Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters [Reprint 2010 ed.] 9783110940589, 9783484190481


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German Pages 264 Year 1999

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Table of contents :
1. Vorwort
2. Einleitung
2.1. Stichjahr 1840: Ein Thema und eine These
2.2. Der Autor: Lebenslauf nach politischer Linie
2.3. Verlag und Veröffentlichung: ›Die Achtung vor der Ware‹
2.4. ›Zeit für Gedichte‹ Das Werk und die literarische Si¬tuation
2.5. Das politische Profil: ›Keine Romanze‹
2.6. Am Scheidewege: Zur gattungsgeschichtlichen Bedeutung
2.7. Biographischer Epilog
3. Zur Edition
4. Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters
4.1. Nachtwächters Stilleben
4.2. Nachtwächters Weltgang
4.3. Empfindsame Reisen
4.4. Letzte Liebe
5. Anhang: Gedichte an und über den Nachtwächter
6. Bibliographie
6.1. Dingelstedts Werke
6.2. Dingelstedt als Herausgeber
6.3. Zu Dingelstedts Biographie
6.4. Forschungsliteratur zu Dingelstedt
6.5. Zur politischen und literarischen Entwicklung im Vormärz
6.6. Zur Landesgeschichte
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Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters [Reprint 2010 ed.]
 9783110940589, 9783484190481

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Deutsche Texte Herausgegeben von Gotthart Wunberg

40

FRANZ

DINGELSTEDT

Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters Studienausgabe mit Kommentar und Einleitung von Hans-Peter Bayerdörfer

Max Niemeyer Verlag Tübingen

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dingelstedt, Franz: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters / Studienausg. mit Kommentar u. Ein!, von Hans-Peter Bayerdörfer. - i. Aufl. — Tübingen : Niemeyer, 1978. (Deutsche Texte ; 49) ISBN 3-484-19048-5 NE: Bayerdörfer, Hans-Peter [Hrsg.]

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978 Satz: Bücherdruck Wenzlaff, Kempten Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. ISSN 0418-9159 ISBN 5-484-19048-5

Inhaltsverzeichnis i.

Vorwort

z. 2.1. 2.2. 2.3.

2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 2.4.4. 2.5. 2.6. 2.6.1. 2.6.2. 2.6.3. 2.7.

Einleitung Stichjahr 1840: Ein Thema und eine These Der Autor: Lebenslauf nach politischer Linie . . . . Verlag und Veröffentlichung: >Die Achtung vor der Ware< Buchmarkt unter Zensur Oppositionelles Schrifttum: Ein Geschäft Wie man einen Nachtwächter lanciert >Zeit für Gedichtet Das Werk und die literarische Situation Lyrik: Ein Kaleidoskop Reisebilder . Spaziergänge besonderer Art Nachtwächters literarischer Steckbrief Das politische Profil: > Kerne Romanze« Am Scheidewege: Zur gattungsgeschichtlichen Bedeutung Der Autor in eigener Sache Wi r kungs geschichtliche Anzeichen »Gedichte, die der Zeit angehören« . Biographischer Epilog

29 30 35 39 42 48 60 60 6j 67 69

3.

Zur Edition

75

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters Nachtwächters Stilleben , Nachtwächters Weltgang Empfindsame Reisen Letzte Liebe

j.

Anhang: Gedichte an und über den Nachtwächter . . 223

6. 6.1. 6.2.

Bibliographie Dingelstedts Werke Dingelstedt als Herausgeber

2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.4.

. . . .

4 4 9 17 17 22 25

81 83 116 207 214

251 252 253

V

6.36.4.

Zu Dingelstedts Biographie Forschungsliteratur zu Dingelstedt

2^3 2^4

6.5.

Zur politischen und literarischen Entwicklung im Vormärz

2JJ

Zur Landesgeschichte

259

6.6.

VI

i. Vorwort Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt ist in der germanistischen Literaturwissenschaft der Bundesrepublik ein neues und neu akzentuiertes Interesse für die Jahrzehnte vor der Märzrevolution zu verzeichnen. Gründe dafür liegen ebenso in der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Germanistik wie in ihrer Situation im Bildungssystem von Schule und Hochschule, daneben in der speziellen Rezeptionsgeschichte der Vormärz-Literatur. Mit dem Gewahrwerden des wunden Punktes deutschen Kultur- und Traditionsbewußtseins, d, h, der darin stets unterrepräsentierten politischen und gesellschaftlichen Basis, kam dabei auch das politische Engagement der Literaten neu zu Bewußtsein und verlangte nach einer neuen literaturgeschichtlichen Wertung. Die seit den sechziger Jahren starke Resonanz findende engagierte Poesie trug ihrerseits dazu bei, die literaturhistorische Debatte um die politische Versdichtung der 3oer und 4oer Jahre des letzten Jahrhunderts an Aktualität gewinnen zu lassen. Die bundesdeutsche Entwicklung erreicht damit einen gewissen Anschluß an die der DDR, wo man sich von Anfang an auf den Vormärz, im Sinne von Vorläuferschaft und Erbe, zu berufen suchte,1 wo demnach die Werke der Vormärz-Dichter in kommentierten Auswahl-Ausgaben den Lesern über den akademischen Bereich hinaus zugänglich gemacht wurden 2 und wo auch auf wissenschaftlichem Sektor die erste literaturhistorische Gesamtdarstellung dieser Phase, Hans-Georg Werners »Geschichte des politischen Gedichts in Deutschland von 1815-1840« erschien (1969). Im Gegensatz zu dieser frühen intensiven Beschäftigung hatten sich in den In den Anmerkungen wie auch im Kommentar wird die Zitierweise folgendermaßen vereinfacht: Siglen treten ein für den Autornamen (Ds.), für die Teile der >Nachtwäditer von den Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur in Weimar.

ersten fünfzehn Jahren des Bestehens der Bundesrepublik in literaturgeschichtiichen Darstellungen - sieht man von der Heine-Literatur einmal ab — traditionelle bis abwertende Urteile über die Vormärz-Dichtung gehalten oder erneuert: man monierte Phrasenhaftigkeit, Epigonalität in Form und Gestalt, Zerfall des klassischen Erbes, Abgleiten der Dichtung in Agitation. Erst mit dem Erscheinen von Jost Hermands Anthologien zum Jungen Deutschland und zum Vormärz, 3 später ergänzt um Horst Denklers unter dem Titel »Der deutsche Michel« herausgegebenen »Revolutionskomödien der Achtundvierziger«, begann die neue Auseinandersetzung, Zug um Zug verschärft durch die allgemeine Grundlagendebatte, die Fragen des Literaturbegriffs und der Kanonbildung in den folgenden Jahren, Der Prozeß der Neubewertung ist neben vielerlei anderen Indizien daran ablesbar, wie der — trotz der strittigen Abgrenzung als Epochenbegriff verwendete »Vormärz« nach und nach an Terrain gewinnt und mit dem bis dahin stets bevorzugten »Biedermeier« gleichzieht. Dieser Vorgang findet auf der Ebene einer Neugestaltung des literaturwissenschaftlichen Studiums bezeichnenden Ausdruck in dem von Rolf Peter Janz vorgeschlagenen »Studienmodell zur deutschen Literatur 1830-1847 (Biedermeier-Vormärz)«. 4 Als Beitrag zur Diskussion um die Neubewertung politischer Lyrik des Vormärz ist die vorliegende Ausgabe gedacht. Sie will ein nur noch in Literaturgeschichten oder in Heine-Studien gelegentlich erwähntes Werk politischer Versdichtung erneut zugänglich machen. Nachdem andere Poeten des Vormärz — wie Freiligrath, Herwegh oder Weerth — in Gesamt- oder wenigstens in Auswahlausgaben wieder greifbar sind, ist dies bei einer für die entscheidenden Jahre zwischen 1840 und 1848 so bezeichnenden Stimme wie der Dingelstedts bisher nicht der Fall. Die Schlüsselrolle der >NachtwächterLieder< sind seit ihrem Erscheinen noch — in stark veränderter Gestalt — im Rahmen der »Sämtlichen Werke« des Autors (1877) gedruckt worden, außerdem in Form einer Art Liebhaberausgabe, die der Literarhistoriker und Vormärz-Spezialist Hubert Heinrich Houben 1923 für die »Freunde der vormärzlichen Literatur« in sehr begrenzter Auflage veranstaltete.5 Die vorliegende Neuausgabe ist ganz auf Studienzwecke abgestimmt. Es ist Sinn der Kommen tier u ng und der Einleitung, den Text der »Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters« für den heutigen Leser, der keine detaillierten Vorkenntnisse von Autor und Epoche hat, lesbar zu machen. Bei einem Werk politischer Dichtung ist es selbstverständlich, daß die geschichtlich-politischen Hintergründe wie auch die literarisch-publizistischen Zusammenhänge über die engere Entstehungszeit hinaus aufgezeigt werden. Nur so kann die gattungsgeschichtiiche Bedeutung des Werkes in allen ihren publizistischen und politischen Facetten — gerade im Verhältnis zu anderen Stimmen der 4oer Jahre — hinreichend hervortreten.

Envoi: Als in den Anfangsjahren des neuen politischen Chansons der Bundesrepublik Peter Rohland — einige Jahre vor dem Appell Gustav Heinemanns — Stimmen vergessener deutscher Demokraten zu Gehör brachte, um sie dem Bewußtsein von deutscher Geschichte und Kultur, aus dem sie so oft verbannt erscheinen, weil sie sich im jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang nicht behaupten konnten, wieder zuzuführen, rief er auch Texte aus dem Vormärz ins Gedächtnis, unter anderem das erste, das eigentliche Titel-Gedicht von Dingelstedts >NachtwächterNachtwächterNachtwächterjeblt gänzlich, die 2te Auflage unter der Presse und folgt nächstens,< - so verfahre idi mit den ersten 30 Zetteln - damit alles curn figuribus geht; bringe dann die zte zum Vorschein, die nur im Papier und der Jahreszahl abweicht von der iten. Dadurch lenke ich die Journalistik auf diesen Umstand, die dann Stoff zu Raisonnements gewinnt, und niemand ahnt hier ein künstliches Manöver, weil die Sache ganz mit Ernst und Würde durchgeführt ist. Änderungen waren nicht möglich, weil das Begehren zu schnell eintrat.« 57

