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German Pages 282 Year 2014
Jens Richard Giersdorf Volkseigene Körper
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 34
2014-08-26 11-46-41 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d4375461276076|(S.
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Für meine Eltern Siegrid und Wolfgang Giersdorf
Jens Richard Giersdorf (Dr. phil.) ist Professor für Tanzwissenschaft am Marymount Manhattan College in New York City, wo er Politik und Epistemologie von Tanz und anderen Bewegungsmodellen untersucht.
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Jens Richard Giersdorf
Volkseigene Körper Ostdeutscher Tanz seit 1945 (übersetzt aus dem Englischen von Frank Weigand)
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The Publisher edition is published in Germany by arrangement with the University of Wisconsin Press. © 2013 by the Board of Regents of the University of Wisconsin System. All rights reserved. Rights and permissions inquiries should be directed to the University of Wisconsin Press, Madison, Wisconsin, USA, to [email protected] Die Übersetzung wurde durch Stipendien der Stiftelsen Lilian Karina in Sweden und des Marymount Manhattan College, New York City, USA, ermöglicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Schwarze Vögel, Choreografie: Tom Schilling, Tanztheater Komische Oper Berlin, 1975, Photo: Arwid Lagenpusch, Archiv Darstellende Kunst, Akademie der Künste, Berlin Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Frank Weigand Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2892-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2892-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe | 7 Einleitung | 13 1 Nationale Identität im Alltag | 45 2 Ostdeutsches Tanztheater | 77 3 Widerständige Bewegungen im Osten | 131 4 Grenzübertritte und Überschreitungen | 197 5 Beginn einer transnationalen Geschichte des ostdeutschen Tanzes | 233 Danksagung der US-amerikanischen Ausgabe | 259 Literatur | 265
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Ich bin in der DDR aufgewachsen, einer zentralisierten Gesellschaft, die auf der Utopie dezentralisierter Machtverhältnisse aufgebaut worden war. Mein Interesse am politischen Vermögen von Tanz liegt in dem Verlust dieser Utopie und der vollkommenen Umstrukturierung meiner Kultur nach dem Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren begründet. Diese Neuordnung zwang mich zu radikalen Wechseln zwischen unterschiedlichen institutionellen und nationalen Ansätzen der Theoretisierung von Tanz1 und weckte mein Interesse am ontologischen und epistemologischen Potential des Dazwischen-Seins: zwischen politischen Systemen (vom Sozialismus zum globalisierten Kapitalismus), zwischen diskursiven Traditionen (europäische Philosophie vs. US-amerikanische Identitätspolitik), zwischen unterschiedlichen institutionellen Konstruktionen von Tanz (in akademischen Forschungseinrichtungen, Lehr- oder professionellen Trainingsinstitutionen) und zwischen dem disziplinierten Gesellschaftskörper und seinem Zusammenbruch in Augenblicken von instinktiver und autonomer körperlicher Reaktion oder Objekthaftigkeit. Das Phänomen des Dazwischen-Seins interessiert mich wegen der Ko-Präsenz unterschiedlicher Positionen oder als Heterotopie im Foulcaultschen Sinne.2 Am wichtigsten ist daran jedoch die Unmöglichkeit
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Ich studierte Tanzwissenschaft in der DDR an der Theaterhochschule »Hans Otto« in Leipzig, promovierte in Dance History and Theory an der University of California, Riverside in den USA, lehrte im Department of Dance an der University of Surrey, Guildford in Großbritannien sowie am Critical Dance Studies Department der University of California, Riverside und unterrichte und forsche jetzt am Marymount Manhattan College in New York City.
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Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2005.
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der Sesshaftigkeit oder die zeitliche Begrenztheit einer stabilen Position und deren Beziehung zu agency.3 Anders ausgedrückt: Wenn man innerhalb eines dominanten Systems oder dagegen arbeitet, und dieses System zusammenbricht – gibt es dann wirklich eine Gelegenheit, agency neu zu determinieren? Oder schafft dieser Zusammenbruch nur Raum, den andere Akteure neu besetzen können und von dem aus sie agency in ihrem Sinne umdefinieren? Und was ist der Preis für die Räumung dieses Machtzentrums? Diese Fragen sollte man nicht nur im Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen wie den Mauerfall stellen, sondern auch im Hinblick auf die transnationale und interdisziplinäre Determinierung der Tanzwissenschaft. Wir haben in unserer Disziplin einen Punkt erreicht, an dem wir glauben könnten, dass Tanz und unsere Erforschung von ihm stabil sind und wir somit beginnen können, ihn und die Diskurse unserer Disziplin kritisch zu destabilisieren und ihre institutionelle Macht in Frage zu stellen. Wie ich kurz anhand eines Beispiels erklären möchte, musste ich diese Annahme jedoch neu überdenken. In meiner bisherigen Arbeit untersuchte ich meine ersten drei Wechsel zwischen unterschiedlichen Systemen und Kulturen und das Phänomen des Dazwischen-Seins, von dem ich eben gesprochen habe (z.B. die bisher unerforschten Gemeinsamkeiten von Moderne und sozialistischem Realismus in dem vorliegenden Buch,4 die strukturelle Beziehung zwischen Tanz und zeitgenössischen Kriegen in einer demnächst erscheinenden Anthologie mit Gay Morris,5 unterschiedliche Funktionen tanzwissenschaftlicher Diskurse in Bezug auf nationale Bildungssysteme,6 eine alternative Strukturierung von Tanz in Bezug zur Kanonisierung und das Verständnis des komplexen Raumes, der durch eine Neubetrachtung der Auswirkungen US-amerikanischer Identitätspolitik und universalisierender europäischer Philosophie entsteht, in meiner gegenwärtigen Zusammenarbeit mit Yutian Wong7) Ich stand bereits kurz davor, mich anderen Unter-
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Der Begriff »agency« definiert in den amerikanischen Human- und Sozialwissenschaften die Möglichkeit zur Aktion eines Individuums innerhalb der Gemeinschaft. Damit ist weniger die moralische Basis oder Autonomie gemeint, sondern die politische Kondition zur Aktion (Siehe Appiah, Kwame Anthony, The Ethics of Identity, Princeton University Press, Princeton 2005, S. 58-59).
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Giersdorf, Jens Richard, The Body of the People. East German Dance since 1945.
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Morris, Gay und Jens Richard Giersdorf, Choreographies of 21st Century Wars.
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Giersdorf, »Dance Studies in the International Academy: Genealogy of a Disciplinary
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Wong, Yutian und Jens Richard Giersdorf, »Dancing Propaganda: Monumentalizing
Formation«. the (Un)Popular«.
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suchungen zu widmen, die es mir erlaubt hätten, Tanzwissenschaft als stabilen, disziplinären Diskurs kritisch in Frage zu stellen, als ich etwas erlebte, was ich als äußerst »destabilisierendes« berufliches Fiasko beschreiben würde. Ich war von einer Kollegin eingeladen worden, bei einer interdisziplinären Konferenz in der Schweiz über meine Arbeit zur Epistemologie der Tanzwissenschaft zu sprechen. Ich beschloss, einen aktuellen Aufsatz über das Potential des re-enactments von erfundener Tanzhistorisierung in Trajal Harrels Choreografien vorzustellen, um den Raum zu destabilisieren, der durch die Tatsache entstanden war, dass der abstraktere philosophische Tanzdiskurs europäischer Prägung und die mehr auf Identitätsfragen gründende US-amerikanische Tanzwissenschaft nicht immer in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren.8 Ich hatte mir vorgestellt, ich würde von der Stabilität meiner Disziplin aus gemeinsam mit den hauptsächlich deutschsprachigen Wissenschaftlern aus den Bereichen Germanistik, Medien-, Tanz- und Theaterwissenschaft über eine mögliche Politisierung dieses unbesetzten Zwischenraums nachdenken. Ich beschloss, meinen Vortrag auf Deutsch zu halten, was ich sonst nicht tue, da ich meine akademische Bildung hauptsächlich auf Englisch erworben habe und seitdem ausschließlich in dieser Sprache arbeite. Ich dachte, ich würde über den Zwischenraum zwischen unterschiedlichen nationalen Tanzdiskursen sprechen und so eine destabilisierende Intervention im interdisziplinären oder transnationalen Austausch durchführen. Was ich nicht bedacht hatte, war die Diskrepanz zwischen meiner ostdeutschen Sprache und meinem amerikanischen Forschungsansatz, sowie die Tatsache dass die Wissenschaftler der anderen Disziplinen weder meine Arbeit noch die epistemologischen Problematiken der Tanzwissenschaft kannten und diese auch nicht für relevant für ihre Disziplin hielten. Die meisten Professoren dachten daher, ich würde sie dafür angreifen, dass sie sich nicht mit Identitätspolitik beschäftigten und versicherten mir dann, dass wir uns längst im Post-Identitäts-Zeitalter befänden und mittlerweile mit ganz anderen Themen befasst wären. Plötzlich wurde mir klar, dass ich im übertragenen Sinne mit faulen Eiern beworfen wurde. Die interdisziplinären Wissenschaftler verstanden nicht, dass ich die Machtstellung hinterfragte, die Tanzwissenschaft über den Tanz ausüben kann. Stattdessen interpretierten sie meinen Vortrag als einen Angriff auf ihre nationalen Forschungsansätze. Ich hatte angenommen, dass ich in diesem Stadium der Ent-
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Giersdorf, »Immer hier und selten da. Die Politik der choreographierten Tanztheoretisierung als Zwischenraum«, In: Nadja Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel, Bettina Wodianka (Hg.), Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Transcript, Bielefeld 2013.
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wicklung unserer Disziplin auf ihre Stabilität und ihre Wirkung auf die Diskurse anderer Disziplinen bauen könnte und somit die hegemoniale Nationalpolitik der Tanzwissenschaft in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand kritisieren und dadurch die unterschiedlichen Machtzentren einer multinationalen Tanzwissenschaft aufzeigen könnte. Meine Zuhörer erlebten die Diskrepanz zwischen den theoretischen Modellen, die ich verwendete und die mich in einem nordamerikanischen Tanzdiskurs verorteten und der Tatsache, dass ich deutsch aussah und mich ostdeutsch anhörte, als verwirrend, und wollten lediglich eine deutsche Tanzanalyse hören, die sich auf ästhetische, historische, und philosophische Fragen konzentrierte und dabei die neuesten ästhetisch-politischen Theorien verwendete. Da stand ich also, in einer Villa am Stadtrand von Basel, wo Geld keine Rolle spielte, wo sogar die kleinen Hirschstatuen um den Pool herum Penisse hatten, wo deutschsprachige Kollegen aus anderen Disziplinen über die Ontologisierung der Ontologie sprachen und auf meinen Vortrag Dinge wie »Kunst hat nichts mit Kultur zu tun« erwiderten. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass das, was ich für äußerst stabil und dezentrierbar hielt, dies keineswegs war. Anders ausgedrückt: Tanzwissenschaft ist in einem eigenständigen nationalen Kontext relativ stabil, doch wenn man sie aus einem nationalen System oder einem disziplinarischen Diskurs heraus verschiebt, ist sie möglicherweise nicht immer in der Lage, ihre Zentralität zu behaupten, und andere Disziplinen werden ihren Platz einnehmen. Daher beschloss ich in diesem Moment, mein amerikanisches Buch über ostdeutschen Tanz ins Deutsche zu übersetzen. Und das habe ich hiermit getan. Korrekterweise muss ich natürlich schreiben, dass mir die Lilian Karina Stiftung ermöglichte, mein Buch von Frank Weigand ins Deutsche übersetzen zu lassen. Ich bin stolz, mich in Gesellschaft der bisherigen Preisträger des Lilian Karina Preises zu befinden und darauf, dass meine Arbeit durch diese Auszeichnung mit dem historischen Beitrag Lilian Karinas zum Tanz und zur Tanzgeschichtsschreibung verbunden ist. Frank Weigand kann ich nicht genug danken, da er viel mehr als seinen erheblichen Sachverstand als Übersetzer eingebracht hat. Im Dialog mit seiner Sicht auf Tanz in Deutschland und Europa sowie seinem Wissen um den unterschiedlichen Sprachgebrauch in Ost- und Westdeutschland konnte dieses Projekt Form annehmen, teilweise sogar mit unseren Computern und unseren unterschiedlichen deutschen Vergangenheiten Seite an Seite in Brooklyn. Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein danke ich dafür, dass sie mein Buch in die Reihe TanzScripte aufnahmen. Der University of Wisconsin Press, bei der die US-amerikanische Ausgabe erschien, stellte freundlicherweise die Lizenz zur Verfügung. Mein gegenwärtiges Lehrinstitut, das Marymount Manhattan College, hat die Publikation mit einem Faculty Scholarship Award unterstützt. Constanze Schellow ist
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»schuld« daran, dass es die deutsche Ausgabe gibt, da sie mich damals in die Schweiz zur Konferenz einlud. Außerdem hat sie mir durch ihren ganz eigenen Zugang zur Tanzwissenschaft den Tanz und seine Theoretisierung in Europa in völlig neuem Licht gezeigt. Franz Anton Cramer ist einer der wenigen deutschen Tanzwissenschaftler, mit dem ich über ostdeutschen Tanz diskutieren kann, nicht nur weil er ihn beruflich erforscht, sondern weil er auch in der Lage ist, ihn im europäischen Kontext zu verorten. Ich bedanke mich bei beiden für ihre Freundschaft und Kollegialität. Ich habe mich entschlossen den Inhalt dieses Buchs so zu belassen, wie er in der amerikanischen Ausgabe war. Volkseigene Körper schrieb ich ursprünglich als The Body of the People für eine englischsprachige Leserschaft aus der Position eines Ostdeutschen, der den ersten Teil seiner Tanzwissenschaftsausbildung in der DDR und im vereinigten Deutschland erhielt, jedoch seit mehr als zwei Jahrzehnten im Ausland forscht und lehrt. Ich habe diesen Blick von außen auf ostdeutsche Tanzgeschichte beibehalten, da ich aufzeigen wollte, dass in der deutschsprachigen Tanzwissenschaft eine Geschichtsschreibung des ostdeutschen Tanzes kaum vorhanden ist. Oft verdeutliche ich daher ostdeutsche Situationen, wie z.B. die Wohnungssituation und das Warenangebot in der DDR oder die Entwicklung von deutschem Volkstanz, die einer deutschen Leserschaft möglicherweise vertraut sind, die ich jedoch in der Originalausgabe einem amerikanischen Publikum erklären musste. Vielleicht schafft dies auch einen Kontext für eine jüngeren Leserschaft in Deutschland. Das Buch wurde um 2010 herum geschrieben, und ich habe diesen Zeitpunkt in der deutschen Ausgabe beibehalten, um meine eigene Art und Weise der Geschichtsschreibung als temporär zu determinieren. Volkseigene Körper ist keine Vergangenheitsbewältigung sondern eine Theoretisierung von ostdeutschem Tanz, Choreografie und transnationaler Tanzhistoriografie. Frank Weigand und ich haben uns bewusst entschieden, ostdeutsche Terminologien, wie »Erwachsenenqualifizierung«, »Laientanz« oder »Faschismus« zu benutzen, um zu betonen, dass die Objekte dieser Tanzwissenschaft auch die Form und Struktur der Geschichtsschreibung bestimmen. Allerdings haben wir auch amerikanische Konzepte wie agency, die durch die Globalisierung des amerikanischen Diskurses auch deutschen Akademikern vertraut sind, als Konzepte erhalten und nicht übersetzt. Neben der bekannteren anglo-amerikanischen Literatur finden sich in Volkseigene Körper auch Ansätze, die für eine nicht-englisch lesende deutsche Leserschaft von Interesse sein könnten. Auf jeden Fall verfremden sie den Blick auf die eigene Geschichte und schaffen damit das Potential für eine Neubewertung. Das Nebeneinander von ostdeutschen, gesamtdeutschen und amerikanischen Terminologien und Konzepten erscheint mir außerdem wichtig, um den Moment auf der Konfe-
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renz festzuhalten, als ich mich entschied, das Buch zu übersetzen. Denn die Überschneidungen und Leerstellen zwischen diesen Diskursen, das DazwischenSein, von dem ich bereits sprach, sind nicht nur bedeutungsvoll und destabilisierend, sondern auch politisch. Brooklyn 2014 Jens Richard Giersdorf
Einleitung Spektakel zwischen Utopie und Ostalgie
D AS
SCHWINDENDE
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Der Archivmitarbeiter lud einen Haufen Sammelordner, die jahrzehntelang niemand angerührt hatte, auf dem wackeligen Tisch ab. Da saß ich, umgeben von offiziellen Aktenvermerken und inoffiziellen Briefwechseln aus der vergangenen Ära der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Ihr Hauptthema waren die Massenchoreografien, die von 1954 bis zum Fall der Berliner Mauer in Leipzig stattfanden. Es gab nur wenige bunte Programmhefte von offiziellen Veranstaltungen. Stattdessen handelte es sich bei den meisten Materialien um altmodische Thermofax- und Kohlepapier-Kopien (Briefe, Berichte, interne Vermerke, Anträge), die von Bindfäden zusammengehalten wurden. Als ich die Mappen öffnete, wehte mir ein Geruch von DDR-Bürokratie entgegen. Das Archiv des Sportmuseums Leipzig hatte seit der Auflösung der DDR im Jahr 1990 um sein Überleben gekämpft. Gerade wurden seine provisorischen Unterkünfte renoviert, um zumindest die Sicherheit seiner Sammlung zu gewährleisten.1 Während ich in einem kalten und zugigen Korridor saß, öffnete ein Bauarbeiter wiederholt die Tür und schob eine Schubkarre hinaus, um alte Backsteine abzuladen. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, warf ich mich hastig mit meinem ganzen Oberkörper auf die hauchdünnen Kopien, um sie am Davonflie-
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Das Sportmuseum Leipzig bewahrt alle Dokumente über die Massenchoreografien der ostdeutschen Turn- und Sportfeste auf. Die Deutsche Demokratische Republik inszenierte acht Turn- und Sportfeste in Leipzig. Das erste Fest im Jahre 1954 zog 35.000 Teilnehmer an, die nicht nur in den üblichen olympischen Sportarten wie Leichtathletik, Schwimmen, Boxen, Fahrradfahren, Gymnastik, Fußball und Fechten wetteiferten, sondern auch in außergewöhnlicheren Disziplinen wie Blasmusik (Rodekamp, Sportschau, S. 31).
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gen zu hindern und beschützte so körperlich die armseligen Überreste meines verschwundenen Herkunftslandes. Es fühlte sich an, als rettete ich das Material nicht nur vor den Böen des Januarwinds. Ich beschützte diese Dokumente vor der Zeit, vor der schwindenden Archivinstitution, die sie aufbewahrte, vor öffentlicher Gleichgültigkeit, Auslöschung und Nostalgie – und vor meiner eigenen Einstellung zu ihnen, in der sich akademische und persönliche Interessen überschnitten. Je länger ich auf diesen Papieren lag und meinen Körper unfreiwillig gegen ihre weichen zerfallenden Oberflächen presste, desto mehr zweifelte ich daran, ob ich mich wirklich mit diesen banalen Relikten des Landes, in dem ich aufgewachsen war, befassen sollte. Das Material bestätigte lediglich, was ich bereits über andere staatlich geförderte Tänze und über ostdeutsche2 Bewegungskultur im Allgemeinen entdeckt hatte. Ostdeutsche Choreografen erfanden nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Tradition, indem sie sich aus ausgewählten Bereichen der Vergangenheit des deutschen Tanzes – wie Bewegungschören, Folklorevokabular und sowjetischen und deutschen Massenbewegungen3 – bedienten. Indem sie Bewegungstraditionen an sozialistische Körperideale anpassten, sollten diese artifiziellen Traditionen die DDR als fortschrittliche Nachfolgerin der deutschen Kultur bestätigen und eine sozialistische Nationalidentität entstehen lassen, die eine Alternative zu der des Westens darstellte. Dies traf vor allem auf die Massenereignisse zu, über die ich im Archiv des Sportmuseums recherchierte. Durch Choreografie wurde der idealisierte ostdeutsche Körper – ein Körper, dem eindeutige Geschlechterrollen zugewiesen waren, der fröhlich, optimistisch, doch zugleich auch ernsthaft und pflichtbewusst war und sich in seinen techni-
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Ich benutze in diesem Buch den informellen Ausdruck »Ostdeutschland«, da ich Tanz in der Sowjetischen Besatzungszone, der DDR und den ehemaligen sozialistischen Gebieten des wiedervereinigten Deutschland historisch und theoretisch betrachte.
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Mit dem Begriff »Massenbewegungen« beziehe ich mich auf eine große Anzahl meist synchronisierter Choreografien mit Hunderten oder Tausenden von Teilnehmern. Solche Massenbewegungen dienen in jedem diktatorischen Regime als wichtige Demonstration von Macht und Kontrolle. Sie wurden sowohl in faschistischen als auch in sozialistischen Ländern inszeniert. Eines der berühmtesten Beispiele ist Leni Riefenstahls Dokumentation der Massenbewegungen beim Nazi-Parteitag 1934 in Nürnberg in ihrem Film »Triumph des Willens«. In der Gegenwart lässt sich ein ähnliches Verfahren bei den Arirang Massenspielen der Demokratischen Volksrepublik Korea (Nordkorea) beobachten. Massenbewegungen sind jedoch auch ein bedeutender Aspekt internationaler Sportereignisse, wie bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele.
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schen Fähigkeiten über die Zeit hinweg entwickelte – als rhythmisch kollektiv, gesund und bereit für die Aufgabe, ein neues Land aufzubauen, erfunden, bestätigt und gestärkt. Als Austragungsort aller acht von der Regierung veranstalteten Turn- und Sportfeste wurde Leipzig zum Zentrum dieser sozialistischen Massenchoreografien. Die Eröffnungszeremonie, an der mehr als zehntausend Menschen beteiligt waren und die im neu errichteten Zentralstadion inszeniert wurde, wurde zum Markenzeichen dieser festlichen Ereignisse. Die Bewegungen der Körper der Teilnehmer auf dem Stadionrasen dehnten sich bis auf die Tribünenplätze aus und bezogen das Publikum mit ein. Bereits Jahre vor den Massenereignissen in Leipzig wurde die allgemeine Bevölkerung durch landesweit durchgeführte choreografische Übungen vorbereitet.4 Indem sie die Bürger in einem derart umfassenden Ausmaß zusammenbrachten, kreierten diese Massenveranstaltungen eine Art körperliche Nationalidentität, die Benedict Anderson als »imaginäre Gemeinschaft«5 bezeichnet. Andersons Theorie folgend, nehmen sich die Menschen in einer Gruppe mittels ihrer kollektiven Vorstellungskraft selbst als eine Nation wahr, sogar wenn ihnen die direkte Interaktion fehlt, die normalerweise notwendig ist, um eine Gruppe zu konstituieren. Choreografierte Massenbewegungen können derartige unmittelbare Interaktionen ersetzen, da sie beim beobachtenden Bürger eine kinästhetische Empathie hervorrufen.6 Dies traf besonders in der DDR zu, da die Bürger aufgrund ihrer Teilnahme an landesweiten Übungen bereits mit der Choreografie vertraut waren. Somit wurden Massenchoreografien zu einem körperlichen Bestandteil der ostdeutschen Nationalidentität und gleichzeitig zu einem Werkzeug, um ebendiese zu behaupten.
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25.000 Teilnehmer traten bei 19 verschiedenen Massenübungen vor 100.000 Zuschauern auf. Traditionelle Sportvereine, Soldaten, Sportstudenten, Kinder und Vertreter der unterschiedlichsten Berufe, wie Post- und Fabrikarbeiter, präsentierten diese Übungen in Gruppen zu je 500 und kamen in einer Abschlussszene von 12.000 zusammen, in der sie geometrische Muster und menschliche Pyramiden bildeten. Zusätzlich entrollten 12.000 Bürger auf der Osttribüne verschiedenfarbige Stofffahnen, um propagandistische Bilder und Wahlsprüche wie »Ehre die DDR«, »Schätze die Arbeit« oder »Einigkeit und Frieden« als Hintergrund für all diese Übungen zu bilden. Die Übung war im Vorfeld des Festivals landesweit in Fabriken, Schulen und anderen Einrichtungen geprobt worden (Rodekamp, Sportschau, S. 32).
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Siehe Anderson, Imagined Communities.
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Siehe Foster, Choreographing Empathy, für die historische Entwicklung der Konzepte Empathie und Kinästhetik in Bezug auf Choreografie.
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Mehr als zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist von diesen einstmals so machtvollen Choreografien lediglich ein Haufen hauchdünner verstaubter Kohlepapierdurchschläge in einer vom Verschwinden bedrohten Archiveinrichtung übriggeblieben. Der Zustand dieser Archivbestände ist symptomatisch für den Mangel an historischer Beschäftigung mit dem ostdeutschen Tanz. In meiner Arbeit habe ich mich mehr als zwanzig Jahre lang mit ostdeutscher Tanzgeschichte auseinandergesetzt. Ich habe Material in unbeleuchteten und unbeheizten Lagerräumen und Privatsammlungen aufgespürt, widerstrebende Subjekte interviewt und Archiven nachgespürt, die von der Schließung bedroht und seit der Wiedervereinigung mehrmals umgezogen waren.7 Diese Archive bewahren hauptsächlich Material über die offizielle Tanzkultur auf. Der Großteil des restlichen Materials über ostdeutschen Tanz, wie Dokumente der umfangreichen Amateurtanzszene, der Volkstanzkompanien und des Tanzensembles der Nationalen Volksarmee, ist bruchstückhaft über persönliche Sammlungen verstreut, in ehemals westdeutschen Archiven begraben oder ganz einfach verschwunden.8 Sonstiges Material, das noch existiert, wird im Laufe der
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Dokumente zur ostdeutschen Tanzgeschichte befinden sich zumeist im Tanzarchiv Leipzig, dem Sportmuseum Leipzig und dem Archiv der Akademie der Künste Berlin. Im Jahr 2011 war das Tanzarchiv Leipzig (das einzige ostdeutsche Tanzarchiv) von Restrukturierung bedroht und sollte in die Büchereibestände der Leipziger Universität eingegliedert werden. Außerdem erwähnte der Leiter der Universitätsbibliothek öffentlich, dass er darüber nachdenke, Materialien zu entsorgen, die er für nicht lagernswert erachte. Es ist zum Teil einer internationalen Kampagne zu verdanken, in deren Verlauf Wissenschaftler aus aller Welt an die Sächsische Regierung, die Leipziger Universität und die Leitung des Tanzarchivs appellierten, ihre Pläne noch einmal zu überdenken, dass ein solches Schicksal vermieden werden konnte. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buchs ist das Archiv in seiner Gesamtheit in die Sondersammlung der Bibliothek der Leipziger Universität überführt worden und nun wieder zugänglich.
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Zum Beispiel befindet sich das Material über das Erich-Weinert-Ensemble, das Tanzensemble der Nationalen Volksarmee, nun in einem Lagerhaus des Militärarchivs Freiburg, dem Archiv der Bundeswehr. Es ist weder archiviert noch katalogisiert, und es ist noch nicht einmal klar, welcher Teil des ehemaligen Archivs des Erich-WeinertEnsembles dort gelagert wird. Nach zahlreichen Telefongesprächen sagte mir der Archivar, dass Forscher, die Material sehen wollten, nicht nur in der Lage sein müssten, mit den kalten Temperaturen in dem klimakontrollierten Lagerhaus fertigzuwerden, sondern dass sie auch von einer zweiten Person begleitet werden müssten, da die Beleuchtung automatisch ausgehe und alle paar Minuten neu eingeschaltet werden
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nächsten zehn Jahre mit dem Tod der Kompanieleiter, Choreografen und Teilnehmer verlorengehen. Und damit wird nahezu die gesamte Tanzproduktion einer Nation verschwunden sein. Wenn ich also vom schwindenden Archiv des ostdeutschen Tanzes spreche, meine ich damit nicht nur die komplexe Situation der Archivbestände in Bezug auf offiziellen ostdeutschen Tanz. Ich erinnere damit auch an das Verschwinden von nicht-offiziellem Tanz, an die Unterdrückung oder Fehlinterpretation von choreografischen Praktiken in Ostdeutschland nach dem Fall der Berliner Mauer und an das niemals reflektierte Eindringen des sozialistischen Tanzvokabulars in andere nationale Formen. Einzig und allein die Analyse der Beziehung zwischen all diesen choreografischen Unternehmungen erlaubt ein umfassendes Verständnis vom Tanz in der DDR. Abb. 1: Propagandistische Massenchoreografie auf dem Stadionrasen und den Tribünen, Turn- und Sportfest Osttribüne, Leipzig, 1977.
Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-S0727-121. Foto: Peter Koard.
Hauptzweck dieses Buches ist es, zu untersuchen, wie Tanz in Bezug auf eine nationale Struktur eine Reihe unterschiedlicher Funktionen erfüllen kann. Diese Funktionen reichen von der ideologischen Affirmation bis zum Widerstand ge-
müsse. Wie ich finde, stellt dieser Sachverhalt eine sehr gute Allegorie für den generellen Zustand des Materials über ostdeutschen Tanz dar - nicht beleuchtet, unerwünscht, nachlässig gelagert, unarchiviert, unzugänglich und möglicherweise in ein paar Jahren ganz einfach verschwunden.
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gen nationale Standards auf mehreren Ebenen. Genauso wie die ostdeutsche Regierung den Tanz benutzte, um sozialistische Bürger hervorzubringen, so bedienten sich auch Bürger des konstruktiven Potentials von Choreografie, um kritisch auf die staatliche Macht zu reagieren. Daher vertrete ich nicht die Meinung, dass der Tanz in Ostdeutschland eine einheitliche Rolle und Struktur hatte. Ich möchte vielmehr zeigen, inwiefern unterschiedliche Zustände während der Entwicklung und des Niedergangs nationaler Strukturen spezifische choreografische Entscheidungen erfordern. Daher unterscheiden sich die Kapitel in diesem Buch ganz bewusst sehr stark in Bezug auf ihren Ansatz, ihre Thematik und auf ihre Autorenstimme. Verbunden werden sie durch die Untersuchung choreografischer Praktiken in Ostdeutschland und durch meinen Ansatz zu ihrer Interpretation. Im gesamten Text mache ich meine eigene Position als analysierende Instanz sichtbar, um die Subjektivität meiner analytischen und theoretischen Entscheidungen und meinen allgemeinen Standpunkt gegenüber der beschriebenen Geschichte deutlich zu machen. Dieser Recherche- und Analyseansatz ist von dem geprägt, was Yutian Wong »doubled ethnography«9 nennt. Der Ausdruck bezeichnet die selbstreflexive Beschäftigung des Tanzwissenschaftlers mit choreografischen Praktiken, die der Selbstrepräsentation dienen. Als ostdeutscher Tänzer und Tanzwissenschaftler wurde ich vom sozialistischen Tanz als Subjekt hervorgebracht und musste mich selbst zu dieser Tatsache ins Verhältnis setzen. Das Sichtbarmachen dieser subjektiven Position ist ein politischer Akt, da es analytische Objektivität, theoretische Objektifizierung und die häufig angenommene Vergänglichkeit des Tanzes in Frage stellt.10 Anders gesagt, erlaube ich in jedem Kapitel meiner subjektiven physischen Erfahrung des Studierens, Performens, Zuschauens und Lesens über Tanz in Ostdeutschland in mein Schreiben einzudringen, während ich mich kritisch durch die ostdeutsche Tanzgeschichte bewege.11 Zudem demonstriert meine physische Befasstheit mit dem Archivmaterial, dass meine körperliche Antwort auf die Geschichte keine bloße Reaktion ist, sondern ebenso konstruktiv wie die Geschichte selbst.
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Wong, Choreographing Asian America, S. 5.
10 Jedes Kapitel erfordert eine unterschiedliche Ebene von subjektiver Befasstheit. Zum Beispiel decken die ersten Kapitel Ereignisse vor meiner eigenen Tanzpraxis ab. Daher ist mein Tonfall dort wesentlich stärker akademisch distanziert. Je mehr ich Teil der beschriebenen Geschichte bin, desto mehr werde ich Teil der analytischen Performance. 11 Diese Herangehensweise ist von Susan Fosters bahnbrechendem Aufsatz »An Introduction to Moving Bodies« beeinflusst.
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Mein Hauptanliegen beim Verfassen dieses Buches ist also ein politisches: Durch meine Arbeit an der Historisierung möchte ich die Leser mit einer Tanzkultur vertraut machen, die bislang nicht zur etablierten Tanzgeschichte gehört. Der deutsche Ausdruckstanz vom Beginn des letzten Jahrhunderts bis zu den frühen 1940ern und seine Protagonisten Mary Wigman, Rudolf Laban, Kurt Jooss, Dore Hoyer und Harald Kreutzberg sind Gegenstand zahlreicher historischer Abhandlungen, die dem internationalen Tanzkenner und -wissenschaftler zugänglich sind.13 Über den Tanz in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem über das einflussreiche Tanztheater, existiert ebenfalls eine Fülle akademischer und künstlerischer Publikationen.14 Selbst der zeitgenössische Tanz im wiedervereinigten Deutschland ist in Bezug auf seine Beziehung zu europäischem und weltweitem Tanz ausgiebig analysiert worden.15
12 Das Konzept embodiment wird im Folgenden als »Verkörperung« übersetzt und bezieht sich auf soziale Beziehungen, die sich im Körper abzeichnen, doch zugleich auch auf die Art und Weise, wie Körper diese Beziehungen schaffen und damit die cartesianische Dualität überwinden, indem sie physische Aktion und Bewusstsein im Körper einbetten. Ich verweise durch die Verwendung dieser Terminologie auf die von Elizabeth Grosz vertretene ontologische Richtung der Phänomenologie (Elizabeth Grosz, Volatile Bodies: Toward a Corporeal Feminism, Indiana University Press, Bloomington und Indianapolis 1994. Siehe auch Simon J. Williams und Gillian Bendelow, The Lived Body. Sociological Themes, Embodied Issues, Routledge, London 1998; Bryan Turner, The Body and Society, Sage Publication, London 1999; Nettleton, Sarah und Jonathan Watson,The Body in Everyday Life, Routledge, London 1998; Shilling, Chris, The Body and Social Theory, Sage Publications, London 1993. Vgl. auch Fischer-Lichte, Erika, »Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue literaturwissenschaftliche Kategorie«, in: Fischer-Lichte, Erika, Horn, Christian und Warstat, Mathias (Hrsg.), Verkörperung, Attempo, Tübingen 2001, S. 11-28. 13 Manning, Ecstasy and the Demon; Karina und Kant, Hitler’s Dancers; PartschBergsohn, Modern Dance in Germany and the United States; Partsch-Bergsohn und Bergsohn, The Makers of Modern Dance in Germany; Toepfer, Empire of Ecstacy. 14 Climenhaga, Pina Bausch; Fernandes, Pina Bausch and the Wuppertal Dance Theater. 15 Siegmund, Abwesenheit; Siegmund, William Forsythe; Hardt und Maar, Tanz, Metropole, Provinz; Husemann, Choreographie als kritische Praxis.
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Doch fehlt in der Tanzgeschichte eine umfassende Diskussion des Tanzes in Ostdeutschland.16 Dies überrascht, da eine Untersuchung von ostdeutschem Tanz und Choreografie viel zur gegenwärtigen Diskussion über Verkörperung, Bewegung, Tanz und Choreografie im Bereich der Tanzwissenschaft und verwandter Disziplinen beizutragen hätte. Es handelt sich um einen der wenigen Fälle aus jüngerer Zeit, wo Tanz auf allen Ebenen von künstlerischer Praxis und gesellschaftlichem Diskurs ganz bewusst zur Ausbildung einer eigenen Nationalidentität eingesetzt wurde. Ostdeutscher Tanz und Körperkultur wurden zum Schauplatz des Konflikts zwischen deutscher Kulturtradition und sozialistischen Körperrichtlinien. Dies ereignete sich zunächst nach dem Zweiten Weltkrieg im sowjetisch besetzten Sektor und dann ab 1949 bis zum Mauerfall im Jahr 1989 in der DDR. In Reaktion auf die Kontrolle durch das Ministerium für Staatssicherheit und auf die aufgezwungenen sozialistischen Körperstandards, wurden Tanz und Verkörperung zu wichtigen Werkzeugen für Widerstand und Opposition. Aufgrund seines Vermögens, die Zensur zu umgehen und mehrfache Bedeutungen zu kommunizieren, die über die gesprochene Sprache hinausgingen – und ihr manchmal sogar widersprachen –, wurde vor allem der Tanz zu einer bedeutenden Form des Widerstands. Zwar gibt es auch in anderen Kontexten Beispiele für die Verwendung von Tanz zur Indoktrinierung und als Widerstandform, doch war die ostdeutsche Tanzkultur in ihrem genau abgegrenzten zeitlichen und räumlichen Auftreten und in ihrer Beziehung zur westlichen Tanzgeschichte einzigartig. Ostdeutscher Tanz wurde sowohl strategisch als auch organisch im Verlauf von wenig mehr als vierzig Jahren entwickelt, angefangen im Jahr 1945 und offiziell endend mit der deutschen Wiedervereinigung 1990. Für den Großteil dieser Zeit, von 1961 bis 1989, schottete sich Ostdeutschland von Westeuropa durch eine relativ undurchdringliche Grenze ab, deren Symbol die Berliner Mauer war. Es war vom Westen außerdem durch seine spezifische Funktion als Schauplatz der politi-
16 Der einzige historische Überblick über Tanz in Ostdeutschland wird von Ralf Stabel in Krokodil im Schwanensee vorgenommen. Andere Autoren liefern Informationen über ausgewählte Erscheinungen oder Protagonisten des ostdeutschen Tanzes. Siehe zum Beispiel Heising, Römer und Klotzsche, Der Tanz im »künstlerischen Volksschaffen« der DDR; Weidt und Kant, Auf der großen Straße; Winkler, Der moderne Tanz nach 1945; Winkler, »Ausdruckstanz in der DDR«; Ladopulos, »Die künstlerische und pädagogische Arbeit Hanne Wandtkes in der Tradition des Ausdruckstanzes«; Kühl, Patricio Bunster; und Stabel, Tanz, Palucca!. Es gibt kaum Texte in englischer Sprache, abgesehen von drei Ausnahmen, siehe Kant, »Dance in Exile«; Kant, Was bleibt?; und Cramer, »Warfare over Realism«.
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schen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges isoliert. Aufgrund dieser Isolation auf der einen Seite und ihrer weltweiten Bedeutung auf der anderen, verkörperten ostdeutsche Choreografen und Bürger ihre Nationalkultur auf eine einzigartige Art und Weise. Diese bewusste Produktion einer ostdeutschen Identität begann nicht mit der Gründung der DDR und endete nicht mit dem Fall der Berliner Mauer. Der ostdeutsche Tanz entwickelte sich in Reaktion auf das politische Geschehen nach dem Zweiten Weltkrieg und fuhr auch nach der Wiedervereinigung von 1990 fort, die deutsche Kultur kritisch – oder nostalgisch – zu prägen. Daher habe ich mich entschieden, den Analysezeitraum über die vierzig Jahre des Bestehens der DDR hinaus auf sieben Jahrzehnte auszudehnen. Außerdem weise ich explizit auf das Weiterwirken der ostdeutschen Kultur hin, indem ich spezifisch ostdeutsche Beiträge zum politischen und kulturellen Weltgeschehen aufgreife, die sich nach wie vor erfolgreich dem Verschwinden widersetzen. Die Analyse vom Aufstieg und Fall des ostdeutschen Tanzes und der ostdeutschen Choreografie und ihrer späteren Rolle im gegenwärtigen wiedervereinigten Deutschland wird durch die relativ kurze Zeitspanne der Existenz der DDR und ihre räumliche Begrenztheit erleichtert. Da ich eine bislang verhältnismäßig unerforschte Geschichte skizziere, habe ich mich entschieden, in loser chronologischer Reihenfolge Beispiele für Choreografien der Indoktrinierung und des Widerstands anzuführen. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass chronologische Zeitlichkeit kritisch betrachtet werden muss, da sie immer wieder von herrschenden Gesellschaftsschichten als Mittel zur Historisierung verwendet wurde. Ich vermeide vereinfachende Chronologien, indem ich übersehene Aspekte offizieller Choreografien hervorhebe und mich durch einen genealogischen Ansatz auf vernachlässigte und nicht-offizielle Teile der ostdeutschen Bewegungskultur konzentriere.17 Volkseigene Körper ist somit keine ostdeutsche
17 Siehe Foucault, »Nietzsche, Genealogy, History«. Foucault schlägt Genealogie als eine Methode zur Geschichtsschreibung vor, die die Einzigartigkeit von Ereignissen, Diskontinuität und vernachlässigte Teile der Geschichte heraushebt. Anstatt historische Begebenheiten in einem zusammenhängenden Narrativ zu vereinheitlichen, betont das Konzept der Genealogie Differenzen und Diskontinuitäten und problematisiert seine eigene historisierende Position. Dabei weist Foucault dem Körper eine wichtige Rolle zu, da dieser seinem Verständnis nach von historischen Ereignissen überschrieben und zerstört wird und sogar zum Widerstand fähig ist. Trotz dieser Einsicht betrachtet er Physikalität hauptsächlich als ein passives Behältnis für Ereignisse oder als eine veränderbare Oberfläche, und nicht als konstruktive und schöpferische Kraft. Ich gehe in meiner Anwendung des Genealogie-Begriffs über dieses begrenzte Verständnis hinaus.
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Tanzgeschichte im traditionellen Sinne, die sich auf bahnbrechende Bühnenproduktionen, sozialistische Tanz-erziehung, bedeutende Tanzkompanien und einflussreiche Choreografen konzentriert. Stattdessen handelt es sich um eine historisch-theoretische Analyse von Tanz, Choreografie und Verkörperung in Ostdeutschland – eine Untersuchung darüber, wie diese Organisationsprinzipien soziale und politische Strukturen widerspiegelten und dabei sowohl offizielle als auch oppositionelle Systeme produzierten.
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Es handelt sich also ebenso um ein Buch über Tanz in Ostdeutschland wie um ein kritisches Bekenntnis zum Tanz, zum Tanzen und eine bewusste theoretische Auseinandersetzung mit beiden. Meine Historisierung von ostdeutschem Tanz ist mehr als lediglich eine disziplinäre Untersuchung. Sie ist eine politische Stellungnahme. Ich führe eine weithin unbekannte Geschichte in die offizielle gesamtdeutsche und internationale Tanzwissenschaft ein, wende geeignete Methoden auf jede ihrer Facetten an, die von kollektiven Massentänzen und Bühnenchoreografien bis zu Privatveranstaltungen reichen, und diskutiere disziplinarische Anliegen, die mit diesen Facetten zusammenhängen. Durch diesen Ansatz versuche ich nicht nur, den ostdeutschen Tanz in eine Tanzgeschichte einzufügen, die ansonsten unverändert bestehen würde. Ich will auch Modelle und Standpunkte liefern, die traditionelle Diskurse und Hierarchien in unserem Forschungsbereich und unserer Praxis in Frage stellen. Es geht mir darum, die Bedeutung von Tanz als Mittel zum Verständnis von gesellschaftlichen Strukturen zu unterstreichen. Gleichzeitig will ich den analytischen Prozess denaturalisieren und eine kritische Haltung gegenüber den von mir angewandten Methoden einnehmen, um zu verhindern, dass sie die komplexen Prozesse, die ich analysiere, dominieren. Indem es eine ostdeutsche Tanzgeschichte schreibt, nimmt Volkseigene Körper vor allem eine methodologische Untersuchung von Spuren von Bewegung und Physikalität vor. Aus diesem Grund ist Tanzwissenschaft ein wirkungsvolles Instrumentarium zur Historisierung der größtenteils verschwundenen choreografischen Landschaft Ostdeutschlands. Aufgrund der weitverbreiteten Behauptung, Tanz sei vergänglich, war die Disziplin der Tanzwissenschaft gezwungen, die Phänomene des Verschwindens und der Ungreifbarkeit wiederholt zu problematisieren. Daher stellt die Betrachtung von Tanz und Verkörperung und die Verwendung von methodologischen Ansätzen aus dieser Disziplin ein logisches Mittel dar, um den vergänglichen Status Ostdeutschlands zu thematisieren.
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Ich möchte auch klar in Bezug auf meine Terminologie und Konzepte wie Tanz und Choreografie sein. In unserem Bereich und darüber hinaus gibt es zahlreiche Definitionen von Tanz. Die meisten rücken die ästhetischen und künstlerischen Züge und die performativen oder sozialen Aspekte in den Vordergrund. Als ich Ende der 1980er Jahre meine Laufbahn als Tanzwissenschaftler in Ostdeutschland begann, war einiges an ausbildungsbezogenem und pädagogischem Tanzmaterial verfügbar, jedoch nur eine sehr begrenzte Menge von Literatur über Tanzgeschichte. Daher war ich begeistert, als mir ein antiquarisches Exemplar von Max von Boehns Der Tanz aus dem Jahr 1925 in die Hände fiel. Bald stellte ich fest, dass Boehn den Tanz wie viele seiner Zeitgenossen (u.a. Fritz Böhme, Hans Brandenburg, Rudolf Lammel und Frank Thiess) naturalisiert, indem er den biologischen Ursprung der Form betont.18 Boehn hält sowohl Tiere als auch Menschen für zu rhythmischer Bewegung fähig, die auf Herzschlag, Atem und der Symmetrie von Körpern beruht. Doch er erklärt, dass lediglich Menschen in der Lage seien, diese natürliche rhythmische Bewegung in eine bewusste Anstrengung und eine spielerische Bewegung umzuwandeln.19 Weiterhin naturalisiert Boehn den Tanz, indem er die Möglichkeit der Notation und sogar der der technischen Aspekte des Tanzes verneint.20 Als Kunsthistoriker und Anthropologe benutzt Boehn seine allgemeinen Beobachtungen in Bezug auf den Ursprung und die Spezifizität von Tanz, um dann eine anthropologische Reflexion über Tanz in der nicht-europäischen Welt anzuschließen. Diese Einführung bildet die Grundlage für eine chronologische Narration der fortschreitenden Entwicklung des Tanzes in der westlichen Welt, die mit Boehns pessimistischer Einschätzung von Labans philosophischer Utopie einer neuen Tanzkultur und von den Einflüssen von »Neger«-Tänzen auf Deutschlands Gesellschaftstanzkultur endet.21 Tanz wird somit in den nicht-westlichen oder ursprünglichen Trieb zu tanzen auf der einen Seite und die Entwicklung einer fortschrittlichen westlichen Kunstform auf der anderen Seite eingeteilt. Auch die Arbeit von Curt Sachs, der ich später in meinem ersten Tanzgeschichtskurs an der Theaterhochschule »Hans Otto« begegnete, behielt diese Teilung bei. Sachs erweitert den Begriff Tanz, indem er nicht-europäischen Tanz in eine Narration der westlichen Entwicklung einschließt. Er definiert Tanz als »rhythmische Bewegung, die in keinerlei Beziehung zum Arbeitsmotiv steht«,
18 Brandenburg, Der moderne Tanz; Lammel, Der moderne Tanz; Frank Thiess, Der Tanz als Kunstwerk. 19 Boehn, Der Tanz, S. 9. 20 Ebd., S.25. 21 Ebd., S.129f.
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doch lässt er die Unterscheidung zwischen Tanz und anderen rhythmischen Bewegungen absichtlich offen.22 Trotzdem sieht er den Zweck des Tanzes als Teil einer universellen Bewegung zu einer Einheit mit einer göttlichen Kraft hin. Er versteht ihn somit im Sinne der deutschen Romantik, wie Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz über die Anmut.23 Sachs’ Projekt ist wiederholt für seine eurozentristische, kolonialistische und naturalisierende Haltung kritisiert worden. Dennoch war es für spätere Untersuchungen von großer Bedeutung (zum Beispiel die Arbeit von Marcel Mauss und anderen an den Archives internationales de la danse in Frankreich), da es bühnenferne oder gesellige Formen in das Konzept von Tanz miteinbezog, Tanz als Wissenskultur betonte und somit die Entwicklung der Tanzwissenschaft zu einer akademischen Disziplin anregte. 24 Beide Aspekte – die Kritik an der Definition von Tanz als naturalisierende Form und die Anerkennung seiner Fähigkeit, als Wissenssystem zu funktionieren – sind für meine Sicht auf den Tanz in Ostdeutschland von Bedeutung. Ich verwende eine weiter gefasste Definition von Tanz, die über die ästhetisch oder sozial begründete rhythmische Ausführung von Schritten vor Publikum oder zusammen mit anderen Tänzern hinausgeht. Meine Entscheidung, dieses Buch mit einer Anekdote über meine körperliche Befasstheit mit den Materialien über Massenchoreografien im Sportmuseum zu beginnen, spiegelt diesen erweiterten Tanzbegriff wider. Ein solcher Begriff schließt sowohl meine spontane physische Reaktion auf die Bedrohung der Archivbestände als auch die MassensportÜbungen in die Definition von Tanz mit ein. In diesem Kontext halte ich Susan Fosters Rekonzeptualisierung von Tanz für hilfreich, der ich Anfang der 1990er Jahre als Doktorand an der University of California, Riverside begegnet bin. Foster definiert Training, Technik, Probe, Aufführung und Rezeption allesamt als immanente Teile des Tanzes.25 Der Vorteil dieser Definition ist die Sichtbarkeit von weniger anerkannten Anteilen des Tanzes, wie der körperlichen Arbeit des Tanzens und seiner Disziplin- und Machtstrukturen. Fosters Definition legt auch agency in jeden Aspekt des Tanzens. Dennoch behandelt sie, wie mir letzt-
22 Sachs, World History of the Dance, S.6. 23 Hier dient Anmut als Kontrollmechanismus, der einen Verlust durch Entwicklung anzeigt, der lediglich durch einen vollkommenen Zyklus von Erziehung wiedererlangt werden kann. Gleichzeitig steht er für das Erreichen eines höheren Zustands, in welchem vollkommenes Wissen in Harmonie mit der Natur und dem Göttlichen steht; siehe Kleist, »Über das Marionettentheater«. 24 Für Kritiken aus jüngster Zeit, siehe Foster, Introduction, S.3f; und Savigliano, »Wording Dance and Dancing out there in the World«, S.171. 25 Foster, Reading Dancing.
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endlich klar wurde, trotz ihrer Betonung des Prozesses und der konstruktiven Entscheidungen, Tanz immer noch produktorientiert. Um eine präzisere Betrachtung dieser konstruktiven Entscheidungen zu ermöglichen, habe ich begonnen, in meiner Arbeit zwischen Tanz und Choreografie zu unterscheiden. Das Konzept von Choreografie hat im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Veränderungen durchgemacht.26 Wie im Diskurs der westlichen Tanzgeschichte etabliert, hat der Terminus seinen Ursprung in der Kombination der griechischen Wörter für Tanz und für Schreiben. Raoul Auger Feuillet prägte die Bezeichnung für seine Niederschrift von Tänzen um das Jahr 1700 herum. Seine Tanznotation stellte die Struktur und Gestaltung von Tanz in Beziehung zu Standards und Techniken der gesellschaftlichen Oberschicht dar, doch wurde der Ausdruck später als Bezeichnung für die ursprüngliche Schöpfung von Tanzstücken verwendet. Geleitet von künstlerischer Überlegung und spiritueller Inspiration, schuf der Choreograf Choreografien als Mittel zum Verständnis der Gesellschaft. Die Arrangements von Schritten und Gesten in einem inszenierten Raum zu einem musikalischen oder scheinbar natürlichen Rhythmus dienten in erster Linie dazu, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten.27 Das Material für diese Choreografien wurde neu geschaffen oder auf überraschend neue Art und Weise aus existierenden Tanzschritten und Gesten kombiniert. Um all dies dem Publikum zu präsentieren, musste der ausführende Tänzer ausreichend in der Technik ausgebildet sein, die der Choreograf benutzte, und in der Lage, choreografischen Anweisungen während des Probenprozesses zu folgen.28 Erst mit der Neubetrachtung von Tanz als Beherrschung von Technik gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann sich die westliche Choreografie mit der Bewegung in Natur und körperlicher Arbeit zu beschäftigen. Zahlreiche Folkloreformen hatten dies bereits viel früher getan. Damals begann die Kunstform, mehr zu sein als lediglich eine Darstellung der Gesellschaft. Dadurch dass auch weibliche Choreografen zu arbeiten begannen und Künstler die neuentdeckte Sphäre der Psychologie auslo-
26 Für die jüngste und vollständigste Diskussion über die Entwicklung von Choreografie als Konzept und Begriff, siehe Foster, Choreographing Empathy. 27 Ein Aspekt dieser choreografischen Praxis war auch der Glaube an die gesellschaftsverändernde Funktion von Tanz. So sollte die Ausführung von geordneten und symmetrischen Choreografien auch zur Herstellung von Ordnung innerhalb der Gesellschaft dienen. 28 Für eine genauere Ausführung über die Veränderungen in der Frühzeit der Choreografie, siehe Foster, Choreography and Narrative.
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teten, beeinflusste Choreografie auch ihrerseits die Gesellschaft.29 Die bewusste, doch niemals offen eingestandene Aufnahme von nicht-westlichen oder indigenen Tanztechniken und Strukturen wurde immer noch eher als Produkt des Genies eines Choreografen betrachtet, denn als geschickte Appropriation. Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen Historiker, die Aufnahme von nicht-westlichen und indigenen Formen und Strukturen in das Bewegungsrepertoire und den Prozess der Choreografie nachzuweisen. Diese Anerkennung unterschiedlicher Einflüsse, sowie die Konzentration auf Improvisation, ermöglichten ein Hinterfragen des Standpunktes, dass es einzig und allein das Genie des Choreografen sei, das den Tanz vorwärtstreibe.30 Dank dieser Veränderung verstand man Choreografie nun als einen vielschichtigen Entscheidungsprozess in Bezug auf alle Aspekte von Struktur und Aufführung, und sah sie nicht mehr lediglich als ein Strukturieren von Schritten und Gesten für eine Aufführung an. Der Prozess konnte Gruppenentscheidungen oder individuelle Entscheidungen beinhalten, Rekonstruktion, Wiederaufnahme von traditionellem Material und das Neuarrangieren bestehender Strukturen. Aus diesem Grund war der Begriff der Choreografie außerhalb spezifischer Techniken angesiedelt und somit nicht einmal zwangsläufig an den Tanz gebunden. Diese Art der Definition von Choreografie interessiert mich, da sie das Treffen von Entscheidungen hervorhebt und damit den Entscheidungsträgern agency zuweist. Sie ermöglicht auch die Integration von Bewegungsmaterial, das traditionell nicht als Tanz definiert wurde. Während ich meinen Studenten an der University of Surrey die Genealogie von Choreografie vermittelte, musste ich allerdings feststellen, dass das Problem einer solchen Definition die scheinbare Neutralität des Choreografiebegriffs ist. Denn nicht immer werden seine Bindungen an eine spezifische kulturelle Materialität eingestanden. Wie Michel Foucault zeigte, existiert eine derartige systematische Neutralität nicht, und es ist wichtig, die Möglichkeit anzuerkennen, dass das zeitgenössische Konzept von Choreografie koloniale, postkoloniale und ökonomisch globalisierende Projekte ermöglicht, oder sie zumindest zulässt.31
29 Für eine Beschreibung dieser gewaltigen Veränderung, siehe Tomko, Dancing Class; und Daly, Done into Dance. 30 Savigliano, O’Shea und Novack-Bull gehen alle in ihrer Arbeit genauer auf diese bedeutende Auswirkung auf den Choreografiebegriff ein. 31 Siehe meine eigene Kritik von Choreografie als akademischer Methode, die auf einer Analyse disziplinärer Genealogie beruht, in »Dance Studies in the International Academy«, ebenso wie Saviglianos vergleichbare Kritik in »Worlding Dance and
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Ich begann auch zu verstehen, dass die kritische Umwertung von Ausdruck und Praxis durch den Choreografiebegriff als tanzwissenschaftliche Methode eingesetzt werden musste.32 Foster schlägt vor, Choreografie als Theoretisierung anzuwenden, die es Tanzhistorikern ermöglicht, sowohl historische Spuren von Tänzen als auch ihre eigene Haltung zu diesen Spuren zu einer Choreografie zu konstruieren. Sie schreibt: Sich an Choreografie und Theorie anzunähern bedeutet, einen Raum zu öffnen, in dem das Tanzen und alle körperzentrierten Unternehmungen die gleiche Integrität besitzen wie ihre 33
schriftliche Dokumentation.
Diese politische Strategie versucht, sowohl Tanz als auch Choreografie dem kartesianischen Griff zu entwinden. Ohne die Unterscheidung zwischen dem Geschriebenen und dem Choreografierten aufzuheben, nähert sie Choreografie dem permanenten Bereich des Schreibens und anderer textlicher und künstlerischer Produkte an. Obwohl ein solches Verständnis von Choreografie das Problem des universalisierenden Instruments nicht löst, spricht es zumindest die Problematiken der Vergänglichkeit und des Verschwindens an, die den Tanz seit der Romantik nicht loslassen. Feministische Tanzwissenschaftlerinnen haben den Blick der westlichen Kultur auf den weiblichen Körper häufig als problematisch kritisiert.34 Unter dem Einfluss des kartesianischen Dualismus zwischen Geist und Körper wird der Körper mit Weiblichkeit gleichgesetzt. Tanz als weibliche Kunstform fördert diese naturalisierende Betonung noch. Somit werden Tanz und Choreografie außerhalb des Bereichs der Vernunft verortet und funktionieren auf einer intuitiven und unbewussten Ebene. Sie sind der vergängliche Ausdruck eines essentialisierten Körpers. Wiederholt haben sich Wissenschaftler mit dieser Konzentration auf die Unbeständigkeit des Tanzes beschäftigt. Je nach ihren disziplinären und nationalen Hintergründen geschah dies auf unterschiedliche Art und Weise. Zum
Dancing Out There in the World«, in der sie die Ausweitung von Tanz zu anthropologischen Projekten erforscht. 32 Foster, die die Verwendung von Choreografie als Methode in der Tanzwissenschaft befürwortet, überdachte ihren Standpunkt in Reaktion auf die Kritiken durch Hammergren, mich und Savigliano teilweise neu. Siehe Foster, Choreographing Empathy, S. 5. 33 Foster, Choreographing and Narrative, S. xvi; Foster, Choreographing History. 34 Neben zahlreichen anderen Untersuchungen, siehe die Arbeiten von Daly, Albright, Ness, Foster, Savigliano und Manning.
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Beispiel haben Janet Lansdale an der University of Surrey und Kurt Petermann am Leipziger Tanzarchiv, zwei Wissenschaftler, die die Institutionen, an denen ich studierte und arbeitete, geprägt haben, versucht, Tanz zu verfestigen und ihn in einen fassbaren Gegenstand für Analyse und Aufbewahrung zu verwandeln.35 Foster schlägt vor, Tanz und Choreografie als Wissenssysteme mit anderen Formen des künstlerischen und linguistischen Diskurses gleichzusetzen.36 Sie ist sich voll und ganz bewusst, dass sie nicht dasselbe sind, doch schlägt sie vor, sie als gleich zu behandeln und dabei gleichzeitig ihre Unterschiede zu problematisieren. Dies ist auch mein Ansatz. Indem ich mich in diesem Buch mit unterschiedlichen Beispielen von Indoktrinierung, Widerstand und Diaspora beschäftige, verorte ich agency beständig in bestimmten Körpern, Tänzen und choreografischen Akten und mache meine Position und meine theoretische Herangehensweise in Bezug auf diese vergangenen Körper und ihre Spuren sichtbar.
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In Deutschland lebende Choreografen und moderne Tänzer, von Mary Wigman und Hanya Holm bis hin zu Harald Kreutzberg, Gret Palucca, Jean Weidt, Marianne Vogelsang, Dore Hoyer und Kurt Jooss, waren entscheidende Protagonisten
35 Giersdorf, »Dance Studies in the International Academy«, S. 23-44. 36 Zahlreiche Wissenschaftler aus ihrer eigenen und aus fremden Disziplinen missverstehen Foster. Andrew Hewitt beispielsweise stellt Foster Peggy Phelans themenverwandte Diskussionen über Verschwinden und Performance gegenüber, indem er behauptet, Foster begreife nicht, dass die Tatsache, Tanz als Text zu postulieren, ihn nicht einem geschriebenen Dokument gleichwertig mache (Hewitt, Social Choreography, S. 8f). Interessanterweise verstehen Phelan und Foster beide die Unterschiede zwischen Tanz und Performance und schriftlicher Dokumentation. Da sie jedoch aus unterschiedlichen Disziplinen heraus schreiben, antworten sie in unterschiedlicher Art und Weise auf diese Fragestellung. Phelan, die aus der Perspektive der performance studies schreibt und ursprünglich aus der Literaturwissenschaft kommt, liefert wertvolle Ansätze, um das Verschwinden und die Ontologie des Performance-Ereignisses als vergänglich zu verstehen. Die Choreografin/Tänzerin/Tanzwissenschaftlerin Foster konzentriert sich dagegen auf Strategien, durch die Tanz und seine Erforschung in der Kunst und in der akademischen Welt gestärkt werden können. Ich halte Phelans Ontologie für durchaus hilfreich für meine Diskussion nationalspezifischer Begriffe von Modernität und Performance und die Problematik der Spuren von Nationalität. Dennoch möchte ich die Frage des Verschwindens und ihre Auswirkung auf Tanz und choreografische Entscheidungen betrachten, ohne sie zu fetischisieren.
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der westlichen Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie definierten die deutsche Ausprägung des modernen Tanzes, die in Deutschland und im Ausland vor und während des Zweiten Weltkriegs als Ausdruckstanz bekannt wurde. Nach dem Krieg erlangte der moderne Tanz in Deutschland Aufmerksamkeit durch die Entwicklung des Tanztheaters durch Choreografen wie Pina Bausch, Johann Kresnik, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann und Susanne Linke. Gleichzeitig brachten John Cranko von Stuttgarter Ballett, John Neumeier vom Hamburger Ballett und William Forsythe vom Ballett Frankfurt das westdeutsche Ballett zu weltweiter Anerkennung. Über die gleichzeitigen Entwicklungen im Tanz in Ostdeutschland ist jedoch nur vergleichsweise wenig bekannt. Von der westlichen Welt abgeschnitten, entwickelte sich der Tanz im sozialistischen Deutschland mehr durch seine Beziehung zu sowjetisch dominierten choreografischen Entwicklungen im Ostblock weiter, als durch einen Austausch mit Westdeutschland oder anderen kapitalistischen Ländern. Wenige Tanzproduktionen gastierten an größeren Theatern im Westen, was die Vertrautheit dieses Publikums mit ostdeutschem Tanz entscheidend einschränkte. Selbst wenn westdeutsche Tanzkenner eine Aufführung der Ballettkompanien der Staatsoper Unter den Linden oder des Tanztheaters der Komischen Oper besuchten – was selten genug geschah –, hatten sie damit nur einen äußerst kleinen Teil der ostdeutschen Tanzlandschaft gesehen. Der Großteil des Tanzes wurde in kleinen Theatern oder als Teil von sportlichen und politischen Massenereignissen aufgeführt – oder aber im geselligen Rahmen von Amateurkompanien, Volkstanzkompanien und Jugend- und Kindertanzensembles.37 Der ostdeutsche Staat war seiner Selbstdefinition nach eine Diktatur des Proletariats. Dies zeigte sich nicht nur eindeutig in der Regierungspolitik, sondern auch in der Beziehung des Staates zum Tanz. Nach dem Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee besetzt und (in Folge des Potsdamer Abkommens von 1945) zur Sowjetischen Besatzungszone umgewandelt, entnazifizierte Ostdeutschland zum Zeitpunkt seines Neubeginns die politische, intellektuelle und kulturelle Elite und erklärte sich selbst als antifaschistisch. Die 1949 erfolgte Gründung der DDR auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone war eine unmittelbare Auswirkung der Anfangsphase des Kalten Krieges. Der ostdeutsche Staat bildete
37 Als Ostdeutschland 1990 mit Westdeutschland wiedervereinigt wurde, verschwanden mit dem Verlust der Förderung durch den sozialistischen Staat die meisten dieser tänzerischen Betätigungsfelder. Nur einige wenige Kompanien an größeren Theatern waren in der Lage zu überleben. Sie führten jedoch nur einen geringen Teil des ostdeutschen Repertoires auf.
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die sowjetischen Regierungs- und Gesellschaftsstrukturen nach, und damit auch die autoritäre Führerschaft einer kommunistischen Partei. Die Etablierung des Sozialismus in der DDR vollzog sich in den 1950er Jahren. In den 1960er Jahren erlebte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die Stabilisierung ihrer politischen und wirtschaftlichen Führungsrolle. Der Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 setzte der Abwanderung hochqualifizierter Bürger, darunter Wissenschaftler, Lehrer und Akademiker (mehr als zwei Millionen, ein Fünftel der erwerbstätigen Bevölkerung) ein wirksames Ende, während die Einführung der 1963 neugeschaffenen Zentralen Planungsbehörde zu zeitweiligem wirtschaftlichen Erfolg führte.38 Wenig später belegte die DDR den zwölften Platz unter den Industriemächten der Welt.39 Die Parteitage der SED in den späten 1940er und 1950er Jahren zelebrierten sozialistische Entwicklungen und kündigten den Bürgern den Plan der Partei für die kommenden Jahre an. Diese Parteitage brachten die DDR und ihre Errungenschaften nun auch in einen internationalen Kontext.40 In Folge ihrer wirtschaftlichen Leistun-
38 Die DDR plante ihre Wirtschaft stets zentral. Der erste Zwei-Jahres-Plan wurde 1949 eingeführt. Hauptziel dieses Plans war es, die industrielle Produktion zu steigern und die Bürger mit Konsumgütern zu versorgen. Der Plan rief auch zu umfangreichen Reparationszahlungen an die UdSSR auf. Auf diesen Wirtschaftsplan folgte 1951 der erste Fünf-Jahres-Plan. Dieser Plan hatte weiterreichende Ziele. Die DDR arbeitete daran, eine industrielle Basis in Form selbstproduzierter Rohstoffe wie Eisen, Stahl, Energie und grundlegenden chemischen Materialien zu entwickeln, worunter die Versorgung mit Konsumgütern enorm zu leiden hatte. Die beiden folgenden Fünf-Jahresund Sieben-Jahres-Pläne versuchten, dieses Missverhältnis zwischen industrieller Grundproduktion und der Produktion von Konsumgütern zu beheben. 39 Obwohl diese Statistik von einigen Wissenschaftlern als Propagandamythos angezweifelt wurde, war das Anwachsen der Industrieproduktion in der DDR bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass, anders als in Westdeutschland, der Großteil ihrer Industrie demontiert worden war, um Reparationen an die Sowjetunion zu zahlen. 40 Die SED wurde 1946 bei ihrem ersten Parteitag gegründet. Der fünfte Parteitag im Jahr 1958 gab die »Zehn Gebote der sozialistischen Moral« heraus, die die Bürger der DDR dazu anhielten, als ideologiebewusste sozialistische Individuen zu leben, für ihr Land zu kämpfen, die heterosexuelle Familie zu ehren und Solidarität mit den Entwicklungsländern an den Tag zu legen. Mit seiner Erklärung der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Produktion von Konsumgütern nach der sonstigen Industrieproduktion ausrichtete und danach strebte, den Lebensstandard in der DDR zu heben, hatte der achte Parteitag von 1971 die stärksten Auswirkungen. Der letzte Parteitag fand einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer im Dezember 1989
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gen richtete die Regierung nunmehr ihre Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Bereiche, die außerhalb der Produktion lagen. Sie setzte ihre Anstrengungen fort, eine eigenständige ostdeutsche Nationalkultur zu schaffen. Dies war besonders wichtig, da sie die DDR international als einen Staat etablieren wollte, der sich deutlich von Westdeutschland unterschied. Der Tanz nahm im ostdeutschen Prozess der Nationenbildung eine umstrittene Position ein. Als eine Kunstform, die nicht auf gesprochener oder geschriebener Sprache aufbaute, wurde er als vieldeutig und somit als nicht unbedingt für die didaktische Propaganda geeignet betrachtet. Dennoch wurde er zu einem besonderen Anliegen der DDR-Regierung, da er in zahlreiche Ebenen des sozialen Lebens hineinreichte. Tanz war nicht nur in Industrie- und Verwaltungszentren wie Berlin, Leipzig und Dresden zu finden. Jede mittelgroße Stadt in Ostdeutschland hatte ihr eigenes Theater oder Opernhaus, und diese Häuser verfügten häufig über voneinander unabhängige Theater-, Opern und Ballettkompanien. Die DDR unterhielt 75 dieser Vielspartentheater für ihre 16 Millionen Bürger. Am wichtigsten war jedoch die Tatsache, dass Tanz ebenfalls in geselligem Rahmen und von Amateurtanzgruppen aufgeführt wurde. Die Regierung förderte zahlreiche Amateurtheater und Tanzkompanien, die an Fabriken, Organisationen und Universitäten im ganzen Land angeschlossen waren, um die schöpferische Fähigkeit der arbeitenden Bürger zu demonstrieren. Wie ich in Kapitel 1 zeige, folgten diese Kompanien dem Beispiel mehrerer semiprofessioneller staatlicher Volkstanzkompanien wie dem Tanzensemble der Nationalen Volksarmee. Um zu zeigen, dass Tanz sowohl ein Symptom sozialistischer Wirklichkeit als auch eine ästhetische Praxis ist, hinterfragt Kapitel 1 die verbreitete Ansicht, der sozialistische Tanz sei statisch. Es enthüllt, wie sich die Sozialismus-Definitionen der ostdeutschen Regierung veränderten, und wie sich mit diesen politischen Strukturen ebenfalls die künstlerischen Äußerungen wandelten. Der choreografische Inhalt und das Bewegungsvokabular von Tanzkompanien wurden auf nationalen Tanzkonferenzen definiert. So wurde zum Beispiel bei der Theoretischen Tanzkonferenz von 1953 beschlossen, dass Formalismus (ein sozialistisches Codewort für Moderne) die sozialistische Tanzproduktion hemme. Daraufhin entschied man, dass sozialistischer Realismus die Form und den Inhalt jeglicher Tanzproduktion bestimmen sollte. Die Konferenz legte strenge Richtlinien für Tanzvokabular, den Inhalt von Choreografien, Tanzausbildung, Tanzforschung und Tanzkritik fest. In späteren Jahren konzentrierten sich andere derartige Konferenzen auf spezifische Bereiche der Tanzproduktion,
statt. Während dieser Zusammenkunft benannte sich die SED in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) um.
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wie Kindertanz, Volkstanz, Erwachsenenqualifizierung, Gesellschaftstanz und Laientanz.41 Die stärkste Auswirkung auf alle Kunstrichtungen – nicht nur den Tanz – hatten jedoch die beiden staatlichen Kulturkonferenzen im Bitterfelder Chemiekombinat. Die erste Konferenz von 1959 war die entscheidende Kulturkonferenz in der Geschichte der DDR, die bis heute gleichermaßen berühmt und berüchtigt ist. In ihrem Verlauf erklärte die Regierung, dass sich jede Kunst auf das Leben der Arbeiterklasse zu konzentrieren habe. Künstlern wurde verordnet, durch aktive Teilnahme an Fabrikarbeit und landwirtschaftlicher Produktion Erfahrungen mit den Bedingungen körperlicher Arbeit zu sammeln. So sollten sie in die Lage versetzt werden, darüber zu schreiben, zu choreografieren oder zu malen. Gleichzeitig verfügte die ostdeutsche Regierung, dass die Arbeiterklasse zur künstlerischen Produktion beitragen und an ihr teilhaben sollte. Dies wiederholte frühere Entwicklungen in der Sowjetunion. Die zweite Konferenz von 1964 – drei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer – forderte zu einer erneuten Anstrengung zur Schaffung einer ostdeutschen Nationalkultur auf. Choreografen, Tanzpädagogen, Leiter von Tanzkompanien und Tänzer hatten sich während des gesamten Bestehens der DDR konform mit diesen nationalen Richtlinien zu verhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren anfänglich zahlreiche Tanzpädagogen, Choreografen und Tänzer in der Lage gewesen, dort weiterzuarbeiten, wo sie vor dem Krieg tätig waren. Der Tanz wurde während des Entnazifizierungsprozesses nahezu übersehen. In allen vier besetzen Sektoren wurden Künstler für einen schnellen Neubeginn der Produktion gebraucht.42 Mary Wigman zum Beispiel hatte seit 1942 in Leipzig unterrichtet, nachdem sie gezwungen worden war, ihre Schule in Dresden zu schließen. Nach dem Krieg unterrichtete sie weiterhin in der Tanzabteilung des Leipziger Konservatoriums für Musik und choreografierte schließlich sogar für die Leipziger Oper. Dresden und Leipzig, die über berühmte Ballettkompanien und etablierte Tanzschulen verfügten, wurden zu Zentren des Nachkriegstanzes in Ostdeutschland, denen nur Ostberlin an Bedeutung überlegen war.
41 Heising, Römer und Klotzsche, Der Tanz im »künstlerischen Volksschaffen« der DDR, S. 142-153. Wenn ich mich direkt auf historische Quellen aus der DDR beziehe, übernehme ich den damals verbreiteten Begriff »Laientanz«. Ansonsten verwende ich in diesem Text die heute gebräuchliche Bezeichnung »Amateurtanz«. 42 Siehe Kant, Hitler’s Dancers, wie auch ihre Studie »Was bleibt?«.
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Abb. 2: Sozialistischer Realismus und Tanz: Umschlag des Konferenzberichts der staatlich geförderten theoretischen Konferenz über Tanzkunst, Berlin, 1953. Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, HA Künstlerischer Nachwuchs und Lehranstalten, 1953.
Quelle: Universitätsbibliothek Leipzig, TAL.
Wigman war während der frühen Nazizeit eine der Schlüsselfiguren im Tanz gewesen. Sie war erst später vom Propagandaministerium zensiert worden, weil sie nicht gewillt war, ihr Vokabular an die damals übliche Kriegspropaganda anzupassen.43 Trotz ihrer choreografischen Arbeit für nationalsozialistische Massenereignisse, wie die Olympischen Spiele von 1936, und der engen Beziehung ihrer choreografischen Philosophie zur Naziideologie, erhielt Wigman, zusammen mit zahlreichen anderen wichtigen Figuren aus dem Tanz, von den Besatzungs-
43 Für eine umfangreiche Dokumentation über Wigmans Zusammenarbeit mit der NaziRegierung, siehe Manning, Ecstasy and the Demon; und Karina und Kant, Hitler’s Dancers.
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mächten nach dem Krieg den Persilschein, der nicht nur ihre Nicht-Beteiligung bestätigte, sondern sie sogar nachweislich als Opfer des Hitler-Regimes anerkannte. Sie wurde entlastet, da ihr künstlerischer Status für die sowjetische Besatzungsmacht und für die ostdeutschen Funktionäre, die mit einer klar definierten Strategie zur Schaffung einer neuen sozialistischen deutschen Kultur aus dem Exil in der Sowjetunion zurückkehrten, zu bedeutend war. Daher war Wigman im März 1947 in der Lage, ihre berühmte Choreografie von Glucks Orpheus und Eurydike an der Leipziger Oper zu zeigen. Abb. 3: Mary Wigmans Orpheus und Eurydike, Leipziger Oper, 1947.
Quelle: Universitätsbibliothek Leipzig, TAL.
Die Choreografie griff Wigmans bekannte Fragestellungen zu den Beziehungen zwischen Gruppe und Anführer und die Verwendung von Bewegungschören wieder auf. Um starke, scheinbar universelle Charaktere zu schaffen, verließ sich Wigman in dieser Produktion ebenfalls auf ihr Markenzeichen, das Pathos. Nach dem Krieg hatte die Choreografin jedoch oft darüber nachgedacht, Sachsen den Rücken zukehren, da sie sich in der stärker kosmopolitischen Metropole Berlin niederlassen wollte. Trotz des Erfolges von Orpheus und Eurydike verließ sie Ostdeutschland wenig später und zog in den von den Alliierten besetzten Teil Berlins. Bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 1973 unterrichtete sie dort eine einflussreiche Generation westdeutscher Choreografen und Tänzer. Die stärker klassisch ausgebildete Choreografin Tatjana Gsovky sah sich einer anderen Entscheidung gegenüber. 1945 wurde sie zur Leiterin der Ballettkompanie an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin ernannt. Sehr früh und
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mit erstaunlicher Schnelligkeit choreografierte sie mehrere Klassiker des Ballettrepertoires wie Romeo und Julia, Aschenbrödel, Dornröschen, Der Feuervogel und Don Quixote. Trotz des Erfolgs ihrer Choreografien, und obwohl sich das Staatsballett als eine der führenden Kompanien in Ostdeutschland etablierte, sah sich Gsovsky zunehmender Zensur durch die Kulturfunktionäre ausgesetzt. Wegen ihres Bewegungsvokabulars, das Balletttechnik mit Ausdruckstanz kombinierte, wurde ihr Formalismus vorgeworfen. Gsovskys Ballette waren kontrovers, da jegliche Untersuchung formaler Belange oder jegliche modernistische Aufmerksamkeit für das Material und die Struktur der künstlerischen Produktion als reaktionär betrachtet und schließlich verboten wurde. Lediglich die Auseinandersetzung mit kollektiver Erfahrung in der sozialistischen Gesellschaft wurde als angemessener sozialistisch-realistischer Ausdruck angesehen. Um dem politischen Druck und der Zensur zu entgehen, verließ Gsovsky 1950 Ostberlin und ließ sich mit großem Erfolg in Westberlin nieder.
Abb. 4: Jean Weidts Das Opfer, Volksbühne Berlin, 1961.
Quelle: Universitätsbibliothek Leipzig, TAL, Foto: Karl Deutscher.
Die Choreografen und Tänzer, die sich bewusst dafür entschieden, in dem neugegründeten Staat zu bleiben, hatten mit ständiger Zensur, Einmischung und Verbot zu kämpfen. Der »rote Tänzer« Jean Weidt war einer der wenigen Tanzkünstler, der während der Nazizeit aus Deutschland emigrierte. Wegen seiner Sympathie für den Kommunismus ging er zunächst nach Frankreich und dann in die Sowjetunion. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland musste er sich ständig
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gegen ostdeutsche Funktionäre verteidigen, obwohl er ganz eindeutig politisch links stand. Weidt gründete das Dramatische Ballett, eine Kompanie, die Mitgliedern der Arbeiterklasse Zugang zu Ballett und moderner Tanzausbildung verschaffen sollte. Doch ohne Vorwarnung entfernte ihn die ostdeutsche Regierung aus seiner eigenen Kompanie und wandelte sie in ein Volkstanzensemble um. Die radikale Aufwertung des Volkstanzvokabulars war eine der beherrschenden politischen und choreografischen Devisen, durch die der moderne Tanz von den ostdeutschen Bühnen verdrängt wurde. Die Regierung bevorzugte sowjetisch beeinflusstes Ballett und Volkstanz als Werkzeuge sozialistischrealistischer Repräsentation und unterdrückte den Ausdruckstanz mit der Begründung, er sei zu individualistisch und formalistisch. Eine andere moderne Tänzerin, Gret Palucca, hatte ebenfalls mit der Einmischung der Regierung zu kämpfen. Allerdings war Palucca für ihre Fähigkeit bekannt, sich derartigen Eingriffen zu entziehen. Als eine der Protagonistinnen des Ausdruckstanzes hatte sie 1936 ein Solo bei der Eröffnung der Olympischen Spiele getanzt. Obwohl sie wegen ihrer teilweise jüdischen Abstammung ihre Schule schließen musste, war sie die einzige moderne Tänzerin, die während des gesamten Krieges ihre Soloarbeiten aufführen konnte. Ihre Karriere in Ostdeutschland beweist, dass sie in der Lage war, auch die Zwänge des sozialistischen Regimes zu umgehen. Mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsstreitkräfte, die in Palucca eine wertvolle Pädagogin und Kulturfunktionärin sahen, eröffnete sie unverzüglich – im Juli 1945 – ihre Schule im ausgebombten Dresden wieder. Außerdem hatte sie ihr gesamtes Leben lang einflussreiche Positionen in der Verwaltungsstruktur der DDR-Kulturpolitik inne. Berühmt für ihre technische Meisterschaft und ihre abstrakten Choreografien, die Stimmungen und Ausdrücke erforschten, formulierte Palucca niemals eine Technik oder Pädagogik. Dennoch beeinflusste sie dank ihrer Beharrlichkeit, ihren eigenen choreografischen Ansatz zu unterrichten, mehrere Generationen von ostdeutschen Tänzern und Choreografen. Paluccas Erfolg und Ruhm verliehen ihr und ihrer Schule teilweise Immunität gegenüber der Zensur. Doch sogar sie musste im Laufe ihrer Karriere in der DDR ihr auf dem Ausdruckstanz beruhendes Vokabular und ihren Unterricht mehrfach rechtfertigen. 44 Genau wie in den 1930er und 1940er Jahren in der Sowjetunion, kam es in den 1950er und 1960er Jahren in der DDR zu einer bewussten Abkehr vom modernen Tanz zu Gunsten eines Ballettrepertoires und der Schaffung einer auf Ballett beruhenden Tanzausbildung. Doch sogar Ballette mussten zeigen, dass sie zumindest den Versuch unternahmen, Bewegungen einfließen zu lassen, die
44 Stabel, Tanz, Palucca!.
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von Volkstänzen abgeleitet waren. Neuinszenierungen von sowjetschen Importen wie Die Quelle von Bakchiserai, Die steinerne Blume, Gajaneh, Die Flammen von Paris und Scheherazade lieferten die notwendigen Vorbilder für die Produktion neuer sozialistischer Ballette. Neue Odyssee, 1957 choreografiert von Lilo Gruber (Gsovskys Nachfolgerin an der Berliner Staatsoper Unter den Linden), wurde zu einem häufig nachinszenierten Paradigma für die ostdeutsche Kombination von Ballettvokabular und Volkstanzmaterial im Dienste eines zeitgenössisch-sozialistischen Narrativs. Die Handlung beruht lose auf Homers Odyssee. Allerdings sind die Versuchungen, denen der Protagonist dieses Balletts auf seiner Reise widerstehen muss, vom Kapitalismus beeinflusste Elemente, die auf dem Weg zum Sozialismus überwunden werden müssen. Im Verlauf seiner Rückreise in die Heimat, wo seine Frau auf ihn wartet, wehrt der Ehemann Prostituierte und Diebe ab, kämpft sich durch primitive Tanzkneipen mit Jazzmusik und bietet Schwarzmarkthändlern die Stirn. Die eindeutigen Anspielungen auf den kapitalistischen deutschen Staat im Westen entgingen dem Publikum nicht. Funktionäre feierten die Produktion als das erste wirkliche ostdeutsche Ballett. Diese politische Unterstützung legte das Fundament für die triumphale Reise des Balletts durch zahlreiche ostdeutsche Theater. Es etablierte Gruber außerdem als eine der führenden Choreografinnen des Landes.
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Abb. 5: Gret Palucca unterrichtet Schülerinnen an der Palucca Schule, Dresden, 1982.
Quelle: Deutsche Fotothek. Foto: Erich Höhne.
Anders als allgemein angenommen, führte die Errichtung der Berliner Mauer in einer Nacht- und Nebelaktion im Jahre 1961 zu einer kurzzeitigen Unterbrechung der rigiden Regierungskontrolle aller Aspekte des Lebens in der DDR. Sie erlaubte Künstlern einen etwas kritischeren Umgang mit sozialistischen Strukturen. Durch die Abriegelung seiner Grenze nach Westen brachte der ostdeutsche Staat die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften, darunter auch viele Tänzer, zum Stillstand. Allerdings war die liberalere Atmosphäre nur von kurzer Dauer. Zwei Jahre später erneuerte die Regierung ihre strengen Richtlinien für künstlerische Produktion. Auf dem nunmehr eingegrenzten ostdeutschen Staatsgebiet führte sie nicht nur die Zensur ein, sondern auch eine unmittelbare staatliche Zuständigkeit für die professionellen Institutionen und Ausbildungseinrichtungen sowie für die Laienbewegung. Somit veränderten und definierten die neu errichtete Mauer und die gesicherten Grenzen die künstlerische Landschaft der DDR für die verbleibenden 28 Jahre ihres Bestehens.
