz beendete die Kundgebung. Auch die Studentendemonstration vom 17. November – bereits eine Woche nach dem Berliner Mauerfall – wurden noch blutig niedergeschlagen. Dann aber kippte die Situation : Die Protestwelle wollte nicht enden , Václav Havel verließ seinen Hausarrest und gründete in einem Prager Theater das oppositionelle „Bürgerforum“ ( „Občanské Fórum“ ). Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Vorgänge in Polen und Ungarn trat das Präsidium des Zentralkomitees der KP am 24. November zurück. Zwei Tage später fand erstmals ein Dialog zwischen der Regierung und dem Bürgerforum statt , das binnen weniger Tage zu einem Schattenkabinett mutierte und den Rücktritt all jener Männer forderte , die 1968 für den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen eingetreten waren. Zugleich feierte eine riesige Menschenmenge von 250. 000 Personen auf dem Prager Wenzelsplatz den Vater des Prager Frühlings von 1968 , Alexander Dubček. Am 29. November strich das Parlament die Führungsrolle der KP aus der Verfassung und verfügte die Reiseerlaubnis für alle Staatsbürger , keine zwei Wochen später trat die letzte kommunistische Regierung nach 41 Jahren KP-Herrschaft zurück. Neuer Ministerpräsident einer „Regierung der nationalen Verständigung“ mit zehn kommunistischen und elf nichtkommunistischen Ministern wurde Marian Čalfa ( bis 1993 ). Am 28. Dezember 1989 wählte das Bundesparlament Alexander Dubček ehrenhalber zum Parlamentspräsidenten – er hatte die Zeichen der Zeit wohl nicht verstanden und träumte immer noch von einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“; daher sollte er fortan 191 Bernhard Wheaton , Zdeněk Kavan : The Velvet Revolution. Czechoslovakia 1988–1991. Boulder 1992.
B ) DAS ENDE DER VOLKSDEMOKRATIEN IN EUROPA
keine politische Rolle mehr spielen ( er starb 1992 bei einem Autounfall ). Tags darauf wählte das Parlament den Dichter , Bürgerrechtler und Dissidenten Václav Havel , der wenige Monate zuvor noch inhaftiert gewesen war , zum Staatspräsidenten. Am 20. April 1990 erhielt die Tschechoslowakei den neuen Namen „Tschechische und Slowakische Föderative Republik“ ( ČSFR ). Schon zwei Monate zuvor begann der Abzug der sowjetischen Armee , am 12. Juli 1990 war die Auflösung des Warschauer Paktes beschlossen worden , bis 1. Juli 1991 hatte der letzte sowjetische Soldat das Land verlassen. Obwohl die ČSFR eine föderative Verfassung erhalten hatte , machten sich führende Politiker der beiden Landesteile – wohl gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit – für eine Trennung stark. 1993 erfolgte tatsächlich die Teilung – Václav Havel stimmte der slowakischen Sezession nach anfänglichem Widerstreben unter der Bedingung zu , dass sie friedlich und im vollen Einvernehmen zu erfolgen habe. Staatsoberhaupt der Tschechischen Republik wurde Václav Havel ( bis 2003 ; gest. 2011 ), Ministerpräsident Václav Klaus ( bis 1997 ; 2003–2013 tschechischer Staatspräsident ). Staatsoberhaupt der Slowakischen Republik wurde Michal Kováč ( bis 1997 ), Regierungschef Vladimír Mečiar ( bis 1998 ). Beide Staaten übernahmen sämtliche internationalen Verpflichtungen der ehemaligen Tschechoslowakei , das Umtauschverhältnis der neuen slowakischen Krone zur tschechischen Krone betrug 1 :1. Bulgarien hatte sich unter dem Langzeitdiktator und KP-Chef Todor Schiwkow ( 1954–1989 ; gest. 1998 ) enger als alle anderen Ostblockstaaten an die Direktiven aus Moskau gehalten. Obwohl diese unter Gorbatschow ausgeblieben waren , verkündete Schiwkow 1987 in der Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung eine „bulgarische Perestroika“.192 Da sich – wie in der Sowjetunion – keine Erfolge abzeichneten , lenkte das KP-Regime die allgemeine Aufmerksamkeit auf ethnische Probleme und ging gegen die türkische Minderheit ( etwa zehn Prozent der Bevölkerung ) vor. Schon ein paar Jahre zuvor wurde offiziell erklärt , die bulgarischen Türken wären keine ethnischen Türken , sondern unter der osmanischen Herrschaft zwangskonvertierte Bulgaren. Nunmehr sollten sie zu ihrem ursprünglichen Bulgarentum zurückkehren , bulgarische Namen annehmen , bulgarisch sprechen und auf islamische Riten verzichten. Nationale und internationale Proteste blieben nicht aus , etwa 300. 000 Bulgaro-Türken emigrierten im Sommer 1989 in die Türkei. Im Herbst häuften sich die Demonstrationen , sodass die KP , zur Vermeidung einer Eskalation der Lage , Schiwkow am 10. November 1989 absetzte. Damit begann auch in Bulgarien die Entstalinisierung , politische Parteien wurden zugelassen , die Führungsrolle der KP aus der Verfassung gestrichen , politische Gefangene enthaftet , und die moslemische Minderheit erhielt die volle Gleichberechtigung. Regierung und Opposition bereiteten an einem „Runden 192 Wolfgang Höpken ( Hg. ): Revolution auf Raten. Bulgariens Weg zur Demokratie. München 1996.
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Tisch“ freie Wahlen für Juni 1990 vor. Bemerkenswerterweise erlangten die ehemaligen Kommunisten , die sich jetzt „Bulgarische Sozialisten“ nannten , die absolute Mehrheit. Doch die Transformation verlief schleppend , der Lebensstandard sank drastisch , schwere Ausschreitungen waren die Folge , bis eine Koalitionsregierung eine neue Verfassung verabschiedete. Im Unterschied zu den übrigen Ostblockländern verlief die Wende in Rumänien dramatisch und blutig.193 Diktator Nicolae Ceauşescu ( 1967–1989 ) führte sein Land mit stalinistischer Härte und ging gegen Streikende und Protestierer mit großer Brutalität und ohne Rücksicht auf Menschenleben vor ( 1977 , 1987 ). Außenpolitisch punktete er im Westen , da er sich eine gewisse Freiheit gegenüber Moskau herausnahm – beispielsweise versagte die rumänische Armee den übrigen Warschauer-PaktArmeen die Gefolgschaft bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 ( siehe Kap. 3.D ), Bukarest ergriff im Nahostkonflikt die Partei Israels und verurteilte 1980 die sowjetische Invasion in Afghanistan. Im Inneren jedoch nahm die Regierung Ceauşescus nach und nach bizarre Formen an : So ließ er sich ( und seine Frau Elena ) wie ein byzantinisches Kaiserpaar verherrlichen , insbesondere betonte er seine Rolle als unumschränkter Herrscher über Partei und Staat , der allein den „wissenschaftlichen Sozialismus“ zu begreifen und in die Tat umzusetzen vermochte. Gleichzeitig ging das Land wirtschaftlich zugrunde. In einem Anfall von Größenwahn ließ der „Conducator“ 1984 das von 40. 000 Menschen bewohnte Altstadtviertel von Bukarest abreißen und an seiner statt das pompöse „Sozialistische Zentrum“ mit einer breiten , für Aufmärsche gedachten und zum „Palast der Republik“ führenden Prachtstraße errichten. Analog zu dieser städtebaulichen Sünde initiierte er 1988 ein „Siedlungsbereinigungsprogramm“, das die Demolierung von 7. 000 der insgesamt 13. 000 Dörfer und deren Umwandlung in Agrozentren vorsah. Doch an einer solchen Dorfzerstörung entzündete sich der Widerstand , zunächst unter der ungarischen Minderheit. Die Demonstrationen begannen am 17. Dezember 1989 in Temešvár ( Timişoara ). Sogleich griffen Armee und Sicherheitskräfte ein , es gab Tote und hunderte Verhaftete. Als sich jedoch etliche Soldaten weigerten , das Feuer auf Zivilisten zu eröffnen , standen sie unversehens selbst im Kugelhagel , und es kam zu Straßenkämpfen zwischen Teilen der Armee , die , wie sich auf einmal zeigte , nicht mehr loyal zum Regime stand , und Mitgliedern des Geheimdienstes Securitate. Am 20. Dezember wurde der Ausnahmezustand über den Bezirk Timiş verhängt. Tags darauf weiteten sich die Unruhen wie ein Flächenbrand über das ganze Land aus ; die Rumänen waren der Lebensmittelknappheit , des ständigen Mangels an Heizmaterial und der allgegenwärtigen Armut längst überdrüssig geworden. Die dramatischen Ereignisse des 21. Dezember 1989 sind bis heute nicht lückenlos rekonstruierbar , die Öffent193 Anneli Ute Gabanyi : Systemwechsel in Rumänien. Von der Revolution zur Transformation. München 1998.
B ) DAS ENDE DER VOLKSDEMOKRATIEN IN EUROPA
lichkeit sah lediglich Fernsehbilder von Ceauşescu , der vom Balkon seines Regierungspalastes eine Ansprache hielt , von der wütenden Menge niedergeschrien wurde und mitten in seiner Rede vom Bildschirm verschwand. Parallel zum Volksaufstand vollzog sich also im inneren Zirkel der Macht ein Putsch. Historiker vermuten , dass der sowjetische Geheimdienst seine Hand im Spiel gehabt haben musste , denn nur eine große Organisation hätte solches bewerkstelligen können ( Ceauşescu war ja seit je her in Moskau verhasst ). Am 22. Dezember wurde über das ganze Land der Ausnahmezustand verhängt , aber Teile der Armee hatten sich bereits den Aufständischen angeschlossen. Ceauşescu floh mit seiner Frau Elena per Hubschrauber aus dem Regierungspalast , wurde aber bald nach der Landung verhaftet , von Militärs an einen geheimen Ort in Bukarest gebracht , vor ein Militärtribunal gestellt und nach kurzem Prozess gemeinsam mit Elena am 25. Dezember zum Tod verurteilt und hingerichtet. Insgesamt hatte der Volksaufstand 1104 Menschen das Leben gekostet. Auszüge aus dem Prozess gegen Nicolae und Elena Ceauşescu , 25. Dezember 1989 : „Anklage : Sie hatten alles und das Volk hat gelitten. Das Volk weiß genau , was Sie getan haben. [ … ] Sie sind ein Feigling. Verehrte Richter ! Heute stehen der Angeklagte Nicolae Ceauşescu und die Angeklagte Elena Ceauşescu vor Gericht. [ … ] Im Namen des rumänischen Volkes , wegen der Opfer und aller Erniedrigungen , schlage ich vor , die Angeklagten wegen dieser Verbrechen zu verurteilen : Für den organisierten Missbrauch der Volksarmee , für die Vernichtung der Wirtschaft , für den Wunsch , durch die Vernichtung der Industrie und aller übrigen Reichtümer sich selbst einen Vorteil zu schaffen. Sie haben die Anklage gehört. Bitte stehen Sie auf ! Nicolae Ceauşescu : Wir stehen nicht auf. Wir antworten nur vor der Großen Nationalversammlung. Ich erkenne das Gericht nicht an. [ … ] Alles , was hier gesagt worden ist , ist Lüge. Aber ich werde kein Wort dazu sagen. Ich werde nichts unterschreiben. Anklage : Sie wissen gut , wie die Situation im Lande ist. [ … ] Ihre Verbrechen haben das Land vernichtet. Das Volk ist vor Hunger gestorben , und auch die Kinder , ohne Wärme , ohne Nahrung , ohne Licht. Nicolae Ceauşescu : Ich lehne es ab , auf die Fragen zu antworten. Ich werde nicht antworten. [ … ] Anklage : Wer hat Sie dazu gebracht , dass Sie das Volk in eine solche Situation geführt haben , in der es sich jetzt befindet ? Nicht einmal die Bauern haben genügend Mehl , ständig sind sie nach Bukarest gekommen , um Brot zu kaufen. [ … ] Warum mussten die Bauern Brot in der Stadt kaufen ? Nicolae Ceauşescu : Die Bevölkerung hatte alles Notwendige. Anklage : Sie sind vieler Verbrechen angeklagt. Elena Ceauşescu soll Ihnen sagen , wie ihre Ausgaben im Ausland bezahlt wurden. Elena Ceauşescu : Ich habe mein ganzes Leben für das Volk gegeben.
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10. DIE WENDE Anklage : Ich glaube , damit ist alles beendet. Daher verurteilen wir die beiden Angeklagten zum Tode und ziehen ihr gesamtes Vermögen ein.“194
Eine „Front zur nationalen Rettung“ unter Führung des ZK-Sekretärs Ion Iliescu übernahm nun die Leitung der Staatsgeschäfte und organisierte Anfang 1990 einen „Runden Tisch“, dem Mitglieder der Regierung und Vertreter der Opposition angehörten ; man einigte sich auf eine demokratische Verfassung und auf freie Präsidentschafts- , Parlaments- und Senatswahlen , die dann am 20. Mai 1990 stattfanden. Erster frei gewählter Präsident Rumäniens wurde Ion Iliescu ( bis 1996 ). Er hatte ein schweres Erbe angetreten , denn Streiks , Demonstrationen , Korruption und Kriminalität begleiteten den mühsamen Umstellungsprozess von der Plan- zur Marktwirtschaft und forderten der Bevölkerung des heruntergewirtschafteten Landes große Opfer ab. C ) D IE WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS
Trotz strenger Überwachung durch den DDR-Staatssicherheitsdienst ( „Stasi“ ) konnten sich im Rahmen der Kirchen einzelne Gruppen formieren , die für Menschenrechte und Frieden eintraten. Die Friedensbewegung stand im Gegensatz zur neuen Militarisierung der Jugend ( z. B. 1982 : Wehrpflicht auch für Frauen ). Das symbolhafte Schlagwort „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde verboten und unter Strafe gestellt , an seiner statt musste es heißen „Frieden schaffen gegen NATO-Waffen“. Dennoch verstummten die unabhängigen Friedens- und Ökologiebewegungen nicht , sie konnten ihre Forderungen allerdings nur jenseits der Grenze , in der BRD , ungestraft äußern. Ende 1987 , Anfang 1988 verschärften sich die Auseinandersetzungen mit den oft mit der evangelischen Kirche verbundenen Dissidenten , die verfolgt , verhaftet und in großer Zahl auch ausgewiesen wurden. Untergrundzeitschriften , nicht zugelassene Demonstrationen sowie eine Flut von Ausreiseanträgen ( die kaum genehmigt wurden ) setzten die DDR-Führung dermaßen unter Druck , dass sie sich nur mehr durch schärfste Repressionen zu helfen wusste. Die sowjetische Reformpolitik wurde strikt abgelehnt , anlässlich eines Besuchs des Staats- und Parteichefs Erich Honecker ( 1976–1989 ) in Moskau im Herbst 1988 traten die Differenzen zu Michail Gorbatschow ( siehe Kap. 10.A ) deutlich zutage. Immer noch glaubte die greisenhaft erstarrte Staatsführung der DDR , die Amtsgeschäfte wie in den vergangenen Jahrzehnten weiterführen zu können , von einer Lockerung der unmenschlichen Diktatur war keine Rede. So war im Februar 1989 das letzte Opfer an der Berliner Mauer zu beklagen : Chris Gueffroy starb im Kugelhagel bei einem erfolglosen Fluchtversuch. 194 Aus : Die Presse , 28. Dezember 1989 , S. 4.