Die Organisation des Vertriebs hielt sich an Campes bewährtes Muster,58 In gestaffelter Absendung der Exemplare wurde zuerst die postalische Peripherie beliefert, dann erst die Zentren, damit die Auslieferung des Buches in den Provinzstädten schon früher erfolgen konnte, um der Möglichkeit vorzubeugen, daß ein Verbot in den Hauptstädten auch den Absatz in der Provinz beeinträchtigen oder verhindern würde: so Vgl. B. Klostermann: F. Ds., S. 67. Campe an Ds. am 24. 8. 1841 (in: G. Büttner: Julius Campes Briefe an Ds-, S. 320), 58 Campe verweist in einem Brief an Ds. am 10.9. 1841 (ebda., S. 321) auf das >RezeptNaditwächter< informiert, die Bände wurden bei der Auslieferung in Preußen, dem Hauptabsatzgebiet Campes, sofort beschlagnahmt. Sie mußten allerdings zurückgeschickt werden, das heißt man durfte sie nicht einstampfen, da sie das Harnburger Imprimatur trugen. Dingelstedt hatte seinerseits versucht, Absatz und Reichweite des Buches dadurch zu steigern, daß er Frei-Exemplare an die >richtigen Leute« (mit Stimmen von Gewicht in Sachen Dichtung) und an Rezensenten von Einfluß und bekannter politischer und literarischer Progressivitat senden ließ. Wie Campe bestätigt,80 wurden Exemplare verschickt an Arnold Rüge, den Mitherausgeber der Halleschen Jahrbücher, dem Organ der Junghegelianer, in denen 1840 auch ein Beitrag von Dingelstedt gedruckt worden war, an Ludwig Uhland, den verehrten Nestor der deutschen politischen Poesie, an die Dichter Julius Mosen, Heinrich Heine, Nikolaus Lenau und Ferdinand FreÜigrath. Zur Rezension wurden auf Dingelstedts Veranlassung Exemplare versandt u. a, an Gustav Kühne, den den Jungdeutschen nahestehenden Redakteur der »Zeitung für die elegante Welt« (in der auch Heine viel publizierte), an August Lewald, den Redakteur des liberalen »Europa«, und an Theodor Mundt, zu dieser Zeit Redakteur des »Freihafen« und »Pilot«. Trotz des anfänglichen Fehlschlags konnte sich Campe schadlos halten. Die polizeilichen Maßnahmen stimulierten das Interesse für das Buch in dem Maße, daß die >NachtwächterNach t Wächters*. Noch im Dezember 1841 verbot man generell den Vertrieb aller Schriften seines Verlags in Preußen wie der folgende zeitgenössische Bericht eingehend demonstriert: »Die Buchhandlung Hoffmann und Campe in Hamburg, die Verlegerin der bekannten Sdiriften von Heinridi Heine, hat schon früher durch Einiohleppung und Verbreitung verderblidier polirischer Flugschriften aus Frankreich eine so gemeingefährlidie Industrie betätigt» daß es schon im Jahre 1834 für nötig eraditet wurde, ihr das Gesamt-Verbot ihrer Verlags- und Kommissions-Artikel anzudrohen. Gleidiwohl hat dieselbe nicht aufgehört, Schriften zu verlegen und zu verbreiten, welche sich durch ihren verweglidien aufregenden und schmähenden Charakter auszeichnen. Zu diesen gehört vor allen die in Kommission bei Hoffmann und Campe erschienene wahrscheinlich auch auf ihre Bestellung mit Umgehung der Zensurgesetze heimlich gedruckte Schmähschrift Der Bischof Draeseke und sein achtjähriges Wirken im Preussischen Staate von G. v. C.61 ferner die unpolitischen Lieder von Hoffmann aus Fallersleben I! Teil. und endlich die ganz kürzlich mit der Jahreszahl 1842 erschienenen Gedichte [sie!] eines kosmopolitischen Nachtwächters. Um dem sich hierdurch kundgebenden gemeinschädlichen Treiben entgegen zu tretenj soll höherer Verfügung zufolge das früher schon angedrohte Gesamt-Verbot nunmehr zur Ausführung gebracht werden. Euer Hochwohl geh ore n veranlassen wir daher, schleunigst das Erforderliche anzuordnen, damit alle von jetzt ab im Verlage der Buchhandlung Hoffmann und Campe in Hamburg erscheinende oder als Kommissions-Artikel derselben ausgegebenen Schriften, Blätter von welcher Art sie auch sein mögen, weder öffentlich angekündigt und verkauft, noch in Leihbibliotheken oder öffentlichen Lesezirkeln und bei Antiquaren gehalten werden.« 62 Während sich Campe notgedrungen zum Kampf »des Hauses Hoffmann und Campe gegen das Haus Hohenzollern« anschickte,03 81

Bergen 1840. Bei C. H. Benemann. In Kommission bei Hoffmann und Campe in Hamburg. 2 Orthographenbericht der königlichen Regierung, Abteilung des Innern (gez. Rüdiger) an den Landrath von Bashe in Steinfurt, 22. 12. 1841 (Fotokopie im Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf). 63 Empört kommentierte Campe seine Lage: »Ich bin entschieden im Recht, es ist der imfamste Despotismus, der sich Luft macht. Es ist nicht die Person, gegen die das beabsichtigt ist;

28

Hefen Konfidemenberichte in Metternichs Staatskanzlei ein, die die große Verbreitung des >Nachtwächters< schilderten 64 und auch auf die Verstärkung der Nachfrage durch das Verbot hinwiesen. Campe selbst bestätigte dies gegenüber Heine; und dieser Trend hielt vor ein knappes Jahr später konnte Campe, dieses Mal auf den Verkaufserfolg von Hoffmanns Gedichten verweisend, seinem Hausautor empfehlen: »Aber Sie sehen, lieber Heine! was für Gedichte für eine Zeit ist! — Wollen Sie diese für sich gänzlich ungenutzt — unversucht verstreichen lassen???« 65

2.4. »Zeit für Gedichtet Das Werk und die literarische Situation Der Autor, dessen >NachtwächterTendenzlyrik< den 4oer Jahren. Unter dem politischen Aspekt ist es nicht weniger befremdlich, daß sich die Phase der kritischen Zuspitzung der Verhältnisse und der sich immer schärfer artikulierenden Spannungen im politischen und nationalen Bewußtsein literarisch ausgerechnet durch die Dominanz der Gattung Lyrik auszeichnet. In der p oeto logischen Reflexion der Weimarer Klassik wie auch der Jenenser und Berliner Romantik nimmt die Lyrik vergleichsweise geringen Raum ein und tritt zugunsten von Drama und Epos bzw. zugunsten der universalen Konzeption des Romans zurück. 87 68



Vgl. R.Rosenberg: Literaturverhältnisse, S. zoiff. Dieser Begriff, der einschließlich der darin enthaltenen Wertungen ein Produkt der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts darstellt, geht an der Bedeutung, die der Lyrik der Restaurationszeit zukommt, weitgehend vorbei.

Demgegenüber ist die Einschätzung der Gattung Lyrik in der Zeit nach i S i j grundsätzlich höher, was zum einen damit zusammenhängt, daß man sich - an Klassik und Romantik vorbei - in Traditionen und Nachwirkungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts bewegt, zum anderen damit, daß Lyrik geradezu als >moderne< Gattung neu begriffen wird. Es gehört zu dieser Umorientierung, daß die Lyrik keineswegs in exklusiver "Weise an den Paradigmen etwa der Goetheschen und der romantischen Dichtung orientiert wird, sondern ein viel breiteres, vielseitigeres Panorama von Formen auf weist. Der von Goethe selbst mit seinem »West-östlichen Divan« eingeschlagene Weg ist gerade wegen der formalen Vielseitigkeit und der stofflichen Innovation für die nachfolgenden Jahrzehnte wesentlich repräsentativer als die Lyrik der Straßburger oder Weimarer Zeit. Dem entspricht durchaus, daß die lyrische Produktion zwischen i S i y und 1840 stilgeschichtlich polyphon ist und daß diese Polyphonie von vornherein Übergänge zwischen literarischästhetischen Formen und einer Vielzahl von Zweckformen erschließt. Soweit man - in populär gewordener Ausdrucksweise nach August Wilhelm Schlegel oder später nach Hegel - die Lyrik als »subjektive« Gattung versteht, so ist damit weder subjektivistische Irrationalität, noch existentielle Vereinzelung, noch hermetische Sprachgestalt gemeint. >Subjektiv< bedeutet vielmehr die Gesamtheit einer individuellen Sichtweise und sprachlichen Vermittlung, die sich gerade ihrer Individualität als Prinzip bewußt ist. Die Bedeutung von »subjektiv* ist sehr weit zu fassen, es gehören außer Gefühl und Empfindung auch Gedanke und Reflexion, Witz und Ironie dazu - woraus schon hervorgeht, daß etwa eine didaktische Intention und eine gedanklich-logische Komponente keineswegs im Widerspruch zur Lyrik steht, vielmehr geradezu einen konstituierenden Faktor der subjektiven Gattung darstellen kann. Aufgrund dieser Breite ist die subjektive Gattung« a priori gesellschaftlich und gesteht unumwunden gesellschaftliche Zielsetzungen ein, wobei Erbauung, Belehrung, Unterhaltung und Spiel gleichermaßen seriöse Ziele darstellen. Das Wiederaufleben der geistlichen Lyrik, die Regeneration und breite Entfaltung der >Weisheitsdichtung< als Spruchoder Xenien-Poesie, die unterhaltende »Morgenblatt«- und Almanach-Dichtung illustrieren die primären, weit verbreiteten Erscheinungsweisen. Damit ist zugleich gesagt, daß Lyrik einen grundlegenden und fraglosen Faktor der Publizistik darstellt.

Aufgrund dieser Breite des Verständnisses und dieser Stellung im publizistisch-literarischen System der Zeit ist Lyrik eine Sache der B reiten rezeption, die auch durch das jungdeutsche Dogma vom höheren Wert der Prosa in den 3oer Jahren nur unwesentlich beeinträchtigt wird. Erst im letzten Jahrzehnt des Vormärz, genauer gesagt erst als Reaktion auf die sogenannte Tendenzpoesie, gewinnt ein >modernererharmonische< Nebeneinander der scheinbar so gegensätzlichen, sich ausschließenden Formen: »Tagebuchblätter« (Freiligrath) stehen neben Balladen oder Liebes- und Naturgedichten, Lehrspruchsammlungen (»Scheuer des Denkens«) neben modisch exotisierenden »östlichen Rosen« (Rückert), geistliche Dichtung (»Das geistliche Jahr«) findet sich neben »Zeitbildern« (Droste), »Zeitlieder« neben »Wanderliedern« und »Frühling und Liebe« (EichendorfF). Statt individueller Esoterik dominiert das Gesellschaftliche bis hin zur sozialen Ballade (Chamisso), statt Stimmungsgedichten das Gelegenheitsgedicht aus allen denkbaren privaten und öffentlichen Anlässen. »Für den Lyriker ist es ebenso selbstverständlich wie für den damaligen Theaterdichter, daß er in den Dienst der Gesellschaft tritt.«71 Daß bei dieser Ausgangslage in den joer Jahren die Rubrik der >WanderHeder< und der Reiselyrik mit stark feuilletonistischem Einschlag häufig vertreten ist und daß sich gerade hier vielfältige Berührung und Überschneidung mit 59 F. Sengle: Biedermeierzeit Bd. II, S. 4/8ff. Vgl. J.Wilke: Das Zeitgedicht. S. 246-305. 71 F. Sengle: Biedermeierzeit Bd. II, S.