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Die Regierung wollte der internationalen Tanzwelt demonstrieren, dass ostdeutsche Ballettkompanien in der Lage waren, das Ballettvokabular auf fortgeschrittener Ebene zu beherrschen. Um Klassiker wie Schwanensee oder Aschenbrödel zu inszenieren, benötigten die Kompanien unbedingt gut ausgebildete Tänzer. Daher wurden alle drei staatlich geförderten Tanzakademien in Dresden, Leipzig und Ostberlin aufgerufen, ihre Ausbildung auf Ballett zu konzentrieren. Agrippina Waganowas Methode wurde zum einflussreichen Vorbild für die Tanzausbildung in Ostdeutschland. Sowjetische Lehrer wurden importiert, um die korrekte Übernahme ihres Ansatzes sicherzustellen. Die Staatliche Ballettschule Berlin ging als die vorherrschende Institution für diese Tanzausbildung auf Ballettgrundlage hervor. Martin Puttke, bis zum Mauerfall Leiter der Schule, erforschte die Beziehung zwischen der anatomischen Einzigartigkeit jedes Individuums und der Balletttechnik und entwickelte so eine eigenständige Pädagogik für die Ballettausbildung. Er wurde auch zum Mit-Herausgeber (mit Werner Gommlich) der Übersetzungen von Nikolai Tarassows Klassischer Tanz. Die Schule des Tänzers und Nikolai Serebrenikows Pas de deux im klassischen Tanz. Diese Veröffentlichungen, das sowjetische Training und Puttkes Methoden ermöglichten es der Balletttechnik in der DDR, einen hohen Standard zu erreichen. In den 1970er und 1980er Jahren erhielten ostdeutsche Tänzer schließlich die langersehnte Anerkennung durch Medaillen und Preise bei Ballettwettbewerben in Osaka, Helsinki, Varna, Tokio, Moskau und Lausanne.45 Dresden blieb die einzige staatliche Schule, an der Ausdruckstanz, später in »Neuer Künstlerischer Tanz« umbenannt, als Lehrmethode überleben konnte, da keine andere Schule über das Äquivalent einer Palucca verfügte. Die Kombination von strengem Balletttraining mit choreografischen und improvisatorischen Techniken auf Ausdruckstanzbasis brachte kreative und technisch versierte Choreografen hervor, die die Tanzlandschaft in der DDR und später auch im vereinigten Deutschland bestimmen sollten. Ein anderer dominanter Einfluss auf den ostdeutschen Tanz war Tom Schilling. Schilling, der seine größten Erfolge in den 1970er Jahren feierte, war klassisch ausgebildet, hatte jedoch ebenfalls Ausdruckstanz mit Dore Hoyer und Mary Wigman trainiert. Er wurde der Protégé von Walter Felsenstein, dem künstlerischen Leiter der Komischen Oper Berlin. Obwohl Schilling meisterhaft Ballettvokabular einsetzte, wandte er sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Erzählung und Charakterzeichnung in seinen unterschiedlichen Choreografien auch anderen Bewegungssystemen zu. Dieser Zugang erlaubte stärker formale Untersuchungen, sowohl auf dem Gebiet des Bewegungsvokabulars als auch auf
45 Müller, Stabel und Stöckelmann, Krokodil im Schwanensee, S. 249.
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dem der Choreografie. Das Ergebnis waren einzigartige Werke, die Ballett und Tanz in Ostdeutschland für nahezu zwei Jahrzehnte prägten. Wie in Kapitel 2 dargestellt wird, betrachtete Schilling die Entwicklung neuer choreografischer Formen als Möglichkeit, um das sowjetische Modell des vom Inhalt getragenen »Revolutionsballetts« neu zu überdenken, und um Folklore und anderes ballettfremde Vokabular in seine sozialistisch-realistischen Ballette aufzunehmen. Kapitel 2 versucht, die kunstgeschichtlichen Diskurse zu widerlegen, die den sozialistischen Realismus als ein statisches, historisch und politisch konkretes Paradigma der universellen und apolitischen Ästhetik der Moderne gegenüberstellen. Zu diesem Zweck untersucht es Schillings sich verändernde Interpretationen des sozialistischen Realismus im Bühnentanz. In Kombination mit der von komplexen dramatischen Narrativen bewirkten Abstraktion brachten die technischen Anforderungen von Schillings Werken leistungsfähige Tänzer wie Jutta Deutschland, Hannelore Bey, Roland Gawlik, Thomas Vollmer und Gregor Seyffert hervor. Die Entwicklungen an der Komischen Oper und der Staatsoper Unter den Linden in Berlin wurden durch starke Produktionen an der Oper Leipzig und an der schließlich wiederaufgebauten Semperoper in Dresden ergänzt. Zu Beginn der 1980er Jahre zwang eine Knappheit des aus der Sowjetunion importierten Öls die DDR dazu, ihre Braunkohleproduktion anzukurbeln, um die Bedürfnisse ihrer Industrie zu decken. Die daraus resultierende Umweltbelastung führte zu einer anwachsenden Untergrundbewegung für Umweltschutz. Diese Bewegung verschmolz vor allem innerhalb der jüngeren Generation mit einer bereits existierenden Friedensbewegung, die sich nicht mehr mit dem sozialistischen Staat identifizierte. Starke Soloaufführungen, die neue choreografische Ansätze erprobten, spiegelten diese Opposition wider. Da die Anzahl der Tänzer, die bei solchen Ereignissen auftraten und die Anzahl der Zuschauer, die ihnen beiwohnten, geringer waren, wurden sie häufig von der offiziellen Zensur nicht registriert oder zumindest toleriert. Fine Kwiatkowskis Solo-Kunstperformances lieferten in den 1980er Jahren die einzigartige Verkörperung einer Kritik an staatlich sanktionierter Kunst und Gender-Strukturen. Mit ihrem kahlrasierten Kopf und ihrem oftmals bemalten Körper trat die Tänzerin in improvisierten Choreografien in Interaktion mit zeitgenössischer Skulptur und Musik und schuf so einen postmodernen Tanzansatz in einem Land, das noch nicht einmal die Moderne erschöpfend erforscht hatte. Arila Siegert trug durch die Gründung der ersten professionellen Solotanzkompanie, eine bewusste Übernahme des Ausdruckstanz-Vokabulars und ein Neudenken von Tanzproduktion zum künstlerischen Widerstand in Ostdeutschland bei. Kapitel 3 verortet diese beiden theatralischen Choreografien des Wider-
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stands in Beziehung zum Widerstand durch choreografierte Alltagsbewegungen in der DDR. Ich analysiere einen scheinbar isolierten Performanceakt, um auf die häufig unterschätzten Verbindungen zwischen ästhetischen und politischen Entscheidungen hinzuweisen und um den körperlichen Widerstand aufzuzeigen, der sich sogar im Privatleben entfaltete. In den 1980er Jahren begann auch die umfangreiche Amateur-Tanzszene die Regierungsdoktrin in Frage zu stellen, die Vokabular auf Folklorebasis und revolutionäre Narrative einforderte, die den Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus in Ostdeutschland oder im Ausland darstellen sollten. Zahlreiche Choreografen, die heute immer noch erfolgreich in Deutschland arbeiten, experimentierten anfänglich innerhalb dieser Kompanien mit neuen Formen, neuem Bewegungsvokabular und neuen Inhalten. So begann zum Beispiel Jo Fabian, der Gewinner des renommierten deutschen Produzentenpreises für Choreografie im Jahre 1999, seine einzigartige Untersuchung von Bewegungs- und Sprachsystemen in den 1980er Jahren mit dem Studententheater »Louis Fürnberg« der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Wie ich in Kapitel 4 erkläre, standen seine formalistischen Untersuchungen von Raumkomposition und abstrahierten Alltagsbewegungen in unmittelbarem Widerspruch zur Doktrin des sozialistischen Realismus, nach der Tanz, Bewegung und Choreografie niemals vom Narrativen und von der Botschaft losgelöst existieren konnten. Im Gegensatz zu dieser Doktrin wies Fabian dem sich bewegenden Körper agency zu, indem er ihn von Narration und theatraler Charaktergestaltung befreite. Dennoch waren die Körper seiner Tänzer mit Geschichte und Gesellschaft befasst, indem sie auf ironische Art und Weise bedeutende Ereignisse wie die deutsche Wiedervereinigung von 1990 nachahmten. Kapitel 4 stellt Fabians ästhetische Strategie der Darstellung des ostdeutschen Proletarieralltags durch die westdeutsche Choreografin Sasha Waltz gegenüber. Das Kapitel setzt diese beiden Theateransätze in Beziehung zur politischen Realität und der bewussten Choreografie von Alltagsbewegung durch die ostdeutschen Bürger, die am Morgen des 10. November 1989 die Berliner Mauer durchschritten. Außerdem verknüpfe ich Fabians und Waltz’ Arbeiten und den Mauerfall mit einer Nachinszenierung dieses Ereignisses durch die deutsch-türkische Choreografin Nejla Yatkin 2009 in New York City. Auch andere Amateurtanzgruppen versuchten, sich von der Doktrin des Folklore-Bewegungsvokabulars zu entfernen, indem sie das Vokabular des modernen deutschen Tanzes wiederbelebten. Zum Beispiel verwendeten das Tanztheater der Deutschen Post und die Tanzbühne Leipzig, das studentische Tanzensemble der Universität Leipzig – typische Beispiele für die in Ostdeutschland übliche staatliche Förderung von Amateurtanzkompanien –, ein Bewegungssystem, das von Patricio Bunster entwickelt worden war. Bunster un-
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terrichtete über zehn Jahre lang modernen Tanz in der DDR. Er war in Chile von eingewanderten Mitgliedern von Kurt Jooss’ Kompanie ausgebildet worden und wurde 1954 Solist und gleichzeitig Chefchoreograf des Chilenischen Nationalballetts, bis er 1973 wegen Augusto Pinochets Putsch nach Ostdeutschland emigrierte. Bunster schuf ein einzigartiges Bewegungsvokabular, das Kurt Jooss’ und Sigurd Leeders Methode mit chilenischem Volkstanz vermischte. Während seines Aufenthalts in Ostdeutschland von 1973 bis 1985 unterrichtete Bunster an mehreren Tanzschulen. Seine Schüler wurden zu einflussreichen Tänzern, Pädagogen und Choreografen in der DDR, und nach 1990 im vereinigten Deutschland. Nach seiner Rückkehr nach Chile im Jahr 1985 setzte Bunster seine Arbeit mit dem Ausdruckstanzvokabular am Espiral Tanzzentrum fort, das er gemeinsam mit Joan Turner an der Universidad Academia de Humanismo Cristiano gründete. Kapitel 5 untersucht das komplexe Netzwerk von Diaspora und Migration der kulturellen Produktion Ostdeutschlands als einen Ort für utopische Visionen und regionale und globale Kritik. Meine abschließende Analyse ostdeutscher Beiträge zur weltweiten Kulturproduktion vermittelt dem Leser einen kurzen Eindruck von der möglichen Auswirkung des ostdeutschen Nationalkörpers auf den gegenwärtigen weltweiten Kulturaustausch.
Abb. 6: Geschlossene Gesellschaft, choreografiert von Silvia Zygouris, mit Elke Hunstock, Katrin Filipic, Wolfgang Maas und Jens Richard Giersdorf, Tanz-bühne Leipzig, 1988.
Quelle: Tanzbühne Leipzig.
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Amateurtanzkompanien in Ostdeutschland belebten einige der frühen deutschen Traditionen des modernen Tanzes wieder, nun bereichert um Bunsters Verwendung von südamerikanischem Volkstanz-Vokabular. Diese Kombination von deutscher und ausländischer Folklore-Bewegung mit modernem Tanz und der schließlich erfolgten Aufnahme von Ballett als Trainingsmethode erlaubte es den Amateuren, auch Themen außerhalb der traditionellen Folklore-Narrative zu bearbeiten. Zunehmend führten Amateurkompanien sogar choreografische Kritiken an der politischen und gesellschaftlichen Situation in Ostdeutschland auf. Zum Beispiel erforschte Silvia Zygouris’ Choreografie Geschlossene Gesellschaft für die Tanzbühne Leipzig Thematiken von Raum, Eingeschlossenheit und Konformität. Die Produktion wurde von vier Tänzern in einem engen Raum präsentiert, in dem sie einsame Alltagsverrichtungen vollführten, wie Zeitunglesen, sich die Haare kämmen, und den Boden wischen. Durch die Enge gezwungen, brachen sie schließlich aus ihrer Isolation aus und interagierten in scheinbar harmonischen Gruppen und Paarkonfigurationen, nur um alsbald in eine brutal repetitive Wiederaufnahme der Eröffnungssequenz zu verfallen. Das Fehlen eines eindeutigen Narrativs und die Betonung unterschiedlichen Bewegungsvokabulars für die Darstellungen der unterschiedlichen Stadien in der zirkulären Entwicklung der Tänzer erlaubte eine Fülle von Interpretationen. Einerseits konnte die Choreografie als vertraute Darstellung von gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen gelesen werden. Andererseits nahm das ostdeutsche Publikum auch die Parallelen zwischen dem Tanz und der politischen Situation in seinem eigenen Land wahr: vor allem die Unfähigkeit individueller Bürger, aus repetitiven sozialistischen Ritualen in der geschlossenen Gesellschaft auszubrechen. Amateurensembles kritisierten politische und gesellschaftliche Institutionen nicht nur durch Narrative, sondern auch durch eine sorgfältige Erforschung choreografischer Ansätze, unterschiedlicher Tanzstile und die Verwendung von unterschiedlichem Vokabular. Gleichzeitig begannen sich Ende der 1980er Jahre professionelle Tanzkompanien und Ballettschulen für westliche Techniken wie Graham und Limón zu interessieren. Der Tanz in der DDR konnte internationale Entwicklungen nicht länger ignorieren, die sogar die eingemauerte Gesellschaft mittels Workshops und Aufführungen erreichten. Sowohl in Bezug auf die Themen als auch auf die Technik hatte der Tanz das eindeutig ideologische Stadium überwunden. Daher waren viele ostdeutsche Tänzer und Choreografen in der Lage, nach dem Mauerfall eine wichtige Rolle in der vereinigten deutschen Tanzlandschaft zu spielen. Mit dem Fall der Berliner Mauer begannen viele sozialistische Länder, die zuvor bedeutende Akteure auf der Weltbühne gewesen waren, rapide und in manchen Fällen im wahrsten Sinne des Wortes von der Weltkarte zu verschwin-
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den. Einige von ihnen wie Polen konnten ihre Erfahrung unter der kommunistischen Herrschaft in nationales Narrativ vom permanenten Widerstand umformen, während andere, wie das ehemalige Jugoslawien ein brutales Auseinanderbrechen in kleinere nationale, ethnische oder religiöse Einheiten erlebten. Andere wiederum, wie die ehemalige Sowjetunion, gestalteten ihre nationalen Identitäten in Anlehnung an den zaristischen Kolonialismus und den Bolschewismus und gleichzeitig in Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit. Die nationale Identifikation Ostdeutschlands nahm einen vollkommen anderen Weg als die der anderen sozialistischen Staaten. Kaum ein Jahr nach dem Mauerfall wurde das Land in die westdeutsche Nationalstruktur subsummiert. Rückblickend war der Mauerfall lediglich ein Schritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung. Daher sind die eigenständigen politischen Systeme, Institutionen und Kulturen, die Ostdeutschland ausmachten, heute nahezu komplett verschwunden. In einigen Fällen hatte das vereinigte Deutschland die DDR-Geschichte aktiv – und physisch – ausgelöscht. In anderen Fällen verschwand die Geschichte der DDR aus Nachlässigkeit und Desinteresse. Die Tatsache, dass die DDR nicht mehr existiert, spielt eine wichtige Rolle bei der Diskussion von ostdeutschem Tanz und Choreografie. Ihre kulturellen Artefakte sind nur in Form von archivarischen Dokumenten und als orale Kultur zugänglich. Kaum einer der Tänze des Landes befindet sich nach wie vor im Repertoire irgendeiner Tanzkompanie. Die Verkörperung seiner Bürger dauert immer noch an, doch wurde sie von den Körpercodes des vereinigten Deutschlands überlagert. Die ostdeutsche Utopie eines fortschrittlichen sozialistischen deutschen Staats wurde durch die Ostalgie seiner früheren Bürger ersetzt, den nostalgischen Konsum ostdeutscher Produkte. Einer derartig unproduktiven Nostalgie fehlt das Verständnis für die konstruktive Kraft der ostdeutschen Kultur. Meine Analyse von ostdeutschem Tanz, Choreografie und bewusster Physikalität versucht wiederherzustellen, was ich als einen bedeutenden Aspekt jener Zeit ansehe: den Körper des Volkes.
1 Nationale Identität im Alltag Eine neue deutsche Folklore (1945-61)
In diesem Kapitel geht es mir darum, den Leser mit einem umfangreichen Abschnitt deutscher Geschichte vertraut zu machen, der bislang vernachlässigt wurde. Ich stelle dar, wie die ostdeutsche Regierung Folklore benutzte (ein Konzept, dessen Definition ich erweitere), um eine eigenständige Nationalität in der internationalen Arena zu erschaffen. Die Ära der DDR bietet eine ergiebige Fallstudie für eine Neubewertung des Folklorebegriffs. Es handelt sich um eines der letzten Male in der jüngeren Geschichte, dass eine Regierung unmittelbar und offen Folklore einsetzte, um ihre Bürger im Hinblick auf die Interessen des Staates zu beeinflussen. Heutzutage löscht einerseits die globale Wirtschaft nationale Identitäten aus. Auf der anderen Seite erlebt jedoch die Behauptung lokaler Identifikationen und kultureller Differenzen einen vehementen Aufschwung. In diesem Kontext ermöglicht eine Untersuchung der Konstruktion und des späteren Niedergangs einer nationalen Identität – und noch dazu einer nationalen Identität, die außerhalb globaler kapitalistischer Gesellschaften konstruiert wurde – eine Kritik an den gegenwärtigen politisch und kulturell globalisierenden Entwicklungen.1
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Die Analyse einer nationalspezifischen Verwendung von Tanz und Choreografie liefert eine brauchbare Methode für die Untersuchung eines nationalen Systems, innerhalb dessen zahlreiche unterschiedliche Interessen in ihrem Streben, die Identität der allgemeinen Öffentlichkeit zu bilden, miteinander wetteifern. Ein derartiger Konflikt zwischen unterschiedlichen Interessen ist nicht auf die DDR oder andere sozialistische Länder beschränkt, sondern tritt in den meisten Systemen auf. Allerdings erscheint er umso deutlicher, wenn eine nationale Identität durch eine Invasion, eine Niederlage in einem Krieg, die Zeit nach dem Kolonialismus oder das Ende einer Diktatur ausgelöscht oder in Frage gestellt wurde. Gegenwärtige Beispiele sind die Situation im Irak,
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Zu Anfang liefere ich einen Überblick über die Geschichte der Folklore in Deutschland, um das philosophische und politische Dilemma zu kontextualisieren, das den Glauben der Regierung an das transformative Potential von Folklore auslöste. Meine anschließende Diskussion der umfangreichen und einzigartigen Amateurtanzszene und der Versuche der Regierung, Gesellschaftstänze zu indoktrinieren, soll den staatlichen Zugriff auf alle Bereiche der Tanzproduktion deutlich machen. Das Kapitel endet mit einer Untersuchung des Erich-Weinert-Ensembles, dem Tanzensemble der Nationalen Volksarmee, das dem sozialistischen Staat als eines der Hauptwerkzeuge zur Erschaffung einer nationalen Identität und Verwandlung seiner Bürger in sozialistische Persönlichkeiten diente. Um darzustellen, wie das Erich-Weinert-Ensemble zu einer der wichtigsten Institutionen wurde, die an der Neudefinition von ostdeutscher Nationalidentität und Bürgerschaft arbeiteten, diskutiere ich die Entstehung der Kompanie und zeichne die Entwicklung ihres Repertoires nach. Meine Analyse von Canto General, ihrer umfangreichsten und letzten Tanzproduktion vor dem Fall der Berliner Mauer 1989, demonstriert nicht nur, dass derartige staatliche Projekte die nationale Identität Ostdeutschlands stärken sollten. Sie zeigt auch, dass sie sich als Teil des sozialistischen Systems verorteten. Noch wichtiger: Durch die Betonung der transnationalen Folklore verband diese großformatige choreografische Hymne die DDR mit dem weltweiten proletarischen Kampf. Mir geht es bei dieser Untersuchung vor allem um die Formulierung utopischer Gesellschaftsvisionen durch Tanz und um Verkörperung als archivarische Praxis in Ostdeutschland. In diesem Kapitel versuche ich, den Folklore-Begriff neu zu definieren. Für mich wird Folklore nicht nur von ihrem bewahrenden oder traditionellen Wert bestimmt, sondern auch durch ihr Potential als Werkzeug zur Herstellung gemeinschaftlicher (lokaler oder nationaler) Identifikation. Diese beiden Schwerpunkte – Tradition und Gemeinschaft – werden durch eine Untersuchung der Konzentration von Folklore auf Körperlichkeit als Wissensressource ergänzt. Ein derartiges Folkloreverständnis dehnt die Begriffe archivarischer Praxis auf Körperlichkeit und Bewegung aus. Tradition, Gemeinschaft und Körperlichkeit, die meine Untersuchung von Folklore definieren, unterscheiden
der Kampf zwischen tschetschenischen und russischen Nationalkräften und der kurdische Unabhängigkeitskampf. Wegen ihrer Konzentration auf die Körperlichkeit erlaubt es uns die Methodik der Tanzwissenschaft, derartige identitätsstiftende Kräfte auf der Ebene des Mikrokulturellen zu betrachten und entweder ihre Auslöschung oder ihre Vereinnahmung durch größere, umfassendere Kräfte zu verfolgen.
N ATIONALE I DENTITÄT IM A LLTAG
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sich nicht eindeutig voneinander. In der Tat sind die Fälle, in denen sie sich überschneiden, die interessantesten. Daher verfolge ich in diesem Kapitel ein doppeltes Ziel: Ich möchte unbekannte Abschnitte der ostdeutschen Tanzgeschichte vor dem Vergessen bewahren und sie in einen breiteren historischen Diskurs einfügen. Gleichzeitig möchte ich ein Verständnis von Folklore vorschlagen, das über die übliche stark eingeschränkte Definition als traditionelle und gemeinschaftsbasierte Tanzpraxis hinausgeht. Anders gesagt, möchte ich die Leser mit der Tanzgeschichte vertraut machen, die sich in der Nachfolge der unterbrochenen Dominanz des Ausdruckstanzes in Deutschland ereignete. Außerdem geht es mir um eine kritische Analyse der potentiellen Verwendung von Kultur – und besonders von Volkstanz – für das visionäre Neudenken und Umgestalten von Gesellschaft im Allgemeinen.2
F OLKLORE
ALS DEUTSCHE
N ATIONALBEWEGUNG
Deutschland unterhält eine derart intensive und komplexe Beziehung zu seinem Volkstanzvokabular, dass Lederhosen tragende Männer, die sich hochspringend auf die Waden klatschen und feiste Frauen in Dirndls stemmen, zum weltweiten Symbol deutscher Identität geworden sind. Dabei ist das Interesse an Volkstänzen und anderen bäuerlichen Traditionen ein relativ neues Phänomen in Deutschland. Die Schaffung einer regionalen und später nationalen Tradition war Teil der Konstruktion von nationaler Identität, die sich in Folge der Französischen Revolution von 1789 in nahezu allen europäischen Ländern ereignete. In Deutschland setzten sich Schriftsteller und Dichter für Nationalgeist und Patriotismus ein. Zur Sturm- und Drangzeit (ca. 1765 bis 85) stellte die Literatur die von der Aufklärung postulierte Vormachtstellung der Vernunft in Frage. Die Kunst kehrte zu Emotion und Natürlichkeit als Wissensquellen zurück. Eines der berühmtesten Beispiele war der Dichter Johann Gottfried Herder, der sich der bäuerlichen Sprache und dem Volkslied zuwandte, da er diese als Ausdruck der scheinbar unbewussten schöpferischen und künstlerischen Quellen einer Nation ansah. Die Idee des Individuums, die so wichtig für deutsche Romantik war, fand ihren kollektiven Widerpart in dem Konzept der ursprünglichen und instinktiven schöpferischen Fähigkeit des Volkes. Volkslieder, Märchen und Legenden wurden als vollwertige künstlerische Erzeugnisse etabliert und vor allem von dem
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Für ein ähnliches Projekt, siehe Anthea Krauts Untersuchung von Folklore in Beziehung zu afro-amerikanischer Choreografiepraxis in Choreographing the Folk.
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prüfenden Blick der Vernunft befreit. Dank ihrer weltweiten Popularität wurde die berühmte Märchensammlung der Brüder Grimm zu einem der sichtbarsten Projekte in der Neubewertung der Folkloreproduktion. Zwar erhob diese Aufmerksamkeit die Folklore in den Rang von Kunst, doch verortete sie sie gleichzeitig außerhalb des Bereichs kritischer Bewertung. Diese Einordnung von Folklore als ursprünglich, natürlich und instinktiv-schöpferisch bestimmt nach wie vor unsere moderne Rezeption. Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg verdichtete sich die hauptsächlich von den Künsten vorangetriebene Schaffung einer nationalkulturellen Identifikation schließlich zu einer politischen Kraft in Deutschland. Obwohl deutsche Nationalidentität ursprünglich hauptsächlich im Bereich von Literatur und Musik definiert war, wurde der körperlichen Komponente der Nation seit Mitte des 18. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit zu Teil. Zum Beispiel etablierten Johann Christoph Friedrich GutsMuths und Friedrich Ludwig Jahn die Nationalbewegung, die den (in der Hauptsache männlichen) gesunden Nationalkörper einführte, der durch Leibesübungen erschaffen wurde. Dieses Interesse an Sport und Leibesübungen brachte gemeinsam mit der aus England und Schweden kommenden Hygienebewegung (die den weiblichen Körper einschloss) gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein ganzes Netzwerk von Sport- und Wandervereinen hervor.3 In ihrer interdisziplinären Untersuchung von Tanz und Körperkultur in Deutschland während dieser Zeit bestätigt Inge Baxmann die Abkehr von individueller Physikalität hin zu einer Betonung der Gruppenbewegung.4 Diese kollektiven Bewegungen wurden durch Rhythmus synchronisiert. Rhythmus wurde auch zum Hauptschwerpunkt des Tanzes. Im Jahr 1925 schloss Max von Boehn seine Geschichte des Tanzes mit dem Argument ab, dass Rhythmus das Potential hätte, den Tanz in den Rang einer bedeutenden Kunstform zu erheben. Zwar tat er Émile Jaques-Dalcrozes Konzentration auf den Rhythmus in seiner Tanzschule in Hellerau als zu eingeschränkt und naiv-künstlerisch ab, doch lobte er dessen Schüler Rudolf Bode dafür, dass er auf dem Interesse seines Mentors aufbaute, indem er die »Ausdrucksfähigkeit des gesamten Körpers«5 intensivierte. Im Jahr 1934 rief Bode
3
Lepp, Roth und Vogel, Der Neue Mensch, S. 164.
4
Baxmann, Mythos, S. 236.
5
Boehn, Der Tanz, S. 128. Jaques-Dalcroze unterrichtete seine Methode des Musikunterrichts durch Bewegung an der Tanzschule von Hellerau vor den Toren Dresdens. Die Schule wurde zu einer bedeutenden Einrichtung für die Entwicklung des Ausdruckstanzes in Deutschland.
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die Regierung ausdrücklich zu einer »Verbindung zwischen Leibesübungen und den kulturellen Äußerungen der Nation» auf. Er setzte Tanz und Volkstanz ein, um seinen Plan zu verwirklichen, da diese für ihn »die edelsten Äußerungen deutscher Kulturgesinnung«6 waren. Bode wurde später unter den Nationalsozialisten Leiter der Fachgruppe Körperbildung und Tanz innerhalb des Kampfbunds für Deutsche Kultur. Der NS-Staat hatte die Verknüpfung von Tanz und Nationalausdruck zwar nicht erfunden, doch konnte er auf existierende Ideen und ein umfangreiches Netzwerk von Körperkultur zurückgreifen, das sich manipulieren ließ. Das Naziregime schaltete Tanz und Körperkultur gleich, indem es disparate Ideen zu einer zielgerichteten Kraft vereinte. Dies geschah vor allem durch den umfangreichen Einsatz von Volkstanz und Volksliedern zur Erziehung der Hitlerjugend. Von 1936 an mussten alle Mädchen dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend, dem Bund Deutscher Mädel (BDM) beitreten. Diese Organisation und ihre Unterabteilungen konzentrierten sich auf die körperliche und geistige Indoktrinierung aller Mädchen. Ein wichtiger Aspekt dieser Erziehung war das Studium deutscher Volkstänze, meist in Verbindung mit Volksliedern. Zweimal pro Woche lernte nahezu jedes Mädchen, wie man deutsche Volkslieder sang und deutsche Volkstänze tanzte. Die Kinder traten in nach Alter geordneten Gruppen bei nationenweiten Feierlichkeiten auf oder bei Festen, die in ihren Heimatstädten oder -Regionen gefeiert wurden. Ausgewählte Gruppen aus der Abteilung Glaube und Schönheit – einer Unterabteilung des BDM – führten diese Volkstänze bei Nationalversammlungen und anderen Großereignissen, und sogar vor dem Führer selbst auf.7
6
Baxmann, Mythos, S. 237.
7
Der BDM wurde 1930 durch die Verschmelzung mehrerer Organisationen für Mädchen begründet. 1931 wurde er zu einem offiziellen Teil der Hitlerjugend. Mädchen im Alter von 10 bis 13 traten in den Jungmädelbund ein, junge Frauen zwischen 14 und 18 wurden Teil des eigentlichen BDM. Ab 1938 konnten Frauen bis zum Alter von 22 Jahren der Organisation Glaube und Schönheit beitreten. Siehe Jürgens, Zur Geschichte des BDM (Bund Deutscher Mädel) von 1923 bis 1939. In einem Interview, das ich im Jahr 2006 mit ihr führte, berichtete Elfriede Wachek, die als Mädchen in den BDM eintreten musste, von diesen zweimal wöchentlichen Proben während ihrer Mitgliedschaft in Jungmädelbund und BDM. Sie erwähnte auch, dass die älteren Mädchen beim jährlichen Herbstfest auf dem Bückeberg Volkstänze für Hitler aufführten. Obwohl der Hitlerjugend und ihrem weiblichen Zweig große wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu Teil wurde, harrt der Einsatz von Volkstanz in der kulturellen und politischen Struktur Nazideutschlands noch der wissenschaftlichen Analyse.
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OSTDEUTSCHE
N ATION
CHOREOGRAFIEREN
Aufgrund des Missbrauchs der deutschen Folkloretradition unter dem Naziregime überrascht die Verwendung von Folklore nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR zunächst.8 Doch wurden die künstlerischen Entwicklungen in Ostdeutschland von der Sowjetunion bestimmt, und diese hatte Folklore bereits als den wichtigsten kulturellen Ausdruck des sowjetischen Volkes gefördert.9 Ostdeutsche Funktionäre interessierten sich weniger für den bewahrerischen oder traditionellen Wert des Folklorematerials als für sein Potential, lokale und nationale Gemeinschaftsidentifikatio-
8
Mit ihrem Bezug zu Landleben und Natur ließ sich Folklore leicht in die NaziIdeologie von »Blut und Boden« einbinden und wurde schnell zu einem vollwertigen Teil der nationalsozialistischen Propaganda. Lilian Karina und Marion Kant weisen nach, dass Volkstanz während der Nazizeit in den Tanz aufgenommen wurde. Allerdings merken sie an, dass er nicht der Hauptgegenstand des Einsatzes für einen wahrhaft deutschen Bühnentanz war (Hitler’s Dancers, S. 87). Dennoch wurden Volkstänze regelmäßig und ausgiebig außerhalb der Theaterinstitutionen aufgeführt – vor allem beim jährlichen Herbstfest auf dem Bückeberg, das bis zu eine Million Teilnehmer hatte und das größte regelmäßig stattfindende Festival in Nazideutschland war.
9
Nach der Oktoberrevolution von 1917 unternahm die Sowjetunion ihre eigene Neubewertung von Kunst – und Tanz. Der russische Formalismus wurde wiederholt angegriffen – beginnend mit Leon Trotzkis berühmt-berüchtigtem Aufsatz »Literatur und Revolution« von 1924. Nach dem ersten Kongress der sowjetischen Schriftstellerunion im Jahr 1934 wurde der sozialistische Realismus zur offiziellen Methode für jeglichen künstlerischen Ausdruck erklärt. Die Tatsache, dass Kunst in den ideologischen Dienst des komplexen Nationalstaats Sowjetunion gestellt wurde, führte zu einer zunehmenden Konzentration auf die Folkloretradition seiner zahlreichen Republiken. Igor Moisejews Tanzensemble wurde zum Vorbild für alle staatlichen Volkstanzkompanien überall auf der Welt. Gegründet im Jahr 1937, war es besonders berühmt für die Neuinterpretation von Liedern und Tänzen der Don-Kosaken und für seinen Rote Armee-Tanz. Sein später in Alexandrow-Ensemble umbenanntes Chor-Ensemble, das bereits 1928 begann, Volkslieder und Volkstänze aufzuführen, absolvierte 1948 einen umjubelten Auftritt in Ostberlin. Für eine Analyse des spezifischen Choreografiestils und der Funktion der Kompanie, siehe Shay, Choreographic Politics. Shay liefert auch den ersten Überblick über eine Vielfalt von staatlich geförderten Tanzkompanien in unterschiedlichen Ländern. Er weist zu Recht darauf hin, dass diese Kompanien Folklore- und Ballettvokabular für die Bühne verschmolzen und nicht lediglich existierende Volkstänze nachinszenierten.
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nen hervorzubringen. Ostdeutschland, das sich selbst aus der vom Krieg zerrissenen deutschen Nation heraus schuf, war von den schöpferischen Kräften der Folklorekultur abhängig. Baxmann weist zu Recht darauf hin, dass Zeiten gesellschaftlicher und politischer Ungewissheit ein Bedürfnis nach kultureller Bestätigung hervorbringen. Diese liefert zumeist ein Blick in die Vergangenheit.10 Ostdeutschland befand sich in einer doppelt ungewissen Situation: Der Staat musste sich nicht nur mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen. Er hatte außerdem mit der Aufgabe zu kämpfen, eine nationale Identität zu entwickeln, die sich von der Westdeutschlands – das Anspruch auf die gesamte deutsche Geschichte und Kultur erhob – unterscheiden sollte. Somit wurde der ostdeutsche Anspruch auf Deutschlands Kulturerbe in den Bereichen Literatur, Theater und Tanz zu einem wesentlichen Bestandteil dieser Neuverhandlung des Deutsch-Seins. In Übereinstimmung mit der Doktrin des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion nahm die ostdeutsche Regierung jedoch nur ausgewählte Anteile der deutschen Kultur in ihre neue Nationalkultur auf. Den Schwerpunkt bildeten klassische Literatur, wie das Werk von Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller, sowie Folkloretraditionen in Literatur, Musik und Tanz. Folklore ermöglichte eine einzigartige Anknüpfung an die angeblich unverdorbene ferne deutsche Vergangenheit. Mit ihren symbolischen Verweisen auf bäuerliche Feldarbeit war sie auch mit der neuen sozialistischen Ideologie konform. In der marxistisch-leninistischen Theorie war der Bezug zur körperlichen Arbeit der entscheidende Faktor für jegliches Individuum im Gesellschaftssystem. Während das Proletariat unter dem kapitalistischen System durch den Produktionsprozess ausgebeutet wurde, war es unter einem sozialistischen System nicht mehr von den Produktionsinstrumenten abgekoppelt, sondern besaß diese. Somit war die herrschende Klasse im Sozialismus die Arbeiterklasse, zusammen mit den Bauern in der Landwirtschaft. Eine Folklorekultur, die ihren Ursprung in Arbeitsbewegungen und Gemeinschaftsfestlichkeiten nahm, erlaubte eine scheinbar zeitlose künstlerische Darstellung des Zelebrierens von körperlicher Arbeit.11 Derartige Darstellungen auf Folklorebasis steigerten auch die Bedeutung des sozialistischen Realismus, der die grundlegenden Prinzipien des Sozialismus offenbaren sollte. Der Volkstanz wies immer noch Züge auf, die ihn auf nachvollziehbare und erkennbare Weise mit der Bewegung der körperlichen Arbeit verbanden. Daher wurde er von den Mitgliedern der ostdeutschen Regierung
10 Baxmann, »Der Körper als Gedächtnisort«, S. 15. 11 Volkstänze beziehen sich oftmals unmittelbar auf Bewegungen aus der landwirtschaftlichen Arbeit und der manuellen Fertigung.
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als Arbeit im Einklang mit dem sozialistischen Realismus angesehen, die die Essenz der sozialistischen Arbeiterkultur enthüllen sollte.12 Folglich unternahm die Regierung beträchtliche Anstrengungen, um ein funktionierendes Volkstanzarchiv zu schaffen. Sie gab Sammlungen und Veröffentlichungen von Folklorematerial in Auftrag und baute eine umfangreiche Amateurtanzszene auf, deren Teilnehmer Volkstänze aufführten oder Folklorematerial benutzten, um neue Tänze zu choreografieren. Die Veröffentlichungen reichten von ideologischen Manifesten wie dem 1953 von Aenne Goldschmidt, Rosemarie Lettow und Albin Fritsch verfassten Der Tanz in der Laienkunst, bis hin zu Lehrbüchern wie Material für die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Volkskunstgruppen: Tanz (1953), die eindeutig für Ausbildung und Choreografie bestimmt waren. Der Tanz in der Laienkunst liest sich wie ein archetypisches Dokument aus der Zeit des Kalten Krieges. Es prangert den kapitalistischen Verfall in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa an und betont die Notwendigkeit einer Konzentration auf unverdorbenes Folklorematerial, das sich durch seine Natürlichkeit und seinen Bezug zur körperlichen Arbeit auszeichnet. Das Autorenkollektiv, das diese Werke produzierte, verortete Folklore ebenfalls in Beziehung zu anderem Tanzvokabular und kritisierte den Ausdruckstanz als formalistisch, dekadent und von der sozialistischen Erfahrung abgekoppelt. In Bezug auf die praktische Umsetzung von Volkstanz lieferten die Autoren außerdem strenge Regeln für das äußere Erscheinungsbild, die Ausbildung und das Repertoire jeder ostdeutschen Amateurtanzgruppe. Das Werk Material für die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Volkskunstgruppen ergänzte diese doktrinäre Leitlinie durch zwei Unterrichtsprogramme zur Ausbildung von Anfängern und fortgeschrittenen Tänzern. Jedes dieser Unterrichtsprogramme war in Teilveranstaltungen zu Kulturpolitik und Ästhetik, allgemeines Körpertraining und Bewegungsübungen, Volkstanztechniken und rhythmen, spezifische Volkstanzstile und schließlich Tanzgeschichte unterteilt. Tanzgeschichte hatte man außerdem in Lektüre und praktische Übungen aufgeschlüsselt. Die Lektüre schloss allgemeine Schriften über Volkstanz, dessen Bedeutung für die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft, tanzhistorische Aufsätze und außerdem Reden und Veröffentlichungen Stalins, wie z.B. »Marxismus und die Frage der Linguistik« und »Dialektischer und historischer Mate-
12 Expressionismus, Kubismus, Surrealismus und die meisten anderen Avantgardebewegungen waren nicht mit dem sozialistischen Realismus vereinbar. Für eine eingehendere Diskussion von sozialistischem Realismus und seiner Nicht-Kongruenz mit der marxistisch-leninistischen Philosophie, siehe meine Diskussion des Themas in den Kapiteln 2 und 4.
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rialismus« ein. Die anonymen Autoren betonten das politische Potential des Volkstanzes, indem sie feststellten, dass es Ziel der Bewegungsübungen sei, eine Ausbildung in »Disziplin, Kollektivgeist, Selbstbeherrschung und Ausdauer« zu gewährleisten.13 Besonders aufschlussreich lesen sich die Abschnitte über Volkstanztechniken, da sie einen Überblick darüber bieten, was Funktionäre und Tanzhistoriker in Ostdeutschland als wesentliche Elemente des deutschen Volkstanzvokabulars ansahen. Das Material war in Schritte, Fassungen und Formationen gegliedert. Die Schritte waren wiederum in Gehen, Laufen, Federn, Springen, Schwingen und Kombinationen dieser Bewegungen eingeteilt. Übungen waren Gehschritte, Dreierschritte und Wechselschritte in unterschiedlichen Takten, wie ZweiViertel-Takt, Drei-Viertel-Takt und Vier-Viertel-Takt. Die Autoren beschrieben außerdem Dreier- und Wechselschritte, einfache Sprünge auf einem oder beiden Beinen im Zwei-Viertel- und Drei-Viertel-Takt, Sprünge auf einem Bein, während das zweite Bein von hinten nach vorne geschoben wurde, Sprünge, bei denen das ausgestreckte zweite Bein nach vorne auf den Boden tippte, usw. Fassungen zwischen zwei Tänzern wurden als Einhand- oder Zweihand-Fassung charakterisiert, während die Arme in unterschiedlicher Höhe und in unterschiedlichen Winkeln gehalten wurden, Fassungen, bei denen die Arme auf zahlreiche Arten und Weisen gekreuzt wurden, Fassungen an den Hüften oder Schultern, offene und geschlossene Fassungen und Fassungen nach hinten. Zuletzt beschrieben die Autoren zahlreiche Formationen, wie einen Kreis mit hintereinander, nebeneinander oder in Paaren angeordneten Tänzern; unterschiedliche Reihen; und Mühlen, die gebildet wurden, indem man die Hände in verschiedenen Konstellationen in der Mitte eines Kreises zusammengebrachte. All diese allgemeinen Schritte, Fassungen und Formationen sollten als Teil ausgewählter regionaler Volkstänze unterrichtet werden, deren spezifische Stile spezifische Ausführung verlangten. Der Lehrplan begann mit einfachen Tänzen und ging dann gegen Ende zu komplexerem Material über. Zum Beispiel war der erste Tanz, der erklärt wurde, ein Tanz in Paaren, der Spinnradl hieß und von den Tänzern verlangte, sich zu drehen und die Partner zu wechseln.14 Sowohl der
13 Material für die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Volkskunstgruppen, S. 17. 14 Dieser Tanz gehört zu einer Wickler genannten Gruppe von Tänzen, bei der es sich um eine relativ neue Form von Paar- oder Triotänzen handelt, die zuerst Anfang des 19. Jahrhunderts in Teilen von Bayern, Österreich, der Slowakei, Sachsen und Schlesien auftrat. Aenne Goldschmidt, die damals wichtigste ostdeutsche Tanzwissenschaftlerin mit dem Fachgebiet deutsche Volkstänze, klassifiziert den Wickler als eine Gruppe von Tänzen, die sich von zwei umfangreicheren Kategorien von Tänzen na-
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Name als auch die Bewegung des Spinnradls verwiesen auf das Spinnen von Garn. Frauen und Männer ordneten sich paarweise zu einem Kreis an, grüßten einander mit einem Kopfnicken und vollführten erdverbundene Schritte und einfache Kniebeugen. Der Mann drehte die Frau unter seinem erhobenen Arm - eine Figur, die an eine Spindel erinnerte, die sich in der Hand einer Frau drehte, was dem Tanz seinen Namen verlieh. Dann drehten sich die Paare alle wiederholt in einer Kiekbuschfassung, in welcher der Mann, hinter der Frau stehend, ihre Hände auf Schulterhöhe nach den Seiten auseinanderhielt, und die Frau über eine ihrer Schultern zurückblickte, um ihren Partner anzusehen. Dies mag komplex klingen, doch war Spinnradl eigentlich ein einfacher Tanz. Er bestand aus Gehen und Drehen und betonte zwei Arten des erdverbundenen Gehens, mehrere verschiedene Fassungen und zwei Arten von Drehungen, die alle sinnbildlich für deutschen Volkstanz standen. Die Autoren hatten außerdem spezifische Ziele für die Ausführung dieser Bewegungen festgelegt. Die Kreisformen sollten Tänzer in einem kollektiven Geist erziehen; die erdverbundenen Schritte feierten Natürlichkeit; die Fassungen förderten eine »gesunde« Beziehung zwischen Tänzern beider Geschlechter; und die Drehungen schafften Lebendigkeit. Die Schritte, Drehungen und Fassungen im Spinnradl und all den anderen Tänzen in dem Lehrbuch wurden von der ostdeutschen Regierung niemals lediglich als Volkstanz-Bewegungen betrachtet. Sie waren auch in der Lage, eine ideologische Botschaft zu transportieren und die Ausübenden in bessere ostdeutsche Bürger zu verwandeln. Kein Wunder also, dass die Regierung Lehrbücher herausgab, die diese Tänze beschrieben und die Amateurensembles genau anwiesen, wie sie sie auszuführen hatten. Kulturfunktionäre sorgten dafür, dass die Schritte und die Tänzer durch die Aufführung zu einem lebendigen Archiv sozialistischer Werte wurden. Dieses Archiv erstreckte sich weit über die Erforschung und Notation von Tänzen hinaus, bis hin zu ihrem kontinuierlichen re-enactment und ihrer Umgestal-
mens Ländler und Steyrer ableiten. Mit ihnen teilt der Wickler den Kreisel- und Drehpart. Allerdings fehlt ihm die Einbindung in die Rituale der Brautwerbung, die bei den Originalen vorhanden ist. Spezifische Formen wurden in Ostdeutschland in Sachsen und in der Lausitz getanzt. Die Autoren von Material für die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Volkskunstgruppen schienen sich aus einer Variation dieser lokalen Abwandlungen des Spinnradls bedient zu haben (Goldschmidt, Handbuch des deutschen Volkstanzes, S. 154). Das Kultusministerium beauftragte Goldschmidt, ein umfassendes Volkstanz-Handbuch zusammenzustellen. Das dabei entstandene Handbuch des deutschen Volkstanzes wurde zuerst 1966 veröffentlicht und erlebte bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990 vier Neuauflagen.
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tung. Die ostdeutsche Regierung benutzte die konstruktive Kraft des Folklorematerials, anstatt es lediglich als kulturelles Artefakt zu bewahren. Dies führte dazu, dass die DDR über eine der umfangreichsten Amateurtanzszenen im gesamten Ostblock verfügte. Nahezu jede Stadt, jedes Dorf, jede größere Fabrik, Transportfirma, Universität, Konsumgenossenschaft, jedes landwirtschaftliche Kollektiv und Bergwerk hatten eine Tanzkompanie. Dieses Netzwerk von Volkstanzkompanien wurde von einem Zentralorgan genau überwacht und gesteuert: Das 1952 gegründete Zentralhaus für Kulturarbeit überblickte die Arbeit in allen fünfzehn Kulturbezirksbüros und in den Unterabteilungen dieser Büros in den Landkreisen. Es bot Weiterbildungen für Volkstanzlehrer an, veranstaltete Konferenzen, Seminare und Festivals und gab Zeitschriften und die beiden bereits erwähnten Lehrbücher heraus.15 Volkstanz, die eine dieser Zeitschriften, stellte in einer Überschrift die rhetorische Frage: »Kann man mit Volkstanz agitieren?«16 Um eine positive Antwort auf diese Frage zu garantieren, kreierte die Regierung nicht nur die Amateurvolkstanzszene sondern auch ein Repräsentanzorgan für diese Tanzkompanien. Ab 1955 inszenierte das jährliche Fest des deutschen Volkstanzes in Rudolstadt erfolgreiche Verkörperungen der Kulturpolitik.17
15 Das Zentralhaus für Laienkunst wurde später in Zentralhaus für Kulturarbeit umbenannt. Es gab zwei Zeitschriften heraus: Volkskunst seit 1952 und Volkstanz seit 1958 (Heising und Römer, Der Tanz im »Künstlerischen Volksschaffen« der DDR, S. 28). Heisings und Römers Geschichte von Volkstanz und Amateurtanz in Ostdeutschland ist die einzige Veröffentlichung zu diesem Thema in deutscher Sprache und somit von großem Wert. Eine umfassende Untersuchung der großen Amateurtanzszene existiert nicht und wird vermutlich auch niemals veröffentlicht werden, da der Großteil des Materials nun über Privatsammlungen verstreut oder sogar verloren ist. Für eine Diskussion von Amateur- und Volkstanz in Sachsen, siehe Klotzsche und Römer, Tanz in Sachsen. 16 Heising und Römer, Der Tanz im »künstlerischen Volksschaffen« der DDR, S. 44. 17 Das Fest des deutschen Volkstanzes in Rudolstadt zelebrierte Amateur- und Volkstanz bis 1960. Das Ereignis wurde 1964 durch das Fest des Liedes und des Tanzes der DDR ersetzt, das wiederum 1967 in Tanz- und Musikfest der DDR umbenannt wurde, bis es schließlich im Jahr 1970 zum Tanzfest der DDR wurde. Es bestand nach der Wiedervereinigung weiter und wurde 1991 zum nach wie vor existierenden Tanz und FolkFest. Die DDR-Festivals fanden jedes Jahr statt und widmeten sich, mit wenigen Ausnahmen, zunehmend dem Tanz. Das Tanz und FolkFest ist ein jährlich stattfindendes Festival mit dem Schwerpunkt alternative Folk-Musik. Heising und Römer, Der Tanz im »künstlerischen Volksschaffen« der DDR, S. 142-153.
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Tanzkompanien aus allen Teilen der Republik kamen zusammen, um sich gegenseitig und einer Jury ihre Programme zu präsentieren, um neue Tänze zu lernen, um über Entwicklungen in der Volkstanzforschung zu diskutieren, und um von den Kulturfunktionären neue Instruktionen für das kommende Jahr zu erhalten. Die ersten Zusammenkünfte waren von Massen-Volkstanz-Ereignissen begleitet, an denen bis zu 3000 Tänzer beteiligt waren.18 Diese Praktiken waren nicht bloß Wiederholungen einer idyllischen Vergangenheit, die für die Nachwelt erhalten werden sollte. Ihr Ziel war es vielmehr, die Gegenwart zu gestalten. Dadurch dass die Teilnehmer darauf trainiert wurden, strikte Vorgaben zu erfüllen und dass besonderes Augenmerk auf die wiederholte Ausführung straff choreografierter Bewegung gelegt wurde, wollte der Staat eine neue Art von Bürgerschaft erzeugen. Indem sie etwas immer und immer wieder taten, sollten die ostdeutschen Körper dazu konditioniert werden, sich in einer bestimmten Art und Weise zu bewegen. Abb. 7: Volkstänze für die Massen beim jährlichen Tanzfest in Rudolstadt, 1969.
Quelle: Universitätsbibliothek Leipzig, TAL. Foto: Gerhard Jllig.
18 Ebd., S. 37.
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Kontrolle, Austausch und Instruktion über Richtlinien und korrekte Ausführung auf allen Ebenen ließen die Bürger bis zu einem gewissen Grad im Gesamtprojekt des Staates aufgehen und brachten außerdem ein lebendiges Archiv ostdeutscher Bewegung hervor. Dieses Archiv repräsentierte nicht nur die Bewahrung von Material, dem die Regierung wegen seiner lokal verorteten und ideologischen Funktionen Wert beimaß. Noch wichtiger war die Transformation der Verkörperung der Bürger durch wiederholte Ausführung. Das Tanzen von Material aus der Vergangenheit wurde zu einem Mittel zur Umgestaltung des gegenwärtigen ostdeutschen Gesellschaftssystems. Zusätzlich versuchte der DDRStaat den Boden für eine Zukunft zu bereiten, in der sich jedermann auf sozialistische Art und Weise bewegen würde. Mittels dieser getanzten körperlichen Arbeit entwickelte er einen Weg zum Kommunismus, der utopischen marx-istischleninistischen Zukunft. Staatlich kontrollierte Volkstanzkompanien lieferten Vorbilder für die öffentliche Beschäftigung mit Folklore in ganz Ostdeutschland. Das Erich-WeinertEnsemble, die erste professionelle Volkstanzkompanie, wurde 1950 gegründet. Ihm folgten 1952 das Staatliche Volkskunstensemble und das Staatliche Ensemble für sorbische Volkskunst, und zwei Jahre später das Staatliche Dorfensemble.19 Zusammen mit diesen anderen Kompanien lieferte das Erich-WeinertEnsemble die organisatorischen Strukturen für die professionelle ethnografische Erforschung von Volkstänzen in ostdeutschen Städten und Dörfern. Am Ende fand das so Erforschte durch diese Ensembles seinen Weg zurück auf die Bühne.20 Die Aufführungen wurden ihrerseits wiederum zu Beispielen, denen die Amateurensembles zu folgen hatten. Obwohl diese vielschichtige Beschäftigung mit Volkstanzmaterial ein weites Netz warf, musste die Regierung feststellen,
19 All diese Kompanien erlebten während ihres Bestehens mehrere Namensänderungen: So wurde zum Beispiel das Staatliche Volkskunstensemble zum DDR Tanzensemble und das Staatliche Dorfensemble in DDR Volksensemble umbenannt. Einige dieser Umbenennungen wiesen auf eine Verschiebung von der ausschließlichen Konzentration auf Folklore zu einem breiten Programm hin, das auch Ballett, Modern Dance und Jazztanz enthielt. Einige der Kompanien jedoch, wie das Staatliche Ensemble für sorbische Volkskunst, das gegründet worden war, um Tänze und Musik dieser deutschen Minderheit zu erforschen und aufzuführen, blieben während ihres gesamten Bestehens Folklorekompanien (Heising und Römer, Der Tanz im »künstlerischen Volksschaffen« der DDR, S. 28, S. 33, S. 144). 20 Aenne Goldschmidt und Rosemarie Lettow-Schulz zum Beispiel, zwei der Leiterinnen dieser professionellen Kompanien, waren ausgebildete Ethnografinnen und Autorinnen zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Volkstanz.
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dass sie nicht alle ostdeutschen Bürger erreichte. Vor allem junge Leute befassten sich häufig nicht mit Volkstänzen. Um den Einfluss des Volkstanzes bis in den Bereich der Jugendkultur auszudehnen, starteten DDR-Funktionäre eine Kampagne, die später als einer der bizarrsten Vorfälle in der deutschen Tanzgeschichte bezeichnet werden sollte.
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1952 forderte die Tanz-Publikation Der Tanz in der Laienkunst die Schaffung neuer sozialistischer Tänze in Ostdeutschland. Die Autoren, Choreografen und Leiter professioneller Tanzkompanien, erklärten, dass sich neue Choreografien auf die Umwandlung von Folklore in Material konzentrieren sollten, das eine unmittelbare politische Wirkung erzielen könnte. Dadurch sollte Tanz zu einer Waffe im Klassenkampf werden.21 Um ein breiteres Publikum zu erreichen, schlugen sie vor, die Aufmerksamkeit den Gesellschaftstänzen zuzuwenden, da diese Tänze bei der Mehrheit der Bürger und vor allem bei der Jugend beliebt waren. Obwohl Gesellschaftstänze wie der Walzer oder der französische Tango der Mittelklasse und nicht der Arbeiterklasse zugeordnet wurden, hatten die Autoren das Gefühl, ihre kollektive Form wäre ausreichend, um sie in fortschrittliche Werkzeuge zur Schaffung bewusster DDR-Bürger zu verwandeln.22 Eine andere Publikation ging so weit, Gesellschaftstänze als korrumpierte Volkstänze zu bezeichnen, die die Verbindung zu ihren ursprünglichen schöpferischen Quellen verloren hatten. Um diese destruktive Regression umzukehren, galt es, die Gesellschaftstänze durch Bewegungsmaterial und choreografische Prinzipien von Volkstänzen neu zu beleben.23 Die Regierungskampagne für neue sozialistische Tänze setzte sich jahrelang fort und wurde zunehmend dogmatisch. Anfang 1959 trug sie schließlich ihre Früchte: Beim jährlichen Volkstanz-Festival in Rudolstadt war die Regierung in der Lage, einen neuen Gesellschaftstanz zu präsentieren. Zwei Gesellschaftstanz-Pädagogen, Helmut und Christa Seifert, hatten einen Tanz namens Lipsi choreografiert, benannt nach Lipsia, dem lateinischen Namen für Leipzig, der Stadt seiner Herkunft.24 Die Choreografen hatten existierende
21 Goldschmidt, Lettow und Fritsch, Der Tanz in der Laienkunst, S. 51. 22 Ebd., S. 77. 23 Doerwaldt, Der Volkstanz, S. 49. 24 »Lipsia« war der lateinische Name der ersten römischen Siedlungen, die später zu der Stadt Leipzig in Sachsen werden sollten. Es gab auch noch andere choreografierte Ge-
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Schritte aus dem Gesellschaftstanz sehr frei mit deutschem Folklore-Vokabular vermischt. Die Tanzfiguren waren simpel gehalten, damit sie Anfängern zugänglich sein sollten. Der Lipsi begann in einer normalen Gesellschaftstanz-Fassung und kombinierte synchronisierte Chassé-Schritte mit Halbdrehungen in WalzerSchritten. Diese traditionellen Gesellschaftstanz-Schritte wurden regelmäßig mit Drehschritten auf beiden Füßen und Tritten nach vorne und nach hinten in Promenade-Position durchsetzt.25 Diese Schritte und Drehungen unter erhobenen Armen waren Zitate aus Tänzen wie dem Spinnradl und dem Ländler. Die Folklorezitate wurden eindeutiger, als die Frau vor dem Mann Aufstellung nahm, ihm den Rücken zuwandte und über die Schulter blickte. Trotz des fehlenden HändeHaltens beim Lipsi war die Position eindeutig eine Variation der zum Spinnradl gehörenden Kiekbuschfassung. Mit Ausnahme einer Sequenz, in der die Frau den Mann unter ihrem erhobenen Arm drehte, wies das gesamte Bewegungsvokabular den Teilnehmern klare Geschlechterrollen zu. Der Frau wurden die stärker stilisierten Bewegungen zugeordnet, dem Mann die Kontrolle über die Drehungen und Neigungen. Dieses vorgeschriebene gendering entsprach dem Wunsch des sozialistischen Staates, junge Leute zu heterosexuellen Paaren zusammenzuführen.26 Trotz der Tatsache, dass Frauen in Ostdeutschland eigentlich gleichberechtigt am Produktionsprozess teilnehmen sollten und dass diese Teilnahme durch ein ausgedehntes Netzwerk von Kinderbetreuung und öffentlichen Dienstleistungen unterstützt wurde, versuchte die Regierung niemals wirklich, stereotype Geschlechterrollen oder heteronormative Konstellationen zu erschüttern. Die Auferstehung des Volkstanzvokabulars in Gesellschaftstänzen ging mit dieser Bestätigung feststehender Geschlechts-Konnotationen einher. Folklore
sellschaftstänze, die an Orte erinnerten, wie z.B. Berolina (Berlin), oder solche, die lediglich linguistische Neuschöpfungen waren, wie der Pertutti. 25 Die Promenade-Position ist eine V-förmige Position, in der die beiden Tänzer einander gegenüberstehen und dabei die Position leicht in die Richtung hin öffnen, in die sie tanzen. Die Vorderseiten der Hände werden häufig bis auf Brusthöhe oder höher erhoben, während der Mann die Frau im Hintergrund hält. Die Position kann je nach Notwendigkeit vorne geöffnet oder geschlossen werden, indem sich die Tänzer mit ihren Vorderseiten in die Richtung bewegen, in die sie tanzen, oder indem sie sich seitwärts bewegen. 26 Sogar während meines eigenen Gesellschaftstanz-Unterrichts in den 1980er Jahren wurden die Tanzanweisungen von einer Art Unterricht begleitet, in dem es darum ging, wie man sich dem jeweils anderen Geschlecht gegenüber zu verhalten habe. Dies trifft auch auf Gesellschaftstanz-Unterricht in anderen Kulturen zu.
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wurde als rein und weniger durch die Auswirkungen von Sozialisierung und Konditionierung beeinflusst betrachtet, da Folkloretraditionen durch einen Lebensstil definiert waren, der aus der Zeit vor der Industrialisierung stammte. Körper, die an vorindustrieller körperlicher Arbeit beteiligt waren, wurden als der Natur und dem Natürlichen näherstehend wahrgenommen – eine ideologische Konstruktion in sich selbst. Die ostdeutsche Regierung schrieb Folklorematerial die Fähigkeit zu, die Schichten der Sozialisierung bis hin zu der angenommenen natürlichen Essenz der Körper zu durchdringen. Indem man Körper in einem Paradigma des Natürlichen positionierte, wurden sie als biologische Einheiten definiert, die noch nicht sozial konstruiert waren. Anstatt also ein stärker zeitgenössisches Verständnis von Geschlechtsidentitäten als gesellschaftlich konstruiert auszudrücken, reduzierte die Foklorebewegung den Genderbegriff auf biologische Unterschiede. Durch die biologisch begründete Geschlechtskonnotation der Volkstänze bestätigte die ostdeutsche Regierung faktisch ein heterosexistisches Paradigma für Beziehungen innerhalb ihrer Bevölkerung.
Abb. 8: Ankündigung des Lipsi in einer Regierungspublikation aus dem Jahr 1959.
Quelle: Zentralhaus Leipzig, 1959, S. 72. Universitätsbibliothek Leipzig, TAL.
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Westliche Tanzbewegungen, wie Tänze, die auf dem »Rock ’n’ Roll« aufbauten, wurden als Produkte einer degenerierten kapitalistischen Gesellschaft angesehen. Vor der Errichtung der Berliner Mauer im Jahr 1961 konnte die Regierung Rock ’n’ Roll und andere westliche Tanzbewegungen nicht verbieten. Folglich versuchte der Staat eine sozialistische Alternative zu der kapitalistischen und dekadenten Bewegungsform zu liefern. Der Lipsi mit seinem eingebauten Folklorematerial wurde gefördert, um es jungen DDR-Bürgern zu ermöglichen, in ihrer Freizeit zu tanzen, ohne dabei westliche Tänze zu imitieren. Diese Alternative bestand ausschließlich aus ostdeutschem Bewegungsvokabular, ohne jegliches Fremdmaterial. Folklore wurde also als eine interne Kraft eingesetzt, ein Versuch, eine singuläre ostdeutsche Kultur zu etablieren und dadurch eine ostdeutsche Nationalidentität zu schaffen. Wie nicht weiter verwunderlich, wurde der Lipsi von den jungen ostdeutschen Bürgern abgelehnt.27 Am 2. November 1959 marschierten 40 junge Leute durch die Leipziger Innenstadt und schrieen: »Wir brauchen keinen Lipsi und keinen Ado Koll! Wir brauchen Elvis Presley mit seinem Rock ’n’ Roll!«28 Die offizielle Reaktion auf die Demonstration in Leipzig bewies jedoch, für wie wichtig die Regierung den Lipsi in ihrem Kampf für eine ostdeutsche Kultur einschätzte. Fünfzehn der Demonstranten wurden zu Haftstrafen zwischen sechs Monaten und viereinhalb Jahren verurteilt.29 Das Scheitern des Lipsi beendete jedoch nicht den Versuch der DDRFunktionäre, die körperliche Nationalidentität durch die Verwendung von Folklorevokabular im Tanz zu beeinflussen. Sie hatten ihre Aufmerksamkeit bereits jüngeren Bürgern und Kindern zugewandt. Ein Schritt in diese Richtung war eine Sammlung von Kindertänzen mit dem Titel Volkstanz-Sammlung, die in den 1950er Jahren vom Zentralkomitee der Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) herausgegeben wurde. In dieser Sammlung befand sich auch ein Tanz, der eine Interaktion zwischen Kindern und einer Reihe von staatlichen
27 Interessanterweise gingen Volkstanz und Volksmusik Mitte der 1970er Jahre mit einer Widerstandbewegung einher. Doch waren diese Bewegungen häufig von gegenkulturellen und westlichen Herangehensweisen an Volksmusik beeinflusst und liefen somit der staatlich verordneten Folklore zuwider. 28 Andreas Platthaus, »Zwei Staaten im Sechs-Vierteltakt», Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Januar 2006, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/rock-ausstellung-zweistaaten-im-sechsvierteltakt-1303200.html, abgefragt am 26. Mai 2014. Ado Koll war der Leiter eines Leipziger Tanzorchesters. 29 Dennoch führte die Demonstration junger Leute in Leipzig zum Niedergang des Lipsi (Die WELT, 3. November 1959).
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Maßnahmen einschloss, die als »der Plan« bekannt waren. Der Plan war der Wirtschaftsplan, der alle fünf oder sieben Jahre von der Regierung ausgegeben wurde, die die industrielle Entwicklung der DDR zentral regulierte und die politische Strategie für diesen Zeitraum vorgab. Dieser Tanz war ein Lehrstück, das sich um die Fragen der jungen Tänzer nach den Auswirkungen des Plans auf ihr Leben drehte, und darum, was sie selbst möglicherweise dazu beitragen könnten.30 Ihre Fragen wurden in einem Lied ausgedrückt. Die Musik und der Text dieses Liedes wurden von einer kurzen Bewegungssequenz begleitet. Die Choreografie verwendete einfache Formen und Bewegungen, wie zum Beispiel im Kreis rennen und dabei Hände halten, Aufrichten auf halbe Spitze, rhythmisches Klatschen und das Heben der Arme nach vorne und zur Seite. Dies waren keine unmittelbaren Zitate aus spezifischen Volkstänzen mehr. Stattdessen evozierten die Kreismuster, Handhaltungen und das Klatschen nunmehr lediglich die Geometrie und Bewegungen eines stärker abstrakten Folklorevokabulars oder sogar eines allgemeinen Tanzvokabulars. Die einzige unmittelbar zitierte Folklore-Form in diesem Tanz war eine Mühle, in der zwei Kinder umeinander herumsprangen und sich dabei mit überkreuzten Armen an den Händen hielten. Diese Kreuzfassung tauchte in zahlreichen Volkstänzen wie zum Beispiel dem Wechselhupf auf.31 Diese Verbindung einer abstrakten Verwendung von Folklore-Formen mit Dialogen charakterisierte zahlreiche vom Staat in Auftrag gegebene choreografische Arbeiten. Der zweite Teil des Kolloquiums des Staatlichen FolkloreEnsembles der DDR im Jahre 1976 unterschied drei unterschiedliche choreografische Strategien für die Verwendung von Folklore. Die erste verlangte noch immer die unmittelbare und wahrheitsgetreue Rekonstruktion und Aufführung von Volkstänzen. Die zweite schrieb vor, wie Folklore-Vokabular in Bühnenproduktionen von neu choreografierten Volkstänzen zu verwenden sei. Die dritte
30 Sie fragen: »Lieber Plan, lieber Plan, was hast du für uns getan?« Der Plan antwortet: »Schuh und Kleider euch gebracht, schwarze Brötchen weiß gemacht, das hab’ ich getan.« (Volkstanz-Sammlung, S. 8). In zwei folgenden Strophen fragen die jungen Tänzer, was der Plan ihnen sonst noch gebracht hat und was er ihnen in Zukunft bringen wird. Der Plan beantwortet diese Fragen, indem er darauf hinweist, dass er überall Schulen und Häuser gebaut hat und dass er Wohlstand jederzeit schaffen wird, und eine so strahlende Zukunft wie man sie noch nie gesehen hat. Der Tanz endet mit der Frage der Tänzer, welches ihr Beitrag zu diesem Vorhaben sein sollte. Der Plan fordert sie auf, zu lernen und für Frieden zu sorgen, denn Friede macht jedermann glücklich. 31 Goldschmidt, Handbuch des deutschen Volkstanzes, S. 253, S. 336.
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Strategie empfahl Choreografen, Folklorematerial als Vorlage für die Entwicklung abstrakterer sozialistisch-realistischer Tänze für die Bühne zu verwenden.32 Diese Richtlinien riefen zu einer Beschäftigung mit Folklore auf, die über eine bloße Nachbildung von Schritten und räumlichen Arrangements hinausgehen sollte. Folklore wurde nun zu einer Essenz, die es in zeitgenössischer choreografischer Arbeit zu evozieren galt. Bezeichnenderweise befreite diese fortschrittliche Auseinandersetzung mit Foklorematerial die Choreografen letztendlich von den Beschränkungen der stärker traditionellen ostdeutschen Folklore und eröffnete ihnen eine globale Perspektive.
T ANZEN , MARSCHIEREN , KÄMPFEN : D AS T ANZENSEMBLE DER N ATIONALEN V OLKSARMEE Sogar eine Kompanie wie das Erich-Weinert-Ensemble – geschaffen als ein Modell für die Rekonstruktion und Neuerfindung von Folklorematerial – musste schließlich ihre ausschließliche Beschäftigung mit Folklore aufgeben.33 Sie war 1950 als Imitation des berühmten Alexandrow-Ensembles gegründet worden, das vor dem Zweiten Weltkrieg als eine Abteilung der Roten Armee eingeführt worden war.34 Die sowjetische Tanzkompanie benutzte Volkstänze als Symbole für das Mutterland, die nationale Einheit und, am allerwichtigsten, die körperliche Arbeit. Das ostdeutsche Erich-Weinert-Ensemble übernahm diesen strategischen Gebrauch von Volkskultur bei seiner Mission, das Proletariat als neue Herrscherklasse zu behaupten. Das Erich-Weinert-Ensemble war ein Konglomerat aus unterschiedlichen künstlerischen Ensembles. Es bestand aus einem Männerchor, einem Orchester, einem Kabarett und einer Tanzkompanie. Während der ersten Jahre seines Be-
32 Goewe, »Folklore Heute«. 33 Die Kompanie wurde nach dem kommunistischen Dichter Erich Weinert (1890-1953) benannt, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil in der Sowjetunion im Jahr 1946 zu einer führenden Figur in Bildungs- und Kulturinstitutionen in Ostdeutschland wurde. Weinert kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und entwickelte Propagandamaterial für die Sowjetunion, das während des Zweiten Weltkriegs hinter den deutschen Frontlinien verteilt wurde, um deutsche Soldaten zu veranlassen, aus der nationalsozialistischen Armee zu desertieren. 34 Mit seiner Kombination aus Volkstänzen, Liedern und Propagandamaterial hielt das Alexandrow-Ensemble während der Kämpfe mit deutschen Truppen im Zweiten Weltkrieg die Moral der Sowjetsoldaten hoch.
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stehens erarbeiteten die unabhängigen Abteilungen die meisten Aufführungen gemeinsam. Die Tanzkompanie bestand ursprünglich aus neun Männern und drei Frauen. Diese frühen Tänzer waren Amateure, die ihre gesamte Tanzausbildung von der Kompanie erhielten. Später rekrutierte die Gruppe professionelle Tänzer, um als tanzende Soldaten zu dienen. In ihrer Staatsexamensarbeit »Das Profil einer sozialistischen Tänzerpersönlichkeit im Erich-Weinert-Ensemble der NVA« aus dem Jahr 1972 beschrieb die langjährige Trainingsleiterin der Kompanie Rita Langfeld das Folklorevokabular, das sie unterrichtete, und ihre Trainingsziele. Zur Ausbildung gehörte neben ostdeutscher Folklore das Erlernen von Repertoire aus osteuropäischen Ländern. Balletttechnik wurde verändert und zu einer spezifischen Herangehensweise an Volkstanztraining und -repertoire kanalisiert. Zum Beispiel beschrieb Langfeld, wie sie einen klassischen port de bras als folkloristischen port de bras unterrichtete und wie sie Tänzern beibrachte, Hebungen und Sprünge in unterschiedlichen Nationalstilen auszuführen.35 Im Durchschnitt absolvierte die Kompanie fünfzig Aufführungen pro Jahr für Armeekameraden und für ziviles Publikum. Ihr Repertoire enthielt auch Volkstänze aus anderen sozialistischen Ländern. Der Großteil bestand jedoch aus deutschen Volkstänzen, hauptsächlich aus Regionen, die sich innerhalb der Grenzen Ostdeutschlands befanden. Schritte aus diesen Tänzen lieferten auch das Rohmaterial für jede neue Choreografie mit zeitgenössischen Themen über den Soldatenalltag. So erschuf die DDR ihr eigenes verkörpertes Archiv – eine Schlüsselstrategie zur Erfindung einer singulären ostdeutschen Tradition. Während der ersten Jahre seines Bestehens operierte das Erich-WeinertEnsemble im Einklang mit dieser ostdeutschen Archivdefinition und beschäftigte sich ausschließlich mit Folklore. Folklore wurde vom Missbrauch während der Nazizeit gereinigt und als spezifisch ostdeutsch und sozialistisch definiert. Sie wurde benutzt, um gesellschaftliche Visionen umzusetzen. Das Ensemble kombinierte künstlerisches, intellektuelles und ideologisches Material mit einem starken Bezug zur kollektiven Arbeit. So wollte es beim Publikum eine quasikathartische Veränderung auslösen und die sozialistische Realität fördern. Vor allem sollten die Zuschauer sich zu sozialistischen Persönlichkeiten entwickeln.36 Die Definition von »Persönlichkeit« im Philosophischen Wörterbuch,
35 Langfeld, »Das Profil einer sozialistischen Tänzerpersönlichkeit im Erich-WeinertEnsemble der NVA«, S. 28ff. 36 »Sozialistische Persönlichkeit ist das sich im Prozeß der gesellschaftlichen Arbeit selbst gestaltende und entwickelnde Individuum, das unter der Führung der marxistisch-leninistischen Partei in Gemeinschaft mit anderen Menschen seinen Lebensprozeß in ständig wachsendem Maße unter Kontrolle nimmt und in diesem Prozeß seine
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einem ostdeutschen Philosophie-Lexikon, unterschied sich von der des Individuums. Sie betonte die Funktion von Menschen in der Gesellschaft, ebenso wie ihre politischen, kulturellen und moralischen Qualitäten. Eine sozialistische Persönlichkeit wurde somit durch gesellschaftliche Arbeit kultiviert. Unter Anleitung der marxistisch-leninistischen Partei und in Zusammenarbeit mit anderen Menschen wurde von sozialistischen Persönlichkeiten auch erwartet, zunehmend Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Dieser Prozess sollte zu einer Entwicklung ihrer spezifischen Fähigkeiten führen und es ihnen erlauben, den Produktionsprozess stärker zu beeinflussen. Nach dieser Definition maßen sozialistische Persönlichkeiten allgemeiner und ideologischer Bildung großen Wert zu und waren stets daran interessiert, ihr berufliches Wissen zu erweitern. Sie bedienten sich dieses Wissens ebenfalls beim Produzieren von Kunst und wenn sie den sozialistischen Staat gegen seine Feinde verteidigten. Das Wörterbuch führte hohe moralische und sozialistische Standards, Gemeinschaftsgeist und den Mut, Risiken einzugehen, als wichtige Charakteristika der sozialistischen Persönlichkeit an, die all diese Qualitäten entwickelte, indem sie sich aktiv an einem kollektiven Produktionsprozess beteiligte. Das Wörterbuch betonte, dass das Individuum nicht in der Masse verschwinde. Im Gegenteil: Der höhere materielle und kulturelle Lebensstandard führe zu einem Aufblühen menschlicher Individualität bei allen Bürgern und nicht bloß bei der herrschenden Elite, wie dies in früheren Gesellschaften der Fall gewesen sei. Diese Entwicklungen könnten nur erreicht werden, nachdem die kapitalistische Produktionsweise gestürzt worden wäre und der Privatbesitz von Produktionsinstrumenten abgeschafft wäre. Aufbauend auf diesen neuen materiellen Voraussetzungen für die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten, bildeten die marxistisch-leninistische Partei und der sozialistische Staat die Bürger gemeinsam in der Kunst aus, ihre Persönlichkeit zu kultivieren. Diese Definition einer sozialistischen Persönlichkeit betonte die Wirkung von körperlicher Arbeit und des Kollektivs auf die Entwicklung ostdeutscher Bürger. Durch kollektive Arbeit sollte die sozialistische Persönlichkeit zu einem feinsinnigen gebildeten Individuum werden, das danach trachtete, die sozialistische Gesellschaft voranzubringen. Jedes künstlerische Kollektiv – und damit auch jedes Tanzensemble – war aufgefordert, die Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit zu fördern und zu unterstützen. Das Erich-WeinertEnsemble hatte den Auftrag, den Weg zu weisen.
individuellen Fähigkeiten, seine produktiven Kräfte immer allseitiger entfaltet.« (Klaus und Buhr, Philosophisches Wörterbuch, S. 922).
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ALS GLOBALISIERENDES I NSTRUMENT
Im Jahr 1972 wurde die DDR offiziell als Staat anerkannt und war somit in der Lage, diplomatische Beziehungen zu anderen Ländern aufzunehmen.37 1973 wurden beide deutschen Staaten Mitglieder der Vereinten Nationen. Diese Anerkennung verlieh Ostdeutschland größere Sichtbarkeit auf der internationalen Bühne und zwang daher die politische Führung, ihren Bürgern gegenüber eine demokratischere Haltung einzunehmen. Außerdem bemühte sich der Staat, seinen Bürgern Nationalstolz auf vergangene wirtschaftliche und kulturelle Leistungen und auf den nunmehr international anerkannten Staat einzuflößen. Dies führte wiederum zu einer kurzen Phase künstlerischer Autonomie. 38 Schon um 1964, vierzehn Jahre nach seiner Gründung, hatte das ErichWeinert-Ensemble begonnen, stärker auf professionelle Tänzer zu bauen. Als Teil der Armee konnte die Tanzkompanie die allgemeine Wehrpflicht benutzen, um die besten männlichen Tänzer aus den wichtigsten Tanzensembles und den drei staatlich geförderten Schulen einzuziehen. Für weibliche Tänzer, die angestellt werden mussten, bot das Erich-Weinert-Ensemble gute Arbeitsplätze in einer wichtigen Kompanie an. Zusammen mit der leichten Demokratisierung der ostdeutschen Gesellschaft veränderte die Aufnahme von professionell ausgebildeten Tänzern das Wesen des Ensembles. Ballettvokabular und sogar moderner Tanz wurden wichtige Bestandteile von Training und Choreografie. Im Jahr 1972 übernahm Peter Buettner, ein Palucca-Schüler, die Leitung der Kompanie und führte Paluccas Herangehensweise an den Ausdruckstanz ein. Er nahm von größeren Produktionen Abstand und konzentrierte sich auf das Verschmelzen von unterschiedlichem Vokabular. Dies erlaubte es dem Ensemble, sich in wesentlich abstrakteren Werken mit zeitgenössischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Die Produktionen und ihre hochkarätigen männlichen Interpreten begannen, Preise bei nationalen und internationalen Ballett- und Choreografiewettbewerben zu gewinnen. Zwischen den 1960er und den 1980er Jahren erhielt die Kompanie 26 Auszeichnungen beim nationalen Ballettwettbewerb der DDR.39 Beim Moskauer Ballett-
37 Der so genannte Grundlagenvertrag zwischen Ost- und West-Deutschland von 1972 legte beide Länder als souveräne Staaten fest. Der Vertrag wurde 1973 ratifiziert. 38 Heising und Römer, Der Tanz im »Künstlerischen Volksschaffen» der DDR, S. 84. 39 Die Ballettkompanien an der Staatsoper Unter den Linden und der Komischen Oper in Berlin, an der Semperoper in Dresden und an der Leipziger Oper waren die größten und wichtigsten staatlich geförderten Tanzkompanien mit den bestausgebildeten Tänzern.
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wettbewerb von 1981 wurde Thomas Vollmer, einer der Solisten des Ensembles, mit der Bronzemedaille ausgezeichnet.40 In Übereinstimmung mit der sich verändernden politischen Situation legten einige der neuen Choreografien nun eine etwas kritischere Sicht auf die ostdeutsche Gesellschaft und das Soldatenleben an den Tag. Es wurde möglich, Probleme wie industrielle Umweltverschmutzung und die Diskrepanz zwischen sozialistischer Doktrin und Wirklichkeit anzusprechen. Der sozialistische Realismus war nicht mehr der einzig denkbare künstlerische Modus. Auch andere Formen künstlerischen Ausdrucks wurden toleriert. Künstler in der DDR begannen, zum Projekt der Moderne zurückzukehren, das durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg unterbrochen worden war.41 Die Untersuchung der künstlerischen Form als Selbstzweck wurde zu einem wichtigen Teil dieses Prozesses. Im Tanz führte dies zur Verwendung von neuem Vokabular und der Erforschung der Beziehung zwischen gesprochener Sprache und Bewegung – und nicht zuletzt zu einer Internationalisierung des choreografischen Arbeitens. Künstler begannen sich über die Begrenzungen des Nationalen hinaus zu bewegen und wagten sich an globale Herangehensweisen und an globales Vokabular heran. Enno Markwart, der viele Jahre lang einer der Hauptchoreografen des ErichWeinert-Ensembles gewesen war, choreografierte 1985 Korrelationen, das ihm und seinen beiden Tänzern erste Preise beim alljährlichen Ballettwettbewerb der DDR einbrachte. Es handelte sich um ein Duett für zwei Soldaten, die an der Taille mit ihren Uniformgürteln zusammengebunden waren. Es illustrierte die erzwungene Nähe, gegenseitige Abhängigkeit und Homosozialität der militärischen Umgebung, ohne sie durch die üblichen sozialistischen Glorifizierungen zu beschönigen. Gegeneinander und gegen das Band kämpfend, versuchen die beiden Tänzer vergeblich, sich von dem verbindenden Objekt zu befreien. Sobald beiden die Unvermeidlichkeit ihrer Lage bewusst wird, will jeder von ihnen den geteilten Raum und die geteilte Bewegung beherrschen. Schließlich begreifen die Soldaten, dass ihnen ein weitaus größerer Bewegungsradius und weitaus größere räumliche Freiheit offensteht, wenn sie zusammenarbeiten.
Allerdings mussten die männlichen Tänzer in diesem Kompanien aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht auch in der Armee dienen, was dem Erich-Weinert-Ensemble bei diesen nationalen Wettbewerben einen Vorteil verlieh. 40 Draeger, »Auf der Suche nach Profil«, S. 74. 41 Für eine Diskussion des ostdeutschen Tanzes und seiner Beziehung zur Moderne siehe Kapitel 2.
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Abb. 9: Choreografierte Soldatenbeziehungen in Enno Markwarts Stück Korrelationen mit dem Erich-Weinert-Ensemble, 1985.
Quelle: Palucca Schule Dresden. Foto: Siegfried Prölss.
Zwar scheint der Tanz immer noch ein klassisch sozialistisch-realistisches Narrativ über den Übergang von individueller zu kollektiver Bewegung zu erzählen, doch löst sich die Choreografie durch ihre Abstraktion von gewöhnlichen Wirklichkeitsdarstellungen. Wichtiger als die Situation sind die Erforschung von Bewegung und Kompositionsprinzipien. Bewegungsinitiation und die Strukturierung des Raumes spielen eine wichtige Rolle. Die Untersuchung formaler Bewegungsstrukturen wurde während der frühen 1980er Jahre immer emblematischer für fortschrittliche künstlerische Produktionen. Choreografien wiesen nun auch
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eine größere Ähnlichkeit mit choreografischen Produktionen in Westeuropa und Nordamerika auf.42 Die Professionalisierung des Erich-Weinert-Ensembles und sein Erfolg bei Ballett- und Choreografiewettbewerben führten zu einer erstaunlichen Tourneeaktivität. Natürlich besuchte die Kompanie auf ihren Tourneen alle sozialistischen Länder, doch trat sie auch in Ägypten, Algerien, Syrien, im Jemen und im Irak auf.43 Dies mag vom heutigen Standpunkt aus verwundern, doch hatten diese Nationen innerhalb der marxistisch-leninistischen Weltsicht zur Schaffung eines internationalen Proletariats ihren Platz. Länder wie der Jemen und der Irak wurden als Teile der fortschreitenden nationalen Befreiung in postkolonialen Gebieten angesehen. Der Marxismus-Leninismus war überzeugt, dass diese postkolonialen Bewegungen ihre Kräfte mit dem Proletariat in den kapitalistischen Ländern und mit den bereits etablierten sozialistischen Systemen zusammenschließen würden. Nach diesem Weltgeschichtskonzept wurde die Oktoberrevolution 1917 als Startschuss zu einer Zeit des Übergangs von einer kapitalistischen Weltordnung hin zur Herrschaft des Sozialismus und schließlich des Kommunismus angesehen. Während der Übergangszeit würden diese drei revolutionären Kräfte – Postkoloniale, Proletarier und Sozialisten – kooperieren, um den Sieg der kommunistischen Idee herbeizuführen. Eben diese drei revolutionären Kräfte wurden zum Schwerpunkt der letzten abendfüllenden Choreografie des Erich-Weinert-Ensembles, Canto General, einer Koproduktion mit dem Tanztheater der Komischen Oper Berlin. Das Stück wurde 1989 als Teil des Kulturprogramms für das nationale Pfingsttreffen der FDJ im Palast der Republik aufgeführt.44 Canto General basiert auf Gedichten
42 1988 gewann eine andere Choreografie des Erich-Weinert-Ensembles den ersten Preis beim Ballettwettbewerb. Holger Beys Zimmer 15 war eine unmittelbarere Kritik an der sozialistischen Gesellschaft. Die Choreografie präsentierte eine schablonenhafte Darstellung des schnellen Niedergangs eines Bürokraten in den Wahnsinn und seine anschließende Begegnung mit anderen Charakteren in einer Nervenheilanstalt. Indem sie eine Mischung aus Alltags- und Modern Dance-Vokabular verwendete, um eine theatralisierte Groteske zu erschaffen, schien die Choreografie den gegenwärtigen Zustand der DDR zu kommentieren, indem sie die Gesellschaft mit einer Nervenheilanstalt verglich (Draeger, »Auf der Suche nach Profil«, S. 75). 43 Stabel, »Der Tanz in die ›entwickelte‹ sozialistische Gesellschaft«, S. 243. 44 Ich sah Canto General am 13. Mai 1989 im Berliner Palast der Republik während des Pfingsttreffens. Die Produktion wurde nur zweimal aufgeführt und nicht wiederaufgenommen. Meine folgende Analyse beruht auf einer Aufnahme aus dem Archiv der Komischen Oper Berlin.
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des kommunistischen chilenischen Lyrikers und Nobelpreisträgers Pablo Neruda und Musik des linken griechischen Komponisten Mikis Theodorakis. Nerudas Lyrik und Theodorakis’ Musik verbinden den Kampf der ehemaligen Kolonien in Lateinamerika mit dem der Arbeiterklasse in kapitalistischen Ländern wie Griechenland. Außerdem hatte das Proletariat in allen drei Ländern – Chile, Griechenland und Ostdeutschland – in früheren Jahrzehnten gegen ihre einheimischen faschistischen45 Diktaturen gekämpft und symbolisierte somit den abstrakten marxistisch-leninistischen Begriff der drei revolutionären Kräfte. Auf der Ebene von Bewegung und Choreografie werden diese Kräfte in Canto General sowohl durch eine Mischung von Ausdruckstanz-Bewegungen und Ballett, als auch durch die Verwendung von choreografischen Prinzipien aus lateinamerikanischen und europäischen Folkloretraditionen ausgedrückt. Indem es dieses eklektische Bewegungsvokabular verwendete, um elf Gedichte aus Nerudas berühmtem Zyklus zu illustrieren, performte das ErichWeinert-Ensemble eine utopische Vision von Weltfrieden und sozialer Gerechtigkeit. Dieses Stück bedeutete einen enormen Bruch mit der bislang praktizierten Verwendung von Folklore in choreografischen Arbeiten. Zum Zeitpunkt der Gründung der Tanzkompanie hatte Ostdeutschland versucht, seine nationale Identität durch eine unmittelbare Verwendung von ostdeutschem Folklorevokabular zu etablieren. Ende der 1970er Jahre ging es nicht mehr um nationale Besonderheit sondern um weltweite Zusammenhänge. Obwohl die Kompanie Folklore nun nicht mehr als nationalisierendes Werkzeug sondern als globalisierenden Mechanismus einsetzte, ging es ihr immer noch um die Schaffung einer Gemeinschaft. Allerdings wurde diese Gemeinschaft über die Nationalgrenzen der DDR hinaus auf die weltweite proletarische Gemeinschaft ausgedehnt. Die nationalisierende Vision der frühen Jahre wich einer globalisierenden Utopie: dem Traum von einem weltweiten Aufstand gegen die kapitalistische Unterdrückung. Dennoch ist Canto General keine bloße Darstellung des internationalen proletarischen Kampfes. Die Choreografie stellt Ostdeutschland ins Zentrum dieses Kampfes. Sowohl das Programmheft als auch die Kritiken betonen, dass die DDR ein berechtigtes Interesse am politischen Weltgeschehen hatte. Obwohl Pressemitteilungen und Interviews mit dem Choreografen Harald Wandtke die
45 Es ist mir durchaus bewusst, dass der Begriff »Faschismus« in der DDR, die sich als »antifaschistisch« verstand, anders verwendet wurde als in Westdeutschland. Ich übernehme hier absichtlich die damals übliche Terminologie, die ursprünglich den Nationalsozialismus bezeichnete, dann aber zu einem Sammelbegriff für alle antikommunistischen totalitären Regimes wurde.