C ) DIE WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS
Der Kollaps der DDR zeichnete sich ab , als im Juli 1989 die Fluchtbewegung begann.195 Zehntausende stürmten die Botschaften der BRD in Ostberlin , Budapest , Prag und Warschau. Ungarn öffnete im September 1989 die Grenzen zu Österreich , worauf sich eine Fluchtwelle ungeahnten Ausmaßes über Österreich in die BRD ergoss. Gleichzeitig begannen in Leipzig die Montagsdemonstrationen , die unter dem Slogan „Wir sind das Volk“ von Woche zu Woche größeren Zulauf erfuhren ; Mitte Oktober wurden schon 100. 000 Teilnehmer gezählt. Ein letztes Mal präsentierte sich die offizielle DDR am 7. Oktober anlässlich des 40. Jahrestages ihres Bestehens. Der sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow wohnte den aufwendigen Feierlichkeiten und der Militärparade bei und äußerte bei der Gelegenheit das visionäre Bonmot „Wer zu spät kommt , den bestraft das Leben.“ Zur selben Zeit fanden Großdemonstrationen in mehreren Städten statt ; sie wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen , während der Staatssicherheitsdienst den Einsatz von Waffen plante und bereits Internierungslager für Dissidenten errichtete. Auch die sowjetische Armee war bereit , in die Wirren der DDR einzugreifen , aber Gorbatschow verbot dies. Da die Partei ratlos und unentschlossen den eskalierenden Demonstrationen und Massenausreisen gegenüberstand , zwang sie am 18. Oktober Erich Honecker zum Rücktritt ; sein Nachfolger wurde Egon Krenz. Drei Wochen später demissionierten die Regierung und das gesamte Politbüro der SED. Wie zuvor in Polen und in anderen ehemaligen Ostblockländern wurde auch in Ostberlin ein „Runder Tisch“ eingerichtet , an dem Oppositionelle gemeinsam mit jenen Funktionären Platz nahmen , die ihre politische Meinung radikal geändert hatten und daher in Anlehnung an eine Vogelart „Wendehälse“ genannt wurden. Am Runden Tisch wurden das Ende der SEDFührungsrolle und die Bildung neuer Parteien beschlossen. Am denkwürdigen 9. November 1989 beschloss die DDR-Regierung , dass ab sofort alle DDR-Bürger jederzeit ausreisen dürften.196 Um 19 Uhr wurde diese Reiseverordnung in den Nachrichten verbreitet , um 21.20 Uhr passierten die ersten DDR-Bürger ungehindert die Grenze , zwei Stunden später überrannten tausende Menschen die Kontrolleinrichtungen , ab Mitternacht besetzten Ostberliner die Mauer. Die Sicherheitskräfte hatten keinen Schießbefehl. Die Mauer wurde rasch demoliert , und bis zum 19. Dezember reisten 195 Jürgen Kocka , in : Carola Stern , Hans August Winkler : Wendepunkte deutscher Geschichte. Frankfurt am Main 1994 , S. 159–192. – Alexander von Plato : Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bonn 2 2003. – Charles S. Maier : Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus. Frankfurt am Main 1999. – Janusz Sawczuk : Genese der deutschen Einheit. Aus dem Polnischen übersetzt von Jens Frasek = Nationalisms across the Globe , Bd. 6. Oxford / Bern / Berlin / Bruxelles / Frankfurt am Main / New York / Wien 2011. – Paul Schulmeister : Wendezeiten. Eine Revolution im Rückblick. Salzburg 2009. 196 Hans-Hermann Hertle : Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989. Augsburg 2003.
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über acht Millionen DDR-Bürger in den Westen. An diesem 19. Dezember vereinbarten der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl ( 1982–1998 ) und der interimistische DDR-Regierungschef Hans Modrow eine Vertragsgemeinschaft der beiden deutschen Staaten. 100. 000 Demonstranten forderten in Leipzig die Wiedervereinigung Deutschlands. Angesichts der öffentlichen Enthüllungen von Sonderprivilegien und Machtmissbrauch bisheriger SED-Spitzenfunktionäre wurde u. a. Honecker aus der Partei ausgeschlossen. Die Massenflucht hielt an , die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nahmen zu , und die Verwaltung der DDR brach zusammen. Jetzt war schnelles Handeln geboten , da das totale Chaos drohte. Nachdem Modrow in Moskau das Einverständnis Gorbatschows zur Wiedervereinigung Deutschlands eingeholt hatte , konnte sich seine Regierung im Februar 1990 offiziell dazu bekennen. Dem sowjetischen Staatspräsidenten fiel in diesen turbulenten Tagen die Schlüsselrolle zu , ohne seine Zustimmung hätte es die auf friedlichem Wege vollzogene deutsche Einheit nicht gegeben. Wohl gab es in Moskau einige Vorbehalte , die Helmut Kohl jedoch ausräumen konnte , indem er nicht nur die Grenze zu Polen garantierte , sondern auch erklärte , dass Deutschland in Hinkunft fest im westlichen Bündnis bleiben , also keinen nationalistischen Sonderweg beschreiten würde. Auf Gorbatschows Frage , warum denn ein vereinigtes Deutschland unbedingt NATO-Mitglied sein müsse , antwortete Kohl : „Nicht aus Furcht vor der Sowjetunion , sondern wegen Deutschlands Nachbarn. Die fühlen sich einfach sicherer , wenn sie das vereinigte Deutschland im westlichen Bündnis verankert sehen.“ Anlässlich eines Gipfeltreffens zwischen Gorbatschow und dem US-Präsidenten , George Bush sen. ( 1989–1993 ), stimmten die beiden Staatschefs jedenfalls darin überein , dass die Vereinigung Deutschlands eine Sache der Deutschen wäre. Doch nicht alle teilten diese Ansicht : Sehr heftige Bedenken brachte Großbritanniens Premierministerin , Margret Thatcher ( 1979–1990 ; gest. 2013 ), zur Geltung , indem sie die rhetorische Frage stellte : „Und wann kommt der Anschluss [ Österreichs ] ?“; Frankreichs Präsident , François Mitterand ( 1981–1995 ), stimmte erst zu , nachdem Kohl eine gemeinsame europäische Währung , also den Verzicht auf die starke D-Mark , in Aussicht gestellt hatte. Innerhalb der BRD äußerten sich Alt–68er , Linksintellektuelle und viele Schriftsteller wie Johannes Mario Simmel vehement gegen die Wiedervereinigung , weil sie befürchteten , dass von Deutschland ein neuer Krieg ausgehen könnte. Wie sich die Vereinigungsgegner jedoch einen Fortbestand der zerfallenden DDR vorstellten , ging aus ihren Kundgebungen nicht hervor , denn einem „kommunistischen Disneyland“ wäre wohl keine lange Lebensdauer beschieden gewesen. Die ersten freien Volkskammerwahlen der DDR am 18. März 1990 machten die CDU mit 40,5 Prozent zur stimmstärksten Partei ; die ehemalige SED ( Sozialistische Einheitspartei ), die inzwischen ihren Namen auf „Partei des Demokratischen Sozialismus“ ( PDS ) geändert hatte , wurde mit 16,4 Prozent Dritte. Am 12. April wurde Lothar de Maizière als Ministerpräsident vereidigt ; er leitete eine Koalitionsregierung , der keine Kommunisten mehr angehörten. Mit 1. Juli 1990 trat die Wäh-
C ) DIE WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS
rungs- , Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der BRD in Kraft. Am 12. September 1990 schlossen die beiden deutschen Staaten mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges in Moskau den „Zwei-plus-vier-Vertrag“ über die Modalitäten der Wiedervereinigung ; de facto ist dieser Vertrag der deutsche Friedensvertrag , durch den Deutschland seine volle Souveränität erhielt. Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ ( Präambel und zehn Artikel ) im Wortlaut : „Die Bundesrepublik Deutschland , die Deutsche Demokratische Republik , die Französische Republik , die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken , das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika sind [ … ] eingedenk der jüngsten historischen Veränderungen in Europa [ … ] entschlossen , [ … ] in Übereinstimmung mit ihren Verpflichtungen aus der Charta der Vereinten Nationen [ … ] auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln [ … ] , eingedenk der Prinzipien der in Helsinki unterzeichneten Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa , [ … ] entschlossen , die Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen , überzeugt von der Notwendigkeit , Gegensätze endgültig zu überwinden [ … ]. In Würdigung dessen , dass das deutsche Volk in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts seinen Willen bekundet hat , die staatliche Einheit Deutschlands herzustellen , um als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem [ … ] Frieden zu dienen , in der Überzeugung , dass die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität [ … ] ist. [ … ] Artikel 1 : Das vereinte Deutschland wird die Gebiete der Deutschen Demokratischen Republik , der Bundesrepublik Deutschland und ganz Berlin umfassen. [ … ] Das vereinte Deutschland und die Republik Polen bestätigen die zwischen ihnen bestehende Grenze in einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag. Das vereinte Deutschland hat keine Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch in Zukunft nicht erheben. [ … ] Artikel 2 : Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen , dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird. [ … ] Artikel 7 : Die Französische Republik , die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken , das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. [ … ] Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten. [ … ]“197
197 Aus : Die Presse , 13. September 1990 , S. 4.
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Am 3. Oktober 1990 trat die DDR dem Deutschen Grundgesetz und somit der BRD bei. An diesem Festtag überwogen im In- und Ausland die Jubelmeldungen. So setzte beispielsweise der Wiener Bürgermeister , Helmut Zilk , ein Zeichen seiner solidarischen Freude mit den Deutschen , indem er auf dem Wiener Rathaus die schwarz-rot-goldene Fahne hissen ließ. US-Präsident George Bush beglückwünschte die Deutschen : „Endlich ist der Tag gekommen. Deutschland ist vereinigt. Deutschland ist frei.“ Lediglich in Israel sprach man von einem „Tag der Trauer für das jüdische Volk.“ Ungeachtet dessen übermittelte Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Schreiben allen Staats- und Regierungschefs : „Von deutschem Boden wird in Zukunft nur Frieden ausgehen.“ Bundespräsident Richard von Weizsäcker ( 1984–1994 ) dankte vor allem dem sowjetischen Präsidenten , dass er den Weg zu Reformen in Osteuropa frei gemacht hätte. Die Euphorie währte nicht allzu lange ; in den alten Bundesländern war man entsetzt über die horrenden Kosten , die über die ehemalige BRD hereinbrachen : Helmut Kohl hatte mit 80 Milliarden D-Mark gerechnet , um die Ex-DDR auf westliches Niveau zu bringen , aber selbst die zwanzigfache Summe reichte nicht aus , um die nach vier Jahrzehnten kommunistischer Misswirtschaft völlig heruntergekommenen neuen Bundesländer zu modernisieren. Niemand im Westen konnte sich vorstellen , wie der Lebensstandard , die Wohnverhältnisse und die Wirtschaftskraft des „kommunistischen Vorzeigelandes“ tatsächlich beschaffen waren. Nur zwei Prozent der ostdeutschen Betriebe arbeiteten rentabel , rund ein Drittel musste geschlossen werden , was die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen ließ ; die übrigen DDR-Betriebe konnten saniert werden. Die ostdeutsche Währung wurde – allerdings in begrenzter Menge – im Verhältnis 1 :1 mit der D-Mark getauscht , obwohl ihr tatsächlicher Wert lediglich bei einem Viertel lag. Zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung hatte die öffentliche Hand bereits zwei Billionen Euro in den „Aufbau Ost“ investiert ; bis dahin haben die einstigen DDR-Bewohner immerhin drei Viertel des Wohlstandes der alten BRD erreicht. Aber mehr noch als die materiellen Unterschiede sorgte der Mentalitätsunterschied zwischen den Bewohnern der alten und neuen Bundesländer für mangelndes gegenseitiges Verständnis : In der ehemaligen DDR fand die 68er-Revolution nicht statt , die neue Aufklärung , die längst das Denken und den Wertekanon aller Westeuropäer maßgeblich beeinflusst hat , stieß in den neuen Bundesländern auf Unverständnis. Die Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag am 2. Dezember 1990 gewann die CDU / CSU-FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl ; nachdem sich der Bundestag in Berlin , der künftigen Hauptstadt Deutschlands , konstituiert hatte , wurde Kohl zum ersten Bundeskanzler Gesamtdeutschlands gewählt. Der ehemalige DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker war nach kurzer Haft198 198 Reinhold Andert , Wolfgang Herzberg : Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör. Berlin4 1991.
D ) EUROPAS LETZTE KRIEGE – DER ZERFALL JUGOSLAWIENS
in ein sowjetisches Militärhospital überstellt worden und entkam von dort nach Moskau. Seinen Lebensabend verbrachte er in Chile , wo er 1994 starb. D ) EUROPAS LETZTE KRIEGE – DER ZERFALL JUGOSLAWIENS199
Die Friedensdiktate nach dem Ersten Weltkrieg schufen viele neue Grenzen , die nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker entsprachen und den Keim neuer Konflikte in sich trugen , welche oft erst im ausgehenden 20. Jahrhundert gelöst wurden. Insbesondere bildete die Konstruktion eines südslawischen Staates eine ethnische Vielfalt , die allein aus historischen Gründen nicht zusammenpassen konnte : Slowenien , Kroatien , Slawonien und die Vojvodina standen Jahrhunderte lang unter österreichischer , Serbien , Bosnien-Herzegowina , Montenegro , das Kosovo und Makedonien unter osmanischer Herrschaft ; von Wien bzw. Konstantinopel gingen völlig konträre kulturelle und zivilisatorische Impulse aus. Der 1918 gegründete SHSStaat , seit 1929 Jugoslawien genannt , war von Anfang an von Konflikten zwischen den Serben und Kroaten geprägt. Während des Zweiten Weltkrieges lieferten einander die serbisch-königstreuen Četnici , die übernationalen kommunistischen Partisanen und die kroatisch-nationalen Ustaša blutige Kämpfe , aus denen die Kommunisten als Sieger hervorgingen. Der Kroate Josip Broz , gen. Tito ( 1892–1980 ), einstiger k. u. k.-Unteroffizier , Generalsekretär der jugoslawischen KP , Partisanenführer , ab 1943 Marschall und Ministerpräsident und seit 1953 Staatspräsident , baute 1945 im von deutschen Truppen befreiten Jugoslawien einen Staat gemäß marxistisch-leninistischem Muster auf. Nach den unschönen Anfangsjahren seiner Herrschaft , die von ethnischen Säuberungen und Vertreibungen geprägt waren , mutierte Tito zum geachteten Staatsmann : Er brach 1948 mit Stalin , näherte sich wirtschaftlich dem Westen an und übernahm eine führende Rolle in der Blockfreien-Bewegung ( siehe Kap. 2.D ). Im Inneren ging er mit diktatorischer Härte gegen Oppositionelle ebenso wie gegen nationalistische Sonderwünsche vor. Tito wurde mit den Jahren zur mystisch verklärten Führerpersönlichkeit , er war die eiserne Klammer , die den Vielvölkerstaat mit seinen sechs Teilrepubliken und zwei autonomen Gebieten ( Vojvodina , Kosovo ) zusammenhielt. Als er 1980 starb , steckte Jugoslawien in einer schweren ökonomischen Krise : Weder war der galoppierenden Inflation noch der stetig wachsenden Staatsverschuldung beizukommen , die Betriebe arbeiteten völlig unproduktiv , und die Arbeitslosigkeit konnte trotz des „Exports“ von Gastarbeitern nach Deutschland und Österreich nicht mehr verdeckt werden. Auch trat immer deutlicher das Wohlstandsgefälle zwischen den westlichen und östlichen Teilrepubliken zutage ; dies gab den Anlass für einen regelrechten Handelskrieg , in dem Serbien Waren aus Sloweni199 Michael Weithmann ( Hg. ): Der ruhelose Balkan. Die Konfliktregionen Südosteuropas. München 1993.
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en und Kroatien mit Sondersteuern belegte. Zugleich zerbrach die Einheit der gesamtjugoslawischen KP , nationale Führer gewannen die Oberhand , insbesondere wuchs rasch der nationalserbische Chauvinismus.