70

analogen Tendenzen in der Prosa ergibt, kennzeichnet den praktisch- zeitgeschichtlichen Zug, der sich der Lyrik mühelos integrieren läßt.72 Dieser Zug wirkt sich unter bestimmten politischen Voraussetzungen für die Lyrik in der Weise aus, daß die Sparte >Zeitgedicht< oder >politisches Gedicht« quantitativ ein Übergewicht und damit auch publizistisch eine Vorrangstellung gewinnt.73 Dies ist, prinzipiell gesehen, kein Sonderfall. Wohl aber verweist ein soldier Vorgang auf die konkrete historische Lage, da er Kristaüisationspunkte und Keimzellen in der Entwicklung des politisch-gesellschaftlichen Bewußtseins aufzeigt. In diesem Sinne sind die Perioden zu verstehen, in denen das Zeitgedicht, das Agitationsgedicht, das politische Lehrgedicht in besonderem Maße zu Tage treten: die Zeit der patriotischen Lyrik 1810—1815, der Burschenschaftslyrik 1817-1820, der Griechen- und Polenlieder Ende der zoer und Anfang der 3oer Jahre, der liberalen Lyrik nach der Juli-Revolution i83o/3i. 74 Auch für die Vormärz-Lyrik im engeren Sinne ist es keineswegs außergewöhnlich, daß überhaupt eine didaktisch-politische Zielsetzung, eine >Tendenz< gegeben ist - didaktische Intention ist für das lyrische Gedicht insgesamt die Regel, nicht die Ausnahme. > Tendenz* besagt hier wohl aber etwas Spezifischeres: sie bezeichnet den Versuch — wie schon einmal, in den Jahren der Erhebung gegen Napoleon -, unmittelbar bestimmte Verhaltensweisen und Aktionen durch die elementare Gewalt pathetischer Rede hervorzurufen, wobei der subjektive Elan mit der erwünschten Wirkung häufig vorschnell gleichgesetzt wird.75 '2 Vgl- J. Wilke: Das >konservative< und das >progressive< >Zeitgediditkonservative< und »progressive« Varianten (s. Wüke) unterscheiden und auf die historischen Phasen beziehen lassen. 74 Vgl. S. 8, 75 Diese Erscheinungsform der »Tendenz* bildet den historisch besonderen Akzent im Rahmen des allgemeinen Gebrauchscharakters von Lyrik, der auch in den 4oer Jahren in breiterem Felde zu erkennen ist. Die Grenze zwischen >reiner< und engagierter Lyrik ist nirgendwo scharf zu ziehen; man kann sich auf die großen Namen beziehen, wie Platen, Lenau, die Droste, die alle auch Zeitgedichte schreiben - wie auf die Wortführer des engagierten Gedichts: wie früher Arndt und Körner, so dichten Herwegh, FreiHgrath und Ds. auch Liebes- und Naturlyrik und edieren diese unter Umständen sogar zusammen mit Zeitgedichten.

33

Wenn es auch nahelag, auf die Griechen- und Polenlyrik zu verweisen, die in Deutschland eine breite Basis der Solidarisierung mit den betroffenen Völkern gegen die Europa wie Deutschland gleichermaßen festlegende Allianzpolitik Metternichs hervorgerufen hatte, so hinkten die Vergleiche doch an einer Stelle: die Folgen der Rheinkrise, die sich außenpolitisch rasch beruhigte, zeigten sich in unerwartet starker Weise im innenpolitischen Bereich, dem sich die neue Lyrik mit Emphase und Kritik überwiegend zuwandte, 76 Es war der innenpolitische Elan, der Hoffmanns Liedern mit ihrer eingängigen Form über Nacht überraschende Popularität verschaffte, der Herweghs Gedichten mit ihrer vehementen, politischlyrischen Hyperbolik so erstaunliche Resonanz einbrachte, So sehr man dieser Lyrik, in Anlehnung an Äußerungen Heines, den Vorwurf machen kann, sie sei poetisch unzureichend (Hoffmann) oder politisch Irreführend, da zu abstrakt, allgemein und illusionierend (Herwegh), und so sehr man bei der ganzen Richtung mangelnden Realismus und leeres Verharren In Tiraden 77 konstatieren mag, so sehr sind gerade diese Züge Ausdruck der politischen Situation. Die Abstraktheit des Pathos und die Allgemeinheit der Aufrufe und Appelle entspricht einer spezifischen Defizienz des politischen Bewußtseins in Deutschland zu Beginn der 4oer Jahre: der Begriff der Nation - als Kernbegriff aller politischen Richtungen sowohl konservativer wie auch progressiver Couleur — ist weitgehend noch mit metaphysischen Wertungen versehen und nur in Ausnahmefällen wirklich politisch gedacht oder gar >realpolitisch< ausgewiesen. Die Tatsache, daß neben die Erregung, die die Rheinkrise hervorgerufen hatte, die oft geradezu schwärmerische Hoffnung auf den neuen preußischen Monarchen, Friedrich Wilhelm IV, trat, eine Hoffnung, die sich von dem Preußenkönig ebenso Schritte in Richtung auf die nationale Einigung ganz Deutschlands versprach, wie sie aus allgemeinen Formeln der Thronrede 78 nach der Krönung die Erwartung konkreter innerer Reformen ableitete — diese Tatsache belegt zu Genüge, wie stark nationaler Wunschtraum, Reformvorstellungen und politische Wirklichkeit auseinanderklafften. Damit ist keineswegs gesagt, daß die politische Dichtung keine politische Wirkung und Bedeutung, zumal im Hinblick auf das 76 77 78

34

Zur Rheinkrise vgl, Kap. 2.1. F. Sengle: Biedermeierzeit II, S, 538. Thronrede am 10,9.1840 in Königsberg.

Jahr 1848, gewonnen habe, wohl aber, daß sich der spezielle sprachlich-emphatische Charakter eines Großteils der Tendenzlyrik aus einem Mißverhältnis zwischen politischer Erwartung und politischer Realität erklärt. Unbeschadet des Gesagten wird in den 4oer Jahren aber eine andere, konkurrierende Richtung der Lyrik von Bedeutung, die sich sowohl nach dem stilistischen Grundmuster als auch nach der politischen Funktionsbestimmung deutlich abheben läßt. Sie hat ihre Wurzeln zum einen in der liberalen Lyrik der Jahre zwischen 1820 und 1855, die ihrerseits auf bestimmte Traditionszusammenhänge mit der Spätaufklärung, im Falle Anastasius Grüns auf die josephinische Tradition verweist. Zum anderen bestehen direkte Beziehungen zu der publizistisch-literarischen Kritik der Jungdeutschen, vor allem Gutzkows, Bornes und Heines, die bei aller proteischen Wandlungsfähigkeit eine stilistische Grundlinie erkennen ließ, die sich bis 1840 allerdings ausschließlich im Felde der Prosa realisiert hatte. Sie tat dies freilich auf einem engeren Felde, dessen oberflächliche Erscheinungsform der >Reise-Feuilletonistik< nicht ohne weiteres die politische Brisanz vermuten läßt, die das Genre in den 3oer Jahren haben konnte. Die sachgerechte Beurteilung ergibt sich auch hier erst, wenn man die publizistisch-literarische Bedeutung des Konsumartikels >ReiseliteraturReiseroute< zugrunde liegt. Dies hat zur Folge, daß jeder einzelne Punkt der Darstellung nur in dem Maße Interesse gewinnt und verdient, wie der betreffende Gegenstand 80 81

F. Sengle; Biedermeierzeit Bd. II, S. 239. Ebda., S. 242,

präsentiert wird, ohne daß funktionale Abstimmung und Relativierung auf ein literarisches Muster von Spannung und Losung eine Rolle spielen. Gemeinsam ist den Varianten der Reiseliteratur weiterhin» daß ihre wichtigsten traditionsbildenden Muster keineswegs in der Literatur der Klassik und ihrem literarischen Fundus zu suchen sind, auch nicht mehr in den traditionell beglaubigten Vorbildern der »Bildungsreise«. Die maßgebenden Leitbilder stammen aus der außerdeutschen, vor allem der angelsächsischen Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Das durch die Cook'schen Entdeckungsreisen ungeheuer angeregte und auf Jahrzehnte vorhaltende Interesse für Reiseberichte mit realem Hintergrund bildet den einen Pol des Spannungsfeldes, Lawrence Sterne 82 mit seiner »Sentimental Journey«, die es an Popularität mit dem humoristischen Roman »Tristram Shandy« aufnimmt, den anderen Pol, der in den späteren Jahren ebenso einflußreich von Washington Irving vertreten wird.83 — Selbst Dingelstedt zollt dem Sterne'schen Genius noch Tribut, wenn er die auf die beiden »Nachtwächter-Zyklen folgenden sechs Gedichte mit der Überschrift »Empfindsame Reisen« versieht, wobei freilich diese Texte einen poetisch vergleichsweise schwachen Tribut darstellen. In allen genannten Bereichen der Reiseliteratur hat die Zeit zwischen Restauration und Vormärz dann ihre eigenen großen Namen, die als solche Sterne des Buchmarktes und Orientierungspunkte der literarischen Produktion darstellen, Alexander von Humboldt vertritt die wissenschaftliche, gleichwohl auf ein breiteres Lesepublikum angelegte Reisebeschreibung,84 Adalbert von Chamisso die große Reisebeschreibung, welche dokumentarischen Charakter mit Unterhahungsfunktion vermittelt,85 Eürst Pückler-Muskau die >subjek82 Lawrence Sterne: Sentimental Journey through France and Italy. By Mr. Yoriek. - Das Buch erschien 1786 und wurde noch im selben Jahr durch J. J. Bode übertragen. In der Folgezeit erfuhr es zahlreiche Adaptationen. 83 Washington Irving; Tales of a Traveller, 1824 (deutsch 1825). 84 Alexander von Humboldt/A. Bonplandt: Reise in die AequinoticialGegenden des neuen Continents. - Stuttgart und Tübingen: Cotto 1815-1832, 85 Adalbert von Chamisso: Reise um die Welt mit der Romanzof fischen Entdeckungs-Expedition. Als Bd. III der Entdeckungsreise in die SüdSee und nach der Bering-Straße. - Weimar: Hoffmann 1821. 2.Aufl. Leipzig: Hitzig 1836.

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tivere< Form der vielschichtigen und vielfarbigen Reiseplauderei, in der sich vielerlei literarische Techniken vom Brief bis zur Anekdote, vom Gedicht bis zum eingeschalteten Dokument verbinden.86 Eine weitere Rubrik bildet die — nur zum geringen Teil auf romantische Ursprünge zurückgehende - Reise- und Reiseführerliteratur, die sich dem eigenen Land verschreibt, seine verschiedenen Gegenden als historische Landschaft, als kultur- und kunstgeschichtlichen Raum und nicht zuletzt als Wandergebiet entdeckt und publik macht: »Das malerische und romantische Deutschland« entsteht unter Mitarbeit namhafter Literaten (u. a. Freiligraths und Levin Schückings) m zahlreichen Bänden ab i83Ö. 87 — Hinzuzufügen bleibt, daß in einer Zeit, in der die durch wirtschaftliche oder politische Bedingungen erzwungene Emigration an der Tagesordnung war, jeder informative Reisebericht, aus welcher Weltgegend auch immer, eine Alternative zu diesem >romantischen Deutschlands zu den Heimischen Gegebenheiten, vor Augen führen und damit eine latent politische Bedeutung gewinnen konnte. Auf diesem Hintergrund ist die spezifische Note zu sehen, welche die jungdeutschen Autoren nach dem Vorbild Heines dem Genre des Reisebilds verleihen. Bei aller Anlehnung an Reisebeschreibung oder Reiseroman handelt es sich in der Tat urn politische Publizistik, die den Anlaß von Reiseerfahrungen realer oder fiktiver Art zum Ausgangspunkt politischer und gesellschaftlicher Stellungnahme macht. Die, je nach Zensurbedingungen, mehr oder minder durchschaubare Kaschierung der politisch-gesellschaftskritischen Intention macht weitere stilistische Differenzierung erforderlich. Daneben tritt die offenere, unumwundenere Inanspruchnahme des Reisebriefs als literarische Form des politischen Korrespondentenberichts, wie er in Bornes »Briefen aus Paris« und in Heines Berichten aus Frankreich seine >klassische< Ausprägung gefunden hat.88 Spätestens seit 1831 kann der Leser unter einem Titel, der sich als Reisebild oder Reisebrief empfiehlt, ein Werk politischer Publizistik mit mehr 80