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Abstraktheit des Librettos herausstellen, bleibt die Choreografie eng an Nerudas Lyrik und Theodorakis’ Musik angelehnt. In seinen Gedichten evoziert Neruda den revolutionären Kampf und die Kolonialisierung auf beiden amerikanischen Kontinenten und verankert sie in einer lebhaften Beschreibung natürlicher Schönheit und indigener Mythologie. Theodorakis unterstreicht die revolutionären und festlichen Aspekte der Lyrik, indem er die Hymne als musikalischen Hauptmodus einsetzt. Die Choreografie ahmt Theodorakis’ großartige Musik durch den umfangreichen Einsatz von Bewegungschören und starken geometrischen Mustern nach. Duette und Solos brechen aus diesen breiteren Gruppierungen aus und kehren immer wieder in das Kollektiv zurück. Auf den ersten Blick scheint eine solche Illustration von Klassenbewusstsein zu der Doktrin des sozialistischen Realismus zu passen und als bloßes Propagandawerkzeug zu funktionieren. Eine eingehendere Analyse enthüllt jedoch die Komplexität des eigentlichen Anliegens. Canto General verschmilzt Nerudas elf Gedichte zu einem abstrakten Narrativ über einen revolutionären Aufstand. Obwohl Libretto und Kostüme die Geschichte in einem vorindustriellen, imaginären lateinamerikanischen Land verorten, geht die Geschichte über nationale Eigenheiten hinaus. Das Libretto, verfasst von Bernd Köllinger, einem der wichtigsten Tanzdramaturgen in der DDR, beginnt mit der Beschreibung, wie die Menschenmassen von der grollenden Erde geboren werden. Diese Massen gebären wiederum den Dichter, einen indigenen jungen Mann. Während er Naturkräfte und mythische Gestalten anruft und mit ihnen in karnevalesken Szenerien interagiert, begegnet der Dichter der Frau. Ihre flüchtige Beziehung bringt den Baum der Freiheit hervor, aus dem der Befreier hervortritt, eine Schöpfung von Mensch und Natur. Der Befreier rüttelt die Menschen wach und organisiert sie zu einer revolutionären Kraft. Währenddessen schließt sich der Dichter einer Gruppe von reisenden Schaustellern an, die eine satirische Kritik an ihren kapitalistischen Herrschern aufführen. Der Diktator schickt seine Soldaten aus, um den Dichter zu erschießen. Der Tod seines Vaters veranlasst den Befreier, die Massen in einen revolutionären Aufstand zu führen. Die Aufständischen erinnern an den Dichter und berufen sich auf ihn, und er erwacht zu neuem Leben. Er schließt sich den Leuten an, die eins mit der Natur werden, indem sie zur Erde zurückkehren. Der revolutionäre Kreis schließt sich, als die Erde erbebt und erneut die Massen gebärt, aus denen wieder ein junger Mann hervortritt.46
46 Schmidt-Feister, Canto General.
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Abb. 10: Der Dichter (Thomas Vollmer) und das Volk werden zu Anfang von Harald Wandtkes Canto General von der mythischen Natur erschaffen, 1989.
Quelle: Archiv Darstellende Kunst. Akademie der Künste, Berlin. Foto: Reinhard Kaufhold.
Durch Verweise auf die Erde, auf Bäume und Maisfelder und auf reisende Schausteller evoziert das Libretto wiederholt ländliche Szenarien. Dennoch verweist die Natur in Canto General nicht nur auf das Landleben. Sie wird auch zu einer mythischen Kraft. Dieser Doppelsinn wird durch die choreografische Sequenz unterstrichen, die kurz nach der Geburt des Befreiers folgt. Nachdem er aus dem Baum der Freiheit hervorgetreten ist, organisiert der Befreier die chaotischen Massen zu einem Kreis. Er performt ein Solo in dessen Mitte, das sowohl aus Ballettbewegungen als auch aus abstrahiertem Alltagsvokabular besteht. Am Ende erheben sich die beobachtenden Männer und Frauen und vollführen einen folkloristischen Kreistanz mit verschränkten erhobenen Händen und einfachen seitlichen Gehschritten, der an osteuropäische und lateinamerikanische Kreisformen erinnert. Zu Paaren angeordnet, reichen die Tänzer einander die Hände auf Schulterhöhe und vollführen Mühlen gegen und mit dem Uhrzeigersinn. An-
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schließend setzen sie sich für ein erneutes Solo des Befreiers in den Kreis. Der Befreier, die Synthese aus Natur und menschlichem Wesen, initiiert diese kurze Folkloresequenz. Die Choreografie zelebriert sowohl seine Ankunft als auch die Natur durch abstrahierte Folkloremuster und abstrahiertes Folklorevokabular. Hier wird die durch den Befreier personifizierte Natur zu einer revolutionären Kraft, die die Massen schließlich in den Kampf um Gerechtigkeit führt. Das abstrakte Bewegungsvokabular verweist nicht mehr spezifisch auf ostdeutsches Folklorematerial sondern evoziert stattdessen die universelle Folklore als revolutionäres Prinzip.
Abb. 11: Der kollektive Aufstand in Canto General bringt den Befreier (Raymond Hilbert) zu dem Mädchen (Angela Reinhardt), 1989.
Quelle: Archiv Darstellende Künste, Akademie der Künste, Berlin. Foto: Reinhard Kaufhold.
Wie in diesem Kapitel gezeigt, geschah der Übergang vom Volkstanz als nationenbildendes Instrument bis zu seiner Verwendung als globalisierendes Instrument systematisch. Während in den Anfangsjahren der DDR ostdeutsches Folklorevokabular und Tänze unmittelbar eingesetzt wurden, wurde Folklore später zu einer Quelle für die Entwicklung neuer Tänze durch die Übernahme von bereits abstrahiertem Folklorevokabular und von Prinzipien nationenübergreifender Folklore. Diese Verschmelzung von choreografierter Ideologie und technischer Meisterschaft führte zu dem Ergebnis Canto General, einem spektakulären Massenereignis, das die Fähigkeiten von ostdeutschem Tanz und Choreografie im
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Dienste der Zielsetzungen des Staates ausstellte. Allerdings kamen Form, Inhalt und Format von Canto General dem ostdeutschen Publikum im Jahre 1989 bereits veraltet vor. Wie sich herausstellen sollte, war Canto General der Schwanengesang einer verschwindenden offiziellen Nationalkultur. Ihr Vokabular und ihre Strukturen waren unauflöslich mit der politischen Geschichte Ostdeutschlands verbunden – vom Zeitpunkt des Mauerbaus im Jahr 1961 bis zu seinem unerwarteten Zusammenbruch 1989. 1989 überraschte eine Produktion wie Canto General die Zuschauer. Das Stück schien einer anderen Ära anzugehören. Es war das letzte, das die Diskrepanz zwischen der offiziellen ostdeutschen Doktrin vom Tanz im Dienste der sozialistischen Ideologie und den alternativen Produktionen von AmateurTanzkompanien an kleineren Spielorten sichtbar machte. Diese alternativen Produktionen wiesen in Bezug auf Inhalt und Technik mehr Ähnlichkeiten zu internationalen Entwicklungen auf. Die Amateurkompanien, die sie produzierten, konnten Choreografien entwickeln, die relevante soziale Probleme darstellten oder formale Fragen im Tanz untersuchten. Jo Fabian ist ein Beispiel für derartige fortschrittliche Entwicklungen. Er inszenierte seine ersten großen Produktionen mit dem Amateur-Tanz- und Theaterensemble an der Leipziger Universität und wurde in der Zeit um den Mauerfall zu einer Leitfigur im ostdeutschen Tanz. Frederic Jamesons Behauptung, dass »jegliches Klassenbewusstsein egal welchen Typus utopisch ist, insoweit es die Einheit eines Kollektivs ausdrückt«, spiegelt den von der Regierung verordneten Übergang von einer nationalen zu einer weltweiten Utopie wider. »Derartige Kollektive sind selbst Figuren für das ultimative konkrete kollektive Leben einer erreichten utopischen oder klassenlosen Gesellschaft«, fügt Jameson hinzu.47 Dieser Übergang sollte Ostdeutschland seinem kommunistischen Ziel näherbringen. Wie es sich jedoch erwies, kündigte er stattdessen das Ende des sozialistischen Staates und den Verlust dieser Utopie an. Von der ausschließlichen Verwendung von Folklore während der frühen Jahre seines Bestehens bis hin zu dem abstrakten Gebrauch in Canto General bemühte sich das Erich-Weinert-Ensemble, die Gesellschaft durch Choreografie zu verändern. Doch war das eigentliche Wesen von Folklore im Grunde nicht mit der marxistisch-leninistischen Ideologie der DDR vereinbar. Folklore betont das Regionale oder Nationale und differenziert Menschen in Individuen mit eindeutiger Geschlechtszuweisung. Der Maxismus-Leninismus hingegen träumte von universellen Gesellschaftsstrukturen und gleichwertigen Subjekten in einer klassenlosen Gesellschaft. Während ihres gesamten Bestehens hatte die DDR mit
47 Jameson, The Political Unconscious, S. 291.
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diesem Widerspruch zu kämpfen. Letztlich wurde er zu einem zusätzlichen Faktor für den Untergang des sozialistischen Staats. Das folgende Kapitel befasst sich mit einer Thematik, die damit eng zusammenhängt. Es betrachtet eine Strategie zu Überwindung der Inkongruenz zwischen der stagnierenden Ideologie des Staates und seinen fortschrittlicheren Tanzproduktionen, verkörpert in der Spannung zwischen sozialistischem Realismus und Moderne. Dies soll am Beispiel der singulären Interpretation des Begriffes »Tanztheater« durch das Tanztheater der Komischen Oper Berlin untersucht werden.
2 Ostdeutsches Tanztheater Der sozialistische Realismus und die Moderne (1960er und 1970er Jahre)
Wissenschaftler reduzieren den ostdeutschen Staat häufig auf seine Diktatur. Anstatt ihn in Beziehung zu anderen sozialistischen Ländern zu untersuchen, vergleichen sie ihn lediglich mit entwickelten kapitalistischen Staaten, vor allem mit Westdeutschland. Dieser einseitige Forschungsansatz wendet westliche Konzepte von Arbeit, Marktstrukturen und politischen Systemen als Messinstrumente an.1 Wenn man sich auf derart universalisierte westliche Konzepte von Modernität und Fortschritt und den angeblichen Triumph des Kapitalismus als weltumspannende politische und wirtschaftliche Struktur beruft, fällt es natürlich leicht, die sozialistische Ideologie und die damit einhergehenden kulturellen Produktionen als fortschrittsfeindlich abzustempeln. Dabei machten die fortgeschrittene Industrialisierung, die effiziente Massenproduktion, die starke bürokratische Verwaltung, die ausgeprägten Überwachungsfähigkeiten, die Säkularisierung und der Bruch mit der traditionellen Geschlechtszuweisung innerhalb der Arbeitsstrukturen die DDR von Anfang an zu einem modernen Staat.2 Während die 1950er Jahre von der Einführung des Sozialismus im sowjetischen Sektor geprägt waren, kam es in den 1960er Jahren zu einer Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Führungsposition der SED. 1960, nach dem Tod des ersten Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, wurde der Staatsrat geschaffen, der die Regierungsposition der SED und ihres stalinistischen Vorsitzenden Walter Ulbricht stärkte. Wie in Kapitel 1 beschrie-
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Derartig beschränkte wirtschaftliche und politische Einschätzungen in Bezug auf andere nicht-kapitalistische Länder sind von Forschern aus dem Bereich der postcolonial studies kritisiert worden; siehe Pence und Betts, Introduction, S. 12.
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Ebd., S. 17.
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ben, brachte anschließend der Bau der Berliner Mauer einen kurzen Zeitraum wirtschaftlichen Aufschwungs. Zu diesem Zeitpunkt stellte die Regierung fest, dass zusätzlich zur Arbeitswelt auch andere Lebensbereiche einbezogen werden mussten, um eine moderne ostdeutsche Identität zu konstruieren. Der Einsatz des Staates für eine Verbesserung der Lebensbedingungen, der Freizeit und der Unterhaltung sollte die ostdeutschen Bürger von den Vorteilen des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus überzeugen. Konzepte wie Sozialismus, Kapitalismus und Modernität sind keine statischen Gebilde. Als diskursive Modelle hängen sie von anderen sie umgebenden historisch determinierten Diskursen ab. Modernität und das damit zusammenhängende Konzept der Moderne benötigen einen Widerpart, gegen den sie definiert werden können.3 Jahrzehntelang dienten der Sozialismus und die künstlerischen Produktionen des sozialistischen Realismus, die das politische Engagement für die Gesellschaft betonten, als Gegenkräfte zur kapitalistischen Moderne und ihrem autonomen Formalismus. Mark Franko erinnert an die mittlerweile berühmte Diskussion zwischen Sally Banes und Susan Manning, in deren Verlauf Manning Banes’ amerika-zentrische und chronologische Periodisierung des modernen Tanzes hinterfragte. Er legt dar, wie die Charakterisierung der frühen Moderne im amerikanischen Modern Dance von dem damit einhergehenden formalistischen Diskurs abhängt.4 Franko hebt außerdem hervor, wie das, was im Tanz als Moderne gilt, ständig in Verbindung zu gesellschaftlichen Entwicklungen und der eigenen Geschichte des Tanzes neu angepasst wird, und fordert eine Neubewertung des Modern Dance »im Lichte seines eigenen künstlerischen, kulturellen und politischen Kontexts«.5 Gleichzeitig betrachtet er den Modern Dance wegen seiner »politischen Intentionen« und seiner unzweifelhaften Beschäftigung mit Klassen- und Genderpolitik6 als unrein oder sogar teilweise antimodernistisch. Dementsprechend argumentiert Frederic Jameson, dass die Konzepte von Moderne und Realismus »aus zwei Systemen übernommen sind, die nicht miteinander in Beziehung stehen, und wie die beiden wohlbekannten Linien, die einander in die Unendlichkeit verlängert niemals treffen, nicht mitei-
3
Andere Widerparts sind das Primitive, das Emotionale, das Klassische oder das Politische. Diese Widerparts sind einander gegenüber nicht exklusiv und werden oft mit einbezogen, um die Moderne zu aktualisieren.
4
Franko, Dancing Modernism/Performing Politics, S. 39; Manning, »Modernist Dog-
5
Franko, Dancing Modernism/Performing Politics, S. 40.
6
Franko, »Some Notes on Yvonne Rainer, Modernism, Politics, Emotion, Perfor-
ma and Postmodern Rhetoric«; »Letters from Sally Banes and Susan Manning«.
mance, and the Aftermath«, S. 290.
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nander vergleichbar sind«. Er führt diesen Punkt näher aus, indem er feststellt, dass »Moderne eine ästhetische Kategorie ist und Realismus eine epistemologische; der Wahrheitsanspruch der zweiten ist mit der formalen Dynamik der ersteren nicht vereinbar.«7 Ich behaupte jedoch, dass Tom Schillings ostdeutsches Tanztheater die Vorstellung widerlegt, Moderne und sozialistischer Realismus seien nicht miteinander vereinbar.8 Künstlerische Produktion kann sowohl als ästhetisches Projekt wie als politische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen verstanden werden. Trotz ihrer Forderung nach Formalismus und Autonomie von der gesellschaftlichen Sphäre erforscht die Moderne gesellschaftliche Systeme. Und trotz seiner Konzentration auf die Repräsentation einer Essenz von Wirklichkeit untersucht auch der sozialistische Realismus ästhetische Formen. Als ostdeutscher Choreograf war Schilling gezwungen, sich nach der Doktrin des sozialistischen Realismus zu richten. Gleichzeitig beschäftigte er sich in seinen sich verändernden choreografischen Ansätzen über die 1960er und 1970er Jahre hinweg dennoch mit den Schlüsselaspekten der Moderne: künstlerische Autonomie, formalistische Selbstreflexivität, Vorstoß zur Essenz menschlicher Erfahrung durch die Ausräumung von Subjektivismus und Emotionalität. Es wird für gewöhnlich angenommen, dass sozialistisch-realistische Kunst moderne Kunst – oder in der Terminologie des sozialistischen Realismus »formalistische Kunst« – in Frage stellt und somit versucht, die Moderne als eine gesellschaftliche Periode zu überbrücken.9 Im tanzgeschichtlichen Diskurs werden Produktionen sozialistischer Choreografen und Tänzer auf ihre politische Dimension reduziert und nicht auf ihren Beitrag zur modernen Kunst hin unter-
7
Jameson, A Singular Modernity, S. 124. In seinem Nachwort zu Bloch et al., Asthetics and politics von 1977, in der er die Einverleibung modernistischer Prinzipien in den Realismus und einen politischen Modernismus diskutiert, präsentiert Jameson eine komplexere Perspektive auf die Beziehung zwischen Moderne und Realismus (S. 206, S. 209).
8
Die Institution des Tanztheaters der Komischen Oper Berlin ist in der DDR lange Zeit
9
Siehe Lukács, »Critical Realism and Socialist Realism» oder alle anderen in diesem
deckungsgleich mit dem ostdeutschen Konzept von Tanztheater. Kapitel zitierten ostdeutschen Dokumente, die den sozialistischen Realismus unterstützen und Formalismus und Dekadenz – beides Codewörter für Moderne und Abstraktion – verdammen. Siehe ebenfalls Petra Stubers Wiedergabe der Debatte zum sozialistischen Realismus in Ostdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in Spielräume und Grenzen und Gay Morris’ Untersuchung der Rhetorik des Kalten Krieges in A Game for Dancers.
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sucht.10 Die Perspektive des westdeutschen Tanzhistorikers Jochen Schmidt ist ein Beispiel für derartig reduzierendes Denken. In seinem Buch Tanztheater tut Schmidt Tom Schillings Tanztheater kategorisch als altmodisch und politisch korrupt ab.11 Schmidts Meinung nach verdient Schillings Arbeit die Bezeichnung »Tanztheater« nicht. Der Begriff war in den 1980er Jahren zu einer Art Gütesiegel geworden, das auf zeitgenössische deutsche Tanzproduktionen angewendet wurde und das man international Pina Bausch zuordnete.12 Schmidt argumen-
10 Die Theoretisierung von afro-amerikanischem Tanz sieht sich einem vergleichbaren Dilemma gegenüber. Richard Green in »(Up)Staging the Primitive: Pearl Primus and ›the Negro Problem‹ in American Dance« und Anthea Kraut in Choreographing the Folk setzen sich beide mit der komplexen Problematik moderner afro-amerikanischer Künstlerschaft und mit dem Antagonismus zwischen einer modernen Ästhetik und einer afro-amerikanischen Identität auseinander. Beide Autoren sorgen sich um die Tilgung von afro-amerikanischen Choreografen und Tänzern aus der kanonischen Tanzgeschichte. In ihrer Analyse von Pearl Primus und Zora Neale Hurston gehen jedoch beide über Brenda Dixon Gottschilds wertvolle Arbeit hinaus, die den Einfluss afroamerikanischer Künstler und dadurch den Einfluss einer afrikanistischen Ästhetik auf den nordamerikanischen Tanz enthüllte (Digging the Africanist Presence in African American Performance, S.11-19). Green ergänzt Gottschilds Projekt dadurch, dass er die Einschätzung afro-amerikanischer Tänzer und Choreografen als afro-amerikanisch oder modern, aber niemals als beides problematisiert. Wie Green feststellt, kann eine derartige Kategorisierung dabei helfen, Identitätsproblematiken in der Arbeit der afroamerikanischen Choreografen zu untersuchen. Gleichzeitig schließt sie jedoch afroamerikanische Tanzkünstler von jeglichem Diskurs über moderne Kunst aus und hemmt so die Entwicklung einer Darstellung der Moderne über ethnische Grenzen hinweg. Kraut weist auf die Fähigkeit weißer Tänzer hin »sich selbst als innovative Künstler zu konstruieren, indem sie mit schwarzem ›Rohmaterial‹ arbeiten« (Choreographing the Folk, S. 174). Im Gegensatz dazu wird die Innovation schwarzer Tänzer auf einen kulturellen Ausdruck reduziert und nicht in den Kanon der Moderne aufgenommen. Gay Morris spricht in ihrer Untersuchung von Pearl Primus’ und Taley Beattys Beharren auf Virtuosität als einem wichtigen Ausdruck für afroamerikanische Künstler dieselbe Problematik an (A Game for Dancers, S. 115-146). 11 Schmidt, Tanztheater in Deutschland, S. 219. 12 Schmidts Weigerung, Schillings Arbeit als »Tanztheater« zu bezeichnen, geht Hand in Hand mit seiner Abqualifizierung des ostdeutschen Tanzes als antimodern. Schmidt führt aus, dass der Begriff »Tanztheater« wahrscheinlich zum ersten Mal von Kurt Jooss 1935 in »Die Sprache des Tanztheaters« benutzt wurde. Jooss’ Tochter Anna Markard gibt jedoch an, dass Jooss den Begriff erstmals 1928 in einem Vortrag beim
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tiert, dass Schillings Arbeit »dank des politischen Drucks über Dekaden hinweg« weder eine »ernsthafte Auseinandersetzung mit der Tradition des Ausdruckstanzes wie des Modern Dance« aufwies.13 Diese Einstellung weist der westdeutschen Tanzszene die moderne, fortschrittliche und in stetem Wandel begriffene Rolle zu, und der ostdeutschen Tanzszene die politisch reaktionäre und stagnierende. Kurz gesagt: Westlicher Tanz war modern, und ostdeutscher Tanz war es nicht. Parallelen zu dieser Ost-West-Dichotomie finden sich häufig in der deutschen Kunstwelt. Ähnliche Analysen wurden über deutsche Bildende Kunst und im kunsthistorischen Diskurs durchgeführt. In ihrer Diskussion des kunstgeschichtlichen Diskurses über Ostdeutschland erklärt Ulrike Goeschen die Herausforderungen für die Künstler: Ostdeutsche Künstler und Kunsthistoriker [...] wollten, dass ihre Kunst als unabhängig vom gesellschaftlichen System betrachtet wird und dass die Individualität der Arbeit eines
zweiten Tänzerkongress in Essen verwendete (The Green Table, S. 20). Karl Toepfer führt einen Artikel von Laban aus dem Jahr 1922 als früheste Verwendung dieses Begriffes an (Empire of Ecstasy, S. 397). 1966 nannte Schilling seine Kompanie, in Anlehnung an die Verwendung des Begriffes Musiktheater durch seinen Mentor Walter Felsenstein, Tanztheater der Komischen Oper Berlin. Diese Bezeichnung war selbstverständlich programmatisch gemeint. Das erste Mal, dass ein westdeutscher Choreograf diesen Ausdruck benutzte, war 1972, als Gerhard Bohner seine Kompanie Tanztheater Darmstadt nannte (Schmidt, Tanztheater in Deutschland, S.7). Pina Bausch begann ihre Arbeit mit dem Tanztheater Wuppertal im Jahr 1973. Wie diese verkürzte Chronik des Begriffs Tanztheater demonstriert, ist die Tatsache, dass Schillings Arbeit abqualifiziert wurde, da sie kein Tanztheater sei, weder historisch noch programmatisch haltbar. Schilling benutzte den Begriff, um seine Arbeit mit dem fortschrittlichen Opernansatz an der Komischen Oper Berlin zu identifizieren und um sein Neudenken von Bühnentanz in Bezug auf Ballett und modernen Tanz zu signalisieren. Westdeutsche Choreografen wie Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann und Susanne Linke verwendeten den Begriff, um einen Bruch mit traditionellen Tanzproduktionen – hauptsächlich mit dem Ballett, das den Bühnentanz in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte – zu markieren. Diese Choreografen werden oft unter dem Sammelbegriff Tanztheater zusammengefasst, obwohl ihre Arbeiten keineswegs uniform sind und sich außerdem im Laufe ihrer individuellen künstlerischen Laufbahnen zwangsläufig weiterentwickelten. 13 Schmidt, Tanztheater in Deutschland, S. 220.
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jeden Künstlers anerkannt wird. Ihrer Meinung nach sollte man nicht über die Kunst der DDR sprechen, sondern eher von Kunst in der DDR.
14
Im Gegensatz dazu wirft die – häufig von Westdeutschen vertretene – Außenposition die gesamte ostdeutsche Kunst in einen Topf und »verwirft sie als präoder anti-moderne totalitäre Staatskunst.«15 Susan Manning spricht dieselbe Problematik im Tanz an, als sie von den Reaktionen in Ost- und Westdeutschland auf die erste vereinigte Ausstellung über Tanz in beiden Teilen der geteilten Nation an der Akademie der Künste im Jahr 2003 erzählt. Ostdeutsche sahen ihre Tanzgeschichte nicht in vollem Umfang repräsentiert, während Westdeutsche nicht verstanden, warum ostdeutscher Tanz es überhaupt verdiente, in eine derartige Ausstellung miteinbezogen zu werden.16 Goeschen schlägt vor, den normativen Status westlicher Kunst zu hinterfragen und Kunst in Ostdeutschland als etwas zu betrachten, das sich zunehmend von kulturellen Doktrinen emanzipierte. Die Einstellung ostdeutscher Künstler zur Moderne und die zunehmende Integration ausgewählter Teile davon in die Kunst der DDR dient für Goeschen als Hinweis auf die sich entwickelnde künstlerische Unabhängigkeit von staatlich kontrollierten Sichtweisen.17 Ich erweitere Goeschens Perspektive, indem ich in diesem Kapitel zeige, dass der ostdeutsche sozialistische Realismus weder eine unveränderliche Doktrin noch vollkommen unbeeinflusst von der Moderne war. Stattdessen wurde er sogar innerhalb staatlich geförderter Strukturen ständig angepasst, um den Anforderungen der sich verändernden politischen Landschaft in Ostdeutschland zu entsprechen. Während Wissenschaftler die Entwicklung der Bildenden Kunst in der DDR in Beziehung zum sozialistischen Realismus und zum Faschismus analysiert haben, müssen ähnliche Analysen der Verbindungen zwischen der Tanzproduktion und der politischen Landschaft Ostdeutschlands erst noch durchgeführt werden.18 Das Ausfüllen dieses Forschungsvakuums ist von entscheidender Bedeutung für unser Verständnis nicht nur von Tanz und Tanzgeschichte, sondern auch vom sozialistischem Realismus selbst. Genau wie im Bereich der Bildenden Kunst öffnete sich der sozialistische Realismus für Prinzipien der Moderne und nahm sie an spezifischen Punkten in den künstlerischen Produktionsprozess auf.
14 Goeschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, S. 46. 15 Ebd., S. 46. 16 Manning, Ecstasy and the Demon, S. xxii. 17 Goeschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, S. 7. 18 Baakmann und Craven, »An Introduction to Modernism-Fascism-Postmodernism«; Goeschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus.
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Zum Beispiel forderte Schillings Tanztheater die westliche Vormachtstellung in Bezug auf die Moderne dadurch heraus, dass er sozialistischen Realismus in Beziehung zu moderner künstlerischer Produktion setzte. Um diese feinen Verschiebungen in der sozialistisch-realistischen Tanzproduktion zu beleuchten, bespreche ich drei Arbeiten von Schilling und gehe dabei auf die sie umgebenden tanzhistorischen und ideologischen Diskurse ein. Durch einen Vergleich der Tänze und Diskurse lässt sich sowohl die Entwicklung des sozialistischen Realismus in der ostdeutschen Gesellschaft erkennen, als auch die Anpassung sozialistisch-realistischer Rhetorik an die sich verändernden künstlerischen Produktionen.
D IE M ODERNE
ALS KAPITALISTISCHES
P ROJEKT
Obwohl ich die Beziehung zwischen sozialistischem Realismus und Moderne hier in einem spezifischen nationalen und historischen Kontext neu betrachte, werde ich durch die Tatsache herausgefordert, dass beide Konzepte je nach Kontext (künstlerische Praxis oder kunstkritischer Diskurs) unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Außerdem sind sie in Abhängigkeit von der sich verändernden politischen Situation oft neu definiert oder neu ausgedrückt worden. Um Moderne und sozialistischen Realismus historisch und politisch neu zu denken, behandele ich zunächst einige dieser semantischen Herausforderungen und liefere so einen klareren terminologischen Rahmen für meine Analyse von Schillings Choreografien. Der umstrittene Terminus »Moderne« wird in der Theorie häufig in Beziehung zu dem Terminus »Modernität« gebracht. Allerdings sind diese Begriffe nicht austauschbar, da beide eine Reihe unterschiedlicher Programme bedienen. »Moderne« bezieht sich für gewöhnlich auf eine Periode der gesellschaftlichen Entwicklung der westlichen Gesellschaft und ihrer philosophischen, technologischen und ökonomischen Grundlagen.19 In den Humanwissenschaften bezeichnet Moderne die Bildung von Nationalstaaten und die zunehmende Beherrschung Europas durch bürgerliche und kapitalistische Wertvorstellungen. Ihr Beginn wird oft auf die Aufklärungszeit datiert, deren Werte Vernunft, Rationalität und Kausalität sie angeblich teilt. Moderner Fortschritt wird durch die Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen gefördert und durch ein radikales Neudenken der Position der Menschen im Verhältnis zur Natur, zueinander und zur Gesellschaft. Geschichte wird nicht mehr als ein Narrativ der Entwicklung einer Ge-
19 Berman, Preface to Modernism, S. 3.
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sellschaft betrachtet, sondern stattdessen als eine Form, die diese Entwicklung gestaltet und beeinflusst.20 Diese soziale und politische Vision wird durch Beherrschung und Kolonialisierung in andere Teile der Welt exportiert. Zwar ist diese Definition längst zu einem Gemeinplatz in akademischen Diskursen geworden, doch bietet uns die Geschichte des Tanzes in der DDR eine wichtige Gelegenheit, sie differenzierter zu betrachten. Wie Jürgen Habermas in seinem Artikel »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« aufzeigt, wurde das Wort »modern« Ende des 15. Jahrhunderts zunächst verwendet, um die offizielle christliche Gegenwart von der heidnischen römischen Vergangenheit abzugrenzen.21 Für zahlreiche spätere Epochen wurde der Ausdruck zu einem Codewort, um das Neue vom Alten zu unterscheiden, auch als Kritiker danach strebten, einen Dialog mit der klassischen Periode beizubehalten. Habermas macht erst mit dem Einsetzen der Romantik ein Abweichen von dieser Beschäftigung mit der Klassik aus. Von da an konnotiert Moderne ein Gegengewicht zu Tradition und Geschichte.22 Andere Theoretiker wie Henri Lefebvre und Jameson teilen dieselbe Definition der Moderne als des ständig Neuen, einem Begriff also, der mit unterschiedlichen Bedeutungen und Strukturen gefüllt werden kann. Jameson weist außerdem auf nationale Unterschiede im Verständnis des Zeitrahmens und der Anwendung des Begriffs hin: Die deutsche Definition beginnt mit der Aufklärung und ist humanistisch geprägt, während die französische Definition mit Baudelaire und Nietzsche beginnt und Skepsis gegenüber dem Fortschritt einschließt.23 Je nach Sprache sehen wir auch Unterschiede in Semantik und Gebrauch. Im Englischen gibt es eine Unterscheidung zwischen modernity und modernism: Jameson schlägt vor, den ersten Begriff als eine historische Periode und den zweiten als eine ästhetische, philosophische und ideologische Reaktion auf diesen Kontext zu definieren.24 Im Deutschen wird der Ausdruck »die Moderne« für beide Bedeutungen benutzt; eine Unterscheidung wird durch das Hinzufügen des Adjektivs »ästhetische« gemacht, um die Kunstepoche zu bezeichnen. Um Verwirrung zu vermeiden, verwende ich bei der Diskussion der USamerikanischen und deutschen Standpunkte den englischen Ausdruck modernism, wenn ich die große Anzahl von künstlerischen Produktionen zwischen der
20 Ebd., S. 3. 21 Habermas, Die Moderne, S. 33. 22 Ebd., S. 34. 23 Jameson, A Singular Modernity, S. 99; Lefebvre, Einführung in die Modernität, S. 197. 24 Ebd., S. 99.
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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts meine. In diesem Kapitel interessiere ich mich hauptsächlich für die Zeit des Kalten Krieges, obwohl ich wenn nötig auch auf frühere Entwicklungen verweise. Ebenso wie modernity je nach Kontext verschiedene Bedeutungen haben kann, wird auch modernism in Abhängigkeit vom künstlerischen Feld, dem disziplinären Diskurs, der Periode oder dem nationalen Kontext unterschiedlich definiert. Die einzige allgemeine Übereinstimmung betrifft den Bruch, der von der modernen Kunst gleichzeitig verursacht und wiedergespiegelt wird. Susan Stanford Friedmann schlägt die folgenden differenzierten Definitionen in unterschiedlichen disziplinären ästhetischen Diskursen vor: Kritiker modernistischer Lyrik machen häufig eine Poetik der Fragmentierung, der Parataxe, des Bildes, und idiosynkratische Rhythmen und Klangmuster aus. Kunsthistoriker achten häufig auf den Bruch mit dem Realismus und die zunehmende Konzentration auf die Form, vor allem auf reine geometrische Figuren und Ebenen. Architekturhistoriker sehen häufig den sparsamen funktionalistischen Minimalismus von Bauhaus-Design oder Hochhäusern als Ausdruck von Moderne und ihrer Ästhetik im Maschinenzeitalter. Für Musikhistoriker könnte die Aufnahme von Primitivismus und Atonalität durch einen Komponisten wie Strawinski dessen Modernität konstituieren. Medienkritiker betrachten die radikalen Auswirkungen der neuen mechanischen Reproduktionsmöglichkeiten - Fo25
tografie, Radio, Kino, Fernsehen - auf das Abbild und den Klang der Moderne.
Tanz und Tanzgeschichte – die in Friedmans Liste fehlen – sind häufig durch die künstlerische Praxis und den Diskurs anderer Kunstformen geprägt, so wie zum Beispiel in der Beschäftigung mit dem Jugendstil in der Choreografie von Loïe Fuller, oder dem Austausch zwischen Gret Palucca und der Bauhaus-Bewegung und expressionistischen Künstlern wie Ernst Ludwig Kirchner und Wassily Kandinsky.26 In ihrer Analyse von Kandinskys Zeichnungen von Palucca bestätigt Susan Laikin Funkenstein die Diskrepanz zwischen der beschränkten Definition des Bauhauses von moderner Kunst als unabhängig von Kultur, Gesellschaftsstrukturen und Politik auf der einen Seite und der Realität, dass sich die moderne Kunst in den 1920er Jahren in regem Austausch mit sozialen Strukturen in Deutschland und Europa befand. Funkensteins Betrachtung der Zusammenarbeit der Moderne mit scheinbar entgegengesetzten Bewegungen wie Körperkultur
25 Friedman, »Definitional Excursions«, S. 501. 26 Albright, Traces of Light.
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und der Frauenbewegung erlaubt es ihr, die etablierten Gegensatzpaare der Moderne (männlich/weiblich, Geist/Körper, Hochkultur/Massenkultur) zu hinterfragen, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Clement Greenberg endgültig festgeschrieben werden sollten.27 Indem sie das scheinbare regendering von Paluccas weiblichem Körper in Kandinskys Zeichnungen im Einklang mit seiner konstruktivistischen Darstellung ihres sich bewegenden Körpers und somit der männlichen Konnotation der Bilder betrachtet, gelangt Funkenstein zu der Schlussfolgerung, dass die abstrakte Moderne des Bauhauses keineswegs geschlechtsneutral ist. Sie vertritt das Argument, dass die Neutralisierung von Paluccas Weiblichkeit eher die Androgynität der Neuen Frau widerspiegelt. Es handelte sich somit um einen Ausdruck und eine Verherrlichung von Neuheit, Kosmopolitismus und urban-technologischer Innovation, und eine Hinterfragung traditioneller weiblicher Geschlechterrollen in der damaligen Gesellschaft.28 Obwohl Kandinskys Konstruktivismus mit Männlichkeit assoziiert war, demonstrieren seine Beschäftigung mit Tanz und die Präsenz von Paluccas Persönlichkeit in seiner Arbeit eine Überwindung etablierter Gegensätze, und vor allem eine Interaktion mit zeitgenössischen Gesellschaftsstrukturen und politischen Strategien. Funkensteins Argument ist wichtig für mein eigenes Neudenken des Gegensatzpaares sozialistischer Realismus und Moderne im Tanz, da es Schlüsseleigenschaften problematisiert, die die beiden in Gegensätze spalten. Einerseits muss sozialistisch-realistische Kunst politische Strukturen realistisch darstellen und eine universelle und essentielle Wahrheit mitteilen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sie den Inhalt höher schätzen als formale Untersuchungen und gleichzeitig Subjektivität und die Unterscheidung zwischen Hoch- und Massenkultur ausräumen. Die Moderne dagegen strebt durch Abstraktion und formalistische Selbst-Reflexivität, die Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur und eine Auslöschung der Emotionalität nach künstlerischer Autonomie von Gesellschaftsstrukturen. Interessanterweise arbeitet sie auch auf eine essentielle Wahrheit hin, wenngleich durch das Kunstwerk selbst und nicht durch gesellschaftliche oder politische Relevanz.29
27 Funkenstein, »Engendering Abstraction«, S. 390. 28 Ebd., S. 403. 29 Dies sind Charakteristika, die wiederholt in der Literatur über die Moderne erwähnt wurden. Sie sind natürlich anfechtbar und wurden über die Jahrzehnte hinweg immer wieder in Frage gestellt. Es wird deutlich, wie stark sie vom Greenbergschen und USamerikanischen Diskurs über den Modern Dance im Allgemeinen durchdrungen sind. Wie sehr die Definition der Moderne rückblickend vereinheitlicht wurde, wird jedoch
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Diese Charakteristika tauchen in unterschiedlichen nationalen Diskursen über Moderne und sozialistischen Realismus auf. Zum Beispiel gibt Gay Morris Gertrude Lippincotts Aussage aus dem Jahr 1948 wieder, als sie auf die sowjetischen Formalismus-Vorwürfe gegen moderne Komponisten wie Dmitri Schostakowitsch, Aram Khatschaturian und Sergej Prokoffjew reagierte: »Wahre Kunst kann nicht politisch sein, da sie ›nationale und politische Beschränkungen überschreitet und die gesamte Menschheit anspricht‹«.30 Morris zeigt auf, dass Lippincotts Bemerkung die bedrohte Position der Tanzmoderne nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt, die wesentliche Elemente menschlicher Erfahrung als von der Politik unabhängig universalisierte. Eine derartig vehemente Bestätigung der politischen Autonomie der Tanzmoderne angesichts des sowjetischen Formalismus-Verbots trug bedeutend zur Entwicklung der US-Moderne und ihres globalisierenden Diskurses bei. Diese Perspektive war außerdem ein Grund dafür, dass der sozialistische Realismus als anti-modern bezeichnet wurde. Die Entwicklung der US-amerikanischen Moderne im Allgemeinen und des Modern Dance im Besonderen muss zumindest in der Nähe zu Greenbergs Loblied auf den Abstrakten Expressionismus in seinem »American-Type Painting« von 1955 gelesen werden. Dieser Aufsatz trug wesentlich zur Behauptung einer weltweiten Führungsrolle der USA im Bereich der modernen Kunst bei.31 In »American-
deutlich, wenn sich sogar zeitgenössische deutsche Tanzwissenschaftler in ihren Diskussionen über Ausdruckstanz oder Modern Dance auf diese Charakteristika beziehen und nicht zum Beispiel auf Adornos wesentlich stärker politisch bewusste ästhetische Moderne. Siehe z.B. Huschka, Moderner Tanz; Siegmund, Abwesenheit; und Brandstetter, »Still/Motion«. Wie ich erkläre, wird meine Verwendung dieser Definition von der ostdeutschen Rhetorik bestimmt, die Moderne, Formalismus und Dekadenz anprangerte. 30 Morris, A Game for Dancers, S. 12. 31 Sogar Harold Rosenberg, der in seinem 1952 erschienen Werk »American Action Painters« den Körper und seine Kunstproduktion in die Definition von moderner Kunst miteinbezieht, musste die dominierende Macht von Greenbergs Definition akzeptieren. Für eine ausführliche Kritik an Rosenbergs Position und seiner Reduzierung von Pollocks Körper auf eine Rhetorik, siehe Jones, Body Art/Performing the Subject, S. 72f. Siehe ebenfalls Greenbergs »Avant-Garde and Kitsch«. Hier legt Greenberg einige der Hauptcharakteristika der modernen Kunst fest, die er in seinem 1960 erschienenen Buch Modernist Painting genauer erklärt. Interessanterweise betrachtete er zum Zeitpunkt des Erscheinens von »Avant-Garde and Kitsch« den Sozialismus als den zukünftigen Retter der ernsthaften Kunst vor der Vereinnahmung durch den Kitsch.
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Type Painting« erklärte Greenberg eine in höchstem Maße subjektive Geschichte der modernen Kunst für allgemeingültig, in welcher nicht-westliche Einflüsse und die gesamte europäische Kunst in der abstrakten amerikanischen Malerei kulminierten.32 Wie zahlreiche andere Kritiker einer derartig hegemonialen Historisierung stellt auch Amelia Jones die maskulinistische Reinhaltung von künstlerischer Praxis, Rezeption und Inhalt in Greenbergs Aufsatz und seinen anderen Schriften über abstrakten Expressionismus und insbesondere über Jackson Pollock heraus.33 Jones erklärt, dass normative Maskulinität in moderner künstlerischer Produktion und Rezeption auch andere identitäre Machtpositionen wie Heterosexualität, weiße Hautfarbe, Zugehörigkeit zur Mittelklasse und – wie ich hinzufügen würde – Staatsbürgerschaft beinhaltet.34 Anscheinend forderte die durch die Angst vor der Uniformität und Konformität der Massenkultur, ihren Konsum durch überwiegend weibliche Bürger und das Auftreten einer neuen weiblichen Subjektivität ausgelöste Krise der männlichen Verkörperung nach dem Zweiten Weltkrieg die unabhängige moderne Kunst in den USA heraus. Folglich werden Schlüsseleigenschaften moderner künstlerischer Praxis gleichzeitig hervorgehoben und angefochten. US-amerikanische moderne Kunst wird als abstrakt oder zumindest formalistisch, universell, elitär und als unabhängig von gesellschaftspolitischen Strukturen und somit als geschlechtsneutral definiert. Wie jedoch Kandinskys Zeichnungen von Palucca andeuten, trägt die Moderne auch all diese abgelehnten Kategorien in sich. Ihre abstrakte, formalistische, universelle, elitäre, unabhängige und geschlechtsneutrale Einstellung wird konstruiert, indem eine privilegierte Maskulinität gleichzeitig evoziert und verschleiert wird. Also befindet sich die Moderne im Austausch mit gesellschaftlichen Strukturen. Dies wird unter anderem durch ihre Angst vor Massenkultur und die nationalspezifische Konstruktion ihrer Maskulinität deutlich. Natürlich sind all diese Prozesse unendlich komplexer, wenn man sie in Bezug auf den Tanz durchdenkt, wo Verkörperung nicht so einfach verschleiert oder ausgeklammert werden kann wie in der Bildenden Kunst. Außerdem dominiert im Tanz weibliche Verkörperung. Somit muss sich, wie Franko nachweist, der Tanz mit »einer Menge unterschiedlicher Polemiken in Bezug auf Geschlechtsidentität«35 auseinandersetzen. Sogar männliche abstrakte Choreografen
32 Greenberg, »American-Type Painting«, S. 208-229. 33 Jones, Body Art/Performing the Subject, S. 74ff. 34 Ebd., S. 271-277. 35 Franko, »Some notes on Yvonne Rainer, Modernism, Politics, Emotion, Performance, and the Aftermath«, S. 290.
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des Modern Dance müssen sich mit diesem Problem befassen. Philip Auslander beschreibt die Strategien des Choreografen Alwin Nikolais in Bezug auf Greenbergs Definitionen.36 Nikolais machte die Tänzerkörper sowohl durch die Verwendung von Ganzkörperkostümen unkenntlich, die sich nicht an die Form des menschlichen Körpers anpassten, als auch durch Licht und Bühnenbild, die den Körper fragmentierten, verdeckten und verkleideten. Doch vor allem konzentrierte er sich stärker auf die Bewegung als auf die Körper der Tänzer. Wie Auslander aufzeigt, verkompliziert dieser Ansatz Probleme von Repräsentation und agency der Tänzer. Dennoch feiert er die Freiheit von Nikolais und anderen modernen Künstlern, mit der Form als Selbstzweck zu experimentieren. Sowohl der abstrakte Expressionismus als auch Nikolais’ Tanz inszenierten die Spannung des modernen Doppelbedürfnisses, das universelle menschliche Subjekt als Referent der Kunst abzuschütteln und eine universalisierende Idee von Form zu zelebrieren.
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Dies könnte stimmen, doch hält sich Auslanders Analyse mehr mit Nikolais’ Rhetorik und seinen Zielen auf als mit einer Analyse seiner tatsächlichen Arbeit. Scheinbar abstrakt, bauen viele von Nikolais’ Choreografien eigentlich auf Narrativen, auf Slapstick und Absurditäten in zwischenkörperlichen Beziehungen auf. Sie rücken also menschliche Körper in den Vordergrund und sind keineswegs rein formalistisch. Morris unterscheidet einen expressionistischen und einen objektivistischen Modern Dance und zählt Nikolais zu den Objektivisten. Allerdings gesteht sie auch ein, dass Nikolais’ Arbeit eine Untersuchung »von grundlegenderen Energien als der menschlichen Psyche ermöglicht«.38 Anders als Auslander ist sich Morris jedoch der politischen Implikationen des Neu-Denkens des Modern Dance in Bezug auf kunsthistorische Anforderungen an moderne Kunst bewusst. Morris analysiert die Abkehr vom ausgeprägten Individualismus hin zu einer Erforschung der Form in den 1950er Jahren. Der Modern Dance behielt seine moderne Avantgardeposition bei, indem er Narrative und die »Mitteilung von essentialisierter Emotion« eliminierte, und indem er Elemente wie Improvisation, Zufallsprozesse und die Unabhängigkeit der Musik vom Tanz in den Vordergrund rückte und außerdem Charakteristika wie romantische Beziehungen in den
36 Auslander, »Motional Abstraction«, S. 159. 37 Ebd., S. 166. 38 Morris, A Game for Dancers, S. 182.
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Hintergrund verbannte.39 Morris zeigt auf, dass der Versuch des Modern Dance, sich auf Form und Autonomie zu konzentrieren, einerseits mit den Definitionen der modernen künstlerischen Praxis im Einklang steht. Andererseits kann jedoch seine Abkoppelung von Gesellschaftsstrukturen auch als Anpassung an die Ära des Kalten Krieges, der Blütezeit von Geheimhaltung und Zensur, verstanden werden.40 Morris’ Definition von Modern Dance stellt nicht die Bewegung in den Mittelpunkt, wie es Auslanders Meinung nach Nikolais tut. Stattdessen sieht Morris moderne Tänzer und Choreografen eine unterbewusste »kinästethische Sympathie« zwischen Publikum und Tanz betonen, die spezifisch für den Tanz ist, da sie verkörpert ist. Nach Morris’ Meinung wird die Vermittlung einer essentiellen Wahrheit, die so wichtig für die Moderne ist, durch das einzigartige Vermögen des Tanzes ermöglicht, von Körper zu Körper zu kommunizieren.41 Interessanterweise berief sich auch das ostdeutsche Tanztheater auf die Rhetorik der Vermittlung einer essentiellen Wahrheit durch den Körper. Schilling unterstrich häufig die einzigartige Fähigkeit des Tanzes, einem Publikum Ideen und Wahrheiten ausschließlich durch Bewegung mitzuteilen. Er behauptete auch, dass diese Eigenschaft Tanz von allen anderen Kunstformen unterscheide. Obwohl er also kinästhetische Empathie betonte, verortete Schilling seine Rhetorik gleichzeitig im sozialistischen Realismus. Für den Choreografen, der innerhalb der ideologischen Strukturen der DDR heranreifte, versetzte der sozialistische Realismus den Tanz in die Lage, dem gesamten Publikum ohne jegliche Initiation oder Vorbildung die Essenz des sozialistischen Lebens mitzuteilen. Somit war der Tanz seiner Meinung nach eine der wertvollsten sozialistischen Kunstformen.
39 Morris bezeichnet sowohl Nikolais’ als auch Cunninghams Arbeit als Modern Dance und nicht – wie es viele Wissenschaftler tun – als postmodernen Tanz. Auf der Grundlage der US-amerikanischen Definitionen von Moderne, die – wie ich in diesem Kapitel erkläre – durch einen kunstgeschichtlichen Diskurs definiert waren und somit in höchstem Maße politisch sind, gebe ich ihr Recht. Für eine Diskussion der Beziehung zwischen Moderne und Postmoderne, siehe die nach wie vor hochinteressante Auseinandersetzung zwischen Sally Banes und Susan Manning. 40 Morris, A Game for Dancers, S. 201. 41 Ebd., S. 203.
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Geboren im Jahr 1928, erhielt Tom Schilling seine klassische Ausbildung als Kindertänzer am Theater Dessau und später von den Vertreterinnen des modernen Tanzes Mary Wigman, Dore Hoyer und Gret Palucca. Er trat 1947 in Wigmans berühmter Orpheus-Produktion in Leipzig auf und dann bis 1962 als Solist an den Opernhäusern Leipzig und Dresden. Die Dresdener Oper bot ihm danach die Stelle des Chefchoreografen an, die er bis 1965 innehatte.42 Obwohl Leipzig und Dresden bedeutende kulturelle Zentren in Ostdeutschland waren, sehnte sich Schilling danach, in Ostberlin zu arbeiten, wo das Theater prestigeträchtiger und die staatliche Förderung großzügiger war, und differenziertere Zensur herrschte.43 Die Gelegenheit, nach Berlin umzuziehen, ergab sich im Jahr 1964, als Walter Felsenstein, der Intendant der Komischen Oper Berlin, nach einem Choreografen suchte, um in seiner Einrichtung eine Tanzkompanie zu begründen. Wie eine wohlbekannte ostdeutsche Tanzlegende berichtet, sah Felsenstein eine frühere Fassung von Schillings La Mer und rief danach begeistert aus: »Ihr seid alle engagiert.«44 Als Mitglied der einzigartigen und privilegierten Institution der Komischen Oper Berlin war Schilling wie kein anderer Choreograf in der Lage, den ostdeutschen Bühnentanz über mehrere Jahrzehnte hinweg neu zu denken und zu gestalten. Die Komische Oper Berlin wurde im Jahr 1947 per Dekret von Alexander Dymschitz gegründet, dem damaligen Kulturkommandanten der sowjetischen Besatzungsstreitkräfte. Sie war in einem 1892 erbauten Theatergebäude in der Nähe von Unter den Linden untergebracht. Das Gebäude blickt auf eine lange Tradition von leichter, zumeist deutschsprachiger musikalischer Unterhaltung in Gestalt von Revues und Operetten zurück. Selbst die Nationalsozialisten hatten
42 Im Jahr 1985 zog die Dresdener Oper zurück in das wiederaufgebaute Gebäude der Semperoper. Ihr offizieller Name lautet heute Sächsische Staatsoper Dresden. 43 Obwohl Ostberlin technisch gesehen kein Teil von Ostdeutschland war, sondern ein unabhängiges Gebiet, verwendete die DDR die Stadt als Regierungssitz und bezeichnete sie als Berlin, Hauptstadt der DDR. Um ihre besondere Stellung zu betonen, investierte die Regierung in die Stadt und ließ mehr Förderung in die Künste fließen. Die wichtigsten ostdeutschen Theaterinstitutionen hatten ihren Sitz in Ostberlin. Aufgrund der internationalen Sichtbarkeit dieser Einrichtungen wurde differenzierter Zensur geübt. 44 In Wirklichkeit hatte Felsenstein mehr als lediglich diese eine Choreografie und mehr als die zwei Tänzer in La Mer gesehen. Siehe die Videoaufzeichnung von La Mer aus dem Jahr 1986.
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das Theater in ihr Kraft durch Freude-Programm integriert. Obwohl Revues und Operetten einen hohen Stellenwert in der deutschen Kultur haben, werden sie häufig als Unterhaltung ohne größere kulturelle Bedeutung angesehen. Felsenstein hatte das Ziel, Kunst- und Regie-Ansätze in diesem Bereich des Musiktheaters neu zu denken, indem er die Trennung zwischen Oper und Theater aufhob.45 Im Programmheft für die Inszenierung von Johann Strauss’ Fledermaus, mit der die Komische Oper Berlin im Dezember 1947 eröffnet wurde, legt Felsenstein seine Intendanz-Philosophie dar: Der mitunter hintergründige Humor, die stellenweise sogar revolutionär- gesellschafts kritische Ironie dieses dennoch stets sprühenden, übermütigen und lebensbejahenden Wer kes [...] erweisen, daß nur der bedeutende Spaß, ernst genommen, zur wahren und unver gänglichen Heiterkeit führt. Abseits von belanglosem Amüsement und abseits vom unpo pulären Experiment soll die Komische Oper Freude bereiten.
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Diese Äußerung fasst alle von Felsenstein intendierten Neuerungen zusammen: die Suche nach der wahren und ursprünglichen Intention eines Werkes, den Wert der Tradition und eine Ablehnung künstlerischer Experimente. Gleichzeitig kommentiert er jedoch, dass musikalische Produktionen eine Fähigkeit zur Gesellschaftskritik an den Tag legen und anregende Freude schenken sollten – ohne in geistlose Unterhaltung abzugleiten. Felsenstein bekräftigt diesen Ansatz bei der Verteidigung seiner Carmen-Produktion von 1949, für die er von den Kritikern angegriffen wurde, da er die ursprüngliche Struktur der Oper mit lyrischen Texten rekonstruiert hatte. Er erklärt, dass seine Regiearbeit kein Experiment mit einer etablierten Oper war, sondern die Wiederherstellung der ursprünglichen Intention im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Praxis der Verfälschung.47 Ein solches Beharren auf der ursprünglichen Intention eines Werkes scheint Felsenstein dem konservativen Lager von Opernregisseuren zuzuordnen, die danach streben, Opern, die es wert sind, bewahrt zu werden, in musealer Weise als historische Dokumente zu reproduzieren und zu rekonstruieren. Dennoch brach Felsensteins sogenanntes realistisches Musiktheater mit etablierten Opernkonventionen, indem es allen Elementen einer Opernproduktion denselben Wert zumaß. Seinem Verständnis nach mussten Libretto, Musik, Bühnenbild und Darsteller unter dem vereinigenden Dach dramaturgischer Notwendigkeit funktionieren und nicht als Ausstellung der Virtuosität eines Stars oder als ästhetisches
45 Fuchs, The Music Theatre of Walter Felsenstein, S. 14. 46 Hasche, Schölling und Fiebach, Theater in der DDR, S. 14. 47 Ebd., S. 15.
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Opern-Blendwerk.48 Felsensteins Dramaturgie wollte die Libretti und die Handlungen der Protagonisten nicht nur verständlich machen, sondern auch demonstrieren, dass die Geschichte das einzig mögliche Narrativ für die Darstellung einer spezifischen historischen Situation bildete. Ebenso musste die begleitende Musik notwendigerweise der einzig mögliche Ausdruck für diese Situation sein. Oder, wie es Felsenstein ausdrückt: Das Herz des Musiktheaters ist es, Musikmachen und Singen auf der Bühne in eine Kommunion zu verwandeln, die überzeugend, wahrhaft und absolut wesentlich ist. Alle Probleme des Dramas und der Inszenierung sind im Vergleich dazu sekundär. Musiktheater existiert, wenn eine musikalische Handlung mit singenden Menschen eine theatrale Reali49
tät wird, die rückhaltlos glaubhaft ist.
Diese »rückhaltlos glaubhaften« Produktionen ermöglichten es den Zuschauern, die realistische Darstellung einer spezifischen dramatischen Situation zu sehen, der Oper zu folgen, ihre wahre Intention zu verstehen, die kritische Fähigkeit dieser Perspektive zu erkennen, sich mit der Darbietung auf der Bühne zu identifizieren, und das Theater verändert zu verlassen. Ein derartiges Verständnis von Realismus war teilweise vom Naturalismus beeinflusst. Allerdings war sich Felsenstein der Künstlichkeit der Opernform vollkommen bewusst und setzte sie absichtlich ein. In anderen Worten: Felsenstein glaubte an das revolutionäre Potential künstlerischer Produktion, insbesondere der Oper. Er benutzte die theatralische Künstlichkeit, um soziale Strukturen zu verändern. Als Schilling 1965 an die Komische Oper Berlin kam, blickte sie bereits auf eine beinahe 20jährige Tradition zurück. Schilling sah seine Arbeit vollkommen auf einer Linie mit Felsensteins Ansatz: Ich meine [...] daß das realistische Tanztheater seinen Realismus nicht nur vom Inhaltlichen her gewinnt, indem es einen Ausschnitt der Wirklichkeit, des realen Lebens szenisch umsetzt, sondern daß auch diese Umsetzung, die szenische Gestaltung unverwechselbar tänzerisch und ausschließlich mit tänzerischen Mitteln geschieht, und zwar so, daß der Tanz – natürlich in Verbindung mit der Musik – als wirklich glaubwürdige Erzählweise der Geschichte, der Fabel – oder auch lediglich der musikalischen Vorlage – erscheint, daß gewissermaßen die tänzerische Darstellung sich selbst begründet und sich als letztlich einzig mögliche Gestaltungsweise legitimiert.
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48 Hintze, Risi und Sollich, Realistisches Musiktheater. 49 Fuchs, The Music Theatre of Walter Felsenstein, S. 15. 50 Köllinger, Tanztheater, S. 8.
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Geschützt durch seine privilegierte Position an einer der hervorragendsten Kultureinrichtungen der Nation verwendete Schilling jegliches Tanzvokabular, das ihm für seine Kommunikation mit dem Publikum geeignet erschien und stellte dabei sogar die von den DDR-Kulturfunktionären durchgesetzte Dichotomie zwischen Ballet- und modernem Vokabular in Frage.51 In Neuchoreografien von etabliertem Repertoire, wie Werner Egks Abraxas – einem Ballett von 1948, das auf Heinrich Heines Doctor Faustus basierte (1966) –, Der Nachmittag eines Fauns (1967), Aschenputtel (1968) und Othello, der Mohr von Venedig (1969), inszenierte Schilling seine einzigartige Mischung aus unterschiedlichem Tanzvokabular. Er produzierte jedoch auch neue symphonische und klassische Ballette zu Berlioz' Symphonie fantastique (1967), seine letzte Fassung von La Mer zu Debussys gleichnamiger Komposition (1969) und Darian Bozics Concerto grosso (1969), ebenso wie Tschaikowskis Grand pas classique (1971). Schließlich schuf er neue zeitgenössische Werke wie das didaktische sozialistische Ballett Der Doppelgänger von 1969, in dem ein ostdeutscher Proletarier seine Frau mit einer ausländischen Tänzerin betrügt und von den beiden Frauen, die ihn zu seiner Gattin zurückbringen, eine Lektion erteilt bekommt. Anlässlich der Premiere von Der Doppelgänger im Jahr 1969 bezog Schilling Stellung in der anhaltenden Debatte über Realismus in Ostdeutschland. Er erklärte, dass der Begriff »Realismus« für den Tanz abgewandelt werden müsse und zitierte dabei Bertolt Brechts berühmte Äußerung, dass »Realismus nicht ist, wie die wirklichen Dinge sind, sondern wie die Dinge wirklich sind«.52 So wollte er seinem Glauben an die Notwendigkeit von künstlerischen Lösungen und spezifischen Formen Ausdruck verleihen, die über eindeutige Gesten oder die mimische Nachbildung von Realität hinausgingen. Indem er sich auf Brecht berief, wies Schilling darauf hin, dass ihm dessen Rolle bei der Gestaltung der ostdeutschen Interpretation von sozialistischem Realismus wohl bewusst war. Brecht war einer der Herausgeber der Zeitschrift Das Wort gewesen, die in den Jahren 1937-38 die berühmte Expressionismus-Debatte dokumentiert hatte, in der exi-
51 Schillings Verwendung von Ballett, (deutscher und nicht-deutscher) Folklore, Modern Dance, Jazz und Alltagsvokabular wird in vielen seiner Choreografien deutlich. Sie wird auch in Beschreibungen durch seine Assistenten und Dramaturgen offenbar. Siehe z.B. Joachim Ahnes und Hermann Neefs Beschreibung des Prologs von Schwarze Vögel, die eine Cébron-Arabeske und eine vierte Ballett-Position erwähnt (Dokumentation zur Uraufführung des Balletts »Schwarze Vögel« von Köllinger, Katzer, Schilling, S. 54). 52 Ahne und Neef, Dokumentation zur Uraufführung des Balletts »Schwarze Vögel« von Köllinger, Katzer, Schilling, S. 39.
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lierte deutsche Künstler und Kunsthistoriker ihren Standpunkt zu Tradition und Moderne in der Kunst darlegten.53 Diese Debatte, die von der ursprünglichen Definition des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion unter Stalin beeinflusst und ausgelöst wurde, stritt über die Funktion von Kunst im 20. Jahrhundert und die Beziehung zwischen künstlerischem Ausdruck und gesellschaftlichem Kontext. Gemeinsam mit dem Einfluss der sowjetischen Definition von sozialistischem Realismus bahnte die Expressionismus-Debatte den Weg für eine spezifisch ostdeutsche Umwandlung von Realismus in sozialistischen Realismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Konzept des sozialistischen Realismus basierte auf der Definition des Begriffs durch Andrei Schdanow beim ersten Kongress der sowjetischen Schriftstellerunion im Jahr 1934. Die Definition verlangte eine »lebensechte« und historisch konkrete »Darstellung der Wirklichkeit in ihren revolutionären Entwicklungen«.54 Die Darstellung der Gesamtheit aller Äußerungen in der Gesellschaft und das Vordringen unter die Oberfläche sollte die Zuschauer in die Lage versetzen, die darunterliegenden Gesetzmäßigkeiten historischer Veränderung zu begreifen.55 Von der künstlerischen Arbeit wurden Wahrhaftigkeit und historische Konkretheit gefordert, da sie das sozialistische Ziel vorantreiben sollte, die Werktätigen ideologisch zu verändern und zu bilden.56 Die doppelte Aufgabe des sozialistischen Realismus, darzustellen und zu erziehen, kombinierte somit Realismus als künstlerisches Prinzip mit den politischen Strategien sozialistischer Ideologie.57 Dieser Ansatz unterschied sich von der Verwendung des Realismus in anderen Gesellschaftsformen. Der sozialistische Realismus bildete soziale Strukturen nicht nur ab und kritisierte sie, sondern lieferte auch den Ausweg aus dem gegenwärtigen Gesellschaftssystem in eine bessere Zukunft durch den Sozialismus, der anschließend in den Kommunismus übergehen sollte. In Reaktion auf den Stalinismus, die Angst vor dem aufsteigenden Faschismus und den drohenden Krieg, beriefen sich exilierte deutsche Kommunisten in
53 Willi Bredel, Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht waren Redakteure der Zeitschrift Das Wort, die 1935 gegründet wurde. Bredel verließ die Zeitschrift 1937, um am Spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Fritz Erpenbeck übernahm von da an seine Position. 54 Herd und Obermayer, A Glossary of German Literary Terms, S. 250. 55 Hawthorn, A Glossary of Contemporary Literary Theory, S. 205. 56 Kwiatkowski, Schüler-Duden, S. 384. 57 Ich verwende den Ausdruck »Realität« in Übereinstimmung mit seiner Verwendung durch die sozialistische Propaganda. Es ist mir vollkommen bewusst, dass so etwas wie objektive Realität nicht existiert.
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der Expressionismus-Debatte in den 1930er Jahren auf diese Definition. Sie wollten Kunst als eine Waffe im gemeinsamen politischen Kampf gegen den Imperialismus einsetzen. Allerdings spaltete ihr Verständnis davon, worin eine eine solche Kunst bestehen sollte, die Künstler und Kunsthistoriker in zwei Lager: Georg Lukács, Béla Balázs und Alfred Kurella auf der einen Seite betonten die Kontinuität der klassischen Tradition, während Klaus Mann und Ernst Bloch auf der anderen Seite neue Inhalte, neue Formen und sogar eine Neudefinition der Struktur und Funktion von Kunst in Reaktion auf die neuen Realitäten ihrer Zeit verlangten.58 Mann und Bloch forderten die Unabhängigkeit der Kunst und wiesen die Idee einer eindimensionalen Verbindung von Politik und Kunst ebenso zurück wie den Begriff einer simplen Korrelation zwischen Realität und künstlerischer Darstellung. Sie setzten sich für expressionistische Techniken wie Fragmentierung, Collage und Montage ein. Balázs, Kurella und Lukács kritisierten einen derartigen Umgang mit Form und Material als inhaltsleer, bürgerlich dekadent und nicht ausreichend in Beziehung zum Volk stehend. Für sie spiegelte diese neue Kunst nicht die Wirklichkeit in ihrer Essenz wider, da sie an der Oberfläche der sichtbaren Erscheinungen blieb. Indem sie die Realität beispielsweise als fragmentiert darstellten, begriffen die neuen Kunstformen den Zusammenhang zwischen Erscheinung und (unfragmentierbarer) Essenz nicht. Zwar mochte der Kapitalismus fragmentiert und zerrissen erscheinen, doch hatte der Marxismus die darunter liegende Einheit der Produktionsbedingungen demonstriert. Die Avantgarde, der ein Verständnis für diese Einheit fehlte, stellte nicht ihre Essenz dar, sondern übersetzte stattdessen die scheinbar fragmentierte Umgebung in eine fragmentierte oder montagehafte Form.59 Im Gegensatz dazu rie-
58 Nach seiner Rückkehr aus dem Exil in der Sowjetunion im Jahr 1954 wurde Kurella zu einem der einflussreichsten Kulturpolitiker der DDR und arbeitete unermüdlich an der Implementierung des sozialistischen Realismus. Balázs, der schließlich in sein Geburtsland Ungarn zurückkehrte, ist hauptsächlich für seine filmtheoretische Arbeit bekannt. Auch Lukács kehrte in sein Geburtsland Ungarn zurück und beeinflusste von dort aus weiterhin die marxistische Ästhetik und Politik. 59 Stuber, Spielräume und Grenzen, S. 73. Stuber konzentriert sich auf die beiden Jahrzehnte nach der Gründung der DDR und auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen Entwicklungen während dieser Jahre auf die Theaterpraxis der 1970er und 1980er Jahre. Sie demonstriert eine komplexe Wechselbeziehung zwischen Kunst und Politik. Ihr Ansatz demystifiziert die Geschichte und offenbart, wie Geschichte durch soziale Interaktion konstruiert wird.
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fen Balázs, Kurella und Lukács zu einer Kunst auf, die sich den klassischen Humanismus zum Vorbild nehmen sollte.60 Schließlich griff Brecht in die Debatte ein und wandte sich gegen Lukács’ Position. Letztlich kam es dazu, dass die beiden Schriftsteller die antithetischen Perspektiven in der Debatte vertraten. Lukács bewunderte die klassische Periode der deutschen Literatur, er schätzte sowohl deren Hauptvertreter Johann Wolfgang von Goethe als auch den kritischen Realismus eines Thomas Mann. Brecht war der Meinung, dass diese beiden Autoren und die literarischen Schulen, die sie vertraten, einer kritischen Überprüfung bedurften. Er verwendete neue kritische Methoden, wie Reportage, Montage und Distanzierung, um die Widersprüche in der modernen Gesellschaft darzustellen. Brecht setzte eine große Bandbreite von theatralen Techniken aus den unterschiedlichsten historischen und kulturellen Bereichen ein, um sowohl den Schauspieler an der Identifikation mit seiner Rolle zu hindern als auch das Publikum an der Identifikation mit dem Theaterereignis. Er betonte die Körperlichkeit seiner Schauspieler und wollte die dargestellte Realität durch die Art und Weise betonen, wie sie auf der Bühne repräsentiert wurde. Lukács dagegen betrachtete all diese Techniken als bürgerlich und dekadent und verlangte, dass Kunst die Essenz der Wirklichkeit in einer vereinigenden Form repräsentieren sollte. Er forderte eine Übereinstimmung zwischen der Repräsentation der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst. Die Theaterhistorikerin Petra Stuber definiert die eben genannte Verwendung des Realismus als nicht mit dem marxistischen Materialismus konform. Der sozialistische Realismus begünstigte ihrer Meinung nach illusorische und idealisierende Darstellungen der Realität. Sie argumentiert, dass Lukács’ Kunstdefinition von Hegels und Thomas von Aquins Philosophie beeinflusst war. Darin verbirgt sich die Essenz der Wirklichkeit hinter ihren Erscheinungen und Konzepten, ist jedoch trotzdem in der Lage, sich zu enthüllen. Somit stellt der Realismus nach Lukács die Essenz einer Gesellschaft so vollständig wie möglich aus. Ein derartiges Kunstverständnis behandelt Konzepte und Erscheinungen in der Gesellschaft als soziale Konstruktionen. Allerdings bleiben die Gesetze, die diese Erscheinungen konstruieren, sowie eine darunterliegende Essenz, außer-
60 Die Position dieser drei Autoren hängt eng mit der des Ersten Kongresses Sowjetischer Schriftsteller im Jahr 1934 zusammen. Damals rief Andrei A. Schdanow in einer Rede dazu auf, auf die Tradition anstatt auf neue Erfindungen zu bauen und die Idee des Experiments in der sozialistischen Kunst abzulehnen. Die Kommunistische Partei Deutschlands kam zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, indem sie sich im Kampf gegen den Faschismus beim Parteitag in Brüssel im Oktober 1935 auf die klassische deutsche Tradition konzentrierte; siehe Stuber, Spielräume und Grenzen, S. 72.
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halb dieser Konzepte und Erscheinungen und von ihnen unbeeinflusst. Die Vorstellung, dass es möglich sei, sich durch all die Konzepte, Namen und Erscheinungen hindurchzuarbeiten, um zu einer unveränderlichen Essenz zu gelangen, ist eine idealistische Position. Somit waren die Realisten eigentlich Idealisten, und folglich war der sozialistische Realismus eine idealistische Kunstform.61 Nur durch eine komplexe historische Neudefinition des Realismusbegriffs waren die kommunistischen Führer der DDR in der Lage, ihn als Hauptwerkzeug zur Entwicklung einer ostdeutschen Nationalidentität einzusetzen. Der sozialistische Realismus hing von der sozialistischen Definition von Wirklichkeit ab. Somit konnten ostdeutsche Funktionäre den sozialistischen Realismus ständig neu definieren, um ihn ihren ideologischen Bedürfnissen anzupassen.62 Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die ostdeutsche Ausprägung des sozialistischen Realismus zunächst dem sowjetischen Vorbild. Die Sowjetregierung benutzte ihre Präsenz auf ostdeutschem Boden, um die Bestätigung ihres eigenen Realismusbegriffs zu gewährleisten. Diese Manipulation war häufig indirekt und getarnt, doch brachte sie politische Debatten mit sich, die die Realität und künstlerische Produktion in Ostdeutschland über mehrere Jahrzehnte hinweg beeinflussten.63 Die Formalismus-Debatte zu Beginn der 1950er Jahre war eine dieser einflussreichen Kontroversen. Sie führte zu der offiziellen staatlichen Definition von Kunst. Wie von der 5. Vollversammlung des Zentralkomitees der SED (März 1951) verordnet, bestimmte der Inhalt von Kunst ihre revolutionäre Auswirkung auf die sozialistischen Bürger.64 Kunst sollte den Bürgern dabei helfen, die Realität zu verstehen und dazu beitragen, diese Realität dem Endziel näher-
61 Realisten wie Thomas von Aquin beharren darauf, dass das Ding hinter dem Namen unabhängig von uns existiert, und dass es möglich ist, die Essenz aller Dinge durch ihre Namen zu verstehen. Daher definiert von Aquins Denkschule die Namen als wirklich. Nominalisten dagegen, unter ihnen Ockham, halten die Bezeichnungen und die Essenz lediglich für Namen (nomina). 62 Stuber, Email an den Autor, 4. Dezember 2000. 63 Wie zum Beispiel in den Artikeln, die mit »Orlow« unterzeichnet waren. »Orlow« fungierte als Pseudonym für eine Reihe sowjetischer und ostdeutscher Autoren, die in der Sowjetischen Besatzungszone und in den Anfangsjahren der DDR Entwicklungen in allen Bereichen der Kunst kritisierten; siehe Stuber, Spielräume und Grenzen, S. 112. 64 Ebd., S. 120. Die Vollversammlung fand vom 15. bis 17. März statt. Über die Funktion und die Form von Kunst in der DDR wurde erst am letzten Tag debattiert. Am zweiten Tag ging es um Sport und Körperkultur, wobei betont wurde, wie wichtig diese beiden Bereiche für die Schaffung einer sozialistischen Nationalidentität waren.
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zubringen: dem Kommunismus. Form und Struktur von Kunst sollten diesem zielorientierten Inhalt folgen und ihn unterstützen. 1951 gab Hans Lauter, der Sekretär des Zentralkomittees, die folgenden Richtlinien dafür heraus, wie ostdeutsche Künstler einen sozialistischen Bürger darzustellen hatten: Wir verlangen von den Künstlern keine fotografische Treue, wir wollen keinen Naturalismus, sondern wir verlangen etwas anderes. Wenn zum Beispiel ein Künstler einen fortschrittlichen Menschen, einen Aktivisten, einen jungen Friedenskämpfer darstellt, wobei selbstverständlich nicht gesagt sein soll, daß nur noch Aktivisten dargestellt werden sollen, dann verlangen wir, daß bei der Darstellung dieser Menschen ihre Einsatzbereitschaft, ihre hohe Qualität und der Stolz auf die erzielten Leistungen zum Ausdruck kommt. Wir wollen, wenn unsere besten Menschen dargestellt werden, daß die typischen Züge, die das Merkmal eines fortschrittlichen Menschen sind, im Kunstwerk auch Verkörperung finden, und wir haben ein Recht, das zu verlangen, nicht nur, weil es solche Menschen in der Wirklichkeit gibt und das der Würde dieser Menschen entspricht, sondern vor allem darum, weil durch diese Menschen das Neue verkörpert wird, das uns in eine lichte Zukunft führt.
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Lukács’ Ideologie widerspiegelnd, etablierte die 5. Vollversammlung die deutsche Klassik als Grundlage der sozialistischen Nationalkunst. Sie drückte die beiden miteinander verbundenen Funktionen von Kunst für Ostdeutschland aus. Indem sie an die klassische Vergangenheit erinnerten, betonten die Funktionäre die Entwicklung einer deutschen Nationalidentität in Ostdeutschland. Dies wies die DDR als wahre Nachfolgerin der deutschen Vorkriegsgesellschaft aus, da es eine Kontinuität in der deutschen Geschichte etablierte. Zusätzlich zu der Legitimation des Anspruchs der DDR, Haupterbin der deutschen Geschichte zu sein, erinnerte die Betonung der Klassik an das Jahr 1871, als der Gedanke eines vereinigten Deutschlands wesentlich war. Um eine singuläre ostdeutsche Geschichte zu erschaffen, schloss die DDR nicht nur unerwünschte Teile deutscher Geschichte aus, sondern bekämpfte auch den Einfluss internationaler Kunstkonzepte.66 Die Regierung versuchte, ange-
65 Zitiert nach Stuber, Spielräume und Grenzen, S. 127. 66 Ebd., S. 103. Unter den ausgeschlossenen Schriftstellern und Philosophen befanden sich mehrere Vertreter der deutschen Romantik, die die Kontinuität der Geschichte und die Idee einer objektiven Wahrheit in Frage stellten (Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann und beide Brüder Schlegel), Nietzsche, der Geschichte, Wahrheit und Ordnung kritisierte, und Funktionalisten, die die etablierte Teilung zwischen Kunst und Realität hinterfragten und für eine Emanzipation der Kunst kämpften.
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sichts der zunehmenden Globalisierung von Kunst, Wirtschaft und Politik eine isolierte Nationalidentität zu fördern. Lediglich Einflüsse aus dem ideologischen Bruderland Sowjetunion wurden von der DDR angenommen. Somit übernahm Ostdeutschland die stalinistische Definition, die eine »gemeinsame Kultur« als einen Charakterzug von Nation betrachtete.67 Die Frage nach der Art von Kunst, die als Grundlage dieser Nationalkultur dienen sollte, wurde nicht gestellt. 1951 veröffentlichte die SED-Zeitung Neues Deutschland eine Liste von für gut befundenen Künsten und Künstlern.68 Die Liste enthielt Volksmärchen, Johann Sebastian Bachs Oratorien, Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie, Johann Wolfgang von Goethes Gedichte und Albrecht Dürers Gemälde. Diese Künstler und ihr Werk wurden zur Grundlage des Bildungsprozesses in Ostdeutschland. Die neue sozialistische Kunst idealisierte die Realität ebenso wie es die klassische Literatur getan hatte. Trotzdem war der Realismus eine idealistische Repräsentation, die letztendlich nicht mit dem marxistischen Materialismus zu vereinbaren war, der als ideologische Grundlage des ostdeutschen Nationalstaats diente. Um diesen Widerspruch aufzulösen, definierte die DDR nicht nur den sozialistischen Realismus neu, sondern versuchte auch, die Realität umzugestalten, indem sie Arbeitsumgebungen veränderte und deutsche Folkloretraditionen in den sozialistischen Realismus integrierte. Nach Meinung der SED-Funktionäre verwurzelte diese Methode die neue sozialistische Kunst in der körperlichen Arbeit. Um derartige Kunst erschaffen zu können, musste die Trennung zwischen dem Künstler und dem Rest der Gesellschaft aufgehoben werden. Die Aufhebung dieser Unterscheidung würde die künstlerische Realität verändern: Sie würde den sozialistischen Bürger in die Lage versetzen, die Konventionen des sozialistischen Realismus zu begreifen, und somit eine eindeutige Interpretation der Repräsentation der Essenz der sozialistischen Gesellschaft gewährleisten. Künstlern wurde mitgeteilt, dass sie, um dieses Ziel zu erreichen, der produzierenden Bevölkerung Kunstgeschichte und künstlerische Methoden beizubringen hatten. Im Gegenzug sollten die Arbeiter den Künstlern zeigen, wie sie arbeiteten und lebten, um sie so in die Lage zu versetzen, dies in ihrer Kunst darzustellen. Die Kunst sollte schließlich aufhören, eine elitäre Beschäftigung zu sein. Jedes sozialistische Arbeiterkollektiv ermunterte seine Mitglieder dazu, Kunst zu produzieren und be-
67 Stalin, »Marxism and the National Question«. 68 Stuber, Spielräume und Grenzen, S. 104. Diese Liste erschien in einem Artikel von Wilhelm Girnus mit dem Titel »Wo stehen die Feinde der deutschen Kunst? Bemerkungen zur Frage des Formalismus und des Kosmopolitismus«, veröffentlicht vom 13. bis 18. Februar 1951.
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mühte sich, künstlerische Veranstaltungen zu besuchen. Dieser Ansatz verwandelte Kunst in ein ideologisches und pädagogisches Werkzeug und strebte danach, die Trennung zwischen Gesellschaftsstrukturen und künstlerischer Produktion zu überwinden. Damit der Tanz – trotz seiner mehrdeutigen Form – den Zielen des Staates dienen konnte, musste er sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch in Bezug auf die Form spezifisch sein. Im Jahr 1953 kamen Tanzpraktiker und Theoretiker in Berlin zu einer Konferenz zusammen, um klare Richtlinien zur Umsetzung des sozialistischen Realismus im ostdeutschen Tanz zu erarbeiten. Wie eine im Anschluss veröffentlichte Abhandlung mit dem Titel Realismus im Tanz beobachtete, trafen sich Ballettmeister, Pädagogen, Tänzer und Theoretiker unter der offiziellen Maxime »Alles für eine realistische Tanzkunst, alles für die Aneignung der Methode des sozialistischen Realismus, ständiger konsequenter Kampf gegen alle formalistischen Erscheinungen«.69 Bei der Konferenz lieferten Kulturfunktionäre den Teilnehmern eindeutige Beispiele für sozialistisch-realistischen Tanz, indem sie sowjetische Dokumentarfilme über eine Produktion des Nussknackers und koreanische, usbekische und polnische Volkstanzensembles zeigten. Die ausgewählten Tänze machten klar, dass Ballett und Folklore betont werden sollten und dass moderner Tanz auszuschließen war. Aufführungen der beiden staatlichen Tanzschulen, zweier Tanzkompanien aus Berlin und des staatlichen Volkskunstensembles unterstrichen dies. Ein Artikel von Martin Sporck, der Ende 1952 in der einflussreichen Weltbühne veröffentlicht wurde, hatte den Tanz bereits in diese Richtung gelenkt, indem er Tanzpraktiker dazu aufrief, sich an dem öffentlichen Diskurs über ihre Kunstform zu beteiligen.70 Sporck, für den der Tanz den anderen Künsten hinterher hinkte, rief zu einer Untersuchung der Spezifizität von Form und Struktur dieser Kunstform auf. Allerdings verlangte er nur nach einer Untersuchung, um zu einem besseren Verständnis davon zu gelangen, wie die Form die eindeutige Kommunikation von sozialistischem Inhalt im Tanz unterstützen könnte. Indem er den Leiter des Volkstanzensembles der UdSSR Igor Moisejew, zitierte, definierte Sporck Tanz als künstlerischen Ausdruck von Emotionen, Ideen und Charakteren mittels rhythmischer und räumlicher Bewegungen. Auch hier wurde Tanz wieder auf ein Kommunikationswerkzeug reduziert, das in seiner Sprache spezifisch zu sein hatte und eine politische Botschaft vermitteln sollte. Den ver-
69 Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Zur Diskussion: Realismus im Tanz, S. 5. 70 Ebd., S. 8. Martin Sporck war ein Pseudonym von Gustav Just, der damals Leiter der Kunstabteilung der SED war; siehe Stabel, »Die große Geste«, S. 217.
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schiedenen Tanzformen ergeht es in Sporcks anschließender kurzer Analyse unterschiedlich. In Übereinstimmung mit der sozialistischen Doktrin war das Ballett für ihn mit ästhetischem und historischem Ballast behaftet, doch hatte es trotzdem Entwicklungspotential, wenn das Vokabular, wie im sowjetischen Ballett, neu bewertet und verwendet würde, um sozialistische Narrative zu transportieren. Es überrascht nicht, dass Sporck das Ballett durch eine Einbindung von deutschem Folklorematerial und Vokabular neu beleben wollte. Verblüffenderweise lehnte er den Ausdruckstanz nicht rundheraus ab. Dennoch verwarf er ihn wegen seiner Verallgemeinerung emotionaler Zustände wie Klage oder Verzweiflung und wegen seiner Subjektivität.71 Sporcks Artikel löste weithin Kommentare von ostdeutschen Tanzpraktikern aus den unterschiedlichsten Bereichen aus, die sich alle für die Entwicklung eines sozialistisch-realistischen Tanzes einsetzten. Wie sich später herausstellte, hatte die Weltbühne die Antwortenden direkt angefordert. Die Tatsache, dass der Dialog inszeniert war, erklärt die einheitliche Meinung unter den beteiligten Ballettmeistern, Choreografen und Kulturfunktionären. Alle von ihnen bekräftigten die Notwendigkeit, eine sozialistisch-realistische Tanzkultur zu entwickeln. In leichten Variationen desselben Arguments verlangten die Antwortenden besser ausgebildete Tänzer (im Jahr 1953 bildeten die Tanzschulen in Berlin und Dresden nur Tänzer ab 14 Jahren aus) und »realistische« Libretti , oder zumindest eine Zusammenarbeit zwischen Choreografen und Schriftstellern, die ein neues sozialistisches Ballett hervorbringen sollte. Sie baten außerdem um die Aufnahme der Stanislawski-Methode in den Tanz (nur wenige Monate zuvor hatte eine Stanislawski-Konferenz in Ostdeutschland stattgefunden), ebenso wie das Studium und die Ausbildung in deutschem Volkstanz und seine Aufnahme in Ballettvokabular und Choreografie. Interessanterweise variierten die Antwortenden im Grad ihrer Kritik am Ausdruckstanz.72 Einige lehnten ihn rundweg ab, andere wollten sogenannte fortschrittliche Elemente bewahren, und wieder andere wollten sogar umstrittene Ausdruckstanz-Elemente wie Improvisation miteinbeziehen. Weniger überraschend war das vollkommene Schweigen von Seiten der Protagonisten des Ausdruckstanzes. Weder Marianne Vogelsang, die immer noch modernen Tanz an ihrer ehemaligen Schule in Berlin unterrichtete, noch Palucca, nahmen an der Diskussion teil. Die Herausgeber der Weltbühne ersuchten
71 Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Zur Diskussion: Realismus im Tanz, S. 13. 72 Sogar ihre Terminologie variierte, wenn sie sich auf Ausdruckstanz, Neuen Künstlerischen Tanz und Modernen Tanz bezogen.
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Palucca wiederholt um ihre Meinung, da sie die prominenteste moderne Tänzerin in Ostdeutschland war und sogar mit offiziellen Kulturorganisationen wie der Akademie der Künste zusammenarbeitete, doch wie sie es davor und danach so oft getan hatte, schwieg sie bewusst. Um diese auffällige Leerstelle in der Diskussion auszugleichen, veröffentlichte die Redaktion einen kurzen Text des Musikredakteurs Ernst Krause, der die Palucca Schule in Dresden besucht hatte. Wie Krause berichtete, war Palucca gleichzeitig an zwei Fronten tätig: Einerseits beschäftigte sie sich mit dem Studium und der Analyse von Barocktänzen wie der Pavane, der Allemande und der Gigue, um ihre Struktur für zeitgenössische Choreografien zu verwenden. Andererseits arbeitete sie daran, eine Unterrichtsmethode für Tanzpantomime zu entwickeln. »Tanzpantomime« war im Grunde ein Codewort für einen leichter zugänglichen Tanz, in dem der Inhalt und nicht die Form betont wurde, und dessen Botschaft deutlich lesbar war. Paluccas scheinbare Zusammenarbeit mit den sozialistisch-realistischen Forderungen nach lesbaren Tänzen durch ihre Arbeit an Tanzpantomime und ihr Zitieren von etablierten historischen Formen hielt ihr die Gegner des modernen Tanzes zeitweilig vom Leibe. Sie verwendete zwar modernes Tanzvokabular, doch schien sie sich in Richtung der Vermittlung einer eindeutig lesbaren Bedeutung zu bewegen und Abstraktion durch die Beschäftigung mit etablierten choreografischen Praktiken aus Barocktänzen zu vermeiden. Dennoch ging ihre Strategie auf längere Sicht nicht auf: Denn schließlich übernahm Palucca keinen Volkstanz und setzte stattdessen ihre Untersuchung von Choreografie und Improvisation fort.73 Dabei erhob die Tanzkonferenz eindeutig die Forderung, moderner Tanz solle sich mit Volkstanz befassen und Neigungen zu Kosmopolitismus und Mystizismus ausräumen. Dies war nur ein weiterer Schritt auf dem langen Kreuzzug gegen den modernen Tanz in Ostdeutschland. Die Diskussion in der Weltbühne war zeitlich so geplant, dass sie die Übernahme des sozialistischen Realismus in den ostdeutschen Tanz initiieren und beeinflussen sollte. Dies wurde auch zum Schwerpunkt der Konferenz von 1953. Teilnehmer lobten stolz die einzigartige Methode der Konferenz, alle Diskussionen auf der Grundlage aktueller Tanzproduktionen durchzuführen. Nach ihrem Verständnis verwirklichte diese Methode die marxistische Definition der Beziehung zwischen Theorie und Praxis, in der die Praxis die Theorie definiert und erschafft, und nicht umgekehrt. Wie die Weltbühne meldete, machten die Teilnehmer deutlich, dass sozialistischer Realismus kein Stil sei, sondern »die Methode, vom Standpunkt der Arbeiterklasse, geleitet von der Lehre des Marxismus-
73 Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Zur Diskussion: Realismus im Tanz, S. 77.