Zerfallendes Jugoslawien
1986 formulierte die serbische Akademie der Wissenschaften ein Memorandum über „Groß-Serbien“, das aus folgenden Teilen bestehen sollte : die Republik Serbien , ein Drittel von Mazedonien , Montenegro , das Kosovo , die Vojvodina , BosnienHerzegowina und von Kroatien die Krajina und das südliche Dalmatien. Ungeachtet solcher Wünsche musste Belgrad 1987 die Zahlungsunfähigkeit einräumen und sich einer internationalen Finanzkontrolle unterwerfen ; die Inflation hatte bereits die 250-Prozent-Marke überstiegen , aber die Parteiführung zeigte keinen Willen zu Reformen und unternahm nichts gegen Korruption und Misswirtschaft.200 In diesem Jahr wurde der bisherige KP-Chef Belgrads ( seit 1983 ), Slobodan Milošević , zum 200 Hier und folgend : Wolfgang Etschmann , in : Truppendienst 2001 , H. 3 , S. 227–239.
D ) EUROPAS LETZTE KRIEGE – DER ZERFALL JUGOSLAWIENS
KP-Chef Serbiens und später auch zum Präsidenten der Republik Serbien gewählt. Dieser sorgte dafür , dass seine Gefolgsleute auch in Montenegro , in der Vojvodina und im Kosovo an die Macht kamen. In Montenegro wurden allerdings die Mitglieder der Republik- und Parteiführung 1989 von einer aufgebrachten Menge , die der Arbeitslosigkeit und Korruption überdrüssig war , aus ihren Ämtern vertrieben. Eine von Milošević 1988/89 durchgedrückte Verfassungsänderung , die den Autonomiestatus der Vojvodina und des Kosovo aufhob , führte unmittelbar zum Bürgerkrieg. Insbesondere im Kosovo nahmen die Auseinandersetzungen zwischen Serben und Albanern ständig zu. Am 28. Juni 1989 , dem nationalserbischen Fest- und Trauertag , provozierte Milošević durch seine Rede anlässlich einer Massenkundgebung auf dem Amselfeld im Kosovo , indem er eine historische Brücke zwischen der Schlacht auf dem Amselfeld ( 28. Juni 1389 ) und der Gegenwart zog : „Heute , 600 Jahre später , stehen wir in der Schlacht und sehen neuen Kämpfen entgegen. Es sind keine bewaffneten Kämpfe – aber auch solche sind nicht auszuschließen.“ Tito hatte einst eine Nachfolgeregelung getroffen , die einen turnusmäßigen Wechsel im Amt des jugoslawischen Staatspräsidenten und des Regierungschefs vorsah. Dieser Wechsel wurde 1989 vollzogen , indem der Slowene Janez Drnovšek als Staatspräsident und der Kroate Ante Marković als Regierungschef an die Reihe kamen. Beider Autorität verblasste allerdings zusehends gegenüber dem Machtanspruch von Milošević. Erstmals zeichnete sich ein möglicher Zerfall Jugoslawiens ab. 1990 führte zuerst Slowenien das Mehrparteiensystem ein , dann folgten auch die anderen Republiken. Anlässlich der ersten freien Wahlen zum Republikpräsidenten siegte in Slowenien der Reformkommunist Milan Kučan ( 1990–2002 ), die Kroaten wählten Franjo Tuđjman von der „Kroatischen Demokratischen Vereinigung“ zum Staatsoberhaupt ( 1990–2000 ). In Serbien und Mazedonien gewannen hingegen die Kommunisten. Belgrad trieb nun die Zerstörung des Staates und die Dominanz der Serben gegenüber den anderen Völkern rasch voran , indem die großteils von serbischen Offizieren geführte Volksarmee daranging , die Territorialstreitkräfte der einzelnen Republiken zu entwaffnen. Viele kroatische und slowenische Offiziere desertierten allerdings und versteckten Waffen und Rüstungsgüter der Volksarmee in ihren Ländern ; damit waren die Republiken in der Lage , eigene Streitkräfte zu bilden. 1991 erklärte der serbische Republikpräsident Milošević , Beschlüsse des jugoslawischen Staatspräsidenten Janez Drnovšek nicht mehr anzuerkennen , kurz danach ignorierte er die turnusmäßige Wahl des Kroaten Stipe Mesić zum Staatspräsidenten. Auf diese Weise konnte die Volksarmee ohne Legitimation eines Staatsoberhauptes agieren. Im Juni 1991 erklärten Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Damit begann der Krieg. An Slowenien war Serbien nicht interessiert , daher führte dort die Volksarmee nur begrenzte Angriffe durch , um die Grenze zu Österreich und Ungarn zu sichern. Gleichwohl erlitt sie eine schwere Niederlage und musste ihre Einheiten
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abziehen – 12. 000 Soldaten waren desertiert. Im Jahr darauf erkannte Belgrad Sloweniens Unabhängigkeit an. Nachdem die Europäische Gemeinschaft ( EG ) einen Friedensplan vermittelt hatte , befahl Staatspräsident Mesić den Rückzug der Volksarmee in die Kasernen ; allein , dieser Befehl wurde verweigert , vielmehr begannen im September 1991 die Kämpfe in Kroatien. Ein von den UN verhängtes Waffenembargo für ganz Jugoslawien zeitigte keinerlei Ergebnis , zumal sich die Volksarmee schon vor Jahren mit Waffen und Rüstungsgütern in großer Zahl eingedeckt hatte und auf einen lange dauernden Krieg vorbereitet war. Mehrere Wochen hindurch wurde die Stadt Vukovar belagert , zuletzt ein Massaker an den Bewohnern angerichtet , dann eroberte die Volksarmee die Krajina und trieb 500. 000 Kroaten in die Flucht. Vom Herbst 1991 bis Mai 1992 lag auch Dubrovnik unter Beschuss. Im Oktober 1991 putschten Parteigänger von Milošević gegen die Regierung Marković , riefen das Kriegsrecht aus und übernahmen die Macht im Bundespräsidium. Die Bundesorgane und das Bundesparlament verfügten somit über keine Machtgrundlage mehr ; als dann im Dezember 1991 Ministerpräsident Marković resignierte , dominierte Serbiens Präsident Milošević den Reststaat Jugoslawien. Wirtschaftlich lag Serbien allerdings danieder : Die Kriegsfinanzierung erfolgte durch Geldvermehrung , wodurch die Inflation explodierte ; die Produktion serbischer Betriebe sank um zwei Drittel , die Einkommen verringerten sich zwischen 1991 und 1993 auf ein Dreißigstel. 1992 schlossen Serbien und Kroatien einen Waffenstillstand , der Kroatien ein Drittel seines Staatsgebietes kostete. Gleich zu Jahresbeginn 1992 anerkannte die EG die Unabhängigkeit von Slowenien und Kroatien , die UNO entsandte eine Friedenstruppe ( UNPROFOR ) in der Stärke von 38. 000 Mann nach Kroatien und nach Bosnien , wohin sich nun die Kämpfe verlagerten und wo die UNO-Truppen oft ein direktes Angriffsziel der Serben bildeten ; insgesamt fielen 195 UNO-Soldaten. In Kroatien herrschte trügerische Ruhe ; in aller Stille gelang es den Militärs , trotz UNO-Embargos die eigene Armee stark aufzurüsten. Im Juli 1995 starteten sie die Gegenoffensive ( „Operation Stern“ ) und eroberten in einem Blitzfeldzug die Krajina und Westslawonien zurück. Jetzt kam es zu heftigen Übergriffen an den Serben , von denen 200. 000 in die Flucht getrieben wurden. Der von den Kroaten als Kriegsheld gefeierte General Ante Gotovina wurde 2005 festgenommen und an das Den Haager Jugoslawien-Kriegsverbrechertribunal ausgeliefert ; in erster Instanz wurde er wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 24 Jahren Haft verurteilt , in zweiter Instanz jedoch 2012 freigesprochen. Bosnien-Herzegowina erklärte 1992 nach einem Referendum die Unabhängigkeit ; die Anerkennung durch die Europäische Gemeinschaft und die Vereinten Nationen erfolgte im Mai 1992. Staatspräsident wurde Alija Izetbegović ( 1992–2000 ). Die ethnische Zusammensetzung dieser ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik verkomplizierte die Lage enorm : 43 Prozent der Bewohner sind
D ) EUROPAS LETZTE KRIEGE – DER ZERFALL JUGOSLAWIENS
Moslems und nennen sich „Bosniaken“, 32 Prozent sind Serben und 18 Prozent Kroaten. Der bosnische Dichter und Literaturnobelpreisträger ( 1961 ) Ivo Andrić ( 1892–1975 ) hat in seinem 1945 verfassten Roman „Travnička hronika“ ( deutsch : „Wesire und Konsuln“ ) auf unnachahmliche Weise das Verhältnis der Volksgruppen zueinander charakterisiert : Die einzige innenpolitische Konstante Bosniens ist der Hass. Im April 1992 begannen die Kämpfe : Die Serben hatten lange Zeit gehabt , sich auf den Krieg vorzubereiten ; sie wollten ihn führen , um zumindest den serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina zu annektieren. Die volle Tragödie brach aus , als sie sich mit den Kroaten über die Aufteilung des Landes auf Kosten der Moslems einigten. Binnen Kurzem eroberten sie rund die Hälfte des Landes und begannen mit der Belagerung von Städten. Für fünf dieser Städte richtete die UN-Friedenstruppe UNPROFOR eine Luftbrücke ein , welche von der NATO getragen wurde. Die am längsten dauernde Luftbrücke der Geschichte ( von 1992 bis 1996 ) erlebte die Stadt Sarajewo. Dort war die Versorgungslage für die 383. 000 Einwohner enorm angespannt ; vom Flughafen in die Stadt musste sogar ein Tunnel gegraben werden , um die Transportgüter vor feindlichem Beschuss zu sichern. Noch 1992 begingen die Serben ihre ersten verbürgten Gräueltaten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit : Sie bauten Konzentrationslager und begannen mit ersten Massenerschießungen. 1993 hatten die Moslems endlich eigene paramilitärische Verbände aufgestellt , um den serbischen Vormarsch zu stoppen. Sie mussten sich aber jetzt auch gegen die Kroaten zur Wehr setzen , die Mostar unter Beschuss nahmen – und völlig sinnlos die berühmte , 1566 erbaute einbogige Steinbrücke über die Neretva zerstörten. Im selben Jahr griff zum ersten Mal in ihrer Geschichte die NATO bewaffnet in Kampfhandlungen ein : Sie setzte – mit Zustimmung Russlands – das Flugverbot über Bosnien-Herzegowina durch , 1994 schossen NATO Flieger sogar vier serbische Flugzeuge ab und beschossen auch serbische Bodentruppen. Dadurch entspannte sich die Lage der eingekesselten Städte etwas. Endlich kamen die bosnischen Kroaten zur Vernunft und schlossen mit den Moslems nicht nur Waffenstillstand , sondern vereinigten sich zur Föderation , die 51 Prozent des Landes für sich beanspruchte. Die Serben aber hatten zu dieser Zeit 70 Prozent besetzt. Serbenführer Radovan Karadžić akzeptierte daher den von den Vereinten Nationen ausgearbeiteten Teilungsplan nicht , erklärte die UNPROFOR zum Kriegsgegner und nahm kurzfristig sogar 370 UNO-Soldaten als Geiseln. Im letzten Kriegsjahr 1995 eroberten serbische Verbände unter General Radko Mladić die UN-Schutzzonen Goražde , Tuzla , Srebrenica und Žepa ; die UNO-Soldaten waren der Lage nicht gewachsen und sahen hilflos zu , wie Mladić mit ethnischen Säuberungen begann und die gesamte männliche Bevölkerung von Srebrenica – etwa 8. 000 Personen – aus der Stadt brachte und in einem nahe gelegenen Wald liquidierte. Das Massaker von Srebrenica brachte die Wende des Krieges , denn nunmehr griff die NATO massiv in die Kämpfe ein
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und zerstörte die serbische militärische Infrastruktur. Im Oktober 1995 mussten die Serben um Waffenstillstand ansuchen und im November den Frieden von Dayton / Ohio akzeptieren. Die Einheit von Bosnien-Herzegowina blieb gewahrt , das Land erhielt eine Zentralregierung und gliederte sich in eine serbische Republik ( 49 Prozent der Fläche ) und in eine moslemisch-kroatische Föderation ( 51 Prozent der Fläche ). Die UNPROFOR wurde von der internationalen Friedenstruppe IFOR ( Implementation Force ) abgelöst ; ihre 60. 000 Mann standen ebenso unter NATO-Kommando wie die sie 1996 ersetzende SFOR ( Stabilisation Force ) mit 31. 000 Mann. ( Im April 2013 entschuldigte sich Serbiens seit 2012 amtierender Staatspräsident Tomislav Nikolić offiziell für die von Serben begangenen Verbrechen an den moslemischen Bosniaken. ) Der fünfjährige Jugoslawien-Krieg ( 1991–1995 ) war zu Ende. Das bittere Ergebnis lautet : 180. 000 Gefallene , 25. 000 Vermisste , 70. 000 oft systematisch begangene Vergewaltigungen , 3,8 Millionen Binnen- und eine Million Außenflüchtlinge. Ehemalige Freikorps unter selbst ernannten Warlords sowie paramilitärische Einheiten behielten vielfach ihre Waffen und schlossen sich zu kriminellen Banden zusammen , die das ausgeblutete Land zusätzlich heimsuchten. Der Vielvölkerstaat Jugoslawien hörte zu bestehen auf ( 2006 ): Es hat sich gezeigt , dass nach dem Ersten Weltkrieg Ethnien und Regionen zusammengefasst worden waren , die eben nicht zusammenpassten. Auch der Traum vom Großserbischen Reich ist ausgeträumt ; Restserbien war vollkommen zerrüttet , es kämpfte mit dem Verfall seiner Wirtschaft , mit der Inflation , mit einem enormen Flüchtlingsproblem und mit der moralischen Schuld , einen Krieg ohne Not begonnen und verloren zu haben. In Den Haag wurde von den Vereinten Nationen wie erwähnt ein internationales Kriegsverbrechertribunal eingerichtet. Am 28. Juni 2001 ( sic ! ) wurde Slobodan Milošević ausgeliefert ; er starb noch vor Prozessende 2006 im Gefängnis an Herzversagen. Lange hielten sich Radovan Karadžić und Radko Mladić in Serbien unter falscher Identität verborgen. Auf Druck der EU entschlossen sich Serbiens Behörden schließlich doch zu deren Verhaftung : 2008 wurde Karadžić aufgespürt und nach Den Haag überstellt , 2011 auch der Exgeneral Mladić. Beide warten auf ihr Urteil. Auf friedliche Weise und nach einem Referendum trennten sich anno 1991 Mazedonien und 2006 Montenegro vom Rest , der noch von Jugoslawien übrig war und erklärten ihre Unabhängigkeit. Der ( bisher ) letzte Krieg in Europa ereignete sich im Kosovo. Von der provokanten Milošević-Rede auf dem Amselfeld am 28. Juni 1989 war schon oben die Rede. In diesem Jahr verlor Kosovo seinen Autonomie-Status. 1990 riefen albanische Abgeordnete des Provinzparlaments in Priština die Unabhängigkeit aus , 1992 wurde Ibrahim Rugova zum Präsidenten der „Republik Kosova“ gewählt , von den Serben allerdings nicht anerkannt ( er blieb bis zu seinem Tod 2006 im Amt ). Von nun an mehrten sich die Übergriffe serbischer Paramilitärs , gleichzeitig bauten die
E ) USA UND RUSSLAND – NEUE PARTNER ODER ALTE GEGNER ?