87 88

38

H. L. von Pückler-Muskau: Briefe eines Verstorbenen, Ein fragmentarisches Tagebuch aus England, Wales, Irland und Frankreich. Geschrieben in den Jahren 1828 und 1829. Bde. 1-4, Stuttgart: Hallbergsche Buchhandlung, 1830/1831. Leipzig: "Wiegand ab 1836 bis 1842, Dies gilt — mit Einschränkungen — auch noch für die Junghegelianer: Vgl. Arnold Rüge: Zwei Jahre in Paris. Studien und Erinnerungen. 2 Tie. Leipzig: Jurany 1846,

oder weniger direkter Intention erwarten oder zumindest dessen gewärtig sein. In diesem Sinne, der sein genaues Pendant in der verlegerischen und publizistischen Situation hat,89 wird das politische Reisebild zur Hauptgattung des Jungen Deutschland, mit der sich zugleich der Anspruch auf die Überlegenheit und besondere Modernität der Prosa rechtfertigen läßt: aufgrund der stilistischen Flexibilität und der sprachlichen Brillanz des Heineschen Reisebildes kann das Genre die Divergenz zwischen Fiktion und Realität, damit auch zwischen Information und Unterhaltung in den Hintergrund treten lassen und die politisch-kritische Intention als ihre eigentliche Substanz ausgeben.

2.4,3. Spaziergänge besonderer Art Dingelstedts literarische Anfänge lassen sich leicht in die skizzierten Zusammenhänge der literarischen Entwicklung und der publizistischen Verhältnisse einordnen. In den 3oer Jahren steht sein schriftstellerisches Schaffen etwa zu gleichen Teilen im Zeichen der Lyrik - mit einer relativen Breite der Formen - und im Zeichen der >modernstensoziale Tendenz< kommt in dem Roman »Unter der Erde. Ein Denkmal für die Lebendigen« (i84o) 90 in doppelter Weise zum Tragen: einer aggressiv kommentierenden scharf anlehnenden Beschreibung der Hohlheit und der Fassadenkultur einer nobüitierten Finanziersfamilie steht die Zuwendung zu den Lebensund Arbeitsformen der arbeitenden Bevölkerung gegenüber; im Detail spielen bereits realistische Schilderungen der Arbeitsweise und des Lebens in einem Bergwerk eine bedeutende Rolle. Besonders deutlich ist der Anschluß an die Generation der Jungdeutschen in dem Roman »Die neuen Argonauten« (1839). Der s» Vgl. Kap. 2.3.2. 00

Leipzig; Einhorn 1840.

Untertitel »Komischer Roman« spiegelt die literarische Situation nach 1835, die auch Gutzkow veranlaßte, statt des Reisebildes, das der politischen Intention leidit verdächtigt werden konnte, einen »Komischen Roman«, »Blasedow und seine Söhne«81 zu verfassen. Auch stilistisch ist Dingelstedts Roman im Bereich der kritischen Reiseprosa angesiedelt,62 bedient sich aber weiterer Einkleidungen. Jean Paul und Sterne stehen Pate beim Ausweis des »Humoristischen«. Außerdem gibt sich das ganze als Travestie eines antiken Stoffes - was indessen nicht ausschließt, daß sich die äußere Handlung wie auch die Figur des Helden rasch als Vorwand für satirischpolitische Hiebe nach allen Seiten durchschauen lassen. Dies gilt auch für die äußere Einteilung in neun Kapitel, die den Musen zugewiesen werden — ein Verfahren, das offensichtlich an das klassische Vorbild von »Hermann und Dorothea« erinnern und somit die kritische Linie verschleiern soll. Unter dem literarischen Überwurf machen sich nämlich sehr schnell die stilistischen und erzählerischen Errungenschaften des Heineschen Reisebilds bemerkbar. Durchgehende Ironisierung, literarische Parodie, zahllose ErzählerDigressionen, pointenreiche Zeitglossen — alle diese Elemente verraten die Schulung an Heines Prosastil, der über weite Strecken in geglückter Weise imitiert wird. Seine inhaltliche Substanz hat Dingelstedts Roman in der Darstellung der konkreten kiemstaatlichen Verhältnisse Kurhessens,, die, satirisch beleuchtet und gleichzeitig auf den weiteren Bereich von Metternichs Deutschem Bund bezogen, in ein Reisebild-Itinerar eingebracht werden. In leicht durchschaubarer Verschlüsselung wird der neue Argonauten-Zug auf eine Schiffs- und Landreise von Hersfeld nach Kassel projiziert. Eine Vielzahl zeitgenössischer Probleme wird in diesem Rahmen angesprochen. Vorgänge des Revolutionsjahres 1830 finden sich wieder in der Schilderung einer deutschen Provinzrevolution im hessischen Raum. Verschiedene Varianten der Philister-, Justiz- und Hofsatire lassen ebenfalls in durchsichtiger Verschleierung die realen Schauplätze der Vorgänge erkennen. Alle mehr oder weniger brisanten Themen werden dem übergeordneten Schema der Reise, das fiktive und reale Moment vermittelt, eingefügt und 91 82

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Stuttgart: Classiker-Verlag 1838. Auf Wienbargs »Tagebuch von Helgoland« (Hamburg: Hoffmann und Campe 1838) wird im »Salon« anläßlich der »Jungdeutsdien Bildergalerie« (Nr. 16, 17. 7. 1841, S. 145) ausdrücklich verwiesen.

ohne Einbuße an Aktualität und Schärfe — um den Helden und die Nebenfiguren gruppiert. Insgesamt dominiert die politisch-satirische Perspektive bei weitem gegenüber der Fiktionalität der Figuren, so daß sich der »komische Roman« als Variante des Reisebildes in seiner >jungdeutschen Version< entpuppt, In Dingelstedts Lyrik der gleichen Jahre ist der politische Tenor härter, aggressiver, Der erste Wurf, mit dem Dmgelstedt als engagierter Lyriker hervortrat, der Band »Spaziergänge eines Kasseler Poeten« (iS}/) 9 3 gibt schon im Titel die Schule an, aus der er hervorgeht, Vorbild ist die liberal-kritische Lyrik der beginnenden 3oer Jahre, vertreten durch Anastasius Grün, der nach der Welle der Griechen- und Polenlieder, die innenpolitische Situation zum Grundthema seines Zyklus »Spaziergänge eines Wiener Poeten« (1831) gemacht hatte.94 Den Anstoß für Grün bildeten die Erfahrungen der Juli-Revolution sowie Eindrücke von einer Reise durch Süddeutschland, wo der Verfasser die konstitutionellen Einrichtungen der süddeutschen Staaten kennen gelernt hatte, die er in Österreich schmerzlich vermißte; die Folge war eine im einzelnen sehr scharfe Auseinandersetzung mit den Verhältnissen der Donau-Monarchie, wobei auch Metternich als Spitze des ganzen Systems nicht geschont wurde. Als Zyklus ohne profilierte zyklische Anlage95 umfaßt die lockere Folge Zeitgedichte verschiedensten Inhalts und unterschiedlicher Tonlage, teils stilisiert nach der vaterländischen Appell-Lyrik, teils in der Form des >ErlebnisgedichtsEinheit 93 J

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^37 veröffentlicht in der »Wage« (vgl. S. 12), 1838 erneut unter dem Titel »Stimmen aus der "Wüste« in Ds.' »Gedichten« (Kassel/Leipzig: Kriegersche Buchhandlung), Anastasius Grün (d.i. Anton Alexander Graf Auersperg): Spariergänge eines Wiener Poeten. Hamburg: Hoffmann & Campe 1831, z. nidit autorisierte Aufl. 1832. Enstanden 1830/31. - Zu Grün vgL Zur Bedeutung des lyrisdien Zyklus als beliebter Modeform der Zeit, der audi die Jungdeutschen (Heines Nordsee-Gedidite) nidit fern standen, vgl. F. Sengle: Biedermeierzeit II, S. 624!". — Ds. selbst hat das Muster des lyrischen Zyklus nach dem unterlegten Schema >Dichterleben< oder >Roman einer Liebe< nachgebildet, u. a. in seiner Folge »Ein Roman« und in »Letzte Liebe«.

des OrtesSpaziergangs< bildet Dingelstedt nach. Die Symbolik des Zapfenstreichs verweist im Eingangsgedicht auf die Forderung einer allgemeinen Erweckung politischen Bewußtseins nach den langen Jahrzehnten des politischen Schlummers; die Antiquiertheit des fürstlichen Absolutismus wird am Beispiel eines Monuments dargestellt - eine Reminiszenz an Heines Buch »Ideen. Das Buch Le Grand«. Die unzureichende Ständeverfassung kommt in dem »Ständchen am Ständehaus« zur Sprache, die Erinnerung an die weltgeschichtliche Bewegung der napoleonischen Zeit steht im Gegensatz zum Dornröschenschlaf der Gegenwart, die als Zeit des Zopfes, des >Marschallstabs für Hessens HeldenLeichterung< findet statt; kolloquiale Syntax und ironische Zuspitzung prägen die Stillage; die allegorischen Gewänder werden zugunsten des aggressiven Wortspiels abgeworfen, Dingelstedt hat sich damit alle Voraussetzungen für den lyrischen >Wurf< des Jahres 1841/42 geschaffen. 2.4.4. Nachtwächters literarischer Steckbrief Die »Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters« erscheinen, rein äußerlich betrachtet, als Lyrik-Band traditionellen Zuschnitts, in 4*

dem engagierte und >reine< Lyrik, insgesamt vier verschiedene Teile unter einem gemeinsamen Haupttitel, vereint sind. Sieht man näher zu, so tritt in der Sammlung allerdings insofern ein wirklicher Bruch auf, als die ersten beiden Teile der Figur des Titels zugeordnet werden, wahrend die beiden folgenden selbständig erscheinen. »Letzte Liebe«, ein streng komponierter, stilistisch an Platen orientierter Zyklus von Liebesgedichten, läßt keinerlei ausdrückliche Bindung an den Titel des Bandes erkennen; für den vorletzten Teil »Empfindsame Reisen« gilt dasselbe, allenfalls ist indirekt durch die Reisemotivik ein gewisser Anschluß an die als Lieder des »Nachtwächters« ausgewiesenen Partien gegeben. Diese ersten beiden Teile stellen einen genau aufgebauten und streng in der Sprecher-Figur zentrierten zweiteiligen Zyklus dar. Die thematische Geschlossenheit ist durch die politische Stellungnahme verbürgt, die sich mit der >NachtwächterNachtwächterKunst-Lyrik< der Zeit bis hin zu exotischen Formen wie Ghasel oder Ottaverime,97 verrat das Kalkül, daß formale Virtuosität und politische Absicht sich gegenseitig befördern können, Irn Rahmen dieser stilgeschichtlichen Möglichkeiten, die zahlreiche Momente der Innovation aufweisen, leistet Dingelstedts vNachtwächter< eine exemplarische Synthese. Das Resultat ist eine neue Gesamtform, die einmal das kritische und satirische Potential des Jungen Deutschland bewahrt und gerade damit der bereits zur Mode gewordenen emphatischen Tendenz-Poesie etwa nach Art von Becker und Schnecken burger Widerpart bietet, die aber zugleich die unverbindliche Sequenz der älteren Reisebilder überführt in ein am Muster der Grünschen »Spaziergänge« entwikkeltes Gesamtbild der politischen Landschaft. Zweites Merkmal der Synthese ist die Möglichkeit, die einzelnen Reiseeindrücke - im Gegensatz zum Prosa-Reisebild — zu lyrischen« Stationen zu komprimieren und ihnen formale Schlagkraft und formal gesteigerte Aggressivität des in sich abgedrundeten Versgedichts zugute kommen zu lassen. Weitere Folgen der Synthese, die unmittelbar für die politische Aussage zu Buche schlagen, betreffen Gliederung und Perspektivik. Die Spannung von lokalem und weltpolitischem, »kosmopolitischem« Horizont, die bereits im humoristischen Roman< durchgehalten wurde, bestimmt die gesamte Komposition. Sie realisiert sich in einem zweiteiligen, jeweils konkreten Itinerar. Dem Rundgang durch eine nicht näher ausgewiesene, typische Kleinstadt des deutschen Duodezstaates folgt die Wanderung durch die weiträumige politische Landschaft des Deutschen Bundes. Den beiden Teilen des Itinerars sind jeweils inhaltliche Grundmomente zuge87