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Leninismus, die Welt anzuschauen und künstlerisch zu gestalten«.74 Diese Definition von sozialistischem Realismus ermöglichte es den Teilnehmern, scheinbar zu vermeiden, eine Technik oder choreografische Form vorzuziehen. In Übereinstimmung mit der sowjetischen Praxis bevorzugten sie jedoch Ballett-Technik und Folklore-Vokabular und behaupteten, dass moderner Tanz nur so lange erlaubt sein sollte, wie er sich im Dienste einer konkreten Botschaft befinde und von deutschem Volkstanz durchdrungen sei. Die Veranstalter der Konferenz fühlten sich genötigt, klarzustellen, dass dies nicht bedeutete, dass lediglich zeitgenössische und realistische Handlungen der Schwerpunkt neuer Tanzproduktionen sein könnten. Auch ein Märchen wie »Dornröschen« konnte dank der Darstellung des Kampfes des »Lichten und Guten über das Böse und Zerstörerische und des Sieges der Kräfte des Hellen über die des Dunklen«75 durchaus sozialistisch-realistisch sein. Dasselbe galt beispielsweise auch für eine Liebesszene. Diese Klarstellungen und Berichtigungen führten zu einem Dilemma, das den ostdeutschen Tanz bis zum Schluss nicht loslassen sollte: einerseits eine scheinbare Toleranz gegenüber den unterschiedlichsten Techniken und Narrativen in der Tanzpraxis und Choreografie, andererseits eine ständige Verurteilung im Diskurs, der sich gegen die Moderne, modernen Tanz und nicht-realistische Handlung richtete. Dies führte zu Zensur und Denunziantentum, doch gleichzeitig auch zu einer ständigen Neudefinition des sozialistischen Realismus in Bezug auf den Tanz. In Abhängigkeit von der neuesten Definition konnte eine Tanzproduktion jederzeit für ihren Formalismus, ihre Dekadenz, ihre Abstraktheit und ihren Kosmopolitismus angegriffen werden, oder im Gegenteil als Beispiel für eine schöpferische und zeitgemäße Anwendung des sozialistischen Realismus gepriesen werden. Daher wurden Kontext und begleitende Rhetorik zu bestimmenden Faktoren für den Erfolg einer Choreografie bei den ostdeutschen Parteifunktionären. Die Beziehung zwischen Tom Schillings choreografischer Arbeit und der sie umgebenden Rhetorik ist ein eindrucksvolles Beispiel für den ständigen Wandel der Interpretation von sozialistischem Realismus im Tanz.
74 Ebd., S. 60. 75 Ebd., S. 62.
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CHOREOGRAFIEREN Es ist notwendig, zu analysieren, welche modernen Prinzipien Schilling in seiner Choreografie erforschte, um zu begreifen, gegen welche Definition von Moderne der sozialistische Realismus anging.76 Die Ausgabe des Jugendlexikons Philosophie aus dem Jahr 1979 gibt die verpflichtende ostdeutsche Sicht auf die Moderne wieder. Das Wörterbuch definierte »Modernismus« als eine Erscheinung der spätbürgerlichen Kunstentwicklung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie den Kunstfortschritt auf die Verwendung ständig neuer Gestaltungsmittel einschränkt. Das führt zu Formalismus, Ablehnung der Traditionen und Trennung der Kunst vom Volk.
77
Das Wörterbuch führte eine Fülle von modernistischen Stilen wie Kubismus, Expressionismus, Futurismus und sogar Neorealismus auf, um die Definition zu verdeutlichen. Außerdem war die Tatsache wichtig, dass Modernismus unpolitisch war, da er lediglich frühere bürgerliche Kunst ablehnte und sich nicht gegen das kapitalistische System wandte. Die Menschen konnten keinen Zugang zu solcher Kunst finden, da sie nicht in der Lage waren, einen »antirealistischen« Modernismus zu verstehen, der eine formalistische Erforschung der Darstellung der Realität vorzog. Somit war Modernismus die dekadente Erscheinungsform einer zerfallenden kapitalistischen Gesellschaft in tiefster Krise.78 Diese Definition bot alle Kennzeichen des Greenbergschen Modells der Moderne auf, allerdings mit einer negativen statt einer positiven Einschätzung. Was Clement Greenberg als Konzentration auf die wesentlichen Qualitäten des künstlerischen Mediums feierte, wurde im ostdeutschen Diskurs zu einer formalistischen Erforschung oder ganz einfach zu Formalismus. Greenbergs Betonung von politischer Autonomie und seine Ablehnung von Massenkultur und Kitsch wurden als apolitisch und dekadent betrachtet, da sie zu einer Abkehr der Kunst von den Massen führten, einer Unfähigkeit, mit dem Volk zu kommunizieren.79 Von Anfang an bediente sich die sozialistisch-realistische Rhetorik der Vorstellung,
76 Ostdeutsche Wörterbücher enthalten bemerkenswert wenige Einträge zu Begriffen, wie »Moderne«, »ästhetische Moderne«, »Modernität« und »Modernismus«, die sich auf die Moderne beziehen. 77 Fiedler und Gurst, Meyers Jugendlexikon Philosophie, S. 141f. 78 Ebd., S. 142. 79 Greenberg, »Avant-Garde und Kitsch«, S. 21-33.
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Formalismus sei dekadent, um die Moderne zu verunglimpfen. Schließlich wurde diese Rhetorik zu einem Pauschalargument, durch welches der sozialistische Realismus jegliche Kunst ablehnen konnte.80 Formalismus wurde als ein spezifischer künstlerischer Ansatz definiert, der formale Aspekte betonte und dafür Inhalt und Emotionalität vernachlässigte. Er war das höchst subjektive Produkt eines Genies, das von der normalen Gesellschaft abgeschnitten war. Beispiele für Formalismus in ostdeutschen Wörterbüchern reichten von Gertrude Steins Lyrik und Piet Mondrians und Wassily Kandinskys Malerei bis hin zu abstrakter Kunst, die »lediglich aus Flecken und Farbspritzern« bestand.81 Diese Anspielung auf Jackson Pollock und somit Greenbergs Feier des abstrakten Expressionismus war indirekt aber deutlich. Obwohl »Dekadenz« ein Oberbegriff für jede Art von gesellschaftlichem Verfall sein konnte, wurde der Begriff in der ostdeutschen Rhetorik meist in Bezug auf formalistische Kunst verwendet, die eine Trennung zwischen Kunst und dem Volk aufrechterhielt, den finanziellen und repräsentativen Bedürfnissen einer kleinen Elite diente und dem Volk nur Massenkunst in Form von »Pornografie und Horrorfilmen« übrig ließ. Der Gedanke war, dass eine solche Kunst das Volk – und vor allem ungebildete, arbeitslose junge Leute – um des Profits willen manipulierte.82 Auf diesem Grund musste Schilling seine choreografischen Unternehmungen als konform zur sozialistisch-realistischer Rhetorik darstellen. Um seine Vorstellungen zu verwirklichen, nutzte er die sich verändernde Rhetorik des sozialistischen Realismus und die daraus resultierende unverhoffte Freiheit, moderne Prinzipien im Tanz einzusetzen. Angesichts der Ungewissheit dieser Freiheit beschäftigte er sich bei der Entwicklung jeder einzelnen seiner Choreografien mit unterschiedlichen Prinzipien. La Mer, Schillings signature piece, liefert ein fesselndes Beispiel für den strategischen Einsatz von Moderne in einer sozialistisch-realistischen Choreografie. Ursprünglich 1964 zum ersten und zweiten Satz von Claude Debussys gleichnamigem Orchesterwerk choreografiert, wurde das Stück von Schilling 1968 erweitert und umfasste nun alle drei Sätze. Der Choreograf war vor allem
80 In der Expressionismus-Debatte und im frühen sowjetischen Diskurs über den sozialistischen Realismus berief sich Lukács auf beide Konzepte. 81 Fiedler und Gurst, Meyers Jugendlexikon Philosophie, S. 74. Siehe auch Böhme et al., Kleines politisches Wörterbuch, S. 120, S. 204, für frühere Definitionen von Dekadenz und Formalismus. Die Ähnlichkeit dieser Definitionen zeigt beispielhaft, dass die ostdeutsche Rhetorik ihre Definition der Moderne im Laufe der Jahre nicht weiterentwickelte. 82 Fiedler und Gurst, Meyers Jugendlexikon Philosophie, S. 39.
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von der Musik inspiriert, doch setzte er sich auch mit einem berühmten ostdeutschen Gemälde von Walter Womacka auseinander, das den Titel Am Strand trug.83 1962 gemalt, wurde Am Strand zu dem am häufigsten reproduzierten Gemälde in Ostdeutschland, einer wahren Ikone. Es war auf Postkarten, in Kalendern und sogar als Briefmarke im Umlauf. 1962 wurde es bei der staatlichen Kunstausstellung in Dresden gezeigt und auf der Titelseite einer der meistgelesenen Zeitschriften, der NBI (Neue Berliner Illustrierte) abgedruckt. Ein Jahr später wurde das Original dem Vorsitzenden des Staatsrats der DDR Walter Ulbricht zu seinem 70. Geburtstag geschenkt. Die strengen Richtlinien für sozialistisch-realistische Kunst führten zu einem Übergewicht an Darstellungen aus dem Arbeitermilieu. Von diesem Trend abweichend malte Womacka ein junges Paar. Die Frau sitzt im Vordergrund in einer entspannten Position, am Betrachter vorbeiblickend, ein Bein angewinkelt, das andere unter sich. Der Mann liegt auf dem Bauch, auf die Oberarme gestützt und blickt zu der Frau auf. Die hellen Farben und Körperhaltungen sind Reminiszenzen an Gemälde von Gaugin, doch scheinen die Wellen im Hintergrund das Paar aus der Ferne zu bedrohen und deuten einen Hintergrund an, der nicht typisch für Gaugins Bilder ist.
Abb. 12: Walter Womacka, Am Strand, Öl auf Leinwand, 30 x 40 cm, 1962.
Quelle: Staatliche Kunstsammlung Dresden, VG BildKunst, Bonn.
83 Rebling, Ballettfibel, S. 65. Schilling zitiert stets die Musik als Hauptinspiration für La Mer.
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Am Strand stellt einen äußerst privaten Augenblick in einer eindeutig öffentlichen Umgebung dar. Obwohl das Gemälde ein Paar in einem Augenblick der Muße und nicht bei der Arbeit darstellt, wurde es von ostdeutschen Parteifunktionären als nicht-modern und sozialistisch-realistisch gefeiert. Eine Vereinigung für die Bildende Kunst äußerte bei ihrer 19. Zusammenkunft: Ohne Furcht, von einigen der Schönfärberei bezichtigt zu werden, erhebt Walter Womacka ganz bewusst mit seinem Bild die Schönheit unserer heranwachsenden Jugend und ihres inneren Reichtums zum Schönen in der Kunst und kommt dadurch zur ästhetischen Verallgemeinerung der Wahrheit unseres Lebens.
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Eine solche Sprache bewertet das Gemälde in Übereinstimmung mit den Anforderungen des sozialistischen Realismus, der die Kunst dazu aufrief, die Essenz des sozialistischen Alltagslebens darzustellen. Wenn ich das Bild heute ansehe, fällt es mir jedoch schwer, es als ein Musterbeispiel für sozialistischen Realismus zu betrachten. Stattdessen sieht es aus wie viele nicht besonders realistische, in den 1960er Jahren gemalten Porträts und Szenen aus Deutschland oder den USA, die man auf Flohmärkten finden kann.
184
Liepold, »Der Kampf gegen den Formalismus, Teil 2 1958-1965«.
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Abb. 13: Schlussszene von Tom Schillings La Mer, Tanztheater Komische Oper Berlin, in einer Wiederaufnahme von 1979.
Quelle: Archiv Darstellende Kunst, Akademie der Künste, Berlin. Foto: Arwid Lagenpusch.
In ähnlicher Weise bezieht sich Schillings La Mer weniger auf sozialistischrealistische Prinzipien als auf abstrakte symphonische Tanzwerke, wie die Arbeiten von John Neumeier in Hamburg, von John Cranko in Stuttgart, Kenneth MacMillan in London und George Balanchine in New York City, die während dieser Zeit in Europa sowohl im Osten als auch im Westen populär waren. In starker Beziehung zu Debussys Musik stellt Schilling die Interaktion zwischen einem Mann und einer Frau am Strand dar. Weder das Bühnenbild noch die Kostüme liefern Spezifizität. Die Bühne ist leer, der Hintergrund eine Abstraktion aus Wellen und Reflexen am Horizont; die Kostüme der Tänzer sind unterschiedliche Versionen eines Leotards.85 Alleine in der Mitte der Bühne sitzend
85 Ich führe meine Analyse auf der Grundlage der Neuinszenierung von La Mer aus dem Jahr 1980 durch, die gefilmt und anschließend vom ostdeutschen Fernsehsender DFF
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reagiert der männliche Tänzer auf die Wellen, den Wind und die Vögel und verkörpert sie auch von Zeit zu Zeit in einer Kombination aus Ballett, Modern Dance- und Alltagsvokabular. Die Choreografie stellt ihn als jemanden dar, der mit der natürlichen Umgebung vertraut ist und sie unter Kontrolle hat. Im Gegensatz dazu ist die weibliche Tänzerin, die später die Bühne betritt, erstaunt und vorsichtig bei ihrer Erkundung der ungewohnten Kräfte. Zwar bringt dieser Unterschied zwischen ihnen eine dynamische Beziehung hervor, doch ordnet er den Charakteren Geschlechterrollen in Übereinstimmung mit den heteronormativen sozialistischen Standards zu. Diese traditionelle Rollenzuweisung wird bei der folgenden Begegnung zwischen der Frau und dem Mann noch verstärkt: Er führt und hebt sie, springt und dreht sich kraftvoll. Sie steht auf Spitze, greift kokett nach ihm, windet sich hoch, lehnt sich an ihn und gibt sich voller Freude der ekstatischen Umarmung hin. Danach legt sich der Mann erschöpft hin und bleibt auf dem Bauch liegen, während die Frau sitzt, ein Bein angezogen und das andere unter sich, und dabei den Kopf und den Rücken des Mannes streichelt. Das Tableau erinnert an Womackas Paar. In Analogie zu Debussys Finalsatz verwendet Schillings Choreografie Bilder von Naturgewalten, um eine Gefahr für das Glück des Paars zu evozieren. Die Frau erkennt die Gefahr sofort, ist aber nicht in der Lage, den Mann zu warnen, der nach dem Erwachen lediglich das Duett fortsetzen möchte. Er bemerkt die drohende Gefahr erst, nachdem die Frau – die gleichzeitig auf den Kampf mit den Wellen und den Vögeln reagiert und ihn verkörpert – besiegt zu Boden sinkt. Der Mann hebt sie hoch, um sie in Sicherheit zu bringen; dann sinken beide in einer erschöpften Umarmung zu Boden, wobei er die Arme nach der bezwungenen Natur ausstreckt. Die Tänzer Hannelore Bey und Roland Gawlik wurden 1968 beim Internationalen Ballettwettbewerb in Varna mit dem ersten Preis für ihre Rollen ausgezeichnet. Das Stück blieb viele Jahre lang im Repertoire des Tanztheaters der Komischen Oper Berlin. Die schwedische Choreografin Birgit Cullberg übernahm das Ballett für ihre Kompanie. Auch 1983 behauptete der ostdeutsche Dramaturg und Tanzwissenschaftler Bernd Köllinger noch Folgendes über das Stück: Die konkrete Sinnfüllung des Geschehens durch die Interpreten, die ihr ganz gegenwärtiges Dasein und Empfinden in die Rollengestaltung einbringen, korrespondiert mit dem
ausgestrahlt wurde. Bilder von früheren Produktionen zeigen den männlichen Tänzer in Leotards mit abstrakt gemalten Wellen oder lediglich in langen Leggins.
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Vermögen, aber auch der Bereitschaft des Zuschauers, das Gesehene auf niemanden anders als auf sich selbst zu beziehen.
Köllinger schlussfolgert daraus: »Es ist deshalb für ein Publikum in Berlin, Dresden oder Karl-Marx-Stadt keine Frage, daß sie in ›La Mer‹ Menschen ihresgleichen entdecken und erkennen.«86 Köllingers Einschätzung charakterisiert La Mer als ein exemplarisches Werk des sozialistischen Realismus. Obwohl die Situation spezifisch scheint, werden die Erfahrungen alltäglicher Menschen durch die Quelle der Choreografie und die Interpretation des Tanzes widergespiegelt. Vor allem ist das Publikum vom Standpunkt des sozialistischen Diskurses in der Lage, einen Bezug zu den Ereignissen auf der Bühne herzustellen, da diese die Essenz des Sozialismus darstellen. Köllinger schreibt: Aus dem Verhalten der Helden in ihrer ›kleinen Welt‹ kann man Rückschlüsse ziehen auf ihr Leben, ihre Lebensweise in der ›großen Welt‹ [...] Es dürfte nicht zu weit gegriffen sein, wenn man die Meisterung der Flut als Gleichnis für die Meisterung des menschlichen Schicksals durch den Menschen selbst ansieht. In dieser Aussage faßt sich Schillings optimistische Konzeption vom Menschen in einem Punkt zusammen. Die Wirkungsgeschichte des Werks beweist, daß diese Werte vom Publikum als sozialistisch empfunden und aufgenommen werden.
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Nach Köllingers Diskurs lässt sich in La Mer keines der Elemente moderner Kunst, wie Autonomie von politischen und sozialen Strukturen und formalistische Selbstreferenzialität, ausmachen. Betrachtet man jedoch das Bewegungsvokabular, das in der Choreografie verwendet wird, stellt sich heraus, dass sich La Mer eindeutig mit modernen Prinzipien auseinandersetzt. Schilling versucht, eine Begegnung zwischen einer Frau und einem Mann zu essentialisieren. Die Szenerie räumt konkrete Verweise auf die Zeit oder den Ort der Begegnung aus. Das Bewegungsvokabular schöpft aus klassischem, modernem und Alltagsvokabular ohne nationale oder politische Spezifizität. Sogar der prominente ostdeutsche Tanzhistoriker Eberhard Rebling gestand 1974 ein, dass »im Gegensatz zum Handlungsballett Tom Schilling hier bewußt auf jede Milieuschilderung und Zeitangabe verzichtet hat, um unserer Phantasie, dem Nachdenken jedes
86 Köllinger, Tanztheater, S. 74. Köllinger war einer der prominentesten Tanzwissenschaftler der DDR. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher über Schillings Tanztheater, die sich häufig mit der Dramaturgie spezifischer Werke auseinandersetzten und sie in den sozialistischen Diskurs über Tanz einfügten. 87 Köllinger, Der Tanz, S. 34f.
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einzelnen Zuschauers breiten Raum zu gewähren.«88 Die Natur als treibende narrative Kraft wird nicht in irgendeiner naturalistischen Art und Weise dargestellt. Lediglich die Reaktion der Protagonisten wird gezeigt. Die Natur erscheint durch ihr Bewegungsvokabular – wie im Falle der vogelartigen Haltung des Mannes, bei der er beide Arme ausgestreckt hebt und in einer Arabeske steht, oder der wellenartigen Vor- und Zurückbewegung der Frau. Diese Momente sind es auch, in denen Schillings Choreografie am stärksten selbstreferentiell ist. Er untersucht die Kombination von unterschiedlichem Vokabular um ihres technischen und kommunikativen Potentials Willen. Damit experimentiert er innerhalb der Form, anstatt den Tanz zu benutzen, um eine Geschichte zu vermitteln. Obwohl der Tanz eine emotionale Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau zu erzählen scheint und zeigt, wie die beiden eine äußerliche Bedrohung überwinden, deutet die Nicht-Spezifizität der Begegnung an, dass das Narrativ lediglich als Muster dient. Der »Ausdruck« ist Schilling wesentlich wichtiger als die Emotionalität des Geschehens. Mark Franko weist darauf hin, dass Ausdruck als eine »depersonalisierte universelle Verkörperung von Subjektivität« dient, die es der Choreografie ermöglicht, selbstreferenziell und universell zu werden. Franko postuliert die Umwandlung von Emotionalität in Ausdruck als eines der frühesten Kennzeichen der Verwendung des Primitiven durch den modernen Tanz. Mit Bezug auf Jacques Rivières Analyse von Waslaw Nijinskis Frühlingsopfer erklärt Franko, dass das Primitive benutzt wird, um die Bewegung weniger vertraut zu machen und somit die Emotion aus der Performance zu tilgen und stattdessen universellen Ausdruck zu schaffen.89 Schilling verwendet eine ähnliche Strategie, indem er extrem unterschiedliches Vokabular kombiniert und sich auf dessen expressives Potenzial konzentriert. Er entwickelt eine einzigartige körperliche Ausdrucksform, doch keineswegs nur, um eine Begegnung zwischen Mann und Frau mitzuteilen. Viel wichtiger ist, dass er die Fähigkeit des Tanzes in den Vordergrund stellt, die essentielle Qualität einer derartigen Bewegung zu vermitteln. Anders ausgedrückt, experimentiert er mit einer neuartigen Kombination von Ballett, modernem Tanz und Alltagsvokabular, um Tanz als einzig mögliche Sprache für die Darstellung essentiellen Menschseins zu erkunden.
88 Rebling, Ballettfibel, S. 45. Der Ausdruck »Ballett« bezeichnet im Deutschen nicht nur klassische oder romantische Ballette, die Ballett-Techniken und BallettKonventionen verwenden, sondern kann auch benutzt werden, um Choreografien zu bezeichnen, die ohne Ballett-Technik arbeiten. Siehe Gommlich, Showtanz, S. 47. Somit bezieht sich Reblings Ballettgeschichte auf eine große Bandbreite von Tanzwerken. 89 Franko, Dancing Modernism/Performing Politics, S. xi.
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Schillings Suche nach dem essentiellen Ausdruck von Tanztechnik in La Mer trennt die Choreografie – zumindest ästhetisch – von einem spezifisch politischen und sozialen System. In seiner Darstellung einer Essenz, der Abkehr vom Politischen und seiner selbstreferentiellen Beschäftigung mit Tanz als ästhetischem System erfüllt La Mer die Hauptkriterien von moderner Kunst. Gleichzeitig wird es durch seine historische Rezeption in die sozialistisch-realistische Tanzproduktion der DDR eingeordnet und eindeutig mit den politischen Strategien und der Ökonomie des Sozialismus verknüpft. Der ostdeutsche Kritiker Friedrich Diekmann stimmte mit Schillings spezifischem Verständnis von Realismus im Tanz überein und bemerkte im Jahr 1970: Der Tanzkunst sind in ihrer Veranschaulichung engere Grenzen als allen anderen darstellenden Künsten gesetzt, und jeder Versuch, sie zu überschreiten, Details zu häufen, führt sie aus dem Essentiellen ihrer Wirkung. Statt eines echten, qualitativen, formspezifischen Realismus resultiert dann ein quantitativer, akzidentieller, formaler Realismus.
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Anders gesagt: Wenn Tanz versucht, mittels formaler Elemente wie Kostümen, Bühnenbild oder Handlung realistisch zu werden, gibt er sein wichtigstes Mittel, spezifisch zu sein, auf, da er nicht mehr durch sein Vokabular kommuniziert. Bestätigt durch diese Aussage, die seinem Tanz einen stärker formalistischen Ansatz erlaubte, war Schilling in der Lage, das sanktionierte Ballettvokabular durch die Einbeziehung von Elementen aus dem modernen Tanz und Alltagsbewegungen zu erweitern. Allerdings wurden solche Experimente nicht immer gutgeheißen. Es gab Grenzen in Bezug darauf, wann Vokabular noch innerhalb der sozialistischen Doktrin akzeptiert wurde. Nur wenige Jahre später verursachte Schilling eine Kontroverse, als er 1971 in seinem Stück Rhythmus mit Jazz und Improvisation experimentierte. Der Hauptkritikpunkt war, dass es dem Werk an Inhalt und formaler Strenge fehlte. Rhythmus war Teil einer abendfüllenden Zusammenstellung mehrerer kürzerer Arbeiten, darunter Match, eine äußerst populäre, humorvolle Interpretation von Geschlechterbeziehungen in Form eines Tennismatches, eine Neuinszenierung von Jerome Robbins Fancy Free und Tschaikowskis Grand pas classique.91 Rhythmus hat keine Handlung; stattdessen stellt es einen
90 Köllinger, Tanztheater, S. 40. 91 Als bedeutender Künstler hatte Schilling das Privileg, außerhalb sozialistischer Länder reisen zu dürfen. Er hatte also Kenntnis von nicht-sozialistischem Tanz. Er konnte internationale Choreografen treffen, mit ihnen in Kontakt bleiben und ihre Arbeit verfolgen. Ostdeutsche Parteifunktionäre unterstützten diesen Austausch in der Hoff-
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Augenblick im Alltag einer Tanzkompanie dar. Nachdem mehrere Tänzer auf der Bühne verstreute Gegenstände aufgehoben, die Lichter gelöscht haben und abgegangen sind, kehrt ein männlicher Tänzer zurück, um ein vergessenes Kleidungsstück zu holen. Als er über eine Trommel stolpert, beginnt er, darauf zu improvisieren. Ein Percussionist tritt auf, sichtlich entsetzt über die mangelhaften Percussionsfähigkeiten des Tänzers, und übernimmt nach einem kurzen verbalen und physischen Streit. Der Tänzer – bereit, abzugehen – wird vom Rhythmus der Trommel gepackt und beginnt zur Musik zu improvisieren. Er wechselt zwischen unterschiedlichen Bewegungsstilen – vom afrikanischen Tanz beeinflusste wellenförmige Bewegungen des Torsos, standardartige Jazz-Sequenzen mit Drehungen und Handgesten im Stil von Bob Fosse, und sogar Flamenco. Immer mehr Tänzer (oder Tänzer, die als Maskenbildner oder Lichttechniker verkleidet sind) treten auf und machen mit. Bevor die gesamte Gruppe in eine frenetische individuelle Improvisation verfällt, nehmen alle an einer längeren synchronen Jazz-Sequenz teil. Rhythmus endet damit, dass den Tänzern bewusst wird, wie viel Spaß sie haben und sie einer nach dem anderen immer noch lachend die Bühne verlassen.92
nung, er würde den ostdeutschen Tanz zu einer international anerkannten Form machen. Trotz der Ähnlichkeiten von Match mit Waslaw Nijinskis Jeux (1913) ist es unwahrscheinlich, dass diese früh-moderne Choreografie bedeutenden Einfluss auf Schilling hatte. Millicent Hodsons und Kenneth Archers Rekonstruktion von Jeux wurde 1996, 25 Jahre nach der Premiere von Match, im Teatro filarmonic der Arena di Verona aufgeführt; siehe Acocella, »The Lost Nijinsky«. 92 Meine Analyse beruht auf einer Aussstrahlung von Rhythmus durch den DFF.
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Abb. 14: Tom Schillings Rhythmus, Tanztheater der Komischen Oper Berlin, 1971.
Quelle: Archiv Darstellende Kunst, Akademie der Künste, Berlin. Foto: Arwid Lagenpusch.
Eine Woche bevor Rhythmus am 9. Mai 1971 uraufgeführt wurde, wurde der 78jährige stalinistische Vorsitzende des Staatsrats der DDR Walter Ulbricht durch das Eingreifen des Generalsekretärs der kommunistischen Partei der Sowjetunion Leonid Breschnjew zum Rücktritt gezwungen. Ulbricht glaubte felsenfest an den sozialistischen Realismus und hatte nur sechs Jahre zuvor bei der 9. Versammlung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei vor einer Versöhnung von sozialistischem Realismus und der Moderne gewarnt.93 Ulbrichts Nachfolger war Erich Honecker. Der Wechsel brachte eine kurze Periode der Toleranz gegenüber politischen Meinungsäußerungen mit sich. Dies galt auch für die Kunst. Es kam außerdem zu einer leichten Verbesserung der Lebensbedingungen, und die Bürger begannen, sich auf individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Vergnügungen zu konzentrieren. Die Entscheidung für Improvisation und die Verweigerung von Handlung in Rhythmus muss in diesem Kontext gelesen werden: Der Tanz erlaubte eine Konzentration auf individuelle choreografische Entscheidungen und Freude am Tanzen anstatt der Ausführung einer Choreografie im Dienste einer Ideologie. David Gere stellt fest, dass Improvisation
93 Hasche, Schölling und Feibach, Theater in der DDR, S. 53.
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aufgrund des großen Anspruchs, den sie an einen Performer stellt, unter anderem auch den Anspruch nahezu unmittelbarer Reaktion auf eine große Bandbreite von Sinneseindrücken 94
und Wahrnehmungen, als Kunstform anerkannt werden sollte.
Eine derartige Definition betont die individuelle Entscheidung und Verantwortung des improvisierenden Tänzers. Dem zustimmend geht Susan Foster näher auf diese Definition ein, indem sie die zweiseitige Natur der Improvisation betont: das Treffen unmittelbarer Entscheidungen und die Beschäftigung mit bekanntem Material. Bekanntes Material kann vom Kontext der Aufführung, strukturellen Richtlinien oder vorher festgelegten Regeln, Training, Tanztraditionen, Beziehungen zwischen den Tänzern und den Musikern bis hin zu jeglichem Material reichen, mit dem bislang improvisiert wurde.95 Rhythmus stellt diese Vermittlung zwischen der bekannten Struktur und einer spontanen Umgestaltung von Elementen durch die Art und Weise, wie sich Tänzer zwischen festgelegten choreografierten Sequenzen und improvisierten Teilen hin- und herbewegen, in den Vordergrund. Den Zuschauern bleibt es überlassen, zu raten, wieviel von der Aufführung vor ihren Augen entsteht. Dies verleiht dem Tanz einen zusätzlichen Hauch von Realismus und Authentizität. Diese Zweiseitigkeit von Rhythmus verortet das Stück – jedoch auf unbefriedigende Art und Weise – sowohl in einem sozialistisch-realistischen und in einem modernen Paradigma des Authentischen einerseits und des formal Selbstreferentiellen andererseits. Die Choreografie folgt nicht nur den Definitionen beider Paradigmen, sie stellt sie gleichzeitig auch in Frage. Auf den ersten Blick erfüllt das Stück die Anforderungen des sozialistischen Realismus. Es stellt einen Blick hinter die Kulissen auf das Alltagsleben in einem Theater dar. Zusätzlich zu den Tänzern enthält Rhythmus Figuren, die Berufen aus der Arbeiterklasse angehören. Die Choreografie stellt auch die Arbeit des Tanzens heraus, als die Tänzer den Bühnenraum saubermachen und das künstlerische Schaffen des Tanzes, indem sie die Entwicklung von Bewegungsmaterial als individuellen und als kollektiven Prozess zeigt. Schließlich bekräftigt sie durch ihre positive und fröhliche Einstellung gegenüber Gruppendynamiken sozialistische Ideale. Somit verbindet sie scheinbar eine Darstellung der Essenz einer sozialistischen Theaterumgebung mit einer Bestätigung sozialistischen Lebens. Vor allem liefert die Choreografie in Übereinstimmung mit der sich verändernden politischen Landschaft Raum für individuellen Selbst-Ausdruck und ermöglicht somit eine – sogar leicht kritische – Verhandlung von individuellen
94 Albright und Gere, Taken by Surprise, S. xv. 95 Ebd., S. 4.
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und kollektiven Identitäten. An einem Punkt der Choreografie scheint beispielsweise ein Wachmann in Uniform hart gegen das ungebärdige Benehmen auf der Bühne vorzugehen, eine deutliche Anspielung auf den ostdeutschen Polizeistaat. Die Tänzer zwingen ihn jedoch, mitzumachen, indem sie seine Autorität schlicht und einfach ignorieren und ihn in den Tanz hineinziehen. Dieser scheinbare harmlose choreografische Widerstand verknüpfte den Tanz in kritischer Weise mit politischen Strukturen. Derartige Verweise blieben in der hochzensierten künstlerischen Landschaft der DDR nie unbemerkt. Wie bereits erwähnt, benutzt Rhythmus eine Menge unterschiedlicher Tanzformen. Tänzer improvisieren und verwenden dabei Polka, Flamenco oder osteuropäisches Volkstanzvokabular. Klassische Ballettelemente, wie Drehungen und Sprünge, werden meist in Solos verwendet, um technische Meisterschaft zu demonstrieren, die dann von den anderen Tänzern anerkennend zur Kenntnis genommen wird. Dennoch war das Vokabular, das am beständigsten verwendet wurde, als das Stück in den frühen 1970er Jahren aufgeführt wurde, sowohl in der festgelegten Choreografie als auch in der Improvisation, eine Form von Jazzdance oder Showtanz, wie man es in der DDR nannte. Wegen seiner Betonung von Form und Unterhaltung zuungunsten von Inhalt und Botschaft war Showtanz ein ungeliebtes Kind des ostdeutschen Tanzes. In einer der wenigen DDR-Publikationen, die sich ausschließlich mit Showtanz beschäftigten, bemühte sich Werner Gommlich, den sozialistischen Wert dieser Form zu etablieren.96 Indem er sich auf Marx’ Theorien von Produktion und Konsum berief, behauptete er, dass Showtanz nicht als niedere Kunst abgelehnt werden dürfte. Gommlich definierte genussbringenden Konsum als eine Produktivkraft. Dies ist ein zentraler Begriff in Marx’ politischer Ökonomie, der die Kräfte bezeichnet, die im Produktionsprozess eingesetzt werden, darunter auch die menschliche Arbeitskraft.97 Vereinfachend gesagt, erhob diese Definition Unterhaltung und ihren Konsum nicht nur in den Rang von menschlicher Arbeit sondern auch auf eine Ebene mit Fabriken und Maschinen, Schlüsselelementen der sozialistischen Gesellschaft und Ideologie. Gommlich behauptete somit, dass Unterhaltung ein wesentlicher Teil des sozialistischen Lebens sei. Wie problematisch der Unterhaltungsaspekt von Rhythmus war, wird durch die Tatsache deutlich, dass Köllinger in seinem Buch Tanztheater sogar im Jahr 1983 immer noch zwei Seiten dafür aufwendet, die Choreografie gegen Rezensionen zu verteidigen, die sie als geistlose Unterhaltung ohne Inhalt oder Botschaft
96 Gommlich, Showtanz. 97 Ebd., S. 12.
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kritisierten.98 Köllinger versuchte zu demonstrieren, dass Rhythmus eine Brücke zwischen Hoch- und Massenkultur und zwischen Bühne und Publikum schlug, indem er Folgendes beobachtete: Was fiktiv auf der Bühne geschah und nicht zu Leben und Wirkung erwachen konnte ohne das lustvolle Ergriffen- und Beteiligtsein der Tanzenden, sollte sich aktivierend, begeisternd, enervierend auf das Publikum übertragen. Und das tat es.
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Indem er sich der sozialistischen Rhetorik bediente, definierte Köllinger den Realismus der Choreografie als etwas Authentisches. Diese Authentizität war nicht nur der aktiven Auseinandersetzung der Tänzer mit dem Material zu verdanken, sondern auch ihrer Fähigkeit, dem Publikum ihren authentischen Spaß mitzuteilen und es somit positiv zu beeinflussen. Diese rhetorische Erhebung von Form und Wirkung der Choreografie war innerhalb des Paradigmas des sozialistischen Realismus natürlich problematisch. Die Beziehung zwischen Inhalt und Form war die zentrale Frage im sozialistischen Realismus gewesen, vor allem in Bezug auf den Tanz. Noch spezifischer galt dies für den Showtanz, der der Form größeren Wert beimaß als dem Inhalt, und Unterhaltung größeren Wert als der Botschaft. Um dieses Problem zu lösen, vertrat Gommlich die Meinung, dass der Inhalt des Showtanzes nicht auf eine dramatische Struktur reduziert werden könne; stattdessen stellte er eine »thematische Orientierung, einen geistigen Anspruch, einen Leitgedanken« dar. Und die Form sei keine Technik sondern eine »ästhetische Qualität«.100 Zwar stellten diese Definitionen nicht die Vorherrschaft des Inhalts über die Form wieder her, doch koppelten sie Form und Inhalt dermaßen fest aneinander, dass sie nicht mehr unabhängig voneinander bewertet werden konnten. Natürlich musste Gommlich seine Besprechung der Problematik von Inhalt und Form rechtfertigen, indem er eine sowjetische Publikation über marxistisch-leninistische Ästhetik zitierte, die eine Einheit von Inhalt und Form gewährleistete und die Notwendigkeit, sie als voneinander abhängig zu behandeln.101 Somit wurde der Showtanz – und damit auch Choreografien wie
98
Interessanterweise war Werner Gommlich selbst einer der vehemenstesten Kritiker
99
Köllinger, Tanztheater, S. 46.
der Produktion. 100
Gommlich, Showtanz, S. 38.
101
Ebd., S. 36f. Gommlich zitiert den russischen Literaturkritiker Wissarion G. Belinski, der sich für eine Literatur einsetzte, die einen moralischen Standpunkt vertrat und somit in der Lage war, die Gesellschaft zu verändern.
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Rhythmus – rhetorisch unter dem Dach des sozialistischen Realismus subsummiert. Allerdings entfernte sich Gommlich in seiner Definition des sozialistischen Realismus von früheren Definitionen, die den Inhalt höher einschätzten als die Form und somit die zwei Aspekte künstlerischer Produktion als voneinander getrennt behandelten. Die sich verändernde politische Situation in der DDR gegen Ende der 1970er Jahre schuf noch größere Möglichkeiten für formale Untersuchungen. Ästhetische Theoretiker hatten große Mühe, die Definition des sozialistischen Realismus so anzupassen, dass er mit der neuen Herangehensweise an den Formalismus konform ging. Sie begannen nicht nur, die Beziehung zwischen Inhalt und Form neu zu definieren, sondern beschäftigten sich auch mit problematischen Themen wie Individualität, Abstraktion und Improvisation. Gay Morris und Marko Franko stellen fest, dass diese Themen auch in den Debatten über den frühen Modern Dance eine wichtige Rolle spielten.102 Zum Beispiel diskutiert Franko die Spannung zwischen dem charismatischen Individualismus der frühen Modern Dance-Protagonisten und der vorgeschriebenen Unpersönlichkeit in der Moderne, ebenso wie den gesellschaftlichen Aktivismus, zu dem die linke Tanztheorie aufrief.103 Morris unterstreicht die Angst des Modern Dance vor seiner eigenen Massenwirkung und seine Furcht davor, seinen Avantgardestatus zu verlieren. In Anbetracht der Tatsache, dass diese Problematiken sowohl für den sozialistischen Realismus als auch für die Moderne zentral waren – wenngleich nicht immer vom selben ideologischen Standpunkt aus – überrascht es nicht, dass Schilling sich weiterhin mittels einer Fülle unterschiedlicher Ansätze in seinen Choreografien an ihnen abarbeitete. Der Großteil seiner Bemühungen über die folgenden Jahre hinweg beinhaltete das Choreografieren neuer Fassungen von etablierten Balletten: 1972 choreografierte er Romeo und Julia und 1975 Aschenputtel. Dies ermöglichte es ihm, innerhalb der Ballettform mit Narration zu experimentieren. Zum Beispiel wird in seinem Romeo und Julia die Heirat der jungen Liebenden nicht dadurch verhindert, dass ihre Familien sich in Fehde befinden, sondern durch ihre Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Klassen. Diese Art von Veränderung verortete seine Ballette eindeutig im Bereich des sozialistischen Realismus, doch waren sie nicht immer Erfolge bei der Kritik. Teilweise in Reaktion auf die mangelnde Popularität dieser Ballette suchte Schilling nach einer neuen Lösung für die Aufnahme moderner Prinzipien in sozialistisch-realistische Choreografie. 1975 choreografierte er Schwarze Vögel.
102
Morris, A Game for Dancers; Franko, Dancing Modernism/Performing Politics.
103
Franko, Dancing Modernism/Performing Politics, S. xi.
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Das Handlungsballett basierte auf einem Libretto von Bernd Köllinger und griff auf Schillings frühe Tanzausbildung im Ausdruckstanz zurück. Allerdings erweiterte es das bestehende Vokabular der Kompanie zusätzlich durch Volkstanzund asiatische Kampfsportelemente. Das Stück, das die Bauernaufstände im mittelalterlichen Deutschland darstellte, war Teil einer großangelegten Neubewertung und Neuauslegung deutscher Geschichte durch die ostdeutsche Regierung. Das Jahr 1975 markierte den 450. Jahrestag des deutschen Bauernkriegs von 1525, dessen entscheidende Schlacht in Bad Frankenhausen, einer Kleinstadt auf dem Gebiet der DDR, stattfand. Die Schlacht war einer von vielen Aufständen von Bauern und verarmten Städtern, wie sie sich über das gesamte 16. Jahrhundert hinweg in Schwaben, Thüringen und Franken ereigneten. Ausgelöst wurden sie durch die Auswirkungen der jahrhundertelangen Ausbeutung der Landbevölkerung durch den Adel, wie auch durch den Niedergang des niederen Adels, den gleichzeitigen Aufstieg von Gilden, die forderten, dass allen Patriziern der Zugang zu den Stadträten offenstehen solle, und zu guter Letzt durch die Infragestellung des Katholizismus durch den Protestantismus. Somit waren die Teilnehmer des Aufstandes nicht nur Bauern sondern auch Teile der verarmten Stadtbevölkerung, Mitglieder des niederen Adels und radikale Priester. Im Vergleich zu früheren Ereignissen wies der Aufstand von 1525 zwei bedeutende Unterschiede auf: die bloße Anzahl der Beteiligten, die bei einigen bewaffneten Zusammenstößen 10.000 überschritt, und die Tatsache, dass sich der Konflikt über lokale Gebiete hinweg ausbreitete. Beides war der Führerschaft von Mitgliedern des niederen Adels, darunter Florian Geyer, und Priestern wie Thomas Müntzer zu verdanken. Müntzer hatte höhere Ziele für den Aufstand als nur die lokal begrenzte Verbesserung der Lebensbedingungen der Bauern. Er war auch Anführer einer Ansammlung von Bauerngruppen, die sich am Ende anderen Fraktionen anschlossen, als sie den Armeen des vereinten Adels in einer aussichtlosen letzten Schlacht bei Bad Frankenhausen gegenüberstanden. Rund 8000 Aufständische ohne wirkliche Bewaffnung wurden am 15. März 1525 von einer 6000 Mann starken Armee von wohlorganisierten schwerbewaffneten Soldaten brutal besiegt, die einen Waffenstillstand gebrochen hatte.104 Nahezu alle Bauern wurden entweder im Kampf niedergemetzelt oder anschließend hingerichtet. Thomas Müntzer wurde ins Gefängnis geworfen, gefoltert und vor den Toren seines letzten Wohnorts Mühlhausen öffentlich enthauptet.
104
Nur um einen Kontext für diese gewaltigen Zahlen zu liefern: Mühlhausen, die thüringische Stadt, in der Thomas Müntzer lebte, predigte und später hingerichtet wurde, war mit 10.000 Einwohnern eine der größten Städte im »Deutschland« des 15. Jahrhunderts. Köln war mit rund 40.000 Einwohnern die größte.
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Dieser Aufstand wurde zu einem wichtigen Ereignis für die revisionistische Geschichte Ostdeutschlands, da er in Bezug auf sein Ziel, sein Ergebnis, die beteiligten Parteien und den Schauplatz perfekt in die marxistisch-leninistische Historisierung der DDR passte. Die Tatsache, dass sich das Epizentrum des frühesten revolutionären Aufstandes auf dem Gebiet befand, das später zur Deutschen Demokratischen Republik werden sollte, erlaubte es den Parteifunktionären, Ostdeutschland die Rolle der rechtmäßigen Nachfolgerin der revolutionären deutschen Kräfte zu verleihen. Diese Interpretation wurde zusätzlich durch das Interesse bekräftigt, das sowohl Karl Marx als auch Friedrich Engels dem Aufstand geschenkt hatten. Engels hatte 1850 sogar einen Aufsatz über die revolutionären Ereignisse veröffentlicht, in dem er sie mit der Revolution von 1848-49 verglich.105 Eine derartige Verbindung des Bauernkrieges mit späteren Revolutionen etablierte eine eindeutige Genealogie des Klassenkampfs, die notwendig war, um den marxistisch-leninistischen Fortschritt in Richtung Kommunismus zu demonstrieren. Das gemeinsame Handeln von unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten wie Bauern, Handwerkern und Priestern trug zusätzlich zu diesem revolutionären Narrativ bei, indem es die in der sozialistischen Revolution notwendige Zusammenarbeit von Proletariat und Bauern bereits ankündigte. Letztendlich passte auch die zwielichtige Rolle des Klerus zur atheistischen Einstellung der DDR. Thomas Müntzer war ursprünglich ein Gefolgsmann von Martin Luther gewesen, hatte sich jedoch schließlich gegen seinen Lehrer gewandt. Luther unterstützte die von seinen berühmten 95 Thesen beeinflusste Erhebung zunächst, doch am Ende verurteilte er die bäuerlichen Aufständischen entschieden. Da der Aufstand eine derartig große symbolische Bedeutung hatte, initiierte die DDR im Jahr 1975 eine großangelegte Feier zu seinem 450. Jahrestag. Im ganzen Land wurden zahlreiche künstlerische Projekte in Auftrag gegeben. Das berühmteste stammte von Werner Tübke, der für das Panoramagebäude, das am Schauplatz der letzten Schlacht von Bad Frankenhausen errichtet wurde, eines der größten Gemälde der Welt schuf.106 Die Regierung gab ein Sortiment von
105
Siehe Engels, Der deutsche Bauernkrieg.
106
Tübkes Gemälde ist bereits für sich genommen ein äußerst interessantes Kunstwerk. Das gesamte Projekt wurde von der ostdeutschen Regierung in Auftrag gegeben und finanziert und wurde durch den damaligen Kultusminister Hans-Joachim Hoffmann besonders gefördert. Doch Tübke, einer der bekanntesten und einflussreichsten Maler (der nunmehr berühmten Hochschule für Grafik und Buchkunst, an der auch Neo Rauch, einer der meist ausgestellten deutschen Maler der Gegenwart, studierte), erklärte sich nur mit dem Projekt einverstanden, wenn ihm die vollständige künstleri-
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Gedenkbriefmarken heraus, Konferenzen wurden abgehalten, akademische Publikationen wurden gedruckt, und für den Tag der letzten Schlacht wand sich ein Umzug durch die engen Gassen von Bad Frankenhausen. Und natürlich gab es Schillings Schwarze Vögel. Bernd Köllinger, Schillings Dramaturg, berichtete, dass die Premiere von Schwarze Vögel 15 Minuten Standing Ovations erhielt und folgerte, dass »die Zuschauer fasziniert waren von der Stimmigkeit, emotionalen Wirkungskraft und Stilbewußtheit, mit der das bislang größte und gewagteste Experiment im Ballettschaffen der DDR zu einem Meisterwerk gediehen war.« Seiner Meinung nach bestimmte »nicht Bewegungs-›Realismus‹, sondern bewegender Realismus die Szene.«107 Köllinger modernisierte nicht nur die Rhetorik des sozialistischen Realismus sondern machte erstmals auch die formale Untersuchung zum Teil seines Diskurses, indem er die Bedeutung von Bewegung als Kommunikationswerkzeug für den Realismus unterstrich. Er betonte mehrmals, dass Bewegungsvokabular und räumliche Gestaltung »reale Erscheinungen« in eine szenische und poetische Darstellung »übersetzten«. Köllinger nannte die Choreografie sogar ein »anti-naturalistisches Bewegungskonzept« und betonte, dass »weniger das Bühnenbild und die Requisiten zum Sprechen bringen als der Körper und der Raum.«108 Der Dramaturg rechtfertigte seine Einschätzung, indem er darauf hinwies, dass in den Kampfszenen keine Requisiten wie Schwerter und Hellebarden benutzt würden, sondern körperliche Methoden wie Karate, und dass subtile Wiederholungen von Bewegungsmotiven über die gesamte Choreografie hinweg eingesetzt wurden. Pantomime, eine viel genutzte sozialistischrealistische Vokabel, tauchte kaum auf. In Bezug auf das Libretto und die Charaktere erfüllte Schilling alle Anforderungen eines vom DDR-Staat in Auftrag gegebenen Stückes für den bedeutsamen Jahrestag des Bauernkriegs. Florian Geyer, der Adlige, der seinen Reichtum
sche Kontrolle zugesichert wurde. Das Ergebnis war ein Bild, das keine naturalistische Darstellung der Schlacht war – was ursprünglich vorgesehen war und mit den sozialistisch-realistischen Anforderungen übereingestimmt hätte – sondern eine faszinierende Meditation über die Welt der Renaissance und über Gesellschaft im Allgemeinen. Das Gemälde ist in einem allegorischen Renaissance-Stil ausgeführt und erlaubt eine große Bandbreite von Interpretationen, von einer pessimistischen Darstellung des Weltuntergangs bis hin zur Prophezeiung des Endes der DDR. Das Tafelbild mit einer Fläche von 1722 Quadratmetern ist immer noch in Bad Frankenhausen ausgestellt. 107
Köllinger, Tanztheater, S. 50.
108
Ebd., S. 51.
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aufgab, um die Bauern in den Aufstand zu führen, und auf den Engels Buch über den Bauerkrieg verwies, wird zur zentralen Figur der Choreografie. Dies erlaubte es Schilling, revolutionären Geist als unabhängig von der Klassenzugehörigkeit zu demonstrieren. Das Libretto erzählt in loser Folge die Geschichte von Florians zunehmendem Bewusstsein für das Elend der Bauern und von seiner Liebesaffäre mit einer Frau, die von einem anderen Adligen missbraucht und zuletzt getötet wird. Gemeinsam mit einem Priester führt Florian die Bauern in die Schlacht gegen den brutalen und dekadenten Adel. Der Aufstand wird jedoch blutig niedergeschlagen und Florian mit Hilfe des verräterischen Klerikers getötet. Florian Geyer ist einer der wenigen Charaktere, die sich im Verlauf des Tanzes weiterentwickeln. Die meisten Nebenfiguren, wie andere Adlige, Bauersfrauen und -männer, ein weiblicher und ein männlicher Narr und ein Kleriker behalten ihre ursprünglich eingeführte Charakterisierung bei. Zum Beispiel ist der Kleriker das ganze Stück über launisch und gefährlich und verrät und tötet Florian zuletzt, um sich selbst zu retten. Ein derartiges Porträt lag auf einer Linie mit der atheistischen Einstellung Ostdeutschlands. Obwohl Schwarze Vögel auf der Grundlage einer narrativen Entwicklung entstand, folgt die Choreografie nicht streng einer linearen Geschichte. Die Bühnenmusik des ostdeutschen Komponisten Georg Katzer verlangte einen moderneren Umgang mit Narration und Charakteren. Katzer, ein Schüler Hans Eislers, war einer der wenigen Komponisten in der DDR, die im Bereich der sogenannten Neuen Musik arbeiteten. Ursprünglich von Schönbergs Wiener Schule beeinflusst, wurde Katzer bekannt für das Integrieren von elektronischer Musik in die klassische Form. Seine Bühnenmusik für Schwarze Vögel verwendet klassische Instrumentierung, doch erinnern die Atonalität und starke Perkussivität des Werkes und seine komplexen rhythmischen Strukturen eher an Strawinskis Kompositionen. Die Musik steuert dramatische Bögen bei, doch ermöglicht ihre komplexe Schichtung auch die gleichzeitige Darstellung mehrerer dramatischer Aktionen. Schilling betont diese Schichten, indem er das Bühnenbild zum abstrakten Hintergrund für die wechselnden choreografischen Untersuchungen von individuellen und Gruppenaktionen macht, anstatt den Raum als klar definierte voneinander abgetrennte Szenarien für spezifische Ereignisse zu behandeln. Daher enthält die in zwölf Szenen strukturierte und von einem Prolog und einem Epilog eingerahmte Choreografie Vignetten und Tableaus, die eher Situationen und Beziehungen entwerfen als zusammenhängende Entwicklungen. Der Inhalt von Schwarze Vögel sprach die DDR-Parteifunktionäre an. Eine moderne Ästhetik erhielt das Stück jedoch durch Schillings Umgang mit dem Raum und sein spezifisches Vokabular. Schilling vermischt in einzigartiger Weise Ausdruckstanz und Folklore-Elemente und behält gleichzeitig die allgemeine
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Ästhetik eines Handlungsballetts bei. Ballettvokabular wird sparsam in Sprüngen, Drehungen und Tanz auf Spitze verwendet. Frauen stehen selten auf Spitze, und wenn, dann meist, um sie in einer dekadenten adligen Umgebung zu verorten, oder wenn einer der Protagonisten von einem vogelartigen Flug in die Freiheit träumt. Allerdings alterniert Schilling in einer Art und Weise zwischen Gruppen und Duetten, zu der ein Ballettpublikum Zugang finden könnte, das an Corps de Ballett und Pas de Deux gewöhnt ist.109 Gleichzeitig werden seine Untersuchungen der Beziehung zwischen Gruppe und Individuum überhaupt nicht von der repräsentationellen Räumlichkeit des Balletts bestimmt, sondern beinhalten auch Folkloreformen und vor allem Ausdruckstanz. Besonders der Prolog zeugt von dieser starken Rückbesinnung auf Schillings frühere Ausbildung. Eine Gruppe von maskierten Männern mit hochgereckten, an den Handgelenken gekreuzten Armen blickt nach außen, innerhalb eines Kreises von Frauen, die aufrecht und voneinander entfernt stehen und die Männer ansehen. Die Kostüme der Tänzer sind abgenutzt und erdfarben. Die Frauen tragen Kleider und die Männer, deren Oberkörper fast nackt sind, kurze Hosen. Die Frauen beginnen auf die Männer zuzustampfen, während sie ihre angewinkelten Arme langsam nach hinten heben. Plötzlich bewegen die Frauen beide Arme geradeaus nach vorne in V-Form auf Brusthöhe und beugen sich vor, wobei sie die Männer immer noch anblicken, doch ihre Beine im Uhrzeigersinn bewegen. Gleichzeitig fallen die Männer mit ausgestreckten Armen und Beinen flach auf den Boden in eine sternenartige Formation und geben so den Blick auf einen einzelnen Tänzer frei, der seinen Oberkörper nach oben und zurück biegt. Die Frauen bewegen sich weiterhin entlang der Peripherie des Kreises. Sie springen, den Oberkörper über ein Knie gebeugt und das andere Bein nach vorne ausgestreckt. Starke polyrhythmische Perkussionen betonen die Erdverbundenheit des Stampfens und Springens. Tänzer bewegen sich zu den Trommeln, ohne von diesen beherrscht zu werden. Indem sie ihr Körperzentrum in Kontraktionen, Beugungen und Drehungen einsetzt, springt, dreht sich und fällt die Gruppe in mehreren unterschiedlichen Variationen der starken Kreisformation. Zuletzt bilden sich zwei enge Kreise um die zentrale männliche Gestalt. Die Gruppe hält sich bei den Händen, während der äußere Kreis gegen den Uhrzeigersinn und der innere Kreis im Uhrzeigersinn läuft. Dies führt zu einer Szene fieberhafter Rase-
109
Das Publikum des Tanztheaters der Komischen Oper Berlin war loyaler und jünger als das der benachbarten Staatsoper Unter den Linden. Die Staatsoper präsentierte ein wesentlich klassischeres Ballettrepertoire. Schillings Publikum wusste auch um diese Produktionen (und sah sie aufgrund der günstigen Eintrittspreise auch), doch zog es Schillings Experimente der Tradition vor.
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rei, aus der die zentrale Gestalt ausbricht. Die Gruppe drückt sich aneinander und bewegt sich befangen um die Bühne herum, während der männliche Führer springt und – sie anscheinend kontrollierend – die Gruppe umkreist. Nach seinem letzten Sprung hebt ihn die Gruppe hoch über ihre Köpfe. Alle kauern sich, immer noch in konzentrischen Kreisen, vornübergebeugt auf den Boden nieder, heben dann die zentrale Gestalt erneut in Verehrung hoch und schreien dabei laut in Ekstase auf. Eine anfänglich stark atonale symphonische Musik beginnt und veranlasst die Gruppe, die Verderben am Horizont zu fühlen scheint, sich umzusehen und nach oben zu blicken. In seinem Verweis auf Rituale, die Beziehung zwischen Gruppe und Individuum, und durch die rhythmische Komplexität seines Klangs und seiner Bewegung erinnert der Prolog an die Choreografie von Le Sacre du printemps.110 Interessanterweise fand die Uraufführung von Pina Bauschs westdeutscher Fassung von Strawinskis Komposition nur drei Monate nach der Premiere von Schwarze Vögel statt.111 Bausch verwendet ebenfalls Ausdruckstanz-Vokabular, doch nimmt sie weitaus mehr Alltagsgesten in ihre wesentlich stärker emotionale und emphatische Choreografie auf als Schilling. Schilling verbleibt innerhalb eines abstrakten modernen Vokabulars und verweist gelegentlich auf mittelalterliche Kreis- und Gebetstänze. Seine Tänzer beugen sich vor und kontrahieren die Körpermitte. Allerdings erreichen diese Bewegungen niemals die existentielle Qualität von Bauschs Choreografie, in der die Tänzer ihre Oberkörper nahezu fallenlassen und Stürze und Kontraktionen bis beinahe zur physischen Erschöpfung vollführen. Bauschs Vokabular und Ausführung ruft die Empathie der Zuschauer hervor, während Schilling die Essenz einer historischen Situation darstellt. Beide bedienen sich folkloristischer Kreisformen, doch bricht Bausch konsequenter aus solchen Formen aus als Schilling, der den Kreis sogar dann beibehält, wenn sich die Gruppe wie ein Schwarm über die Bühne bewegt. Schillings Konzentration auf geometrische Formen und archetypische Verkörperungen ermöglichte eine Generalisierung der konkreten historischen Situation zu Beginn des Bauernkrieges hin zur Essenz von religiöser Unterdrückung und Klassenaus-
110
Das Programmheft beschreibt den Prolog als einen rituellen Tanz aus alten Zeiten, der die Rückkehr des Frühlings beschwört (Ahne und Neef, Dokumentation zur Uraufführung des Balletts »Schwarze Vögel« von Köllinger, Katzer, Schilling, S. 73.)
111
Bauschs Le sacre du printemps wurde am 3. Dezember 1975 zusammen mit Wind von West und Der zweite Frühling als Teil eines Tanzabends namens Frühlingsopfer in Wuppertal uraufgeführt. Für eine eingehende Analyse von Bauschs Le sacre du printemps nach unterschiedlichen Ansätzen, siehe Brandstetter und Klein, Methoden der Tanzwissenschaft.
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beutung. Dies schien der vom sozialistischen Realismus geforderten Darstellung der Essenz von gesellschaftlichen Entwicklungen zu entsprechen. Gleichzeitig wurden jedoch die Körper der Tänzer und die Choreografie zum Material für eine formale Demonstration, die das eigentliche Schlüsselelement das Tanzes darstellte. Abb. 15: Prolog von Tom Schillings Schwarze Vögel, Tanztheater der Komischen Oper Berlin, 1975.
Quelle: Archiv Darstellende Kunst, Akademie der Künste, Berlin. Foto: Arwid Lagenpusch.
Besonders in den starken Beziehungen zwischen Masse und Anführer verweist Schilling auf die frühen modernen Choreografien seiner Lehrerin Mary Wigman und im weiteren Sinne auf die ausdruckstanztypischen Gruppe-AnführerKonstellationen nach dem Ersten Weltkrieg. Mit ihren steifen Bewegungen zu Beginn erinnern die maskierten Männer auch an Kurt Jooss’ Der grüne Tisch. Wie ein Echo der Reaktion des Ausdruckstanzes auf das Trauma des Ersten Weltkriegs bleibt der Prolog abstrakt, ritualhaft und mystisch – erstaunliche Qualitäten für eine ostdeutsche Choreografie dieser Zeit.112 Dennoch war Schil-
112
Die Betonung des Primitiven in dieser Sequenz von Schillings Choreografie ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt seiner modernen Herangehensweise. In seiner Beschreibung einer früheren choreografischen Version des Prologs bezeichnet Schil-
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ling durch die Ablehnung des sozialistischen Realismus für den Ausdruckstanz und die Bevorzugung von Folklore- und Ballettformen eingeschränkt, während Bausch frei war, die Modernität von Strawinskis Partitur zu untersuchen und auf ihre frühere Ausbildung in Ausdruckstanz an Kurt Jooss’ Folkwang Schule und in Modern Dance in New York zurückzugreifen. Es ist ebenfalls offensichtlich, dass Bauschs Tänzer wesentlich besser dafür gerüstet waren, ihre Choreografie zu tanzen. Aufgrund der Ablehnung des Ausdruckstanzes in der DDR fehlte es den meisten von Schillings Tänzern sichtlich an Training, wenn es darum ging, wie sie mit ihren Oberkörpern arbeiten sollten; sie waren weitaus effizienter in der Ausführung der erdverbundenen folkloristischen Bewegungen. Nur die junge Tänzerin Arila Siegert stach in Schillings Arbeit heraus. Wie ich im folgenden Kapitel darlegen werde, wurde Siegert an der Palucca Schule ausgebildet, der einzigen Schule, die damals noch Ausdruckstanz anbot. Zusätzlich zu den emphatischen Unterschieden im Einsatz von Ausdruckstanz und Folklorevokabular in Schillings Schwarze Vögel und Bauschs Le sacre du printemps haben beide auch extrem unterschiedliche Ziele und Ergebnisse. Indem sie aus ihrer Ausbildung an der Folkwang Schule und ihrer Modern Dance-Erfahrung in New York schöpft, erschafft Bausch eine packende Choreografie, die in ihrem Kern um die Hinterfragung von Geschlechterbeziehungen kreist. Schillings Schwarze Vögel ist ein effizientes Gemisch von unterschiedlichem Vokabular, das in einer gleichzeitig abstrakten und erkennbaren historischen Situation verwurzelt ist. Diese choreografische Lösung diente als Schutz gegen Zensur und garantierte offizielle Unterstützung für seine Arbeit. Der Inhalt und das Thema von Schwarze Vögel entsprachen den Anforderungen des sozialistischen Realismus. Schillings Verwendung von modernem Tanzvokabular, essentiellen Typen statt sich entwickelnden Charakteren, und abstrakten choreografischen Mustern brachte jedoch moderne Qualitäten in die sozialistischrealistische Choreografie ein.113 Sein Ansatz demonstriert auch, dass sozialistischer Realismus keine unveränderliche unnachgiebige Kategorie war. In der Praxis passten Künstler und Theoretiker ihre Herangehensweisen, die auf den
lings Assistent Joachim Ahne die Szene als ein primitives oder heidnisches Ritual, das die noch existierende Einheit zwischen Menschheit und Natur darstellte. (Ahne und Neef, Dokumentation zur Uraufführung des Balletts »Schwarze Vögel« von Köllinger, Katzer, Schilling, S. 53.) 113
Einige der Szenen in Schwarze Vögel erinnern an Grahams Appalachian Spring. Auch dort scheint ein Narrativ präsent zu sein, und dennoch entwickeln sich die Charaktere nicht weiter, sondern bleiben Typen.
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künstlerischen Impulsen und dem politischen Tagesgeschehen beruhten, ständig an. Schwarze Vögel galt als Erfolg und blieb mehr als ein Jahrzehnt lang im Repertoire des Tanztheaters der Komischen Oper Berlin. Schilling erkundete weiterhin in mindestens einer Produktion pro Jahr unterschiedliche Formen und unterschiedliches Vokabular. Oft choreografierte er kürzere Stücke und kombinierte mehrere von ihnen zu einem abendfüllenden Tanzprogramm. Einige dieser Choreografien setzten sich mit Kammertanz auseinander, einer Form die sehr wichtig für den Ausdruckstanz war. Nennenswerte Beispiele waren Abendliche Tänze (1979) und Der Lebenskreis (1982).114 Schilling entwickelte neue Choreografien für Klassiker wie Schwanensee (1978), Romeo und Julia (1983) und Jacques Offenbachs Les contes de Hoffmann (1986), in denen er versuchte, die Intention der ursprünglichen Partitur wiederherzustellen oder die Narration zu aktualisieren, um sie für die sozialistische Realität in der DDR relevant zu machen. Er konzentrierte seine Bemühungen auch auf die Entwicklung von neuen Werken, darunter ein Ballett auf der Grundlage von Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandschaften (1986), das eine seiner populärsten Arbeiten werden sollte. Obwohl zunehmend jüngere Choreografen dem Ensemble der Komischen Oper Berlin Stücke auf den Leib schreiben durften, blieb Schilling der Hauptchoreograf. Seltsamerweise glaubte er lange Zeit, dass seine Arbeit nicht von der Zensur betroffen war, was in Anbetracht der ständigen Überwachung jeglicher kulturellen Produktion in der DDR natürlich unmöglich ist.115 Dennoch war er äußerst privilegiert und potenziell in der Lage, mit jeder Art von Zensur oder Problemen auf den höheren Ebenen der sozialistischen Machtstruktur umzugehen. Er durfte zum Beispiel weiterhin auf Auslandstourneen gehen, obwohl sich dabei wiederholt Tänzer abgesetzt hatten: Im Jahre 1971 verließen zwei Tänzer die Kompanie während einer Tournee in Jugoslawien und weitere elf auf einer Tournee in Helsinki.116
114
Kammertanz ist eine choreografische Form für Solisten oder für wenige Tänzer. Er steht im Gegensatz zu größeren Gruppen- und Massenchoreografien. Der Begriff hat seinen Ursprung in den kleinen Choreografien, die in bürgerlichen Salons in Deutschland aufgeführt wurden. DDR-Funktionäre benutzten den Begriff vor allem, um Choreografien zu bezeichnen, die sich auf Individualität und Persönliches konzentrierten.
115
Siehe Tom Schilling: Zum 70. Geburtstag.
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Für einen Bericht über Überwachung und Emigration im ostdeutschen Tanz, siehe Stabel, IM »Tänzer«.
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Köllinger bezeichnete Schillings Schwarze Vögel als beispielhaftes Vorbild für zukünftige Choreografen und außerdem als die Verkörperung der poetischen und ästhetischen Qualitäten, die ein zeitgenössisches Ballett haben sollte. Seiner Meinung nach hatte es dieselbe »exemplarische Bedeutung wie die großen Inszenierungen Brechts und Felsensteins, die etwas Neues und zugleich eine im Kunstleben unseres Landes weiterwirkende Tradition schufen.«117 Obwohl ich ihn nicht in dieselbe Kategorie wie Brecht oder Felsenstein einordnen würde, produzierte Schilling dank seiner einzigartigen Ausbildung und seiner privilegierten Stellung an der Komischen Oper Berlin interessante und wichtige Arbeiten. Ich würde ihn auch nicht einfach mit der Bezeichnung »sozialistischrealistisch« abtun, weil er – wie viele andere Künstler in Ostdeutschland – einzigartige Arbeiten innerhalb der Beschränkungen des sozialistischen Realismus produzierte und dadurch tatsächlich die Form veränderte. In Reaktion auf diese Veränderungen musste sich auch die sozialistisch-realistische Rhetorik anpassen, die dann ihrerseits weitere Experimente erlaubte. Nach seinen Wahlverwandtschaften von 1986 glückte Schilling nie wieder ein ähnlich erfolgreiches Werk. Gegen Ende der 1980er Jahre betrat eine neue Generation von Choreografen die Bühne des ostdeutschen Tanzes, eine Generation, die entschlossen war, Schillings Vokabular, seine traditionellen Geschlechterrollen und sogar die ostdeutschen Theaterstrukturen neu zu denken. Ein Jahr vor dem Mauerfall choreografierte Schilling Orpheus-Stationen für das Ballett der Deutschen Oper in Westberlin. Die Produktion wurde von Kritikern und Publikum verrissen. Dies und seine schwindende Bedeutung in der DDRTanzkultur der 1980er Jahre machten es ihm schwer, mit den Veränderungen in der ostdeutschen Kulturlandschaft nach der Wiedervereinigung zurechtzukommen. 1993 ging er in den Ruhestand, und Choreografen aus dem Westen übernahmen das Tanztheater. Zum Spielzeitbeginn 2004/2005 wickelte die Komische Oper Berlin die Tanzsparte ab. Dies war das Ende einer bemerkenswerten, nahezu 40 Jahre langen Geschichte einflussreicher Tanzproduktionen. Beim letzten Kongress der Vereinigung der Künstler der DDR im Jahr 1988 wurde der sozialistische Realismus offiziell als künstlerische Kategorie abgeschafft. Fortan sollte der Begriff »Kunst im Sozialismus« angewandt werden.118 Trotz aller Anpassungen war die Kunst in der DDR dem sozialistischen Realis-
117
Köllinger, Tanztheater, S. 53.
118
Goeschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, S. 47. Sogar 1986 bestand die SED noch auf dem Ausdruck »sozialistischer Realismus« (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Protokoll der Verhandlungen des XI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 84).
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mus entwachsen und hatte sich von ihm emanzipiert. Dies war hauptsächlich durch Veränderungen in der politischen Struktur möglich geworden, durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Staates, und den zunehmenden Austausch mit internationaler Kunst. Goeschen bestätigt dies: Während die Kunst sich bis zum Ende der 1960er Jahre durch ihre Beziehung zur klassischen Moderne der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts auszeichnet, arbeiteten Künstler ab den 1970er Jahren zunehmend mit zeitgenössischer westlicher Kunst.
119
Meine Betrachtung von Schillings Choreografie und von der Entwicklung der sozialistisch-realistischen Tanzrhetorik soll die dominante Geschichtsschreibung über die Moderne im Tanz hinterfragen. Wie ich im folgenden Kapitel demonstriere, brachten die 1980er Jahre die Ausbreitung einer derartigen Auseinandersetzung mit der Moderne und schließlich auch mit der Postmoderne mit sich, zumeist in Form von Bewegungen, die Widerstand gegen die staatliche Doktrin leisteten. Künstler veränderten Institutionen, erfanden neue Formen und gestalteten bestehende Strukturen um, um eine einzigartige ostdeutsche Bewegung zu erschaffen.
119
Goeschen, Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus, S. 47. Im Tanz kam es erst Ende der 1970er Jahre zu neuen Entwicklungen.
3 Widerständige Bewegungen im Osten Der Beginn einer choreografischen Opposition (1980er Jahre)
Da war er wieder – dieser verständnislose, leere Blick, die Auslöschung. Ich war ihm schon häufig begegnet; eigentlich war er mir nur allzu vertraut. Wir saßen um einen Konferenztisch herum, eine Gruppe internationaler Tanzwissenschaftler, die einander ihre Arbeiten vorstellten und gegenseitig kommentierten. Eine europäische Kollegin erwähnte eine kürzlich erfolgte Rekonstruktion von Mary Wigmans Choreografien durch den ecuadorianischen Tänzer Fabián Barba. Barba hatte Wigmans Arbeit, darunter Tänze aus dem Zyklus Schwingende Landschaft, werkgetreu rekonstruiert und sogar in Hellerau aufgeführt, wo Wigman ihre Tanzausbildung bei Jaques-Dalcroze begonnen hatte. Die Tanzwissenschaftlerin führte diese Aufführung als Beispiel für einen spezifischen Rekonstruktionsansatz an, bei dem das Original zu neuem Leben erweckt wurde. Als Gegenansatz nannte eine andere europäische Kollegin Martin Nachbars Rekonstruktion von Dore Hoyers Afectos Humanos.1 Daraufhin begannen die beiden, über das
1
In der Literatur zu Hoyers Choreografie und den Rekonstruktionen finden sich die beiden Schreibweisen Affectos Humanos und Afectos humanos. Ich fragte Siegert nach ihrer Schreibweise, und sie antwortete, dass Hoyer die spanische Schreibweise verwendete, da sie sich in La Plata befand, als sie ihre Beschäftigung mit Spinozas Werk begann (Siegert, E-Mail an den Autor, 20.1. 2012). Das Deutsche Tanzarchiv Köln, das Hoyers Nachlass aufbewahrt, bestätigte, dass Hoyer verschiedene Schreibweisen verwendete. Sogar in ihren Programmheften von 1962 findet sich am 13. März Affectos Humanos und am 1. Juni Affektos Humanos. In ihren Notizheften gebrauchte Hoyer die Schreibweise Afectos Humanos (Deutsches Tanzarchiv Köln, E-Mail an den Autor, 29.3.2012, bezieht sich auf Inv.-Nr. Hesse, DHNb.19. Obj.-Nr. 32658, S. 114).
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Für und Wider der beiden Herangehensweisen zu diskutieren. Nur wenige der anwesenden Wissenschaftler, die nicht aus Europa stammten, hatten von den beiden Arbeiten gehört. Mehrere von ihnen wussten nicht, wer Dore Hoyer war. Eine angesehene Tanzwissenschaftlerin aus Westdeutschland begann, Nachbars 2006 erfolgte Rekonstruktion von Hoyers Arbeit zu erklären. Sie lieferte außerdem Informationen über die Geschichte der ursprünglichen Arbeit und erwähnte, dass es eine frühere Rekonstruktion von Susanne Linke, einer WigmanSchülerin, die in Westdeutschland arbeitete, aus dem Jahr 1988 gebe.2 Ich wartete und unterbrach sie nicht, in der Hoffnung, dass sie schließlich auch die Rekonstruktion erwähnen würde, die Arila Siegert 1988 in Ostdeutschland durchgeführt hatte. Doch es kam zu keiner Erwähnung. Schließlich unterbrach ich sie und sagte: »Aber es ist doch interessant und wichtig, dass auch eine Rekonstruktion von Siegert existierte.« Es folgte der eingangs erwähnte leere Blick, der schließlich von der westdeutschen Wissenschaftlerin selbst unterbrochen wurde. Sie sagte, dass sich Nachbar lediglich auf Linkes Rekonstruktion beziehe; daher hätte sie Siegerts Arbeit ebenfalls nicht erwähnt. Ich sagte bloß: »Genau das meine ich.« Ich bin nicht sicher, ob sie mich verstand. Oder, um es korrekter auszudrücken: Ich bin sicher, sie verstand mich nicht. Im folgenden Kapitel versuche ich, meinen Standpunkt zu erklären, indem ich drei einzigartige Beispiele für ostdeutsche Bewegungskultur anführe. Alle drei fanden weitgehend unbeachtet statt oder sind zumindest nicht länger Teil des offiziellen Diskurses über Tanz und Bewegung im wiedervereinigten Deutschland. Gemeinsam ist ihnen eine Qualität des Widerstands gegen den sozialistischen Staat, in dem sie stattfanden. Allerdings unterscheiden sie sich stark in ihrer Herangehensweise.
Ich habe mich dafür entschieden, Siegerts Schreibweise zu übernehmen, da ihre Arbeit für meine Untersuchung von zentraler Bedeutung ist. 2
Sie erwähnte ebenso wenig Betsy Fishers Rekonstruktion von 1998/99. Fisher, eine Professorin an der University of Hawaii in Manoa arbeitete mit Hoyers Erbin Waltraud Luley und Thomas Schallmann an der Rekonstruktion und der Laban-Notation der Tänze.
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Wie in den Kapitel 1 und 2 besprochen, erlebte die DDR Anfang der 1970er Jahre einen kurzen Zeitraum relativer künstlerischer Freiheit und Toleranz. Erich Honecker, der erste Sekretär des SED-Zentralkomitees, sprach bei der vierten Versammlung des Komitees den berühmten Satz: »Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben.«3 In Folge dieser Erklärung wurden zuvor verbotene literarische Werke veröffentlicht, Theaterkompanien inszenierten neue Stücke, Rock- und Jazzmusik wurden offiziell anerkannt, Jugendclubs eröffneten im ganzen Land, und kleinere Galerien und Kinoclubs entwickelten sich innerhalb kultureller Einrichtungen. Hippietum, Punk, Kommunen und andere alternative Kulturen aus dem Westen kamen in den größeren Städten auf. Neue Modelle für künstlerische Produktion außerhalb der offiziellen künstlerischen Landschaft wurden etabliert. Vor allem wurde die sozialistische Realität zum Material für einen kritischen Diskurs, der sich von der Widerspiegelung sozialistischer Ideale durch den sozialistischen Realismus unterschied. Dieses Aufkeimen von künstlerischer Produktion und Diskurs kam zu einem plötzlichen Stillstand, als am 16. November 1976 DDR-Parteifunktionäre den Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann aus seiner Wahlheimat auswiesen. Biermann wurde 1936 in Hamburg geboren und zog 1953 nach Ostdeutschland, wo er seine Ideale als Kommunist bestätigt sah. Nur zehn Jahre später wurde er jedoch durch seine Lieder und Gedichte zu einem offenen Kritiker des sozialistischen Systems. Nach einem Konzert in Köln, das im westdeutschen Fernsehen übertragen wurde, erkannte ihm die DDR-Führung seine ostdeutsche Staatsangehörigkeit ab. Biermanns Exil wurde zum Auslöser für die umfassendste Reaktion der ostdeutschen Kunstszene in der Geschichte der DDR. Zwölf prominente Schriftsteller und ein Bildhauer initiierten eine Petition, die bald von über hundert Künstlern aus allen Bereichen unterzeichnet wurde.4 Die Funktionäre mach-
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Kaiser und Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR, S. 24. Die auf den 17. November 1976 datierte Petition lautete folgendermaßen: »Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens ›18. Brumaire‹, dem zufolge die proletarische Revolution sich unablässig selber kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können. Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Biermanns und distanzieren uns von Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu mißbrauchen. Biermann
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ten ihre Entscheidung nicht rückgängig. In Folge von Biermanns Ausbürgerung wurde zahlreichen Künstlern, die sich mit ihm solidarisch erklärten, Berufsverbot erteilt. Einige wurden sogar verhaftet oder ausgewiesen. Diese Maßnahmen setzten dem offenen Dissidententum in Ostdeutschland ein Ende und trieben die Opposition zurück in den Untergrund. Biermanns Ausweisung öffnete außerdem eine Kluft zwischen kritischen älteren Künstlern und jüngeren alternativen Künstlern, oder machte diese Kluft zumindest sichtbar. Um diese Kluft zu verstehen, muss man die nicht-offizielle künstlerische Kultur in Beziehung zur breiteren künstlerischen Produktion und zu den Bürgern Ostdeutschlands im Allgemeinen verorten. Die DDR war ein Land mit scharf kontrollierten Medien. Alle Theater-, Opern- Konzert- und Tanzproduktionen in den offiziellen Theatern und in der Amateurszene wurden zensiert. Darüber hinaus gab es keinen Zugang zu Druck- und Kopiermaschinen. Hans Magnus Enzensberger erklärt, wie die Sowjetunion den Zugang zu Technologie künstlich beschränkte.5 Sie verweigerte dem Volk den Zugang zu Kopiermaschinen, weil solche Maschinen jedermann zu einem Drucker machen konnten. Die Kopiermaschine war daher mit wirtschaftlicher und politischer Macht verbunden, und der Staat fürchtete, die Kontrolle über die Medien und den Informationsfluss zu verlieren. In Ostdeutschland dehnte sich diese Furcht vor den Medien auf Film und Fernsehen aus. Die DDR stellte ihren Bürgern sowjetische 8mm-HeimkinoSysteme zu Verfügung, doch mussten die Kameras manuell aufgezogen werden und ermöglichten nur 30 Sekunden Aufnahme. Es gab nur zwei Fernsehsender in der DDR, von denen einer einmal pro Woche sowjetisches Programm ausstrahlte. Das gesamte Programm endete vor Mitternacht, um sicherzustellen, dass die sozialistischen Arbeiter genügend Schlaf bekamen.6 Dies führte dazu, dass Information – einschließlich der Kunst und deren Diskurs – lediglich mittels öffentlicher Kanäle verbreitet wurde, was es nahezu unmöglich machte, Alternativen zu etablieren. Jeder konnte offizielle Theaterproduktionen besuchen, staatlich gebilligte Bücher lesen und Filme sehen, doch nur wenige hatten Zugang zu oppositioneller Kultur. Natürlich gab es in Bezug auf diese Einschränkungen Ausnahmen. Rockgruppen, wie zum Beispiel Renft mit
selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel daran gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossene Maßnahme zu überdenken.« (Krug, Abgehauen, S. 166). 5
Enzensberger, »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, S. 163.
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Für eine Beschreibung der Funktion der Medien in der DDR, siehe Bisky, »Massenmedien und sozialistische Kultur«, S. 64ff.
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ihren kritischen Texten und westlicher Rockmusik, waren äußerst populär, und ihre Konzerte waren heiß begehrt.7 Doch nur wenige ostdeutsche Bürger wussten, wer Biermann war, bevor er ausgewiesen wurde, da nur die westdeutschen Fernsehsender, die lediglich in Teilen von Ostdeutschland empfangen werden konnten, über ihn berichteten. Dies war nicht überraschend. Die alternative Kunstszene wurde von den ostdeutschen Medien im Allgemeinen überhaupt nicht wahrgenommen. Obwohl es in den meisten Städten alternative Kunstaktivitäten gab, waren die wichtigsten oppositionellen Netzwerke in den größeren Städten konzentriert. Wenn man kein Mitglied dieser Netzwerke war und nicht in einer Großstadt lebte, wusste oder erfuhr man kaum etwas darüber. Nicht genug damit, dass die Sichtbarkeit und der Einfluss der oppositionellen Szene begrenzt waren – auch die Gemeinschaft der Künstler war sich keineswegs einig. Künstler aus Biermanns Generation waren seit den Anfangstagen Teil der DDR gewesen. Trotz ihrer kritischen Position gegenüber dem ostdeutschen Sozialismus unterstützten sie in der Regel den Staat. Die nachfolgende Generation von Künstlern, die in den 1960er Jahren geboren waren, identifizierte sich nicht in gleicher Weise mit der DDR und wandte sich von ihrer politischen Doktrin ab .8 Die ältere Generation tat die junge Generation häufig als selbstbezogen ab. Zum Beispiel verurteilte Biermann rückblickend die Oppositionskünstler, die in den 1980er Jahren lebten und arbeiteten als »spätdadaistische Gartenzwerge mit Bleistift und Pinsel im Schrebergarten der Stasi«9. Biermanns Stichelei weist auf mehrere Problematiken hin, die wichtig für ein Verständnis der oppositionellen DDR-Kunstszene der 1980er Jahre sind: der Widerstreit zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Definition von öffentlichem und privatem Raum, die ungleiche Behandlung der Geschlechter, das Ausmaß, in dem Künstler im Umfeld oder in Zusammenarbeit mit der Stasi arbeiteten, und der Mangel an Anerkennung und sogar an allgemeiner Sichtbarkeit der oppositionellen Kunstszene. Die theoretische Analyse der Entwicklung der öffentlichen Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft, die der deutsche Philosoph Jürgen Habermas in sei-
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Bereits 1962 erhielten Renft ein offizielles Aufnahme- und Auftrittsverbot. Zwischen 1967 und 1974 durfte die Band wieder auftreten. 1975 wurde sie schließlich endgültig verboten. Daraufhin wanderten einige Bandmitglieder nach Westdeutschland aus. (siehe http://www.renft.de/pages/historie.php, abgerufen 3. Juni 2011).
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Für weitere Dokumentation über die Kluft zwischen den Generationen siehe Kaiser
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Ebd., S. 15ff.
und Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR.
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nem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit vornimmt, erweist sich als hilfreich für ein Verständnis des sozialistischen Kontexts. Allerdings wurde sie wegen ihrer universalisierenden Tendenz und des Ausschlusses marginalisierter Gruppen scharf kritisiert.10 Außerdem müssten auch durch Informationstechnologie ausgelöste drastische Veränderungen des öffentlichen Diskurses berücksichtigt werden. Dennoch bietet Habermas’ Arbeit einen Schlüssel zum Verständnis der unterschiedlichen Konstruktionen von Öffentlichkeit in kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften. Habermas nimmt an, dass sich der Begriff der »Öffentlichkeit« aus den literarischen und kulturellen Zusammenkünften in der bürgerlichen deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts herausbildete. Da der Zugang zu öffentlichem Diskurs in solchen Gesellschaften auf die landbesitzenden und gebildeten Bürger beschränkt war, wird diese Praxis von heutigen Wissenschaftlern wegen des Ausschlusses von weiblichen Bürgern, Mitgliedern des sich entwickelnden Proletariats und besitzlosen Minderheitsgruppen kritisiert. Öffentlichkeit fungierte als Regulierungs- und »Selbstartikulations«-Mechanismus für Politik betreibende Strukturen.11 Als solche trafen sich Privatleute, unabhängig von Regierungs- und Kircheninstitutionen, die zuvor ein Monopol auf den öffentlichen Diskurs innegehabt hatten, um öffentliche Angelegenheiten zu diskutieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Öffentlichkeit auf ihrem Höhepunkt war, herrschten nach Habermas strenge Trennungen zwischen Staat und Gesellschaft, sowie zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Zum Beispiel war die Familienstruktur privat und durch private Gesetze reguliert. Ein Beispiel dafür sind die Erbgesetze, die die Kontrolle über das Eigentum sicherstellten. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus und der Konzentration von Wohlstand in einigen wenigen Händen wurden diese Trennungen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich aufgeweicht. Dies führte dazu, dass der öffentliche Diskurs nun von den Wohlhabenden beeinflusst wurde, die ihn manipulierten, um ihren persönlichen Interessen zu dienen und um Kontrolle über industrielle und finanzielle Einrichtungen durchzusetzen. Die Medien spielten bei diesem Wandel eine wichtige Rolle. Ehemals private Bürger verloren die Macht über ihre Privatheit, da sich auch die Familienstrukturen veränderten. Vor allem bürgerliche Familien wurden ihrer wichtigen Funktion als regulierende Struktur für Privatbesitz entkleidet und zunehmend durch öffentliche Gesetze definiert. Als öffentliche Gesetze die Privatsphäre stärker zu kontrollieren began-
10 Für Kritik an Habermas’ Theorie, siehe Fraser, »Rethinking the Public Sphere«; Hardt und Negri, Commonwealth; und Hardt und Negri, Multitude. 11 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 105.