Kosovo-Albaner ( ca. 90 Prozent der Bevölkerung ) im Untergrund die „Kosovarische Befreiungsarmee“ ( UČK ) und Parallel-Institutionen auf ( Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen ). Als im Frühjahr 1998 gemäß Anordnung des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević die systematische Vertreibung der albanischen Bevölkerung begann , eskalierten die Kämpfe zwischen serbischen Polizei- und Armeeeinheiten und der UČK ( die sich in der Zwischenzeit mit gestohlenen Waffen der albanischen Armee eingedeckt hatte ). Präsident Rugova schaltete den UN-Sicherheitsrat ein , doch Belgrad ignorierte die im September 1998 verabschiedete UNOResolution. Auch ein Ultimatum der NATO zeitigte keinen Erfolg , im Frühjahr 1999 ließ Milošević die Verhandlungen in Rambouillet bei Paris platzen. Nachdem bis dahin bereits 800. 000 Albaner aus dem Kosovo vertrieben worden waren , griff die NATO ein – es war dies der erste Angriffskrieg ihrer Geschichte ; er erfolgte ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss , da Russland einen solchen blockiert hatte. Ein 77 Tage währendes Bombardement gegen serbische Truppen im Kosovo und gegen die Infrastruktur in Serbien selbst zwang Belgrad zum Einlenken und zur Rückholung seiner Streitkräfte aus dem Kosovo. Milošević hatte seinen letzten Krieg verloren und wurde wenig später gestürzt ( siehe oben ). Das Kosovo wurde unter UN-Verwaltung ( UNMIK ) gestellt und wird seither von der Friedenstruppe KFOR ( Kosovo Force ) gesichert. Trotz wütender Proteste Serbiens , das den Verlust seines vermeintlichen Kernlandes nicht hinnehmen wollte ( und will ), erklärte das Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit. Belgrad erhob sogar Klage beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag , doch dieser erklärte 2010 die Unabhängigkeitserklärung für rechtmäßig. E ) U SA UND RUSSLAND – NEUE PARTNER ODER ALTE GEGNER ?
Von den beiden einstigen Supermächten USA und Sowjetunion ist nach Ende des Kalten Krieges nur eine übrig geblieben.201 In der Regierungszeit von Staatspräsident Boris Nikolajewitsch Jelzin ( 1992–1999 ) schwand das weltweite Ansehen Russlands , weil mit der ungebremsten Talfahrt der Wirtschaft auch die militärischen Ressourcen schwanden , sodass eine russische Großmachtpolitik kaum mehr glaubwürdig betrieben werden konnte. Daher erfolgte Moskaus Eingreifen im Jugoslawienkrieg ( siehe oben ) auf Serbiens Seite nur in bescheidenstem Ausmaß. Da den Soldaten und Offizieren monatelang der Sold ausgeblieben war , hatten sie damit begonnen , ihre Waffen zu verkaufen – auf diese Weise flossen Unmengen an Waffen und Gerät auf dunklen Kanälen in die Bürgerkriegsgebiete Afrikas. Am Ende der Regierung Jelzin betrug das reale Bruttoinlandsprodukt nur mehr 58 Prozent des Jahres 1989 , 201 Friedrich Bauer : Russische Umbrüche. Von Gorbatschow über Jelzin zu Putin. Wien 2009. – Christian Wipperfürth : Russlands Außenpolitik. Elemente der Politik. Wiesbaden 2011.
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die Inflation kletterte zugleich auf 86 Prozent. Da weder der Staat noch die insolventen Betriebe in der Lage waren , Löhne und Gehälter zu bezahlen , sank der ohnehin auf niederem Niveau stehende Lebensstandard noch weiter ab – und mit ihm sogar die Lebenserwartung , was ein Unikum in der Welt darstellt. Die Probleme wurden durch den Einbruch der Weltmarktpreise für Erdöl , Erdgas und Buntmetalle noch verschärft , denn Russland exportiert in erster Linie diese Rohstoffe. Im Jahr 1993 versuchte Jelzin eine Verfassungsreform durchzuboxen , die ihm umfangreiche Vollmachten gewähren sollte. Viele Russen sahen dies als Staatsstreich an und äußerten ihren Unwillen in gewalttätigen Demonstrationen , die insgesamt 150 Menschenleben forderten. In einem Referendum im November 1993 sprach sich die Mehrheit aber doch für die neue Verfassung aus. Der siegreiche Jelzin leitete ab sofort eine Präsidialrepublik. Gleichzeitig mit dem Verfassungsreferendum fanden die ersten freien Parlamentswahlen Russlands seit Dezember 1917 statt. Jelzins zweite Amtszeit war von seinem schlechten Gesundheitszustand in Mitleidenschaft gezogen worden. 1999 trat er zurück. Ihm folgte der bis dahin weitgehend unbekannte ehemalige Geheimdienstchef Wladimir Putin. Jelzin hatte Putin erst fünf Monate zuvor zum Ministerpräsidenten ernannt und erklärt , diesen zu seinem Nachfolger im Präsidentenamt aufbauen zu wollen. Schon in seinem ersten Dienstjahr wurde Putin mit einer neuen Welle des Terrors konfrontiert : Der blutige Konflikt um die abtrünnige Provinz Tschetschenien zog seine Spur bis nach Moskau. Bisher hatten sich Anschläge , Entführungen und Geiselnahmen auf den Nordkaukasus beschränkt , im Sommer 2000 erreichte der Terror , für den tschetschenische Separatisten verantwortlich gemacht wurden , erstmals die russische Hauptstadt ; bei Anschlägen auf Wohnhäuser starben 215 Menschen , es folgten weitere Anschläge , auch auf Schulen , Flugzeuge und die Moskauer U-Bahn ( 2004 : 100 Tote ). Der erste Tschetschenienkrieg ( 1994–1996 ) hatte 80. 000 bis 100. 000 Menschenleben gekostet , der zweite ( 1999–2003 ) etwa 80. 000. Grosny , die Hauptstadt der Kaukasusrepublik , galt zur Jahrtausendwende als die am meisten zerstörte Stadt der Erde. Gräueltaten , welche von russischen Truppen ebenso wie von tschetschenischen Freischärlern verübt wurden , trieben Hunderttausende in die Flucht. Erst 2007 war der Widerstand weitestgehend gebrochen , der Wiederaufbau setzte zögerlich ein. Putin hatte in diesem Jahr Ramsan Kadyrow zum Republikpräsidenten ernannt und ihm den Auftrag erteilt , mit harter Hand den Konflikt zu „tschetschenisieren“, um die russische Armee zu entlasten. 2008 führte Russland einen fünf Tage währenden Krieg gegen das benachbarte Georgien. Schon 1989 und 1990 waren blutige Kämpfe um das nominell zu Georgien gehörende Südossetien entbrannt ; 2008 eskalierte die Gewalt , als georgische Truppen in die abtrünnige Provinz einmarschierten und von der russischen Armee zurückgeschlagen wurden. Ab der Jahrtausendwende stiegen die Rohstoffpreise wieder an und stimulierten die russische Wirtschaft zu raschem Wachstum. Die strukturellen Probleme blieben
E ) USA UND RUSSLAND – NEUE PARTNER ODER ALTE GEGNER ?
aber bestehen : Etwa die Hälfte aller russischen Betriebe sind von der organisierten Kriminalität durchdrungen , es blühen Schattenwirtschaft und Korruption , zugleich mangelt es an Zahlungsmoral und Rechtssicherheit. Der nach wie vor allmächtige Geheimdienst schützt mit seinen 200. 000 Mitarbeitern die herrschende Machtelite ( die „Oligarchen“ ) und erpresst von großen Firmen Bestechungsgelder.202 Putins Parteigänger werden in die höchsten Positionen gehievt , seine Widersacher landen nach gelenkten Gerichtsverfahren in sibirischen Gefängnissen. Innenpolitisch gibt sich das Regime zunehmend autokratisch : Zwischen den Parteien herrscht keine echte Konkurrenz , sodass der Ausgang von Wahlen meist im Vorhinein feststeht. Einer solcherart gelenkten „Fassadendemokratie“ fehlen die Kriterien eines Rechtsstaates und einer Zivilgesellschaft ; hinzukommt , dass auch das Demonstrationsrecht eingeschränkt wurde. Medienvertreter und Wirtschaftsbosse stehen unter Druck , kritische Journalisten werden eingeschüchtert , bisweilen sogar ermordet , ohne dass die Täter ausfindig gemacht werden. Aber die russische Bevölkerung sieht zu einem überwiegenden Teil über solche „Schönheitsfehler“ hinweg , ihr liegt weniger am eigenen Wohlergehen als an innerer Stabilität und machtvollem Auftreten nach außen. Und beides gewährleistet Putin als neuer „starker Mann“ – das bewies er eindrucksvoll im oben erwähnten Krieg gegen Georgien. Er pumpt wieder viel Geld in die Armee , sodass sie bereits ein Siebentel des Budgets verschlingt – freilich ohne dass sie jemals mit der US-Armee gleichziehen kann , deren Etat die zehnfache Summe ausmacht. Nichtsdestoweniger erfährt die russische Armee seit Putins Amtsantritt eine sichtbare Kampfwertsteigerung ( trotz 2007 erfolgter Verkürzung der Wehrdienstzeit auf ein Jahr ). Russland will wieder eine Großmacht sein und sieht sich nach wie vor als Rivalen der USA. Zwar droht keinesfalls ein neuer Kalter Krieg , aber die alteingesessenen Ressentiments gegen die NATO lebten erneut auf , als anno 2004 sieben Staaten , die zum Teil an Russland grenzen , in den Nordatlantikpakt aufgenommen wurden ; besonders empört war Moskau über den NATO-Beitritt der baltischen Länder. Das westliche Bündnis kann also in sicherheitspolitischen Fragen kaum mit Russlands Unterstützung rechnen , wohingegen Russland gerne auf der antiamerikanischen Welle reitet. Keine klare Linie lässt sich hingegen im Verhalten zu China erkennen ; diesbezüglich scheint im Kreml eher Ratlosigkeit zu herrschen. Die USA genossen bis zum Jahr 2007 eine lange Phase des Wirtschaftsaufschwunges , nahmen aber zugleich eine wachsende Staatsverschuldung in Kauf. Bis zum heutigen Tag kann die aus dem Kalten Krieg siegreich hervorgegangene Hypermacht einigermaßen unangefochten die Weltpolitik dominieren , auch wenn ihr in außenpolitischer Hinsicht nicht immer Erfolg beschieden war. Der – republikanische – Präsident George Bush sen. ( 1989–1993 ) befahl im September 1989 den bewaffneten Einmarsch in Panama , um den in Ungnade gefallenen Präsidenten Noriega 202 Luke Harding : Mafiastaat. Ein Reporter in Putins Russland. London u. a. 2012.
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festzunehmen ( siehe Kap. 9.C ). 1991 führte die US-Armee im UNO-Auftrag den Krieg gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits ( siehe Kap. 6.A ). Das amerikanische Engagement im vom Bürgerkrieg zerrütteten Somalia ( 1992–1994 ) scheiterte hingegen unter unverhältnismäßig hohen Verlusten ( siehe Kap. 8.C ). Innenpolitisch zog die immer noch hohe Gewaltbereitschaft in den Großstädten die Aufmerksamkeit auf sich : Unruhen brachen insbesondere dann aus , wenn Afroamerikaner Opfer von Polizeiwillkür oder Autounfällen waren. Ihren Höhepunkt erreichten die Ausschreitungen in Kalifornien , wo Rassenunruhen in Los Angeles 44 Tote , 2. 000 Verletzte und 10. 000 verwüstete Geschäfte kosteten. Bushs Nachfolger im Präsidentenamt , der Demokrat William Jefferson Blythe ( Bill ) Clinton ( 1993–2001 ) setzte den Schwerpunkt seiner Außenpolitik auf die Osterweiterung der NATO und auf Friedensbemühungen im Nahen Osten , wo er 1993 den historischen Handschlag zwischen Ytzak Rabin und Jassir Arafat und ein Jahr später den Frieden von Eilat zwischen Israel und Jordanien vermittelte ( siehe Kap. 6.B ). 1994 knüpfte er diplomatische Beziehungen mit dem einstigen Erzfeind Vietnam , 1997 ließ er zur Verbesserung der Beziehungen mit China einen „heißen Draht“ zwischen Washington und Peking installieren. In seiner zweiten Amtszeit war Bill Clinton in seinen Aktivitäten durch eine publik gewordene Affäre mit seiner Praktikantin im Weißen Haus teilweise gelähmt – die Republikaner strebten sogar ein Amtsenthebungsverfahren ( Impeachment ) an , letztlich stimmte der Kongress 1999 aber dagegen. Bill Clinton gilt noch heute als einer der beliebtesten Präsidenten , was ihn deutlich von seinem glücklosen Amtsnachfolger George W. Bush jun. ( 2001–2009 ), einem Republikaner , unterscheidet. Dabei fand dessen entschlossenes Handeln anlässlich der Terroranschläge vom 11. September 2001 zunächst breite Zustimmung. An diesem Tag brachten 19 Terroristen vier Passagiermaschinen in ihre Gewalt , zwei donnerten in die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York , eine Maschine schlug in das Pentagon-Gebäude in Washington D. C. ein , und eine stürzte beim Anflug auf die Hauptstadt ab – vielleicht als Folge eines Handgemenges zwischen Terroristen und Flugpassagieren. Insgesamt waren 3058 Tote zu beklagen. Untersuchungen ergaben , dass die radikal-islamistische al-Qaida und ihr Anführer , der saudische Millionär Osama bin Laden , für diesen größten Terroranschlag der Geschichte verantwortlich zeichneten. Die USA erlitten ein nationales Trauma , denn noch nie zuvor hatte eine fremde Macht eine bewaffnete Aktion auf ihrem Territorium gewagt. Die Täter wählten bewusst besonders prominente US-amerikanische Ziele aus , weil sie die einzig verbliebene Supermacht mit der von ihnen verteufelten westlichen Zivilisation und ihrem westlichen Wertesystem gleichsetzten. Präsident Bush rief den nationalen Notstand aus und ließ sich vom Kongress freie Hand inklusive Sonderbudget für Vergeltungsschläge geben. Mit Zustimmung der Bevölkerung konnte Bush seine gesamte Politik der Verfolgung der Täter , der Verhinderung künftiger Anschläge und der Be-
E ) USA UND RUSSLAND – NEUE PARTNER ODER ALTE GEGNER ?