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Zur Form des Ghasels vgl. zu W36, zur Ottaverime (= Stanze) zu W ,6, Grenzphantasie.

ordnet. Dem >Stilleben< entspricht die aus der Untertanenperspektive gezeichnete Windstille und gesellschaftlich-hierarchische Statik, beides in ironischer Weise verzeichnet zur Sdieimdylle. Der >Weltgang* durchmißt den Raum der restaurativen Befriedungspolitik und des bundesweiten Repressionssystems im großen; beides kommt in den einzelnen Stationen, die den verschiedenen Bereichen des Deutschen Bundes zugeordnet sind, permanent zum Vorschein. Für die Komposition des Zyklus ist weiterhin die politische Gesamtperspektive ausschlaggebend, literarisch-poetisch vermittelt durch die Sprecherperspektive. Der springende Punkt der Gestaltungsweise zeigt sich im Vergleich zu den älteren Mustern der Wiener und Kasseler >SpaziergängeIch< für den Sprecher ein. Die biographische Identität rnit dem Autor wird zwar neutralisiert zugunsten des im Titel angegebenen »Poeten«. Trotz der Anonymität sind aber konkrete Beziehungen zwischen diesem und dem >Ich< der Gedichte herzustellen aufgrund des lokal-politischen Horizonts, der sich ebenfalls irn Titel bereits abzeichnet, Sprecher-Ich und politisches Ich, das heißt das Subjekt der politischen Stellungnahme, sind identisch. In den >Nachtwächternörglerischen< Beobachter, der sich im weiteren Verlauf des »Stillebens« regelmäßig verräterische Zungenschläge erlaubt. Sie lassen die eigentliche satirische Intention erkennen: eine unter der Voraussetzung der >Sklavensprache< formulierte List, die mehr zu verstehen gibt, als sie de facto sagt. Formale Sprecherrolle und politische Perspektive sind nicht deckungsgleich, da der Leser die beschränkte und sich immer wieder verbergende Gestalt des Sprechers durchschauen, ihre Aussagen politisch erweitern und ergänzen muß, um zum Kern der politischen Stellungnahme vorzudringen. Diese Rolle des Nachtwächters spielt sich im ersten Teil des Zyklus so weit ein, daß sie die harmonische Anfügung des zweiten Teils, »Nachtwächters Weltgang«, gestattet, obwohl dieser eine beträchtliche räumliche Erweiterung und eine Verschiebung der Horizonte mit sich bringt. Dieser zweite Teil ist nicht mehr im strengen Sinne der ursprünglichen Rollenfiktion angepaßt,09 jedoch suggeriert das vorgezeichnete Itinerar eine schrittweise sich vollziehende Horizonterweiterung des Nachtwächters. Je mehr diese Erweiterung zu Buche schlagt, desto mehr verliert sich der ursprüngliche Ansatz der provinziellen Nachtwächterfigur. Der Sprecher als politisches Ich wird zum kritischen Mentor der deutschen Verhältnisse. Die angedeutete formale Leistung der Rollenfiktion ist ausschlaggebend für das ganze Werk, Sie erlaubt die Zusammenfassung verschiedenster Themen unter einer einheitlichen - oder sich langsam wandelnden, erweiternden - satirisch-aggressiven Perspektive, die in jedem Moment das Lokale mit dem Kosmopolitischen, das Oberflächlich-Symptomatische mit dem universaleren politischen Hintergrund vermittelt. Die Rollenfiktion ist gleichsam die epische Stütze des lyrisch-politischen Zyklus. Das einzelne Gedicht wird - anders als bei den Zeitgenossen Hoffmann oder Herwegh - einem umfassenden Gesannhorizont eingegliedert, der sowohl geographisch als auch politisch qualifiziert ist. Insofern ist die formale Bedeutung der Sprecher-Fiktion zugleich politisch-funktional; sie gestattet, im Rahmen des Zyklus, »wesentlich mehr über die deutsche Wirklichkeit auszusagen, als etwa Herwegh mit seinen temperamentvollen Deklamationen«,100 99 100

VgL zu W^, Metamorphose, H, Kaufmann: Politisches Gedidit und klassische Diditung, S. roi.

Die inhaltlich-politische Bestimmung der Sprecher-Rolle konkretisiert, was in der formalen Konzeption an Möglichkeiten angelegt ist. Daß es sich bei dem Subjekt des Spaziergangs um einen Nachtwächter handelt, stellt ein PoKticum dar, das unter anderem von Bedeutung für die Rezeptionsmöglichkeiten des ganzen Werkes ist. Tages- und Jahreszeiten-Lyrik haben in der Restaurationszeit aufgrund jahrhundertelanger Traditionen - von vornherein einen metaphorischen Sinnbezug, der sich auf metaphysische und gesellschaftliche Horizonte eingespielt hat. Im politisch-metaphorischen Sprachsystem der Zeit besitzen »Nacht« und »Morgen« einen bestimmten historischen Stellenwert, der bereits anläßlich der biographischen Passagen aus dem Roman »Die neuen Argonauten« in Erscheinung getreten ist. »Nacht« bezeichnet die geschichtliche Phase seit 1815 und deren unmittelbare Fortsetzung in der Gegenwart, während »Morgen« die Hoffnung und die Erwartung einer Zeitenwende, einer politischen und gesellschaftlichen Veränderung großen Ausmaßes impliziert. Dieses Bezugssystem gibt der fiktiven Gestalt des Nachtwächters die historische Dimension, die zugleich eine politische Aufgabe darstellt; er ist derjenige} der die Stunden der Nacht zu Bewußtsein bringt und zugleich, als Zeitansager, auf den Morgen hinweist, der ihn seiner Funktion ledig macht. Diese allgemeine Einordnung in die politische Metaphorik erfährt eine zusätzliche Präzisierung, wenn man das engere Feld der politischen Lyrik der vorangegangenen Jahrzehnte ins Auge faßt. Das Motto des Zyklus »Eteignons les lumieres et rallimons le feu« gibt den entscheidenden Hinweis. Der direkte Bezug auf BeVanger und der indirekte auf Chamissos »Nachtwächterlied« gibt dem Leser zu verstehen, daß der Nachtwächter selbst eine bestimmte Linie politisch-liberaler Lyrik fortzusetzen gedenkt. Zugleich aber wird auf diese Weise auf das weitere Bezugssystem der politischen Lyrik verwiesen; »Nacht« und »Morgen« stellen topoi dar, die seit der jakobinischen Lyrik und der patriotischen Dichtung der Befreiungskriege stilbildend geworden sind.101 Mit seiner Sprecher-Fiktion knüpft Dingelstedts Zyklus an eines der wichtigsten und gängigsten, das heißt aber auch der verbrauchtesten Klischees der zeitgenössischen Tendenz-Poesie an.102 Die Ironisierung dieser Allerweltstopoi und ein gleichwohl 101 H.-W. Jäger: Politische Metaphorik, S. ißff. 102 Zu verweisen "wäre auf unmittelbar zeitgenössische Verwendungsweise der Motlvik bei Herwegh (»Morgenruf«) und Hoffmann, in dessen »Wädiierlied« es heißt:

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positives inhaltliches Präjudiz - im Sinne eines Verweises auf einen Zeitenumbruch - halten sich im Nachtwächter-Motiv bei Dingelstedt die Waage. Der nächtliche Stundenruf impliziert notwendigerweise Zukunft, das heißt eine Zukunft von anderer Art und Qualität als die Gegenwart. Heine drückte diese Dimension adäquat aus, wenn er Dingelstedts Nachtwächter »Fortschrittsbeine«103 andichtete. Dennoch ist der Stundenrufer, der die Stunden der deutschen Nacht ausruft, auch Gegenstimme zu dem »deutschen Sänger«, der sich der Illusion hingibt, sein Lied sei selbst schon die Erneuerung im Politischen oder könne sie unmittelbar hervorrufen. Die »Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters« halten sich - ganz im Einklang mit den inhaltlichen Prämissen der Ansager-Rolle — auf der stilistischen Ebene der engagierten Skepsis und der ironischen Kritik, die mit der gängigen Art der Tendenz-Dichtung ebenso stark kontrastiert, wie das angeblich »phantastisch-zwecklose« Lied »Atta Troll«, das sich dennoch expressis verbis der Auseinandersetzung mit der Tendenz-Poesie verschrieben hat. Die Frage ist, was sich mit diesem Gesamt-Entwurf an politischer und gesellschaftlicher Aktualität aufgreifen läßt, in weichen Dimensionen der Analyse und Kritik sich die Darstellung bewegen kann und welcher politische Standort sich darin Gehör verschafft.