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nen, wurden private Bereiche laut Habermas auf »die rein ›persönlichen‹ [Rollen] ihres unverbindlichen Freizeitspielraums«12 reduziert. Wendet man Habermas’ Analyse der Entwicklungen der Öffentlichkeit auf den Tanz an, müsste Tanz als etwas verstanden werden, das eine Umwandlung von einem repräsentationellen Machtwerkzeug im Feudalismus zu einer überwiegend weiblichen Freizeitaktivität durchmacht, die in der bürgerlichen Gesellschaft der Jahrhundertwende eine Unterhaltungsform für Männer darstellt.13 Linda Tomko, Janice Ross und andere ergänzen dieses vereinfachende Verständnis der Teilung von öffentlicher und privater Arbeit um den GenderAspekt. Sowohl Tomko als auch Ross beschreiben, wie Tanz alsbald mehr als nur eine bloße Form von familiärer Freizeitaktivität wurde. Das Aufkommen des modernen Tanzes machte ihn zunehmend zu einem einflussreichen Teil von Öffentlichkeit.14 Durch das Vordringen der Frauen in die Öffentlichkeit war Tanz nicht mehr nur ein Zeitvertreib sondern begann, eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion der Öffentlichkeit zu spielen. Eine ähnliche Analyse von Tanz in Beziehung zur öffentlichen und zur privaten Sphäre ist für unser Verständnis der sozialistischen Gesellschaft notwendig. Die Rolle von Tanzkünstlern im sozialistischen Ostdeutschland muss in Beziehung zu der Diskrepanz zwischen dem Ideal und der tatsächlichen Realität gelesen werden: Der Sozialismus malte sich eine wahrhafte Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre und das Verschwinden der hegemonialen GenderStrukturen aus. Dagegen wurde die Realität vom größten Geheimdienstsystem der Welt und einer traditionellen heteronormativen Familienstruktur bestimmt. Im Sozialismus existiert kein Privatbesitz, somit ist Besitz keine mögliche Voraussetzung für die Teilnahme an Öffentlichkeit mehr. Außerdem muss Öffentlichkeit nicht mehr als gesellschaftlicher Regulator des Staates funktionieren, da der Staat von der Mehrheit, dem Proletariat, kontrolliert wird. Daher hat der Staat im Sozialismus aus marxistischer Sicht lediglich administrative Funktionen und wird nicht mehr dazu benutzt, politische Strategien im Interesse einer Minderheit durchzusetzen, und auch nicht mehr als ein Mittel, durch das eine Klasse eine andere unterdrücken könnte. Zuletzt verschwindet die Unterscheidung zwi-
12 Ebd., S. 192. 13 Andrew Hewitt nimmt eine solche vereinfachende Anwendung von Habermas’ Verständnis der Entwicklung von Öffentlichkeit auf den Tanz vor; siehe Social Choreography, S. 32. 14 Ein Aspekt wäre die Konstruktion einer nationalen Identität durch weiblichen Tanz in der Öffentlichkeit. Siehe Tomko, Dancing Class; und Ross, Margaret H’Doubler and the Beginning of Dance in American Education.
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schen Staat und Gesellschaft. Menschen, die durch den Wunsch motiviert sind, ihren Privatbesitz zu schützen, müssen nicht mehr am öffentlichen Diskurs teilnehmen, um die Handlungen des Staates zu kritisieren und zu regulieren. Stattdessen wird der öffentliche Diskurs von Privatbürgern geführt, die wirklich privat sind, frei von öffentlicher wirtschaftlicher Determinierung. Auch die Familienstrukturen verändern sich, da Männer keine wirtschaftliche Kontrolle mehr über die Frauen haben. Zum ersten Mal in der Geschichte werden Familien wirklich privat und müssen nicht mehr durch das Gesetz reguliert werden.15 Folglich hätte Tanz in der DDR ausschließlich in der Öffentlichkeit vorkommen sollen, bestimmt von proletarischen Interessen.16 Natürlich unterschied sich die ostdeutsche Gesellschaft erheblich von dieser marxistischen Utopie. Eine Betrachtung widerständiger Tanzpraktiken kann uns dabei helfen, die tatsächliche sozialistische Realität zu verstehen. Widerstand in Ostdeutschland muss in Beziehung zu der Diskrepanz zwischen dem niemals verwirklichten Ideal einer Trennung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre gelesen werden, das Frauen vollkommen gleichgestellt hätte. Theoretisch waren Frauen den Männern im Sozialismus gleichgestellt. Doch war diese Gleichstellung zumeist nur in Bezug auf die öffentliche Arbeit sichtbar. Der DDR-Staat versuchte, Frauen vollständig in den Produktionsprozess zu integrieren und machte sie somit von den Männern unabhängig. Die Einbeziehung von Frauen wurde durch ein gut entwickeltes Unterstützungsnetzwerk für alle Aufgaben, die mit dem Familienleben zu tun hatten, ermöglicht.17 Zum Beispiel war die DDR berühmt für ihr Kinderbetreuungssystem. Um die 85 Prozent aller Kinder besuchten Horte, Kindergärten und nachschulische Betreuungseinrichtungen. Dank dieses Betreuungssystems nahmen vor dem Fall der Berliner Mauer 91 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter am Arbeitsmarkt teil. Die sozialistische Ideologie war natürlich nur ein Grund für die hohe Beschäftigungsrate von Frauen in der DDR. Ein anderer Hauptgrund war das schnelle Anwachsen der Produktion und der daraus resultierende Arbeitskräftemangel in allen sozialistischen Ländern.18
15 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 157f.; S. 170. 16 So sieht häufig die westliche Vorstellung von Tanz in Ostdeutschland oder im Sozialismus im Allgemeinen aus. 17 Nickel, »Women in the German Democratic Republic and in the New Federal States«, S. 144; S. 139. 18 Für eine eingehende Analyse der Position der Frauen in der DDR und ihrer Darstellung in den Medien, siehe Dölling, »Unsere Muttis arbeiten wie ein Mann«.
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Obwohl die ursprüngliche ostdeutsche Verfassung in Artikel 7 nicht nur die Gleichheit der Frauen in der Gesellschaft, sondern in Artikel 30 auch die Gleichheit der Frau in der Familie vorschrieb, waren Frauen dennoch immer noch für Heim, Familie und Kinder verantwortlich, genau wie viele Frauen in kapitalistischen Gesellschaften.19 Die meisten Männer beteiligten sich nicht gleichberechtigt an diesen Bereichen. Für Männer bedeutete die Familie eher Erholung als zusätzliche anspruchsvolle Arbeit. Außerdem blieb die öffentliche weibliche Arbeit hauptsächlich auf die traditionellen Gebiete weiblicher Beschäftigung, wie Einzelhandel, Kinderbetreuung, niederrangige medizinische Berufe, Erziehung, Fließbandarbeit und Laborarbeit beschränkt. Dennoch verschaffte ihre Arbeitskraft den Frauen den Zugang zu sozialistischer Bürgerschaft. Die in der DDR praktizierte Gründung von Bürgerschaft auf Arbeit reduzierte äußerst komplexe Sachverhalte zu einem vereinfachten materialistischideologischen Begriff.20 Identität, Nationalität und Bürgerschaft verschmolzen zu einer einzigen Kategorie: Arbeit. Durch das Aufgehen unterschiedlicher Kategorien in diesem Konzept wurde der weibliche Körper auf die Standards des männlichen arbeitenden Körpers reduziert und somit entprivatisiert und entgendered. Obwohl der weibliche Körper in der sozialistischen Ideologie als essentiell und emanzipiert definiert war, wurde er seiner einzigartigen Sexualität, seiner Lüste und Wünsche beraubt, da er als dem männlichen Körper gleichwertig zu funktionieren hatte.21 Frauen in Ostdeutschland erfuhren Patriarchat ganz anders als Frauen in kapitalistischen Gesellschaften und hatten somit eine andere Interpretation von Feminismus und Gender-Politik. Um verschiedene Formen von DDR-Gender-Politik in Bezug auf den Tanz vorzustellen, diskutiere ich in diesem Kapitel ausschließlich weiblichen Widerstand. Außerdem will ich demonstrieren, dass es unter den weiblichen Künstlern keine einheitliche Herangehensweise an das Neudenken von weiblicher Verkörperung gab. Siegert, Kwiatkowski und von Mahlsdorf gehen äußerst unterschiedlich mit weiblichem gendering und Arbeit um und hinterfragen die traditionellen Geschlechterbilder mittels institutioneller, choreografischer und performativer Taktiken.
19 Amt für Information der Deutschen Demokratischen Republik, Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, S. 15; S. 23. 20 Ich verwende die Begriffe »Materialismus« und »materialistisch« im marxistischen Sinne und beziehe mich damit auf Marx’ theoretische Überlegungen zur menschlichen Gesellschaft in seinem historischen Materialismus. Ich beschreibe damit keine Konsumhaltung. 21 Siehe z.B. Fenemore, Sex, Thugs and Rock ’n’ Roll, über weibliche Verkörperung bei Teenagern.
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Indem er gegen Marx’ und Engels Vision einer Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich verstieß, regulierte der ostdeutsche Staat sogar den angeblich privaten Raum der Familie. Das Familiengesetzbuch von 1965 lieferte explizite Richtlinien für den Aufbau einer sozialistischen Familie und das Aufziehen von Kindern als »aktive Aufbauer des Sozialismus«.22 Die Familie war als der »kleinste Baustein der Gesellschaft«23 definiert und wurde somit in einen Teil der öffentlichen Sphäre verwandelt. In ähnlicher Weise nahm die im Sozialismus angeblich abgeschaffte Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft in der DDR eine ziemlich makabre Gestalt an. Habermas kritisiert Marx’ und Engels’ Theorien zur Verschränkung von Staat und Gesellschaft, indem er feststellt, dass die öffentliche Sphäre ihre vermittelnde Position zwischen Staat und Gesellschaft verliert. Bereits in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft hatten Organisationen mit speziellem Interesse, die aus der privaten Sphäre entstanden und Parteien, die ihren Ursprung in der öffentlichen Sphäre hatten, begonnen, die Gesellschaft im Interesse des Staates zu indoktrinieren. Lenin wusste um die Notwendigkeit, Parteien und Organisationen zu bilden und so entwickelte er die Theorie, dass die kommunistische Partei das führende Organ in einem sozialistischen Staat sein müsste. Für Habermas jedoch »ersetzte« Lenin »den ›zerbrochenen‹ Staatsapparat des Zaren durch den ungleich mächtigeren des Zentralkomitees.«24 Die kommunistische Partei verschmilzt mit dem Staatsapparat. Somit wird die öffentliche Meinung immer noch von oben bestimmt. Öffentlichkeit als kritische Debatte existiert zwar, doch wird sie unterdrückt. Laut Habermas manipulierte diese Art der Beherrschung in der sozialistischen Gesellschaft die Öffentlichkeit, legitimierte sich fortwährend ihr gegenüber und dehnte die Macht des Staats in alle Bereiche der Gesellschaft aus.25 Die Stasi wurde zum wichtigsten Werkzeug zur Unterdrückung von Öffentlichkeit in der DDR und zur wichtigsten Verlängerung der Staatsmacht hinein in die Privatsphäre. In Bezug auf die anonyme Nötigung und Überwachung von Menschen durch eine unbekannte Staatsmacht schien die DDR Franz Kafkas Fantasie übertroffen zu haben. Die Stasi hinterließ dem vereinigten Deutschland sechs Millionen Akten; vier Millionen davon über Bürger der DDR und zwei Millionen über Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Darin war unter anderem das Folgende enthalten: mindestens 18 Kilometer Akten, sieben Kilometer Prozessakten und 11 Kilometer Akten über operative Vorgänge. Bei diesen Akten handelt es sich um
22 Familiengesetzbuch, S. 3.1.2. 23 Böhne et al. (Hg.), Kleines politisches Wörterbuch, S. 195. 24 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 170. 25 Ebd., S. 209.
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Berichte über die unmittelbare Beobachtung von Personen. Zusätzliche 1,5 Kilometer Karteikarten enthalten die Klarnamen aller Personen, die selbst beobachteten und derer, die beobachtet wurden. Das Archiv enthält 122.000 Aktenbündel, 1.600 Karteikartenbündel, 755 Bündel von Formularblättern, 13 Tonnen unbenutzte Formularblätter und 158 Aktenschränke. Außerdem sind 936 Säcke mit teilweise geschredderten Akten vorhanden, 1.222 ungeöffnete Pakete und Kisten, 195 Koffer, 500 Taschen mit Röntgenkarten und 195 Papierkörbe. Diese Liste beschreibt nur einen Teil des Archivs in Berlin. In ehemaligen Bezirkshauptstädten wie Leipzig, Dresden und Chemnitz (dem ehemaligen Karl-MarxStadt) befinden sich weitere Archive. Im Leipziger Archiv lagern beispielsweise solch bizarre Materialien wie eine Sammlung von persönlichen Kleidungsstücken in Konservengläsern, die als Geruchsakten dienten. Obwohl sich die Welt zum Zeitpunkt des Mauerfalls erst an der Schwelle zum Informationszeitalter befand – der erste Megabyte-Chip wurde 1986 produziert – hatte die Stasi Zugang zu einem elektronischen Datenverbund der Mitglieder des Warschauer Pakts, der als SOUD bekannt war.26 Allerdings wurde der Großteil der Daten, die in den Stasi-Archiven gesammelt wurden, immer noch physisch und nicht digital verarbeitet. Mark Poster bezeichnet die digitale Datenbank als ein Superpanoptikum. Foucaults Panoptikum konstruiert die beobachtete Person als Subjekt. Im Gegensatz dazu objektifiziert Posters Superpanoptikum das Individuum und bringt dadurch »Individuen mit disparaten Identitäten« hervor, »Identitäten, derer sich die Individuen manchmal vielleicht nicht einmal bewusst sind«.27 Der Geheimdienst der DDR kann im Sinne von beiden Modellen beschrieben werden. Der gesamte Beobachtungsapparat der Stasi beruhte immer noch auf physischen Daten und dem Prozess der Subjektivierung. Die Stasi konnte nur handeln, wenn das Individuum durch einen Akt der Subjektifizierung aus dem abstrakten Massenkörper der Bürger herausgegriffen wurde. Der Massenkörper war die Schöpfung des sozialistischen Staates, doch wurde der individuelle Körper als Materialisierung von Wahrheit höher als das ideologische Konstrukt des Massenkörpers gewertet. Obwohl sozialistische Individuen durch den Staat zu einem Massenkörper objektiviert wurden, wurden sie auch
26 Nur Rumänien gehörte nicht zu dieser Vereinigung. Christ Chesher, der in seinem Artikel »Colonizing Virtual Reality« den Begriff »virtuelle Realität« (VR) demystifiziert, datiert das Auftreten von VR auf 1989, das Jahr des Mauerfalls. Chesher erklärt nicht nur, warum er die Begeisterung der meisten Wissenschaftler für VR und Cyberspace nicht teilt, sondern beleuchtet auch die Produktion von Computer-Geschichte durch das, was er die »VR-Brüderschaft« nennt. 27 Poster, »Database as Discourse«, S. 190.
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individualisiert, um ihre Beobachtung zu ermöglichen.28 Der Hauptunterschied zwischen der Funktionsweise von Posters digitaler Datenbank und der der Stasi ist der Grad an Subjektivierung. Dennoch weist die Konstruktion beider Apparate einige Ähnlichkeiten auf. Der Autor der schriftlichen Stasiakten war dem beobachteten Objekt meist unbekannt, wie es auch bei dem Schöpfer von Posters digitaler Datenbank der Fall ist. Auch die selbst-generierte Reproduktion beider Datenbanken ähnelt einander. Poster beleuchtet, wie eine Datenbank die nächste hervorbringt.29 In ähnlicher Weise produzierte die Stasi auch Akten über die Beobachter. Niemand war aus der Überwachungskette ausgenommen. Ohne den Gebrauch fortgeschrittener Technologie führte diese unvorstellbare Menge von Akten zu einer qualitativen Veränderung in der Struktur des Archivs. In Bezug auf die elektronische Datenbank schreibt Poster: »Die breite Masse wurde zur Überwachung diszipliniert – und zur Teilnahme an dem Prozess.«30 Wie sich herausstellte, spionierten Familienmitglieder einander aus, berichteten Liebende über Geliebte, und zahlreiche Mitglieder der neuen oppositionellen Künstlergeneration waren Informanten der Stasi. Obwohl den meisten Mitgliedern oppositioneller Gruppen die Überwachung durch ihresgleichen nicht bewusst war, wussten sie ebenso wie die allgemeine Bevölkerung um die ständige Präsenz der Stasi. Allerdings wurde dieses Bewusstsein für die Künstler auch zu einem wichtigen Arbeitsprinzip. Sie waren zunehmend in Räumen tätig, die sich durch ihre Unüberschaubarkeit der Überwachung und Zensur entzogen. Dadurch trugen Künstler auch zur Neudefinition der Beziehung zwischen öffentlichem und privatem Raum bei. Happenings wurden in zu Galerien umgewandelten Privatwohnungen veranstaltet, und sorgfältig durchgeplante Abendessen unter Freunden wurden zu Performance-Kunst-Events. Obwohl die DDR-Funktionäre den Staatsapparat in nie dagewesener Weise dazu einsetzten, ihre ideologische und politische Macht zu stärken, existierte Opposition auf allen Ebenen der Gesellschaft. Die oppositionellen Kräfte unterschieden sich voneinander in ihren Zielen, Ansätzen, Ergebnissen und dem Grad
28 Da die DDR immer noch wie eine moderne Gesellschaft funktionierte, die vom Ideal der sozialistischen Persönlichkeit träumte, überrascht es nicht, dass sie eine Unterscheidung zwischen dem Massenkörper und dem individuellen Körper vornahm. Die Beziehung zwischen dem Geheimen und dem Nicht-Geheimen, die mit Fragen nach Öffentlichkeit und Privatheit zusammenhängen, sind in dieser Angelegenheit ebenfalls von Bedeutung. Für eine eingehende Betrachtung dieser Fragen und eine Dekonstruktion des Archiv-Begriffs, siehe Derrida, Archive Fever. 29 Poster, »Database as Discourse«, S. 186. 30 Ebd., S. 190.
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ihrer Anziehungskraft. Dennoch bemühten sich alle Formen von Widerstand in der DDR, den Versuch des Staats zu untergraben, seine Machtposition als natürlich zu etablieren. Indem er darauf hinweist, dass die Präsenz von common sense die Voraussetzung für jegliche Art der Beherrschung bildet, argumentiert Pierre Bourdieu, dass Machtstrukturen den Anschein der Natürlichkeit benötigen, um ihre Macht zu sichern.31 Diese Naturalisierung von regierenden Strukturen ermöglicht es dem Staat, common sense als Basisprinzip von und objektiven Grund für seine dominante Position zu behaupten. Obwohl Bourdieu seine Beobachtungen in der Hauptsache auf Klassenstrukturen beschränkt, operiert der Begriff von common sense als Machtprinzip ähnlich in Hinblick auf andere Identitätskonstruktionen wie Rasse, Gender, Ethnizität, Nationalität, Alter und Sexualität. Bourdieus Verständnis von Gesellschaft stellt die vereinfachende Teilung des Sozialen in dominierende und dominierte Kräfte in Frage. Es gibt den dominierten Teilen einer Gesellschaftsordnung agency zurück, indem es ihnen ermöglicht, der dominierenden Macht nicht nur zu gehorchen, sondern auch Widerstand zu leisten, indem sie die Natürlichkeit der Ordnung in Frage stellen. Diese Idee erweist sich als besonders wertvoll, da sie die Definition von Widerstand erweitert: Sie integriert Handlungen, die nicht immer in erster Linie und intentional als Widerstand gegen politische Strukturen gedacht sind – oder die von außen nicht als solche lesbar sind – doch die dennoch letztendlich oppositionelle Strukturen erschaffen. Indem er sich auf die Intention im Widerstand konzentriert, unterscheidet Tim Cresswell zwischen Widerstand, Transgression und Abweichung.32 Widerstand ist für ihn eine Funktion der Intention eines Performers, Transgression dagegen eine Funktion der Ergebnisse und der Reaktion auf die Transgression. Abweichung wird hingegen lediglich durch ihre Auswirkung definiert. Widerstand impliziert eine zweckgerichtete Aktion mit der Absicht, die vorhandene Ordnung zu verändern oder zumindest in Frage zu stellen. Eine Transgression überschreitet eine imaginäre Linie, die nicht überschritten werden sollte. Indem sie dies tut, zwingt sie die Mächte, die diese Linien etablierten, zu einer Reaktion. Anders als im Falle des Widerstands, kann einem transgressiven Akt die Intention von Seiten des Transgressors fehlen. Cresswell beobachtet, dass Widerstand und Transgression einander nicht gegenseitig ausschließen. Eine Transgression kann absichtlich geschehen, und ein Akt des Widerstands kann eine Reaktion von Kräften auslösen, die den Status Quo aufrechterhalten. Unter
31 Bourdieu, »The Objective Limits of Objectivism«; Bourdieu, »Structures and the Habitus«. 32 Cresswell, In Place/Out of Place, S. 21-27.
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Abweichung versteht er einen Akt, der von einer etablierten Norm abweicht und durch die Antwort, die er hervorruft, sichtbar wird. So fesselnd solche Unterscheidungen zwischen Widerstand, Transgression und Abweichung auch sein mögen – ich habe mich entschieden, in diesem Kapitel lediglich den Ausdruck »Widerstand« zu gebrauchen, da Intention immer schwierig festzulegen ist. Bewegung geschieht selten unabsichtlich, und an ihrem Ende steht immer eine Veränderung, auch wenn diese Veränderungen keinen Bruch mit etablierten Normen zu bedeuten scheinen. In seiner Arbeit Domination and the Arts of Resistance stellt James Scott die vollkommene Zustimmung zur Beherrschung in Frage, die Gramscis Begriff von Hegemonie unterstellt, bei dem der Unterdrückte die Macht des Unterdrückers ermöglicht. Zu diesem Zweck untersucht er den Unterschied zwischen scheinbarer Anpassung in der öffentlichen Arena und Widerstand in verborgenen Bereichen der Gesellschaft.33 Scotts Auffassung vom ständig präsenten doch unsichtbaren Widerstand ist produktiv.34 Eine Analyse der körperlichen Reaktionen auf Beherrschung liefert eine Möglichkeit, Widerstände innerhalb des Systems sichtbar zu machen, die einem äußeren Betrachter vielleicht entgehen würden. Oder, wie Foster es ausdrückt: »Ein leerer Blick bedeutet nicht für alle Körper und in allen Kontexten dasselbe.«35 Ein Lesen von Bewegung in Verbindung mit einer Diskussion der zugrundeliegenden ideologischen Symbole und Normen enthüllt nicht nur verborgene Widerstandskräfte, sondern beleuchtet auch die normativen Strukturen innerhalb der Gesellschaft. Oft werden Normen und Modelle erst eindeutig sichtbar, wenn sie überschritten werden. Beschreibungen der ostdeutschen Oppositionsbewegung in Publikationen beschränkten sich häufig auf die prominenteren Oppositionsgruppen und auf individuelle Intellektuelle und Künstler. Der Begriff des sogenannten Bürgerrechtlers umfasste sowohl Individuen wie Biermann als auch Oppositionsgruppen innerhalb der evangelischen Kirche, beispielhaft dargestellt durch den von der evangelischen Kirche finanzierten Friedens- und Umweltkreis der Berliner Zionskirchgemeinde. Diese Individuen und Gruppen hatten eine bedeutende Auswirkung auf das bestehende sozialistische System und trugen entscheidend dazu bei, die politische Wende zu gestalten. Ich versuche, diese Ge-
33 Gramsci, Prison Notebooks, S. 233-238. 34 Obwohl Scott der Unterschied zwischen performten Gehorsam in öffentlichen Räumen und Widerstand im Verborgenen bewusst ist, definiert er beide trotzdem als formal ähnlich. Ein derartiger Mangel an Differenziertheit ist problematisch, wie dieses Kapitel über drei äußerst unterschiedliche Formen von Widerstand zeigt. 35 Foster, Choreographing History, S. 5.
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schichte durch weniger prominente Beispiele von Akteuren zu ergänzen, die Körper und Choreografie zum Widerstand einsetzten. Wie Biermanns Äußerung andeutet, mögen diese Künstler für die Ostdeutschen überhaupt nicht wahrnehmbar gewesen sein. Um die Auswirkungen von Beherrschung auf den Körper zu verstehen, muss man jedoch alle Arten und Weisen studieren, wie Hegemonien in Frage gestellt werden, sogar die kleinsten und am wenigsten sichtbaren.36 Der sozialistische Staat regulierte das öffentliche und private Leben aggressiv und versuchte, jeden einzelnen Moment zu choreografieren. Auf diese Zwänge reagierten die Bürger mit einem hochentwickelten Bewusstsein für Performance und Choreografie auf allen Ebenen, die von Kollaboration bis zum Widerstand reichten und oft beides zugleich waren. Die DDR-Bürger wussten um die umfangreiche Überwachung durch den Staat und mussten daher eine Reihe von angemessenen Verhaltensweisen entwickeln, die sie für ihn performen konnten. Da den Bürgern ein hochstrukturiertes Verhalten aufgezwungen wurde, waren sie sich stets der performativen und choreografierten Struktur bewusst und nahmen ihr eigenes Benehmen als nicht natürlich wahr. Diese Bewusstheit versetzte den Widerstand in der DDR in die Lage, seine Performance als kooperierende Bürger vorsichtig mit seinem Widerstand innerhalb des sozialistischen Systems abzustimmen. Anders gesagt: In dem Gehorsam der Leute gegenüber dem Staat lag Widerstand. Arila Siegerts Karriere und choreografische Praxis sind ein lebhaftes Beispiel für diesen Akt der Abstimmung. Ihre Arbeit könnte als eine privilegierte individuelle Unternehmung gelesen werden. Allerdings enthüllt ein genauerer Blick auf ihre Auseinandersetzung mit der Moderne und ihre Strategie der Rekonstruktion des Ausdruckstanz-Repertoires ein ständiges Verhandeln mit den Strukturen des ostdeutschen Staats. Außerdem ermöglicht er eine stärker nuancierte Einschätzung und Neubewertung einer der bemerkenswertesten ostdeutschen Tänzerinnen und Choreografinnen.
36 Es existiert eine Fülle von Material über oppositionelle Gruppen und Individuen in Ostdeutschland. Nichts davon betrachtet Verkörperung und Choreografie als widerständige Praxis. Siehe z.B. Kowalczuk, Endspiel; Neubert und Eisenfeld, Macht Ohnmacht Gegenmacht; Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR; Gehrke und Rüddenklau, ... das war doch nicht unsere Alternative; Kowalczuk, Freiheit und Öffentlichkeit; Kowalczuk, Sello und Weber, Für ein freies Land mit freien Menschen; Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989; Pollack, Politischer Protest; Poppe, Eckart und Kowalczuk, Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung; Porokop, 1956; Rüddenklau, Störenfried; Scheer, Vision und Wirklichkeit; Subklew und Jeutner, Der Pankower Friedenskreis und Klein, Frieden und Gerechtigkeit.
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A RILA S IEGERT : R EKONSTRUKTION M ODERNE
ALS WIDERSTÄNDIGE
Arila Siegert wurde 1953 in einer Kleinstadt bei Dresden geboren und als Kind an die Palucca Schule aufgenommen. Der Improvisationsunterricht bei Gret Palucca und Eva Winkler, einer Schülerin von Marianne Vogelsang, war für ihren individuellen Zugang zu Tanz und Choreografie, wie für ihre weitere Karriere überhaupt, von entscheidender Bedeutung. Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln erwähnt, nahm die Palucca Schule eine umstrittene Position in der ostdeutschen Tanzlandschaft ein; ebenso wie Palucca selbst. Palucca – ihr ursprünglicher Name war Margarethe Paluka, den sie 1921 in Gret Palucca änderte, und später lediglich in Palucca – studierte von 1920 bis 1923 bei Mary Wigman und tanzte in ihrer Kompanie. 1924 begann sie ihre Solokarriere und gründete ein Jahr später ihre eigene Schule in Dresden. 1927 trat sie im Bauhaus in Dessau auf und kam dort mit Künstlern wie Wassily Kandinsky, László MoholyNagy und Paul Klee in Berührung, die die vollständige Abstraktion ihrer Tänze zu schätzen wussten.37 1939 wurde ihre Schule wegen ihrer jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten geschlossen. Da sie eine der bekanntesten Protagonistinnen des Ausdruckstanzes war, durfte sie dennoch während der gesamten Nazizeit weitertanzen. Bekanntlich nahm sie auch 1936 an der Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele teil. 1945 eröffnete sie ihre Schule umgehend als Konservatorium wieder, das nach einer Reihe institutioneller Aufwertungen schließlich acht Jahre Ausbildung ab dem 10. Lebensjahr anbieten konnte. Nach einem Umzug in neue Gebäude wurde letztendlich eine staatliche Schule daraus. In Auseinandersetzung mit der in Ostdeutschland vorherrschenden Ablehnung des Ausdruckstanzes als formalistisch und dekadent hatte Palucca den Begriff Neuer Künstlerischer Tanz wiederbelebt, ohne Form und Inhalt ihrer Tänze und ihrer Pädagogik zu ändern. Wenn man bedenkt, dass sie nahezu ausschließlich Solotänzerin war und ganz bewusst Improvisation als Basis zur Entwicklung vollständig abstrakter Tänze einsetzte, überrascht es, dass sie ihre Ästhetik mit dem Bedürfnis der DDR-Kulturpolitik nach sozialistisch-realistischen Kollektivtänzen vereinbaren konnte. Palucca war in mehreren hochrangigen künstlerischen und kulturellen Institutionen tätig und hatte Verbindungen in die politische Führungsspitze der DDR. Sie drohte mehrmals, Ostdeutschland zu verlassen und tat dies auch kurzzeitig im Jahr 1952. Sie war in der Lage, ein großes Maß von
37 http://www.palucca.eu/en/palucca_school/history/till_1945.html, abgefragt am 25. August 2010.
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Kontrolle über ihre Institution und ihr künstlerisches Vermächtnis sicherzustellen.38 Obwohl von 1960 an der klassische Ballett-Unterricht die Palucca Schule zunehmend dominierte, blieb sie die einzige Institution, die modernen Tanz als Unterrichtsfach Improvisation anbot. Gemeinsam mit ihren Pädagogen beeinflusste Palucca eine ganze Generation von ostdeutschen Choreografen und Tänzern, doch vermied sie erfolgreich jegliche systematische Dokumentation ihrer Methoden.39 Erst 1996, drei Jahre nach Paluccas Tod, gelang es Eva Winkler, die an der Schule ausgebildet war und dort unterrichtete, und Peter Jarchow, der jahrelang den Unterricht in Neuem Künstlerischen Tanz begleitet hatte, ihre Dokumentation des Unterrichts zu veröffentlichen.40 Anordnung und Inhalt des Materials spiegeln die improvisierte Natur und Ästhetik von Paluccas Herangehensweise wieder. Der Unterricht bestand im Grunde aus Kompositionskursen mit einer starken Betonung von Bewegungsqualitäten (Schwingen, Phrasieren, Kontrast, Schlendern, Schleichen, Hüpfen...), verschiedenen Arten der Erforschung von Raum (Ausrichtung, Fortbewegung, Bewegung auf der Stelle …) und Musik (Rhythmus, Polyphonie, Dynamik, Pausen, Phrasierung …), sowie aus Untersuchungen von Themen und Szenen (Verwandlung, fleißiger Gärtner, Fußballspieler, Blatt im Herbstwind, Märchen von einer kleinen Fliege umgeben von Feinden...). Betrachtet man die Beschreibungen der Übungen aus heutiger Perspektive, so schienen sie eher für jüngere Kinder als für ältere Teenager konzipiert, die ebenfalls die Schule besuchten. Den meisten Aufgaben wohnt eine gewisse weibliche Qualität inne, oder zumindest ein ausgeprägter Sinn für Paluccas Tanzstil, der den abstrakten Ausdruck von Freude durch expansive Bewegungen unterstreicht. Es überrascht nicht, dass eine Studentin wie Siegert wesentlich von diesem Unterricht beeinflusst war, und dass ihr Verständnis von Ausdruckstanz von Paluccas bewusster Konzentration auf Solo und Abstraktion bestimmt wurde.
38 Für die kritische Einschätzung von Paluccas Karriere siehe Marion Kants Essay, der Palucca zu den anderen Protagonisten des Ausdruckstanzes und ihrem politischen Überleben in Deutschland in Beziehung setzt. Kant, Marion. »Was bleibt? What remains of East German Dance?«, in: Manning, Susan und Lucia Ruprecht, New German Dance Studies, UIP, 2011. 39 Siehe Stabel, Ralf, »Und so wird daraus nichts«, in: Winkler, Eva und Peter Jarchow, Neuer Künstlerischer Tanz, Tanzwissenschaft e.V. und Palucca Schule Dresden, 1996, S. 99-120. 40 Winkler, Eva und Peter Jarchow, Neuer Künstlerischer Tanz.
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Dennoch war es ihr klassischer Ballettunterricht bei der Agrippina-Waga nowa-Schülerin Nina Ulanowa, der Siegert die nötige Technik verschaffte, die ihr dabei helfen sollte, ein Engagement bei einer der besten Kompanien des Landes zu finden. 1971, bei einem jährlich stattfindenden ostdeutschen Ballettwettbewerb, sah Tom Schilling Siegert das Prélude aus Les Sylphides tanzen und war so eingenommen von ihrer direkten, ungekünstelten Interpretation, dass er die damals erst 18jährige Tänzerin engagierte.41 Da sie von der Palucca Schule kam, wo individueller Ausdruck und Kreativität geschätzt wurden, fiel es ihr schwer, sich an Schillings choreografische Arbeitsweise anzupassen, die Tänzer als Ausdrucksinstrumente behandelte.42 Als sie 1992 zurückblickte, erklärte sie: Ich habe immer versucht, mich mit dem auseinanderzusetzen, was ich als Bedingung gestellt bekam, und daraus eine Philosophie zu machen. Ich hatte nie die Möglichkeit, etwas abzubrechen und zu sagen, das will ich nicht, ich gehe jetzt woanders hin.
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Mit einer derartigen Einstellung war es nicht verwunderlich, dass Siegert nur fünf Jahre später zur Solistin aufstieg, die speziell für sie choreografierte Hauptrollen tanzte und auf Tourneen mit der Kompanie in Italien, der Sowjetunion, Indien, Australien, und China auftrat.44 Trotzdem beschloss sie, Schillings Tanztheater an der Komischen Oper zu verlassen und ging zurück nach Dresden, wo sie Primaballerina an der Staatsoper wurde. Ein derartiger Schritt war höchst ungewöhnlich für eine Tänzerin in der DDR, vor allem für jemand von Siegerts Niveau. Berlin bekam weitaus mehr Förderung und Aufmerksamkeit und galt zum damaligen Zeitpunkt als Hochburg für die Künste in Ostdeutschland. Mit Jaques-Dalcroze, der vor dem ersten Weltkrieg in Hellerau vor den Toren Dresdens unterrichtete, der ehemaligen Mary Wigman-Schule und der immer noch existierenden Palucca Schule hatte Dresden jedoch eine starke Tradition im modernen Tanz vorzuweisen. Obwohl die Stadt von den stärker kosmopolitischen Metropolen Berlin und Leipzig als provinziell angesehen wurde, entwickelte
41 Schmidt, Jochen, »Sensibel, aber mit voller Kraft auf der Suche nach dem eigenen Weg: Arila Siegert«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 38. Woche, 18. Sept. 1992, Heft 655, S. 18. 42 Wie Siegert angibt, hatte Schilling gerade mehrere Tänzer verloren, die sich während einer Tournee abgesetzt hatten. Daher war er von seinen Tänzern desillusioniert und behandelte sie eher wie Instrumente, die seine Vorstellungen ausführen sollten. (Schmidt, 1992, S. 18). 43 Schmidt, »Sensibel...«, 1992, S. 20. 44 Schmidt, Tanztheater in Deutschland, S. 220.
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sich dort in den 1980er Jahren nach und nach eine einzigartige alternative Kunstszene, die Platz für neue Modelle und Ausdrucksformen bot.45 Siegert hatte sich schon immer für Choreografie interessiert. Bereits 1970, als sie noch an der Palucca Schule war, choreografierte sie ihr erstes Stück, Gesichte nach Ivo Andrić. Sie war weiterhin choreografisch tätig, als sie an der Komischen Oper tanzte, die ihre Arbeit auch 1976 als Teil eines Programms mit kürzeren Choreografien aufführte. Bald nachdem sie nach Dresden gezogen war – und während sie Hauptrollen in Giselle, Der Grüne Tisch, Orpheus und Schwanensee tanzte – intensivierte Siegert ihre choreografische Arbeit und entwickelte mindestens eine Choreografie pro Jahr, wie Progreß (1981), Klänge der Nacht (1982) oder Windungen (1983). 1981 wurde sie für Progreß beim nationalen Choreografiewettbewerb mit dem ersten Preis ausgezeichnet.46 Ihr erster Soloabend Gesichte (1985) bestand aus eigenen Choreografien und einer Rekonstruktion von Marianne Vogelsangs Fünf Praeludien. Mit ihren Choreografien setzte Siegert die Ausdruckstanz-Tradition in Dresden fort, die von Dalcroze, Laban, Wigman, Vogelsang und Palucca begründet worden war.47 Vogelsang war eine der ersten Studentinnen gewesen, die 1934 ihren Abschluss an der Palucca Schule machte. Wie die meisten Protagonisten des Ausdruckstanzes tanzte, unterrichtete und choreografierte sie während ihrer gesamten Karriere. Sie tanzte bei Palucca und unterrichtete an Labans Deutscher Tanzbühne, an der Folkwang-Schule in Essen, an mehreren Ballettschulen in Berlin, und nach dem Krieg an der Hochschule für Musik in Rostock und an Mary Wigmans Berliner Schule. Später gründete sie ihre eigene Schule im Ostteil Berlins, die schließlich Teil eines der drei staatlichen Tanzkonservatorien in der DDR wurde. Sie unterrichtete dort weiterhin, bis die zunehmende Feindseligkeit gegenüber dem Ausdruckstanz sie 1958 zur Kündigung zwang. Sie tanzte weiterhin in Theater- und Opernproduktionen, doch erlangte sie nie den Rang, den sie verdiente. Marion Kant bezeichnete Vogelsang in ihrer Analyse der Entwicklung des modernen Tanzes in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als die »begabteste moderne deutsche Tänzerin«. Sie führt aus, wie Vogelsang, anders als Palucca oder Wigman, kritisch über die deutsche Nazivergangenheit und die
45 Siehe Ladopoulos, »Die Rolle der Improvisation in Geschichte und Gegenwart des modernen Tanzes in Dresden«, Diplomarbeit, unveröffentlicht, Universität Leipzig, Leipzig 1993 und Kaiser, Paul und Claudia Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR, Verlag Fannei & Walz, Berlin 1997, S.145-190. 46 Programmzettel, Medea Landschaften, Leipziger Oper, 1992, ohne Seitenangabe. 47 »Sich aufmachen, schöpferisch sein: Gespräch mit Arila Siegert«, Theater der Zeit, 5, 1988, S. 34.
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Kollaboration des Ausdruckstanzes reflektierte. Neben Laban und Jooss war Vogelsang außerdem die einzige moderne deutsche Tänzerin, die eine systematische Untersuchung von Vokabular und Pädagogik in Beziehung zu gesellschaftlichen Entwicklungen ausarbeitete.48 Die Fünf Praeludien (1972-73), choreografiert zu Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier, waren Vogelsangs letzte Choreografie gewesen. Wenige Wochen vor ihrem Tod 1973 hatte sie sie an ihren Schüler Ernst Schnelle weitergegeben.49 Mit Schnelle erarbeitete auch Siegert die Choreografie und führte sie 1985 in Dresden auf. Zwar war diese Rekonstruktion nicht der Beginn ihrer lebenslangen Beschäftigung mit dem Ausdruckstanz, doch machte die Choreografin damit zum ersten Mal deutlich, dass sie nicht nur Prinzipien und Vokabular aus dem Ausdruckstanz für ihre Arbeit verwendete, sondern dass sie diese Tradition auch als wichtig für kommende Generationen betrachtete. Siegerts Entscheidung, Vogelsangs Arbeit zu rekonstruieren, ist auch insofern interessant, als Vogelsang die einzige andere moderne deutsche Tänzerin war, die in der DDR arbeitete (Hoyer ging 1948 nach Hamburg, Wigman nach Westberlin). Anders als Palucca war Vogelsang jedoch nicht in der Lage gewesen, sich mit der Unterdrückung des Ausdruckstanzes zu arrangieren. Vogelsangs Arbeit wieder sichtbar zu machen, war daher per se ein oppositioneller Akt. Als Arila Siegert die Semperoper verließ und das Tanztheater am Staatsschauspiel Dresden gründete, verstärkte sie diese Haltung noch und gab als Ziel an, »die Tradition des deutschen Ausdruckstanzes wieder aufzugreifen und unter Einbeziehung zeitgenössischer inhaltlicher und ästhetischer Forderungen weiterzuentwickeln und neu nutzbar zu machen«.50 Auf ihre erste Aufführung Herzschläge von 1987 folgten nach der Gründung ihrer eigenen Kompagnie eine Rekonstruktion von Dore Hoyers Afectos humanos (1989) und Rekonstruktionen von Wigmans Tänzen (1991), darunter der berühmte Hexentanz. Trotz zahlreicher Versuche, Paluccas Arbeit zu rekonstruieren, erhielt Siegert niemals die Er-
48 Vogelsang schrieb Gedanken zur Situation des Neuen Künstlerischen Tanzes, Gedanken über die Technik des Neuen künstlerischen Tanzes und Vorschläge zu ihrer Fixierung und Gedanken über die Pädagogik des Neuen Künstlerischen Tanzes (alle 1953). Siehe Kant, 2011. Im Gegensatz zu Kant betrachtete Kurt Peters Vogelsangs Schriften 1997 lediglich als eine Weiterführung von Wigmans und Labans Pädagogik aus dem Jahr 1936. Peters, »Ausdruckstanz – Wurzeln und gegenwärtige Bedeutung» Ausdruckstanz: Möglichkeiten und Grenzen, Material zum Theater 225, Verband der Theaterschaffenden der DDR, Berlin 1989, S. 8. 49 http://www.arila-siegert.de/knz/vogls.htm, abgefragt am 22. August 2010. 50 Schmidt, Tanztheater, 1992, S. 220.
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laubnis ihrer Mentorin, die fest davon überzeugt war, dass ihre Arbeit mit ihr sterben sollte. Palucca lehnte sich mit diesem Standpunkt an Mary Wigman an, welche sich bekanntlich auch geweigert hatte, eine kodifizierte Technik zu entwickeln und ihre Tänze zu erhalten. Irene Sieben hinterfragt jedoch dieses Verständnis von Wigmans Arbeit, indem sie auf Wigmans eigene Aussage hinweist, in der die Choreografin die Rückkehr einer vergangenen Schöpfung zu einem späteren Zeitpunkt vorsah.51 Indem sie sich performativ mit der Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart beschäftigen, stellen Rekonstruktionen von Tänzen stets neue Fragen, anstatt einfache Aussagen zu liefern. Helen Thomas bemerkt, dass die Geschichte der Rekonstruktion von Michel Fokines Sterbendem Schwan »Fragen nach dem Ursprung eines Kunstwerks und der Suche nach einer endgültigen authentischen Version aufwirft.«52 Sie führt weiterhin aus, dass Eigentümerschaft, Copyright und Intention zu komplexen Problemen werden, wenn ein Werk von einem Körper auf einen anderen übergeht, egal ob durch Vermittlung oder nicht. Rebecca Schneider stellt in ihrer Beschäftigung mit Soloarbeiten die Frage nach dem Originalitäts-Mythos und wirft dabei ebenfalls Fragen nach Authentizität, Autorenschaft, Kopie und Wiederholung auf.53 Schneider problematisiert neben zahlreichen anderen Begriffen die Autorität des großen singulären kanonischen Werks, das patriarchalische Abstammungsgesetze in Bezug auf künstlerisches Schaffen nachbildet. Gerald Siegmund macht darauf aufmerksam, dass Rekonstruktion im Ballettbereich eine übliche und unbestrittene Praxis ist. Sie scheint jedoch Fragen aufzuwerfen, wenn es sich bei dem Material um modernen Tanz und nicht um Ballett handelt.54 Verstanden die Choreografen des modernen Tanzes, die zumeist Choreograf und Interpret in einer Person waren, ihre Choreografien tatsächlich als Originalschöpfungen, welche keine vorhergehenden Tanztraditionen verarbeiteten? Und wie können wir für dieses Erbe Sorge tragen, wenn die Bewegung so eng mit dem Körper ihres Schöpfers verbunden ist? Siegmund fügt hinzu, dass die Beschäftigung mit der Geschichte nicht länger ein Akt des Bewahrens ist, sondern auch Fragen nach ethnischen, kulturellen, und ge-
51 Irene Sieben, Erinnerung mit Zukunft – Reenacting Mary Wigman. Vortrag beim Tanzkongress auf Kampnagel Hamburg, 7.11.2009. 52 Thomas, Helen, »Reconstruction and Dance«, in: Carter, Alexandra (Hg.), Rethinking Dance History, Routledge, London 2004, S. 42. 53 Schneider, Rebecca, »Solo Solo Solo«, in: Butt, Gavin, Beyond Criticism, Blackwell Publishing, Malden 2005, S. 26. 54 Siegmund, Gerald. »Affekt, Technik, Diskurs«, in: Thurner, Christina und Julia Wehren (Hg.), Original and Revival, Chronos, Zürich 2010, S. 15.
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schlechtsspezifischen Identitäten stellt.55 Bereits 1989 nahm Mark Franko Siegmunds Einschätzung der Probleme, die Tanz aus unterschiedlichen Zeitaltern aufwirft, durch eine Untersuchung von Modern Dance und BarocktanzRekonstruktionen vorweg.56 Er stellte ebenfalls die Frage, ob Rekonstruktion mit »historischen Referenzen in postmoderner Kunst« vergleichbar sei. In Übereinstimmung mit Hal Foster bezweifelte er, ob Rekonstruktion »um eines leeren Kultur-Effekts Willen, d.h. allein um der Geste Willen, zu Revisionismus führt«.57 Simone Willeit, die in den 1990er Jahren eine Verschiebung des Ziels der Rekonstruktion von der Bewahrung der Vergangenheit hin zu einer historiografischen Praxis feststellt, interessiert sich für die »Kontinuitäten und Brüche«, die ein Rhizom von alten und neuen Arbeiten erschaffen.58 Dies sind lediglich einige der Stimmen, die die Komplexität des Phänomens Rekonstruktion thematisieren. Wegen der Fetischisierung von Verschwinden und Vergänglichkeit ist dies ein wichtiges Problem, das den Tanz buchstäblich nicht loslässt.59 Rekonstruktion wird in der melancholischen Struktur der Ontologie des Tanzes zum Hoffnungsträger. Helen Thomas führt Unbeständigkeit und Universalitätsansprüche als Gründe für die Rekonstruktionspraxis an. Sie zeigt auf, dass Hierarchien bestehen, die Kulturerzeugnisse nur dann wertschätzen, wenn sie sich entweder der Hochkultur oder einer Folkloretradition zuordnen lassen. Um ein archivarisches und rekonstruktives Bemühen zu verdienen, muss Tanz entweder theatralisch sein oder Ausdruck einer Nationalkultur.60 Ich würde hinzufügen, dass moderner und postmoderner Tanz die theatrale Institution programmatisch in Frage stellen, indem sie häufig nicht auf Bühnen stattfinden sondern in alternativen Aufführungsräumen wie Salons, unter freiem Himmel, in Kirchen, Galerien und so weiter. Allerdings erreichen einige dieser Tänze ihre Institutionalisierung durch andere Mittel: entweder indem sie Kompanien oder Schulen begründen – wie es
55 Siegmund, 2010, S. 17. 56 Franko, Mark, »Repeatability, Reconstruction and Beyond«, Theatre Journal 41.1 (1989), S. 56-74. 57 Franko, 1989, S. 57. 58 Willeit, Simone, »Stolpern und Unzulänglichkeiten«, in: Thurner, Christina und Julia Wehren (Hg.), Original and Revival, Chronos, Zürich 2010, S. 15. 59 Siegmund, 2010, S. 58. 59 Marcia Siegels Buch Watching the Dance Go By, Houghton Mifflin, Boston 1977, begründete eine ganze Schule dieser Art der theoretischen Auseinandersetzung mit Tanz. 60 Thomas, »Reconstruction«, S. 34.
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wiederholt im Modern Dance geschah – oder indem sie sich in Bildungsinstitutionen hinein begeben, wie es bei der postmodernen Tradition der Fall war, die zum Muster für viele Choreografieklassen im westlichen Kontext wurde. Die ausgedehnte Liste von Tanzwerken, die als rekonstruierbar eingeschätzt werden, schließt immer noch zahlreiche nicht-westliche Traditionen und Choreografien als Minderheitskultur aus (es sei denn, diese werden Teil eines ethnografischen oder anthropologischen Projekts). Dieser uneinheitliche Umgang mit der Rekonstruktionspraxis wirft ethische Fragen auf und macht auf bestehende Hierarchien im Tanz aufmerksam. Durch seine starke Bindung an theatrale oder pädagogische Institutionen scheint der Ausdruckstanz dazu prädestiniert, rekonstruiert zu werden. Nahezu alle Protagonisten des Ausdruckstanzes hatten irgendwann einmal ihre eigenen Kompanien oder führten Solos auf Bühnen auf. Wie sowohl Marion Kant als auch Susan Manning veranschaulichen, war der Ausdruckstanz am Ende der Weimarer Republik und zum Beginn Nazideutschlands ebenfalls eng mit dem nationalen Interesse verbunden.61 Dennoch war diese Kunstrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg in keinem der beiden Teile Deutschlands in der Lage, eine derartige Bedeutung wiederzuerlangen. Der Ausdruckstanz wurde durch eine Wiederbelebung des Balletts und eine Betonung von Folklore ersetzt und überlebte nur als pädagogisches Instrument an der Folkwang Schule im Westen und der Palucca Schule im Osten. Mit seinem Niedergang in der offiziellen Hierarchie des Tanzes verlor der Ausdruckstanz seinen Rekonstruktionswert. Ich werde später darauf eingehen, wie er diesen Wert wiedererlangte. Mit dem Problem der Hierarchien hängt die Frage nach der Autorenschaft zusammen. Siegmund wirft sie auf, wenn er darüber spricht, wie Jérôme Bel in seinem Dernier spectacle von 1998 wiederholt einen Ausschnitt aus Susanne Linkes Wandlungen zitiert.62 Handelte es sich nun um eine Arbeit von Bel, oder gehörte der Tanz Linke? Noch komplexer liegt der Fall bei Yvonne Rainer, die 2007 für ihre Choreografie RoS Indexical Material aus dem BBC-Film über Millicent Hodsons und Kenneth Archers Rekonstruktion von Nijinskis Le Sacre du Printemps verwendete.63 Die Schichtung von Material und Rekonstruktion machten die Zuschreibung von Autorenschaft nahezu unmöglich, da die Tänzerinnen auch das Vokabular neu bearbeitet hatten.64 Anthea Kraut hat die Frage
61 Karina, Lilian, und Marion Kant, Hitler’s Dancers: German Modern Dance and the Third Reich, Berghahn Books, New York 2003; Manning, Ecstasy and the Demon. 62 Siegmund, »Affekt«, S. 15. 63 Riot at the Rite, BBC London, 2005. 64 Die Tänzer in Yvonne Rainers jüngsten Choreografien bringen stets ihr eigenes Material mit und bearbeiten es gemeinsam mit Rainer neu. Die gegenwärtigen Tänzerinnen
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nach Autorenschaft in Bezug auf Loïe Fullers Kampf darum gestellt, ihre Tänze mit Stoff und Licht gesetzlich schützen zu lassen. Wie Kraut postuliert, ging es bei Fullers Kampf nicht nur um die Absicherung ihrer einzigartigen Position, sondern vor allem um das Beharren darauf, dass ihre Choreografie von einem weißen Körper performt werden sollte.65 Fullers Wunsch verschiebt das ethische Problem der Wiederverwendung von choreografischem Material von einem historischen in einen identitären Bereich. Thomas versuchte, derartige Probleme dadurch zu erklären, indem sie die unterschiedlichsten Terminologien rund um den Begriff Rekonstruktion untersuchte. Die Unterschiede zwischen Wiederaufnahme, Rekonstruktion, Nachstellung, Co-Autorenschaft und Neuerfindung liegen für sie vor allem in der Beziehung zwischen dem ursprünglichen Choreografen, dem Material und dem Rekonstruktor. Wenn der ursprüngliche Urheber des Werkes es erneut inszeniert, würde dies Wiederaufnahme genannt werden, wenn eine andere Person dies tut (besonders wenn dazwischen Zeit vergangen ist), würde man von Rekonstruktion sprechen. Eine Nachstellung basiert lediglich auf der Idee des Originals und so weiter. Diese Unterscheidungen mögen in Bezug auf die Frage nach Autorenschaft ihren Wert haben, doch tragen sie nur wenig zu einer Diskussion bei, die über legale, ethische und ästhetische Fragen hinausgeht. Selbst Thomas greift in ihrer Analyse der Genealogie unterschiedlicher Versionen des Sterbenden Schwans auf die Verwendung von Rekonstruktion zurück.66 Im Gegensatz dazu konzentriert sich Siegmund nicht auf eine Unterscheidung mittels Terminologie, sondern auf eine Unterscheidung mittels der Beziehung der Rekonstruktion zur Tanzgeschichtsschreibung. Indem er William Forsythes einzigartigen choreografischen Umgang mit Ballettvokabular, die Rekonstruktion von Nijinskis Nachmittag eines Fauns durch Le Quatuor Albrecht Knust und Nachbars Arbeit an Hoyers Afectos Humanos untersucht, macht Siegmund die unterschiedlichen Haltungen gegenüber dem nicht-verfügbaren historischen Text deutlich. Bei Forsythe wird daraus eine komplexe Auseinandersetzung mit dem niemals erreichbaren Ideal der Balletttechnik und eine einzigartige Möglichkeit, diese Technik zu performen, indem der Fokus wieder auf den tanzenden Körper gelegt wird. Das Ergebnis ist ein extrem individueller Umgang mit einem Ideal und dessen Performance; dem Ideal der historischen
ihrer Kompanie sind Patricia Catterson, Emily Coates, Patricia Hoffbauer und Sally Silvers. 65 Kraut, Anthea, Dance Copyright and Migrations of Choreography, CORD 2007. 66 Thomas, »Reconstruction«, S. 39.
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Technik und dem Ideal der ursprünglichen Choreografie.67 … d’un faune (eclats) von Le Quatuor Albrecht Knust liefert eine Serie von bruchstückhaften ReInterpretationen von Nijinskys Choreografie, die dieser in seiner eigenen Notation niedergeschrieben hatte, und die von Claudia Jeschke und Ann Hutchinson Guest entschlüsselt und in Labannotation »übersetzt« worden war. Die Choreografie des Quatuor Albrecht Knust enthält Genderwechsel, filmisches Material von und über Nijinskys Zeitgenossen und Mitarbeiter, zahlreiche schriftliche Dokumente über die Choreografie und ihre Aufführungen, sowie zahlreiche performte Splitter von Nachmittag eines Fauns. Siegmund vertritt die Auffassung, dass die Collage von historischem und räumlichen Material in Verbindung mit der fragmentierten Choreografie die Arbeit für eine Einbeziehung des Publikums öffnet. Das Publikum wird Teil des Rekonstruktionsprozesses und ist aufgefordert, die Arbeit weiterzuführen.68 Für Siegmund macht Nachbar den Abstand zwischen seinem eigenen und Hoyers Körper dadurch sichtbar, dass er Hoyers virtuellen Körper in Nachbars aktuellem Körper realisiert.69 Bevor ich zu dieser Argumentation beitrage, indem ich Siegerts Rekonstruktion wieder in den Diskurs einfüge, möchte ich ein wenig Kontext für Afectos Humanos und seine Rekonstruktionen liefern. Hoyer wird als eine der wichtigsten Solotänzerinnen der AusdruckstanzTradition gefeiert. Geboren 1911 in Dresden, wurde sie hauptsächlich in Rhythmik und Gymnastik ausgebildet und besuchte 1930 ein Jahr lang die Palucca Schule. Nach ihrem Abschluss wurde sie als Solistin an einem Stadttheater in einer kleineren Stadt engagiert. Um 1933 hatte Hoyer ihren ersten von der Kritik gefeierten Soloabend in Dresden. Während ihrer gesamten Karriere war sie gezwungen, all ihre Soloauftritte selbst zu finanzieren. Erst kurz vor ihrem allzu frühen Tod wurde sie mit mehreren Preisen für ihre choreografische Arbeit ausgezeichnet. Hoyer trat ebenfalls kurzzeitig in Wigmans Kompagnie auf, bei der von den Nazis finanzierten Deutschen Tanzbühne und nach dem Krieg in von der Kritik gefeierten Bühnenproduktionen wie Wigmans Le Sacre du Printemps. Außerdem übernahm Hoyer nach dem Zweiten Weltkrieg die Wigmann Schule in Dresden und choreografierte schließlich Tänze für Käthe Kollwitz, die sie der kommunistischen Partei widmete. Ihre Choreografie Der große Gesang von 1947 machte sie zu einer Zielscheibe in der aufkommenden Debatte um den sozialistischen Realismus. Sie verließ Ostdeutschland im Jahr 1948 und ging in den Westen, wo sie als Regisseurin und Choreografin für Theater und Oper ar-
67 Siegmund, »Affekt«, S. 23. 68 Ebd., S. 26. 69 Ebd., S. 22.
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beitete. In den 1950er Jahren absolvierte sie äußerst erfolgreiche Tourneen durch Lateinamerika und besuchte 1957 das American Dance Festival, wo José Limóns Arbeit und Technik sie sehr beeindruckten. 1962 choreografierte sie Afectos Humanos. Nach zahlreichen erfolglosen Aufführungen neuer Soloarbeiten und der Feststellung, dass sie wegen einer Knieverletzung vielleicht nicht mehr in der Lage wäre, zu tanzen, beging Hoyer am Silvesterabend 1967/68 Selbstmord.70
Abb. 16: Dore Hoyer in Ehre/Eitelkeit aus Afectos Humanos, 1962.
Quelle: Deutsches Tanzarchiv Köln. VG Bild-Kunst, Bonn. Foto: Siegfried Enkelmann.
70 Müller, Hedwig, Frank-Manuel Peter und Garnet Schuldt, Dore Hoyer: Tänzerin, Hentrich, Berlin 1992.
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Hoyer choreografierte Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst und Liebe zu Kompositionen ihres Langzeitmitarbeiters Dimitri Wiatowitsch. Sie war eine sehr angespannte und kontrollierte Tänzerin. Das Vokabular ihrer Tänze wird häufig im Zentrum initiiert und mit großer Kraft gehalten. Isolationen verliehen ihr die Fähigkeit, mit ihrem Körper gleichzeitig mehrere Diskurse vorzuführen. Trotz der Abstraktheit der Stücke ist jedes von ihnen als Reflexion über eine menschliche Leidenschaft erkennbar. Das Stück, das am meisten durch die Kontrolliertheit von Vokabular und Ausführung beeindruckt, ist vermutlich Hass: Hier ist die Spannung in jedem Teil von Hoyers Körper sichtbar, besonders in ihren großen Händen. Liebe und Eitelkeit spielen mehr mit Gesten. In Liebe werden Hoyers Hände beispielsweise zu zwei voneinander unabhängigen lyrischen Wesen, die sich immer wieder vereinigen. Sowohl die Ausführung als auch das Vokabular sind zutiefst modern. Die vorsichtige Erkundung von Phrasen, Gesten, Raum und choreografischen Prinzipien entspricht der selbstreferenziellen formalen Untersuchung der Moderne. Hoyers besonders erdverbundener Stil, ihr räumliches Bewusstsein und ihre dramatische Ernsthaftigkeit verorten das Stück jedoch eindeutig in der Ausdruckstanz-Tradition. Ihre Choreografie und Interpretation sind auch heute noch absolut faszinierend. Susanne Linke, die gemeinsam mit Pina Bausch, Reinhild Hoffmann, Gerhard Bohner und Hans Kresnik als eine der Hauptprotagonisten des Tanztheaters in Westdeutschland gilt, rekonstruierte Hoyers Afectos Humanos 1987 für ihre Hommage à Dore Hoyer. 1988 fügte sie das Material in ihre eigene Choreografie Hommage à Dore Hoyer II mit ihrem Partner Urs Dietrich ein. Martin Nachbar, der an der School for New Dance Development in Amsterdam (19861990) und bei P.A.R.T.S. in Brüssel ausgebildet wurde, tanzte für bedeutende zeitgenössische Kompanien und Choreografen wie les ballets C de la B, Sasha Waltz, Vera Mantero, Meg Stuart, Thomas Lehmen und Joachim Schlömer.71 Er war Mitbegründer des Tanzkollektivs B.D.C., für das er im Jahr 2000 drei der fünf Affekte rekonstruierte. Den gesamten Zyklus schloss er 2008 mit seiner lecture performance Urheben Aufheben ab. Beide Male wurde er bei der Rekonstruktion von Hoyers Nachlassverwalterin Waltraud Luley unterstützt. Weder Linke noch Nachbar versuchten, das Original als getreuliche Kopie zu rekonstruieren. Nach Simone Willeits Einschätzung ist Linke in der Lage, Hoyers den ganzen Körper umfassende Spannung zu erreichen, da sie zumindest mit Wigmans und Jooss’ Techniken vertraut ist. Dennoch entschied sie sich, ihre wesentlich weichere Ausführung beizubehalten, um den Unterschied zwischen
71 Schulze und Traub, Moving Thoughts.
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ihrer eigenen und Hoyers Arbeit deutlich zu machen.72 Die wichtigste Änderung besteht darin, dass Linke zwischen den verschiedenen Affekten auf der Bühne das Kostüm wechselt, und somit ihren Ansatz, ein Original als Quelle zu rekonstruieren, die man wie ein Kleidungsstück anlegen muss, im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar macht. Nachbar lieferte mehrere Versionen von seinem Ringen mit der Rekonstruktion, alle davon mehr im Stile einer lecture performance als im Sinne eines traditionellen Bühnentanzes. In unterschiedlichen Versionen hält er entweder zuerst einen Vortrag und tanzt dann, oder trägt vor und illustriert dann das Gesagte mit einem Affekt, oder er zeigt lediglich einen Ausschnitt, um seinen Standpunkt klarzumachen. Zum Beispiel erklärt Nachbar in einer berühmten Passage von Urheben Aufheben aus dem Jahr 2004, wie Luley ihm beibrachte, dass in Hass der gesamte Körper angespannt sein muss. Er demonstriert dem Publikum seine Version, die er Luley zeigte und die er anhand einer Videoaufnahme von Hoyer aus den frühen 1960er Jahren gelernt hatte. Als Antwort wies ihn Luley lediglich auf die fehlende Spannung in seinen kleinen Fingern hin. Anschließend kehrt er auf die Bühne zurück, um die Pose erneut mit Spannung in den kleinen Fingern zu zeigen. In seinem Vortrag von 2000 erzählt Nachbar ebenfalls einen Teil dieser Episode nach. Beide Male wird der intensive Prozess für das Publikum leichter verdaulich, da er mit sehr viel Humor präsentiert wird.73 Nachbars Rekonstruktion ist Teil eines umfassenderen Phänomens im Tanz. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren kam es zu einer plötzlichen Zunahme von Aufführungen, die sich mit historischem Material beschäftigten. Ein berühmtes Beispiel ist Sylvie Guillems Arbeit mit Material von Wigmans Hexentanz und Sommerlicher Tanz aus dem Jahr 1998. Seit 1996 tanzt Cesc Gelabert Gerhard Bohners Im (Goldenen) Schnitt.74 Auch Betsy Fisher rekonstruierte Afectos Humanos, neben anderen Werken, die – wie sie es ausdrückt – zur deutschen Abstammungslinie des zeitgenössischen Tanzes gehören.75 Als jüngstes
72 Willeit, »Stolpern«, S. 52. 73 Siehe Willeit, »Stolpern«, S. 19 für eine andere Sicht auf dieselbe Szene und Nachbar, Martin, »ReKonstruct«, in: Schulze und Traub, Moving Thoughts, S. 91, für eine frühere Version dieser Anekdote. 74 http://www.goethe.de/kue/tut/tre/de4695509.htm, abgefragt am 25. August 2010. 75 Fisher rekonstruierte ebenfalls Arbeiten von Lotte Goslar, Rosalie Chladek, Mary Wigman, Marianne Vogelsang, Hanya Holm, Alwin Nikolais, Murray Louis, Hanna Berger und Beverly Blossom. http://www2.teak.fi/teak/Teak202/7.html, abgefragt am 27. August 2010. Fisher, Betsy, »Creating and Re-Creating Dance: Performing Dances Related to Ausdrucktanz«, Acta Scenica 12 Theatre Academy.
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Beispiel, wie in meiner Einleitung zu diesem Kapitel erwähnt, rekonstruierte Fabián Barba im Jahr 2009 Tänze aus Wigmans Zyklus Schwingende Landschaft.76 Nach Siegmunds und Willeits Auffassung ist Nachbars Ansatz jedoch einer der faszinierendsten der letzten Jahre. Siegmund entdeckt in Nachbars Rekonstruktion eine dritte Entität, die auf den Prozess der Rekonstruktion verweist und auf den Affekt, den sie in Nachbars Körper hervorruft und in Hoyers Körper hervorrief. Diese dritte Entität ist weder Nachbars Körper, der sich durch die Beschäftigung mit Hoyers Tanz verändert. Es ist auch nicht Hoyers Körper, der nicht da sein kann, da er nicht mehr existiert. Diese dritte Entität ist nur für die Dauer der Aufführung präsent, da sie der Unterschied zwischen Hoyers historischem Körper und Nachbars anwesendem Körper ist.77 In ähnlicher Weise argumentiert Willeit für eine produktive Distanz zwischen Nachbars Körper und Rekonstruktion und Hoyers Tanz. Sie feiert Nachbars Ansatz, der Hoyers Choreografie sichtbar macht, doch zugleich auch die Rekonstruktionspraxis kommentiert. Beide Analysen faszinieren durch die Gründlichkeit ihrer Untersuchung ästhetischer und methodologischer Anliegen. Obwohl sich Siegmund auf Gesellschaftsstrukturen bezieht, indem er erwähnt, dass ethnische, kulturelle und genderspezifische Probleme für jegliche historische Untersuchung von Bedeutung sind, erwähnt er das Gender-Problem nur kurz, und nicht in dem Teil seines Textes, der sich mit Nachbar beschäftigt. Willeit verbleibt streng innerhalb der künstlerischen Texte. Als Willeit ihre Analyse bei einer Konferenz vorstellte, wo auch ich einen Vortrag hielt, fragte ich sie nach den Gründen für diese Entscheidung.78 Sie antwortete, dass eine Berücksichtigung gesellschaftlicher Strukturen in diesem Stadium ihrer Analyse nicht notwendig sei, und dass es ihr gegenwärtig nicht darum ginge. Ich respektiere ihre und Siegmunds Entscheidung, sich auf eine ästhetische und methodologische Untersuchung zu konzentrieren. Allerdings erweist sich ein derart eingeschränkter Analyserahmen als Hindernis für ein Verständnis des Werts der Siegertschen Rekonstruktion von Hoyers Choreografie. Von allen Rekonstrukteuren ist Siegert – mit ihren langen Gliedmaßen und stark ausgeprägten Gesichtszügen – vermutlich diejenige, die Hoyer am meisten auf der Bühne ähnelt. Zusätzlich sieht Siegerts Kostüm Hoyers Kostüm extrem ähnlich. Sie trägt ebenfalls die enge Kappe, die Hoyers Erscheinung in diesen
76 Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Thomas Plischke, Thomas Lehmen, Meg Stuart, Janez Jansa, und Martin Lofsnes sind andere Künstler, die mit Rekonstruktionen arbeiten. 77 Siegmund, »Affekt«, S. 19. 78 Original and Revival, Universität Bern, Schweiz, 2008.
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Tänzen so unverwechselbar macht. Siegert verlässt die Bühne nach jedem Affekt und kehrt zum nächsten wieder dorthin zurück. Willeit beschreibt, dass Siegert bei ihrer Herangehensweise an Hoyers Tanz das Material beherrscht, jedoch nicht die Isolationen, die im Original wichtig sind. Sie erwähnt auch Siegerts übermäßig ornamentale und extrem expressive Interpretation. Ich stimme mit Willeit darin überein, dass Siegert die expressiven Qualitäten mit ihrem Gesicht betont, während Hoyer dies überhaupt nicht tat. Siegerts Ballettausbildung scheint in einigen ihrer Bewegungsinitiationen und Körperhaltungen sichtbar zu sein. Bestimmte Bewegungen erscheinen im Gegensatz zur stärkeren Erdung bei Hoyer ballettartig leicht. Mittlerweile bin ich in der Lage, einiges von Siegerts spezifischer Herangehensweise an das Vokabular wahrzunehmen. Als ich Siegers Rekonstruktion jedoch 1989 am Staatsschauspiel in Dresden sah, war dies eines der wichtigsten Tanzereignisse, dem ich je beigewohnt hatte. Ich sah etwas, von dem ich nur gehört hatte, doch das ich nie zuvor auf der Bühne erlebt hatte. Ich war überwältigt von der modernistischen Abstraktion, der Strenge der choreografischen Untersuchung, dem Bewegungsvokabular, der Isolation, dem differenzierten Umgang mit dem Raum, der Erdverbundenheit, und der Tatsache, dass Arila Siegert es mir endlich ermöglichte, eine AusdruckstanzChoreografie zu sehen. Natürlich konnte ich Linkes Rekonstruktion von 1987 nicht besuchen. Sie ist ein wichtiges Werk für das westdeutsche Tanztheater, doch überrascht es nicht, dass sie ein Jahr später Afectos Humanos in ihre eigene Choreografie aufnahm, um so ihre Distanz und ihre Entwicklung in Bezug auf Hoyers Arbeit noch deutlicher zu zeigen. Damals hatte das westdeutsche Tanztheater seinen Zenith erreicht. Seine Protagonisten Pina Bausch, Reinhild Hoffman, Johann Kresnik, Gerhard Bohner und Susanne Linke waren dem Publikum als Schüler in der Tradition oder in der Beschäftigung mit dem Ausdruckstanz bekannt. Die Choreografen setzten sich öffentlich mit ihrer Tradition auseinander und hatten gleichzeitig mit ihrer Arbeit Erfolg bei Kritik und Publikum. Sie machten ihre Verbundenheit mit der Tradition sichtbar und verschoben die westdeutsche Orientierung im Tanz teilweise vom Ballett hin zum modernen Tanz. Sogar Kompanien wie John Neumeiers Hamburg Ballett, John Crankos Stuttgarter Ballett (seit 1976 unter der Leitung von Márcia Haydée) und William Forsythes Ballett Frankfurt (das damals noch bestand) mussten auf die starke Präsenz von modernem Tanz in Westdeutschland reagieren. Ausdruckstanz wurde zu einer geschätzten Tradition und zu einem vermarktbaren Untersuchungsgegenstand in der Gegenwart.
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Abb. 17: Arila Siegert in ihrer Rekonstruktion von Dore Hoyers Afectos Humanos, 1988.
Foto: Hans Ludwig Böhme.
Die Hochmoderne, wie Jameson die späteren Entwicklungen in der modernen Kunst bezeichnet, war somit in Westdeutschland bereits verarbeitet worden. Die westliche Gesellschaft hatte damit begonnen, im Paradigma einer postmodernen Ästhetik zu arbeiten, die die universalisierende und zusammenhängende Geste der Moderne in Frage stellte. Mit ihren deutlich herausgestellten Unterschieden und choreografischen Unstimmigkeiten ist Linkes Rekonstruktion ein Teil dieses Prozesses. Allerdings baut sie immer noch auf den Affekt, den Hoyers Original hervorruft. Nachbars Ansatz ist die Folgeentwicklung, der logische Schritt nach Linkes Rekonstruktion: Das Ausdruckstanz-Material hat nicht länger einen Wert als Ausdruckswerkzeug, sondern wird eher zu einer Technik. Siegmund führt drei Gründe für das neu aufkommende Interesse von Nachbars Generation an einer Beschäftigung mit historischen Choreografien an: eine Negation des Kon-
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zepts der ursprünglichen Schöpfung, das so wichtig für die Moderne war; eine Reflexion über die Position des Tänzers in der medialisierten Gesellschaft; und der Versuch, der vergänglichen Kunst des Tanzes und damit der eigenen Karriere Relevanz zu verleihen.79 Die ersten beiden Punkte sprechen für eine postmoderne Infragestellung der Prinzipien der Moderne. Da ich das Problem der Postmoderne in der folgenden Auseinandersetzung mit Fine Kwiatkowskis Arbeit aufgreifen werde, möchte ich an dieser Stelle lediglich Nachbars Taktiken herausstellen: Durch ironische Distanzierung hinterfragt er die objektive Wahrheit des Materials, mit dem er arbeitet und gleichzeitig seine eigene Herangehensweise. Außerdem stellt er, wie Siegmund erklärt, die Dichotomie zwischen Hoyers Körper und seinem eigenen Körper in Frage, verdeutlicht die Untersuchung über die universelle Aussage von Hoyers Affekten durch die Anekdote über seine Verkörperung von Hass. Zusammen mit der Negation eines linearen Fortschritts zwischen Hoyers Ausführung und seiner eigenen und dem fragmentarischen Zitieren ihres Materials kann man all diese Strategien als postmodern bezeichnen. Nachbars lecture performances sind der wahr gewordene Traum (oder Alptraum) eines poststrukturalistischen Tanzwissenschaftlers, da sie innerhalb der gegenwärtigen akademischen Diskurse, die sich auf disziplinäre Probleme und Ästhetik konzentrieren, in jeder Hinsicht ins Schwarze treffen. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um einen »leeren Kultur-Effekt, allein um der Geste selbst Willen« handelt, wie es Franko in meinem anfänglichen Streifzug durch die Positionen zur Rekonstruktion ausdrückte. Ein solcher Zugang zur Rekonstruktionspraxis, mit seinem taktischen Einsatz von Zitaten, entwickelte sich als Resultat der Medialisierung und der nahezu unbegrenzten Informationsmöglichkeiten in der westlichen Welt. In ihrer Untersuchung des Einflusses der Open-Source-Bewegung auf choreografische Praxen stellt Lena Hammergren allerdings die Frage, ob alle Rekonstrukteure sich der Beziehung bewusst sind, die ihre Praxen zur gesellschaftlichen Struktur unterhalten. Hammergren stellt fest: »Es scheint, als gelte die Tatsache zu tanzen an sich bereits als politisch.«80 Genau dies hatte ich der berühmten westdeutschen Tanzwissenschaftlerin in der eingangs beschriebenen Episode zu erklären versucht. Nachbars Arbeit ist eine bedeutende disziplinäre und künstlerische Untersuchung. Durch sein Scheitern daran, die Ausdruckstanz-Technik mit seinem in Releasetechnik ausgebildeten Körper aufzunehmen, bringt er etwas Neues hervor und
79 Siegmund, »Affect«, S. 17. 80 Hammergren, Lena, »Dance, Democracy and Open Source Movement«, Society of Dance History Scholars Conference, University of Surrey, 2010.
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problematisiert den Prozess auf interessante Art und Weise. Sehr wahrscheinlich war er sich auch Linkes und Siegerts Versuch bewusst, doch bezog er sich in seiner Arbeit lediglich auf Linke. Ein Bezug auf Siegert hätte ihn dazu gezwungen, die Begrenzungen seiner ausschließlich ästhetischen und historischen Untersuchung zu verlassen. Für viele Tanzwissenschaftler scheitert Siegert in der ersten Kategorie (ästhetisch) und existiert in der zweiten (historisch) nicht. Wie Hammergren aufzeigt, verortet die gegenwärtige Generation der Rekonstrukteure das Politische hauptsächlich in einer ästhetischen Untersuchung. Im Gegensatz zu dieser Praxis ist Siegerts Rekonstruktion politisch. Allerdings ist es nicht immer möglich, dieses widerständige politische Potenzial zu erkennen, ohne die umgebenden gesellschaftlichen Strukturen zu betrachten. Eine Historisierung und Theoretisierung von Siegerts Arbeit liefert daher nach wie vor einen wertvollen Beitrag zum Diskurs der gesamtdeutschen Tanzwissenschaft. Weder Linkes noch Nachbars Position gegenüber dem Ausdruckstanz, noch das Material, aus dem diese schöpfen konnten, waren für Siegert verfügbar. Sie rekonstruierte Afectos Humanos anhand einer Videokassette, die für sie in die DDR geschmuggelt worden war.81 Wirkliche Ausdruckstänze waren überhaupt nicht verfügbar, da die DDR-Tanzkultur die unterbrochene Moderne der Vorkriegsära nicht offiziell verarbeitet hatte. Siegert machte diesen Diskurs möglich. Sie musste keine Kluft zwischen ihrer Rekonstruktion und dem Original markieren, weil sie in der kleinen Tanzszene der DDR und der noch kleineren Dresdener Szene äußerst bekannt war. Das Publikum war mit ihrer Arbeit vertraut und sah Siegert mit dem Tanz ringen – und nicht lediglich eine Rolle überstreifen. Da das ostdeutsche Publikum keine Referenz für Hoyer hatte, war es nicht Siegert, die zu Hoyer wurde. Es war eher Siegert, die einen spezifischen Ausdruckstanz als Teil eines umfassenderen Projektes verarbeitete. Sie unterstrich dies im Programmheft: »Ich rekonstruiere die Hoyer-Tänze also nicht aus technischen oder materialhistorischen Gründen, sondern um noch brauchbare Inhalte ins Heute zu transponieren und um von der konsequenten Formung neu zu lernen.«82 Daher das sichtbare Bemühen und die dramatische Anstrengung in Siegerts Performance. Natürlich trugen die Ausbildung bei Palucca und ihre Betonung improvisierter Szenen, Sprünge und Schwünge – und daher die Leichtigkeit und der Bewegungsumfang – sehr stark dazu bei, dass dies Siegerts einziger Zugang zur Ausdruckstanztradition war. Die Ausbildung hatte sie jedoch nicht darauf vorbereitet, Hoyers unterschiedliche Technik zu tanzen. Siegert ist sich dieser
81 Lehmann, Ulrike, »Musik schafft eine Welt«, Die Deutsche Bühne, 01/2010, http://www.die-deutsche-buehne.de, abgefragt am 01.01.2010. 82 Afectos Humanos, Programmheft, Dresden, 1989.
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Diskrepanz voll und ganz bewusst: »Ich bin ein anderer Mensch mit anderer Lebenserfahrung als Dore Hoyer. Aber sie hat ihre Inhalte in eine derart klare Form gepreßt, daß ihr Wert auch einer Veränderung standhält.«83 Wenn man Ästhetik nicht vom Politischen abkoppelt, verdient Siegerts Leistung die Aufnahme in das umfassende historische Projekt des Tanzes. Sie regte die DDR-Tanzkultur im Alleingang dazu an, endlich die Moderne zu verarbeiten. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnt, bestand die DDRRegierung sogar 1987 noch auf dem Paradigma des sozialistischen Realismus, das sie beim XI. Parteitag der SED in Berlin besonders herausstellte.84 Obwohl die politische Situation in Ostdeutschland Bestrebungen wie die von Siegert nicht mehr unterdrückte, war ihre Unternehmung immer noch ein Widerstand gegen die Stagnation des offiziellen Tanzes in der DDR. Als Siegert 1987 in Dresden das Tanztheater gründete, erhielt es große Aufmerksamkeit. Der Schritt war ungewöhnlich für eine Primaballerina, doch die Struktur des gesamten Unterfangens war sogar noch ungewöhnlicher, da Arila Siegerts Tanztheaterkompanie nur ein einziges Mitglied hatte: Arila Siegert. Alle anderen Beteiligten an ihren Produktionen arbeiteten auf Projektbasis mit ihr. So verbreitet eine derartige Struktur in der heutigen Tanzwelt auch sein mag – der ostdeutsche Tanz hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Siegerts Tanztheater schuf ein neues Paradigma für Tanz in der DDR, da es weder Teil einer großen staatlich geförderten Oper noch in der Amateurszene angesiedelt war. Eine OffSzene existierte zu diesem Zeitpunkt kaum bis gar nicht. Tanz unterlag wie jedes andere künstlerische Genre auch der kulturpolitischen Doktrin und Planung. Die drei staatlichen Schulen in Berlin, Leipzig und Dresden nahmen stets die exakte Anzahl von Tänzern zur Ausbildung auf, die in den professionellen Kompanien im Land benötigt wurden. Daher gab es keine arbeitslosen Tänzer, die ihren Lebensunterhalt außerhalb der staatlich geförderten Tanzsphäre verdienen mussten. Außerdem erhielten alle Tänzer nach 15 Jahren Arbeit eine Pension. Das Verlassen der offiziellen Tanzkompanie hätte den Verlust dieser außergewöhnlichen Sicherheit bedeutet. Außerhalb der Amateurtanzszene und der offiziellen Theaterszene gab es überhaupt keine Struktur, was Training und Aufführungsorte, Ton- oder Lichttechnik für jegliche Art von traditionellem Tanz anging. Also bedeutete das Arbeiten in der Off-Szene nicht bloß das Tanzen außerhalb von etablierten Theaterstrukturen, es bedeutete das radikale Neudenken dessen, was
83 Ebd. 84 Protokoll des XI. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Dietz Verlag, Berlin 1987, S. 84.
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Tanz war. Kein anderer an einer staatlichen Schule ausgebildeter Tänzer hatte dies zu diesem Zeitpunkt getan.85 Daher hatte Siegert kein Vorbild für jemand mit ihrer Ausbildung und Karriere, das sie kopieren konnte, als sie ihr Tanztheater gründete. Die Kompanie verschaffte ihr den notwendigen Raum und finanziellen Hintergrund, um sich vollständig auf ihre choreografische Arbeit zu konzentrieren, da sie ein Teil der Theaterstruktur des Dresdner Staatsschauspiels war. Es war das erste Mal in Ostdeutschland, dass eine Frau eine Kompanie leitete, die gesamte Arbeit choreografierte und in allen Stücken tanzte. Obwohl dies scheinbar mit der stärker emanzipierten Rolle der Frau im Sozialismus übereinstimmte, führte Siegert eher die strukturelle Tradition des Ausdruckstanzes fort. Wigman, Vogelsang, Hoyer und Palucca hatten alle dasselbe getan.86 Somit stellte Siegert nicht nur durch die Tänze, die sie schuf und durch ihre choreografischen Prinzipien einen Rückbezug zum Ausdruckstanz her, sondern erinnerte auch an die institutionellen Strukturen der Ausdruckstanz-Tradition. In ihrer in höchstem Maße individuellen Herangehensweise an alle Gebiete von Tanz standen diese Strukturen im Gegensatz zu der zentral geplanten und verwalteten Tanzkultur der Amateur- und Staatstheater. Daher war Siegerts Reproduzieren der Strukturen des Ausdruckstanzes eine widerständige Haltung gegen die Rolle des Tänzers in der sozialistischen Marktwirtschaft. Durch ihre Ästhetik (die Rekonstruktionen und ihre eigene choreografische Arbeit) und ihre institutionelle Struktur (die Reproduktion des institutionellen Modelles des Ausdruckstanzes) zwang Siegert zu einem Neuüberdenken und Verarbeiten der Moderne. Sie gehörte auch zu den Initiatoren zweier Konferenzen über Ausdruckstanz, die 1987 und 1988 in Dresden stattfanden. In diesen beiden Jahren brachte das Dresdner Tanzsymposium Praktiker, Tanzwissenschaftler und Kulturmanager aus beiden deutschen Staaten zusammen, um erstmals gemeinsam über die Ausdruckstanz-Tradition nachzudenken, die unterschiedlichen Entwicklungen in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg, und sogar über die Einflüsse der Tradition auf den internationalen Tanz, wie im Falle von Butoh.87 Eine derartige kritische Reflexion war neben Siegerts choreografi-
85 Die erste war Paula Guggi, die 1987 ihre Anstellung in der Geraer Kompanie aufgab, um Guggi und Paul zu gründen. 86 Siegert bestätigt dies sehr deutlich in einem Interview von 1988. Richter, Ricarda, »Von der Palucca-Elevin zur Ballett-Chefin«, Tribüne Berlin, 27. Dez.1988. 87 Ausdruckstanz: Möglichkeiten und Grenzen, Material zu Theater, Nr. 225 und 226, Verband der Theaterschaffenden der DDR, Berlin 1989.