kämpfung des Terrorismus unterordnen. Amerika sah sich in den Kriegszustand versetzt , und zum ersten Mal in ihrer Geschichte rief die NATO den Bündnisfall aus. Im Inneren setzte Bush Antiterrorgesetze , Militärtribunale für die des Terrorismus verdächtigten Ausländer und penible Einreisekontrollen durch , die äußeren Maßnahmen veranlassten ihn zur Erklärung zweier Kriege. Der erste richtete sich gegen Afghanistan ( siehe Kap. 5.C ), weil die Regierung das Ultimatum zur Auslieferung bin Ladens und zur Zerschlagung der al-Qaida nicht beantwortet hatte. Ab Oktober 2001 begannen amerikanische und britische Armeeeinheiten mit den Angriffen auf Afghanistan. Gefangene al-Qaida-Mitglieder wurden auf den Militärstützpunkt Guantánamo auf Kuba gebracht ; nach US-Diktion handelt es sich bei ihnen um „illegale Kombattanten“, für die gemäß Genfer Konvention von 1949 keine Rechte als Kriegsgefangene geltend gemacht werden müssen. Da sie sich außerhalb des US-Staatsgebietes befinden , können sie auch nicht vor einem ordentlichen Gericht angeklagt werden. Folterähnliche Verhörmethoden standen für die anfangs 600 Häftlinge auf der Tagesordnung. Heute ( Sommer 2013 ) werden noch immer 166 Verdächtige auf Guantánamo gefangen gehalten , obwohl Präsident Barack Obama 2009 anlässlich seiner beginnenden Amtsperiode die Schließung des Lagers versprochen hatte ; aber kein Staat will die Gefangenen aufnehmen , zumal 46 von ihnen als zu gefährlich gelten , um überhaupt freigelassen zu werden. Als George Bush anno 2002 von einer „Achse des Bösen“ sprach und dabei die Staaten Nordkorea , Iran und Irak aufzählte , hatte er den Krieg gegen den Irak zur Entmachtung des Diktators Saddam Hussein bereits geplant. Den Vorwand für den Dritten Golfkrieg ( siehe Kap. 6.A ) lieferten falsche Geheimdienstberichte von vermeintlichen Massenvernichtungswaffen , die sich im Besitz des irakischen Diktators hätten befinden sollen. Die Kampfhandlungen des Jahres 2003 versprachen ein rasches Kriegsende. George Bush stand am Höhepunkt seines Ruhmes ; die immer noch boomende amerikanische Wirtschaft trug das Ihre dazu bei , dass er auch die Wahl zur zweiten Amtsperiode gewann. Aber dann mehrten sich die Zweifel an der Richtigkeit seiner Politik , die Beliebtheitskurve des Präsidenten sank ins Bodenlose. Auf beiden Kriegsschauplätzen stiegen die Verluste in unerträglicher Weise , und die Kosten weiteten sich ins schier Unermessliche aus. Aber erst 2007 gab Bush offiziell die Fehler seiner Irakpolitik zu und übernahm dafür die alleinige Verantwortung. Im Juli 2007 brach der US-Immobilienmarkt zusammen und löste eine weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise aus. Jäh endete das bis dato anhaltende amerikanische Wirtschaftswachstum. In den Jahren zuvor hatten amerikanische Banken die Bevölkerung dazu ermutigt , mithilfe von Hypothekarkrediten Hausbesitz zu erwerben. Als der Markt gesättigt schien , gingen sie dazu über , auch Hypothekarkredite an Schuldner ohne ausreichende Bonität zu gewähren. Solche Hypothekarkredite
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nennt man „Subprime Mortgages“. Die „Subprime-Krise“203 setzte ein , als die Immobilienpreise so weit fielen , dass die Hypothekenschulden den Wert der Immobilien übertrafen und zugleich die Kreditnehmer schlechter Bonität ihre Raten nicht mehr zahlen konnten. Bis 2010 fielen die Hauspreise um 30 Prozent , die Zahl der Zwangsvollstreckungen bzw. der von Zwangsvollstreckung bedrohten Haushalte lag bereits bei 3,8 Millionen. Diese schwerste Depression seit der Weltwirtschaftskrise 1929 kostete neun Millionen Amerikanern den Job. Wie im Schneeballsystem verbreitete sich die Krise über den Globus. Denn die Hypotheken sind längst wie Wertpapiere an Investmentbanken des In- und Auslandes weiterverkauft worden , sodass nun diese angesichts deren nunmehriger Wertlosigkeit in Zahlungsschwierigkeiten gerieten. Am 15. September 2008 , dem „Schwarzen Montag“, hatte eine der größten globalen Investmentbanken , Lehman Brothers , ihre Insolvenz erklärt und damit weltweite Kurseinbrüche an Börsen und eine weltweite Bankenkrise ausgelöst , denn rund um den Erdball pflegte jedes zweite Finanzhaus Geschäftsbeziehungen zu Lehmann. Um nun die Krise der Finanz nicht auch noch in eine Krise der Produktion ausarten zu lassen , versuchten die Notenbanken , mit billigsten Krediten die Wirtschaft zu stimulieren , allein , die Banken horteten das Geld , um sich für alle Eventualitäten zu wappnen und gewährten keine Kredite mehr. Damit hatte die Krise endgültig die Realwirtschaft erfasst. Zur Rettung der Situation ließ die Regierung Bush die größten Hypothekeninstitute verstaatlichen und gewährte staatliche Hilfen in der Höhe von 700 Milliarden US-Dollar , um Hypotheken und darauf basierende Wertpapiere aufzukaufen. Auch in anderen Staaten , namentlich in Europa , lief nun ein Bankenrettungsplan an , der insofern Erfolg hatte , als ab 2010 die Wirtschaftsdaten wieder Wachstumsraten verzeichneten ; die Staatsschulden explodierten jedoch : Ende 2012 betrug die Staatsschuld der USA 16,2 Billionen USDollar bei einem Bruttoinlandsprodukt von 15,6 Billionen. Mit den Problemen des Budgetdefizits muss Bushs Nachfolger , Barack Obama ( seit 2009 ), kämpfen. Der erste Afroamerikaner ( ein Demokrat ) auf dem Präsidentenstuhl versprach gleich zu Beginn seiner Amtszeit den Truppenabzug aus dem Irak und aus Afghanistan sowie die Schließung des Gefangenenlagers auf Guantánamo. Diese Versöhnungsrhetorik trug ihm sogar den Friedensnobelpreis ein. In der Praxis zeigte sich allerdings , dass solche Versprechen nicht leicht einzulösen sind : Das Lager in Guantánamo existiert , wie erwähnt , immer noch , der Truppenabzug aus dem Irak konnte zwar 2011 abgeschlossen werden , jener aus Afghanistan wird aber , wenn überhaupt , erst 2014 möglich sein. Obamas spektakulärster außenpolitischer Coup gelang 2011 , als ein Sonderkommando der Streitkräfte den meistgesuchten Terrorpaten , Osama bin Laden , in Pakistan unschädlich machte ( siehe oben ). Obamas wichtigstes innenpolitisches 203 Rainer Sommer : Die Subprime-Krise und ihre Folgen. Von faulen US-Krediten bis zur Kernschmelze des internationalen Finanzsystems. Hannover 2 2009.
E ) USA UND RUSSLAND – NEUE PARTNER ODER ALTE GEGNER ?
Vorhaben war die Gesundheitsreform ; sein Plan , eine Krankenversicherungspflicht auf alle Amerikaner auszudehnen , scheiterte am Einspruch der Republikaner ; so sind zwar alle Kinder versichert , insgesamt fallen aber 50 Millionen Erwachsene ( darunter elf Millionen illegale Einwanderer ) aus dem Versicherungsschutz heraus. Seit dem Ende des Kalten Krieges beanspruchen die USA die uneingeschränkte Führungsrolle in der Welt und unterstreichen diese mit militärischer Stärke : 41 Prozent aller Rüstungsausgaben der Welt kommen den US-Streitkräften zugute. Dass sie diese Führungsrolle behaupten werden , ist offenkundig , weil einerseits im Gegensatz zu China , Japan und Mitteleuropa eine gesunde demografische Entwicklung den USA ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum verspricht , andererseits , weil dank neu entdeckter Schiefergas- und Schieferölvorkommen die USA ab 2020 zum weltgrößten Ölproduzenten und Nettoexporteur von Gas aufsteigen werden und damit als einzige Weltmacht ihre Politik auf Basis vollkommener Autarkie ausrichten können. Aber die inneren Probleme sind nicht zu übersehen : Die hohe Verschuldung , die relativ hohe Arbeitslosigkeit von derzeit neun Prozent und eine Armutsquote von über 15 Prozent der Bevölkerung lasten schwer auf den USA. Die anderen aufsteigenden Großmächte , allen voran China , aber auch Indien und nicht zuletzt die Europäische Union unternehmen enorme Anstrengungen , um den USA den Rang abzulaufen oder zumindest , um mit ihnen gleichzuziehen.
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NACHWORT Als ich vor ein paar Jahren von der Donau-Universität in Krems den Auftrag erhielt , für den Studienlehrgang „International Relations“ das Einleitungsmodul „Die weltpolitische Entwicklung seit 1945“ zu halten , stand ich vor dem Problem , einen nahezu unermesslichen Lehrstoff in vorgegebener kurzer Zeit so zu vermitteln , dass die Hörerinnen und Hörer einen guten Überblick gewinnen mögen , ohne in der Fülle von Daten und Namen unterzugehen. Ein zweites Problem stellte sich sogleich , ob ich der globalgeschichtlichen oder der regionalgeschichtlichen Perspektive den Vorrang geben sollte. An sich ist es ja für den Historiker eine oft praktizierte Methode , vom Allgemeinen auf das Einzelne und vom Einzelnen auf das Allgemeine zu schließen ( Deduktions- bzw. Induktionsschluss ), also die allumfassenden politischen Strömungen mit den Vorgängen in begrenzten Räumen ( Staaten ) in Relation zu setzen. Bei intensiverer Beschäftigung mit der Materie erkannte ich allerdings , dass die globalen Entwicklungen zwar einen mehr oder weniger starken Einfluss auf die regionalen Gegebenheiten ausüben , dass aber die individualstaatlichen Unterschiede oft derart gravierend sind , dass ihrer Betrachtung letztlich der Vorrang zu geben ist. Denn der Studienlehrgang soll ja anwendungsorientiert gestaltet sein , und da schien mir , dass das Hervorheben lokaler Geschehnisse – natürlich im Rahmen internationaler Strömungen – eher zum Ziel führt. Da das Modul „Die weltpolitische Entwicklung seit 1945“ auf sieben Stunden begrenzt war , musste ich stark generalisieren ; keinesfalls konnte ich allen Staaten der Erde mit ihren Zuständen , Ereignissen und Politikerpersönlichkeiten gerecht werden. Ich musste eine Auswahl treffen , die absolut subjektiv ist ( ein anderer Historiker hätte gewiss andere Staaten und Ereignisse gewählt ) und die sich vornehmlich am eigenen Interesse orientiert ; mit Vorliebe habe ich jene Staaten erwähnt , die ich selbst bereist habe. Ein solchermaßen subjektives Generalisieren nimmt freilich jeder Historiker vor , denn Geschichte kann niemals objektiv sein , vielmehr geschieht sie im Kopf des Historikers und umfasst nur das , was er aufzuschreiben für würdig befindet. Überspitzt formuliert , wird die Geschichte nicht vom Historiker erforscht , sondern erfunden ( er muss bei seiner „Erfindung“ allerdings bei der Wahrheit bleiben , soweit sie ihm zugänglich ist ). Nachdem ich das Modul „Die weltpolitische Entwicklung seit 1945“ ein paarmal an der Donau-Universität vorgetragen hatte , fasste ich den Entschluss , meine Vorbereitungen in einem gleichnamigen Buch zu publizieren und bei dieser Gelegenheit entsprechend zu vertiefen und auszuweiten. Das Konzept blieb aber das Gleiche. Einigen Lesern meines Manuskripts ist nun aufgefallen , dass ich bisweilen ein allzu pessimistisches Weltbild gezeichnet habe und positiven Tendenzen zu wenig Raum gab. Ich musste nur leider im Laufe meiner Recherchen immer wieder feststellen , dass der „homo homini lupus“, dass er sein Handeln allzu oft falschen Ideologien ( Ideologien sind immer falsch ) unterwirft , dass er von rücksichtslosem Machtstre-
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NACHWORT