2.5. Das politische Profil: >Keine Romanze« Dingelstedts Eigenständigkeit als politischer Lyriker beruht zunächst auf der Originalität seines poetischen Entwurfs; sie ist weniger deutlich erkennbar in den politischen Themen, die er je nachdem bald mit der Mehrzahl seiner Dichter-Kollegen der beginnenden 4oer Jahre, bald mit einzelnen Vertretern wie Herwegh, Hoffmann Wer will noch Hahn und Wäditer sein? Wer wecket uns aus Schlafesnot Bald zu der Freiheit Morgenrot? Wir schlafen in den Tag hinein. Als Beispiel für die ganz allgemein gehaltene, politisch nicht spezifische Verwendung des Nacht-Morgen-Topos, sowie der sich anschließenden Nachtwächter-Motivik kann das in den Anhang aufgenommene >TagwächterPartei< ausgetragen wurde - durch die Bestimmung einer Parteizugehörigkeit einfach umschreiben. Dies laßt sich im übrigen bei kaum einem der Autoren dieser Jahre ohne weiteres durchführen. Es gilt auch für den Herwegh der »Gedichte eines Lebendigen«, der die Formel »Vive la Republique« als Titel und als Lied-Refrain verwendet und im selben Zyklus ein großes Supplik-Gedicht an Friedrich Wilhelm IV. richtet; es gilt selbst für den Freiligrath des »Glaubensbekenntnisses«, erst mit »Ca ira!« von 1846 dürfte so etwas wie eine Parteilichkeit des Dichters im modernen Wortsinn erreicht sein. Insgesamt ist für den Beginn des fünften Jahrzehnts des Jahrhunderts zu sagen, daß es zu einer Parteibildung im heutigen Sinne kaum in Ansätzen kam, schon allein mangels geeigneter Foren zur Auseinandersetzung und Profilierung, die ja selbst im Rahmen der regionalen Stände-Parlamente nicht gegeben waren — ganz abgesehen von dem inneren Widerstand derjenigen, die sich selbst als >liberal< verstanden und die sich durch die Umstände als erste auf den Weg der Gruppen-Formierung gedrängt sahen."4 An anderen Zuordnungsmöglichkeiten bieten sich zunächst nur zu weit- oder zu engmaschige Netze an.105 Ein Begriff wie »Bewegungspartei« besagt zwar insofern historisch einiges, als er gerade das Zusammengewürfelte der Reformen fordernden und gegen die Beharrungsfähigkeit des (Metternichschen) »Systems« antretenden Oppositionellen erkennen läßt. Andererseits deckt der Begriff zu viele Unterschiede zu, als daß er die Position des je einzelnen Autors genau bezeichnen würde. Versucht man engere Gruppierungen 104

K. Lenk/F, Neumann (Hg.): Theorie und Soziologie der politischen Parteien, Bd. I. Vorwort. S. XXXII. - Wie stark selbst im Umkreis der Halleschen Jahrbücher das rein ideelle Moment für den Begriff von Partei noch ist, zeigt etwa Rüge. Für sein Verständnis ist ausschlaggebend: »der gleichgerichrere entschiedene Wille einer Mehrheit von Personen zu politischem Handeln und die bewußte Parteinahme für die Idee des Fortschritts gegen alle bloße Beharrung. Partei ist demnach die freigesetzte Kraft des politischen Handelns, zu der die geistige Macht der Kritik sich steigert, in die sie umschlägt, wenn sie das Volk ergreift« (zit. ebda., S. XL). los W. Conze: Die deutsche Nation, S. 42f.

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überregionaler Art ausfindig zu machen, so kommt man über punktuelle Vereinigungen kaum hinaus; die betreffenden publizistischen Organe weisen zwar meist hinreichende Profilierung auf, wie etwa die Halleschen Jahrbücher oder die Rheinische Zeitung, geben jedoch keinen Maßstab für eine analog profilierte parteiähnliche Vereinigung,106 Eine klare politische, im Sinne einer Parteigruppierung verstehbare Ausformung der Gegensätze innerhalb der Oppositionellen trat bekanntlich erst mit dem Revolutionsbeginn in Erscheinung, Einen Vorgeschmack gab die Heidelberger Versammlung und ihr Siebenerausschuß, »geschichtHch der Endpunkt der seit 1839 fast alljährlich stattfindenden Versammlung deutscher Patrioten«.107 Im Frankfurter Vorparlament konnte sich seine radikal-revolutionäre Richtung dann freilich nicht durchsetzen, die Spaltung der revolutionären Bewegung war die Folge, und während die Majorität mit der Durchsetzung der Wahlen zugleich die Bereitschaft verband, »die deutsche Frage in Zusammenarbeit mit den Regierungen zu lösen«,108 bekundete die Gegenseite mit dem gegen die Märzregierungen unternommenen Hecker-Putsch die radikale Position. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist auch Dingelstedts politische Haltung genau festzulegen: im Gegensatz zu Herwegh, der sich am HeckerPutsch beteiligte, steht er auf selten der Gemäßigten, übrigens auch später hinsichtlich der Gruppierungen in der Paulskirche. Für den Beginn des Jahrzehnts ist aber weder die klare Aufgliederung der Oppositionellen gegeben, noch Dingelstedts individuelle Position in verallgemeinernder Weise zu bestimmen. Zur Zeit der Entstehung der >Nacht Wächter < -Lied er scheidet außerdem noch die Möglichkeit aus, wenigstens einen scharf umrissenen gedanklichen Bezugspunkt (etwa der frühsozialistischen Theoretiker oder einer philosophischen Schulbildung nach Art der Junghegclianer) ausfindig zu machen. Daher verbietet sich auch hinsichtlich der Darlegung der politischen Position ein Versuch, diese von Grundsatzforderungen und programmatischen Sätzen aus zu formulieren, wie das später im Falle von Herwegh oder Freiligrath, jeweils nach 1844 bzw. 1846 möglich ist. Auf der anderen Seite ist DingelM. Windfuhr: Heinrich Heine zwischen den progressiven Gruppen seiner Zeit. Von den Altiiberalen zu den Kommunisten, Ein Arbeitspapier. — In: ZsfdtPh, Bd. 91, 1971, Sonderheft, S. 1—23, 107 V. Valentin; Geschichte der deutschen Revolution 1848-1849 Bd. Is S, 468. 108 W. Mommsen: Große und Versagen des deutschen Bürgertums. S. 5°

stedts Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation der Jahre nach 1840 um ein Mehrfaches konkreter und im Konkreten zugleich differenzierter als die seiner beiden Kollegen, wie übrigens aller Vormärz-Poeten, Weerth und Heine ausgenommen. So läßt sich kein »Credo« formulieren, das über Dingelstedts subjektive Bindung an politische Konzepte Auskunft gäbe. Wohl aber kann man anhand der Themen und der Darstellungsweisen des >NachtwächterNachtwächter< in zwei Gedichten, die ausdrücklich dem äußeren Rahmen der deutschen politischen Landschaft gewidmet sind. Sie nehmen also innerhalb des »Weltgangs« eine Sonderstellung zwischen den »Stationen« ein: West- und Ostgrenze des deutschen Staatensystems geben den Anlaß, also der Rhein und die Grenze Preußens. Dingelstedts »Rheinlied« (Wji) knüpft direkt an das KrisenEreignis der Vorjahres, die Rheinkrise an und bekräftigt zweifelsfrei den nationalen Vorbehalt gegenüber territorialen Forderungen des westlichen Nachbarn. Es setzt sich aber ebenso unmißverständlich von einem hochgestochen illusionären, die deutsche Realität aus den Augen verlierenden patriotischen Pathos ab. Entschieden wehrt sich das Gedicht gegen die Aufhebung des alten, aus der Zeit der Freiheitskriege stammenden Junktims, daß >Einheit< nur zusammen mit >Freiheit< zu fordern sei, Nationalgedanke und Konstitutionsforderung nur zusammen sinnvoll sind. Wie Dingelstedt es zu keinem antifranzösischen Ausfall kommen läßt,109 so lehnt er auf der 109 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Napoleon-Gedicht St. XIII, 51

anderen Seite jeden sich verselbständigenden, isolierten nationalen Einheitsansprudi ab. Im selben Sinne wird das Thema der Ostgrenze aufgegriffen. Das Schicksal der Polen verdeutlicht, in welchem Maße die nationale Frage der Völker und die Frage der Staatsform, der politischen Freiheit, miteinander verbunden sind. Die Sympathie mit den niedergeworfenen Polen entlädt sich in der Abrechnung mit dem Zaren, dem Garanten der europäischen Reaktion. Letztlich verkörpert er für Dingelstedt wie für alle deutschen Oppositionellen den Inbegriff der politischen >BarbareiasiatischNachtwächterCornmunismus< außerhalb des Themenkreises, der im >Weltgang< in entsprechender Größenordnung bestimmt wird. Dies ist freilich innerhalb der deutschen Grenzen vor den großen Hungerkrisen der Jahre 1843 bis 1846 und vor dem schlesischen Aufstand nicht verwunderlich, da nur wenige deutsche Intellektuelle mit der fortgeschrittenen industriellen, politischen und sozialen Entwicklung der westlichen Nachbarländer aus eigener Anschauung vertraut waren. Lediglich ein kleinstädtisch-provinzieller Reflex dieser Problematik taucht innerhalb des »Stillebens« in der Thematik der Armut und der Hilflosigkeit der Entrechteten auf. In diesem Rahmen zeigt es Momentaufnahmen, die, zusammen mit den zahlreichen weiteren Genrebildern, die Brechung des >Systems< im Milieu und im engen Horizont des Duodez-Städtchens aufzeigen: alle Kennzeichen des >Systems< sind in verkleinertem Maßstab bereits bekannt. Dem autokratischen Hofregiment entspricht hier Willkür und Korruption des Ministers, der europäischen Großfinanz ein einzelner Neureicher, der auf Kosten des Landes zu seinem Vermögen gekommen ist,127 dem Spitzelsystem die Angst vor Denunziation, der politischen Verfolgung eine Kerkerszene, dem Verrat an den Teilnehmern der Freiheitskriege das Schicksal eines Veteranen im Irrenhaus.128 Diese Verdeutlichung und typisierende Demonstration 12e

Immerhin hat Ds. bereits im Juni 1841 Im »Salon« (Nr. 12, S. ), drei Jahre vor dem sdilesisdien Aufstand, Piittmanns Lied »Der alte Weber« gedrudit, das die soziale Revolution ankündigt.

i« VgL ST VIII und ST XVI. 128 Vgl. ST V und ST XIX. 5«

lokaler Themen dient der politischen Grundintention noch einmal in präziser Weise: sie macht klar, wie stark und grundlegend im scheinbar äußerlich Unpolitischen das Politische, im belanglos Regionalen das Universale der politischen Grundkonstellation der Epoche zu erkennen ist. Das scheinbar Apolitische ist das Resultat der systematischen Entwöhnung und Entfernung der Bevölkerung von politischer Information, von Stellungnahme, Mitsprache und Entscheidung, Folge der restaurativen Wende von 1815 bis 1819 und aller Maßnahmen, die sie gezeitigt hat. Die Untersuchung der politischen Inhalte von Dmgelstedts Zyklus erbringt hinreichend Anhaltspunkte für eine Einordnung des ganzen in die politische Situation der beginnenden 4oer Jahre. So sind entscheidende politische Stoßrichtungen nach rechts deutlich erkennbar. Der konservative und partikularistische Legitimismus bildet die erste und wichtigste Gegenfront, wie sie sich in den fürstlichen Regierungen und den entsprechenden Parteigängern der ständischen Parlamente und des Verwaltungsapparates konzentriert. Eingeschlossen sind alle noch-romantischen und historisierenden Versionen des Staatsgedankens, die diese Position begründen und rechtfertigen sollen. Nicht weniger scharf ist die Polemik gegen einen auch von Kreisen des Bürgertums getragenen >BarbarossaNachtwächtersBonaventura< gezogen, zumal sich motivliche Übereinstimmungen nachweisen lassen;3 vor allem kam es in diesem Zusammenhang auf die >Erklärung< gewisser Aspekte des Weltschmerzes in einzelnen Partien des »Stillebens« an. Diese Rückbeziehung ist indessen nicht zwingend, da die Weltschmerz-Problematik der joer Jahre ohnehin für Dingelstedt vorauszusetzen ist 4 (vgl. zu ER und LL). Damit ist die Möglichkeit des Einflusses seitens des >Bonaventura< nicht m Abrede gestellt, wohl aber sind näherliegende Zusammenhänge in den Vordergrund zu rücken.5 Dies gilt auch 1