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schen und institutionellen Wirken ein weiterer Beitrag zu einer Veränderung in Ostdeutschland. Nach der Gründung ihrer eigenen Kompanie erwies sich die vollständige Kontrolle über alle Bereiche des Tanzschaffens in ihrer Arbeit als fruchtbar für Siegert. Sie hatte bereits große Aufmerksamkeit für ihre Choreografien erhalten. Zum Beispiel war ihr Solo Die Maske beim Internationalen Choreografiewettbewerb in Lyon mit dem Sonderpreis der Jury ausgezeichnet worden.88 In ihren Solowerken arbeitete sie stets mit Musikern, Sängern oder Malern zusammen und unterstrich den kollaborativen Aspekt durch die Aufnahme von Improvisation in das fertige Produkt. Die bereits erwähnte Choreografie Gesichte (1985) war eine Zusammenarbeit mit der Sängerin Annette Jahns. HerzSchläge (1986) entstand erneut mit Jahns und bezog den Jazzposaunisten Conrad Bauer mit ein. Afectos Humanos (1989) kombinierte die Rekonstruktion mit ihrer eigenen Choreografie Affekte zu Gerald Humels Die Folterung der Beatrice Cenci, und Fluchtlinien (1991) mit Rekonstruktionen von Wigmans Hexentanz (1926) und Abschied und Dank (1942). Parallel zu diesen Choreografien begann Siegert für andere Kompanien zu choreografieren. 1988 erarbeitete sie Othello und Desdemona und 1991 Undine für das Tanztheater der Komischen Oper Berlin, 1992 Medea Landschaften für die Ballettkompanie der Oper Leipzig. Othello und Desdemona veranlasste den für gewöhnlich (ostdeutschem Tanz gegenüber) kritisch eingestellten westdeutschen Kritiker Jochen Schmidt zu der schmeichelhaften Bezeichnung »ein Werk, das schon vor der Wende von einer hoffnungsvollen Zukunft des DDR-Tanztheaters zu künden schien«.89 Natürlich hatte der Mauerfall Auswirkungen auf Siegerts Karriere. 1992 wurde ihre Tanztheaterkompanie in Dresden geschlossen, und sie nahm eine Anstellung am Anhaltischen Theater in Dessau an, die sie wenige Jahre später verließ. 1996 wurde sie künstlerische Beraterin für die Bauhausbühne in Dessau. Obwohl sie weiterhin für sich selbst und für andere Kompanien choreografierte, begann sie, sich nach und nach mehr auf Opernregie zu konzentrieren. Bereits 1986 assistierte Siegert der Palucca-Schülerin und Opernregisseurin Ruth Berghaus bei ihrer Produktion von Hans Werner Henzes Orpheus an der Wiener Staatsoper. Diese Zusammenarbeit prägte Siegert und bereitete sie auf ihre nachfolgenden Arbeiten für Opernensembles in ganz Deutschland vor. Als nunmehr freiberufliche Künstlerin weitete sie ihr Arbeitsfeld sogar auf die Bereiche Musical und Operette aus. Sie arbeitete mit großem Interesse an neuen oder niemals
88 Richter, Ricarda, »Von der Palucca-Elevin zur Ballett-Chefin«, Tribüne Berlin, Dez. 27, 1988. 89 Schmidt, Tanztheater, S. 222.
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aufgeführten Kompositionen, wie denen des sowjetischen Komponisten Sergej Slonimksi. Siegert wurde mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet, darunter 1989 mit dem Deutschen Kritikerpreis für Tanz und 1993 mit der höchsten staatlichen Auszeichnung, dem Verdienstordnen der Bundesrepublik Deutschland. Sie arbeitet weiterhin als Solotänzerin, zum letzten Mal in ihrer eigenen Choreografie Liebe/Bolero, die 2005 als Teil eines deutsch-arabischen Tanzprojektes aufgeführt wurde.90 Ich habe Siegert nie nach ihren Gefühlen über ihre Abwesenheit aus dem historischen Tanzdiskurs des wiedervereinigten Deutschlands gefragt. 2004 interviewte ich sie zu vergangenen Arbeiten und gegenwärtigen Projekten. Zu diesem Zeitpunkt war mir das Ausmaß der Auslöschung des ostdeutschen Tanzes, das sich innerhalb von 15 Jahren vollzogen hatte, nicht vollständig bewusst. Erst im Nachhinein, bei den weiteren Recherchen zu diesem Buch, stellte ich fest, wie wenig nach wie vor über ostdeutschen Tanz bekannt ist. Mir wurde bewusst, wie Protagonisten und Archivinstitutionen nach und nach aus dem offiziellen Tanzkanon verschwinden, und vor allem, dass der Mangel an Interesse in Deutschland nicht persönlich sondern ideologisch geprägt ist. Widerstand liegt also weniger in meiner theoretischen Beschäftigung mit Siegerts Rekonstruktionspraxis, sondern in ihrer Praxis selbst. Meine Theoretisierung versucht lediglich, deutlich zu machen, welche Ideologie sich hinter dem verständnislosen Blick der westdeutschen Tanzwissenschaftlerin verbarg. Ich stelle ihn in den Kontext einer Auslöschung von ostdeutscher Kunst und Kultur nach der Wiedervereinigung. Ich benutze Siegerts national einmalige Herangehensweise an Rekonstruktion und Moderne, um auf die Notwendigkeit der Entwicklung eines angemessenen theoretischen und historischen Rahmens für die Bewertung ostdeutscher Kulturerzeugnisse hinzuweisen. Die zeitgenössische deutsche Tanzwissenschaft muss sich mit dem Fehlen der Untersuchung von mehr als 40 Jahren Tanz in der jüngeren deutschen Geschichte auseinandersetzen. Doch oft ist es nicht einmal die Herangehensweise, die an der Sache vorbeigeht. Es ist das vollkommene Fehlen von Anerkennung der Tatsache, dass es Ausdruck einer kritischen Haltung ist, Modelle von Tanz zu studieren, die Alternativen zur westlichen Hegemonie der Form zu bieten haben. Der folgende Teil dieses Kapitels untersucht eine solche Alternative: die einzigartige alternative Tanzszene der DDR, die in jeder aktuellen deutschen Tanzgeschichte vollkommen fehlt. Fine Kwiatkowksi wurde zu einer der interessantesten Gestalten in dieser kleinen Tanzgemeinschaft, die außerhalb der offiziellen ostdeutschen Tanzkultur operierte.
90 http://www.arila-siegert.de/knz/liebe.htm, abgerufen am 28. August 2010.
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F INE K WIATKOWSKI : O STMODERN 91/P OSTMODERN Am 14. Mai 1986 improvisierte die Tänzerin Fine Kwiatkowski in einem Multimedia-Event mit dem Titel REALFilm, das von dem Filmemacher und Maler Lutz Dammbeck in Zusammenarbeit mit dem Musiker Robert Linke im Leipziger Haus der Volkskunst inszeniert wurde. Das Ereignis war höchst unüblich für Ostdeutschland, da es einen offiziellen Aufführungs- und Veranstaltungsraum für eine Aufführung nutzte, die sich weder mit sozialistischer Kunst beschäftigte noch sich direkt dagegen wandte. Indem es etwas präsentierte, das so anders als Konzerttanz war, umging das Ereignis die Frage, welche Tanztechnik oder welcher choreografische Ansatz benutzt wurden. Gleichzeitig ging es über die Dichotomie zwischen staatlich sanktionierter Kunst und Subkultur hinaus. Anstatt die unterschiedlichen Medien zu einer zusammenhängenden oppositionellen Botschaft zu kanalisieren, benutzte das Projekt Risse, Montage, De-Montage, Simultaneität, Auslöschung, und im Falle der Bewegung, Improvisation. Kwiatkowskis Improvisationen können nicht unabhängig von dieser postmodernen Herangehensweise beurteilt werden, die sie in einem Land einnimmt, in dem selbst die Moderne noch kaum verarbeitet worden war. Während sie sich langsam aus einer pyramidenförmigen Skulptur aus Zweigen und Wachspapier herausschlängelt, die sie dabei akribisch zerstört, verdreht und verbiegt Kwiatkowski ihren Körper in einer Art und Weise, die sich dem Publikumsblick verweigert. Sie enthält dem Zuschauer alle Elemente vor, die bis dahin von Tanz erwartet wurden: eine kohärente Technik, Affekt, Narration und Chronologie. Wie keine andere Tänzerin in der DDR blieb sie mit ihrer Technik und ihrem improvisatorischen Ansatz konsequent außerhalb des institutionellen Tanzes. Ohne irgendeinen Kontakt mit Tanz aus dem Westen gehabt zu haben, und möglicherweise unwissentlich, führte sie den ostdeutschen Tanz in die Postmoderne.
91 »Ostmodern« ist ein von Petra Stuber geprägter Begriff, der die spezifischen Entwicklungen in der ostdeutschen Kunst konnotiert, die nicht identisch mit westlichen postmodernen Ansätzen oder deren Imitation waren (Spielräume und Grenzen, S. 244).
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Abb. 18: Lutz Dammbeck, Storyboard Herakles Konzept (16-teilig) Detail. Kartonpapier, Foto, Guache, Kreide, 107 x 86 cm, 1984. Fine Kwiatkowski auf einem bei den Proben zu den ersten Mediencollagen entstandenen Foto, das Lutz Dammbeck später für das 16-teilige Storyboard verwendete.
Foto: Barbara Berthold-Meteselaar/Reproduktion des Storyboards: Karin Plessing.
Um Kwiatkowskis einzigartigen Beitrag zum ostdeutschen Tanz verstehen zu können, ist es notwendig, die Einstellung ihrer Generation gegenüber ihrer Heimat und ihre Überzeugungen in Bezug auf die Funktion von Kunst zu kontextualisieren. Anfang der 1980er Jahre trat in der DDR eine junge Generation auf den Plan, deren Wertvorstellungen sich sehr stark von ihrer Vorgängergeneration unterschieden. Diese jungen Leute, geboren um den Zeitpunkt der Errichtung der Berliner Mauer herum, interessierten sich nicht mehr für sozialistische Wertvorstellungen und Sitten, die durch die Arbeit definiert wurden. Anders als ihre Vorgänger, die das sozialistische Regime entweder mit unterschiedlichen Graden von kritischer Distanz unterstützten oder sich öffentlich dagegen wandten, »ignorierten« diese Künstler »die DDR innerhalb der Schranken der DDR«92. Die neue Generation identifizierte sich weder mit dem sozialistischen Ideal, noch schloss sie sich Oppositionsgruppen im Untergrund an. Die jungen Leute weigerten sich, gemäß dem Modell Staat-Opposition zu funktionieren. Stattdessen
92 Zitat des 1963 geborenen Malers Moritz Götze (Kaiser und Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR, S. 68).
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bedienten sie sich aus einem Katalog von nicht-sozialistischen Lebensweisen und versuchten, ihre eigene Realität zu erschaffen. Frank Castorf, der Intendant der Berliner Volksbühne, der dieser Generation angehörte, beschrieb seine nur in Maßen oppositionelle Vergangenheit in der DDR folgendermaßen: Ich bin nie in dramatische Situationen geraten, obwohl ich als Schüler mitunter unangenehm auffiel [...] Aber ich konnte mein Abitur machen, war bei den Grenzern, ich akzeptierte also äußere Normen dieser Gesellschaft, opponierte nur innerhalb der Strukturen.
93
Ende der 1970er und während der 1980er Jahre weigerten sich viele Künstler, sich selbst als Bewegung gegen den Staat zu definieren. Die Bedeutung dieser künstlerischen Subkultur rührte von der Tatsache her, dass die Künstler die Strukturen des sozialistischen Systems individuell in Frage stellten. Sie benutzten immer noch staatliche Ressourcen, doch lediglich, um ihren dekadenten Lebensstil zu ermöglichen, der im Widerspruch zum sozialistischen Ideal stand.94 Ein Hauptbestandteil dieses Lebensstils war die Weigerung, als Teil des sozialistischen Kollektivs zu funktionieren. Die Künstler der 1970er und 1980er Jahre entwickelten ihre Kunst in erster Linie, indem sie Individualität im Gegensatz zu sozialistischer Kollektivität problematisierten. Diese Individualität erschwert es, die künstlerische Subkultur als eine kohärente Bewegung darzustellen. Allen Künstlern war die Weigerung gemeinsam, ein Teil der offiziellen Staatskultur oder der Opposition zu werden. Man hat damit angefangen, diese Art des Widerstands gegen den sozialistischen Staat in den Bereichen Bildende Kunst, Theater und Musik zu untersuchen, doch lässt ihre Analyse im Tanz noch auf sich warten.95 Diese äußerst unterschiedlichen künstlerischen Gruppen versammelten sich oft lose um einen prominenteren Kollegen oder entstanden durch die kurzzeitige Zusammenarbeit unterschiedlicher Künstler. Wegen der wachsenden Diskrepanz zwischen der sozialistischen Rhetorik und der Realität der ostdeutschen Gesell-
93 Schütt, Die Erotik des Verrats, S. 19. 94 Die Künstler waren sich der Art und Weise bewusst, wie der Begriff »Dekadenz« in der sozialistischen Rhetorik gebraucht wurde, und eigneten ihn sich absichtlich an, um einen Lebensstil zu benennen, der sich von den sozialistischen Standards unterschied. 95 Kaiser und Petzolds 1997 erschienener Ausstellungskatalog Boheme und Diktatur in der DDR war eine der ersten Veröffentlichungen zu diesem Thema. Siehe auch Michael und Seufert, Die Einübung der Außenspur; Fritzsche und Löser, Gegenbilder; und Eigenart und Eigensinn.
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schaft, ebenso wie wegen der Lockerung der Zensur im Kunstbereich, verwendeten Gruppen unterschiedliche Formen von Kunst. Bildende Kunst und Jazz waren häufig die Ausgangspunkte. Mitten in der notorischen Wohnraumknappheit in der DDR erhielten Bildende Künstler große baufällige Wohnungen, zu denen auch Arbeitsräume gehörten. Diese privaten Räume fungierten als informelle Plätze für Treffen und Ausstellungen. Wegen der starken Individualisierung der Bildenden Künste kam es nur beschränkt zu Zusammenarbeit, und wenn, dann hauptsächlich im Umfeld von Ausstellungen, Aufführungen und Events. Dies traf auch auf die Literatur zu, die zu Anfang der 1980er Jahre das Hauptinteresse dieser Gruppen bildete. Dieser Schwerpunkt verschob sich jedoch, als immer mehr Leute leerstehende und verlassene Wohnungen illegal besetzten, um mehr Raum für Aufführungen zu gewinnen. Von den frühen 1980er Jahren an wurden Theater, Konzerte und Performances zu zentralen Aktivitäten im Leben dieser Künstler. Um den Kontext zu verstehen, ist es hilfreich, die Wohnungssituation zu betrachten, und auch, wie diese Künstler den Zugang zu Raum in Ostdeutschland verhandelten. Das Wohnungsbauprogramm wurde zentral von der Regierung kontrolliert und nahm über mehrere Jahrzehnte hinweg eine Schlüsselstellung in den staatlichen Fünf-Jahres-Plänen ein. Im Plan von 1981 bis einschließlich 1985 empfahl der zehnte SED-Parteitag die Errichtung und Renovierung von 930.000 bis 950.000 Wohnungen für 2,8 Millionen Bürger. 600.000 dieser Wohnungen sollten neu gebaut werden. Der Plan sah vor, die neuen Wohnungen zuerst Arbeiterfamilien, Familien mit mehreren Kindern und jungen Paaren anzubieten.96 Diese Bevorzugung war nur ein Beispiel für die sorgfältig ausgearbeiteten Vorschriften, die die Verteilung von Wohnungen regelten. Große Städte wie Berlin, Dresden und Leipzig hatten beispielsweise Kontingente, die eingehalten werden mussten, um eine allzu große Konzentration der Bevölkerung zu vermeiden. Deshalb konnten nur Leute Wohnraum beantragen, die nachweisen konnten, dass sie in der Stadt, in der sie wohnen wollten, einen Arbeitsplatz hatten. Gleichzeitig hing ein Arbeitsplatz in der Stadt von einer Adresse dort ab. Aus diesem Teufelskreis konnte nur ausbrechen, wer eine Wohnung mit einem Freund oder Verwandten teilte und so eine Adresse nachweisen konnte. Der nächste Schritt brachte einen monate- oder sogar jahrelangen Kampf mit Wohnbau-Beamten mit sich, die bei der Zuweisung von Wohnungen einer strengen Hierarchie folgten. Ganz oben auf der Liste standen die Bewohner von Wohnungen, die baufällig waren oder die für Wohnungsbauprojekte geräumt
96 Protokoll der Verhandlungen des X. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 42f.
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werden mussten.97 Danach folgten Familien mit Kindern, junge Paare und alleinerziehende Mütter mit Kindern. Am Ende der Liste standen junge alleinstehende Bürger. Die Künstlergruppen bestanden zum Großteil aus solchen alleinstehenden Bürgern. Sie hatten keine legale Möglichkeit, Wohnraum zu erhalten, ganz zu schweigen von Raum, der groß genug war, um sich in Gruppen zu versammeln. Zu Beginn der 1980er Jahre verloren jedoch die Regierungsbehörden zunehmend die Kontrolle über den im Niedergang begriffenen Wohnungsmarkt. Es war nun möglich, Wohnungen zu besetzen und jahrelang darin zu wohnen, bevor offizielle Stellen dies herausfanden. Junge Künstler nutzten diese Situation und besetzten großflächige Wohnungen, die ihnen Platz für ihr Leben und ihre Kunst boten. Da die Mieten in Ostdeutschland staatlich subventioniert und extrem niedrig waren, zahlten viele von ihnen sogar Miete im Namen eines legalen Vormieters, um zu vermeiden, aufzufallen. Trotz der Tatsache, dass das Leben in Ostdeutschland relativ billig war, lernte diese neue Generation, wie man im Überfluss Geld verdiente, indem man sich mit dem sozialistischen Markt auseinandersetzte. Dieser Markt litt unter dem Mangel an einer großen Bandbreite von Konsumgütern, wobei nach Mode und Kleidungsstücken besonders hohe Nachfrage herrschte. Die staatlich subventionierte Produktion dieser Güter war zu langsam und ineffizient, um mit den modischen Ansprüchen Schritt zu halten, die zunehmend vom westdeutschen Fernsehen beeinflusst waren. Somit wurde die Nähmaschine zu einem der wichtigsten Werkzeuge für einen künstlerischen Lebensstil. Die Maschine konnte nicht nur Kleider herstellen, um Künstler zu kleiden – und sie von den proletarischen Massen zu unterscheiden. Sie ermöglichte es ihnen auch, ein Überangebot an Mode zu produzieren, das sie auf Märkten und durch ein sorgfältig entwickeltes Vertriebsnetz verkauften. Ihre Erzeugnisse waren zumeist einfache T-Shirts, aus Baumwoll-Laken hergestellte Kleider und Lederkleidung aller Art.98 Durch den Verkauf dieser Produkte konnte eine Einzelperson an einem Wochenende mehr
97 Jede größere Stadt in Ostdeutschland besaß einen nahezu verlassenen Altbau-Bezirk in Zentrumsnähe. In Leipzig war es Connewitz, in Dresden waren es Teile der Neustadt, und in Berlin waren es das Scheunenviertel und Teile von Prenzlauer Berg. Diese Stadtbezirke befanden sich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Leipzig war vermutlich die am stärksten baufällige Stadt. Ein Freund von mir, der – wie wir alle – eine leerstehende Wohnung besetzt hatte, erwachte eines Morgens von dem Geräusch, als seine äußere Schlafzimmerwand, die die Front des Gebäudes bildete, buchstäblich zusammenbrach. 98 Sowohl Baumwolle als auch Leder waren auf dem ostdeutschen Markt kaum erhältlich.
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verdienen als ein Universitätsprofessor in einem Monat. Andere Künstler hatten Arbeitsplätze, die sich mit ihren kreativen Leben vereinbaren ließen. Da es wegen des Arbeitskräftemangels in der DDR eine Menge Arbeitsplätze gab, waren Künstler in der Lage, ihre Arbeitszeiten an ihre Bedürfnisse anzupassen. Dieser Umgang mit Arbeitswelt und Berufstätigkeit erlaubte es ihnen, außerhalb der Normen und Prinzipien des sozialistischen Systems zu operieren. Ältere Künstler wie Biermann betrachteten diese Existenz als apolitisch und verstanden nicht, dass die jüngere Generation bewusst den Gegensatz Künstler gegen Staat vermied. Die Lyrikerin Barbara Köhler beschrieb ihren Ansatz als Suche nach der »Möglichkeit, sich nicht auf eine prägende Gegnerschaft einzulassen, die ihrerseits Negativabdrücke produziert. Es ging also darum, zu vermeiden, sich nicht auf dieses Diktum einzulassen, was aus Gegnerschaft resultiert«.99 Castorf, der Teil dieser nicht-oppositionellen Generation war und dessen Stücke ständig von der staatlichen Zensur bedroht waren, nahm diese Situation jedoch als einen Hinweis darauf wahr, dass die allumfassende sozialistische Initiative gescheitert war. Das Aussteigen aus der Gesellschaft wurde zu einer Möglichkeit, massenhaft aus den offiziellen Strukturen des Sozialismus zu verschwinden.100 Wie die Geschichte zeigte, war diese Einstellung auf Dauer wesentlich effektiver. Kunst wurde nicht nur zu einer wesentlichen Einnahmequelle und einer Nische für diese Generation. Sie entwickelte sich auch zu einer ästhetischen Widerstandsform. Das Bewusstsein für die Verbindung zwischen Kunst und Widerstand erhielt neue Anregung, als Peter Weiss’ Die Ästhetik des Widerstands 1983 in der DDR erschien. Weiss’ dreibändige fiktionale Geschichte des antifaschistischen Widerstands rückt die Rolle der Kunst im politischen Widerstand gegen doktrinäre Regimes in den Mittelpunkt. Der Autor setzt Montage als narrativen Kunstgriff ein, um gegensätzliche Positionen aufzuzeigen, vermeidet es jedoch, einen kohärenten Standpunkt gegenüber Kunst und Politik einzunehmen. Dadurch gelingt es ihm, die Möglichkeit politischer Veränderung durch künstlerische Mittel explizit zu diskutieren. Obwohl der Roman in einer äußerst geringen Auflage erschien und nur an Wissenschaftler ausgeliefert wurde, tauchten alsbald abgetippte Kopien überall in der Kunstszene auf. Motiviert durch das Buch und ihre eigene Erfahrung mit künstlerischem Widerstand gegen sozialistische Verfügungen, problematisierten junge Künstler zunehmend den Widerspruch zwischen dem offiziellem Diskurs und der sozialistischen Realität. Aller-
99
Kaiser und Petzold, Boheme und Diktatur in der DDR, S. 17. Köhler betonte, dass
100
Ebd., S. 18.
dies ihrer Meinung nach eine unpolitische Einstellung war.
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dings taten sie dies durch eine Erforschung des künstlerischen Mediums und künstlerischer Inhalte, und nicht durch oppositionelle Kunst. Teil dieses Prozesses war ein »Nachholen« von Proletkult, Expressionismus, Surrealismus und anderen Experimenten der Moderne in den 1970er Jahren. In den 1980er Jahren stellten darstellende Künstler Gesellschaftsstrukturen in Frage, indem sie mit den Institutionen und Konventionen brachen, die die westeuropäische Tradition zweihundert Jahre lang definiert hatten. Texte, Charaktere, Narrative, der Umgang mit Raum, Zeitkonzepte und die Trennung zwischen Bühne und Publikum wurden hinterfragt.101 Einige jüngere Regisseure begannen, die Grenzen zwischen unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen einzureißen. Jo Fabian zum Beispiel erschuf durch extrem verlangsamte Bewegung, selbstreferenzielle Ikonografie, die Zerstörung von Texten und die Verzerrung von Zeit und Raum alternative Räume zur sozialistischen Realität und dem vorherrschenden Theaterparadigma. Ich gehe im folgenden Kapitel näher auf seine Arbeit ein, die nicht nur eine Veränderung in der theatralen Darstellung auslöste sondern auch den Fall der Berliner Mauer überlebte und darüber reflektierte. Obwohl er sich ebenso wie die Bildende Kunst und die Musik von sozialistischen Anforderungen distanzierte, brauchte der Tanz länger, um diesen Prozess des Hinterfragens zu initiieren. Wie beschrieben, begann Siegert in den 1980er Jahren damit, moderne Praktiken und Theorien zu erforschen. Während sie gerade den Ausdruckstanz neu dachte, stellten andere Tänzer die institutionellen Strukturen des Tanzes und seine Bedeutung in Deutschland in Frage. Wegen der Ausdruckstanztradition der Stadt und Émile Jaques-Dalcroze, der Palucca Schule, des Balletts der Dresdener Oper (die 1985 wieder in Semperoper umbenannt wurde) und wegen Siegert hatte Dresden eine ganz besondere Beziehung zum Tanz. Susanne Ladopoulos bestätigt, dass Improvisation ein wesentlicher Teil der Dresdner Tanzkultur war.102 An Jaques-Dalcrozes Bildungsanstalt in Hellerau diente Improvisation als wichtiges Werkzeug zur Entwicklung von Ausdruck. Jaques-Dalcroze setzte sowohl musikalische als auch Bewegungsimprovisation als einen zentralen Teil seiner Lehre ein. Wigman, die nicht in der Öffentlichkeit improvisierte, verwendete dennoch Improvisation in ihrem choreografischen Prozess. Ihr Glaube an Tanz als Ausdruck der Sicht eines auserwählten Künstlers auf die Welt und an die Einzigartigkeit des individuellen Ausdrucks veranlasste sie, den Tanz sorgfältig von allen unnötigen Elementen zu säubern. Der kreative Prozess konnte mit Improvisation beginnen, doch musste der ins-
101
Stuber, Spielräume und Grenzen, S. 241.
102
Ladopoulos, »Die Rolle der Improvisation in Geschichte und Gegenwart des modernen Tanzes in Dresden«, S. 3.
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tinktive künstlerische Impuls durch die disziplinierte Arbeit der Choreografie überwunden werden. Palucca, Wigmans Schülerin, verwendete Improvisation in jedem Aspekt ihrer Arbeit: in allen Stadien des kreativen Prozesses, in Aufführungen und in ihrer Pädagogik. Beeinflusst durch die Geschichte der Improvisation in ihrer Stadt und durch Paluccas Herangehensweise, initiierten mehrere Absolventen der Palucca Schule 1980 einen Improvisationsabend in Dresden. Zu diesem Zeitpunkt war Improvisation zu einem wichtigen Werkzeug körperlichen Widerstands gegen sozialistisch-realistische Inszenierungen geworden. Diese öffentlichen Improvisationen wurden von dem Pianisten Peter Jarchow (einem langjährigen Musiker an der Palucca Schule) und von den Tänzern Siegert und Thomas Hartmann initiiert. Hanne Wandtke, eine ehemalige Schülerin und spätere Pädagogin an der Palucca Schule, deren Lehrmethode stärker von Paluccas Konzepten beeinflusst war als die anderer Schüler der Choreografin, kuratierte den Abend zum Großteil mit Absolventen der Palucca Schule. Obwohl die lokale Presse diesen ersten Abend als »Improvisationsklasse« kritisierte, kam das Publikum mit Interesse zu den Aufführungen. Sie wurden zu einem regelmäßigen Ereignis, das ein- bis zweimal pro Jahr stattfand.103 So wurde das Dresdener Tanzpublikum erneut mit Improvisation vertraut gemacht. Später veränderten die Teilnehmer die Konfiguration, indem sie mehr und andere Arten von Musikern miteinbezogen, die Organisationsstruktur veränderten und Schauspieler und Sänger zur Teilnahme einluden. Ursprünglich bestimmte die Gruppe einen Anführer, der die Aufgaben für die Improvisation festlegte und mit dem Publikum kommunizierte. Ladopoulos, die die meisten dieser Abende miterlebt hat, bestätigt, dass sich die Programme radikal veränderten, als die Gruppe die Anführerrolle abschaffte. Aufgaben und Ziele wurden dann gemeinsam ausgehandelt und im Voraus festgelegt. Durch diesen Prozess untersuchten die Teilnehmer Tanz nicht nur als Struktur, Methode und Material, sondern bezogen auch äußere Quellen und kritische Perspektiven auf die DDR mit ein. Ein Künstlerin, die in Ladopoulos’ Untersuchung der Rolle der Improvisation in Dresden vollkommen fehlt, ist Fine Kwiatkowski. Kwiatkowski fehlt auch in der Tanzgeschichte, und sogar in der Geschichte der Kunst in der DDR.104 Dies ist verwunderlich, da sie von den frühen 1980er Jahren an aktiv war und
103
Ebd., S. 65.
104
Die einzige wissenschaftliche Arbeit über Kwiatkowski ist eine unveröffentlichte Diplomarbeit (»Im Osten nichts Neues?«) von Ulrike Melzwig, die ein sehr gutes Interview mit und eine kurze Beschreibung von ihr enthält. Dieses Kapitel basiert zum Teil auf Informationen aus dieser Arbeit.
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mit zahlreichen Künstlern aus den unterschiedlichsten Disziplinen und aus dem ganzen Land zusammenarbeitete, und den Tanz in Ostdeutschland radikal neu dachte. Kwiatkowski war eine komplette Autodidaktin. 1956 geboren, beschäftigte sie sich in ihrer Kindheit vor allem mit Sport und war ab 1978 drei Jahre lang Mitglied des Pantomimentheaters Prenzlauer Berg in Berlin (dem heutigen Mime Centrum Berlin). Obwohl das Pantomimentheater ein wichtiges Zentrum zur Erforschung einer großen Bandbreite von nonverbalen theatralen Bewegungssystemen in der DDR war, verließ Kwiatkowski die Institution alsbald, um sich auf Improvisation und ihre Soloarbeit zu konzentrieren. Mit den Musikern Lothar Fiedler (elektrische Gitarre), Dietmar Diesner (Saxophon) und Christoph Winkel (Bass) gründete sie das Improvisationskollektiv Fine. Gleichzeitig verfolgte sie mehrere andere Kollaborationsprojekte, zum Beispiel mit dem Multimedia-Künstler Lutz Dammbeck und der Filmemacherin Christine Schlegel. 1988 präsentierte sie ihre erste abendfüllende Choreografie in einem Theater in Frankfurt an der Oder in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Andreas Kriegenburg. Nach dem Mauerfall arbeitete Kwiatkowski überwiegend innerhalb institutioneller Theaterstrukturen. Sie verbrachte drei Jahre an den Freien Kammerspielen in Magdeburg. Anschließend setzte sie ihre Kollaborationen mit Musikern und Medienkünstlern auf Projektbasis fort. Dies wäre keine überraschende Biografie für eine unabhängige Tanzkünstlerin in einem westlichen Land, für eine ostdeutsche Tänzerin ist sie jedoch äußerst ungewöhnlich. Selbst Tänzer in der Amateur-Tanzszene mussten eine offizielle Begutachtung, die sogenannte Einstufung absolvieren, um die Erlaubnis zu erhalten, an öffentlichen Orten aufzutreten und dafür bezahlt zu werden. Die Höhe des Entgelts hing vom Können des Künstlers ab, welches von der begutachtenden Kommission festgestellt wurde. Normalerweise wurden nur Solotänzer individuell eingestuft; Gruppentänzer wurden als Teil des gesamten Ensembles evaluiert.105 Die Kriterien für diese Evaluierungen wurden nicht öffentlich gemacht, doch befanden sie sich vermutlich auf einer Linie mit der allgemeineren technischen und ideologischen Ausrichtung des ostdeutschen Tanzes. Wegen ihres ungewöhnlichen und abstrakten Vokabulars und weil ihr jegliche offizielle Ausbildung fehlte und sie in keiner Gruppe Mitglied war, war Kwiatkowski
105
Ich selbst zum Beispiel erhielt diese Beurteilung Mitte der 1980er Jahre gemeinsam mit vier anderen Tänzern (Katrin Filipic, Elke Hunstock, Wolfgang Maas, Marko E. Weigert) als Solist der Tanzbühne Leipzig, einem Studentenensemble. Dies ermöglichte es unserer Gruppe, gegen Bezahlung außerhalb unseres eigenen Theaters, dem Beyerhaus, aufzutreten. Filipic, Maas und Weigert sind immer noch als Tänzer und Tanzpädagogen aktiv.
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nicht in der Lage, eine Einstufung zu erhalten. Dies hatte zur Folge, dass sie in Privatwohnungen oder an öffentlichen Orten, wie Jugendclubs, Eingangshallen von Kinos oder Restaurants auftrat, die ihre Minimalgage von ihrem allgemeinen Budget bezahlen konnten. Oft wurde sie auch von den Musikern bezahlt, mit denen sie arbeitete. Selbst in der erschwinglichen DDR war Kwiatkowski nicht in der Lage, von ihrem Tanz zu leben und musste in einem Theater in Frankfurt an der Oder als Assistentin arbeiten.106 Während ihre früheren Werke Improvisationen in Reaktion auf die Musik ihrer Mitstreiter waren – hauptsächlich Freejazz und zeitgenössische atonale Musik – waren die Projekte mit Dammbeck und Schlegel stärker konzeptuell ausgerichtet. Dammbeck war einer der wichtigsten Filmemacher und MultimediaKünstler der DDR-Untergrund-Szene. Sein Film Hommage à la Sarraz liefert eine der prägnantesten Darstellungen der Künstlerszene der 1980er Jahre und ihrer Perspektive auf den Rest der ostdeutschen Gesellschaft. Er ist auch exemplarisch für die Art von Arbeiten, die von diesen Künstlern geschaffen wurden, Kwiatkowski einbezogen. Das wichtigste Charakteristikum derartiger künstlerischer Produktionen war ihre stark ausgeprägte Interdisziplinarität. Die Künstler malten nicht nur Bilder, machten Filme, tanzten oder performten, sondern kombinierten all diese schöpferischen Akte miteinander. Sie filmten Gemälde. Sie filmten auch Performances, die vor Filmprojektionen stattfanden. Oder sie filmten bemalte Körper, die sich aus Papierstrukturen oder Glaskisten herauswanden und dabei diese Strukturen zerstörten. Dann nahmen die Künstler die Filme, übermalten sie, zerkratzten sie und zeigten sie wiederum bei privaten Vorführungen in einem weiteren performativen Kontext mit Live-Musik. Grenzen zwischen künstlerischen Praktiken und Produkten wurden – ebenso wie Körpergrenzen – nicht bloß in Frage gestellt sondern radikal zerstört. Anschließend wurden diese Akte, Objekte und Körper rekonstruiert, nur um erneut zerstört zu werden. Die Ergebnisse waren extrem diffus, ohne definierbare Zentren und klar abgrenzbare Identitäten. Archivmaterial, vor allem Filme und Fotos, wurden zu einem wichtigen Rohmaterial. Es wurde live neu zusammengeschnitten und neben zeitgenössischen Aufnahmen oder Archivmaterial gezeigt – niemals, um eine zusammenhängende Botschaft oder ein Narrativ zu erzeugen, sondern um Unterschiede und Ähnlichkeiten auszustellen. Wichtig ist, dass eine derartige Verwendung von Archivmaterial die Arbeit nicht in eine Problematisierung von historischen Texten und Formen oder in ein lebendiges Archiv verwandelte. Stattdessen ging es in diesen Performances in erster Linie um die Zerstörung von Geschichte und ihrer Dokumentation.
106
Melzwig, »Im Osten nichts Neues?«, Anhang 5.
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Abb. 19: Lutz Dammbeck, Mediencollage REALFilm. Filmstill, 1986. Fine Kwiatkowski versucht sich synchron zu den vorher von ihr aufgenommenen Filmbildern zu bewegen, die auf ihren Körper projiziert werden.
Foto: Karin Plessing.
Inmitten all dieser Medien performte Kwiatkowski mit ihrem kahlrasierten Kopf und ihrer feingliedrigen doch starken Physis. Sie wand sich um Skulpturen herum, bahnte sich zögerlich einen Weg durch Schutt, verdrehte sich langsam mit angewinkelten Armen und Knien, veränderte dabei ihren Gesichtsausdruck von Überraschung hin zu etwas Unlesbarem. Es gab keine klaren Linien, klar unterscheidbare Posen, verständlichen Affekte, keine technische Brillanz, keine Oberflächen oder durchschaubaren Verweise. Ihre Improvisation setzte sich nicht mit der Ausdruckstanz-Tradition der Improvisation auseinander, da sie sich nicht mit universellen Themen, Bilderwelten oder Raumerkundungen befasste. Sie reagierte auch nicht auf rhythmische und musikalische Strukturen oder folgte Aufgaben wie die Improvisationsszene in Dresden. Kwiatkowski untersuchte nicht das Gewicht von Objekten oder anderen Körpern, wie es die Contact Improvisation tat. Obwohl ihre Tanzsprache gelegentlich an Butoh erinnerte, unterschied sie sich auch von der nach innen gerichteten Aufmerksamkeit und Bewegungsqualität dieser japanischen Tanzform. Ihr Körper bildete keine einzelne Einheit; stattdessen schien er sich in einem ständigen Austausch mit der Umgebung, der Musik, den Skulpturen, Filmen, Gemälden und sich selbst zu befinden. Ein Kritiker beschrieb dies folgendermaßen: »Fines Hände suchen ihre Beine, ihre Füße, sie betasten Körper und Gesicht wie ein fremdes, zu entdeckendes Ob-
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jekt.«107 Die Anstrengung dieser Entdeckung war sichtbar, und es fand niemals der Versuch statt, etwas zu verbergen oder zu beschönigen, etwas in eine klare Phrase oder Form zu gießen, oder zu einem Schluss zu kommen. Durch diese ständigen Verschiebungen fragmentierte Kwiatkowski die Realität und ihren eigenen Körper, öffnete ihn für seine Umgebung, verweigerte jegliche kohärente choreografische Untersuchung und zerstörte dadurch die Geschichte. Die ostdeutsche Gesellschaft hatte ein klares Ziel: den marxistischleninistischen Pfad von einer kapitalistischen Vergangenheit durch eine sozialistische Gegenwart in die kommunistische Zukunft zu beschreiten. Ihre sozialistisch-realistische Kunstdoktrin zielte darauf ab, die Macht der Künste zu kontrollieren und im Dienste dieses nationalen Ziels zu benutzen. In dieser staatlich choreografierten Umwelt verschob Kwiatkowski ihren Körper durch zahlreiche unterschiedliche performative Räume und Zeitlichkeiten. Sie erkundete, ohne zu versuchen, den Bühnenraum oder das, was jenseits davon lag, vollkommen zu begreifen. Begeistert davon, sich durch die Zeit bewegen zu können, forderte sie den Fetisch der Gegenwart von Performance heraus, indem sie gleichzeitig in eine Vergangenheit zurückgriff, die ihre Gesellschaft nicht verarbeitet hatte, und sich einer Zukunft entgegenstreckte, die nicht mehr am fernen Horizont leuchtete. Improvisation war kein Vehikel zur Erforschung und auch nicht der Gegenstand elitärer Untersuchung, sondern die einzig mögliche und simultane Transgression der Grenzen des Tanzes, ihres Landes und der Präsenz im Allgemeinen. Indem sie sich in alle Richtungen und Zeiten gleichzeitig bewegte, lösten sich Kwiatkowskis Improvisationen von der Bedeutung der Gegenwart und hinterfragten die Vorstellung, dass Performance nur durch das Verschwinden zu sich selbst wird.108 Kwiatkowski veränderte radikal, was Tanz in Ostdeutschland war. Sie arbeitete nicht innerhalb irgendeines existierenden Paradigmas der Form oder ihrer Funktion in der Gesellschaft. Obwohl viele Künstler, darunter auch ihre Mitstreiter Dammbeck und Schlegel, Kwiatkowski einen Einfluss auf ihre eigene Arbeit bescheinigen, erscheint sie in keinem historischem Tanznarrativ. Bruchstücke ihrer Präsenz und ihrer Improvisationen finden sich in Schlegels und Dammbecks
107
Kösterke, »Wege zwischen Irrlichtern «.
108
Wie in Peggy Phelans berühmter Beobachtung: »Das einzige Leben der Performance liegt in der Gegenwart. Performance kann nicht gespeichert, aufgezeichnet oder dokumentiert werden, ohne damit Repräsentationen von Repräsentationen in Umlauf zu bringen: Sobald sie dies tut, wird sie zu etwas anderem als Performance [...] Das Wesen der Performance [....] wird durch das Verschwinden zu sich selbst.« (Unmarked, S. 146).
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Filmen und auf Bildern, die Kunstevents der 1980er Jahre darstellen. Kwiatkowskis Bild ist übermalt, oder ihr Körper wird während gefilmter Performances als Leinwand für Projektionen genutzt. Sogar nach einem Interview mit ihr im Jahr 2004 wusste ich immer noch nicht genug über ihre Ziele und ihre Improvisationen, um in der Lage zu sein, eines von beiden vollständig zu analysieren. Sie trotzen sowohl der Kategorisierung als auch den Standard-Definitionen eines Tanzereignisses. Egal wie viele Bruchstücke ihrer Arbeit wir sehen, wie genau wir sie beobachten – Kwiatkowskis Improvisationen werden niemals auf die Filmstills oder die Filme ihrer Arbeit oder auf den live act ihrer Performance reduzierbar sein. Sie strebte nicht danach, die Entwicklungen im Westen aufzuholen, sondern schuf stattdessen eine spezifisch ostdeutsche Auseinandersetzung mit sozialen Strukturen. Im Rückblick könnte man diese Art von Tanz als »postmodern« bezeichnen.109 Allerdings reagierte Kwiatkowski überhaupt nicht auf die Moderne, was häufig als Antrieb für den postmodernen Tanz angenommen wird. Sie stand vollkommen außerhalb einer derartigen westlich dominierten Periodisierung und Systematisierung. Die wenigen Autoren wie Melzwig, Schmidt und Cramer, die über den ostdeutschen Tanz der 1980er Jahre geschrieben haben, benutzen Westdeutschland als den Standard.110 Daher gelangen sie zu dem Schluss, dass ostdeutscher Tanz niemals das Niveau der choreografischen Forschung im Westen erreichte. Diese kolonialistische Ansicht hindert sie daran, das einzigartige Milieu in der DDR und besonders eine Künstlerin wie Kwiatkowski vollkommen zu begreifen. Es gab niemanden wie sie in Westdeutschland, da keine Notwendigkeit dafür bestand.111
109
Siehe Brandstetter, »Still/Motion«, S. 129, für eine umfassende Zusammenfassung postmoderner choreografischer Prinzipien und Schwerpunkte, wie z.B. Prozess, Spiel, Reorganisation von Material, Zufall, individuelle Bewegungscodes, Montage, gleichbleibende Energie, Tänzerkörper (und nicht Figur), Einfachheit und physische Präsenz.
110
Siehe Melzwig, »Im Osten nichts Neues?«; Schmidt, Tanztheater in Deutschland; Cramer, »Warfare over Realism«; und »Wahrnehmungsstörungen im Schatten des Gummibaums«.
111
Kwiatkowski improvisiert nach wie vor über alle Grenzen hinweg, wie in dem Projekt criducoeur2010, das Grenzen in einem globalen Kontext problematisiert.
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C HARLOTTE VON M AHLSDORF : D ER UNSICHTBARE W IDERSTAND
DES
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A LLTAGS
Außenstehenden fällt es schwer, den alltäglichen Widerstand in Ostdeutschland wahrzunehmen, zu analysieren und zu begreifen. Im folgenden Teil liefere ich ein Beispiel für derartigen Alltagswiderstand. Ich beschäftige mich mit einer oppositionellen Choreografie, die in noch größerem Widerspruch zur kanonischen tanzhistorischen Auffassung von Performance steht als die Arbeit von Fine Kwiatkowski. Es geht mir darum, zu demonstrieren, dass zum Verständnis der Komplexität eines solchen Widerstands eine sorgfältige Analyse und die geeignete methodologische Herangehensweise – in diesem Fall queer studies – notwendig sind. Es liegt eine zunehmende Anzahl von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu schwuler und lesbischer deutscher Identität in Ost- und Westdeutschland vor. In diesem Teil des Kapitels leiste ich einen Beitrag zu dieser Literatur, indem ich bedeutende Entwicklungen der schwul-lesbischen Kultur Ostdeutschlands am Beispiel des Transvestiten Charlotte von Mahlsdorf nachzeichne. Dazu ist es ebenfalls notwendig, die in der DDR üblichen Ansätze zur Identifikation sexueller Minderheiten in Beziehung zur hegemonialen nordamerikanischen queer identity und ihrer Theoretisierung zu diskutieren. Dieser Vergleich ermöglicht eine Analyse von nationalspezifischen Entwicklungen im Bereich der sexuellen Identifikation und des sexuellen Widerstands und prägt meine Analyse von von Mahlsdorfs Arbeit. Obwohl die USA Minderheiten den Zugang zu den Bürgerrechten traditionell erschweren, legen diese einen bemerkenswert einheitlichen Nationalismus und eine starke Identifikation mit der Idee »Amerika« an den Tag. Da dieser Nationalismus durch eine vehemente Betonung des Individualismus unterstützt wird, führt der Widerstand von Minderheiten gegen nationale Systeme der staatlichen Macht tendenziell zur Schaffung von und dem Vertrauen auf starke Community-Identifikationen. Prominente Beispiele sind die Bürgerrechts- oder die schwul-lesbischen Bewegungen. Im Gegensatz dazu erlebten Ostdeutsche einen massiven Missbrauch von nationaler Identität und Gemeinschaft in Nazideutschland und unter dem sozialistischen Regime. Diese Erfahrungen machten die Ostdeutschen misstrauisch gegenüber Gruppenidentifikationen und veranlassten sie, im Kontext widerständiger Akte auf Individualität zu setzen. Von Mahlsdorfs lebenslange Performance zeigt eine für den USamerikanischen Kontext ungewohnte Herangehensweise an den Widerstand einer Minderheit. Damit schlägt sie eine Alternative zu den Techniken vor, die mit dem zunehmend vereinheitlichten Export von nordamerikanischer queerness als dominantem Modell für nicht-normative sexuelle Identifikation einhergehen.
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Von Mahlsdorfs ungewöhnliche Lebensgeschichte scheint die schwule deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts widerzuspiegeln.112 Im Jahr 1928 männlich als Lothar Berfelde geboren, wurde sie vom Vater missbraucht, der seinen Sohn nach preußischen und faschistischen Standards von Männlichkeit zu erziehen versuchte.113 Von Mahlsdorf rebellierte gegen ihn und weigerte sich außerdem, in die Hitlerjugend einzutreten. Angeregt durch eine lesbische Tante (die von Mahlsdorf beim Tragen ihrer eigenen Kleider überraschte), las sie im Alter von 15 Jahren Magnus Hirschfelds Buch Die Transvestiten. Diese Begegnung mit Hirschfelds Schreiben regte von Mahlsdorf zum bewussten Widerstand gegen die Forderung der Gesellschaft nach stabilen und binären Genderdefinitionen an. Während sie zu Anfang des Zweiten Weltkriegs in einem Gebrauchtmöbelgeschäft in Berlin arbeitete, begann sie ausschließlich weibliche Kleidung zu kaufen und zu tragen. Als sie einmal beim cross-dressing ertappt wurde, entging sie der Inhaftierung in einem Konzentrationslager, da die Polizei ihre Handlung als KleineJungen-Scherz einschätzte. Im Februar 1944 tötete von Mahlsdorf angeblich ihren gewalttätigen Vater, als dieser drohte, seinen »dysfunktionalen« Sohn gemeinsam mit dem Rest der Familie zu erschießen.114 Während ihrer anschließenden Inhaftierung wurde von Mahlsdorf unter Beobachtung gehalten und psychiatrisch begutachtet. Sie wurde im April 1945 freigelassen, da die Sowjetsoldaten in Berlin einmarschierten. Während dieser letzten Kriegstage machten Angehörige der SS auf der Straße Jagd auf alle Männer, die nicht in der deutschen Ar-
112
Für eine Zusammenfassung über deutsche schwul-lesbische Kultur, siehe Giersdorf,
113
Ich bezeichne Charlotte von Mahlsdorf als Transvestiten und verwende das weibli-
»Germany«, S. 398f. che Personalpronomen, um mich an ihre Selbstdefinition anzupassen. Anstatt sie in den in den USA üblichen Begriffen des Systems präoperativ/postoperativ und transsexuell/transgender zu beschreiben, wie Henry S. Rubin, Judith Halberstam und C. Jabob Hale vorschlagen, möchte ich die national spezifischen Terminologien herausheben, indem ich auf von Mahlsdorfs Selbstdefinition bestehe; siehe Rubin »Phenomenology as Method in Trans Studies«; Halberstam und Hale, »Butch/FTM Border Wars«; Halberstam, »Transgender Butch«; und Hale, »Consuming the Living, Dis(re)membering the Dead in the Butch/FTM Borderlands«. 114
Ich gebe die Standardversion von von Mahlsdorfs Biografie wieder. Es bestehen Zweifel am Wahrhaltsgehalt einiger wichtiger Fakten. Doch liegt die Anerkennung derartiger Unstimmigkeiten im Mittelpunkt meines Arguments, da sie von Mahlsdorfs Neuerzählung ihrer Biografie als eine weitere Schicht ihrer Performance konzeptualisiert. Sie erkennt außerdem Geschichte als ein Konstrukt an.
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mee dienten, und schossen auf sie. Von Mahlsdorf wurde von der SS gefangengenommen und überlebte nur, weil die näher rückende Rote Armee genau die Stelle bombardierte, an der sie und die SS-Leute sich aufhielten. Nach dem Krieg erlitt von Mahlsdorf eine weitere Reihe von Diskriminierungen in dem nunmehr sowjetisch besetzten Ostteil Deutschlands. In einem Artikel über sexuelle Identität zur Zeit des Kalten Krieges erklärt Katrin Sieg, dass die Einstellung der Sozialisten gegenüber Homosexualität auf der VorkriegsPolitik und der Politik während des Zweiten Weltkriegs basierte. Sieg legt dar, wie die Kommunisten Homophobie als politisches Werkzeug einsetzten, um Widersacher zu diffamieren.115 Ostdeutschland übernahm diese Tradition, indem es sich selbst als antifaschistisch und als Nachfolgerin der oppositionellen kommunistischen Linken zur Zeit der Weimarer Republik und des faschistischen Deutschland definierte. Wie Sieg richtig darstellt, war auch die Sexualideologie der DDR von der Sowjetunion beeinflusst. Nach einem kurzen Zeitraum sexueller Befreiung, der auf die Oktoberrevolution von 1917 folgte, hatte die Sowjetunion alle sexuellen Experimente, die die heterosexuelle Familie in Frage stellten, unterdrückt.116 Diese Unterdrückung resultierte aus der Missachtung des Marxismus-Leninismus von Sexualität als treibender politischer Kraft. Das Reduzieren von Sexualität auf einen privaten und ausschließlich physischen Akt rahmt sexuelle Identität als privat und körperlich und entzieht ihr die stärker abstrahierten Gruppen- und Klasseninteressen, die mit dem marxistisch-leninistischen Konzept des Klassenkampfes übereinstimmen. Es überrascht daher nicht, dass die DDR bei ihrer Gründung im Jahr 1949 die ursprüngliche Version des Paragrafen 175 aus dem Jahr 1871 übernahm, die männliche homosexuelle Handlungen mit Inhaftierung und einem möglichen Verlust der Bürgerrechte bestrafte.117 Der berüchtigte Paragraf 175 wurde 1968 durch den Paragrafen 151 ersetzt, der das Alter des Einverständnisses herabsetzte, doch immer noch eine Vorschrift enthielt, die gleichgeschlechtliche sexuelle
115
Sieg, »Deviance and Dissidence«, S. 94. Die Röhm-Affäre und die anschließende Verfolgung von Schwulen und Lesben durch das Nazi-Regime und die gleichzeitige homophobe Rhetorik in den kommunistischen Medien zeigen, dass sowohl die Nationalsozialisten als auch die Kommunisten den Homosexualitätsverdacht als diffamatorisches Werkzeug einsetzten. Für eine detaillierte Diskussion der Verschmelzung von Faschismus und Homosexualität, siehe Hewitt, Political Inversions.
116
Stümke, Homosexuelle in Deutschland, S. 63; S. 99.
117
Indem sie sich selbst als antifaschistisch definierte, griff die DDR auf die Gesetzgebung vor dem Faschismus zurück. Im Gegensatz dazu behielt Westdeutschland die faschistische Fassung des Paragrafen 175 bei.
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Handlungen mit Minderjährigen unter 18 Jahren verbot. Weiterhin interpretierte die DDR-Regierung jeglichen Kampf der schwulen Männer und lesbischen Frauen für Gleichberechtigung als Widerstand gegen sozialistische Normen und Wertvorstellungen und gegen die Doktrin des Marxismus-Leninismus. Daher mussten Lesben und Schwule in Ostdeutschland besondere Strategien entwickeln, um in einem Staat sichtbar zu werden, der sich weigerte, ihre sexuellen Praktiken und ihre sexuelle Identität anzuerkennen. Obwohl es ein paar Schwulenbars gab (größtenteils in Ostberlin), war das soziale und politische Leben ostdeutscher Schwuler und Lesben vor den 1980er Jahren kaum im öffentlichen Raum sichtbar.118 Ebenso wie bei anderen Versuchen des Widerstands gegen die ostdeutsche Regierung mussten alle politischen Zusammenkünfte als Privatpartys oder Ausflüge getarnt werden, wenn die Veranstalter eine Bestrafung durch den Staat vermeiden wollten. Zum Beispiel fanden die ersten bedeutenden sozialen und aktivistischen Zusammenkünfte von Schwulen und Lesben in Ostdeutschland in einem von von Mahlsdorfs privaten Museen am Stadtrand von Ostberlin statt. Von Mahlsdorf begann Anfang des Zweiten Weltkriegs, Möbel aus der Gründerzeit (1870-1900) zu sammeln, renovierte schließlich ein altes Herrenhaus und richtete darin ein privates Gründerzeit-Museum ein, um ihre eindrucksvolle Sammlung unterzubringen. Von 1974 an stellte sie diesen halböffentlichen Raum kostenlos für politische Versammlungen und gesellige Zusammenkünfte von Schwulen und Lesben zur Verfügung. Allerdings musste sie ihr Museum gegen die ostdeutsche Regierung verteidigen. In der DDR durfte es eigentlich keine privaten Museen geben, da diese als Bedrohung der zentralen Kontrolle des Kulturerbes betrachtet wurden. Die Regierung wollte von Mahlsdorfs Antiquitäten für harte Währung verkaufen, doch vor allem wollte sie ihr Museum als Treffpunkt schließen. 1978 verbot sie schließlich diese Zusammenkünfte vollständig.119 Nach diesem Verbot führte der Kampf um Versammlungsorte die schwulen und lesbischen Aktivistengruppen paradoxerweise zur protestantischen Kirche,
118
Wie bereits erklärt, war die Öffentlichkeit in Ostdeutschland anders strukturiert als in ihrem kapitalistischen Widerpart. Restaurants gab es nur wenige, und man bekam nur schwer Zugang zu ihnen. Eine Café- und Kneipenkultur existierte in der Regel nur in größeren Städten. Gruppen von Leuten trafen sich zumeist in Privatwohnungen.
119
Die ostdeutsche Regierung untersagte 1978 eine geplante nationale Lesbenversammlung in von Mahlsdorfs Museum und jegliche weitere Versammlung dort. Für eine lesbische Perspektive auf diese Entwicklungen, siehe Sillge, Un-Sichtbare Frauen.
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die nicht nur den physischen Raum zur Verfügung stellte, sondern auch den notwendigen gesetzlichen Schutz vor der sozialistischen Regierung.120 Die erste Arbeitsgruppe zu schwul-lesbischen Angelegenheiten unter dem Schutz der Kirche wurde 1982 in Leipzig gegründet. Bald folgten weitere Gruppen in Berlin und anderen Städten in der gesamten Republik. Dies war natürlich kontrovers für die sozialistische Regierung, doch war es ebenfalls problematisch für die evangelische Kirche. Obwohl die Kirche jeden Homosexuellen als einen Menschen in Not betrachtete, blieb sie der Homosexualität selbst gegenüber ambivalent. Zudem wollte sie nicht der Katalysator für eine Schwulenbewegung werden, was letztendlich jedoch genauso eintrat. Es ist wichtig, zu bemerken, dass diese Gruppen sich zwar unter dem Schutz der Kirche trafen, jedoch keineswegs antisozialistisch waren. Ihre Mitglieder betrachteten sich selbst immer noch als Schwule und Lesben, die für einen gleichberechtigten Platz in der sozialistischen Gesellschaft der DDR kämpften. Nur einige wenige schwule Männer und lesbische Frauen in Ostdeutschland dehnten die Kritik an der Homophobie des sozialistischen Staats zu einer allgemeinen Kritik an der marxistisch-leninistischen Ideologie aus.121 Doch die Mehrheit der Schwulen und Lesben stimmte mit der Kritik an der stalinistischen Anpassung dieser Ideologie in Ostdeutschland überein.
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Obwohl der ostdeutsche Staat Atheismus unterstützte, garantierte die Verfassung re-
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Der Schwulen-Aktivist Olaf Brühl war einer dieser wenigen, die auf die symptoma-
ligiöse Freiheit. Die evangelische Kirche war die größte Kirche in der DDR. tische Abwendung von Marx’ historischem und dialektischem Materialismus in der Einstellung der DDR-Regierung zur Homosexualität hinwiesen. Siehe Thinius, »Vom grauen Versteck ins bunte Ghetto«, S. 42ff.; und Brühl, »Fünf Begegnungen mit homosexuellen BürgerInnen«, S. 131-136.
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Abb. 20: Charlotte von Mahlsdorf in ihrem Gründerzeitmuseum.
Foto: Erwin Bode
Als die zunehmende Anzahl von schwulen und lesbischen Arbeitsgruppen in der Kirche drohte, sich zu einer unabhängigen politischen Bewegung zu entwickeln, mussten die ostdeutschen Funktionäre ihre Einstellung gegenüber der Homosexualität neu überdenken. Zusätzlicher Druck kam von atheistischen Schwulen und Lesben, die keine Kirchenräume nutzen wollten und darauf hinwiesen, dass die Kirche in ihrer Geschichte immer wieder antihomosexuelle Rhetorik verwendet hatte. Diese Schwulen und Lesben suchten nach Treffpunkten, die nicht bloß toleriert sondern von der sozialistischen Regierung sanktioniert und unterstützt waren. Ihre Bemühungen waren nicht umsonst, da die Regierung Mitte der 1980er Jahre schließlich auf die Forderungen der Aktivisten reagierte und Treffen für Schwule und Lesben legalisierte. Die letztendliche Anerkennung von Sexualität als einer definierenden Identitätskategorie durch die DDR-Regierung befand sich im Einklang mit einer allgemeinen Betonung von Individualität in der sozialistischen Rhetorik und Politik in den 1980er Jahren. Der elfte Parteitag der SED im Jahr 1986 demonstrierte ein weitaus stärker ausgeprägtes Interesse an den Bedürfnissen des individuellen Bürgers als es der zehnte Parteitag fünf Jahre
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zuvor getan hatte.122 Diese Aufwertung der individuellen Bürger ermöglichte es der DDR-Regierung, Schwule und Lesben als Individuen mit besonderen Bedürfnissen und Wünschen in der sozialistischen Gesellschaft zu betrachten, und nicht als durch Homosexualität definierte Gemeinschaften. Mit dieser veränderten Sichtweise auf Bürger als Individuen am Ende der 1980er Jahre begann sich eine schwul-lesbische Kultur mit Selbsthilfegruppen und einer öffentlichen Club- und Barszene in den größeren Städten zu entwickeln.123 1988 schaffte das ostdeutsche Recht endlich den Paragrafen 151 ab, ohne ihn durch einen neuen Paragrafen zu ersetzen.124 Dieser Schritt räumte jeglichen gesetzlichen Unterschied zwischen homosexuellen und heterosexuellen Bürgern in Hinblick auf das Sexualverhalten aus. Er bestätigte die DDR außerdem (zumindest in gesetzlicher Hinsicht) als den fortschrittlichsten Staat unter den sozialistischen Ostblockstaaten; sie war sogar weniger diskriminierend als ihr westdeutscher Nachbar. Trotz dieser Veränderungen erkannte die DDR nach wie vor schwule oder lesbische Partner in Bezug auf Eherecht, Steuergesetze, Erbschaftsangelegenheiten, Adoption und Krankenhausbesuchsrechte nicht an. Dennoch war eine veränderte Einstellung gegenüber Homosexualität in Ostdeutschland auch in der Populärkultur und den Medien feststellbar. Zum Beispiel brachten Sendungen auf dem extrem populären Jugendradiosender DT 64 Gesprächsrunden über Homosexualität, zu denen junge Schwule und Lesben als Gäste ins Studio eingeladen wurden. Diese Gäste beantworteten die Fragen der Zuhörer mit Selbstbewusstsein und gelegentlicher Ironie, die Homosexualität als eine sexuelle Möglichkeit und nicht als festgelegte Identifizierung etablierten.125 Dieses Verständnis von sexueller Identität definierte sie strategisch als nur für den Zweck festgelegt, Zugang zu sozialen Strukturen zu erhalten. Diese Sicht
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Vgl. besonders die Darstellungen von Staatschef und SED-Generalsekretär Erich Honecker über Lehre und kommunistische Erziehung. Siehe Protokoll der Verhandlungen des X. Parteitages, S. 104-116; und Protokoll der Verhandlungen des XI. Parteitages, S. 72-86.
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Trotzdem existierten 1989 in Ostdeutschland 23 Kirchengruppen und nur 12 bis 15 staatliche geförderte Gruppen (Brühl, »Fünf Begegnungen mit ›homosexuellen BürgerInnen‹«, S. 131).
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Zu diesem Zeitpunkt war der Paragraf 151 seit Jahren nicht mehr angewandt worden (Leser, »Homosexuelle in der DDR«, S. 40).
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Thinius liefert den folgenden Dialog als Beispiel für die ironische und selbstbewusste Herangehensweise. Frage: »Sind Homosexuelle für bestimmte Berufe nicht geeignet?« Antwort: »Ja, wenn sie eine Baumpollenallergie haben, sollten sie vermutlich nicht Förster werden.« (»Vom grauen Versteck ins bunte Ghetto«, S. 60).
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auf die Nützlichkeit und zeitliche Begrenztheit von Identitätskategorien mag reaktionär erscheinen, wenn man sie mit der Ansicht vergleicht, dass sexuelle Identität Gemeinschaften als Kräfte zur gesellschaftlichen Veränderung ermächtigt. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass die ostdeutsche Ideologie die Identifikation mit einer Gemeinschaft nachdrücklich als offizielle sozialistische Identität etablierte, wurde jegliche Betonung individueller Entscheidungsfreiheit als machtvoller Widerstand gegen sozialistische Normen wahrgenommen. In der nordamerikanischen Gesellschaft hingegen werden individuelle Rechte als Bausteine nationaler Identität angesehen. In diesem Kontext kann die Identifikation mit einer Gemeinschaft, z.B durch eine queere Identität, eine starke oppositionelle Kraft gegen Diskriminierung durch die nationale Machtstruktur liefern. Die spezifisch ostdeutsche Herangehensweise an Identität zeigte sich auch eindeutig in den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten. Als friedliche Großdemonstrationen durch alle Städte der DDR zogen und eine Umgestaltung der stalinistischen Regierungsstrukturen, freie Meinungsäußerung und Reisefreiheit forderten, schlossen sich schwule und lesbische Aktivisten diesen Volkserhebungen an, ohne schwule und lesbische Belange in den Vordergrund zu rücken. Rückblickend ist diese Haltung von queeren Aktivisten und Wissenschaftlern kritisiert worden.126 Allerdings könnte ein Verständnis der singulären Funktionen von Gemeinschaft und Individuum in der ostdeutschen Gesellschaft eine Neubewertung der Entscheidungen, die Schwule und Lesben während der letzten Tage der sozialistischen Gesellschaft trafen, ermöglichen. Als ein Paradigma für individuelle Entscheidungsfreiheit statt Gruppenidentifikation war Charlotte von Mahlsdorf gegen Ende der 1980er Jahre zu einer Art Berühmtheit in den ostdeutschen Schwulen- und Lesbenkreisen geworden. Sie hatte ihre Möbel als Bühnenbild an viele ostdeutsche Historienfilme verliehen und war in mehreren davon als Statistin zu sehen. Sie trat in einem Dokumentarfilm über schwules Leben (Die andere Liebe [1988]) auf und verkörperte eine Figur in dem ersten und einzigen ostdeutschen Schwulenfilm. Am 9. November 1989 fiel die Nacht des Mauerfalls mit der Premiere von Heiner Carows Film Coming Out zusammen, in dem von Mahlsdorf eine Barfrau in einer Schwulenbar spielte. Passenderweise erzählt die Figur ikonische Teile der ostdeutschen Schwulengeschichte anhand von Mahlsdorfs eigener Biografie. 1992, nach der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands, erhielt von Mahlsdorf in Anerkennung ihres einzigartigen Beitrags zum Erhalt kultureller Artefakte eine der höchsten Auszeichnungen der deutschen Regierung: das Bun-
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Soukoup, Die DDR, die Schwulen, der Aufbruch, S. 19.
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desverdienstkreuz.127 Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre Autobiografie Ich bin meine eigene Frau und spielte in Rosa von Praunheims Filmversion ihres Lebens die Hauptrolle. Kurz darauf bezichtigten sie jedoch die Medien, freiwillig mit dem ostdeutschen Geheimdienst zusammengearbeitet zu haben.128 Die negative Publicity und zunehmende finanzielle Schwierigkeiten veranlassten sie, Deutschland im April 1997 zu verlassen und nach Porlabrunn in Schweden zu ziehen, wo sie ein neues Gründerzeitmuseum eröffnete. Sie starb im Jahr 2002 während einer Werbetour für ihre Autobiografie in Deutschland. In Ich bin meine eigene Frau beschreibt von Mahlsdorf eine Begegnung mit der Stasi im Jahr 1988 auf den Türstufen ihres zweiten Museums in Berlin: [...] erschienen, während ich gerade die Freitreppe und den Abtreter saubermachte, zwei ›Herren‹ im Gleichschritt. Grußlos zückten beide ihre Ausweise: - Ist das hier das Privatmuseum? - Ja. - Wir suchen den Bürger Berfelde, sind Sie das etwa? Ich stand auf der Treppe wie eine Putzfrau, in Schürze und mit Kopftuch, den Handfeger und die Kehrschaufel in Händen, und antwortete: - Ja, das bin ich. Alles habe ich von Kindesbeinen an gesammelt, und seit dem 1. August 1960 ist das Museum bei freiem Eintritt für jedermann zugänglich. Der mit Trenchcoat donnerte: - Sie sind für uns eine unerwünschte Person, merken Sie sich das. - Das ist nett, dass ich das jetzt weiss, meine Herren, erwiderte ich und knickste.
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Von Mahlsdorf beschreibt lebhaft ihre eigene choreografische Antwort auf die Einschüchterung durch die Polizei. Sie steht beispielhaft für eine subtile doch
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Als die ostdeutschen Behörden 1963 die Mulackritze schlossen (eine Schwulen- und Lesbenkneipe, die Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet wurde und unter andrem von Bertolt Brecht, Magnus Hirschfeld und Marlene Dietrich frequentiert wurde), bewahrte von Mahlsdorf das Mobiliar auf.
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In Kapitel 4 erkläre ich die Auswirkungen der Bewusstheit von möglicher Beobach-
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Von Mahlsdorf, Ich bin meine eigene Frau, S. 182.
tung auf Körperempfinden und Bewegungsvokabular.
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bedeutsame Form von Widerstand gegen die ostdeutsche Staatsdisziplin. Was ich an der Nacherzählung dieser Szene durch von Mahlsdorf außergewöhnlich finde, ist, dass ihr gehorsamer Körper sich oberflächlich betrachtet konform zur Choreografie des ideologischen Systems der DDR zu bewegen scheint. Der sozialistische Staat beschloss, dass individuelle Körper als Bausteine eines proletarischen Massen-Körpers konfiguriert werden sollten. Von Mahlsdorf fügt sich in diesen proletarischen Körper ein, da die Polizisten sie bei der Arbeit entdecken – während sie die Stufen kehrt, die zu ihrer Türschwelle führen. Gleichzeitig macht sie sich über ihre eigene Inszenierung des kooperativen Bürgers lustig, indem sie unruhestiftend weibliches Bewegungsvokabular – durch ihren Knicks und auch durch die Tatsache, dass sie wie besessen kehrt – in ihre Performance für die Staatsbeamten einfügt. Der Knicks gehört absolut nicht zum sozialistischen Bewegungsvokabular. Er ist eines der bekanntesten Embleme einer adligen und später bürgerlichen Gesellschaft, welche die sozialistische DDR theoretisch schon überwunden haben sollte. Folglich entzieht sich die scheinbar unterwürfige von Mahlsdorf durch den Knicks der Klasse des Proletariats und inszeniert ihren Körper als Teil eines kleinbürgerlichen Tableaus. Das Museum mit der Jahrhundertwende-Möbel-Sammlung liefert den perfekten Hintergrund für ihre widerständige Performance. Mit dieser kleinen und doch hochgradig subversiven Geste entgeht von Mahlsdorf der Systematisierung der Staatsbeamten, indem sie sich jeglicher Kategorisierung verweigert. Sie hinterfragt durch ihre exzessive Performance der falschen Art weiblicher Arbeit Klassenunterscheidungen. Außerdem funktioniert sie innerhalb keiner binären Logik, weder der von schwul/straight noch der von weiblich/männlich.130 Es ist überdies nicht möglich, von Mahlsdorf in Begriffen des Überschreitens oder sichtbaren Durchkreuzens von Gender oder sexueller Identität zu kategorisieren.131 Ihre choreografische Antwort auf die Geheimdienstbeamten, indem sie sich als Frau bewegt, als Frau kehrt und als Frau knickst, liefert uns ein machtvolles Beispiel für eine Intervention in das nationale System normierter Repräsentation von Gender und Sexualität vor dem Fall der Berliner Mauer. In ihrer Beschreibung der Begegnung mit der Staatssicherheit im Jahr 1988 rechtfertigt von Mahlsdorf ihre vorbildliche Bürgerschaft, indem sie die harte
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Obwohl von Mahlsdorf über unterschiedliche Sexualpraktiken mit männlichen Partnern berichtet, bedeutet ihre Weigerung, sich operieren zu lassen, dass ihre Sexualität nicht einfach in den Begriffen von schwul oder »straight« definiert werden kann.
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Für eine Theoretisierung von gender crossing, siehe Williot und Roen, »Transgenderism und the Question of Embodiment«.
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körperliche Arbeit während ihres gesamten Lebens betont und indem sie ihr Museum als einen öffentlichen Ort definiert. Indem sie ihrem Körper die Rolle eines arbeitenden Körpers, einer Putzfrau, zuweist, passt sie ihn in den proletarischen Massenkörper der sozialistischen Bürger ein. Dieser abstrahierbare Körper verinnerlicht zwei ideologische Hauptkonstruktionen: die marxistische Philosophie und den bürgerlichen Bürgerschaftsbegriff. In ihrem Aufsatz »National Brands/National Body: Imitation of Life« erklärt Lauren Berlant, dass echte Bürgerschaft in einem bürgerlichen Staat die Dialektik zwischen einer Abstraktion von der individuellen Körperlichkeit und der Verkörperung eines Standardkörpers des Staates erfordert. Die Standardisierung dieser Dialektik erlaubt es dem Staat, seine individuellen Bürger innerhalb eines Massenkörpers zu versammeln, der die Grundlage für jeglichen öffentlichen Diskurs bildet. Dieser Standardkörper wird vom Staat als männlich, weiß, heterosexuell und der Mittelklasse zugehörig dargestellt. Somit können nicht alle Bürger von ihrer eigenen Körperlichkeit abstrahieren, um diesen Massenkörper zu bilden. Bürger, die von dem Standardkörper abweichen, entkörperlichen sich selbst niemals völlig und nehmen daher niemals im selben Maße am Massenkörper teil wie ihre mehr dem Standard entsprechenden Mitbürger. Was mich an von Mahlsdorfs Geschichte ihrer Begegnung mit der Stasi interessiert, ist die Tatsache, dass ihr Körper bei oberflächlicher Analyse als der einzige wirkliche Körper erscheint. Die Geheimdienstbeamten sind eher als metaphorische Konstruktionen präsent denn als wirkliche Körper. Sie gehören zu dem abstrahierten Standardkörper und somit zu dem sogar noch abstrakteren Massenkörper. Doch performen diese Körper nicht in einer bürgerlichen Gesellschaft sondern in einem sozialistischen System. Somit muss Berlants Definition verändert werden, um wie in der marxistischen Philosophie die Kategorie der Arbeit miteinzubeziehen. In der sozialistischen Gesellschaft konnte ein weiblicher Körper eine ähnliche Abstraktion wie der männliche Körper vollbringen, indem er sich mittels körperlicher Arbeit mit dem Standardkörper in Beziehung setzte. Nur dann war ein weiblicher Körper in der Lage, Teil des sozialistischen Massenkörpers zu werden. Auch wenn der ostdeutsche Staat weibliche Körper in staatliche Choreografien integrierte, blieb der proletarische Massenkörper doch ein männlicher Körper. Der männliche Körper symbolisierte die industrielle Arbeiterklasse in jeder öffentlichen Darstellung, während der weibliche Körper auf die Darstellung der Landwirtschaft mit ihren Konnotationen von Natur und Natürlichkeit beschränkt blieb. Dennoch strebte die emanzipatorische Bewegung Ostdeutschlands danach, Frauen Männern gleichzustellen. Frauen sollten in denselben Bereichen wie Männer funktionieren. Der Staat übertrug traditionelle weibliche Arbeit aus der privaten Sphäre des Haushalts in öffentliche Bereiche
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wie Kindertagesstätten und öffentliche Küchen. Indem die Arbeit der Frauen professionalisiert wurde, konnte sie in der Arbeit des maskulinen Massenkörpers aufgehen. Durch Arbeit fungierten die Körper der Frauen dann als Teile des Standardkörpers, die benötigt wurden, um den Massenkörper zu erschaffen. Der Staat konnte diesen Massenkörper nur bis zu einem gewissen Grad kontrollieren. Um seine Bürger überwachen und lenken zu können, musste er zwischen individuellen Bürgern differenzieren. Nur ein herausgegriffener individueller Körper kann für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Daher musste der Staat den individuellen Körper eines Bürgers zurückgewinnen, um ihn zu beobachten und schließlich zu disziplinieren. Also bot er Bilder eines Massenkörpers auf und teilte gleichzeitig den Massenkörper in individuelle Körper auf, um diese zu kontrollieren. Jeglicher Widerstand in der DDR entstand in Reaktion auf diese Doppelbewegung, der Schaffung und Zerstörung eines Massenkörpers durch den Staat. Diese besonderen Bedingungen erklären die einzigartige Verwendung von individuellen statt gemeinschaftlichen Identifikationen beim Widerstand der Minderheiten. Von Mahlsdorf ist ein interessantes Beispiel, weil sie den körperlichen Standards des Sozialismus auf so viele unterschiedliche Arten und Weisen widerstand. Ihr Widerstand vollzog sich sowohl durch mimicry als auch durch die Parodie des sozialistischen Standardkörpers und seiner Bewegungen.132 Homi K. Bhaba definiert mimicry als einen wichtigen Teil des kolonialen Diskurses. Für ihn performt das Objekt der Kolonialisierung mimicry, um sich an die Kolonialmacht anzupassen. Diese mimicry beruht auf der Beobachtung des angemessenen Körpers und seiner Bewegungen durch den Kolonialisierten, die vom Kolonisierenden performt und aufgezwungen werden. Diese Beobachtung ermöglicht es dem Kolonisierten, die Haltungen oder Bewegungen des Kolonisierenden nachzuahmen, was weit über eine bloße Imitation hinausgeht. Die Objekte der Kolonialisation nehmen die beobachteten Bewegungen und Verhaltensweisen in ihre eigenen Verhaltensweisen auf. Ihre mimicry nimmt nicht dieselbe Stellung ein wie die des Kolonisierenden oder wie es Bhabha nennt, den »Ort der Macht«, da die Handlung des Kolonialisierten »beinahe dasselbe ist, aber nicht ganz«.133 Dieser Mangel oder diese Dissonanz sorgt dafür, dass die kolonialisierten Objekte, die mimicry performen, niemals den Platz des Kolonialisierenden einnehmen können. Die performte Bewegung des Kolonialisierten, der den Kolonialisieren-
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Ich verwende mit Absicht den Begriff »mimicry« und nicht »Mimesis«, um von Mahlsdorfs Widerstand zu beschreiben. Siehe Diamond, »Mimesis, Mimicry, and the ›True-Real‹«.
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Bhabha, »Of Mimicry and Man«, S. 86.
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den nachahmt, sieht vielleicht genauso aus wie die Bewegung des Kolonialisierenden, doch ist sie niemals genau dieselbe, da ihr der entsprechende Körper fehlt. Jedoch enthüllt die Fähigkeit des Kolonialisierten, die richtige Bewegung zu performen, die Konstruiertheit dieser Bewegung. In anderen Worten: Wenn jemand in der Lage ist, mittels mimicry eine vorgegebene Bewegung zu imitieren, offenbart dies, dass Bewegung nicht »natürlich« entsteht, sondern dass sie lern- und performbar ist. Folglich erlaubt es mimicry den Kolonialisierten, die Konstruktion kolonialer Macht auszustellen. Dies ermöglicht eine kritische Perspektive sowohl auf »normalisiertes« Wissen als auch auf disziplinäre Macht. Von Mahlsdorf verwendete eine Strategie, die der mimicry der Kolonisierten ähnelte. Sie beobachtete die Bewegung des normativen sozialistischen Körpers, der ihre Beobachter mit einschloss. Sie stellte fest, dass sie den arbeitenden Körper performen musste, um als sozialistischer Standardkörper durchgehen zu können. Sie ahmte die beobachtete Bewegung nach, in ihrem Fall die Arbeit des Putzens und Kehrens. Von ihrer Bewegung her beurteilt, schien von Mahlsdorf in Übereinstimmung mit dem Standardkörper zu performen und konnte somit in den Massenkörper aufgenommen werden. Wegen seines cross-dressings erlaubte ihr Körper diese Aufnahme nur bis zu einem gewissen Grad. Dennoch offenbarte von Mahlsdorfs Fähigkeit, die richtige Bewegung zu performen, obwohl ihr der entsprechende Körper fehlte, den Mitgliedern der Staatssicherheit die künstliche Konstruktion des Standardkörpers. Eine solche Enthüllung von Machtstrukturen ist von grundlegender Bedeutung für ein Verständnis von von Mahlsdorfs Widerstand, da sie dem individuellen Bürger agency zurückgab. Wegen der Ambivalenz und scheinbaren Kooperativität der mimicry übersahen Beobachter von außen oft ihre Macht. Von Mahlsdorf entzog sich der Disziplinierung durch den Staat auch durch die Tatsache, dass sie als weiblich konnotierte Kleidung trug. Sie ließ sich nie operieren und versuchte auch nicht, als Frau durchzugehen: »Ich schminke mich nie, färbe meine Haare nicht, und mit auffälligem Schmuck sollen sich andere behängen. So wie ich bin, bin ich eben. Meistens trage ich Schürze und Kopftuch und bin zufrieden als Hausmagd.«134 Während von Mahlsdorf ihren Körper als Teil einer kleinbürgerlichen mise en scène betrachtete, indem sie als ein Hausmädchen performte, lehnte sie dennoch jegliche extravaganten weiblichen Ausschmückungen oder Veränderungen ihres Körpers ab. Diese Ablehnung wird noch deutlicher durch die Tatsache, dass von Mahlsdorf sich weigerte, sich
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Von Mahlsdorf, Ich bin meine eigene Frau, S. 191.
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selbst als transsexuell zu bezeichnen.135 Sie hatte niemals die Absicht, sich operieren zu lassen und äußerte wiederholt, dass sie anders als andere TransgenderFrauen nicht mit ihrem Penis in Konflikt stehe. Obwohl sie immer wieder den Satz wiederholte, sie sei eine Frau, die in einem männlichen Körper lebte, betitelte sie ihre Autobiografie Ich bin meine eigene Frau. Der Titel deutete an, dass von Mahlsdorf keine der beiden Seiten ihrer körperlichen Identität unterdrückte. Stattdessen erschuf sie eine Identität, die sowohl männliche als auch weibliche Elemente ihrer Körperlichkeit enthielt. Von Mahlsdorf verkörperte alle Teile ihrer körperlichen Identität und vereinigte sie mit ihrer simultanen Verwendung von diversen klassenspezifischen und sexuellen Identitäten. Sie verweigerte außerdem eine Illusion von Totalität, indem sie mehrere unterschiedliche Identitäten performte, die miteinander interagierten und einander beeinflussten. Dadurch stellte sie ganz bewusst die Brüche zwischen diesen unterschiedlichen Identitäten aus. Anstatt einen verfestigten und übergangslosen Körper zu präsentieren, choreografierte sie ein Zwischenspiel zwischen den disparaten Komponenten ihrer Identität. Ein Betrachter von Außen wäre vielleicht nicht in der Lage gewesen, den Widerstand in von Mahlsdorfs Knicks zu erkennen. Für einen derartigen Betrachter hätte es sich vermutlich lediglich um eine Szene zwischen Staatsbeamten und einer Frau am Treppenaufgang vor ihrem Haus gehandelt. Doch ermöglicht uns eine Analyse von von Mahlsdorfs Körper und Bewegung, den taktischen Widerstand gegen die herrschende sozialistische Strategie zu begreifen. Ich verwende hier eine Unterscheidung, die von Michel de Certeau vorgenommen wurde.136 In seiner brillanten Analyse der Produktion scheinbar einfacher kultureller Erscheinungsbilder definiert de Certeau Strategie als eine Handlung von Macht, die einen stabilen und angemessenen Ort schafft. Taktik dagegen fügt sich an den Ort der Strategie ein, ohne sich dort zu stabilisieren. Sie erobert diesen Ort nie; stattdessen erschafft sie einen beweglichen, veränderlichen Raum, der durch Bewegung definiert wird. Trotzdem sind Taktiken nicht chaotisch. Sie enthüllen spielerisch die Machtbeziehungen, durch die das Strategische stattfindet. De Certeau spricht der Taktik kein klar definiertes Ziel zu oder das
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Wie Henry S. Rubin in seiner Neubewertung der Phänomenologie zur Theoretisierung von Transsexualitäts- und Transgender-Erfahrungen betont: »Transsexuelle Männer wissen sehr wohl, dass sie weibliche Körper haben. Sie sind nicht psychotisch.« (»Phenomenology as Method in Trans Studies«, S.263-282.) Von Mahlsdorf akzeptiert ihren männlichen Körper und integriert ihn sowohl in ihre weibliche Gender-Identität als auch in ihre praktizierte Sexualität, ohne ihn auszulöschen.
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De Certeau, The Practice of Everyday Life, S. xi-xxiv.
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Potential, eine organisierte Revolution gegen den strategischen Ort zu führen. Dennoch unterbricht die winzige Performance von Taktik die Produktion strategischer Macht. Obwohl diese Art von Störung in der DDR vielleicht nur einen kurzen Moment angedauert hätte und vielleicht unbemerkt vorübergegangen wäre, waren die Ostdeutschen aufmerksam für ihr Potential. In dem Moment von von Mahlsdorfs Begegnung mit den Geheimpolizisten war kein Publikum anwesend. Doch sahen die beiden Stasioffiziere den Knicks; sie wussten, wer von Mahlsdorf war und wie sie sich ihr ganzes Leben lang Staatsbeamten widersetzt hatte. Ihre widerständigen Handlungen konnten in Bezug auf den Ort der vorherrschenden Doktrin verstanden werden. Durch ihre Bewegung brachte von Mahlsdorf lebbaren Raum innerhalb eines ansonsten für sie unbewohnbaren Ortes hervor. Dadurch enthüllte sie die Konstruiertheit der sozialistischen Macht und stellte das naturalisierte Anrecht des Staats auf diese Macht in Frage. Diese Verkörperung war weder besonders transgressiv noch rückschrittlich. Ich möchte nicht andeuten, dass von Mahlsdorf ein schickes Phänomen von Gender-Performativität war. Stattdessen unterstrichen ihr Körper und ihre Alltagsbewegungen flexible individuelle Identifikationen, eine Strategie, die sie in Antwort auf staatliche Dominanz und die Betonung von Gemeinschaftsidentität durch die sozialistische Gesellschaft entwickelte. Von Mahlsdorf performte bewusst Widerstand gegen die Forderung nach etablierten Gruppenidentifikationen. Da sie unter zwei politischen Systemen gelebt hatte, die den Begriff von Gemeinschaft aufs Schwerste missbraucht hatten, positionierte von Mahlsdorf ihre Kritik nicht in gemeinschaftlichen identitätspolitischen Strategien. Stattdessen betonte sie die Verschiebung von einer individuellen Interpretation einer Identitätskategorie zur nächsten. Diese Betonung lieferte nicht die Macht vereinter Kräfte, doch forderte sie die dominante Gruppenkategorisierung heraus, die sie erlebte. Ihre Herangehensweise war nicht mehr oder weniger rühmlich als die nordamerikanischen Auseinandersetzungen mit Identitätspolitik. Allerdings zeigt sie eine andere Art und Weise, sich Differenzen in einem Minderheitsdiskurs zu vergegenwärtigen, die nicht bloß von der globalisierten Vorstellung von Gemeinschaft an sich durchdrungen ist, die mit der kommerzialisierten queeren Identität und deren akademischer Betrachtungsweise aus Nordamerika importiert wurden. Jede Nation, jeder Ort, jede Kultur und so weiter haben ihre eigenen Geschichten und Definitionen von Minderheitsidentitäten. Doch mit der Globalisierung des amerikanischen Konzepts von »queer«, das immer in erster Linie ökonomisch und erst in zweiter Linie kulturell ist, werden diese Geschichten und Identitäten in Übereinstimmung mit der importierten Ware »queer« restruktu-
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riert. Es ist wichtig, Genealogien anderer Entwicklungen von schwulen und lesbischen Identitäten zu schaffen, um die spezifische Beziehung zwischen nationalen und sexuellen Identitäten zu verstehen. Ich habe hier versucht, zu einer dieser Genealogien beizutragen, indem ich eine spezifische Herangehensweise an schwule und lesbische Identität in Ostdeutschland beleuchtet habe - ein nationales System, das verschwunden ist und nurmehr als Repräsentation existiert. In Kombination mit Siegerts institutionellem und rekonstruktivem Widerstand und Kwiatkowskis improvisatorischer Verweigerung erlaubt von Mahlsdorfs sexueller Widerstand einen kleinen Einblick in die nahezu unsichtbare Oppositionskultur in der DDR. Nur durch eine Erforschung von derartigen unterschiedlichen Widerstandsarten und durch die Hoffnung auf eine Utopie, die sie erschaffen, können wir ansatzweise begreifen, wie Menschen in der Lage sind, jedes doktrinäre Regime zu überleben.