ben erfüllt ist oder dass sein ganzes Streben der eigenen Bereicherung dient. Vielen Machthabern dieser Welt ist das Einzelschicksal , ja sogar das Leben der Menschen unerheblich. Indem ich solches aufzeige , kann ich meinen Standpunkt als Historiker nicht verleugnen : Ich bin in der Zeit des europäischen Wirtschaftswunders aufgewachsen , die Werte von Demokratie , Toleranz und Menschenrechten sind mir mehr oder weniger in die Wiege gelegt worden. Die „weltpolitische Entwicklung“ betont schon im Titel eine gewisse Abkehr vom Eurozentrismus ; ich habe mich bemüht , alle Weltregionen zu behandeln , allerdings bildet die europäische Geschichte den Rahmen ( vom Weltkriegsende bis zum Zerfall Jugoslawiens ), innerhalb dessen die politischen Entwicklungen der anderen Erdteile gebettet sind. Die große Zäsur des Kriegsendes war vor allem in Europa und Ostasien zu spüren , andere Erdteile hätten ihre eigenen großen Zäsuren zu anderen Zeiten angesetzt ( z. B. Afrika im Jahr 1960 ). So gesehen konnte ich den Eurozentrismus in dieser Darstellung doch nicht ganz überwinden ; er dominiert hinsichtlich des Standpunktes des Verfassers und der Gliederung dieses Buches , aber nicht hinsichtlich der Themenschwerpunkte. Zwei Fragen zum Abschluss : Wozu dient dieses Buch und an welches Publikum richtet es sich ? Die zweite Frage ist rasch beantwortet : Das Buch will all jene ansprechen , die sich in Kürze über die dominierenden politischen Entwicklungen einzelner Erdteile , Regionen oder Staaten informieren wollen. Die erste Frage lässt sich weit schwieriger beantworten : Ich will im Leser Verständnis erwecken für jene heutigen Probleme , die den Regionen oder Staaten erwachsen sind. Denn jede gegenwärtige Situation lässt sich vorwiegend aus der Geschichte erklären. So lautete die „Königsfrage“ der Geschichte : „Wer bin ich ? Warum bin ich , wie ich bin ? Warum sind andere anders ?“ Aber Vorsicht : Geschichte ist derart vielfältig , dass sich jeder Rechts- und jeder Unrechtszustand von ihr ableiten lässt. Geschichte informiert , sie darf aber niemals zum Handeln motivieren : Politiker , die einen gegenwärtigen Zustand ändern wollen , um einen anderen Zustand , den sie historisch zu begründen vermeinen , herzustellen , werden zwangsläufig Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Sogenannte „natürliche Grenzen“ oder „Siedlungsräume der Väter“ lassen sich nicht erzwingen , ohne den Menschen der Gegenwart schweres Leid zuzufügen. Das Beispiel des Kosovo zeigt dies deutlich : Das einstige Kernland Serbiens ging 1389 an die Osmanen verloren , die serbische Bevölkerung wanderte aus , Albaner wanderten ein. Nun hätten die Serben lange genug Zeit gehabt , in ihr altes Siedlungsgebiet zurückzukehren , sie unterließen dies aber. Ein Staatsmann , der sechs Jahrhunderte später das Kosovo wieder zum serbischen Kernland erklärte und die ortsansässigen Albaner aus ihrer Heimat vertreiben wollte , nahm Gewalt und Blutvergießen bewusst in Kauf. Eine derart missbräuchliche Verwendung der Geschichte degradiert diese Geisteswissenschaft zur Erfüllungsgehilfin übler Vorhaben. Das vorliegende Buch dient daher auch dazu , solche Versuche transparent zu machen. Wien , Sommer 2013
Bertrand Michael Buchmann
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REGISTER Abbas , Mahmud 154 , 156 Abchasien 240 Abessinien s. Äthiopien Abidne , Zine ben Ali 162 , 168 f Abottabad 128 Abu Dhabi 157 Achse des Bösen 140 Addis Abeba 198 Aden 158 Adenauer , Konrad 58 , 63 Adorno , Theodor 83 Afghanistan 25 , 28 , 30 f , 42 , 47 , 64 , 126 ff , 172 , 238 f , 250 , 267 f Afrikaander 182 Ägypten 30 , 33 , 47 , 146 ff , 155 ff , 160 , 165 , 168 , 169 ff Ahmadinedschad , Mahmud 143 Aidid , Mohammed F. 201 AIPAC 156 Ajman 157 Akaba 148 Aksum 197 al-Aqsa-Intifada 131 , 154 Alawiten s. Syrien Albanien , Albaner 65 ff , 259 , 262 , 271 Albright , Madelaine 191 Aleppo 173 al Fatah 28 , 147 , 149 , 155 f Algerien 34 , 79 f , 160 , 162 f , 165 , 171 Algier 162 al-Husaini , Mohammed S. 143 f al-Jazeera 130 al Kibar 160 Allende Gossens , Salvador 209 , 229 ff ALN 162 f al-Qaida 28 , 130 , 132 , 141 f , 156 , 159 , 164 , 167 , 171 ff , 201 , 266 f al-Shabaab-Milizen 197 , 201
Amazonas 212 , 228 Amin , Idi Dada 193 Amman 149 Amritsar 126 Amselfeld s. Kosovo ANC 62 , 183 f Andalusien 81 Anden 229 ff Andrić , Ivo 261 Andropow , Juri W. 42 Angola 30 , 62 , 80 , 177 , 179 ff , 184 , 186 , 187 f , 191 , 218 , 238 Annam 103 Annan , Kofi 15 Antillen 214 ff Antonescu , Ion 65 Anya Nya 165 ANZUS-Pakt 26 Apartheid 30 , 34 , 180 , 182 ff , 238 Aquino , Benigno und Corazon 119 Arabische Liga 146 , 150 , 157 ff Arafat , Jassir M. 147 , 149 , 152 ff , 266 Argentinien 208 ff , 212 , 222 f , 224 ff , 230 Aristide , Jean-Bertrand 215 Armenien 240 , 242 Arroyo , Gloria M. 119 Arzú Irigoyen , Álvaro 219 Aserbaidschan 240 Assad , Bashar 34 , 156 , 159 Assad , Hafez 159 , 173 Assuan-Damm 136 , 148 Äthiopien 30 , 62 , 166 , 179 ff , 192 f , 197 ff , 218 , 238 Atlantik-Charta 10 f Attlee , Clement R. 49 Atzteken 212 AUC 235 Aung Suu Kyi 120 f
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REGISTER Außerparlamentarische Opposition APO 63 , 83 ff Australien 108 AVNOJ 65 , 67 Azawad 171 Baader , Andreas 85 ff Baath-Partei 134 , 142 , 157 , 159 Bagdad 133 , 141 Bahamas 136 Bahrein 158 Bakhtiar , S. 136 Balfour , Arthur J. 143 Bamako 172 Bamian 130 Bananenrepublik 206 , 218 ff Bandung , Konferenz 33 , 118 Bangladesh 125 , 127 Bantu 182 f , 194 , 196 Banyamulenge 191 Bánzer Suárez , Hugo 233 Bao Dai 103 , 105 f Barak , Ehud 154 Barre Siad 200 f Barrientos Ortuño , René 233 Baschir , Omar H. 166 f Basken 28 , 81 Batista y Zaldívar , Fulgencio 216 Beaglekanal 225 f , 230 Beauvoir , Simone de 84 Befreiungstheologie 211 f , 223 Begin , Menachim 150 Beijing s. Peking Beirut 151 f Belaid , Chokri 169 Belgien 22 , 55 , 87 , 176 , 189 , 194 Belgrad 32 f Belutschistan 126 Ben Bella , Ahmet 162 ff BeNeLux-Staaten 28 f , 87 f
Beneš , Eduard 68 f , 71 Bengasi 160 Ben Gurion , David 146 Berber 163 f Bergoglio , Jorge Mario s. Franziskus I. Berija , Lavrenti P. 36 , 39 f Berlin 15 , 23 , 25 , 28 ff , 34 , 41 , 49 , 52 , 54 , 57 , 59 ff , 73 , 83 ff , 99 , 108 , 146 , 160 , 176 , 189 , 246 , 248 , 252 ff Bernadotte , Folke 146 Bessarabien 50 Bhutto , Benazir 128 Bhutto , Zulfikar A. 127 Biafra s. Nigeria Biermann , Karl Wolf 62 bin Laden s. Osama bin Laden Birma s. Myanmar Bizone 55 Black Muslim 46 Black Panther Party 46 Blockfreie Staaten 33 ff , 118 , 125 , 185 , 257 Blutdiamanten 181 , 188 , 192 , 202 , 204 Boat People 114 Bokassa , Jean B. 179 , 192 Bolivar , Simon 209 , 232 , 236 Bolivien 30 , 206 , 217 , 222 f , 229 , 232 f , 236 Bonn 57 Boputhatswana s. Homeland Bordaberry Arocena , Juan M. 223 Bormann , Martin 21 Borneo 118 Bosnien-Herzegowina 257 ff Botswana 184 Bouazizi , Mohamed 168 f Boumedienne , Houari 163 f Bourguiba , Habib 160 ff Bouteflika , Abdelazis 164 Boutros Boutros-Ghali 15 Brahmi , Mohammed 169 Brandt , Willy 60 , 63 f , 84 ff
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REGISTER Brasilia 227 Brasilien 187 , 206 , 208 ff , 222 f , 227fff , 234 Brazzaville 189 BRD 29 , 31 f , 37 , 47 , 57 ff , 83 ff , 87 f , 147 , 240 , 243 , 252 ff , 257 Breschnew , Leonid , Breschnew Doktrin 27 , 41 f , 76 , 240 Bretton Woods 13 Brioni 33 British Commonwealth of Nations 79 , 182 ff , 187 f , 195 , 202 Buback , Siegfried 85 f Budapest 253 Buenos Aires 212 Buganda 193 f Bukarest 250 f Bukowina 50 Bulganin , Nikolai A. 37 , 40 Bulgarien 14 , 23 , 50 , 64 ff , 88 , 249 f Bundesrepublik Deutschland s. BRD Bundeswehr 58 Bunia 191 Buren 182 Bürgerrechtsbewegung 27 , 41 , 44 ff Burkina Faso 172 , 182 Burma s. Myanmar Burundi 176 , 180 , 191 f , 194 f Bush jun. , George 130 f , 140 , 142 , 266 ff Bush sen. , George 138 , 220 , 254 , 256 , 265 Cabet , Etienne 114 Caetano , Marcello José 80 Calderón Hinojosa , Felipe 213 Čalfa , Marian 248 Calí-Kartell 234 Calley , William 112 Camp David 47 , 150 , 154 Cao Dai 106 Cardoso , Fernando H. 228 Carlos 28
Carter , Jimmy 31 , 47 , 137 , 150 , 220 Cartes , Horacio 223 Casablanca 11 f Castro Ruz , Fidel 209 , 216 ff Castro Ruz , Raul 218 Caudillismus 210 Ceauşescu , Nicolae und Elena 250 ff CEEC s. Marshall Celebes 119 CENTO-Pakt 26 Černik , Oldrich 76 f Četnici 257 Chamorro , Pedro J. und Violeta Barrios de 221 f Charta 77 : 77 Chávez Frías , Hugo R. 206 , 209 , 218 , 223 , 235 ff Chen Yi 94 CIA 216 Chiang Kai-shek 91 Chiapas 213 Chile 208 , 210 , 225 , 229 ff , 232 , 257 Chimères 215 China 14 , 18 , 23 f , 29 , 33 , 47 , 89 , 91 ff , 99 ff , 105 , 109 , 115 ff , 120 , 125 f , 129 , 143 , 173 , 179 , 201 , 234 , 236 , 238 , 265 f , 269 Chirac , Jacques 190 Chruschtschow , Nikita S. 25 , 27 , 30 f , 36 ff , 59 ff , 73 , 92 , 96 , 217 Churchill , Winston 10 , 12 ff , 23 , 49 CIA 133 , 220 Ciskei s. Homeland Civil Bill of Rights 45 Clay , Lucius D. 57 Clinton , Bill 153 f , 266 Cochinchina 103 Cohen , Jehoschua 146 Colorado-Partei 223 COMECON 25 , 29 , 114 , 218 , 240 Containmentpolitik 24 , 26 , 28 , 51 , 108
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REGISTER Contras 28 , 48 , 222 Cortés , Hernando 212 Costa Rica 221 Crac de Chevalier 173 Cuéllar , Javier Pérez de 15 , 138 Curzon-Linie 13 Dalai Lama 92 , 98 Dallas 44 Dalmatien 258 Damaskus 150 Dänemark 88 Danzig 77 Daressalam 131 Darfur 165 ff , 180 Daud Chan , Mohammed 129 David 197 Dayton , Friede von 262 d’Estaing , Giscard 190 DDR 29 , 57 ff , 64 ff , 73 , 84 , 87 , 181 , 198 , 247 , 252 ff Deng Xiaoping 95 ff Den Haag , Internationaler ( Straf )gerichtshof 167 , 182 , 197 , 205 , 260 , 262 f Deutschland , Deutsches Reich 10 ff , 19 ff , 30 , 34 f , 49 ff , 53 ff , 64 f , 238 , 243 , 252 ff Deutsch-Ostafrika s. Tansania Deutsch-Südwestafrika s. Namibia Dharamsala 92 Diem , Ngo Dinh 106 f Diên Biên Phu 105 f Dimitrow , Georgi M. 67 , 71 Dimona 148 Dinkins David 46 Djibuti 182 , 198 ff Dissidenten 27 , 31 , 35 , 41 , 62 , 230 , 242 Dobrudscha 50 Dobrynin , Anatoli F. 217 Doe , Samuel 204 Doi Moi 116
Dollarimperialismus 206 Dominikanische Republik 214 ff , 217 Domino-Theorie 108 f , 114 , 141 , 206 Donauschwaben 67 Dönitz , Karl 16 , 21 Drnovšek , Janez 259 Dschibuti s. Djibuti Dschihad 168 , 171 Dubai 157 Dubček , Alexander 76 f , 248 f Dubrovnik 260 Dulles , John F. 26 , 219 Dumbarton Oaks 13 , 15 Dürrekatastrophe 182 , 197 f , 200 , 202 Dutschke , Rudi 84 Duvalier , François und Jean-Claude 214 f EAM 72 Ebert , Friedrich 57 Eden , Robert A. 14 ECOWAS 204 Ecuador 208 EGKS s. Montanunion Eilat , Friede von 154 , 266 Eisenhower , Dwight D. 26 , 44 , 53 , 105 , 108 f , 216 Eiserner Vorhang 23 , 31 f , 238 , 248 ELAS 72 ElBaradei , Mohammed 171 Elf Aquitane 189 Elfenbeinküste 176 , 205 ELN 235 El Salvador 48 , 221 Enahda 169 Enan , Sami 170 Ensslin , Gudrun 85 ff Entkolonialisierung 30 , 33 , 79 ff , 117 ff , 124 , 157 f , 160 , 162 , 175 ff , 206 Entnazifizierung 49 , 54 Entspannung 30 , 33
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REGISTER Entstalinisierung 30 , 37 ff , 62 , 73 f , 249 Erhard , Ludwig 63 Eritrea 181 , 193 , 198 ff ERP-Hilfe s. Marshall Estland 240 ff , 265 ETA 28 Euphrat 134 EURATOM 29 , 88 Europäische Freihandelszone EFTA 88 Europäische Gemeinschaft EG 79 , 81 f , 88 , 222 , 226 , 260 Europäische Union EU 82 , 87 f , 102 , 154 , 171 , 173 , 201 , 262 , 269 Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVG 29 , 58 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG 29 , 88 Europäischer Wirtschaftsraum EWR 88 Europäische Zentralbank EZB 82 Europarat 87 Evian , Vertrag 163 failed state 132 , 176 , 182 , 187 ff , 192 ff , 202 , 213 f Falklandinseln , Falklandkrieg 226 f FARC 235 f Faruk von Ägypten 147 , 160 Faschoda 165 Feisal 133 Feuerland 225 Fierlinger , Zdeněk 68 , 70 f Figl , Leopold 56 Finnland 12 , 33 , 50 f , 88 FIS 163 f FLN 162 f FLNA 187 f Flower-Power-Bewegung 46 , 83 Ford , Gerald R. 47 Formosa 91 Fox Quesada , Vicente 213