Jean Paul: Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch. Zuerst in; Kornischer Anhang zum Titan, Berlin: Matzdorff (1800-1803), 2 Alain Rena Lesage: Le diable boiceux (erschienen 1707). 3 Anonym: Nachtwachen. Von Bonaventura. 1804—i8oj. - Penig/Sächsen: i. Ausgabe 1804 im Journal von neuen deutschen Original-Romanen, 3. Verlag von F. Dienemann i8oj. — Zum >Dachstubenpoeten< von ST X vgt. die 8. Nachtwache, zum >Sccrbehaus< von ST IX die i. Nachtwache; das für den »Bonaventura< zentrale Motiv des Irrsinns findet sich in ST XIX. 4 Vgl. F. Sengle; Biedermeierzeit I, S, 24. s Dabei wäre darauf zu verweisen, daß Dingelstedt mit dem Prototyp der Weltschmerz-Dichtung, Lord Byron, durchaus vertraut war, wie u. a. aus dem Byron-Motto seines Gedichtes »Verständlich für Viele« (Salon 19 vom 7. 8. 1841, S. i^9f.) hervorgeht, 83

für das Gegeneinander sentimentaler, humoristischer und satirischer Züge, das durch Dingelstedts literarischen Gewährsmann Jean Paul und, in anderer literarischer Ausrichtung, durch Heine hinreichend vermittelt ist. Die Verbindung der generalisierenden Vogelschau mit der konkretisierenden Sicht des Rundgangs erfolgt außerdem im Sinne eines bestimmten Verfahrens der Zeit; des humoristischen >Genret. Eine vergleichsweise starke Realitätsnähe, die bis zur sprachlichen Annäherung an saloppe Wendungen der entsprechenden kolloquialen Verhältnisse reicht (»vornehmes Pack«, ST VII, »faule Gäuche« St XII, »versoffener Tropf«, ST XII), wird durch leicht idyllisierende Darstellung (ST XII) und vor allem in humoristisch getönten Miniaturen (ST IV) aufgefangen; dabei bietet eine sprachlich-kolloquiale Mittellage, der Verzicht auf gesuchte stilistische Besonderheit, und eine anspruchlos-geläufige Vers- und Strophengestaltung die Basis für die bruchlose Vermittlung des Gegensätzlichen. Sie bildet irn »Stilleben« zugleich die Grundlage - und im einzelnen die stilistische Handhabe — für die scharfen Töne konkreter Satire, welche das politische Profil dieses ersten Teiles der >NachtwächterHyperion< zurück: »Wie der Sternenhimmel, bin ich still und bewegt« (I. Bd., 2. Buch, Stuttgarter Ausg. Bd. 111,5.48, Z. 16).

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Weib, gib mir Deckel, Spieß und Mantel, Der Dienst geht los, ich muß hinaus. Noch einen Schluck .,. Adies Mariandel! Ich hüt' die Stadt, hüt1 du das Haus! Nun schrei1 ich wieder wie besessen, Was sie nicht zu verstehen wagen Und was sie alle Tag vergessen: U h t ! Hört, Ihr Herrn, und laßt Euch sagen! Schnarcht ruhig fort in Euren Nestern Und habt auf mein Gekreisch nicht acht! Die Welt ist akkurat wie gestern, Die Nacht so schwarz wie alle Nacht. Auch welche Zeit, will Niemand wissen, J s gibt keine Zeit in unsren Tagen, Duckt Euch nur in die warmen Kissen, Die Glocke die hat nichts geschlagen! Laß keiner sich im Schlaf berücken Vom ( v u l g o Zeitgeist) Antichrist, Und sollte wen ein Älplein drücken, Dankt Gott, daß es nichts Ärgres ist. Das Murren, Meistern, Zerrn und Zanken, Das Träumen tut es freilich nicht, Drum schluckt sie runter, die Gedanken, Bewahrt dasFeuer und das Licht! Auch wackelt nicht im bösen Willen An Eurem Bett und räkelt nicht,

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3j

Die Zipfelmütze zieht im Stillen Zufrieden übers Angesicht. Der Hund im Stall, der Mann beim Weibe, Die Magd beim Knecht, wie Recht und Pflicht, So ruht und rührt Euch nicht beileibe, Auf daß der Stadt kein Schad* geschieht! Und wann die Nacht, wie alle Nächte, Vollendet hat den trägen Lauf, Dann steigt, doch stets zuerst das rechte Bein aus den Federn, sittsam auf! 85

Labt Euch an dem Zichorientranke Und tretet Eure Mühlen gern, Freut Euch des Lebens voller Danke Und lobt, n ä c h s t Gott, d e n L a n d e s h e r r n Erläuterungen: Zur Erstpublikation s. Kap. 2.2, 8.15. Das Gedicht trägt in dieser Veröffentlichung den an Anastasius Grün anklingenden Titel »Lied eines vagierenden Nachtwächters«, sowie das Motto von Beranger, das später dem ganzen Zyklus vorangestellt wurde, i-8 Das Prologgedicht, das die Gestalt des Nachtwächters wie auch die grundsätzliche politische Stoßrichtung zu umreißen hat, bezieht sich ausdrücklich auf das traditionelle Nachtwächterlied. Dessen Wortlaut wird - teilweise mit gezielter Verballhornung - zitiert und zeilenweise jeweils in die Schlußzeilen der Strophen einmontiert; Dingelstedt bedient sich damit des poetischen Schemas der sog. Glosse, die im Biedermeier (u, a. bei Rückert und Wilhelm Müller) eine beliebte Form satirischer und didaktischer Dichtung darstellt. Im Erstdruck des Gedichts bildet der Begriff »Glosse« den Untertitel, Als >Sumrne< ergibt sich aus den Schlußzeilen die ursprüngliche Strophe, zu der zahlreiche Einzelvarianten überliefert sind; sie lautet: Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen, Was die Glocke hat geschlagen: Geht nach Haus und wahrt das Licht, Daß der Stadt kein Schaden geschieht. Lobet Gott den Herrn! Das Vorbild-Gedicht, Chamissos »Nachtwächterlied«, eine Kampfansage an die Jesuiten, zitiert die Nachtwächtemrophe ganz als Strophe I mit abgeändertem Refrain: »Lobt die Jesuiten!«, und bildet die weiteren Siroplien anaphorisdi mit dem Lied^itai; Str. III Hört, ihr Herrn, so soll es werden: Gott im Himmel, wir auf Erden, Und der König absolut, Wenn er unsern Willen tut. Lobt die Jesuiten! 18 vulgo = allgemein, normalerweise, 27 Zipfelmütze = Anspielung auf den deutschen Michel; s. zu W, 3, Drei neue Stücklein. 40 In der Erstpublikation hatte die Schlußzeile noch den ursprünglichen Wortlaut des alten Nachtwächterliedes (Z. j),

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II. i

Nun ist auch erloschen der letzte Schein Im Kämmerlein des Poeten, Und lockerer Vögel Nachtverein Kommt stolpernd heimgetreten.

j

Es träufelt leiser Schnee vom Dach, Die Fahne kreischt am Turme, Die Laternen schwanken und glimmen schwach Und schaukeln sich lustig im Sturme.

io

15

20

Die Häuser stehen schwarz und still, Die Kirchen leer und die Schenken, Nun mag eine Seele wie sie will Gehen und träumen und denken. Es blinzt kein Auge scheel und schief, Kein Lästermaul reißt sich offen, Nun mag ein Herz, das am Tage schlief, Lieben und bangen und hoffen. Du traute Nacht, der Bösen Feind Und aller Guten Segen, Sie sagen, Du seist keines Menschen Freund, Wie lieb* ich dich, Nacht, deswegen!

Erläuterungen: Auf das aggressive Prologgedicht folgt ein Stimmungsbild der schlafenden Stadt, das intimere Töne anschlägt. Der öffentlichen "Welt von Ranküne und Intrige wird die private integre Sphäre gegenübergestellt. Dieser Gegensatz ist für die gesamte Komposition des »Stillebens« ausschlaggebend. Er bestimmt die genrebildartigen Szenen, die zusammen das Panorama der kleinstädtischen deutschen Residenz ergeben.

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III.

i

Hat ihnen gar zu hell geklungen Der Ton von meinem alten Horn, Hab* ihnen gar zu grell gesungen, Den Herrn, sie schliefen just nach vorn,

S

Erwachten immer unbequemlich, Und träumten sie auch noch so tief, Sobald ich stattlich und vernehmlich Vor ihrem Haus mein Sprüchlein rief.

io

iJ

20

Nun haben sie mir's weggenommen Mein gutes, altes, liebes Hörn, Ein Pfeiflein hab' ich drein bekommen Von Gott's- und Magistrates-Zorn; Ein Pfeiflein, wie für Diebsgesindel Und für der Haderlumpen Schwärm, Die Kinder spielen in der Windel, Mit solchen Dingern, Gott erbarm! Sie meinten baß für mich zu sorgen Und dachten, mir war's schon genehm, Daß ich nicht jeden lieben Morgen Wie atemlos nach Hause kam'. Prosit, Ihr hohen Herrn, ich merke, Wo hier begraben liegt der Hund: Nicht meiner guten Lungen Stärke, Euer schlechter Schlaf allein ist Grund.

25

30

Doch Euch mag's zum Exempel dienen, Ihr jungen Hörner fern und nah, Verfistelt Euch in Piccolinen, Geschieht Euch sonst, wie mir geschah! Gottlob, daß ich so abgekommen, Die Herrn sind sonsten nicht so faul, Dem Heinz dem ward sein Hörn genommen Und schmissen ihn dazu aufs Maul!

Erläuterungen: 1-4 Im Hintergrund stehen Dingelstedts eigene Affären nach der Veröffentlichung der »Spaziergänge eines Casseler Poeten«, die mit einer Strafversetzung (s. Einl. 2.2, S. izff.) endete, und die Erfahrungen mit der Zensur, die er im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des »Nachtwächterliedes« (s, Kap. 2,2. S. 15) machte, 12 Anspielung auf das von den Landesfürsten in Anspruch genommene Gottesgnadentum (vgl. ST XIII, 1-4), 27 Piccolinen: zu »piccolo« (italienisch »klein«); in Zusammensetzungen (z. B. »Piccoloflöte«) bezeichnet das Wort die jeweils kleinste (und höchstliegende) Variante eines Instruments, Das zu den Hörnern gehörige Cornettino (in Es) wird ebenfalls »Piccolo« genannt, das noch höhere (in B) zur Unterscheidung auch »Piccolino«. 29 abgekommen = davongekommen 31 Heinz: vermutlich Anspielung auf Heinrich Laube, der zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, - im weiteren Sinne auf die Reglementierung oppositioneller Schriftsteller, d. h. das Verbot des jungdeutschen Schrifttums durch den deutschen Bundestag am 10. 12. 1835.