4 Grenzübertritte und Überschreitungen Der Fall der Berliner Mauer (1989-2009)
2009 Der allerletzte Ort, an dem ich erwartet hätte, dem Fall der Berliner Mauer beizuwohnen, war Brooklyn. Doch da stand ich, zwanzig Jahre nach dem echten Ereignis, im Studio Mark Morris. Draußen drehte sich ein Zeichen der Brooklyn Academy of Music, als wollte es mich an die Unstimmigkeit meines Aufenthaltsortes erinnern. Während ich den Proben zu The Berlin Wall Project, einem neuen Tanzstück von Nejla Y. Yatkin, zusah, wurde mir bewusst, dass diese jungen Tänzer ein Ereignis performten, an dem ich zwanzig Jahre zuvor teilgenommen hatte, als ich in ihrem Alter war. Viele von ihnen hatten möglicherweise nicht einmal von der Berliner Mauer gehört, bevor sie sich mit diesem Stück auseinandersetzten. Ich bemühte mich, zu verstehen, wie die Choreografin und die Tänzer an die Repräsentation des Mauerfalls und der DDR herangingen, dem Land, das die Mauer baute, mehrere Jahrzehnte lang die internationale Politik beeinflusste, und dann plötzlich von der Weltkarte verschwand. Yatkin ist eine deutsch-türkische Choreografin aus Westberlin, die seit Mitte der 1990er Jahre in den Vereinigten Staaten lebt, beinahe so lange wie ich. Wie ich wuchs sie mit der Mauer auf, nur auf der anderen Seite, im Westen. Beide begannen wir unsere Tänzerkarrieren mit Volkstanz-Techniken – ich mit ostdeutschem Volkstanz in den 1980er Jahren, sie mit türkischen Tänzen Ende der 1970er Jahre. Yatkin beobachtete ihre Tänzer aufmerksam und markierte dabei hin und wieder einige Bewegungen. Als die Tänzer in einer Gruppe durch das kleine Studio gingen, stolperte plötzlich einer von ihnen und fiel hin. Die Gruppe ging weiter, als sei nichts geschehen, und der Tänzer stand langsam auf und schloss
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sich wieder der Gruppe an. Die Tänzer begannen zu stampfen und bei jedem kraftvollen Schritt in eine Kontraktion auszuatmen. Yatkin stoppte den Durchlauf und erklärte, sie wollte, dass das Ausatmen mehr nach Frustration aussehen sollte. Die Tänzer versuchten es mehrere Male, und interessanterweise entfernte sich die Bewegung von einer grahamartigen Kontraktion und begann an ein resigniertes Zusammenbrechen zu erinnern. Yatkin hatte sie während der gesamten Probe behutsam angeleitet. Sie beendete den Tag, indem sie erklärte, dass die Tänzer nicht bloß einen tänzerischen Ablauf performten oder eine Bewegung ausführten, sondern dass sie etwas performten, das ihre Charaktere als Gruppe erlebt hatten. Abb. 21: Nejla Y. Yatkin bei den Proben zu ihrer Choreografie für The Berlin Wall Project, New York, 2009.
Foto: Astrid Rieken, NY2 Dance.
1989 Als wir zwanzig Jahre zuvor, am 10. November 1989, auf die Mauer zugingen, die Ost- und Westberlin voneinander trennte, wussten wir bereits, wie man für eine Sache geht, wie man für Veränderung geht. Wir hatten bereits monatelang an Demonstrationen im gesamten Leipziger Raum und in anderen ostdeutschen Städten teilgenommen. Dieses Gehen war nie ein Schlendern, und es war auch
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nicht Walter Benjamins Flanieren.1 Es war auch kein resolutes Marschieren auf ein klar bezeichnetes Ziel zu. Doch hatte es Kraft, eine Kraft, die aus der Wirkung entstand, die es auf den Raum hatte, in dem es sich ereignete. Dieses Gehen war ein kraftvoller Versuch, neuen Raum zu gewinnen, doch wussten wir nicht, ob die Grenzposten unserem Gehen ein Ende setzen würden, sobald wir den Grenzübergang erreichen würden. Diese Ungewissheit machte uns extrem bewusst für unsere räumlichen Entscheidungen, ebenso wie für die Choreografie unserer Körperhaltungen, während wir auf die Mauer zugingen. Diese Bewusstheit unterschied sich von unserem täglichen Bewusstsein der Überwachung durch den ostdeutschen Geheimdienst.2 Dennoch durchdrangen die choreografischen Taktiken, die wir als Ergebnis unseres jahrelangen Überwacht-Werdens gelernt hatten, unsere Bewegungen an diesem Tag.
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Siehe Benjamin, Das Passagenwerk. Benjamins Verwendung des Begriffs »Flanieren« bezeichnet mehr als ein einfaches Spazieren. Es konnotiert auch, einen landschaftlich reizvollen Pfad entlangzugehen, in einem Park oder an Schaufenstern entlang. Bei der Handlung geht es im gleichen Maße darum, die Umgebung zu genießen, wie darum, dabei gesehen zu werden.
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Diese Bewusstheit der eigenen körperlichen Identität wurde von der DDRSchriftstellerin Christa Wolf in ihrem Roman Was bleibt festgehalten. Was bleibt wurde im Sommer 1979 verfasst und im November 1989, dem Monat des Mauerfalls, überarbeitet. Der Roman beschreibt einen Tag im Leben der Autorin. Er führt aus, wie sie physisch und psychisch auf die Überwachung durch die Stasi während eines Zeitraums, in dem Intellektuelle und besonders Künstler stark eingeschüchtert wurden, reagiert. Indem sie über die Überwachung und ihre Reaktion darauf schrieb, versuchte Wolf, die Veränderungen an ihrem eigenen Körper und ihrer Bewegung festzustellen. Die offensichtliche ständige Überwachung führte zu einer gesteigerten SelbstBeobachtung. Jede Bewegung und jede Körperhaltung konnte dem Beobachter etwas verraten. Das kleinste Detail wurde wichtig. Der einzige Vergleich, den ich anführen kann, um dem Leser die Auswirkungen von Überwachung auf den Körper verständlich zu machen, ist die Beeinträchtigung des Körpers durch Krankheit. Man kann immer krank werden. Jeder weiß das. Die Erfahrung von Schmerz an und für sich bringt eine unterschiedliche Aufmerksamkeit für den eigenen Körper hervor. Doch nachdem bei jemandem eine Krankheit diagnostiziert wurde, nimmt diese Aufmerksamkeit dramatisch zu. Von diesem Zeitpunkt an wird der gesamte Körper, jede Bewegung, Körperhaltung und sogar die Bewegungslosigkeit in Begriffen von Krankheit verstanden. Interessanterweise kam später an die Öffentlichkeit, dass Wolf selbst mit der Stasi zusammengearbeitet hatte.
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Eine ältere Frau überholte mich. Sie schien entschlossen, es auf die andere Seite hinüber zu schaffen. Vermutlich erinnerte sie sich an ihre Kindheit, als sie noch ihre Verwandten besuchen konnte, die dort lebten, bevor es »drüben« wurde. Die großen, auffälligen Schritte der Frau straften ihr Alter Lügen. Sie wusste, dass sie es über die Grenze schaffen musste, da sie vielleicht niemals wieder die Chance dazu haben würde. Ein kleingewachsener Mann neben mir wirkte zögerlich und senkte den Blick, als ich ihn ansah. Seine Lederjacke und sein Dederonbeutel machten es äußerst wahrscheinlich, dass er etwas mit der Stasi zu tun hatte.3 Warum ging er hier mit uns? Sollte er nicht genau diese Bewegung verhindern, an der er gerade teilnahm? War er geschickt worden, um über die Bewegung der Bürger auf die Grenze zu Bericht zu erstatten? Wir blickten einander an und wurden uns der kollektiven Macht bewusst, die durch unser Gehen entstand. Doch nahmen wir auch die individuellen choreografischen Entscheidungen in diesem Muster wahr. Dieses Gehen erweiterte unser Bewegungsvokabular nicht; stattdessen ließ es uns vertraute Bewegung neu erleben. Als wir uns dem Grenzübergang näherten, brachten uns Beklemmung und Erwartung beinahe zum Marschieren. Wir versuchten, die Angst vor dem Unbekannten durch selbstbewusstere Körpersprache zu kaschieren. Wir ließen unsere Schritte raumgreifender werden und hoben unsere Knie höher. Wir legten mehr Gewicht auf unsere Füße, wenn sie auf den Boden auftrafen und übten beim Abrollen mehr Druck auf das Straßenpflaster aus. Als wir an der Warteschlange vor dem Grenzübergang ankamen, richteten wir unsere Rücken auf und hielten unsere Köpfe ein klein wenig höher. Somit erschienen wir selbstbewusst und als Herren der Situation, als uns der Blick des Grenzpostens traf, der unsere Papiere überprüfte. Nachdem der Grenzbeamte unsere Ausweise mit den notwendigen Stempeln versehen hatte, gingen wir nach und nach auf die Brücke und fühlten uns von der Bewegung um uns herum fortgespült.4 Durch die Massen vor uns verlangsamt, war jedoch keiner von uns in der Lage, auf die andere Seite der Brücke zu drängen, die uns mit dem Westteil Berlins verband. Ganz bewusst einen Fuß vor den anderen setzend, ging ich voll Erstaunen über diese Brücke. Die tatsächliche Überquerung war unglaublich – jenseits von allem, was man sich je vorgestellt
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DDR-Bürger waren häufig in der Lage, die verdeckten Ermittler und Beobachter auszumachen. Natürlich ist es wahrscheinlich, dass die Stasi wollte, dass wir einige ihrer Agenten sahen, um eine nach Foucaultschem Verständnis panoptische Situation zu erzeugen.
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Die Brücke ist die Oberbaumbrücke, die während des Mauerfalls als einer der ersten hastig geöffneten Grenzübergänge diente.
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hatte. Ich begann mich selbst zu sehen, als blickte ich von außen auf mich. Wie sah mein Körper in diesem Raum und diesem Augenblick aus, der später zum Mittelpunkt weltweiter Berichterstattung, zum Thema von Filmen und Büchern wurde? Ich sah mir selbst dabei zu, wie ich Leute anblickte und die Maschinerie betrachtete, die die Grenze schützte. Ich fühlte den leichten Druck der Körper hinter mir, die Anspannung meiner Nachbarn und den erwartungsvollen Sog der Körper vor mir. Ich beobachtete mich bewusst und nahm meine Beobachtungen der Bewegung meines Körpers und der Bewegung der mich umgebenden Gehenden in meine eigene Bewegung auf. Diese Bewusstheit für meine körperlichen Sinne, sogar als ich mir mich selbst bildlich in der Menge der anderen gehenden Körper vorstellte, rief in mir ein Gefühl von räumlicher und historischer Bedeutung hervor. Wie ich später erfuhr, teilten viele der Menschen, die neben mir gingen, diesen Eindruck. Die bewusste Reflexion über die doppelte Perspektive dieses Gehens auf der Brücke – der Blick von außen auf den Körper und die Sinneseindrücke innerhalb des Körpers – erzeugten den historischen Moment.
A LLTAGSBEWEGUNG
ALS
E PISTEMOLOGIE
Diese Wiedererschaffung der Choreografie einer Alltagsbewegung liefert die soziale, politische und methodologische Basis für dieses Kapitel, in dem ich drei Tanzproduktionen mit der oben erwähnten gesellschaftlichen Bewegung in Beziehung setze. Alle drei Choreografien beziehen Stellung zu der politischen Situation in Ostdeutschland während und nach der Öffnung der Berliner Mauer im Jahr 1989, jedoch aus unterschiedlichen nationalen Perspektiven und durch unterschiedliche choreografische Herangehensweisen. Unser Gang über die Grenze hatte diese Tanzproduktionen sowohl thematisch als auch choreografisch geprägt. Eine Untersuchung der dialektischen Beziehung zwischen den bewussten Bewegungen von Körpern während eines historischen Gangs über die Grenze einerseits, und diverser zeitgenössischer Choreografien als Befragungen solcher Bewegungen auf der anderen, zeigt gemeinsame choreografische und soziale Mechanismen auf. In anderen Worten: Eine Untersuchung der gegenseitigen Bedingtheit der künstlerischen Exploration und ihres scheinbar verschwundenen kulturellen und körperlichen Referenten ermöglicht eine Theoretisierung von Körpern und ihrer Verkörperung der vergangenen, gegenwärtigen und sogar zukünftigen Strukturen einer Gesellschaft. Dieser Ansatz ist von Mark Franko inspiriert, der in seinem Text »Mimique« für ein Neudenken von Performance und insbesondere von Tanz durch die Begriffe »Präsenz« und »Verschwinden« argumentiert. Franko wendet sich gegen
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die allgemeine Vorstellung von der Vergänglichkeit des Tanzes, die den Tanz glorifiziert aber auch trivialisiert und marginalisiert hat, und infolgedessen auch den Körper. Der Klischeeausdruck »der verschwindende Körper« teilt Körpern die Rolle von lediglich zeitlich begrenzt in Raum und Zeit auftretenden Phänomenen zu und reduziert sie dadurch auf eine Essenz, die außerhalb aller kulturellen Systeme existiert. Diese Herangehensweise an Körper und Performance hält das performende Subjekt (und auch hier wieder vor allem das tanzende Subjekt) von kulturellen und politischen Fragestellungen fern. Franko hinterfragt diese Vorstellung und bringt die Körperlichkeit zurück in die Kultur, indem er die Bewegung mit einer Fähigkeit versieht, erneut performt zu werden. Bewegung und Performance sind also in der Lage, nicht nur Vergangenheit und Gegenwart hervorzubringen, sondern auch eine Zukunft. Daher produziert das soziokulturelle System nicht nur bestimmte Körper und Bewegungen. Körper und Verkörperungen bringen weit mehr als bloß Erinnerung hervor. Somit müssen Körper als kulturelle Konstrukte analysiert werden. Kultur entsteht durch Verkörperung.5 Indem ich diese Vorstellung von agency benutze, die die Fähigkeit des Körpers, soziale Systeme zu erschaffen, anerkennt, möchte ich einen Blick auf die körperliche Praxis werfen. Dabei behandele ich sowohl theatralisch inszenierte Tänze als auch Alltagsbewegungen. Meine einführende Beschreibung einer solchen Alltagsbewegung liefert den Hintergrund für die Untersuchung der unterschiedlichen Inszenierungen von ostdeutscher Identität durch die westdeutsche Choreografin Sasha Waltz und durch den ostdeutschen Choreografen Jo Fabian – welche durch Yatkins choreografische Antwort auf das Ereignis zwanzig Jahre später ergänzt wird. Der Gang über die Grenze (ein sowohl diskursiver als auch tatsächlicher Gang) schlug eine Brücke zwischen zwei voneinander unabhängigen nationalen Identitäten. Dieser Brückenschlag prägte die Perspektive der Choreografen auf ostdeutsche Körperlichkeiten und Bewegungen.6 Obwohl Waltz, Fabian und Yatkin alle drei ost-
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Siehe Foster, »Dancing Culture». In diesem Aufsatz schlägt Foster vor, dass eine Neuschöpfung von Verkörperung beim Schreiben die einzige Möglichkeit ist, um die Doppelbeziehung zwischen Gesellschaft und Körper zu theoretisieren – ein Gedanke, den sie später zu einer vollwertigen Theorie ausarbeiten sollte.
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Bei diesem Gang überquerten ostdeutsche Bürger die Brücke zwischen den beiden getrennten deutschen Staaten von Ost nach West. Diese Bewegung kehrte eine Bewegung um, die westdeutschen Bürgern immer möglich gewesen war. Meine Sicht auf diesen Gang über die Grenze und die beiden Tanzproduktionen ist sowohl von dieser unerwarteten Umkehrung geprägt als auch von meiner ehemaligen ostdeutschen Staatsbürgerschaft.
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deutsche Identität in der Zeit um die Wiedervereinigung und den Mauerfall darstellen, bringen ihre unterschiedlichen Ansätze und Ausbildungen grundlegend unterschiedliche Choreografien hervor. Ich habe jedoch nicht vor, meine Analyse der Choreografen auf der Grundlage ihrer Herkunft von einer der beiden Seiten der Berliner Mauer durchzuführen. Stattdessen basiert meine Kritik ihrer disparaten Perspektiven auf das soziopolitische System Ostdeutschlands auf einer Analyse ihrer Produktionen und choreografischen Verfahren. Häufig verstehen Diskurse über gesellschaftliche Strukturen Körper als symptomatische körperliche Orte. Erst im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte haben Wissenschaftler und Choreografen begonnen, Körper und ihre Bewegungen als Schöpfer sozialer Systeme zu begreifen.7 Das Lesen von Körperlichkeiten und Choreografien auf und jenseits der Bühne gehört zu den Techniken, die den Körpern als Hauptprotagonisten historischer Bewegungen agency zurückgeben.8 Die differierende Position von agency in ihren Choreografien bestimmt den nachfolgenden Vergleich von Waltz’ und Fabians Produktionen, besonders in Bezug auf den historischen Gang über die Berliner Grenze. Dieses Gehen verschmolz die doppelte Perspektive der verinnerlichten Bewusstheit einer gesellschaftlichen Referentialität mit der historischen Bedeutung dieser Bewegung.
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Tanzwissenschaftler theoretisieren eine große Bandbreite unterschiedlicher Körper. Sehr häufig sind wir mit einer Wissenschaft konfrontiert, die den Begriff »Körper« in abstrakter oder metaphorischer Weise verwendet. Ein Beispiel wäre Hewitt, Social Choreography, der aus der Perspektive von Literaturtheorie und Germanistik über den Körper schreibt. Obwohl er wiederholt Physikalität und Choreografie betont, verwendet Hewitt diese Begriffe, um diskursive Strategien zu bezeichnen. Es ist nichts falsch an einem derartigen Gebrauch der Begriffe »Körper« oder »Choreografie«. Dennoch können wir zwischen vielen verschiedenen Abstraktionsebenen unterscheiden. Welche Beziehung besteht zwischen Körpern aus Fleisch und Blut und dem metaphorischen Gebrauch des Begriffs »Körper«? In ihrem Aufsatz »Bodies-Cities« beschreibt Elizabeth Grosz, wie die Gesellschaft die Möglichkeiten des Körpers durch Disziplinierung, Regulierung, Verwaltung und Training kulturell beeinflusst. Grosz argumentiert weiterhin, dass individuelle Körper sich wiederum mit anderen Körpern und Objekten verknüpfen. Mit Blick auf diese Definition könnten wir uns bemühen, die Verknüpfung zwischen dem Körper und seinen Abstraktionen innerhalb ideologischer, kultureller oder technologischer Rekonfigurationen zu befragen.
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Ich arbeite in der Tradition einer Tanzwissenschaft, die sich auf diesen Begriff von körperlicher agency bezieht, der von Autoren wie Susan L. Foster, Susan Manning, Mark Franko, Marta Savigliano, Randy Martin, Janet Adshead-Lansdale, Ramsey Burt und Lena Hammergren entwickelt wurde.
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Michel de Certeaus Analyse des Gehens durch Manhattan liefert die Grundlage für die Aufladung des Gangs über die Brücke mit einem derartigen Potential. Indem er das Gehen als »Äußerungsraum« definiert, behauptet er, dass Gehen mehr erschafft als lediglich ein zweidimensionales choreografisches Muster innerhalb einer geografischen oder architektonischen Struktur. Für de Certeau engt das Gehen den Raum ein, dehnt ihn aus, kehrt ihn um und erfindet ihn, indem es sich den Raum, durch den es sich bewegt, aneignet und ihn verkörpert. Das Gehen erzeugt außerdem Beziehungen mit anderen geografischen, sozialen und diskursiven Räumen, indem es sie verknüpft und indem es die Abstände zwischen ihnen auslöscht. Vor allem bewegt sich Gehen stets mit einem ganzen »Gestenbaum« durch den Raum und vervielfältigt so Bedeutung.9 Gehen bringt eine Beziehung mit dem auktorialen Raum hervor, doch ruft es damit auch die Einflüsse, die den Raum und den Gang strukturiert haben, in Erinnerung. Obwohl sich de Certeau hauptsächlich für Alltagsäußerungen interessiert, die disziplinarischen Strukturen widerstehen, verortet er sie dennoch innerhalb eines administrativen, ideologischen und panoptischen Raums, ohne die Macht, diese disziplinarischen Strukturen zu überwinden. Zusätzlich sind die Lesarten der einem Gang innewohnenden Bedeutung und agency nur von einer abgehobenen und voyeuristischen Position aus möglich. Für de Certeau sind die Leute, die durch den Raum gehen, nicht in der Lage, ihre eigene komplexe körperliche Praxis zu begreifen, geschweige denn dazu, dieses Verständnis einzusetzen, um die Strukturen, innerhalb derer sie sich bewegen, grundlegend zu verändern.10 Wie jedoch der Gang über die Brücke demonstriert, können die Positionen des Beobachters und des involvierten Teilnehmers miteinander verbunden werden. Dies wiederum kann zu einer vollständigen Transformation des Raumes führen, in dem das Gehen stattfindet. Wie ich demonstrieren werde, begreift Fabian diese integrative Doppelperspektive nicht nur als notwendig für die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung. Er weist auch dem Körper eindeutig agency zu. Fabian ist in der Lage, dem Publikum seine Bewusstheit mitzuteilen, indem er sie in eine packende Choreografie übersetzt, die in multidimensionalen Tableaus untersucht, wie Bürger ihre bewegten Körper an den Zusammenbruch und die anschließende Neu-Errichtung von gesellschaftlichen Strukturen anpassten. Obwohl Sasha Waltz in zahlreichen ihrer Arbeiten körperliche agency untersucht hat, durchleuchtet sie die Verknüpfung zwischen Bewegungen und ihren sozialen Referenten oder der Rolle, die Körper bei der Schaffung von sozialen Systemen spielen,
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De Certeau, The Practice of Everyday Life, S. 91-110; S. 98; S. 102.
10 Ebd., S. 96, S. 92f.
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in ihrer Choreografie Allee der Kosmonauten nicht vollständig. Der folgende Vergleich zwischen der Ausbildung der beiden Choreografen und der choreografischen Ansätze in ihren Stücken macht deutlich, wie ich zu derart unterschiedlichen Einschätzungen gelangt bin.
Z WEI
CHOREOGRAFISCHE
L EBENSLÄUFE
Sasha Waltz ist derzeit Deutschlands gefragtester Theater-Exportartikel. Zu Beginn ihrer Karriere studierte sie Tanz bei Waltraud Kornhaas, einer Mary Wigman-Schülerin in Karlsruhe.11 Wigmans Vermächtnis einer nicht-narrativen Herangehensweise an Choreografie, ihre Abstraktion und Individualität und ihre Vorliebe für die Aufführung einer festgelegten Choreografie beeinflussen nach wie vor Waltz’ choreografischen Stil. Nach ihrem Unterricht bei Kornhaas besuchte Waltz die School of New Dance Development in Amsterdam. Die Schule ist international für ihre Konzentration auf Contact Improvisation bekannt.12
11 Wigmans Choreografien sind Gegenreaktionen auf die narrative Form und die Position von Frauen in Handlungsballetten, indem sie durch den Gebrauch von Kostüm und Maske den Schwerpunkt auf die Befragung der Bewegung und auf verwischte Gender-Konnotationen verschieben. Ihre Tänze bewegen den individuellen Tänzer in eine abstrakte Struktur hinein. Häufig drehen sich ihre Choreografien um die Beziehung zwischen einem Anführer und einer Gruppe. Wie ich in Kapitel 3 gezeigt habe, verwendete Wigman Improvisation als Arbeitswerkzeug, sprach sich jedoch wiederholt gegen Improvisation als Bühnenform aus. Siehe Manning, Ecstasy and the Demon. 12 Obwohl die gesellschaftliche und künstlerische Bewegung der Contact Improvisation, bei der zwei oder mehrere Tänzer auf der Grundlage von demokratischen Wertvorstellungen Gewicht und Raum aushandeln, Prinzipien für eine Art und Weise, sich zu bewegen anbietet, liefert sie kein festgelegtes Vokabular. Contact-Tänzer sind dazu angehalten, genau auf ihre Körper zu achten, die als intelligente Systeme betrachtet und eingesetzt werden. Die Parameter der choreografischen Entscheidungen variieren in Abhängigkeit von der Ausbildung und dem Training der Teilnehmer. Cynthia Novack lieferte die erste Untersuchung von Contact Improvisation sowohl als künstlerische als auch als gesellschaftliche Bewegung; siehe Sharing the Dance. Die School for New Dance Development in Amsterdam ist stark von einer nordamerikanisch geprägten Herangehensweise an Contact Improvisation beeinflusst, die als nahezu ausschließlich weiße, besonders bei der gesellschaftlichen Mittelschicht populäre Tanzform in die Kritik geraten ist. Dadurch, dass die Contact Improvisation ihren pionierartigen Erfindungsreichtum und den Bruch mit jeglicher vorausgehenden Tradition
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Contact Improvisation hat lange Zeit eine wichtige Rolle für Waltz’ Schaffensprozess gespielt, da sie als Werkzeug diente, um Bewegungsvokabular neu zu bewerten. Allerdings improvisieren Waltz’ Tänzer nur selten auf der Bühne. Dennoch baut viel von ihrem Bewegungsvokabular auf der Aushandlung von Gewicht und Begegnung als choreografischer Komponente auf, wie man sie in der Contact Improvisation findet. Nach ihrem Studium in Amsterdam ging Waltz nach New York City, wo sie sich mit einem stärker interdisziplinären Tanzansatz vertraut machte, der auf der Zusammenarbeit unterschiedlicher Kunstformen wie Bildender Kunst und zeitgenössischer Musik beruhte. Als sie 1993 nach Deutschland zurückkehrte, gründete sie gemeinsam mit ihrem Partner Jochen Sandig Sasha Waltz & Guests. Waltz’ erstes Stück mit dieser neuen Kompanie, Twenty to Eight, der Auftakt ihrer Travelogue-Trilogie, wurde beim internationalen Choreografenwettbewerb in Groningen mit dem Preis für die beste Choreografie ausgezeichnet. 1996 eröffnete Waltz die Sophiensäle, eine Aufführungs- und Produktionsstätte in Berlin Mitte. Allee der Kosmonauten, ihre erste Arbeit, die dort aufgeführt wurde, begründete ihren gegenwärtigen Ruhm und wird von der Kompanie nach wie vor häufig auf Tournee gezeigt. 1997 wurde Sasha Waltz mit der Produktion zum alljährlichen deutschen Theaterfestival Theatertreffen eingeladen. Im darauffolgenden Jahr erarbeitete sie eine Filmfassung in Zusammenarbeit mit den beiden staatlichen deutschen Fernsehsendern. Die ursprüngliche Choregrafie, auf der der Film basiert, gewann im Jahr 2000 den Adolf-Grimme-Preis für außergewöhnliche individuelle Leistungen in den Bereichen Autorenschaft, Regie und Produktion. 2009 wurde Allee der Kosmonauten in den Sophiensaelen neu aufgeführt. In Waltz’ Arbeit ging es nie ausschließlich um das Choreografieren von Tänzen. Sie ist außerdem eine bemerkenswerte Organisatorin und Initiatorin. Zum Beispiel war sie von 1999 bis 2004 zusammen mit den Dramaturgen Jochen Sandig und Jens Hillje und dem Regisseur Thomas Ostermeier künstlerische KoLeiterin der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz – eine Position, die es ihr
betont, erkennt sie nicht immer ihren Platz in einer komplexen Tanzgenealogie. Für eine umfassende Analyse der Verwendung von afro-karibischen und asiatischen Choreografieprinzipien in der Contact Improvisation und anderen Improvisationsformen, siehe Foster, Dances that Describe Themselves. Auf der Forschung von Tanzwissenschaftlern aufbauend, die den Einfluss von nicht-weißen Tanzformen auf den Modern Dance ebenso untersuchen, wie den Einfluss auf Jazz und Improvisation in der Musik, entwickelt Foster eine Genealogie, die das etablierte Narrativ des selbstgenerierten Ursprungs von Contact Improvisation im Nordamerika der 1970er Jahre in Frage stellt.
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erlaubte, sich auf ihre interdisziplinäre Herangehensweise an Choreografie und besonders auf die Beziehung zwischen Tanz und Theater zu konzentrieren. An der Schaubühne choreografierte sie mittlerweile berühmt gewordene Stücke wie Körper, S und noBody. Körper, das die Schaubühne unter ihrer neuen Leitung eröffnete, ist mittlerweile eines von Waltz’ meistgetourten Stücken. Anhand der choreografischen Möglichkeiten unterschiedlichster Körper untersucht es die gesellschaftliche Konstruktion von Verkörperung und Bewegung – und steht damit symbolisch für Waltz’ choreografischen Ansatz. Waltz beginnt ihre Erforschung sozialer Beziehungen häufig mit einer Untersuchung physischer Begegnungen zwischen Körpern und unterschiedlichen Umgebungen. In Körper gelingt dies in einer unvergesslichen Szene, in der zahlreiche unterschiedliche nahezu nackte Körper gemeinsam in eine Glasbox gequetscht sind. Aneinander und gegen die durchsichtigen Oberflächen gedrückt, rutschen die Tänzer in ihrem Kampf um Raum über- und durcheinander. Architektonische Sensibilität für einfache Bewegungssituationen zeichnet viele von Waltz’ Schlüsselszenen aus. Diesen Szenen stellt sie stärker von Charakteren getragene Inszenierungen gegenüber. 2005 eröffnet Waltz’ Ehemann und Kompanie-Manager Jochen Sandig gemeinsam mit dem Musikdramaturgen Folkert Uhde das interdisziplinäre Produktionszentrum Radialsystem V in Berlin. Das Zentrum bietet eine Bühne für die kleinformatigeren Produktionen von Sasha Waltz & Guests und dient auch als Plattform für experimentelle choreografische Inventionen jüngerer internationaler Choreografen. Mit ihren Fassungen von Henry Purcells Dido and Aeneas und Hector Berlioz’ Roméo et Juliette hat Waltz ihre eigene choreografische Arbeit teilweise in die Welt der Oper verlegt und ist mittlerweile in Mailand und Paris beinahe präsenter als in Berlin, das sich schwer damit tut, ihr geeignete Aufführungsorte und Förderstrukturen zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig entwickelt sie seit über 10 Jahren so genannte »Dialoge« – ortsspezifische Arbeiten in Museen und im öffentlichen Raum, die auf Improvisation und der Interaktion zwischen verschiedenen Kunstformen aufbauen. Ihre Kompanie gibt jährlich rund 100 Vorstellungen weltweit und ist eines der erfolgreichsten internationalen Kulturunternehmen.13 Verglichen mit Waltz arbeitet Jo Fabian wesentlich stärker an der Peripherie des großen Subventionsbetriebs. Ausgebildet als Schauspieler in den frühen 1980er Jahren, gehört er zu der Generation, die sich nicht mehr für das sozialistische System in Ostdeutschland engagierte. Wie in Kapitel 3 beschrieben, inszenierte diese neue Gruppe von Künstlern eine spezifische Form von Widerstand.
13 Für einen Überblick über ihre beeindruckenden Aktivitäten als Choreografin und Kulturmanagerin, siehe http://www.sashawaltz.de.
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Fabian schloss sich der Bewegung an, indem er eine etablierte Karriere am Staatstheater aufgab und von 1984 bis 1989 an den Rändern des von der Regierung unterstützten Theaters arbeitete. Diese Marginalisierung in Bezug auf staatliche Förderung versetzte ihn in die Lage, Arbeiten zu produzieren, deren Stil, Inhalt und thematische Schwerpunkte sich vom offiziellen Theaterdiskurs in Ostdeutschland entfernten, der von den Traditionen Bertolt Brechts, dem sozialistischem Realismus und Heiner Müllers apokalyptischem Historizismus dominiert wurde. Obwohl andere ostdeutsche Regisseure seine Interessen teilten, fand Fabian zu einer einzigartigen Stimme und einem einzigartigen Stil, indem er sich in seinen Tanztheater-Stücken auf Körper und Bewegung konzentrierte.14 Tableauartige Bilder, repetitive Sequenzen, verlangsamte Bewegungen und die unterschiedlichsten Arten von Projektionen führten dazu, dass Fabian nach dem Mauerfall von westdeutschen Kritikern als »ostdeutscher Robert Wilson« bezeichnet – und auch abgetan – wurde. Allerdings änderte die Presse schlagartig ihre Meinung, nachdem er 1994 zum Theatertreffen eingeladen wurde, und erklärte ihn zum aufgehenden Stern der freien Theaterszene. Fabians Arbeit war die einzige freie Theaterproduktion, die in jenem Jahr bei diesem wichtigen deutschen Theaterfestival aufgeführt wurde. Anders als andere Choreografen war Fabian somit in der Lage, seine Arbeit nach der Wiedervereinigung aus dem Randbereich des staatlich geförderten ostdeutschen Theaters in die stärker sichtbare freie Berliner Theater-Szene zu verschieben. 1999 verliehen ihm bedeutende deutsche Theater gemeinsam den Produzentenpreis für Choreografie. Von da an erhielt Fabian Förderung vom Berliner Senat und fuhr fort, kontroverse neue Arbeiten in Zusammenarbeit mit freien Theatern in Berlin und anderen deutschen Städten zu produzieren. Diese gesicherte Förderstruktur verschaffte Fabian Zeit und Raum, um äußerst unterschiedliche Projekte zu verfolgen. Zum Beispiel entwickelte er ein neues Bewegungssystem namens Alphasystem, das auf der Übersetzung von Wörtern in Bewegung basierte, gab eine CD-Rom mit dem Titel no fish, no cheese heraus und arbeitete eine Methode zur Verknüpfung scheinbar unzusammenhängender Gedanken, Ideen und Erinnerungen mit dem Titel Spektralsurrealismus aus. All diese Projekte setzen sich kritisch und ironisch mit den Bereichen Tanz und Performance auseinander. Obwohl Fabian zum Beispiel das Alphasystem durch mehrere neue Choreografien erforschte und weiterentwickelte,
14 Für eine Diskussion von Fabians Arbeit in drei unterschiedlichen Stadien seiner Karriere und für eine gekürzte frühere Fassung der Analyse von Pax Germania, siehe Giersdorf, »The Dance Theatre of Jo Fabian«.
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äußerte er von Anfang an die Überzeugung, dass eine Übersetzung von gesprochener oder geschriebener Sprache in Bewegung zum Scheitern verurteilt sein musste. Im Jahr 2003 rekonstruierte er seine erfolgreiche Choreografie Whisky & Flags von 1994 in der Originalbesetzung. Nach seiner Premiere gewann das Stück zahlreiche Preise für seine witzige und scharfsinnige Kritik am Verlauf der deutschen Wiedervereinigung und für seine Weigerung, den marginalen Stellenwert zu akzeptieren, der der Geschichte der DDR-Bürger im wiedervereinigten Deutschland eingeräumt wurde. Der Whisky, auf den der Titel der Arbeit anspielt, erscheint als eine Reihe von Johnny Walker Red Label-Flaschen im Bühnenhintergrund, und Fahnen bilden auf beiden Seiten der Bühne ein Spalier. Wie Fabian in Interviews erklärt, bezieht sich der Titel auf die Drogen, die nach dem Mauerfall mühelos erhältlich waren, und auf die ideologische Indoktrinierung vor dem Mauerfall. Von diesen ironischen Symbolen von Kapitalismus und Sozialismus eingerahmt, kämpfen auf der Bühne vier Tänzerinnen und zwei Schauspieler um Raum, bezichtigen einander technischer Inkompetenz, geben Kommentare zu ihrer eigenen Bedeutung im theatralen Prozess ab, erklären und demonstrieren ihre Fähigkeiten, und trinken auch ganz einfach aus den Whisky-Flaschen. Diese Aktivitäten scheinen keinerlei Bezug zu den konkreten historischen Vorgängen nach dem Mauerfall zu haben. Allerdings funktionieren jede Geste und jedes Wort in dieser komplexen Arbeit auf mehr als einer Ebene. Sie sind Information und Kommentar zugleich: Gesten werden mittels Wiederholung etabliert und dann mit immer mehr Worten verknüpft. Auch die Kombinationen von Gesten und Worten werden exzessiv in zahlreichen unterschiedlichen Situationen wiederholt. Diese choreografische Strategie enthüllt nicht nur die willkürliche Beziehung zwischen gesprochener Sprache und Bewegungsvokabular, sondern weist gleichzeitig auf die kulturelle Konnotation von Bewegung und Sprache hin – in diesem Falle die ostdeutsche Konnotation. Mit dieser Strategie konzentriert sich Fabian auf die inneren Konflikte und Ästhetiken des Theaters als Institution und Medium. Er erschafft dadurch ein Tanztheater, das das politische Potential von Theater wiedererlangt. Fabians Rekonstruktion von Whisky & Flags aus dem Jahr 2003 wirft Fragen nach der veränderten Funktion von Choreografie im wiedervereinigten Deutschland auf. Zum Zeitpunkt der ursprünglichen Produktion war das Stück für Fabian mehr als lediglich die Darstellung eines spezifischen Augenblicks in der deutschen Geschichte und ein Kommentar über eine zeitlich gebundene politische Situation. Er betrachtete es außerdem als wertvoll für die Zukunft, was ihn zu folgendem Vorschlag veranlasste: »Wenn es alle zehn Jahre in derselben Besetzung
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aufgeführt würde, könnte dieses Stück möglicherweise seine Wirkung im Kampf der Ostdeutschen um einen Platz in der Zukunft vervielfachen.«15 Zwar war die Aufarbeitung und Wiederholung vergangener Ereignisse schon immer eine der historischen Funktionen von Theater, doch ist es immer noch ungewöhnlich, einem Tanztheater mehr Macht zu verleihen, indem man es in die Zukunft projiziert. Fabians Sichtweise erfordert ein Geschichtsverständnis, das sich in seiner von Foucault beeinflussten genealogischen Struktur von der Chronologie und der Fortschrittsidee der dominanten Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands unterscheidet. Indem er diesen Unterschied zu einem Hauptthema seines Theaters macht, weist Fabian vehement auf die politischen Strategien hin, die bei der Konstruktion von Geschichte wirksam werden.16 Aufgrund bedeutender Einschnitte in allen Bereichen des deutschen Fördersystems schien die 2003 erfolgte Rekonstruktion von Whisky & Flags Fabians Abschied von der freien Berliner Theater-Szene zu markieren.17 Zusammenarbeiten mit anderen Förderkörperschaften und Theaterinstitutionen ermöglichten es ihm jedoch, seine Arbeit fortzusetzen. Seitdem hat Fabian zahlreiche Theaterund Tanzstücke produziert, darunter Indedendent Swan (2009) und PI morphosen (2010). Außerdem hat sich seine Arbeit weg vom Tanz in Richtung Multimedia-Arbeit, virtuelle Realität und Installation entwickelt. Da Fabian Tanz und Choreografie stets als Elemente von Gesamtkunstwerk-Produktionen erforscht hat, weist diese Verschiebung nicht auf einen Abschied vom Tanz hin, sondern deutet eher eine Erweiterung seiner choreografischen Untersuchungen in Beziehung zu anderen Medien an.
15 Fabian, Whisky & Flags, Programmheft. 16 Für eine eingehendere Diskussion der politischen Strategien dieser Neuinszenierung, siehe Giersdorf, »Hey, I Won’t Let You Destroy My History«. 17 Whisky & Flags wurde im Theater unterm Dach uraufgeführt, wo Fabian damals in der Hauptsache auftrat. Er und seine Kompanie DEPARTMENT inszenierten das Stück am Hebbeltheater neu, um der Intendantin Nele Hertling für ihre Unterstützung während der vergangenen 10 Jahre zu danken. Fabian und sein DEPARTMENT verließen das Hebbeltheater mit Ende der Spielzeit 2003. Zu diesem Zeitpunkt erlebte Deutschland die größte Finanzkrise seit der Nachkriegszeit mit einem Defizit von über 70 Milliarden Euro (Höll und Hoffmann, »Öffentliches Defizit«).
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C HOREOGRAFISCHE P RAXIS K OMMENTAR
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ALS GESELLSCHAFTLICHER
Der Titel von Sasha Waltz’ Allee der Kosmonauten aus dem Jahr 1996 verweist auf eine mehrspurige Hauptverkehrsstraße durch ein Viertel am Stadtrand von Ostberlin, das ausschließlich aus vielstöckigen Wohnblocks identischer Bauart besteht. Die DDR-Regierung hatte diese Vorstädte hochgezogen, um auf schnellstem Wege erschwinglichen Wohnraum für ihre Bürger zur Verfügung zu stellen. Häufig konnte die Entwicklung der Infrastruktur und der Dienstleistungs- und Kultureinrichtungen nicht mit der raschen Konstruktion dieser Wohngebäude Schritt halten. Für viele Westdeutsche wurden diese riesigen monotonen Vorstädte zum Symbol für den anonymen Lebensstil im Ostblock. Während nordamerikanische Vorstädte weitgehend von der Mittelklasse bewohnt werden und von Häusern in Privatbesitz bevölkert sind, die gebaut wurden, um ihre Eigentümer von den Härten des Stadtlebens abzuschirmen, waren die Wohnungen in den ostdeutschen Vorstädten zumeist gemietet und erfüllten keinen Traum von Immobilienbesitz. Nach der Wiedervereinigung verließ die Mittelschicht die ostdeutschen Vorstädte, um entweder im Zentrum der Städte zu wohnen oder noch weiter aus der Stadt heraus in einzeln freistehende Häuser zu ziehen. Nach dieser Wanderbewegung blieben lediglich Arbeiterfamilien in den staatlich geförderten Unterkünften zurück. Wegen der Abwicklung der ostdeutschen Industrie nach der Wiedervereinigung waren diese Familien am härtesten von der Arbeitslosigkeit betroffen. Häufig wurden gesamte Familien arbeitslos, und jüngere Familienmitglieder, die noch zur Schule gingen, hatten keinerlei Chance auf eine berufsvorbereitende Ausbildung. In ihrer Verzweiflung und der Suche nach Bedeutung in ihrem Leben wandten sich diese desillusionierten jungen Männer und Frauen manchmal rechtsgerichteten, rassistischen und Neonazi-Organisationen zu. All diese Entwicklungen trugen zum Ruf der ostdeutschen Vorstädte als No-GoAreas voller Unterschichtsbürger bei, die mit brutalem sinnlosen Benehmen beschäftigt waren. Für die Entwicklung von Allee der Kosmonauten ging Waltz zu den Plattenbauten im Ostberliner Stadtbezirk Marzahn und interviewte Bürger der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Nachdem die Mauer gefallen war, überschritt sie die ehemalige Grenze von West nach Ost, um ostdeutschen Alltag im gerade erst wiedervereinigten Deutschland zu erforschen. Wie Waltz wieder-
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holt berichtet, ging sie einfach von Tür zu Tür.18 Aufgewachsen in Westdeutschland, wollte sie eine Realität erforschen, die sie nicht kannte. Anscheinend widerstrebte es den Leuten in Marzahn zunächst, sie in ihre Wohnungen und in ihr Leben zu lassen.19 Waltz scheint dies zu überraschen. Dabei ist dieses Widerstreben in einer ehemaligen Diktatur verständlich: Wegen der Beobachtung durch die Stasi mussten die Bürger jeden ihrer Schritte überdenken. Sie hatten gelernt, Fremden gegenüber, die vor ihrer Tür standen, vorsichtig zu sein.20 1996, während Waltz an ihrem Stück arbeitete, berichteten die deutschen Medien täglich über die Tiefe des Zugriffs der Stasi. Der Großteil dieser Berichte stellte die ehemaligen sozialistischen Bürger als kooperativ oder als schweigende Mitläufer dar. Die Paranoia und das Misstrauen der Ostdeutschen wurden durch diese Berichte noch gesteigert. Die ehemaligen ostdeutschen Bürger hatten nicht nur 40 Jahre lang gelernt, sich Fremden gegenüber vorsichtig zu verhalten, da diese möglicherweise etwas mit der Stasi zu tun haben könnten. Vielleicht waren sie außerdem aus berechtigter Angst vor dem uninformierten und verallgemeinernden Urteil ihrer westlichen Mitbürger nicht gewillt, sich gegenüber einer Westdeutschen zu öffnen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich Waltz weder dieser Ängste noch der Realität eines Lebens unter der Diktatur vollkommen bewusst war, lohnt es sich, zu fragen, wie viel ihre Darstellung von der ostdeutschen Identität einfangen konnte. Obwohl das Stück lediglich versucht, eine spezifische Art von Familie in den Plattenbauten am Rande der Allee der Kosmonauten darzustellen, etablierten die umfangreichen internationalen Tourneen die Choreografie unweigerlich als eine äußerst sichtbare allgemeine Darstellung ostdeutscher Realität. Was durch seinen Titel die Darstellung einer besonderen gesellschaftlichen Situation ver-
18 Dies wird in einer Pressemitteilung des Irvine Barclay Theatre und der Cheng Hall vom 3.Januar 2001 nacherzählt: »›Ich fing damit an, ganz einfach an Türen zu klingeln‹, erinnert sich Sasha Waltz. Die Suche nach einem neuen Ideal führte sie in eine Welt, die sie nicht kannte: das Leben in ein einem ehemals Ostberliner Viertel, in einer Straße, die ›Allee der Kosmonauten‹ hieß, wo alle Wohnungen denselben Grundriss hatten. Trotz unterschiedlicher Einrichtungen, war der Mittelpunkt jeder Wohnung stets das Sofa, das in genau demselben Teil des Wohnzimmers stand.« 19 »Die Fremden, die aufmachten, wollten zuerst nur ungern mit mir reden, doch bald war das Eis gebrochen, und sobald wir einmal Vertrauen aufgebaut hatten, begannen sie, mir Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen.« 20 Diese Beziehung könnte man mit der Einstellung vergleichen, die in den USA Angehörige einer Minderheit der Polizei gegenüber haben.
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sprach, kann gewiss als eine verallgemeinerte Erforschung dysfunktionaler ostdeutscher Familienstrukturen gelesen werden.21 Waltz’ Methodik zur Entwicklung ihres Stücks erinnert an frühe anthropologische Studien, die vehement dafür kritisiert wurden, dass sie die Hierarchie nicht problematisierten, die zwischen dem Beobachter und dem naiven Informanten (dem Beobachteten) entstand. Wissenschaftler wie Edward S. Said und Gayatri Chakravorty Spivak haben gezeigt, dass dieses Modell eine Komplizenrolle bei der Schaffung eines unterdrückten und exotisierten Anderen durch den Westen gespielt hat.22 Sich der Wirkung auf den Referenten ihres Stücks, ebenso wie der Begrenzungen ihrer Perspektive erstaunlich wenig bewusst, äußerte Waltz 2001 in einer Pressemitteilung des Irvine Barclay Theatre, dass »für mich das Wichtigste an der Arbeit war, eine nachvollziehbare Sicht auf das Gemeinschaftsleben einer Familie zu schaffen, ohne zu verurteilen, mitfühlend und ironisch, liebevoll und grausam.« Mit dieser Erklärung demonstrierte Waltz, dass sie die Auswirkung ihrer eigenen Subjektivität auf das Stück nicht vollkommen verstand. Waltz’ beschränktes Bewusstsein für die Macht ihrer Position als Künstlerin und Choreografin innerhalb gesellschaftlicher Strukturen – oder zumindest ihre Entscheidung, ihre Autorenposition in Allee der Kosmonauten nicht sichtbar zu machen – durchdringt auch die anderen choreografischen und dramaturgischen Entscheidungen in der Arbeit. In der Eröffnungsszene erscheint ein Mann auf einem Sofa auf einen Oberkörper reduziert, der gegen das Möbelstück prallt und
21 Interessanterweise scheint Waltz die universelle Haltung ihrer Choreografie inzwischen bewusst geworden zu sein. Die deutsche Beschreibung auf ihrer Website gibt nun an, dass »das Porträt einer Familie aus Marzahn oder Bombay vielfach ausgezeichnet, verfilmt und in der ganzen Welt in über 150 Vorstellungen gefeiert wurde.« 22 Spivak, »Can the Subaltern Speak«; Said, Orientalism. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen dem ethnisch markierten Anderen und dem Anderen, das durch politische Systeme, Staatsangehörigkeit und Klasse markiert ist. Dennoch muss die Tanzwissenschaft nicht nur angemessene Methodologien und Werkzeuge aus anderen Disziplinen anwenden, sondern auch das visuell und national undifferenzierte Andere theoretisieren, wie z.B. die Bürger vieler osteuropäischer Länder. Eine solche Analyse müsste ihren Schwerpunkt auf die gegenseitige Abhängigkeit von Klasse, Nationalität und Kultur in Beziehung zu bereits etablierten Vorstellungen von einem ethnisch markierten Anderen legen, weil der bereits existierende, in der Hauptsache nordamerikanische, Diskurs über Ethnie selten die ethnischen Unterschiede innerhalb Europas einbezieht, die häufig nicht nur mit Klasse sondern auch mit Nationenzugehörigkeit zu tun haben.
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darauf herumrollt. Nach und nach wird der Rest seines Körpers in diese akrobatische Übung miteinbezogen. Unterschiedliche Körperteile beginnen einander wie Requisiten zu manipulieren. Gleichzeitig wird das Sofa durch Bewegungsqualität und Emphase zu einem gleichberechtigten Mitspieler in der Interaktion zwischen Körper und Mobiliar. Das Sofa lässt den Mann auf die gleiche Art und Weise hochschnellen wie seine eigene Hand ihn hochzieht und seinen Oberkörper hin und her schubst. Waltz präsentiert eine spektakularisierte Version von Alltagsgesten – in diesem Falle dem Sitzen und Liegen auf einem Sofa. Der Reiz ihrer Choreografie rührt von der Überzeichnung dieser Gesten und dem surrealistischen Umgang mit den Requisiten her. Sie setzt Körper und Requisiten miteinander gleich und objektifiziert somit den Körper. Waltz beginnt häufig mit derartigen Zufallskollisionen zwischen einem menschlichen Körper und einem Requisit und lotet dann alle Möglichkeiten dieser ursprünglichen Begegnung aus. Obwohl sie sich auch den eher privateren Fragen von Beziehungen zwischen Männern und Frauen zuwendet, ohne dabei etablierte soziologische Dimensionen dieser Gender-Beziehungen zu ignorieren, scheint Waltz mehr an den räumlichen und physischen Konstellationen interessiert, die sich ergeben, wenn zahlreiche Menschen auf engem Raum zusammenwohnen. Sie untersucht ebenso die Orte wie die Art und Weise, wie Körper diese bewohnen. Manchmal beginnt sie damit, wie jemand seine Hand positioniert, während er eine Tür öffnet, oder dem Winkel, in welchem jemand ein Knie beugt, um einen Schritt zu machen. Gelegentlich intensiviert sich das Streicheln einer Wange bis hin zu einem Schlagen; eine unerwartete Drehung eines Körpers hin zu einem anderen lässt den zweiten Körper zurückschrecken und resultiert in einer sorgfältig ausgearbeiteten Choreografie von Schwüngen und Schwankungen. Zu Beginn von Allee der Kosmonauten erkundet Waltz alle möglichen – oder sogar unmöglichen – Arten und Weisen, wie ein Körper ein Sofa bewohnen oder ein Sofa einen Körper verschlingen kann. Diese Variationen dehnen sich räumlich aus und greifen nach und nach auf weitere Körperteile über. Durch diesen Typus von Abstraktion entfernen sich die Bewegungen noch weiter von ihren ursprünglichen Kontexten und somit von der gesellschaftlichen Situation, die sie verursachte. Diese choreografischen Prinzipien bilden den Kern von Allee der Kosmonauten, das Waltz als ihrer weniger abstrakten Schaffensperiode zugehörig beschreibt.23 Einige der Tänzer sind aufgrund ihrer Kleidung und ihrer Beziehun-
23 In einem Interview mit der Berliner Zeitung erklärte Waltz ihre Rückkehr zu stärker abstrakten Tanzstücken. Sie brachte zum Ausdruck, dass sie mit ihrer narrativen Arbeit in eine Sackgasse geraten sei und sie nun den stärker fragmentarischen und abs-
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gen zueinander als Figuren erkennbar. Ein altmodischer Mann und eine mit einer Kittelschürze bekleidete Frau scheinen Mutter und Vater einer Familie zu darzustellen. Ein Mädchen und ein Junge tragen Kinderkleidung, und ihre Bewegungsqualität kann als stärker kindlich gelesen werden als die der anderen Figuren. Ein weiteres Paar in geschmacklosem Teenageroutfit könnte einen weiteren Sohn und seine Freundin darstellen.24 Diese möglichen Beziehungen werden durch Szenen in Frage gestellt, in denen scheinbare Geschwister sexuelle Interaktionen vollziehen. Möglicherweise deutet Waltz hier eine inzestuöse Situation an, da diese Szenen sich durch ihre Intensität vom Rest der Produktion abheben. Während dieser Ausbrüche von Energie werden die meisten Zuschauer, die zu Anfang amüsiert über das Bühnengeschehen waren, still und rutschen unbehaglich auf ihren Sitzen hin und her.25 Doch wird ihnen alsbald die nächste athletische Bewegungssequenz präsentiert.
trakten Ansatz ihrer früheren Arbeiten wie Twenty to Eight neu entdecke. Schlagenwerth, »Jedes Mal ein Schritt über die Grenze«. 24 Waltz beschrieb sie als drei Generationen (Allee der Kosmonauten, Programmheft). 25 Ich habe das Stück zweimal, jeweils vor extrem unterschiedlichen Publikum gesehen. Das erste Publikum bestand in der Hauptsache aus hippen Ost- und Westberlinern bei der Premiere des Stücks 1996 in den Sophiensälen. Das zweite war ein weitaus älteres und konservativeres Publikum, das die Aufführung im Jahr 2001 im Barclay Theatre in Irvine, Kalifornien besuchte. Das Publikum, das Allee der Kosmonauten ansah, reagierte nur selten als homogene Gruppe auf die Choreografie. Dennoch konnte ich übereinstimmende Momente der Freude und des Unbehagens während beider Aufführungen beobachten.
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Abb. 22: Körper als Requisiten in Sasha Waltz’ Allee der Kosmonauten, 1996.
Foto: Thomas Aurin.
Eine derartige akrobatische Begegnung ereignet sich zur Hälfte von Allee der Kosmonauten, als alle Figuren, außer dem Vater, der die anderen auf dem Akkordeon begleitet, in einen gemeinsamen Tanz verfallen. Der ältere Sohn initiiert diesen abstrakten Tanz, indem er sich langsam mit einem Brett auf der Schulter um sich selbst dreht. Um zu vermeiden, von dem Brett getroffen zu werden, müssen sich der andere Sohn, die Tochter und die Freundin, die sich zuvor neben dem älteren Sohn aufgestellt hatten, vor oder zurückbeugen, je nach Richtung der Rotation des Bretts. Nach und nach gewinnt diese Bewegung an Schwung, wandert in die Unterleibe der Tänzer, dehnt sich räumlich aus und steckt sogar die Mutter auf der anderen Seite der Bühne an. Die anfängliche Duckbewegung verwandelt sich nach und nach in Rotationen und Drehungen der Tänzer, die sich zu einer Formation angeordnet haben. Schließlich vollführen sie steif auf ihren Fersen gehend plötzliche Wirbel und Drehungen, als würden sie an einem Volks- oder Gesellschaftstanz teilnehmen. Allerdings schwingen ihre Arme unabhängig vom Rest des Körpers und wirken so, als seien sie ohne jegliche Fähigkeit zur Bewegungsinitiation an den Körpern befestigt. Diese Sequenz ist der einzige Teil von Allee der Kosmonauten, in dem sich die Tänzer in einer offensichtlich choreografierten Formation über die Bühne bewegen. Dennoch hinterfragen sie die Verwendung von stärker traditionellen Tanzbewegungen durch ihre übertriebene Ausführung, das Schwingen der scheinbar unbeteiligten Arme, das unbeholfene Laufen auf den Fersen. Die Bewegungsqualität und die wider-
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sprüchliche Kontrolle der Oberkörper und Gliedmaßen legen einen Vergleich mit Marionetten nahe, die keine Kontrolle über ihre eigene Bewegung haben. Fabian hat sich in seinen Choreografien in ähnlicher Weise auf Bewegungserforschung konzentriert, doch gilt sein Interesse der kritischen Bewertung gesellschaftlicher Situationen, die diese Bewegungen hervorbringen. Die Verwendung von Zeitlupenbewegungen in vielen seiner frühen Stücke distanzierte seine Choreografien von ihrer ursprünglichen Quelle in der Alltagsbewegung. Zuschauer, die diese zeitlich ausgedehnte Variation von Alltagsbewegung sehen, sind gezwungen, ihre vorgefasste Meinung dazu neu zu überdenken. Diese Neubewertung entzieht die Tänzerkörper jeglichem unmittelbaren Verweis auf die Welt außerhalb des Theaters. Ein nordamerikanisches Publikum könnte mit dieser Verwendung von Zeitlupenbewegung vertraut sein, da auch die postmodernen Tänzer sie zur Erforschung von Körpern, Bewegung und sozialem Raum einsetzten.26 Doch hob sich Fabians Verwendung von Zeitlupenbewegung im historischen Kontext der DDR ziemlich stark ab, da kein anderer ostdeutscher Choreograf zu diesem Zeitpunkt Bewegung so bewusst für eine Kritik an vorherrschenden Praktiken des sozialistischen Theaters einsetzte wie er. In Fabians Arbeit erschaffen verlangsamte Körper ihre eigene Realität innerhalb des sozialistischen Systems. In Verbindung mit der Individualisierung verdeutlicht diese Herangehensweise die Loslösung vom sozialistischen System der DDR durch Fabians Generation. Dementsprechend hinterfragte oder zerstörte Fabian die Hierarchie der damaligen Repräsentationsmodi im sozialistischen Theater. Dieses Theater war auf den Prinzipien des sozialistischen Realismus aufgebaut und bevorzugte den sprechenden Schauspielerkörper als theatrales Hauptwerkzeug. Wie ich in Kapitel 2 dargelegt habe, hat diese Vorliebe ihre Wurzeln in der spezifischen Konstruktion und Funktion des sozialistischen Realismus. Ostdeutsche Parteifunktionäre bevorzugten Kunstformen auf Textbasis, da diese ihrer Theorie nach sowohl die sozialistische Realität als auch die Gesetze, die diese Realität erschufen, auf scheinbar unzweideutige Weise abbildeten. Somit wurde der sprechende Schauspieler zum künstlerischen Hauptwerkzeug des sozialistischen Realismus, das nur noch von der Literatur übertroffen wurde. Verstrickt in einer komplexen kollektivistischen Gesellschaft, beleuchteten Schauspieler die historische Bedeutung ihrer sozialen und politischen Umstände, idealerweise, um die Entwicklung einer sozialistischen Wirklichkeit voranzutreiben. Fabian weigerte sich, mit sozialistischen Theaterkonventionen zu kollaborieren. Dadurch, dass er Sprache nahezu ausklammerte oder sie von den Körpern
26 Siehe Banes, Terpsichore in Sneakers.
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der Schauspieler und Tänzer abkoppelte, entzog er sich den Ansprüchen der sozialistischen Theatertradition. Er teilte diesen Widerstand gegen Narrative mit anderen ostdeutschen Regisseuren, Schauspielern, Choreografen und Tänzern, die außerhalb der staatlich und städtisch geförderten Theater oder an deren Peripherie arbeiteten. Diese neue Art von ostdeutschem Theater versuchte nicht mehr, hypothetische Antriebskräfte hinter einer scheinbar objektiven Wirklichkeit zu enthüllen. Stattdessen betonte dieses Theater gleichzeitig seine Autonomie und strebte danach, die Trennung zwischen Theater und Realität niederzureißen. Die neue Generation von Künstlern erreichte dieses Ziel, indem sie das Theater sowohl vom Text als auch von seiner Funktion als politische und moralische Anstalt emanzipierte. Daher stieß das neue Theater bei der Regierung anfänglich auf großes Misstrauen, was oftmals zu offizieller Zensur führte. Jedoch ermöglichte die zunehmende Begeisterung des ostdeutschen Publikums und der ostdeutschen Theaterexperten sein Überleben und brachte ihm sogar gelegentliche Unterstützung durch Funktionäre ein. In seinem gesamten Werk inszeniert Fabian Körper, um ihre intentionale Konstruktion sowohl als Objekte als auch als Akteure der Geschichte zu beleuchten.27 Seine Sicht auf den Körper als Hauptprotagonist historischer Bewegung gibt dem Körper agency zurück und schafft Raum für Widerstand. Somit erforscht sein Tanztheater nicht nur, wie die Regierung den Körper eines Bürgers durch Überwachung in die Normen von Bewegung zwang, sondern auch, wie ein Körper Widerstand gegen diese Normen performt. Pax Germania (1997) steht ebenfalls in Beziehung zu einer konkreten politischen Situation. Fabian enthüllt, wie die Umwandlung von einem sozialistischen Deutschland zu einem vereinigten kapitalistischen Deutschland durch die Konstruktion von kollektiven und individuellen Identitäten und die Reibung zwischen ihnen herbeigeführt wurde. Fabians Stück symbolisiert die Geschichte von 40 Jahren DDR, den Mauerfall und die Zeit seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.
27 Im Jahr 2000, drei Jahre nach Pax Germania, kehrte Fabian mit Steinberg – Born to Be Wild zurück, in dem er sich in einer choreografischen Versuchsanordnung mit dem Nachwende-Prozess und seinen Konsequenzen für die Bürger des vereinigten Deutschland auseinandersetzte.
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AGENCY CHOREOGRAFIEREN 1996 wurde Allee der Kosmonauten in den Berliner Sophiensälen uraufgeführt. Seitdem nahm Sasha Waltz das Stück dort mehrmals wieder auf und verknüpfte es so erneut mit seinem Ostberliner Referenten. Eine solche Wiederaufnahme wirft erneut einige meiner Bedenken in Bezug auf Waltz’ repräsentationelle Entscheidungen in dem Stück auf. Als Ostdeutscher bin ich froh, meine nationale Geschichte in einer Tanzproduktion widergespiegelt zu sehen. Gleichzeitig enttäuschen mich jedoch Waltz’ mangelnde Auseinandersetzung mit deren Komplexität und ihr Einsatz wohlbekannter Stereotypen. In seiner faszinierenden Untersuchung über die Repräsentation von ostdeutscher Identität seit der Wiedervereinigung bedient sich Paul Cooke des Instrumentariums der postcolonial studies, um die Beziehung des vereinigten Deutschlands zu seinem östlichen Bestandteil zu verstehen. Durch die Zerstörung der indigenen Wirtschaftsstruktur, die Ausbeutung zugänglicher ökonomischer Ressourcen, die soziale Liquidierung nicht nur der politischen Elite sondern auch der Intellektuellen des Landes, einhergehend mit der Zerstörung der [....] Identität einer Bevölkerung
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definiert Cooke die Wiedervereinigung als eine neokoloniale Machtübernahme. postcolonial studies haben nachgewiesen, dass jegliche Repräsentation der Identität eines kolonialen Subjekts nur ein weiterer Weg ist, um koloniale Hierarchien stabil zu halten. Somit müssen diese Repräsentationen vorsichtig betrachtet werden. In ähnlicher Art und Weise muss jegliche Repräsentation ostdeutscher Identität durch einen Westdeutschen kritisch bewertet werden. Um meine eigene Reaktion für eine nicht deutsche Leserschaft zu kontextualisieren, würde ich mich auf das Beispiel des »blackfacing« und »yellowfacing« im frühen Kino des 20. Jahrhunderts beziehen. Zweifellos erlaubte diese Praxis ursprünglich einer nicht-weißen Identität den Zugang zur Repräsentation in den Medien. Doch erfordert eine zeitgenössische Verwendung dieses Vokabulars extreme Vorsicht bei der Einschätzung der Angebrachtheit der Form für ein heutiges Verständnis afro-amerikanischer oder asiatisch-amerikanischer Identität. Waltz’ choreografische Repräsentation einer ostdeutschen Familie, sowie die weltweite Sichtbarkeit ihrer Darstellung durch ausgedehnte Tourneen, müssen ebenfalls kritisch eingeschätzt werden. Ihre Entscheidung, agency außerhalb der Körper der Tänzer zu repräsentieren, setzt Stereotypen von Ostdeutschen als
28 Cooke, Representing East Germany since Unification, S. 2.
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passive Empfänger von regierungsgesteuerter Indoktrinierung fort. Die Verwendung und Verortung des Bewegungsvokabulars betont die vollständige Absorbierung der Körper durch eine in höchstem Maße akrobatische Situation, ohne die sozialen Gründe für diese Situation zu beleuchten und ohne die Initiierung von Bewegung durch die Körper selbst zu kontextualisieren. Während die gehenden Menschen, die in Berlin die Grenze überquerten, ihre Selbstbeobachtung in die Choreografie ihres Gehens miteinbezogen, indem sie bewusst über ihr Bewegungsvokabular, die Räumlichkeit und choreografische Entscheidungen reflektierten, werden Waltz’ Tänzer von einer unidentifizierbaren äußeren Kraft bewegt. Die ausschließliche Konzentration auf Bewegungsvariationen ohne Untersuchung von Grund, Motivation oder Lösung liefert eine unterhaltsame Bestätigung des gegenwärtigen Moments. Allerdings opfert sie dabei vergangene Verkörperungen und die Fähigkeit des Körpers, Zukunft zu choreografieren. Die Schlussszene von Allee der Kosmonauten bestätigt diese Analyse. Die Tänzer kommen erneut für das Finale zusammen, bekämpfen einander rund um das Sofa, das nun von relativ wenigen Requisiten umgeben ist. Der Kampf wird immer wieder unterbrochen, wenn die Musik unvermittelt aufhört und die Familienmitglieder in einen plötzlichen Schlaf fallen. Nach einigen Wiederholungen dieser von außen initiierten Handlungs-Schlaf-Sequenz, erstarren alle Ensemblemitglieder plötzlich mitten in der Bewegung. Sie bewegen sich mehrmals wieder und erstarren mehrmals erneut. Diese unerwarteten Augenblicke von Stillstand auf der Bühne sind keineswegs erholsam: Stattdessen scheinen die Körper der Erschöpfung nachzugeben. Die Tableaus bilden die Körper mitten im Kampf oder in einer Situation befangen ab, die Langeweile und Unglück darstellt. Schließlich beendet ein Black während eines dieser Tableaus das Stück.
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Abb. 23: Kollidierende Körper in Sasha Waltz’ Allee der Kosmonauten, 1996.
Foto: Matthias Zölle.
Im gesamten Stück inszeniert Waltz die Leidenschaften, die freudlose Existenz, die Brutalität und die Langeweile einer Familie. Die Tänzer bewegen sich mit hoher Frequenz, wie Comic-Figuren. Sie kontrahieren ihre gesamten Körper, nur um sich sofort wieder auf gymnastische Art und Weise zu öffnen. Sie verfallen plötzlich in regungslosen Schlaf, der ihnen die Kraft zu verleihen scheint, sich gleich darauf in den nächsten Kampf zu stürzen. Wie in einem Cartoon hinterlassen die Handlungen der Tänzer und die gegenseitige Misshandlung ihrer Körper niemals bleibende Wirkung. Mit einem Musikwechsel oder einer Unterbrechung durch andere Figuren verschiebt sich der Fokus der Tänzer. Sie lassen von ihrer gegenwärtigen Aktivität ab und wenden ihre Aufmerksamkeit und physische Ausdauer scheinbar unermüdlich ihrer nächsten Handlung zu. Das gesamte Stück hindurch konstruiert Waltz die Zuschauer als passive Konsumenten eines Spektakels. Indem sie die Produktion durch einen Black in einem der arrangierten Tableaus beendet, deutet sie an, dass die choreografische Untersuchung einer funktionsgestörten Familie wieder von vorne beginnen könnte. Die familiären Interaktionen stehen somit metonymisch für ein weitaus stärker überzeitliches Narrativ, das sich noch lange nachdem das Publikum das Theater verlassen hat, fortsetzen könnte. Weder die fragmentarische Struktur des Stücks noch Waltz’ choreografische Entscheidungen erfordern irgendeine Publikumsbeteiligung. Stattdessen positionieren das spektakularisierte Bewegungsvo-
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kabular und die wiederholten Unterbrechungen des abgebildeten Familienlebens das Publikum als staunende Beobachter. Waltz entscheidet sich außerdem bewusst dafür, die Tänzerkörper ihrer expressiven Intelligenz zu berauben, indem sie ihre Handlungen auf Reaktionen, auf Kollisionen und Zufallsbegegnungen beschränkt, die keine antithetischen Antworten und noch nicht einmal besonders viel Widerstand hervorrufen. Niemals erhalten die tanzenden Körper Gelegenheit, irgendeine Veränderung zu initiieren. Daher führen Waltz’ Bewegungsuntersuchungen zu keinerlei Lösungen, und schon gar nicht einer Ermächtigung der beteiligten Körper. Waltz’ einseitige Vorstellung von ostdeutscher Identität und die sich daraus ergebende Physikalisierung in den Körpern der Tänzer und Zuschauer gelingt es nicht, die bewusste Choreografie zu begreifen, die Ostdeutsche zu erschaffen in der Lage waren und tatsächlich erschufen. Während sich Waltz entschied, die Tänzerkörper bei ihrer Ausstellung ostdeutscher Identität als reaktive Objekte zu repräsentieren, bildet Fabian die tatsächliche Transformation, die ostdeutsche Bürger durchmachten, sowohl durch die Körper der Tänzer als auch durch das Publikum nach. In der Eröffnungssequenz von Pax Germania geht ein Schauspieler selbstbewusst aber sehr langsam auf die Bühne und schultert dabei eine rote Fahne an einer langen Stange. Seine Körperbewegung kaschiert die Tatsache, dass er das schwere Objekt trägt. Nachdem er seinen Platz im Bühnenhintergrund mit dem Blick zum Publikum gefunden hat, richtet er sich selbst und die Fahne aus, die sich langsam in einem künstlichen Wind kräuselt. Widerwillig folgen ihm sieben Schauspieler. Einer nach dem anderen schlendern sie langsam in den Bühnenhintergrund und ordnen sich neben dem Fahnenträger zu einer Linie an. Unterschiedlich arrangiert, wirken all ihre Haltungen lässig und scheinen eine Unlust, zu performen, anzudeuten. Schließlich entwickeln sich ein Neigen des Kopfes, ein Blick oder ein Zucken zu einer Handlung. Der schleppende Rhythmus des Stücks setzt sich fort, als ein Tänzer geohrfeigt wird und versucht, die aggressive Geste zurückzugeben. Er muss jedoch feststellen, dass er zu klein ist, um den Kopf seines Angreifers zu erreichen. Die Kleidung des kleinwüchsigen Tänzers – zu weit hochgezogene Hosen mit Hosenträgern, rote Socken, massengefertigte Schuhe und ein aufgeknöpftes kurzärmeliges Hemd vermitteln etwas Streberhaftes. Der Angreifer trägt eine Trommel an der Hüfte, auf der er jedoch niemals spielt. Er erhebt lediglich die Trommelstöcke mit ausgestreckten Armen hoch über seinen Kopf und schlägt sie gegeneinander, als wollte er den Rhythmus für das Stück vorgeben. Eine Frau trägt einen Rock, der an die offizielle Kleiderordnung ostdeutscher Staatsbeamter erinnert. Eine rote Nelke, das Symbol des Kampfes der Arbeiterklasse, ist an ihren
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Revers geheftet. Ständig lächelnd, als sei ihr etwas peinlich, versucht sie, mit dem Fahnenträger in Kontakt zu treten. Mit einer unbeholfenen und unsicheren Bewegung legt sie wiederholt ihren Kopf auf seinen Oberarm. Eine andere Frau zieht verzweifelt an einer Zigarette und hustet den Rauch heraus, bis ihr Körper von einem heftigen Hustenanfall in die Arme ihres Nachbarn geworfen wird. Seine Versuche, ihren Husten durch Schläge mit der Handfläche auf ihren Rücken zu lindern, verwandeln sich zunehmend in brutales Prügeln. Währenddessen tickt in einer Projektion hinter den Schauspielern eine Uhr. Die Digitalanzeige zählt die Minuten rückwärts wie eine Zeitbombe. Auf eine Leinwand hinter den Tänzern werden Bilder von herabrinnendem Wasser und vorüberziehenden Wolken projiziert. Leichte Variationen von Ohrfeige, Husten, Trommelstock-Heben, Lächeln und Prügelbewegungen ziehen sich über die ersten 40 Minuten hin. Zusammen mit der Tatsache, das keiner der Tänzer sich aus der Linie im Bühnenhintergrund herausbewegt, erzeugt die ständige Wiederholung dieser Bewegungen einen Eindruck von Stagnation und ständiger Langeweile. Das Publikum zählt die Minuten und fängt an, sich zu langweilen. Zuschauer rutschen ungeduldig auf ihren Sitzen hin und her, husten und räuspern sich. Sie geben lauthals Kommentare über das Nicht-Geschehen auf der Bühne ab. Immer mehr Zuschauer gehen gelangweilt und wütend hinaus und schlagen dabei die Türen zu. Mit ihrem zwanglosen Benehmen werden sie zu einem Teil des Bühnengeschehens.29 Das Zusammenspiel zwischen den Körpern der Tänzer auf der Bühne und den Körpern der Zuschauer war ein re-enactment von 40 Jahren ostdeutscher Körperidentität. Fabian zeigt keine eindimensionale Kritik an der staatlich aufgezwungenen, offiziellen Körperidentität auf der Bühne. Stattdessen stellt er durch die Handlungen der Tänzer und die Reaktionen des Publikums die Ergebnisse von und den Widerstand gegen diese staatliche Disziplinierung aus. Indem er reduzierte und eingeschränkte Bewegungen verwendet, fängt er die Stagnation des Lebens in der DDR eindrücklich ein. In einer brillanten Darstellung der buchstäblichen und diskursiven Unbeweglichkeit der ostdeutschen Bürger unter
29 Ich sah Pax Germania im Theater am Halleschen Ufer in Berlin (dem heutigen HAU2), das für die Unterstützung unabhängiger Tanzproduktionen bekannt war. In meiner Lesart von Fabians Choreografie vereinige ich absichtlich unterschiedliche individuelle Zuschauer zu einem allgemeinen Publikumskörper. Ich bin in der Lage, dies zu tun, da Fabians Stück das Publikum zu Bewegungen und Handlungen zwingt, die derjenigen vergleichbar sind, die sich über die Grenze bewegte. Diese Art von Veränderung ist nur möglich, da die kritische Masse als eine vereinigte Bewegung von individuellen Körpern teilnimmt.
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dem restriktiven sozialistischen Regime bewegen sich die Tänzer kaum und bleiben auf ihre Position im Bühnenhintergrund beschränkt. Wie die Leute, die die Grenze überschritten, waren sich DDR-Bürger ihrer Bewegungen aufgrund der ständigen Überwachung durch die Stasi stets extrem bewusst. Meiner Meinung nach führte diese Bewusstheit zu einem eingeschränkten Bewegungsvokabular in der Öffentlichkeit, da exzessive Bewegungen die Aufmerksamkeit von Beobachtern auf sich gezogen hätten. Ein derart gesteigertes Verständnis der eigenen Position in einer politischen Struktur trägt auch zu der fein abgestimmten Bewusstheit für die innere Erfahrung bei, die der Selbstbeobachtung von Außen gegenüberstand: dem Erlebnis, als wir zum ersten Mal über die Grenze zwischen Ost- und Westberlin gingen. Fabians Verwendung dieser Idee auf der Bühne funktioniert symbolisch, indem sie mit scheinbar unschuldigen Bewegungen den Einfluss sozialistischer Staatsmacht auf die Körperlichkeit seiner Bürger enthüllt. Sein Stück hinterfragt auch die Behauptung des Staates, sein Recht, über seine Bürger Macht auszuüben, sei natürlich. Außerhalb des Theaters brachten derartige Beschränkungen Ende der 1980er Jahre Bewegungen hervor, die schließlich zu einem Massenexodus durch die zunehmend durchlässige Grenze zwischen Ungarn und Österreich führten. Außerdem begannen Widerständler, ihr Leben außerhalb des sozialistischen Raums zu organisieren und in der gesamten DDR zu demonstrieren. Ostdeutsche Bürger brachen aus dem aufdiktierten Bewegungsmuster aus und drückten ihre Unzufriedenheit durch spontane individuelle Aktionen und organisierte Demonstrationen aus. Im Widerhall auf derlei Ausbrüche abseits der Bühne verfällt das Publikum beim Ansehen von Pax Germania in einen ähnlichen Widerstand. Die Zuschauer verlassen den allgemeinen Publikumskörper, entweder, indem sie türenknallend aus dem Theater eilen, oder sie organisieren sich kollektiv als unzufriedene Kunden in der künstlerischen Marktwirtschaft. Zunehmend kommentiert das Publikum die Nicht-Handlung auf der Bühne und verlangt sogar eine Steigerung der minimalistischen Aktivität.
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Abb. 24: 40 Minuten repetitive Bewegung in Jo Fabians Pax Germania, 1997.
Foto: Andreas Stirl.
30 Minuten, 20, zehn, fünf – endlich zeigt die Uhr 0:00:00:00 an und bleibt für ein paar Sekunden stehen. Eine männliche Stimme verkündet: »3. Oktober 1990 – was für ein Tag.« Schließlich läuft die Uhr vorwärts. Verwirrt scheinen die Schauspieler aus ihrer Routine auszubrechen und miteinander und sogar mit dem Publikum zu interagieren. Immer noch in einer Reihe im Bühnenhintergrund angeordnet, tritt schließlich ein Mann widerwillig nach vorne, nur um in die Reihe der anderen zurückzukehren, als ihn der Mut verlässt. Bald danach bewegt sich die Frau, die geraucht und gehustet hatte, nach vorne auf die Bühne und beginnt, Körperteile in stripteaseartigem Ausstellen zu entblößen. Der Mann, dessen tröstende Schläge mit der Handfläche auf den Rücken der Frau sich in Gewalt verwandelt hatten, versucht vergeblich, sie zu veranlassen, ihren Exhibitionismus zu beenden und in die Reihe zurückzukehren. Die Weigerung der Frau schlägt später in überdramatische Reue um, die ihren Körper heftig erschüttert, eine Bewegung die an ihr Husten früher im Stück zu erinnern scheint. Schließlich fällt sie von Weinkrämpfen geschüttelt zu Boden. Der kleinwüchsige Mann, der geohrfeigt wurde, bricht als nächster aus der Reihe aus. Er schickt sogar den großgewachsenen Mann mit der Trommel an der Hüfte – seinen früheren Angreifer – zurück in die Reihe, als dieser versucht, sich nach vorne zu bewegen. Der kleine Mann hält jetzt eine Pistole in der Hand, und aus seiner streberartigen Kleidung wird eine neofaschistische Uniform. Er stellt den großen Mann wiederholt in die Reihe zurück, während dieser begeistert versucht, das rhythmische Klatschen mit
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den Trommelstöcken über dem Kopf zu vollführen. Am Ende zwingt der kleine Mann den Großen dazu, in der Mitte der Bühne zusammenzubrechen. Währenddessen spielt die Musikanlage hartnäckig die Zeile »The Wall Fell« aus dem gleichnamigen Musikstück von Fabians Bühnenkomponisten Ralf Krause, bis die Bedeutung dieser Wörter sich in Hintergrundlärm verwandelt und somit jeglichen Zusammenhang mit dem historischen Ereignis verliert. Abb. 25: Neukonfigurierte Gleichheit nach der Wiedervereinigung in Jo Fabians Pax Germania, 1997.
Foto: Andreas Stirl.
Das Publikum scheint nun mit mehr Befriedigung zuzusehen. Die Zuschauer werden durch den Anschein von Handlung auf der Bühne unterhalten. Allerdings wird ihnen bald klar, dass der Bewegungsstil demjenigen ähnelt, der performt wurde, bevor die Uhr bei Null ankam. Die Handlung auf der Bühne scheint sich zu verändern, weil die Tänzer schließlich die Reihe im Bühnenhintergrund verlassen und sich in den unerforschten Bühnenraum vor ihnen begeben. Doch performen und wiederholen die Tänzer eigentlich Abstraktionen derselben Gesten. Fabians Choreografie verändert die Konnotation dieser Bewegungen, indem sie sie in unterschiedliche Kontexte stellt. Sobald sich dieser Kontext ändert, verändert sich damit auch die Bedeutung. An einem anderen Ort ausgeführt, in diesem Fall außerhalb der Reihe vor dem Bühnenhintergrund, wirken vertraute Bewegungen seltsam und neu. Die Inszenierung zwingt das Publikum, an dieser Veränderung von Bedeutungen teilzunehmen. Dabei begreifen die Zuschauer mög-
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licherweise ihre eigene Position in Bezug auf die Ereignisse auf der Bühne und in Bezug auf die aktuelle historische Situation in Deutschland. Am Ende der Aufführung leuchtet folgender Satz auf der Leinwand auf: »Wir danken den Verursachern unserer Geschichte, ohne die dieser Abend nicht notwendig gewesen wäre.« Zuschauer gehen hinaus, hin- und hergerissen zwischen Belustigung und Ärger, Verlegenheit und Verwirrung. In Pax Germania kombiniert Fabian eine kollektive Erinnerung an ostdeutsche Geschichte mit gegenwärtigen Erfahrungen im vereinigten Deutschland. Er abstrahiert Stereotypen aus beiden Zeiträumen zu einer Reihe von Bewegungen und Haltungen, indem er sie aus ihrem Alltagskontext herauslöst. Die Tänzer wiederholen diese Bewegungen oder verharren in ihren etablierten Haltungen. Das Publikum wird über die Langeweile hinausgetrieben. Unfähig, die Monotonie noch länger zu ertragen, beginnen die Zuschauer, ihren Ärger auszuleben. Dann verändert Fabian die Bewegung, die räumliche Gestaltung und den Rhythmus der Choreografie, nur um in eine weitere Ausstellung von entsprechender Gleichförmigkeit zurückzufallen. Dadurch zwingt er das Publikum dazu, die ausgestellte Bewegung und seine eigene Reaktion darauf genauer zu beobachten. Fabian positioniert Tanztheater als einen Ort zur Analyse gesellschaftlicher Konditionierung, indem er die agency des Körpers in der Geschichte manifestiert. Vor allem illustriert er die Bedeutung des tanzenden Körpers als einen Ort des Widerstandes, indem er ihn mit dem bewegten Körper in Alltagspraktiken vergleicht. Fabians scheinbar abstrakte Choreografie konzentriert sich auf körperliche Bewegungen in der Gesellschaft und ihre Beziehung zum tanzenden Körper auf der Bühne. Die sich aus dieser kausalen Korrelation ergebende Bewusstheit bringt eine körperliche Reaktion auf soziale, politische und nationale Interessen hervor. Ihre physischen Reaktionen auf die Ereignisse auf der Bühne stellen auch die Fähigkeit von Körpern und ihren Bewegungen aus, autonome Strukturen hervorzubringen. Wie Fabian in Pax Germania, eignet sich auch Sasha Waltz in Allee der Kosmonauten Alltagsbewegungen an, um soziale Strukturen zu beleuchten. Waltz leitet ihre Choreografie aus einer konkreten gesellschaftlichen Umgebung ab. Wo Fabian gesellschaftliche Bewegungslosigkeit durch reduzierte und repetitive Bewegung darstellt, hinterfragt Waltz Familiendynamiken durch eine Choreografie anfallartiger Alltagsgesten und durch die Interaktion mit Haushaltsgegenständen. Waltz stellt nicht klar, wem und was gegenüber die Körper ihre Autorität und agency aufgeben. Mit dem Ergebnis, dass sich soziale Macht und agency in frei schwebende Konzepte verwandeln, die in Waltz’ Arbeit nur zeitweise mit dem Körper verknüpft sind und nicht auf historischer Erfahrung und auf historischen Strukturen beruhen. Die Körper in Waltz’ Choreografie reagie-
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ren vielleicht auf ihre Umgebung, doch weigern sie sich niemals bewusst, mitzumachen, und erschaffen auch nicht ihre eigene gesellschaftliche Situation. Somit verliert Waltz die Kontrolle und verfällt in eine formalistische Studie, die ihr Projekt untergräbt. Möglicherweise verrät dies auch mehr über ihre eigenen Ansichten, als sie zugeben würde. Im Gegensatz dazu choreografiert Fabian eine Geschichtslektion, die das Publikum mobilisiert. Bewegte Körper waren der Ursprung der deutschen Wiedervereinigung, die wiederum äußerst konkrete Körperbewegungen in beiden deutschen Staaten auslöste. Dieser körperliche Prozess spiegelt die Schaffung von Geschichte durch bewegte Körper wider und den Einfluss dieser Geschichte auf Körper. Fabian liefert keine historischen Tatsachen oder individuellen Geschichten. Er verwandelt allgemeine Bewegungen in eine Choreografie, die eindrucksvoll die deutsche Geschichte vor, während und nach der Wiedervereinigung verkörpert. Fabian enthüllt, dass Körper in der Geschichte inszeniert werden und zeigt, wie sie auf Manipulation antworten. Doch er zeigt auch die Fähigkeit von Körpern, ihre eigene Geschichte durch Bewegung zu erschaffen. Die letzte Aussage in dem Stück, »Wir danken den Verursachern unserer Geschichte, ohne die dieser Abend nicht notwendig gewesen wäre«, bekräftigt die kulturelle Konstruktion von Geschichte. Indem er im ersten Teil des Stücks die individuelle Entscheidung choreografiert, in einer historischen Situation nicht zu handeln, weist Fabian auf die Fähigkeit des Körpers hin, agency zu behaupten – oder bewusst zu verweigern. Wie in Fabians Choreografie stellten ostdeutsche Bürger den als natürlich dargestellten Anspruch auf kollektive agency in Frage. Letztendlich führte eine Ansammlung voneinander abhängender intentionaler Widerstandsakte der Bürger zum Sturz der DDR-Regierung und dem anschließenden Fall der Berliner Mauer. Der Gang über die Brücke, die Ost- und Westberlin miteinander verband, dient als wertvolles Beispiel für die bewusste Anwendung von choreografischen Taktiken auf eine Alltagssituation. Nach John Rouse sind theatrale NeuSchöpfungen und verkörperte Reflexionen über derartige Bewegungen insofern bedeutsam, als sie Teil »eines Kampfes um Kontrolle über die Art und Weise [sind], wie Erinnerung funktionieren wird«.30 Wer choreografiert, kann einen
30 Rouse, »Heiner Müller and the Politics of Memory«, S. 65. Rouses Artikel erscheint in der Sonderausgabe des Theatre Journal über deutsches Theater zum Thema Mauerfall. Die Artikel zeigen eine erstaunliche Bandbreite von Ansichten zur Entwicklung im deutschen Theater und Ansätze zur Historisierung der gesellschaftlichen Umwälzungen in Deutschland. Allerdings kann man zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung dieser Sonderausgabe nicht umhin, in mehreren Artikeln, die auf die dramati-
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Großteil seines Entscheidungsprozesses materialisieren, indem er sowohl aufmerksam für die innewohnende Macht seiner Position innerhalb sozialer Systeme ist, wie auch für die agency in seinen Bewegungsentscheidungen. Diese Aufmerksamkeit für Erinnerung, Choreografie und Potentialität kann wiederum die Rolle von Verkörperung bei der Schaffung von zukünftigen Gesellschaftsstrukturen beleuchten.