Franco , Francisco 81 , 164 Frank , Hans 21 Frankfurter Schule 47 , 63 , 83 ff Frankreich 18 f , 22 , 24 , 27 , 29 f , 40 , 53 ff , 79 f , 84 f , 87 , 91 , 103 ff , 143 , 148 , 157 f , 160 , 162 f , 165 , 171 f , 189 f , 192 , 195 , 198 , 205 , 214 f , 254 f Franziskus I. 212 Frei Montalva , Eduardo 229 FRELIMO 187 f Frente Sandinista FSLN 221 Frick , Wilhelm 21 Friedensbewegung 27 , 83 Friedliche Koexistenz 25 , 27 , 29 , 37 Frontstaaten 184 f Fujaira 157 Fujimori , Alberto K. 232 Fukushima 91 Fukuyama Francis 8 Fur 167 Gaddafi ( Gadhafi ), Muammar 160 f , 172 f , 236 Gacaca 195 Galicien 81 Galtieri , Leopoldo F. 226 f Gandhi , Indira 125 f Gandhi , Mohandas K. „Mahatma“ 46 , 122 ff , 182 Gandhi , Rajiv 126 Gaulle , Charles de 79 f , 162 f Gazastreifen 143 , 147 f , 150 , 152 ff , 159 , 168 Gbagbo , Laurent 205 Gemayel , Béchir 151 Genf 239 , 267 Genfer Indochinakonferenz 106 Georgien 142 , 240 , 242 f , 264 f Gerardi Condera , Juan 211 Ghana 177 f Gheorghiu-Dej , Gheorge 65 , 68
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REGISTER Ghom 134 Giap , Vo Nguyen 104 , 109 ff Gipfeltreffen 31 , 239 GLADIO 28 Glasnost 97 , 238 f , 242 Gleichgewicht des Schreckens 26 Globalisierung 9 , 90 , 119 , 175 , 211 Goebbels , Josef 21 Golan 148 , 150 , 159 Golfkrieg 137 ff , 164 , 267 Golf Oil 189 Gomulka , Władisław 65 , 67 , 69 , 72 , 74 Gonçalves , Vasco dos Santos 80 f Gondar 198 Goražde 261 Gorbatschow , Michail 31 f , 42 , 97 , 238 ff , 252 ff Göring , Hermann 21 Gotowina , Ante 260 Gottwald , Klement 68 ff Gowon , Yakubu 203 Gran Chaco , Chacokrieg 223 , 232 Grenada 48 Griechenland 14 , 24 , 29 , 33 , 72 f , 81 f , 88 Grosny 264 Großbritannien 10 , 12 ff , 18 f , 27 , 29 , 40 , 53 ff , 79 , 88 , 91 , 108 , 118 , 122 ff , 129 , 132 , 138 ff , 143 ff , 147 , 157 f , 160 , 165 , 171 , 182 f , 184 f , 193 , 201 f , 204 , 226 f , 231 , 254 f Grósz , Károly 247 Grotewohl , Otto 59 , 63 Groza , Petru 67 , 71 Guantánamo 216 , 267 f Guatemala 208 , 211 , 218 f Gueffroy , Chris 252 Guevara de la Serna , Ernesto „Che“ 84 , 209 , 217 , 233 Guillaume , Günter 64 Guillen , Rafael
Guinea 80 , 176 , 181 , 202 ff , 205 GULag 14 , 35 f , 71 Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUS 173 , 243 Guzmán , Jacobo Á. 219 Haganah 146 Haile Selassie 198 Hairiri , Rafik 152 Haiti 214 f Hájek , Jiři 77 Hallstein , Walter , Hallsteindoktrin 59 f Hama 159 Hamaha , Omar 172 Hamas 143 , 152 , 155 f , 159 , 168 Hammerskjöld , Dag 15 , 189 Hanoi 109 Harare 185 Haschemiten 158 Hassan II. Von Marikko136 , 164 Hassan al-Banna 168 Haussa 181 , 202 Havanna 216 Havel , Václav 77 , 248 f Heißer Draht 30 f Hekmatyar , Gulbuddin 130 Helsinki , Schlussakte 27 , 31 ff , 41 , 77 , 255 Hema 191 Hemingway , Ernest 43 Heng Samrin 115 f Herzl , Theodor 143 Hess , Rudolf 21 Heuss , Theodor 58 Heyderabad 124 Higgins , John P. 22 Himmler , Heinrich 21 Hisbollah 143 , 151 f , 159 Hippie-Szene 46 , 83 f Hirohito 16 , 89 Hiroshima 16
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REGISTER Hisbollah 151 f , 155 , 172 Hispaniola 214 , 216 Hitler , Adolf 10 , 12 , 14 , 16 , 18 , 21 , 133 , 146 , 242 Ho Chi Minh 84 , 103 ff Ho-Chi-Minh-Stadt s. Saigon Homeland 183 f Honduras 218 , 221 Honecker , Erich 63 , 252 ff , 256 Hongkong 94 , 97 , 117 Horkheimer , Max 83 Horn , Gyula 247 Hoxha , Enver 65 ff Hué 111 Hun Sen 116 Huntington , Samuel P. 8 Husainiden 161 Hussein ( Husain ) II. von Jordanien 149 , 154 , 158 Hussein , Saddam 137 ff , 267 Hutu 180 , 190 f , 194 f Ibn Saud 158 Ibo 181 , 202 Idi Amin Dada 179 f IFOR 262 Iliescu , Ion 252 Indianer , Indios 211 ff , 219 , 222 , 228 ff , 233 f Indien , Inder 33 , 92 , 118 , 122 ff , 179 f , 182 , 193 , 201 , 238 , 269 Indochina s. Vietnam Indonesien 33 , 114 , 117 ff Inguschen 39 Inka 231 f Internationaler Strafgerichtshof s. Den Haag Internationaler Währungsfonds IWF 13 , 25 , 52 , 82 , 179 , 190 , 233 Intifada 131 , 152 IRA 28
Irak 34 , 131 f , 133 ff , 146 , 151 , 157 ff , 164 , 171 , 173 , 266 ff Iran 24 , 34 , 47 f , 133 ff , 151 f , 155 , 159 , 166 , 168 , 172 f , 222 , 236 , 238 , 267 Irland 33 , 88 ISAF 132 ISI 127 f Islamabad 128 Israel 30 , 34 , 40 , 42 , 47 , 131 , 134 , 139 , 143 ff , 157 , 159 f , 164 , 173 , 180 , 250 , 256 , 266 Italien 24 , 29 , 50 , 84 f , 87 , 160 f , 198 f , 201 , 224 Izetbegović , Alija 260 Jackson , Robert H. 19 Jahja 158 Jalta , Konferenz 14 , 19 , 35 , 49 , 64 , 99 Janajew , Gennadi 243 Janjaweed 167 Japan 12 , 16 ff , 22 f , 53 , 63 , 84 , 89 ff , 99 , 101 , 118 , 131 , 142 , 232 , 269 Jaruzelski , Wojciech 77 ff , 246 f Jasin , Jewgeny 9 Jelzin , Boris N. 241 ff , 245 , 263 f JEM 167 Jemen 62 , 146 , 148 , 157 ff , 168 , 172 Jerusalem 146 , 148 , 151 , 154 , 156 Jesuitenstaat 223 Jiang Qing 96 Jodl , Alfred 16 , 21 Johannes Paul II. 77 , 246 Johannesburg 193 Johnson , Lyndon B. 44 , 109 , 112 Johnson-Sirleaf 205 Jom-Kippur-Krieg 149 f Jonglei-Kanal 166 Jordanien 134 , 146 ff , 154 , 157 f , 266 Juan Carlos von Spanien 81 Juden 17 , 42 , 143 ff , 168 , 180 , 197 , 256
279
REGISTER Jugoslawien 14 , 18 , 22 f , 33 , 50 , 60 , 65 ff , 73 , 257 ff Junge Tiger 101 , 117 ff Juniaufstand 59 , 73 Kabaka 193 f Kabardinisch-Balkarische Republik 39 Kabila , Joseph und Laurent-Desiré 191 Kabul 130 , 132 Kabylei 163 Kachin 121 Kádár , János 71 , 76 , 247 Kadyrow , Ramsan 264 Kagame , Paul 195 Kairo 136 , 169 Kalenjin 197 Kalifornien 266 Kalkutta 124 Kalmyken 39 Kaltenbrunner , Ernst 21 Kambodscha 92 , 103 , 106 ff , 111 ff , 114 ff Kampala 193 Kanada 53 Kandahar 130 KANU 196 Kapstadt , Kapkolonie 182 Karadžić , Radovan 261 f Karamanlis , Konstantinos 82 Karatschaier 39 Karelien 50 Karen 120 Karibik , Karibische Inseln 214 , 218 ff Karzai , Hamid 132 Kasachstan 33 , 41 , 240 Kasavubu , Joseph 189 Kaschmir 125 ff , 238 Kassem , Abd al-Karim 133 Kassem-Raketen 155 Kasten 124 f Katalonien 81
Katanga 181 , 189 f Katar 170 , 173 Katýn 12 , 73 Kaukasus 264 Keitl , Wilhelm 16 , 21 Kenia , Kenya 130 , 179 , 181 f , 192 ff , 195 ff , 201 Kennan , George F. 51 Kennedy , John F. 30 f , 44 , 46 , 60 f , 107 , 109 , 217 Kennedy , Robert 217 Kenyatta , Jomo und Uhuru 179 , 196 f KFOR 263 KgU 28 Khalistan 126 Khamenei , Sayed A. 138 Khartoum 178 Khieu Samphan 115 ff Khomeini , Ruhollah M. 134 ff , 238 Khorramschar 137 Khusistan 137 Kibaki , Mwai 197 Kiesinger , Kurt G. 63 Kikuyu 196 f Kim Il-sung 99 ff Kim Jong-il 101 f Kim Jong-un 102 Ki-moon , Ban 15 King , Martin Luther 45 f Kinshasa 178 Kirchner , Cristina Fernández und Néstor 227 Kissinger , Henry A. 112 f , 150 Klar , Christian 87 Klaus , Václav 249 Kleptokratie 167 , 180 , 188 , 190 , 196 , 203 , 215 , 221 Klerk , Frederik de 184 , 238 Klingenbach 247 Kohl , Helmut 64 , 254 , 256
280
REGISTER Kohout , Pavel 77 Koka-Bauern 233 f Kolumbien 208 f , 234 f Kolumbus 214 , 220 KOMINFORM 24 , 70 Kommunismus s. Marxismus Kommunistisches Manifest 93 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KSZE 27 , 31 , 32 f , 255 Konfuzianismus 98 , 117 Kongo , Rep. und Dem. Rep. 176 , 179 f , 181 , 187 , 189 ff , 193 ff Königsberg 49 Konstantin II. von Griechenland 81 Kontrollrat 15 , 49 f , 55 Kony , Joseph 194 Kopten 169 f Korea Nord und Süd 15 f , 22 ff , 29 , 43 f , 58 , 84 , 89 f , 92 , 99 ff , 117 , 120 , 140 , 178 , 267 Kosovo 257 ff , 262 f , 271 Kossygin , Aleksej N. 27 , 41 Kováč , Michael 249 Krajina 258 , 260 Kräutler , Erwin 211 f Kreisky , Bruno 63 Krenz , Egon 253 Kriegsverbrecherprozess 17 , 19 ff , 50 , 89 , 117 , 167 , 260 , 262 Krim 243 Kroatien 67 , 257 ff Kuala Lumpur 118 Kuba 25 , 30 f , 34 , 41 , 60 , 62 , 108 , 180 , 186 f , 198 , 206 , 208 f , 211 , 216 ff , 221 f , 230 ff , 236 , 238 , 267 Kubitschek de Oliveira , Jucelino 227 Kučan , Milan 259 Kulaken 35 , 38 Kulturrevolution 95 f , 98 Kuomintang-Partei 91 Kurden , Kurdistan 134 , 137 , 139 , 142
Kurilen 15 f , 90 Kurras , Karl-Heinz 84 Kuwait 134 , 138 f , 147 , 158 , 170 , 266 Ladakh 92 , 125 Lagos 178 , 200 Lampedusa 161 Land grabbing 179 , 194 Land-Lease-Act 10 Laos 103 , 106 ff , 111 ff , 114 , 116 Lattre de Tassigny , Jean de 53 Lechi 146 Leclerc , Jacques 103 Le Duc Tho 113 Lehman Brothers 268 Leipzig 253 f Lendu 191 Lenin , Wladimir Uljanow , Leninismus 35 , 37 f , 92 , 95 , 97 , 103 Leningrad 243 Leopoldville 189 Lettland 240 ff , 265 Lhasa 98 Libanon 143 , 146 f , 149 f , 154 f , 157 ff , 172 Liberia 176 , 179 , 181 , 204 f Libyen 34 , 141 , 160 f , 165 , 171 ff , 236 Lie , Trygve 15 Lissouba , Pascal 189 Litauen 33 , 240 ff , 265 Liu Shaoqi 95 f Lockerbie 161 London 19 , 50 , 55 Loja Dschirga 132 Lon Nol 111 Lord´s Resistance Army LRA 194 Los Angeles 266 Lubanga , Thomas 191 f Lubliner Komitee 67 Luftbrücke 57 , 261 Lugo Méndez , Fernando 223
281
REGISTER Lumumba , Patrice 189 Luo 196 Luxemburg 55 , 87 Maastricht , Verträge 88 Macao 97 MacArthur , Douglas 16 , 22 , 89 , 99 f Madagaskar 179 Madrid 32 Madrid Hurtado , Miguel de 213 Maghreb 164 , 171 Maine 216 Maizière , Lothar de 254 Makarios 82 Makedonien , Mazedonien 257 , 262 Malawi 184 f Malaya , Malaysia 109 , 114 , 117 ff Malcom × 46 Malenkow , Georgi M. 36 , 59 Maléter , Pal 74 ff Mali 171 Malta 33 Malvinas 226 Mandela , Nelson 179 , 183 f , 196 Mandschu-Dynastie 91 Mandschurei 15 f , 24 , 89 f , 108 Maniu , Şimleul S. 68 Mansour , Adly 171 Mao Zedong 25 , 84 , 91 ff , 100 f , 105 , 108 Maras 219 Marcos , Subcommandante s. Guillen Marcuse , Herbert 83 Markos , Ferdinand E. 72 , 119 Marković , Ante 259 f Marokko 79 , 136 , 160 , 162 ff , 173 f , 191 Marshall , George C. , Marshallplan 24 f , 28 , 43 , 51 ff , 58 , 70 , 81 Martí , José 216 Marx , Karl , Marxismus , Kommunismus 64 ff , 83 , 92 , 95 , 97 , 116 , 177 , 179 , 181 ,
185 , 187 ff , 198 ff , 206 , 210 f , 217 f , 221 , 229 f , 233 , 236 , 238 ff , 245 ff , 257 Marzouki , Moncef 169 Masaryk , Jan 69 Massai 196 Massalit 167 Massud , Ahmed S. 130 Mau-Mau-Aufstand 181 , 196 Mauretanien 164 f , 171 Maximilian von Mexiko 212 Maya 212 f , 219 Mazedonien 257 ff Mazowiecki , Tadeusz 247 Mbeki , Thabo 184 McCarthy , Joseph 43 f McCloy , John J. 61 McNamara , Robert S. 110 Mečiar , Vladimír 249 Medellín-Kartell 234 Medwedjew , Roy A. 35 Meinhof , Ulrike 85 Mekong 108 Mello , Collor de 228 Menchú , Rigoberta 219 Mendoza , Plinio 209 Menelik 197 Menem , Carlos 227 Mengistu Haile Mariam 198 Mercosur 222 Mesić , Stipe 259 f Mesopotamien s. Irak Mexiko 206 , 208 , 210 , 212 f , 218 Miami 220 Michael von Hohenzollern 71 Militärisch-Industrieller Komplex 36 , 43 Milosević , Slobodan 82 , 258 ff Mindszenty , Jósef 71 Miskito 222 Mitterand , François 254 Mladić , Radko 261 f
282
REGISTER Mobutu Sese Seko 179 f , 189 ff Moçambique 30 , 62 , 80 , 177 , 179 , 181 , 184 ff , 187 f , 195 , 218 , 238 Mock , Alois 247 Modrow , Hans 254 Mogadischu 87 , 201 Moi , Daniel arap 196 f Mohammed V. al-Fasi von Marokko 164 Mohammed VI. Von Marokko 165 , 173 Mohammed VII. al-Amin von Tunis 161 Mohamud , Scheich Hassan 201 Mohnhaupt , Brigitte 87 Moldawien 242 Molotow , Wjatscheslaw 26 Molukken 119 Moncada-Kaserne 216 Monroe , James , Monroedoktrin 205 Monrovia 205 Montaner , Carlos 209 Montanunion EGKS 28 f , 87 f Montenegro 257 ff Montgomery , Bernard L. 53 Morales Ayma , Evo 206 , 234 Morgenthau , Henry , Morgenthau-Plan 13 , 55 Moro , Aldo 87 Mosadegh , Mohammed 133 Moskau , Konferenz , Spiele 12 , 19 , 26 , 64 , 129 , 239 , 241 , 243 , 252 , 255 , 257 , 264 Moslembrüder 156 , 159 , 168 , 170 ff Mostar 261 Mountbattan , Louis 124 Movimento 19 de Abril 234 MPLA 187 f Mubarak , Hosni 150 , 156 , 169 Mudschaheddin , Mudjahedin 128 ff Mugabe , Robert 179 , 185 f Mujica Cordano , José 123 Mungiki-Sekte 196 Mursi , Mohammed 170
Museveni , Yoweri K. 193 f Musharraf , Pervez 128 Muslimbrüder s. Moslembrüder Mutebi , Ronald 194 Mutesa II. von Buganda 193 Muzorewa , Abel T. 185 Myanmar 34 , 108 , 119 f My Lai 112 Nachrüstung s. NATO Nagasaki 12 , 16 Nagornij Karabach 240 Nagy , Ferenc 68 Nagy , Imre 66 , 68 f , 72 , 75 f , 247 Nahostkriege 146 ff Nairobi 131 Najibollah , Mohammed 129 f Namibia 30 , 177 , 180 , 182 , 186 f , 191 Nasser Gamal A. 33 , 147 ff , 160 Natal 182 Nationale Volksarmee NVA 59 , 61 NATO 25 f , 29 , 31 , 42 , 47 f , 58 , 64 , 80 , 82 f , 132 , 171 , 173 , 200 , 238 , 252 , 254 , 261 ff , 265 ff Navarre , Henri 105 Naypydaw 120 Negus Negesti 198 Nehru , Jawaharlal 33 , 122 ff Nelkenrevolution s. Portugal Neretva 261 Neuseeland 108 Ne Win 120 New York 128 , 130 f , 167 , 266 Nicaragua 28 , 30 , 48 , 62 , 220 ff Niederlande 55 , 87 , 118 , 182 Niger 172 , 182 Nigeria 30 , 172 , 180 f , 188 , 202 f , 205 Nikolić , Tomislav 262 Nixon , Richard M. 47 , 112 f Njassaland 184
283
REGISTER Nordirland 79 Noriega Morena , Manuel A. 220 , 265 Ntaganda , Bosco 192 Numeiri , Jaafar M. 165 f Nürnberger Prozesse 19 ff , 117 , 205 OAS 163 OAU 176 Obama , Barack 46 , 132 , 142 , 268 f Obervolta s. Burkina Faso Obote , Apollo M. 193 Oder-Neiße-Linie 49 , 67 Ogaden 199 f Ohnesorg , Benno 84 Ojukwu , Chukwuemeka O. 202 f Ölschock 150 Oman 158 Omar Achund , Mohamad 130 OPEC 188 , 235 Orang Asli 118 Oranje-Freistaat 182 Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE 33 Organization for Economic Cooperation and Development OECD 53 , 81 Organization of American States OAS 214 Ortega Saavedra , Daniel 221 f Osama bin Laden 128 , 130 f , 266 ff Osirak 138 , 151 Ossetien 264 Osteroffensive 113 Österreich 12,17 , 29 f , 33 f , 37 , 49 , 51 , 53 ff , 63 , 77 , 88 f , 212 , 247 , 253 f , 257 Ostpreußen 49 Pahlevi , Reza 48 , 84 , 133 ff Pakistan 108 , 124 ff , 193 , 238 , 168 Pak Nam-ki 102 Palästinenser , Palästina 30 , 34 , 85 , 87 , 131 , 143 ff , 157 f
Palmyra 173 Panama 218 , 219 f , 265 Panglong-Abkommen 120 Panmunjon 101 Papadopoulos , Georgios 81 f Papandreou , Georgios 81 Paracel-Inseln 116 Paraguay 222 f , 232 Paraná 222 Paris 25 , 50 , 112 f , 114 , 176 , 263 Paschtunen 130 Pastrana Arango , Andrés 235 Pathet-Lao 111 , 114 Pearl Harbour 11 , 89 Peking 266 Pentagon 266 Peres Molina , Otto 219 Peres , Shimon 153 f Perestroika 97 , 238 f , 242 , 249 Perón , Juan D. , Maria Eva Duarte ( Evita ) 224 f Perón , Maria Estela Martinez ( Isabelita ) 225 Persien 84 Peru 30 , 208 f , 229 f , 231 f , 236 Petkow , Nikola D. 69 Pham Van Dong 106 , 112 Philippinen 108 , 119 Phnom Penh 115 Pieck , Wilhelm 59 , 66 Pilsener Aufstand 73 Pinochet Ugarte , Augusto 230 f Piratenküste 158 Piraterie 200 ff PLO 28 , 63 , 85 , 147 , 149 , 151 ff , 156 Podgornyj , Nikolaj W. 41 Pol Pot 92 , 114 ff Polen 12 ff , 18 , 22 f , 40 , 42 , 49 f , 64 ff , 73 f , 77 f , 141 f , 242 , 246 ff , 253 ff Polisario 165
284
REGISTER Pommern 49 Ponto , Jürgen 85 f Popiełuszko , Jan 78 Popper , Karl 84 Populismus 210 Port Said 148 Portugal 29 , 80 f , 88 , 97 , 186 ff , 206 , 209 , 227 Posener Aufstand 73 Potsdam , Abkommen , Konferenz 49 ff , 54 Powell , Colin 46 Prag , Prager Frühling 25 , 27 , 42 , 55 , 76 ff , 246 , 248 , 250 , 253 PRI 212 Priština 262 Pugo , Boris 243 Punjab 126 Puntland 201 Pusan 100 Putin , Wladimir 264 f Pu Yi 91 Qabus bin Said von Oman158 Rabin , Ytzak 153 f , 266 Rahman , Mujibur 127 Rajk , Lásló 71 Rákosi , Mátyas 65 , 68 f , 71 , 74 Rambouillet 263 Rangun 120 Ras al-Khaima 157 Raspe , Carl 85 ff Reagan , Ronald 48 , 137 , 160 f , 222 , 238 f RENAMO 188 Renner , Karl 51 , 55 f Rentenkapitalismus 208 , 212 Resa Khan 133 Reuter , Ernst 57 RGW s. COMECON Rhee , Syngman 99
Rhodes , Cecil 184 Rhodesien s. Simbabwe Ribbentrop , Joachim v. 14 , 21 Rice , Condolezza 46 Ridgway , Matthew B. 100 Riga 242 Rio de Janeiro 228 Rio de la Plata 222 Ríos Montt , Efraín 219 Road Map 154 Robben Island 183 Rohingya 120 Rokossowski , Konstantin 72 Rollback 26 f Rolling Thunder 109 f Rom 160 Romero y Galdámez , Oscar A. 211 Roosevelt , Franklin D. 10 , 12 , 14 f , 23 Roosevelt , Theodore 206 Rosenberg , Alfred 21 Rosinenbomber 57 Rote-Armee-Fraktion RAF 28 , 63 , 85 ff Rote Brigaden 28 , 87 Rote Khmer 111 , 114 ff Ruanda 180 , 190 ff , 194 f Rugova , Ibrahim 262 f Ruhrgebiet 19 Rumänien 14 , 18 , 23 , 50 , 64 ff , 76 , 88 , 142 , 250 ff Rousseff , Dilma 229 Russland 89 , 99 , 122 , 154 , 173 , 200 , 236 , 242 , 245 , 261 , 263 ff Ruto , William 197 Saba , Königin von 197 Sabah 118 Sabra 151 Sachalin 15 f , 90 Sacharow , Andrej 41 Sadat , Anwar 136 150
285
REGISTER Sahel-Zone 181 , 202 Sahir Schah von Afghanistan 129 , 132 Saigon 107 , 111 ff , 114 Salafisten 169 f Salan , Raoul 162 f Salazar , Antonio de Oliveira 80 Saleh , Ali A. 159 , 172 Salinas de Gortari , Carlos 213 Salomon 197 Salpeterkrieg 229 , 232 Sambia 184 f Sanaa 158 , 172 Sandino , César A. 209 , 221 San Francisco 15 , 22 , 90 , 108 San Salvador 211 Sansibar-Helgoland-Vertrag 194 Santa Clara 216 Santiago de Cuba 216 Santos , Eduardo dos 180 , 188 Santos Calderón , Juan M. 235 São Paulo 228 Sarajewo 261 Sarawak 118 Sartre , Jean-Paul 84 Sassou-Nguessu , Denis 189 Satellitenstaaten 36 , 42 Sauckel , Fritz 21 Saudi Arabien 128 , 139 f , 142 , 146 , 157 ff , 169 , 172 f , 193 SAVAK 134 Savimbi , Jonas 188 SBZ 29 , 53 ff Schatila 151 Schamir , Jitzhak 146 Scharia 126 , 166 , 168 , 203 Schatt-el-Arab 134 Schirach , Baldur v. 21 Schiwkow , Todor 249 Schlesien 49 Schleyer , Hanns-Martin 85 ff
Schmidt , Helmut 31 , 64 Schukow , Georgi K. 54 Schulz , Adelheid 87 Schwarzer September 149 Schweden 33 f , 88 Schweinebucht 216 SEATO 26 , 108 Sechstagekrieg 148 f , 159 Securitate 250 Sendero Luminoso 232 Senegal 172 , 182 Senussi , Idris von Libyen 160 Seoul 100 Serbien 67 , 82 , 257 ff , 271 Sétif 162 Seyß-Inquart , Arthur 21 SFOR 262 Shaba s. Katanga Shan 120 Sharif , Scheich Ahmed 201 Sharja 157 Sharon , Ariel 154 f Shura 130 Sibirien 241 , 265 Sicherheitsrat 14 f , 25 , 91 , 100 , 102 , 138 ff , 151 f , 171 , 173 , 184 f , 204 , 226 , 245 , 263 Sierra Leone 176 , 181 , 204 f Sihamoni , Norodom 117 Sihanouk , Norodom 103 , 107 , 111 , 115 ff Sikh 126 Silva , Lula da 206 , 228 f Simbabwe 30 , 176 f , 179 ff , 184 f , 191 , 198 Simmel , Johannes M. 254 Sinai 148 Sind 126 Singapur 117 Singhalesen 126 Sirte 171 Sisi , Abdel Fattah 170 Slawonien 257 , 260
286
REGISTER Slowakei 50 , 76 f , 249 Slowenien 67 , 257 ff Smith , Jan D. 185 Solidarität , Solidarność 42 , 77 ff , 246 Solschenizyn , Alexander 41 , 242 Somalia 87 , 176 , 180 , 182 , 193 f , 197 f , 200 ff , 266 Somaliland 201 Somoza Debayle , León L. und Anastasio 221 Somoza García , Anastasio 221 Sowjetunion 10 , 12 , 17 , 19 , 22 ff , 29 ff , 34 ff , 43 , 49 ff , 64 ff , 75 f , 91 ff , 97 , 103 , 116 , 125 , 129 , 134 , 148 , 157 , 159 , 161 , 166 , 180 , 187 , 198 , 200 , 202 , 217 f , 221 , 229 ff , 238 ff , 246 ff , 252 ff , 255 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED 54 , 57 ff , 63 , 73 , 253 ff Spanien 80 f , 88 , 164 , 206 , 209 , 212 , 214 , 216 , 224 , 229 , 231 f Spanisch-Sahara 164 f Speer , Albert 21 Spínola , António S. 80 f Spratly-Inseln 116 Sputnik 29 , 40 Srebrenica 261 Sri Lanka 126 Staatssicherheitsdienst „Stasi“ 59 , 84 , 252 f Stalin , Josef W. 10 , 12 ff , 18 , 23 , 25 , 30 , 34 ff , 41 , 49 , 51 f , 59 , 64 ff , 72 f , 91 f , 99 , 101 , 240 , 242 , 257 Stellvertreterkrieg 28 , 30 , 187 Stoph , Willi 63 Strafgerichtshof s. Den Haag Straßburg 87 Strategic Arms Limitation Talks SALT 42 , 47 Strategische Verteidigungsinitiative SDI 31 , 48 , 239 Streicher , Julius 21
Stroessner , Alfredo 223 Studentenproteste 46 , 62 f Subprime-Krise 99 , 267 f Südafrika , Republik Südafrika 30 , 34 , 162 , 175 , 179 f , 182 ff , 234 , 238 Sudan , Südsudan 30 , 165 ff , 176 f , 180 ff , 193 ff Sudetendeutsche 68 Südtirol 50 Suezkanal , S.krise 29 f , 40 , 74 f , 147 ff Suharto 119 Sukarno , Achmed 33 , 118 f Sumatra 119 Svoboda , Ludvik 76 SWAPO 62 , 186 f Syrien 34 , 143 , 146 , 148 , 151 f , 154 , 157 ff , 172 f , 236 Tadschiken 130 Tahir-Platz s. Kairo Taiwan 91 f , 94 , 97 , 117 Taliban 128 , 130 ff Tallinn 242 Tamilen 126 Tanganijka 193 , 195 Tansania 130 , 184 f , 193 ff Tantawi , Mohammed H. 169 f Taraki , Nur M. 129 Tartus 173 Taylor , Charles G. 179 , 204 f Teheran 12 , 14 , 136 f Temešvár 250 Terroristen 28 Têt-Offensive 111 Thailand 108 , 111 , 115 , 117 Thatcher , Margret 226 , 254 Thein Sein 121 Tiananmen-Platz 96 f , 238 Tibet 92 , 98 Tigre 180 , 198
287
REGISTER Tigris 134 Timbuktu 172 Timiş , Timişoara 250 Titicaca-See 234 Tito , Josip B. 33 , 65 ff , 257 , 259 Titoismus 70 f Tiwanaku 234 Togo 172 Tojo Hideki 22 Tokio 17 , 22 , 89 f , 190 Tongking 103 , 109 , 113 Tonton Macoute 214 Torrijos Herrera , Omar 220 Township 183 Transformation 241 , 246 ff Transjordanien s. Jordanien Transkei s. Homeland Transvaal 182 Treck , Großer 182 Triest 50 Tripolis 160 , 171 Trujillo y Molina , Héctor B. und Rafael L. 214 Truman , Harry , T. Doktrin 23 f , 28 , 43 f , 49 , 51 f , 58 , 72 , 100 Tschad 166 f , 176 , 192 Tschechien 77 , 149 Tschechoslowakei ČSSR , ČSFR 18 , 22 , 25 , 27 , 50 , 62 , 64 ff , 73 , 76 f , 246 , 248 f Tschernenko , Konstantin 42 Tschernobyl 239 Tschetschenien 39 , 264 Tschombe , Moise 179 , 189 f Tsvangirai , Morgan 186 Tuareg 171 f Tudjman , Franjo 259 Tunesien , Tunis 79 , 151 , 160 ff , 168 f , 184 Túpac Amaru 232 Tupamaros 223 f Türkei 24 , 139 , 173 , 217 , 249 , 257
Turnhallenallianz 186 f Tutsi 180 , 191 , 194 f Tuzla 261 UČK 263 UdSSR s. Sowjetunion Uganda 176 , 179 f , 180 ff , 191 , 193 f Uiguren 98 Ukraine 15 , 33 , 39 , 241 f Ulbricht , Walter 59 ff , 63 , 66 Umm al-Kaiwain 157 Ungarn 14 , 18 , 23 , 27 , 29 ff , 40 , 50 , 64 ff , 74 ff , 148 , 246 , 247 f , 253 UNICEF 191 UNIDO 156 UNITA 187 ff United Fruit Company UFCO 218 f UNMIK 263 UNO s. Vereinte Nationen UNPROFOR 260 ff U Nu 120 Uribe Vélez , Álvaro 235 Uruguay 222 , 223 f USA 10 , 12 , 14 f , 18 , 23 ff , 30 ff , 40 f , 43 ff , 49 ff , 68 , 70 , 72 , 80 , 83 , 89 ff , 94 f , 97 , 116 , 119 , 127 , 129 ff , 133 , 134 ff , 148 ff , 154 , 156 f , 159 ff , 166 f , 171 , 173 , 189 , 194 , 198 , 200 ff , 204 f , 209 , 212 , 214 f , 218 ff , 230 f , 233 f , 236 , 239 , 255 , 263 ff Usbeken , Usbekistan 130 , 240 Ussuri 92 Ustaša 257 U Thant , Sithu 15 Van Thieu , Nguyen 107 , 114 Vargas , Getúlio 227 Vargas Llosa , Álvaro und Mario 209 , 232 Vatikan 14 , 33 , 225 Velasco Alvarado , Julian 231 f Venda s. Homeland
288
REGISTER Venezuela 206 , 208 f , 217 f , 222 , 224 , 234 , 235 ff Vereinigte Arabische Emirate VEA 157 f Vereinigte Arabische Republik VAR 148 , 157 Vereinte Nationen , UNO 11 , 13 ff , 25 , 63 , 75 , 90 ff , 99 ff , 114 , 117 f , 129 , 138 f , 146 , 148 ff , 156 , 165 , 171 , 173 , 176 f , 184 , 186 , 189 ff , 195 , 198 , 200 f , 204 , 215 , 255 , 260 ff , 266 Videla , Jorge R. 225 ff VIETCONG 106 ff VIETMINH 104 ff Vietnam , Vietnamkrieg 24 f , 30 , 43 f , 46 f , 79 , 83 f , 92 , 103 ff , 114 ff , 129 , 139 , 162 , 266 Viola 226 ff Vojvodina 257 ff Völkerbund 14 , 157 , 194 Volkskommune 92 ff , 97 Volksmudjahedin 137 Voodoo-Kult 214 Vukovar 260 Wahabiten s. Saudi Arabien Waldheim , Kurt 15 Wałesa , Lech 77 , 246 f Warschau , Aufstand 14 , 65 , 253 Warschauer Pakt WAPA 26 f , 29 , 31 , 59 , 74 ff , 79 , 240 , 248 ff Washington D.C 11 ff , 150 , 217 , 239 , 266 Watergate-Affäre 47 , 113 Weißrussland 15 , 236 Weizmann , Chaijim 146 Weizsäcker , Richard von 256 Weltbank IBRD 13 , 179 , 190 Weltfriedenskongress 25 Weltsicherheitsrat s. Sicherheitsrat
Westeuropäische Union WEU 29 Westjordanland 146 ff , 153 ff Westmoreland , William C. 110 Westsahara 164 f Wien 33 , 42 , 49 , 54 , 57 , 60 , 160 , 256 Wilder , Douglas 46 Wilna 242 Winterkrieg 12 Wojtyla , Karol s. Johannes Paul II. Woodward , John F. 226 World Trade Center 266 Wyszyński , Stefan 72 , 74 Xhosa 183 Yanomami 228 Yucatán 212 Zaghwa 167 Zaïre s. Kongo Zapata Emilio , Zapatisten 206 , 212 f Zapotocky , Antonin 69 , 71 Zedillo Ponce de León , Ernesto 213 Zenawi , Meles 200 Zentralafrika 187 ff Zentralafrikanische Republik 176 , 179 , 181 , 187 , 192 , 194 Žepa 261 Zhou Enlai 33 , 92 , 96 Zia ul-Hak 127 Zilk , Helmut 256 Zimbabwe s. Simbabwe Zionismus 143 Zulu 183 Zuma , Jacob 184 Zwei-Lager-Theorie 25 , 27 f , 92 Zypern 33 , 82