2009 Nach der Probe gingen Yatkin und ich in ein österreichisches Café gegenüber dem Studio. Ich erfuhr, dass sie als Tochter türkischer Eltern in Westberlin geboren worden war und innerhalb einer traditionellen türkischen Gastarbeiterkultur aufgewachsen war. Ihre eklektische Ausbildung – zu der auch türkische Volkstänze gehörten – und ihre Performance-Karriere in Westberlin hatten ihr Zugang zu extrem unterschiedlichem Vokabular verschafft, darunter deutscher moderner Tanz, Ballett, Limón, Graham und Butoh. Nachdem sie in die Vereinigten Staaten gezogen war, wurde Yatkin außerdem von Künstlern wie Donald McKayle und Cleo Parker Robinson beeinflusst, die zum afro-amerikanischen Tanz beigetragen hatten.
schen Umgestaltungen der gesellschaftlichen und kulturellen Landschaft jener Zeit reagieren, die schließlich große Teile ostdeutscher Kultur und Geschichte auslöschten, eine geteilte Nostalgie und Ungewissheit zu lesen. Seit damals ist Ostdeutschland zumeist in Form von Erinnerungen repräsentiert worden, und wurde zu anekdotischem Material degradiert. Siehe zahlreiche Veröffentlichungen, die ostdeutsche Geschichte als anekdotische Erinnerung strukturieren: Hensel, Zonenkinder; Aehnlich, Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen; Osang, Die Nachrichten; und Osang, 89. Dennoch ist es immer noch interessant, diesen Auslöschungs- und Aneignungsprozess zu studieren. Dadurch lässt sich nicht nur die unterschiedliche Funktion verstehen, die solche Erinnerungen nun in Deutschland haben, sondern auch ein besseres Verständnis von Veränderungen während solcher Prozesse gewinnen, wie dem zunehmenden Aufgehen in der Europäischen Union oder dem weiteren Fortschreiten der Globalisierung.
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Abb. 26: Bild von Nejla Y. Yatkins Choreografie an einem erhaltenen Teil der Berliner Mauer, der während der Aufführung von The Berlin Wall Project benutzt wurde.
Foto: Astrid Riecken, NY2Dance.
In The Berlin Wall Project untersucht Yatkin den Fall der Berliner Mauer unter Verwendung unterschiedlicher Medien, künstlerischer Praktiken und Arten der Auseinandersetzung mit dem Publikum. Sie hat eine abendfüllende Tanzaufführung für die Bühne choreografiert (Wallstories), einen site-specific Tanz um die wenigen erhaltenen Teile der Berliner Mauer inszeniert (Dancing with the Berlin Wall) und eine Fotografin und einen Filmemacher eingeladen, ihre Interpretationen der Auswirkung des Mauerfalls auf das heutige Deutschland Seite an Seite mit ihrer Arbeit zu präsentieren. Astrid Rieckens Fotos der Überreste der Berliner Mauer und deren Umgebung in Berlin wurden auch während der Gespräche mit den Zuschauern über ihre Erinnerungen an den Mauerfall eingesetzt. Während einer dieser Diskussionen performten die Tänzer Teile der Bühnenchoreografie, und das Publikum war aufgefordert, sowohl auf den Mauerfall als auch auf den choreografischen Ausschnitt zu reagieren. Yatkin sammelte diese Antworten auf einer Website, die die Entwicklung von The Berlin Wall Project nachzeichnet. Die letzte Aufführung der Bühnenchoreografie wurde auch live im Internet übertragen und kann dort immer noch betrachtet werden.31 Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls rekonstruierte Yatkin den Gang über die Grenze in einer site-specific-Performance, die vom Goethe Institut in New York City zu einem
31 www.ny2dance.com/projects/view/Berlin-Wall/info.
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Ort führte, an dem Rieckens Fotos und Mike Rogers Film Dancing with the Berlin Wall ausgestellt waren. Yatkin begreift den vorherrschenden Wunsch des Publikums nach Narrativen und Zusammenhang. Doch hat ihre eigene Identität als jemand, die mit unterschiedlichen, doch benachbarten Kulturen und Nationen umgehen (und darin funktionieren) musste, zu einer komplexeren Auseinandersetzung mit Narrativen geführt. Ein derartiger multidimensionaler, körperlicher, fotografischer und filmischer Vortrag über das ursprüngliche Ereignis liefert kein zusammenhängendes Narrativ, das leicht in die persönlichen Erfahrungen des Zuschauers eingepasst werden könnte. Dadurch, dass es mit narrativen Erwartungen bricht, bietet es stattdessen allen Teilnehmern der Performances (und sogar jemandem wie mir, der den ursprünglichen Gang durch die Berliner Mauer hindurch selbst unternommen hat) die Gelegenheit, ihre Erinnerung an das Ereignis zu einer eigenen Antwort zu restrukturieren. Was jedoch noch wichtiger ist: Keines der unterschiedlichen Elemente wird als eine authentische Erfahrung repräsentiert. Stattdessen ermöglicht die Repräsentationsvielfalt ein Bewusstsein für die willkürliche Beziehung zwischen den unterschiedlichen künstlerischen Repräsentationen und ihrem scheinbar authentischen Referenten: dem tatsächlichen Gang durch die Berliner Mauer. Indem sie sich mehr auf diese Multidimensionalität als auf eine Neuerzählung der tatsächlichen Ereignisse des Mauerfalls konzentriert, wird das historische Ereignis des Gehens seiner Konkretheit entkleidet. Wie Yatkin mir beschrieb, als ich sie im September 2009 interviewte, war sie weniger an einer Repräsentation des Mauerfalls interessiert, als an einem Neudenken und einer Wiederherstellung von Grenzen zwischen sozialen Strukturen oder innerhalb von Körpern. Aufbauend auf ihrer eigenen Erfahrung mit dem Problematisieren kultureller Barrieren, choreografiert Yatkin den Mauerfall als ein Initialereignis unter vielen möglichen Herausforderungen, die von Kultur und Politik ausgelöst werden: Sie untersucht die Auswirkung jeglicher Grenze auf Verkörperung und das Potential von Physikalität, Barrieren umzugestalten. Als ich, 20 Jahre nachdem ich über die Grenze zwischen Ost- und Westberlin gegangen war, ihre Choreografie sah, verstand ich schließlich, warum Yatkins und Fabians Arbeiten mich interessieren, obwohl das eigentliche Ereignis vor so vielen Jahren stattfand. Nachdem sie ihre Erfahrung des Falls der Berliner Mauer erzählt hat, fragt eine von Yatkin interviewte und aufgezeichnete Frau, die gegen Ende von Yatkins The Berlin Wall Project auf eine Leinwand hinter der Bühne projiziert wird, das Publikum nicht nur, was man von diesem Ereignis erinnern soll, sondern auch wie man sich daran erinnern soll. Die Konstruktion von Erinnerung ist schon immer ein komplexes Problem gewesen, besonders wenn es um
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Ereignisse geht, die zur radikalen Auslöschung oder Umgestaltung von sozialen Strukturen führen. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts untersuchte der Psychologe und Philosoph Pierre Janet das Bedürfnis der Menschen, derartige dramatische Ereignisse mit den anderen Ereignissen ihres Lebens zu verbinden.32 Janet setzte voraus, dass wir diese Ereignisse nicht vollkommen assimiliert haben, bis wir nicht bloß durch unsere Bewegungen abgeschlossen haben, sondern durch auch eine nach innen gerichtete Reaktion, durch die Worte, die wir an uns selbst richten, durch die Organisation des Vortrags des Ereignisse für andere und für uns selbst, [...] als eines der Kapitel in unserer persönlichen Geschichte.
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Hayden White hebt ebenfalls dieses Bedürfnis hervor, Ereignisse und Erfahrungen in ein zusammenhängendes Narrativ für uns selbst und für das Publikum zu strukturieren.34 Es stimmt, dass eine persönliche Erinnerung als politische Kraft relevanter wird, sobald sie noch einmal erzählt wird und erneut eine Wirkung erzielt. Wenn die Erinnerung als lineare Geschichte erzählt wird, mag das einer gewissen Anzahl von Leuten den Zugang ermöglichen – zumeist Leuten, die die Erinnerung teilen und in der Lage sind, sich mit dem spezifischen Narrativ zu identifizieren. Wenn sie jedoch als naturgemäß facettenreich präsentiert wird, erlaubt die Nacherzählung einer weitaus größeren Gruppe den Zugang, da sie diese Gruppe dazu anregt, die Erinnerung in Übereinstimmung mit ihren eigenen Narrativen neu zu strukturieren. Sogar Leute, die keinerlei Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer haben – so wie die Tänzer von The Berlin Wall Project – erhalten nicht nur Zugang zu der Erinnerung, sondern können sie sich zu eigen machen, indem sie sie neu strukturieren. Dieser Prozess ermöglicht es Leuten, die sich erinnern können (mir selbst, Yatkin, Fabian), sich erneut zu erinnern. Außerdem verschiebt er agency von der Person, die sich erinnert, hin zu denen, die das Ereignis zum ersten Mal erleben (die Tänzer oder andere jüngere Zuschauer). Diese komplexen Schichten von Gedenken und Neu-Erinnerung und bewusster Behauptung von agency in Fabians und Yatkins Performances haben eine zeitgenössische politische Wirkung, die über den buchstäblichen historischen Wandel in Deutschland vor über 20 Jahren hinausgeht. Und dies macht choreografische Antworten auf den Mauerfall auch heute noch relevant.
32 Caruth, Trauma, S. 170. 33 Ebd., S. 171. 34 White, The Content of the Form, S. 24.
5 Beginn einer transnationalen Geschichte des ostdeutschen Tanzes Die choreografische Arbeit von Patricio Bunster (1930 bis heute)
G LOBALE M OBILITÄTEN Am 11. August 2006 hätte ich laut Plan von London über New York nach Santiago de Chile fliegen sollen, als die britische Regierung ein Terrorvorhaben aufdeckte, bei dem gleichzeitig mehrere Passagierflugzeuge gesprengt werden sollten, die mit dem Ziel USA über den Atlantischen Ozean flogen.1 Der Flughafen Heathrow verwandelte sich in ein komplettes Chaos. Unser Gepäck wurde wiederholt durchsucht. Flüge wurden gestrichen. Passagiere saßen stundenlang fest. Schließlich bekamen wir die Erlaubnis, an Bord des Flugzeugs zu gehen, ohne irgendwelche persönlichen Besitztümer mitzunehmen. Kein Laptop, kein ipod, keine Bücher oder Stifte für einen 22stündigen Flug. Die unmittelbare Bedrohung stellte die gesamte globale Mobilität in Frage. Ich hatte ursprünglich geplant, den Flug damit zu verbringen, meine Notizen zur Vorbereitung auf mein Interview mit dem chilenischen Choreografen Patricio Bunster noch einmal durchzusehen. Bunster hatte oftmals derartige internationale Reisen unternommen, manche von ihnen freiwillig als internationaler Tanzkünstler, andere unfreiwillig als kommunistischer Emigrant, der vor Inhaftierung, Folter und möglicher Hinrichtung floh. Die terroristische Bedrohung
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Dieses Vorhaben wurde in der englischsprachigen Welt als »2006 transatlantic aircraft plot« bekannt, bei dem Terroristen versuchten, flüssige Explosivstoffe an Bord von mindestens zehn Flugzeugen unterschiedlicher Fluglinien zur Detonation zu bringen. Das Vorhaben wurde von der britischen Polizei aufgedeckt. Es lieferte den Grund für die nach wie vor weltweit praktizierten Sicherheitsmaßnahmen, die die Mitnahme von Flüssigkeiten einschränken.
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zwang mich, mich selbst in Beziehung zu diesen unterschiedlichen Arten von Migration zu verorten: den freiwilligen und unfreiwilligen Bewegungen über nationale Grenzen hinweg, der Anpassung an extrem unterschiedliche Kulturen, der Veränderung der eigenen Kultur durch den Anpassungsprozess, der Tatsache, manchmal zurück »nach Hause« zu kommen, obwohl man sich vielleicht niemals wieder irgendwo richtig zu Hause fühlt. Mein Interview mit Bunster sollte sein letztes sein. Nur fünf Wochen, nachdem ich ihn in seiner Wohnung in der Nähe des Espiral Dance Centers getroffen hatte, das er und Joan Turner 1985 nach seiner Rückkehr aus einem 12 Jahre währenden Exil in der DDR in Santiago gegründet hatten, verstarb er. Ausgebildet von Kurt Jooss und Sigurd Leeder, war Bunster einer der führenden Choreografen Chiles gewesen. 1973, nach dem Pinochet-Putsch, fand er in Ostdeutschland politisches Asyl. Er unterrichtete an der Palucca Schule und choreografierte dort erfolgreich mehrere Arbeiten. Um 1985 herum, als es Bunster schließlich erlaubt war, nach Chile zurückzukehren, hatte er in der DDR eine neue Generation von Tänzern und Choreografen ausgebildet und sie wieder mit einem verlorenen Teil der Ausdruckstanz-Tradition vertraut gemacht.
S ANTIAGO , 12. A UGUST 2006 Ich sitze in einem Café und trinke Café con leche aus einer Tasse, die bei jedem Schluck den Duft von westlichem Spülmittel verströmt. Ich versuche, mich auf meinen Geschmackssinn zu konzentrieren und den Geruchssinn abzuschalten, um die Diskrepanz zwischen dem vertrauten westlichen Geruch und der ungewohnten chilenischen Caféatmosphäre mit ihren fremdländischen Möbeln und auf spannende Weise unterschiedlichen Frühstücksangebot auszublenden. Während ich auf meinem iPod französische Chansons höre, in Santiago Kaffee trinke, westliches Spülmittel rieche und meine eigene Reise über nationale Grenzen hinweg mit Bunsters Immigration vergleiche, bin ich beeindruckt von der multinationalen Erfahrung dieses Tages. Gerade hatte ich den ostdeutschen Tänzer Raymond Hilbert angerufen, durch dessen Vermittlung es mir gelungen war, mit Patricio Bunster in Kontakt zu treten. Bunster wurde von der DDR-Regierung als ein Beispiel für den transnationalen künstlerischen Ausdruck des gemeinsamen internationalen Kampfes der Arbeiterklasse benutzt. In seinem Geburtsland Chile half er jedoch dabei, eine moderne Tanzausbildung zu etablieren und leitete auf der Grundlage seines Verständnisses von Ausdruckstanz sowohl die nationale Tanzkompanie als auch die wichtigste Tanzabteilung der Universität von Santiago.
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Heute Abend werde ich mir Bunsters Choreografie ansehen. Ich habe seine Arbeit noch nie live gesehen; daher bin ich verständlicherweise gespannt. Ich freue mich besonders, weil seine Kompanie ältere Choreografien zeigen wird. Ich interessiere mich vor allem für Bunsters ältere Arbeiten, weil ich hoffe, eine sichtbare Äußerung seines früheren Versuchs zu sehen, ein pan-amerikanisches Bewegungsvokabular zu erschaffen, das nationale Definitionen transzendieren, doch gleichzeitig Spuren regionalen Ausdrucks beibehalten sollte. Ende der 1960er Jahre schrieb Bunster ein Manifest, das dieses Vorhaben skizzierte. Die Bewegung sollte auf bestehendem Vokabular aufbauen, hauptsächlich auf Folklore und modernem Tanz, doch schloss er auch eine Untersuchung von Ballett nicht aus. Bunster ermächtigt diese Verschmelzung von lokal abgegrenztem Vokabular mit globalisierten Bewegungen – wie modernes Tanzvokabular, das vom deutschen modernen Tanz und dem Ballett abgeleitet wurde – mit dem Potential, national definierte Bewegung neu zu gestalten. Dieses utopische Verständnis von Bewegung als einer globalen Vereinigerin und Verwandlerin erinnert an die Vision des frühen modernen Tanzes, die Welt ließe sich durch körperliche Bewusstheit und choreografierte Emanzipation verändern. Ich möchte die Spuren von Bunsters Emigration und Heimkehr verfolgen. Dies soll es mir ermöglichen, zu verstehen, wie Bunsters Utopie-Vorstellung durch ein komplexes Netzwerk der Diaspora von Deutschland über Großbritannien nach Chile migrierte, dann zurück nach Deutschland und schließlich wieder nach Chile. Aus diesem Grund sitze ich in einem Café, trinke aus einer duftenden Tasse und sinne über mein Vermögen nach, mich – mehr oder weniger – frei durch die Welt zu bewegen.
D IE A USDRUCKSTANZ -D IASPORA In den 1980er Jahren hatte ich mit der Übungsfolge trainiert, die Bunster mit Hilfe von Susanne Borchers entwickelt hatte, als er an der Palucca Schule unterrichtete. Die Folge enthielt zuerst eine Stangen- und dann eine Zentrumssequenz. Sie zeichnete sich durch Bewegungsfolgen auf der Basis von Releasetechnik aus, die Paluccas Aufmerksamkeit für Linien, Sprünge und Flow mit einem von Jooss-Leeder inspirierten Schwerpunkt auf Dynamik, Raum und dem Wechsel von »stabilen« und »instabilen« Bewegungsqualitäten verbanden. Die Übung diente der Raumwahrnehmung und achtete genau auf die potentiellen Ausrichtungen jedes einzelnen Körperteils. Sie schulte Dynamik und Bewegungsqualitäten, während man sich durch Sequenzen hindurchbewegte, die sich anfühlten, als seien sie Teile von Choreografien. Es war eine anspruchsvolle Übung, die trotz-
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dem sehr großen Spaß machte; es fühlte sich stets wie Tanzen an und nicht, als zwänge man den Körper in ein rigides System. Stattdessen war es, als würde man die Übung in Abstimmung mit den Fähigkeiten des Körpers entwickeln. Kurz gesagt, wir alle liebten sie, weil sie uns ein verbessertes Verständnis für unsere Körper im Raum und für die Initiierung von Bewegung ermöglichte. Es war klar, dass jemand diese Übung entwickelt haben musste, der nicht nur etwas von Tanz verstand sondern auch selbst getanzt hatte und Körper in jeglicher Art von Bewegungssituation beobachtet und theoretisiert hatte. Damals, als ich diese Übung trainierte, hatte Bunster die DDR bereits verlassen und war in unserer Tanzgemeinschaft zu einer Legende geworden. Seine Kollegen priesen seine Pädagogik, sein systematisches Denken und seinen Einsatz für gesellschaftliche Veränderung durch Tanz. Eva Winkler, die an der Palucca Schule unterrichtete, erinnerte sich daran, wie sie und der Pianist Peter Jarchow 1975 kurz davor standen, endlich eine systematische Dokumentation von Paluccas Lehre zu veröffentlichen, als Bunster sich der Schule anschloss und »das eben Gefundene in Frage stellte«2. Später fügte sie hinzu, dass Bunster durch seine Arbeit an der Palucca Schule, in den Choreografien für seine Schüler, vor allem aber in seiner Arbeit mit Susanne Borchers und seiner Jungensklasse, das Fundament für ein umfassenderes Verständnis der tänzerischen Möglichkeiten des Modernen Tanzes legte. Neue Einsichten stellten sich ein und vor allem die jüngere Generation lernte dazu.
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Kühl, Patricio Bunster, S. 53; Winkler, Der moderne Tanz nach 1945, S. 21.
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Winkler, »Ausdruckstanz in der DDR«, S. 57.
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Abb. 27: Patricio Bunster im Gespräch mit Gret Palucca an der Palucca Schule, Dresden 1982.
Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek. Foto: Erich Höhne.
Seine hauptsächlich männlichen Studenten traten als eine neue Generation von Choreografen und Tänzern auf, die sich eindeutig von allem unterschied, was wir bis dahin in der DDR gesehen hatten. Sie schienen in der Bewegung zu explodieren, indem sie aus einem gut entwickelten und bewusst eingesetzten Zentrum heraus Zugang zu einer Kraft für Sprünge und plötzliche Drehungen fanden. Sie waren überlegter in ihrem Vokabular, in dessen Verweisen und in seiner Ausführung. Raum schien etwas zu sein, das es zu formen galt – ein Partner in Tanz und Choreografie. Wie viele andere professionelle Tanzschaffende in der DDR war ich fasziniert von diesen Studenten und wollte mehr über Bunster und die Biografie erfahren, der ihn nach Ostdeutschland geführt hatte. Ich interessierte mich besonders für seine internationale Karriere – ein faszinierendes Beispiel für die Migration von Ausdruckstanz-Vokabular – und für sein lebenslanges Beharren auf der politischen Funktion von Choreografie. Ende der 1930er Jahre, während er sein Architekturstudium an der Universität von Chile abschloss, hatte Bunster Kurt Jooss’ Kompanie bei einem Auftritt auf ihrer Lateinamerikatournee gesehen. Davon inspiriert begann er zu tanzen und trainierte mit Ernst Uthoff, Lola Botka und Rudolf Pescht, allesamt ehemalige Mitglieder von Jooss‘ Kompanie, denen man in Chile Arbeit angeboten hat-
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te, nachdem sie dort nach einem kurzen Engagement als Lehrer gestrandet waren. Diese Tänzer konnten Chile nicht verlassen, da seit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kein Schiff mehr Deutsche an Bord nahm. Jooss ’ Tänzer gründeten eine Tanzabteilung an der Universität von Chile, wo sie ein Tanzensemble aufbauten, das später zum Ballet Nacional Chileno wurde. Bunster tanzte in Uthoffs Produktionen für das Tanzensemble und in modernen Versionen von Coppélia und Don Juan. Kurt Jooss selbst wurde von Uthoff von 1947 bis 1949 eingeladen, in Santiago zu unterrichten und zu choreografieren. Bunster tanzte größere Rollen in Jooss’ wichtigsten Werken Der grüne Tisch, Großstadt, Pavane, Ball in Alt-Wien und Jugend, das Jooss eigens für das Ensemble geschaffen hatte. Auch Sigurd Leeder unterrichtete von 1959 bis 1964 in Santiago. Jooss’ und Leeders Unterricht führte einige der Untersuchungen ihres Mentors Rudolf von Laban über Raum und Bewegungsqualität weiter. Anders als die Anhänger von Wigmans absoluter Tanzphilosophie, die Ballett ablehnte, nahmen Jooss und Leeder die Form auf und verbanden Charakteristika aus modernem Tanz und Ballett zu einem dramatischen Bewegungsvokabular. Jooss zog gegenständliche choreografische Strukturen mit klaren Verweisen auf zumeist politische und moralische Fragen vor. Bekanntlich hatten sich Jooss und Leeder geweigert, ihre Kompanie von jüdischen Tänzern zu »säubern« und mit dem Naziregime zu kollaborieren. Daher musste Jooss 1933 von einem Tag auf den anderen emigrieren. Sowohl Jooss als auch Leeder interessierten sich weniger für ein spezifisches Vokabular als für dessen dramatische Qualität. Sie begründeten mehrere Schulen (oder beeinflussten bestehende Institutionen), deren berühmteste die Folkwang Schule in Essen, Deutschland und Dartington Hall in Devon, Großbritannien, waren. Der Lehrplan an ihren Schulen enthielt modernen Tanz, Ballett und Folkloretechniken, Eukinetik (eine Untersuchung von Dynamiken und Ausdruck), Choreutik (die Beziehungen der Tänzer zu dem sie unmittelbar umgebenden Raum), Improvisation, Komposition, rhythmische Analyse, Musik, Tanzgeschichte und labansche Kinetografie. Bunster baute diesen Lehrplan in seinem eigenen Unterricht aus, indem er die Schwerpunkte Alltagsvokabular und lateinamerikanische Folklore hinzufügte. In seinen Choreografien übernahm Bunster Jooss’ Konzentration auf die Beziehungen zwischen einer Gruppe und ihrem Anführer. Seine akademische Ausbildung als Architekt entzündete eine lebenslange Aufmerksamkeit für räumliche Konfigurationen. Nach Jooss’ Rückkehr nach Essen im Jahr 1949 erhielt Bunster 1951 das Angebot, sich dessen Kompanie in Westdeutschland anzuschließen. 1953 wurde die Gruppe jedoch während einer Tournee in England unerwartet aufgelöst, da die Stadt Essen die Finanzierung gestrichen hatte. Bunster beschloss, in Europa zu bleiben und bei Leeder in London zu studieren, was zu einer Vertiefung sei-
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nes Verständnisses für Jooss’ und Leeders Bewegungssystem und Labans Theorien führte. 1954 kehrte Bunster nach Chile zurück und bat schließlich Leeder, einen neuen Lehrplan für die Tanzabteilung der Universität zu entwickeln, der das Jooss-Leeder-System noch stärker betonte und somit den Einfluss des deutschen Ausdruckstanzes in Chile vergrößerte. Damals diente die Abteilung sowohl als Konservatorium für Tänzer als auch als interdisziplinäres Institut für Forschung und für die Ausbildung von Choreografen und Pädagogen. Die Forschung des Instituts baute auf Jooss’ und Leeders System zur Untersuchung von menschlicher Bewegung auf, das nicht von einem einzigen Stil bestimmt wurde, sondern danach strebte, für jede Choreografie das am besten entsprechende Vokabular zu finden. Zusätzlich zu deutschem Ausdruckstanz und chilenischen Folklorebewegungen war damit ein Studium von Alltags- und Arbeitsvokabular, Ballett, afro-brasilianischem Tanz und Graham verbunden. In einem Interview von 1985 erklärte Bunster die Erweiterung des Lehrplans unter seiner und Leeders Führung: Ich wollte aber, dass sich alle Bewegungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers entwickeln. Das ist notwendig, wenn wir davon ausgehen, dass die Thematik des Tanzes im Leben begründet ist, das eben unendlich reicher ist als jede beliebige Tendenz oder jeder beliebige Stil. Auch die Körperbewegungen sind bedeutend vielfältiger als die einer einzelnen – ganz gleich, ob klassischer oder moderner – Stilrichtung.
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Diese Aussage ist bezeichnend für Bunsters Philosophie. Er verstand Tanz nicht nur als ein Vokabular, das aus allen Aspekten des Lebens schöpfte, sondern auch als eine Kunstform, die in der Lage sein sollte, das Leben darzustellen und zu kommentieren. Dieser Glaube veranlasste Bunster, den Schwerpunkt des Chilenischen Nationalballetts auf indigene Themen zu verschieben. Als Bunster künstlerischer Leiter des Ballet Nacional Chileno wurde, führte die Kompanie zunächst überwiegend Werke ihres Direktors Uthoff und von Jooss auf. Obwohl sie keine lateinamerikanisch beeinflusste Choreografie im Repertoire hatte, tourte sie ausgiebig über den gesamten Kontinent und wurde überall gefeiert. Bunsters erste Choreografie für die Kompanie im Jahr 1956 spiegelte sein lateinamerikanisches Erbe noch nicht wider. Beeinflusst von der Lyrik des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda, begann er jedoch bald, chilenische und lateinamerikanische Folklorebewegungen und -traditionen zu erforschen. Bunsters Choreografie Calaucán (Rebellische Knospe) spiegelte seine Suche
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Tanztheater International, S. 64.
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nach einer lateinamerikanischen Identität wider.5 Aufbauend auf Nerudas Canto General stellte sie den Kampf der indigenen Völker gegen die spanischen Conquistadoren dar und verwendete dabei Symboliken und Bewegungen aus den Kulturen der Azteken, Mayas und Inkas. Bunster setzte seine Suche nach einem lateinamerikanischen – und spezifisch chilenischen – kulturellen Ausdruck durch Tanz in all seinen folgenden Arbeiten fort. In Catrala desciende (Catralas Untergang) aus dem Jahr 1969 porträtierte er zum Beispiel eine legendäre Frauengestalt aus dem 17. Jahrhundert, die angeblich 70 Männer aus allen sozialen Schichten mit ihren bloßen Händen ermordete, nachdem sie sie sexuell missbraucht hatte. Bunster abstrahierte die Geschichte zu einem hoch symbolischen und visuell packenden Tanz einer Frau mit drei Männern – ein Priester, ein Sklave und ein Adliger – um über die Quellen von Grausamkeit in allen Schichten und in der chilenischen Oligarchie zu reflektieren. Das Stück verwendete ausschließlich weiblichen Acapella-Gesang, komponiert von Luciano Berio, der dem Stück gemeinsam mit dem überraschend modernen Bewegungsvokabular etwas sehr Zeitgenössisches verlieh.6 Die traditionelle Geschichte erlaubte auch einem Publikum, das mit Theaterkonventionen nicht vertraut war, Zugang zu der Choreografie. Dieser Punkt war Bunster sehr wichtig. Mit diesen und anderen Choreografien tourte das Ballet Nacional Chileno durch ganz Chile, sogar durch entlegene ländliche Provinzen. Stets gab die Kompanie zu Beginn des Abends eine Einführung, damit das gesamte Publikum die Tänze verstehen konnte. Nach den Aufführungen vor bis zu zweitausend Zuschauern auf provisorischen Bühnen oder unter freiem Himmel wurden auch Diskussionen durchgeführt. Diese Präsentationsstruktur wurde zum Muster für Bunsters Arbeit mit der neu gegründeten Tanzkompanie der Unidad Popular, der Koalition politischer Parteien und Gruppen, die 1970 mithalf, den Sozialisten Salvador Allende zum Präsidenten zu wählen. Die von Bunsters ehemaliger Ehefrau Joan Turner geleitete Kompanie setzte Tanz buchstäblich als Waffe im Klassenkampf ein. Gemeinsam mit dem kommunistischen Folksänger Víctor Jara schuf Bunster im Vorfeld von Allendes Wahl und während dessen dreijähriger Präsidentschaft Massenchoreografien und Theateraufführungen im Nationalstadion in Santiago. Wegen Bunsters früherer Begegnungen mit Massenchören in der AusdruckstanzTradition war er in der Lage, Werke zu schaffen, an denen bis zu 100.000 Akteure beteiligt waren, darunter Bauarbeiter, Bergleute, Bauern, Studenten, Kinder und die Bewohner der Slums von Santiago. Bunster und Jara inszenierten sogar
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Ebd., S. 73; Kant, »Dance in Exile«, S. 41.
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Dies traf auch 40 Jahre später, im Jahr 2006, noch zu, als ich das Stück sah.
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die nationalen Willkommensfestlichkeiten mit 70.000 Teilnehmern zu Ehren von Pablo Nerudas Rückkehr nach Chile, nachdem der Autor 1971 den Nobelpreis gewonnen hatte. Interessanterweise schlugen Bunster und Jara der Allende-Regierung vor, Tanz-, Theater-, Musik- und Literatur-Gruppen aufzubauen, um kulturelle Aktivitäten in Fabriken, Schulen und Dörfern anzuregen und »die Kreativität unseres Volkes beständig zu entwickeln und zu fördern«7. Derartige Strukturen hätten das Modell der Amateurkompanien nachgeahmt, die es in sozialistischen Ländern, darunter auch Ostdeutschland, gab. Der Pinochet-Putsch und die anschließende Ermordung Jaras und Bunsters Emigration in die DDR unterbrachen diese Pläne vorzeitig.
S ANTIAGO , 15. A UGUST 2006 Bunster musste auf der Couch liegen, als ich ihn gestern besuchte. Er sah geschwächt aus, war jedoch begierig, mit mir zu sprechen. Ich sprach ihn zunächst auf Englisch an, da ich annahm, dass ihm dies leichter fiele als Deutsch. Ich hatte gelesen, dass er den Großteil der deutschen Sprachkurse für chilenische Immigranten in der DDR verpasst hatte, da er sofort damit begonnen hatte, an einer Aufführung zu arbeiten. Ich versuchte, das Eis zu brechen, indem ich ihm erzählte, wie sehr ich es genossen hatte, seine Arbeit aus unterschiedlichen Schaffensperioden zu sehen, die Choreografien aus 50 Jahren seines Lebens umspannten. Da ich seinen starken Glauben an den kommunikativen Wert von Tanz und sein Vermögen, über politische Situationen zu reflektieren und sie zu beeinflussen, kannte, erklärte ich, dass ich von der Überzeugung der Tänzer beeindruckt war. Diese jungen Tänzer führten seine Arbeit mit einem klaren Verständnis für den Zweck eines jeden Schrittes auf und waren auch in der Lage, diesen Zweck mitzuteilen. Ich fragte ihn, wie er Tänzern seine choreografischen Absichten vermittelte, die die Zeit oder die Situation nicht erlebt hatten, die seine Choreografie hervorgebracht hatten und selbst mit vollkommen anderen Problemen beschäftigt waren. Bunster lächelte und sagte: »Ich erzähle Geschichten.« In der Tat hatte er genügend Geschichten, um den gesamten Abend auszufüllen. Es wurde klar, dass Bunster immer noch in einer Zeit politischer Kämpfe lebte. Er berichtete mir von den unmittelbaren Problemen, denen sich Chile trotz des scheinbar normalen Lebens auf den Straßen von Santiago und des vertrauten westlichen Konsumverhaltens, das ich in den vergangenen Tagen in der Haupt-
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Kühl, Patricio Bunster, S. 18.
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stadt kennengelernt hatte, nach wie vor gegenüber sah. Die politische Vergangenheit ließ das Land immer noch nicht los. Bunster redete über die Zeit seiner Rückkehr nach Chile im Jahr 1985. Seine Freunde waren zutiefst besorgt um ihn. Sie holten ihn alle gemeinsam am Flughafen ab, um dafür zu sorgen, dass er sicher ankam. Obwohl Bunster wieder in das Land zurückkehren durfte, wurde er nicht von der Tanzabteilung der Universität willkommen geheißen und nicht dazu eingeladen, zu unterrichten. Schließlich bat ihn das Ballet Nacional Chileno, eine neue Choreografie aufzuführen. Allerdings stieß seine Arbeit bei der Leitung des Balletts auf großen Widerstand. Es kam sogar zu Sabotage (eine Beleuchtungsbrücke stürzte bei der Premiere auf die Bühne). Die Choreografie war ein großer Erfolg, doch Bunster beschloss demonstrativ, nicht zum Schlussapplaus auf die Bühne zu kommen, um gegen die Sabotage zu protestieren und auf die immer noch gewalttätige politische Situation hinzuweisen. Zur gleichen Zeit wurde auf das Tanzstudio und die Schule, die er und Joan Turner gemeinsam leiteten, ein Brandanschlag verübt.8 Nur zwei Tage, nachdem er den Choreografen am Flughafen willkommen geheißen hatte, war ein mit Bunster befreundeter, politisch aktiver Schauspieler erschossen worden. Unter diesen Umständen erschien es unangebracht, meine vorbereiteten Fragen über die nationale Spezifik von Tanzvokabular und Bunsters Herangehensweise an Unterricht und choreografisches Arbeiten zu stellen. Es war jedoch klar, dass Bunster diese Geschichten über die politische Situation nur erzählte, damit ich die Notwendigkeit begriff, so zu choreografieren, wie er es tat. Er musste Tänze über diese unmittelbare Situation machen, die es ihm erlaubten, seinen Standpunkt mitzuteilen. Trotz des zugrundeliegenden politischen Diskurses kehrte er im Gespräch stets begierig zum Tanz zurück. Seine Ansichten erschienen überaus kosmopolitisch und durchdrungen von einer lebenslangen Leidenschaft für das revolutionäre und emanzipatorische Potential des Tanzes. Ich schreibe dies, während ich im Café Colonia (Spanisch für Café Köln) sitze. Auf dem Untersetzer steht »Tradicion y Calidad Alemana« sowie der Wunsch »Guten Appetit!« Auf dem Weg hierher habe ich ein Restaurant namens »Brüder« fotografiert. Stereotypen und Bruchstücke deutscher Kultur sind überall in Santiago sichtbar. Dies versetzt mich als Besucher auf den Spuren der Diaspora in eine eigenartige Position. Was weiß ich über diese deutschen Immigranten? Sie haben Spuren hinterlassen, doch kenne ich ihre Beziehung zu Bunsters Arbeit nicht. Ich verstehe jetzt, dass seine Lehrer Uthoff und sogar Jooss keineswegs in eine vollkommen fremde Umgebung kamen. Die chileni-
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Joan Turner, die mit Bunster verheiratet war, heiratete später Víctor Jara und nahm seinen Namen an. Trotzdem nennen die Werbetexte von Espiral sie Joan Turner.
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sche Kultur war von deutschen Immigranten und deutscher Kultur beeinflusst worden. Allerdings bewahrten diese Immigranten eine äußerst spezifische Version von deutscher Kultur. Bunsters Arbeit und sein Verständnis von Choreografie waren vom kulturellen Erbe seiner Mentoren geprägt worden, gleichzeitig war er jedoch auch Chilene. Wie wirkte sich seine Kultur auf seine Arbeit aus? Der Eröffnungstanz von Antología II war eine Choreografie, die Bunster im Jahr 2005 geschaffen hatte. Wie er mir erklärte, sollte sie wie ein inszenierter Volkstanz aussehen. Und das tat sie auch. Zu Musik von Víctor Jara enthielt sie Sprünge, Armposen, Formationen und Geschlechtsbeziehungen, die an stereotypes Folklorematerial erinnerten. Ich war nicht in der Lage, die genaue Herkunft des Materials zu benennen, doch Bunster versicherte mir, dass er unterschiedliches chilenisches und lateinamerikanisches Material verwendet hatte. Er wollte Jaras Musik mit einem Bekenntnis zur chilenischen Folkloretradition verbinden. In seinem Manifest von 1961, »Perspectivas de un ballet americano«, machte Bunster auf eine Auslöschung lateinamerikanischer Identität aufmerksam, die daraus resultierte, dass »die Diktate der großen Kulturzentren dienstbeflissen angenommen werden«, und forderte eine Rückgewinnung indigener kultureller Identitäten.9 Er definierte diesen Prozess als einen »Kampf für unsere Reichtümer« und wies der Choreografie eine wichtige Rolle in diesem Unternehmen zu. Für Bunster war Choreografie nicht bloß Erfindung von Bewegungsvokabular und dessen Anordnung in Raum und Zeit. Er glaubte, dass sie im Dienste des gesellschaftlichen Fortschritts stehen sollte und somit einen potentiellen Weg in eine bessere Zukunft bieten müsste. Um dies zu erreichen, sollten Tanzvokabular und Techniken auf ihren Wert und ihre Eignung zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft untersucht werden. Vor allem war er überzeugt, die Quelle des choreografischen Materials sei im Studium von zeitgenössischer Alltagsbewegung zu suchen. Sowohl von Labans als auch von Jooss’ und Leeders ’ Ansätzen beeinflusst, trat Bunster für die Beobachtung und Verwendung von Bewegung ein, die in manueller Arbeit, in der Freizeit, täglichen Ritualen, in der Natur und in architektonischen Strukturen gefunden wurde. Bunsters Meinung nach trugen all diese Quellen Spuren von zukünftigen Choreografien, die eine neue nationenübergreifende (latein-)amerikanische und utopische Identität ausdrücken könnten. Seiner Ansicht nach war der Choreograf in der Lage, diese Elemente zu einer machtvollen Bewegung zu strukturieren und die Bedeutung der Bewegung und ihr revolutionäres Potential zu demonstrieren und somit den Weg hin zu einer besseren Gesellschaft aufzuzeigen.
9
Kühl, Patricio Bunster, S. 33.
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Der Philosoph Ernst Bloch, einer der führenden Utopie-Theoretiker, sah die Gegenwart ebenfalls als Hoffnungsträger.10 Während Marx Klassenbewusstsein als die treibende Kraft definiert, die zu einem klassenlosen Gesellschaftssystem führt, sah Bloch Potential und Hoffnung in jeglicher Erscheinung in der Gegenwart. Durch seine philosophische Bewertung des Seins als einem Stadium des »Noch-Nicht-Gewordenen« schlug er eine Neubetrachtung künstlerischer Produktion im Dienste des gesellschaftlichen Fortschritts vor. Schließlich trage jegliche Produktion bereits die Möglichkeit einer Erfüllung der Zukunft in sich. Sowohl Bloch als auch Bunster sahen in allen Erscheinungsformen der Gegenwart ein Potential für Veränderung und Entwicklung und glaubten somit an die Möglichkeit von gesellschaftlichem Fortschritt außerhalb eines marxistischen Verständnisses von Klassenkampf als treibender Kraft für gesellschaftliche Veränderung. Obwohl sie den zukünftigen gesellschaftlichen Fortschritt bereits in Erscheinungen der Gegenwart ausmachten, betonten beide die Notwendigkeit von Neuentwicklung und Neustrukturierung. Bloch sah das Potential der Gegenwart nicht als einfach in der Zukunft erfüllt an, sondern betrachtete die Hoffnung in der Gegenwart als treibende Kraft, die die gegenwärtigen Gesellschaftssysteme radikal zu einem besseren jedoch überraschend anderen Morgen umgestalten würde. In ähnlicher Weise sprach sich Bunster in seinem Manifest gegen die einfache Verwendung von bestehendem Bewegungsvokabular und bestehenden Techniken aus und forderte stattdessen die Enthüllung der Essenz der Bewegung, die neue choreografische Entscheidungen erforderte und erlaubte. Auch Bloch wies der Kunst einen überaus wichtigen Platz bei der Neugestaltung der Gesellschaft zu, da Kunst (Tanz und Choreografie mit einbezogen) gleichermaßen durch ihren Inhalt und ihre Form kommunizierte. Dieses Verständnis der Funktion von Choreografie ist natürlich nicht neu. Sowohl François Delsarte als auch Rudolf Laban hatten versucht, körperliches Potential in Kunst und Alltagsleben neu zu entdecken. Jooss und Leeder entwickelten ein Trainingssystem, das den Körper des Tänzers auf eine solch komplexe Aufgabe vorbreitete. Sie schätzten das expressive Potential von Tanz und lehnten eine streng formale Herangehensweise ab. Für Bunster lag in der gesamten Gesellschaft ein Potential, das zu Tage gefördert, choreografiert und dem Publikum mitgeteilt werden konnte – wenn der Choreograf gewillt, talentiert und ausreichend ausgebildet war. Seine Choreografien, die die Konzentration des Ausdruckstanzes auf Raum und Gruppendynamiken übernahmen und lateinamerikanische Folklore- und Alltagsbewegungen des Volkes miteinbezogen, gingen für ihn einen ersten Schritt in dieser Richtung.
10 Bloch, Das Prinzip Hoffnung.
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1973 unterbrach der faschistische Putsch (unter General Augusto Pinochet) gegen Allendes Unidad Popular-Regierung Bunsters Unternehmungen. Das Nationalstadion, in dem Bunsters Massenchöre aufgetreten waren, sollte zu einem Konzentrationslager werden, in dem Tausende von Menschen, die im Verdacht standen, Widerstand gegen die Junta zu leisten und mit den Kommunisten zu sympathisieren, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden. Bunster, der das Pinochet-Regime am Tag des Putsches in der Universität scharf verurteilt hatte, war gezwungen, noch am selben Abend ins Exil zu gehen. Nach mehreren kürzeren Aufenthalten in anderen Ländern fanden Bunster und zahlreiche andere Anhänger Allendes Zuflucht in der DDR, die dauerhafte Beziehungen zur chilenischen Linken aufbauen wollte. Abb. 28: Patricio Bunster mit Schülerinnen der Palucca Schule bei den Proben zu Trotz Alledem – Venceremos, Dresden 1975.
Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Foto: Erich Höhne.
Bunster erhielt nicht sofort Zugang zur ostdeutschen Tanzszene. Zunächst arbeitete er für Theaterproduktionen in seiner neuen »Heimatstadt« Rostock und in anderen Städten. Dies führte schließlich 1975 zu einer Einladung von der Palucca Schule, für ihre Schüler zu choreografieren. Wenig später begann Bunster dort zu unterrichten. Es ist nicht vollkommen klar, wie viel Druck auf Palucca ausgeübt worden war, um Bunster an ihrer Schule zu akzeptieren und mit ihm eine zweite, stärker analytische und politische Interpretation des Ausdruckstan-
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zes zu gestatten. Bunster, dem es zu Beginn seiner Anstellung nur erlaubt war, männliche Schüler zu unterrichten, führte seine eigene Interpretation der Ausdruckstanztradition ein, geprägt durch Jooss, Leeder, die chilenische Folklore und seinen Glauben an das transformative Potential von Tanz. Diese machtvolle Kombination von Ästhetik und Politik – die sich erheblich von Paluccas eigener Herangehensweise an den Ausdruckstanz unterschied – sollte eine neue Generation von ostdeutschen Tänzern und Choreografen prägen. Die berühmtesten von ihnen waren der Choreograf Stephan Thoss und der Tänzer und Pädagoge Raymond Hilbert. Wie sich Susanne Borchers erinnert, hing Bunsters Pädagogik eng mit seiner choreografischen Aufführungspraxis zusammen. Im Gegensatz zu Palucca, die danach strebte, einen expressiven Tänzer hervorzubringen, schätzte er Tänzer, die ein Thema so objektiv wie möglich darstellen konnten.11
Abb. 29: Patricio Bunster beim Unterricht mit männlichen Schülern an der Palucca Schule, Dresden, 1982.
Quelle: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek. Foto: Erich Höhne.
11 Borchers, »In Bewegung denken«, S. 135.
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In der DDR choreografierte Bunster Werke wie Trotz Alledem – Venceremos (1975), Porque tenemos sólo una vida – Denn wir haben nur ein Leben (1984) und Leuchten wird mein Schatten (1979), von denen einige an der Komischen Oper Berlin präsentiert wurden.12 All diese Choreografien zeigten sein Markenzeichen, die Kombination von Ausdruckstanz und chilenischer Folklore und vermittelten eine didaktische politische Botschaft.13 Durch die Aufmerksamkeit für Raum und Dynamik demonstrierten sie außerdem sein choreografisches Vermögen. Trotz seines Erfolges und seines zunehmenden Einflusses auf die Tanzszene der DDR fühlte sich Bunster dort niemals heimisch, und sein Englisch blieb immer besser als sein Deutsch. 1985 konnte Bunster endlich nach Chile zurückkehren. Zusammen mit Joan Turner gründete er Espiral, das 1997 Teil der Universidad Academia de Humaniso Cristiano wurde, einer progressiven gemeinnützigen Privatuniversität, die in Reaktion auf das Pinochet-Regime gegründet worden war. Wie Bunster 1987 in einem Interview erklärte, reichte der Status der Studenten vom Amateur bis zum Profitänzer. Nur rund 40 Prozent von ihnen waren in der Lage, Studiengebühren zu bezahlen, während der Rest umsonst trainierte. Die Studenten traten auch in Choreografien auf, die bei lokalen Festen gezeigt wurden. Die Kompanie der Schule, die ebenfalls Espiral hieß, zeigte ihre Produktionen in Slums und bei politischen Großveranstaltungen vor bis zu 40.000 Zuschauern. Die Gruppe arbeitete mit Komitees zugunsten der verschwundenen und ermordeten Chilenen zusammen. Mehrere Anschläge wurden auf die Schule verübt, und die Lehrer, darunter auch Bunster, erhielten Morddrohungen.14
S ANTIAGO , 16. A UGUST 2006 Es war kalt im Studio, als ich heute morgen ankam, um mir eine Klasse von Raymond Hilbert anzusehen. Den Schülern schien es nichts auszumachen. Das
12 Interessanterweise war Trotz alledem! auch der Name von Erwin Piscators Revue aus dem Jahr 1925. 13 Als ich im Jahr 2005 zusammen mit Susan Foster im Leipziger Tanzarchiv Porque tenemos sólo una vida - Denn wir haben nur ein Leben ansah, machte sie Genderkonflikte und Ausdruckstanzvokabular aus, und alles was ich sah, waren Klassenkonflikt und chilenische Folklore. Ich erwähne diese Diskrepanz in unserer Analyse, um auf die Subjektivität jeglicher Analyse – innerhalb von Referenzsystemen und über sie hinaus – hinzuweisen. 14 Tanztheater International, S. 71.
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Aufwärmtraining hatte bereits begonnen. Raymond erzählte mir, dass er eine Jooss-Leeder-Klasse unterrichten würde, und dass die Abläufe weniger eine Technik als ein System seinen, das auf Labans Verständnis von Choreutik und Eukinetik aufbaute. Das Aufwärmtraining und die darauffolgende Klasse bestätigten dies. Alle Übungen legten den Schwerpunkt auf Gegenüberstellungen von unterschiedlichen Bewegungselementen. Vom Zentrum her initiierte Bewegung führte zu peripherem Bewegungsvokabular. Gleichzeitig gab es ein stetiges Hinund Her zwischen einem stabilen vertikalen Zustand und einem instabilen Zustand, der die Vertikale verließ. Die Dynamiken veränderten sich ständig. Ein peripherer gebundener Schwung in der Diagonale mit seitlich nach oben gestreckten Armen kontrahierte sich plötzlich an der Vertikalen entlang zu einer zentral initiierten Hocke. Als die Studenten begannen, sich durch den Raum zu bewegen, behielten sie diese simultane Aufmerksamkeit für alle Elemente von Bewegung, Dynamik, Räumlichkeit und Gleichgewicht bei. Sie vollführten Drehungen, die aus einer peripheren vertikalen aufrechten stabilen Haltung heraus in eine kontrahierte Beuge übergingen und zurück in eine aufrechte Position, die immer noch zentral initiiert schien. Manchmal wurde eine Bewegungsphrase in einer geraden Linie durch den Raum ausgeführt, mit dem Körper nach vorne gerichtet. Dann wurde eine ähnliche Phrase in kurzen Diagonalen ausgeführt, wobei der Körper diesen Diagonalen zugewandt war. Die Wechsel in der Ausrichtung dieser Bewegungen konnten zentral oder peripher initiiert sein. Sprünge enthielten häufig eine plötzliche Kontraktion, doch schienen sie sich anfänglich auf die gebundene Peripherie zu konzentrieren. Alle Bewegungsphrasen bauten aufeinander auf. Manchmal unterstrich eine Übung Dynamik und zentrale oder periphere Bewegungsinitiation. Doch wurde dann dasselbe Vokabular erweitert, um den Fokus auf Stabilität und Instabilität miteinzubeziehen. Wie Raymond hinterher betonte, wurden die Studenten so bewusster für die Konstruktion aller Bewegungsphrasen und besonders dafür, warum bestimmte Bewegungsphrasen geschaffen wurden. Auch hier zog sich die Fokussierung auf Ursache und Wirkung durch die Pädagogik, was typisch für Jooss und Leeder war, und im weiteren Sinne auch für Bunster. Raymond erklärte mir auch, dass die Schule häufig kein Geld für Heizung und andere Kosten hatte. Viele der Studenten kamen aus armen Familien und waren nicht in der Lage, Studiengebühren zu bezahlen.
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Obwohl Bunster ursprünglich nicht zurück in das Gebäude seiner früheren Kompanie durfte, wurde er schließlich gebeten, Calaucán und Catrala desciende neu einzustudieren. Beide Werke waren vor dem Pinochet-Putsch choreografiert worden und bekamen unter der Diktatur eine neue Konnotation. Bunster choreografierte 1987 auch eine neue Version von Le sacre du printemps, unter dem Titel Vindicación de la primavera. Als Anklage gegen die Folter in Chile veränderte er die vertraute Handlung zu einer Darstellung des Kampfes zwischen Leben und Tod. Genau zu dieser Zeit erhielten er und 70 andere Theaterkünstler erneut Morddrohungen von einer faschistischen Organisation.
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Meine Ankunft in Santiago im Sommer 2006 fiel zufällig mit Bunsters zweiter Choreografie-Retrospektive, Antología II, zusammen, die fünf Werke zeigte, die zwischen 1969 und 2005 choreografiert worden waren – darunter Catrala desciende und Vindicación de la primavera.15 Alle diese Arbeiten waren in Chile entstanden, außer einer, A pesar de todo, der Choreografie für die Palucca Schule aus dem Jahr 1975, damals unter dem Titel Trotz Alledem – Venceremos. A pesar de todo fiktionalisierte Bunsters Erlebnis des Pinochet-Putsches; er ergänzte seine persönliche Erfahrung auf der Bühne dadurch, dass er sich einen erfolgreichen Aufstand gegen das faschistische Regime ausmalte.16 Die DDRFunktionäre hatten das Werk als Beweis dafür gefeiert, dass sich sozialistische Ideologie über nationale Grenzen hinweg etablieren konnte. Für sie demonstrierte es die Relevanz und Notwendigkeit der Solidarität der DDR mit der chilenischen Arbeiterklasse.17
15 Antologiá I, die erste Retrospektive war im Jahr davor aufgeführt worden. 16 Bunsters Tochter Manuela Bunster, die auch die Tanzschule und die Kompanie leitet, sagte mir in einem Interview, dass die Solopartien der Choreografie auf ihrer Mutter Joan Turner, ihr selbst und ihrer Schwester, und Bunster und Víctor Jara basierten. Einige Leser sind möglichweise mit Christopher Bruces Swansong (1987) und Ghost Dances (1981) vertraut, in denen der britische Choreograf ebenfalls die Erfahrung von Víctor Jara und allgemeiner die Unterdrückung der Andenvölker darstellt. Bruce zitiert unter anderem seine Begegnung mit Joan Turner als Inspiration dafür. 17 Die Dokumentation der I. Internationalen Tanzwerkstatt ARTAMA Kammertanz beschreibt Venceremos als ein »Beispiel der Aufhebung der besten Traditionen der Arbeiterkulturbewegung und des modernen Tanzes in zeitgenössischen Tanzwerken«.
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Die Neuinszenierung von A pesar de todo in Chile sollte einem gänzlich anderen Zweck dienen. Die Arbeit ist ein historisches Dokument, verfügbar für die Generationen von Chilenen, die nach dem Putsch aufwuchsen. Die Choreografie schreibt die Ereignisse erneut in Chiles Nationalgeschichte ein, aus der sie das Pinochet-Regime zu tilgen versucht hatte. Bunsters Stück lieferte außerdem einer Generation, die den Putsch erlebt hatte, die Möglichkeit, sich mit den Ereignissen des 11. September 1973 auseinanderzusetzen. Sie gab ihnen Gelegenheit, sich zu erinnern und zwanzig Jahre nach dem Pinochet-Regime dazu Stellung zu beziehen. Diese Verschiebung von einer Choreografie, die 1975 in der DDR als Verkörperung einer eindeutigen ideologischen Utopie uraufgeführt wurde, hin zu einem lebendigen Archiv im gegenwärtigen Chile, interessierte mich.
Abb. 30: Trotz Alledem – Venceremos, Palucca Schule, Dresden, 1975.
Quelle: Palucca Hochschule für Tanz Dresden. Foto: Erich Höhne.
Andere feierten Werke, die von Amateur- und Folkloretanzgruppen kamen. (Petzold, I. Internationale Tanzwerkstatt ARTAMA Kammertanz -, S. 11).
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S ANTIAGO , 19. A UGUST 2006 Weil es früh am Morgen war, hatte ich in einem von Pablo Nerudas Häusern in Santiago einen Museumsführer ganz für mich alleine.18 Er war ein junger, hip aussehender Typ mit modischer Intellektuellenbrille. Seine Leidenschaft für Neruda als Person und als Dichter war eindeutig. Er war von der Tatsache fasziniert, dass ich Canto General gelesen hatte. Ich hatte dies als Vorbereitung auf die letzte große Tanzaufführung der Tanzkompanie der Nationalen Volksarmee getan, die eine Choreografie dieses Gedichts war. Canto General ist wahrscheinlich eines von Nerudas stärker politischen Werken, und ich fand einiges davon didaktisch. Allerdings könnte dieses Urteil auch durch den Kontext bedingt sein, in dem ich dem Gedicht zum ersten Mal begegnete. Der Museumsführer erklärte, wie wichtig Neruda noch immer für die spanisch-sprechende Welt war, und dass seine Lyrik über nationale Grenzen hinweg wirkte. Er führte Nerudas Hedonismus als einen Hauptgrund für seine anhaltende Popularität an. Nerudas Lebensstil war in dem Haus leicht feststellbar. Es gab mehr Bars als Schlafzimmer und absurde Sammlungen von Gläsern und Geschirr, die für ausgedehnte Gastmahle bestimmt waren. Die zahlreichen Innenhöfe waren erbaut worden, um große Partys aufnehmen zu können. Trotz der eindeutigen Hinweise auf einen Bohème-Lebensstil betonte der Führer wiederholt Nerudas politisch linke Ansichten und seine aktive Beteiligung an der Regierung und an sozialen Bewegungen. Er erzählte mir, dass viele Leute auf dem Land und in den Slums immer noch ein Bild von Neruda neben dem von Allende im Haus hätten. Dies veranlasste mich, weitere Fragen nach der gegenwärtigen Situation in Chile und der Einstellung junger Leute zur Kunst zu stellen. Mein Führer erklärte, dass es immer noch ein Bewusstsein für Lyrik und andere Kunstformen gebe, doch dass westliche Popkultur selbstverständlich an Einfluss gewinne. Die Leute kannten immer noch chilenische Volkslieder und Folklorekunst, doch verblasste ihre Bedeutung. Die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht war ein wichtiger Faktor; oder wie der Führer es ausdrückte: Früher idealisierte die gesellschaftliche Oberschicht Paris, und nun tat sie dies mit Miami, seinen Malls und seiner amerikanisierten Latino-Kultur. Ich fand das sehr interessant. Besonders da mir die Tänzer aus Bunsters Kompanie erzählt hatten, welche herausragende Rolle Folklore immer noch im Leben der Menschen spielte. Ich frage mich, welche der beiden Einschätzungen richtig war, oder ob es nur eine Frage der persönlichen Alltagskontakte war.
18 Pablo Nerudas Wohnhäuser dienen heute als Museen und Gedenkstätten.
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Der Museumsführer kannte Bunsters Namen, doch bin ich mir nicht sicher, ob er seine Arbeit gesehen hatte. Er beschrieb ihn als den wichtigsten und bekanntesten chilenischen Choreografen. Allerdings sagte er auch, dass man das Gefühl hätte, seine Arbeit sei in den 1980er Jahren steckengeblieben. Dies veranlasste mich, ihn nach der Bedeutung von Kunst im Umgang mit der PinochetÄra zu fragen. Er fand dies sehr wichtig und war entsetzt über Leute, die nichts von dem Putsch und der Diktatur wissen wollten, Leute, die Pinochets Gräueltaten bestritten oder die glaubten, dass hohe Regierungsbeamte nichts von den Ereignissen gewusst hätten. Er unterstrich seine Meinung, indem er sagte, dass er zur Zeit des Putsches erst vier Jahre alt gewesen sei. Dennoch hätte er die Leichen am Flussufer liegen sehen. Obwohl ihm seine Mutter die Augen zugehalten hätte, hätte er dennoch gewusst, was vor sich ging. Nach einem »Nein« beim Referendum über die Fortsetzung seiner Präsidentschaft im Jahr 1988 trat Pinochet 1990 als chilenischer Präsident zurück. Damit endeten siebzehn Jahre Diktatur. Er blieb bis 1998 Oberbefehlshaber der Armee. Im März 2006, dem Jahr, als ich das Land besuchte, wählte Chile eine neue Präsidentin, Michelle Bachelet, eine Frau, die vor ihrem eigenen Exil in der DDR vom Pinochet-Regime inhaftiert und gefoltert worden war. Bachelet reformierte die chilenische Regierung und Gesetzgebung. Sie setzte sich für eine Aufhebung der Amnestie für Verbrechen aus der Pinochet-Ära ein, die Mitglieder der ehemaligen Regierung beinahe dreißig Jahre lang vor Anklagen wegen Mord und Folter geschützt hatte. Trotz derartiger weitgehender Reformen verurteilte Chile das Pinochet-Regimes nicht einhellig. Die Oberschicht unterstützte die Amnestie und stellte die Revisionen der chilenischen Geschichte durch die Linke in Frage. Pinochet starb im Dezember 2006, ohne jemals wegen irgendwelcher ernsthaften Verbrechen angeklagt worden zu sein, die während des Putsches und seiner Präsidentschaft begangen worden waren. Chile ringt immer noch mit seiner gewalttätigen jüngeren Geschichte. Die Neuinszenierung von A pesar de todo bei der Retrospektive von Bunsters Werk im Jahr 2006 unterstützte die Chilenen bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Bunster verwendete lateinamerikanisches Folklorematerial und Ausdruckstanz-Vokabular, um die Geschichte des Putsches zu erzählen. Choreografisch besteht das Stück aus einer Reihe tableauartiger Formationen, die zusammengefügt und aufgelöst werden. Die räumlichen Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen oder zwischen Gruppen und Individuen erinnern an den Ausdruckstanz. In der Eröffnungssequenz vollführen männliche und weibliche Tänzer einen Festtanz im Kreis um eine männliche Gestalt, die ein breites Stück roten Stoff bei sich trägt, das anfänglich als Poncho und später als Fahne und als Leichen-
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tuch dient. In einfache Kostüme gekleidet (die Frauen in Röcken und Blusen, die Männer in wadenlangen Hosen und einfachen kragenlosen Hemden) wirbeln und springen die Tänzer um den zentralen Protagonisten herum, bis die Gruppe wiederholt in einer Dreiecksformation auf das Publikum zumarschiert. Die rhythmisch treibende Musik von Víctor Jara verwendet die peruanische Flöte, die dem Stück eine indigene lateinamerikanische Stimmung verleiht. Schließlich wird die ruhige doch melancholische Musik vom Lärm von Gewehrschüssen und Sirenen überlagert, während die Tänzer Formationen bilden und auflösen, die durch die Wiederaufnahme von Material aus ersten Hälfte der Choreografie unterschiedliche Szenen von Gewalt, Verlust und Widerstand darstellen. Erhobene Arme mit geöffneten Händen werden zu Fäusten, folkloristische Armpositionen verwandeln sich in Pietá-artige Körperumrisse, und der Poncho wird zu einer widerständig geschwenkten Fahne. Die Gewalt erreicht ihren Höhepunkt, als der männliche Protagonist erschossen wird. Drei Frauen und ein Mann beweinen ihn und führen dann den Rest der Tänzer in einer Trauerprozession über die Bühne, bei der die Fahne nun als Leichentuch dient. Diese Prozession verwandelt sich in eine große Gruppe, die sich gegen einen unsichtbaren Unterdrücker erhebt. Schließlich endet der Tanz damit, dass alle Tänzer in einer Reihe nebeneinander auf das Publikum zugehen, bis sie das Ende der Bühne erreichen und eine der Frauen das Leichentuch wieder aufnimmt, um es sich als Poncho überzuwerfen. DDR-Kulturfunktionäre unterstützten dieses Werk, da Bunsters Choreografie mit ihren gereckten Fäusten, starken Gruppenformationen und dem utopischen Narrativ für sie der Aufruf zu einem proletarischen Aufstand im marxistischen Sinne war, der zu einem neuen sozialistischen Lateinamerika führen würde. Als kommunistischer Künstler aus Chile, der Zuflucht in der DDR suchte, war Bunster für die Funktionäre eine Vorzeigefigur für die revolutionären Kräfte in jungen Nationalstaaten (marxistischer Code für die dekolonisierten Länder in Afrika, Asien und Südamerika). Die Kulturfunktionäre naturalisierten die revolutionäre Inbrunst seiner Choreografie und feierten das Werk als eine triumphale Vision von proletarischem Kampf in einer ehemals kolonialisierten Nation und somit als siegreiche Weiterführung des Kampfes der Arbeiterklasse gegen den Imperialismus. Anders gesagt, passten sie Bunsters Choreografie in den Tropus der marxistisch-leninistischen Doktrin ein. Als ich Trotz Alledem - Venceremos im Jahr 1985 zum ersten Mal sah, betrachtete ich Bunsters Choreografien auch aus der Sicht von Agit-Prop-Ästhetik und sozialistischer Ideologie. Die Erfahrung mit A pesar de todo in Chile und das Gespräch mit Bunster zwangen mich, meine Reaktion zu überdenken.
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S ANTIAGO , 20. A UGUST 2006 In meinem Café saß ein Typ, der eine ostdeutsche Armeejacke trug. Sie war so vertraut, doch gleichzeitig auch so völlig fehl am Platz. Ich musste diese Jacken während meines eigenen Armeedienstes in der DDR tragen. Sie gehörten zu dem Trainingsanzug, den wir für all die zermürbenden und sinnlosen morgendlichen Übungen im Freien tragen mussten, bei denen im Winter die Glieder von Panzerketten, die wir als Gewichte stemmen mussten, an unseren Händen festfroren. Das erste Mal, dass ich eine dieser Jacken wiedersah, war 1995 in Irvine, Kalifornien, in einem kleinen Einkaufszentrum auf dem Campus der Universität. Irgendwie kam sie mir dort seltsamer vor als hier. Warum wohl? Vielleicht weil seitdem so viele Memorabilia des ehemaligen Ostblocks zu hippen Modeaccessoires geworden sind. Sozialismus als Modetrend; mehr ist im Grunde nicht davon übrig geblieben. Dies scheint ein wesentlich lebendigeres Archiv zu sein als jede tote Bibliothek oder Sammlung von ostdeutschen Dokumenten. Die Frage ist, wie viel Kontext diesen Accessoires nach wie vor anhaftet. Die russischen Pelzmützen, Arbeitsuniformen, Armeerucksäcke und Gürtel mit unserem Nationalemblem verweisen längst auf keine gesellschaftliche Realität mehr. Bunsters Neuinszenierung des Putsches kam als ein entscheidender Moment zu dem chilenischen Publikum und ergänzte dessen nationalen Dialog um eine wichtige Stimme. 1975, als er ihn zuerst in Ostdeutschland choreografierte, stellte der Tanz den Putsch und seine verhängnisvollen Folgen dar, doch sah er auch einen erfolgreichen von der Basis her kommenden Aufstand voraus, indem er eine utopische Vision einer vereinigten und freien Welt auf die Bühne brachte. Die Neuinszenierung der Choreografie im Jahr 2006 lieferte eine Schilderung der Geschichte, wie chilenische Bürger sie erlebt hatten und trug somit durch ihre körperliche Auseinandersetzung mit Geschichte zu dem lebendigen nationalen Archiv bei. Für Bunster war die Aufführung seiner 35 Jahre alten Choreografie nicht nur notwendig für die Generation, die während der Pinochet-Ära gelebt hatte und immer noch versuchte, mit dieser komplexen Nationalgeschichte zurechtzukommen, sondern auch für die Generation, die den Putsch nicht erlebt hatte. Die Aufführungen, die ich besuchte, bestätigten seine Überzeugung. Zuschauer erhoben sich während der Vorstellung von ihren Sitzen und kommentierten das Geschehen, als ob sie selbst auch eine Rolle in dem Narrativ spielten, das auf der Bühne präsentiert wurde. Ihr leidenschaftlicher Applaus war mehr als eine Feier der Choreografie – er war eine Feier des auf der Bühne dargestellten Sieges. Die kathartische Wirkung auf das Publikum erhob die Choreografie über die Inszenierung einer unerreichbaren Utopie hinaus zu einem fassbaren leben-
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digen Archiv, das Tanz und Choreografie die Macht verlieh, die Wirklichkeit nicht nur widerzuspiegeln und zu imaginieren, sondern sie zu verändern.
S ANTIAGO , 21. A UGUST 2006 Als ich am 19. August zur letzten Vorstellung kam, war das Theater brechend voll. Obwohl die Aufführungen sich gut verkauft hatten, war ich überrascht, dass beinahe alle fünfhundert Sitze belegt waren. Das Publikum schien sehr jung zu sein; es waren viele Kinder und sogar ganze Familien darunter. Die Unsicherheit, mit der sich einige Zuschauer dem Theater näherten, deutete darauf hin, dass sie vermutlich zuvor noch nicht viele Aufführungen besucht hatten. So weit ich sagen konnte, schien ein Großteil des Publikums aus der Arbeiterklasse zu stammen. Die mögliche Unerfahrenheit des Publikums mit westlichen Theaterkonventionen wurde auch in ihrer Reaktion auf alle Stücke hörbar. Es gab sehr viel Klatschen, Antworten und Geschrei während der gesamten Vorstellung. Das Publikum reagierte unmittelbar auf die Ereignisse auf der Bühne. Stücke wurden manchmal durch Applaus für technische Meisterschaft unterbrochen, doch auch an entscheidenden Momenten in den Narrativen der Tänze. Das Publikum schätzte und ehrte sowohl die politischen Botschaften als auch die Technik. Große Gesten wie das Schwenken der chilenischen Fahne in der ersten Choreografie verdienten ebenso viel Applaus wie das fortgeschrittene technische Geschick der Solisten. Es schien einen unvermittelten Genuss der Tänze zu geben, der nicht von Theaterkonventionen oder vorheriger Erfahrung beeinflusst war. Raymond Hilbert erklärte mir, dass die Aufführungen von der Metro, der UBahn-Gesellschaft von Santiago finanziert worden waren. Als Teil dieses Sponsorenvertrages stellte die Firma dem Publikum kostenlose oder äußerst preisgünstige Eintrittskarten zur Verfügung. Am selben Tag sah ich ein Werbeplakat in mehreren U-Bahn-Stationen, das nicht nur das Ereignis ankündigte, sondern auch den Sponsorenvertrag und die Anzahl der zur Verfügung stehenden Eintrittskarten erwähnte. Raymond erklärte mir auch, dass mehrere dieser Stationen über eingebaute Bühnen verfügten, auf denen Aufführungen stattfinden konnten. Espiral war mehrmals auf diesen äußerst einfachen Bühnen aufgetreten. Diese Art von Aufführung verschaffte einem Publikum, das normalerweise keine Tanzveranstaltung in einem Theater besuchen würde, Zugang zu dieser Erfahrung. [Manuela Bunster stellte später klar, dass die begeisterten Zuschauer und die ausverkauften Aufführungen hauptsächlich durch den intensiven Kontakt verursacht waren, den Espiral zu lokalen Organisationen und nicht-traditionellem Publikum unterhielt.
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Um dies zu erreichen, tritt die Kompanie nahezu ausschließlich außerhalb von Theatern auf, was natürlich die technische Präsentation ihrer Aufführungen einschränkt. Espiral ist es wichtig, für Leute aufzutreten, die für gewöhnlich keinen Tanz sehen. Wenn die Kompanie ein Theater mietet und ihr Repertoire unter den bestmöglichen Bedingungen zeigen kann, sorgt sie trotzdem dafür, dass ihr Publikum immer noch so heterogen ist wie sonst auch.19] Abb. 31: Werbeplakat für Antología II mit der Ankündigung kostenloser Eintrittskarten in einer U-Bahnstation, Santiago, Chile, 2006.
Foto: Jens Richard Giersdorf.
19 Manuela Bunster, Email an den Autor, 21. Mai 2012.
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D ANACH Nach meiner Zeit mit Bunster in Chile flog ich in meine gegenwärtige Heimat in New York City. Es erstaunt mich immer wieder, dass ich als Ostdeutscher, der einst mit der Berliner Mauer konfrontiert war, mich derart frei bewegen kann. Dieser Sinn für freie Fortbewegung, der im Westen als normal angesehen wird, bekommt in bestimmten Momenten Brüche, wie in dem Moment, als ich mich auf meinem Hinflug nach Chile der Bedrohung eines terroristischen Anschlags gegenübersah. Solche Brüche enthüllen nicht nur meine privilegierte Mobilität sondern auch die globale Demokratie, die eine derartige Mobilität ermöglicht, als ein Konstrukt. Dieses Konstrukt weist sich selbst entschieden als nichtideologisch aus, indem es selbst die Norm konstituiert, an der jede andere marginale Gesellschaftsutopie – egal, ob regional, religiös oder national – gemessen wird.20 Doch wird diese globalisierte Normalität immer dann massiv gestört und als Ideologie entlarvt, wenn eine terroristische Handlung begangen wird oder ein gewalttätiger nationaler Konflikt ausbricht. Diese Störungen werden von der globalen Demokratie stets als negativ und fortschrittsfeindlich betrachtet. Sogar eine choreografische Arbeit wie die Bunsters mit ihrer eindeutigen ideologischen und nationalen Funktion könnte nach unserem westlich dominierten Verständnis von Demokratie und sozialer Entwicklung nicht als fortschrittlich anerkannt werden. Liest man sie jedoch im Kontext der Migration über nationale Grenzen hinweg, zwingt dies die globale Demokratie, sich mit regionalen Territorien auseinanderzusetzen, die nicht immer in unserer wirtschaftlich definierten Globalisierung erscheinen – da sie sich an der Peripherie befinden (Chile) oder ausgelöscht sind (DDR). In diesen Augenblicken entpuppt sich die globale Demokratie als ideologisch. Durch diese abstrakten Überlegungen versuche ich zu vermeiden, den politischen Wert von Bunsters Arbeit durch eine Analyse der Besonderheiten seiner Choreografie aus dem Blick zu verlieren. Wie Ahkil Gupta und James Ferguson warnen, besteht die Versuchung, sich auf disparate Beispiele von kultureller Produktion zu konzentrieren, die sich ohne ein Verständnis für den totalisierenden Effekt des globalen Imperialismus weitab der Peripherien hinein ins Zentrum der Kulturindustrie bewegen, und somit politische Probleme zu unterdrü-
20 Ich denke hier Althussers Weiterentwicklung von Marx’ Staatstheorie neu, in der er die Notwendigkeit beschreibt, dass der ideologische Staatsapparat sich in die Privatsphäre bewegt, sich somit normalisiert und scheinbar jeglicher Ideologie entledigt (Lenin and Philosophy and Other Essays, S. 143ff.)
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cken, die die westliche Hegemonie mit sich bringt.21 Bunsters Karriere zwischen Chile, Großbritannien, West- und Ostdeutschland demonstriert nicht nur die Migration von Tanzvokabular. Vor allem fordert sie zu einem alternativen Verständnis von Tanz und Globalisierung auf, indem sie eine ideologische Diaspora offenbart – in diesem Falle die Migrationsbewegung des Ausdruckstanzes, die durch revolutionäre und sozialistische Ideologie beeinflusst wurde.
21 Desai, Beyond Bollywood, S. 7.
Danksagung der US-amerikanischen Ausgabe
Das Material in diesem Buch hat seine Form durch eine über 15 Jahre währende Forschungsarbeit über Tanz in Ostdeutschland erhalten. Allerdings beschäftige ich mich mit dem Thema schon wesentlich länger. Mein früher Wunsch, in unserem örtlichen Kinder-Tanzensemble in Quedlinburg zu tanzen, blieb mir versagt. Stattdessen musste ich die weitaus respektablere und männlichere Sportart Judo ausüben. Trotzdem wurde ich mit Anfang 20 Mitglied eines der zahlreichen ostdeutschen Amateurtanz-Ensembles, dem Tanzensemble der Karl-Marx-Universität. Diese Volkstanz-Kompanie teilte sich mit einem Kinderchor, einem Pantomime-Ensemble, einer Theaterkompanie und einer Kompanie, die auf Musik und Tänze aus aller Welt spezialisiert war, eine Bühne. In einer eklektizistischen Mischung aus osteuropäischen Tänzen und pseudo-lateinamerikanischen Choreografien mit revolutionärer Botschaft musste ich lernen, wie man stampfte, sich drehte und Frauen hochhob. Meine Mittänzer Elke Hunstock, Paula Riediger, René Peter Schmidt und Tom Güldemann sind immer noch meine besten Freunde. Sie alle waren ein Teil meiner späteren Reisen durch die Welt des Tanzes. Die Leiterinnen dieser Kompagnie, Silvia Zygouris und Evelyn Iwanow änderten das Repertoire schließlich von Folklore in Richtung moderner Tanz. Wir benannten die Kompanie in Tanzbühne Leipzig um, ohne uns jedoch der komplexen Geschichte dieser Bezeichnung vollkommen bewusst zu sein; Rudolf Laban hatte seine Kompanie Tanzbühne Laban genannt. Ein solches Unwissen war symptomatisch für den Umgang mit der Tradition des deutschen modernen Tanzes in der DDR. Als ich anfing, mich neben dem Tanzen auch für Dramaturgie zu interessieren, machten mich Silvia und Evelyn zum ersten Dramaturgen der Kompanie und setzten alle Hebel in Bewegung, um mir einen Platz in dem gerade erst gegründeten Studiengang Tanzwissenschaft an der Theaterschule »Hans Otto« in Leipzig zu sichern. Der Leiter dieses Studiengangs, Werner Gommlich, verschaffte uns Zugang zu den wichtigsten Tanzkompanien und Schulen in Ostdeutschland. Meine Lehrerin für modernen Tanz Eva Winkler veranlasste mich, zu improvisieren und
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machte mich mit der Ausdruckstanz-Tradition vertraut. Meine Ästhetikprofessorin Petra Stuber wurde nicht nur mein pädagogisches Vorbild, sondern erklärte mir auch die Politik der Kunst. Meine Kommilitonin Susanne Ladopoulos führte mich in die Tradition des modernen Tanzes in Dresden ein, wo ihre Mutter an der Palucca Schule unterrichtete. Sie gab mir den Anstoß, gegen etablierte Diskurse in der Tanzgeschichte zu denken. Ihnen allen danke ich für ihren entscheidenden Einfluss. Bald nachdem die Berliner Mauer gefallen war, kamen mehrere westdeutsche Tanzwissenschaftler für Vorträge zu uns. Zu den ersten, die uns besuchten, gehörte Claudia Jeschke, die einen internationalen Kontext für unsere ostdeutsche Perspektive auf den Tanz lieferte. Die ostdeutsche Tanzhistorikerin Marion Kant hörte, dass ich mich für ein Studium in den USA interessierte und brachte mich mit dem soeben gegründeten PhD-Programm für Tanzgeschichte und theorie an der University of California, Riverside in Kontakt. Ich bin diesen beiden Tanzwissenschaftlerinnen dankbar, die dieses Projekt viele Jahre lang verfolgt und angeregt haben. Viel verdanke ich auch der ersten Generation von Professoren aus dem Studiengang Dance History and Theory an der University of California, Riverside: Heidi Gilpin, Marta Savigliano, Sally Ness, Linda Tomko, Susan Rose – und natürlich Susan Leigh Foster – die mich mit dem Gedanken vertraut machten, dass Fragen nach agency, Identitätspolitik und Historisierungen nur mittels verkörperter Subjekte zu beantworten sind. Susan Foster und Sue-Ellen Case inspirierten mich zur kritischen Beschäftigung mit dem Tanz in Ostdeutschland. Sie haben meine Arbeit geprägt wie kaum jemand sonst. Susan ist nach wie vor eine starke intellektuelle und persönliche Präsenz in meinem Leben, und nur wenige Menschen regen mich lebhafter zum Denken an als sie. In Riverside brachte mir meine Kommilitonin Maura Keefe geduldig den US-amerikanischen Tanz und seine Kultur näher. Becca Rugg öffnete meine Augen für Gender-, Sexual- und Rassenpolitik und dafür, wie wichtig es ist, einer persönlichen Vision zu folgen. Janet O’Shea war nicht nur meine Kommilitonin, sondern später auch Kollegin an der University of Surrey in Großbritannien. Unser fortlaufender persönlicher und beruflicher Austausch inspiriert dieses Buch. Es ist nicht immer einfach, die Anforderungen des Unterrichtens und der institutionellen Arbeit mit dem Schreiben eines Buches zu vereinbaren. Yutian Wong lieferte die entscheidende – und unerschöpflich geistreiche – Perspektive auf dem Weg. Ich schätze mich glücklich, sie als Kollegin, Mitarbeiterin und Freundin zu haben. Dieses Projekt nahm Gestalt an, als Ann Cooper Albright begann, es herausgeberisch zu betreuen. Durch ihre Begeisterung erblickte es das Licht der Welt,
D ANKSAGUNG DER US- AMERIKANISCHEN A USGABE
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und ich bin ihr und der gesamten Redaktion der Society of Dance History Scholars dankbar für die Unterstützung. Gay Morris brachte es durch ihr behutsames Lektorat auf eine andere Ebene. Susan Manning – eine Inspiration als Akademikerin und Mensch – versicherte mir unaufhörlich, wie notwendig dieses Buch sei. Durch ihre Kenntnis des Themas wurde sie zu einer wichtigen kritischen Leserin. Meinen peer reviewers verdanke ich wertvolle und konstruktive Kommentare und Vorschläge. Alle Studenten, die ich über die Jahre hinweg unterrichtete, haben mich darin bestärkt, dieses Buch zu schreiben. Parijat Desnai und Ailina Rose Mayer halfen bei der Feinarbeit. Ich danke ihnen allen, ebenso wie dem Team der University of Wisconsin Press für die Arbeit während der letzten Phase des Projekts. Dank auch an den Glass Shop, der mir häufig Unterschlupf zum Schreiben bot. Dies ist ein Buch über ein Land, das nicht mehr existiert, was bedeutet, dass meine Recherchen in den zahlreichen Archiven und meine Interviews mit Choreografen und Tänzern mehr sind als lediglich wissenschaftliche Methoden zur Informationssammlung. Sie halfen mir dabei, die Prozesse der Verkörperung in Ostdeutschland neu zu denken und zu rekonstruieren. Vor allem danke ich dem Tanzarchiv Leipzig und Gabriele Ruiz und Janina Schulze. Außerdem Dank an Sabine Zolchow vom Archiv der Akademie der Künste, Axel Becker von der Palucca Schule Dresden, Cordula Reski-Henningfeld von der Komischen Oper Berlin, Katja Wildermuth vom MDR und an das Stadtgeschichtliche Museum/Sportmuseum Leipzig für ihre Hilfe bei meiner Forschungsarbeit. Arila Siegert, Fine Kwiatkowski, Jo Fabian, Patricio Bunster, Manuela Bunster, Raymond Hilbert und Nejla Y. Yatkin gewährten mir Einblicke in ihre Arbeit. Ihre individuellen Ansätze halfen mir dabei, zu verstehen, was Tanz erreichen kann. Maryann Appel sorgte dafür, dass alles gut aussah. Ohne all diese Menschen wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Die University of California, Riverside, die University of Surrey und das Marymount Manhattan College unterstützten dieses Buch durch Förderzuschüsse und Stipendien. Ich erhielt auch ein Auslands- und Forschungsstipendium vom DAAD, ein Stipendium vom Arts and Humanities Board in Großbritannien und ein wissenschaftliches Residenzstipendium von Jacob’s Pillow. Dieses Buch hat seine Form durch zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen erhalten. Material aus einzelnen Kapiteln wurde bei Konferenzen der Society of Dance Scholars, dem Congress on Reasearch in Dance, der International Federation for Theater Research und der Embodiment of the Nation Conference an der Hamburger Universität vorgestellt. Auszüge und frühere Fassungen von Kapiteln sind mit Genehmigung unter folgenden Titeln erschienen: »Border Crossings and Intra-National Trespasses: East German Bodies in Sasha
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Waltz’ and Jo Fabian’s Choreographies«, Theater Journal 55, no.3 (2003): S. 413-432, © 2003 The Johns Hopkins University Press; »Dancing, Marching, Fighting: Folk, the Dance Ensemble of the East German Armed Forces, and Other Choreographies of Nationhood«, Discourses in Dance 4, no. 2 (2008): S.39-58; »Why Does Charlotte von Mahlsdorf curtsy? Representations of National Queerness in a Transvestite Hero«, GLQ 12, no. 2 (2006): S.171-196; »Von der Utopie zum Archiv: Paticio Bunster und die politische Funktion der Choreographie«, Forum Modernes Theater 23, no. 1 (2008): S.29-36; »Ideology and Dance: Competing Notions of Modern Dance and Ballet in East Germany 194561«, Dance Gazette, Mai 2004, S.27ff; und »Technique as Ideologie: Professional and Amateur Dance in East Germany 1961-1989«, Dance Gazette, Aug. 2004: S.23ff. Man kann nicht im Ausland leben und über die Kultur forschen, in die man hineingeboren wurde, ohne eine starke Verbindung zu ihr beizubehalten. Für diese Verbindung haben meine Familie und meine Freunde gesorgt. Das Buch ist meinen verstorbenen Eltern gewidmet, die meinen akademischen Werdegang im Tanzbereich mit Stolz und Interesse an meiner Berufung und meinem Forschungsgegenstand unterstützt haben. Sie haben mich stets ermutigt und ermutigen mich immer noch, auch wenn ich nicht mehr in der Lage bin, mit ihnen zu kommunizieren. Meine Geschwister, Silke Berger und Sven Giersdorf, und ihre Familien haben über die Jahre hinweg viel zu viel über dieses Buch hören müssen. Sie werden glücklich und stolz sein, es nun gedruckt zu sehen. Dies gilt auch für meine neue Familie hier in Amerika. Ich danke Margot Steinberg und Michael und Virginia Gusick für ihre Unterstützung. Ein besonderer Dank gilt Anne Boswell Bertrand, unserer ganz persönlichen Guten Fee. Am allermeisten möchte ich mich jedoch bei meiner eigenen unkonventionellen Familie bedanken. Ich weiß, dass keine meiner akademischen Arbeiten ohne die Liebe und das Gleichgewicht, das sie mir schenkt, möglich gewesen wäre. Mein Partner Ned Gusick hat mit mir nicht nur jedes Stadium dieses Buches im wahrsten Sinne des Wortes durchlebt; er hat so viel geholfen, dass er nun den Titel Tanzwissenschaftler h.c. tragen darf. Und insgeheim ist er sehr glücklich darüber. Unsere dreieinhalb Jahre alte Tochter Emma hat keine Ahnung, was Papa tut, wenn er die Tür zumacht, um zu arbeiten. Eines Tages jedoch wird sie dieses Buch lesen und hoffentlich ein bisschen besser verstehen, dass Ostdeutschland zwar als Land verschwunden ist, doch dass seine Kultur und seine Bewegung auf eine bescheidene Art und Weise durch ihren Vater und andere Ostdeutsche im Ausland und in Deutschland überlebt haben, und wie und warum das wichtig ist. Und wenn sie das verstehen kann, dann können es hoffentlich auch die Leser dieses Buches.
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Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hg.) Wissen in Bewegung Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz 2007, 360 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 14,80 €, ISBN 978-3-89942-808-7
Yvonne Hardt, Martin Stern (Hg.) Choreographie und Institution Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik, Produktion und Vermittlung 2011, 316 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1923-2
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TanzScripte Laurence Louppe Poetik des zeitgenössischen Tanzes (übersetzt aus dem Französischen von Frank Weigand) 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1068-0
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Gabriele Brandstetter, Reinhild Hoffmann, Patricia Stöckemann (Hg.) CALLAS Ein Tanzstück von Reinhild Hoffmann 1983/2012 März 2014, 174 Seiten, kart., zahlr. Abb., mit DVD, 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2509-7
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Gerald Siegmund Abwesenheit Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart 2006, 504 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-478-2
Natalia Stüdemann Dionysos in Sparta Isadora Duncan in Russland. Eine Geschichte von Tanz und Körper 2008, 164 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-844-5
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