IV. i

i

io

ij

Ein Nachtwächter hat so gut ein Herz Wie ein schmachtender Held der Frauen, Auch er fühlt Liebeslust und Schmerz Wenn die Kater im Märze miauen. Drum, wann ich abends auswärts geh* Und mein Weib in der ganzen Nacht nicht seh', Verlangt mich's nach Mariandel sehr; Ja, wenn sie nur nicht so garstig war1! Sie ist eine gute, alte Haut Mit mehr Runzeln als just notwendig, Ihr Vater hat sie mir angetraut Mit Haus und Gerät vollständig; Das Amt und dreihundert Gulden dazu, Gott schenke dem Alten ewige Ruh'! Ich Hebte auch seine Tochter mehr, Ja, wenn sie nur nicht so garstig war*! Wir leben wie zwo Engelein Im Paradies vor dem Falle; Keine Ehe kann so glücklich sein,

20

Als unsre, ein Muster für alle. Sie schläft des Nachts, ich schlaf am Tag, Sie nimmt den Schluck, den ich nicht mag, Das einigste Pärlein weit umher, Ja, wenn sie nur nicht so garstig war'!

25

So oft ich Nachts in mein Haus geguckt, War's ruhig allerwegen. Noch nie hat's mich an der Stirne gejuckt, Wie so viele meiner Kollegen; Bei denen geht's wie ein Taubenschlag, Hinein bei der Nacht, heraus am Tag, Und ein Nachtwächter hält doch auch auf Ehr", Ja, wenn sie nur nicht so garstig war'S

30

Erläuterungen: Burleskes Intermezzo, in dem stdi der Naditwäditer selbst ironisiert; es sdiließt direkt an die Gattung der >humoristisdien GenreSkizze< an.

V. i

Die Schildwacht schreitet auf und ab Und pfeift sich ein Liedel unermüdlich. Hier ist das Gefängnis, schwarz wie ein Grab, Aber nicht so still, so friedlich.

5

Es rasselt hinter den Gittern schwer Von eisernen Ketten und Bändern, Stöhnen und Ächzen £ieht hin und her Und verhallt an den steinernen Ständern.

io

15

In jene Stangen packt eine Faust, Der mag's noch nicht lange gewohnt sein! Wie das wilde Gelock im Winde saust, Wie die Augen blitzen im Mondschein! Herunter, Bursche! Sonst schrei' ich wach Den Schließer und seine Genossen, Dann wirst Du an Dein dunkles Gemach Noch zärtlicher angeschlossen.

20

Fort, strecke Dich in Dein warmes Stroh, Versucht wie die andren zu schlafen, Was grinsest Du, was murrst Du so, Bist Du mehr, als die anderen Sklaven? »Nicht besser, nicht schlechter als jene sind, Ein Verbrecher nach Euerer Sitte, Denke nur eben an Weib und Kind Und an meines Vater Hütte.

i5

30

Und streck* ich mich auf mein faules Stroh, Dann von meinen Äckern träum' ich, Die wogten von Halmen und Ähren so, Die waren so luftig, so räumig. Nun lieg' ich vielleicht auf meiner Saat, Die ein anderer ausgedroschen« .. „ Still, Kamerad! da kommt der Soldat, Und meine Latern' ist erloschen.

Erläuterungen: Dingelstedts Angriff gilt der politischen Justiz in Metternidis Bundes-Deutschland. Dabei wird nur indirekt (Z. 20/21) angedeutet, daß es sidi in dem Gedidit um einen politisdien Häftling handelt. Die Schärfe des Schlusses erinnert an Dingelstedt Jordanslied (s. EinL Kap. 2.2, S. 14), dessen politischer Gehalt hier - der Gestalt des Nachtwächters gemäß - in den Erfahrungshorizont der Kleinstadt umgesetzt ist. Die Möglichkeit eines direkten. Verständnisses auf Kurhessen hin möge ein Ausschnitt aus dem i.Teil der »Hessischen Skizzen« des »Salon« (Nr. 2! 10.4.1841; S. u—ij; Zitat S. 13), der nominell der »Universität Marburg« gewidmet ist, illustrieren. Hinter der Signatur Dr. C - dürfte sich Dingelstedt verbergen. Einer Schilderung historischer Sehenswürdigkeiten der Universitätsstadt folgt eine Passage, die der politischen Jusuz In Kurhessen gewidmet ist und in deutlicher "Weise das Schicksal der politisch Verfolgten am Beispiel Jordans vor Augen führt: »[...] Doch horch! mir deucht, ich höre reden oben in den Sälen des Schlosses; es ist wohl die Stimme jener Reformatoren, die noch in heißem Streite begriffen sind, und klingt nicht die Stimme des frommen Philipp beruhigend dazwischen? O grausame Täuschung! dort kommen die Redenden, arme Gefangene, totenblaß, im harten Büßerkleide, vor Schuld darniedergebeugt und neben ihnen der gleichgiltige Schritt des Wächters. Es ist eine furchtbare Ironie der Zeit die durch die Seele schneidet; die Zufluchtsstätte einstens der Geistesfreiheit, das fröhliche Treiben des Hoflagers vieler hessischer Fürsten verwandelt

in ein Gefängnis! Man sieht es auch den alten Mauern an, daß Ihre schönen Zeiten verschwunden sind; der graue, düstere Efeu, mit dem sie dort ihre Wunden bedecken, ist die Elegie dahingeschwundener Herrlichkeit. Die Fenster sind eingestoßen; was frommten auch die Augen einer Leiche? sind diese zerbrochenen Scheiben nicht der treuste Spiegel des Innern, des Aufenthaltes von Mördern und Dieben, in deren Herzen der Geier schwerer Reue seine Krallen einschlägt? Und jenes bleiche Antlitz dort am kleinen Gitterfenster, fragst du, dessen Blicke wehmütig den Wolken folgen, die gen Süden streichen, ist das eines Verbrechers? wie bitter täuscht doch die äußere Hülle, keine Spur von Frevel in dem blassen Gesichte! O stille, stille, forsche nicht weiter, es ist ein hart geprüfter Mann, vielleicht tagt ihm bald der heißersehnte Freiheitsmorgen.«

VI.

i

Das ist der Dom mit seinen Mirakeln, Mit Heiligen aus Stein und Holz, Mit kostbaren Knochen in Tabernakeln, Mit Kuppeln, Säulen und Türmen stolz.

S

Vom Hochaltar dringt ein schwacher Schimmer, Ein Wehen bläst durch die Gänge hin, In den Orgelpfeifen Kindergewimnier: — Es graut mich! Was ich doch kindisch bin!

io

ij

20

Seit zwanzig Jahren nicht dringewesen, Zur Beichte nicht, nicht zum Sakrament, Daheim nicht in der Bibel gelesen, Ob mich der alte Herr-Gott noch kennt? Ich will an die schallenden Pforten pochen. Die sind verschlossen. Niemand zu Haus ... Was ist das? Hat hier ein Mensch gesprochen? Lacht mich die Holle von drinnen aus? Ich soll mit den Übrigen wiederkommen, Reingewaschen, sonntagsirüh, Mit den abonnierten Wochen-Frommen, So gleißnerisch und so bigott wie sie. Nein, ich will mich nicht in die Hürde sperren, Vom Hunde gejagt, mit der übrigen Herd',

Wenn du der Herr bist unter den Herren, Suche mich, so ich dir etwas wert. 2j

30

35

Geschrieben steht; Es ist größere Freude Über ein einzig verirrtes Tier Als über eine gesammelte Weide, Wohlan, mein Hirt, ich irre nach dir. Ich stehe allein an deinen Pforten, Sie tun sich nicht auf, dein Haus bleibt stumm, Die Nacht ist schwarz und tonlos 'worden, Der Mond hängt dräuende Schleier um. Ein Strahl nur noch aus den finstern Gründen, Er trifft das vergoldete Kreuz von Erz: Kannst du, Beleuchter, das kalte entzünden, Kannst du entzünden mein kälteres Herz?

Erläuterungen: Zum Biographischen Hintergrund ist zu sagen, daß Ds. eine zunehmende Distanz zu jeder Art christlich-religiöser Bindung fühlte. In einem rückschauenden Gedicht aus Anlaß seines 27. Geburtstages (Salon Nr. 13; 26. 6.1841; S. 113/14) ist das Gefühl wachsender Entfremdung festgehalten: Und wenn kein Dankgebet, kein frommer Glaube Inbrünstig aus den goldnen Saiten spricht, "Was kann denn sie dafür, die schwache Taube, daß ihr im Sturm die Schwinge früh zerbricht? Wie sidi ein Knie beugt, ach! ich hab's vergessen, Der Andacht innre Wollust ward verlernt, Und weil's zur Erde sah, hat unterdessen Mein Auge sich vom Himmel schnöd' entfernt. 1—4 Die erste Strophe läßt an Fulda denken, d. h. an den barocken Dom mit den Reliquien des Heiligen Bonifatius; dodi ist die lokale Festlegung so wenig zwingend wie in ST XIII. 25 Anspielung auf das neutestamentliche Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt. 18,12—14/Lc. 15,3—7), dessen Quintessenz lautet: »Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen* (Lc. j 5,7).

VII. i

Droben ist Tee, droben ist Ball, Gesellschaft, Spiel und Tanz. Ei, über die schmücken Männlein all', Über den Lichterglanz!

S

Hier unten, wo die Kutschen stehn, Harr' ich auch einen Augenblick; Will nach den hellen Fenstern sehn Und lausdien auf die Musik.

io

Nur dann und wann ein grober Klang Vom Brummbaß trifft mein Ohr, An den Gardinen ellenlang Tauchen Schatten empor. Drehen sich, bücken sich, schneuzen sich, Flistern und trippeln, Paar für Paar, Nippen am Gläschen jüngferlich, Gähnen und wühlen sich wild im Haar.

20

Das ist mir auch ein rares Pläsier} Ganz nach meinem Geschmack; Nein, da lob' ich mein Solo mir, Mein Bier und meinen Tabak. Trat' ich in diesem Rockelor So plötzlich in den Saal hinein, In der Hand Laterne, Spieß und Rohr, Unter die Schatten mitten drein,

2S

30

Weiße Flocken auf meinem Hut, Den Bart voll Reif und Frost, Die braune Wange in frischer Glut, Die Glieder steif vorn Ost: Sie hielten es für 'nen Mummenschanz, Mich für ein Gespenst der Nacht, Und ich wette, der jungen Fante Tanz Zerstöbe, fürsichtig-sacht.

35

Es ist in der Welt nach meinem Sinn Ein närrischer Schabernack... Ob ich geracT so ein Mensch wohl bin, Wie das feine, vornehme Pack?

Erläuterungen: Dingelstedts Satire auf die feine Gesellschaft - die bürgerliche Stadtprominenz, die es an modischer Eleganz dem adligen Salon oder Hof gleichtun will - ist motivlich und stilistisch an Heine geschult (»Sie saßen und tranken am Teetisch«: »Lyrisches Intermezzo« Nr. 50; in: >Buch der LiederGesellschaft< längst aus der Mode.

VIII. i

Kamerad, wen fährst du? - »Den Minister.« Und darum so barsch, so stolz getan? Den hab' ich schon lang auf meinem Register, Soll auch mit nächstem sein Ständchen ha'n!

5

Da stehen die schmucken, stattlichen Tiere Vielleicht schon viele Stunden lang, Sie hängen die Kopfe alle viere Und scharren im Schnee und zerren am Strang.

io

15

20

Den Grobian droben auf hohem Bocke, Um den tut mir das Warten nicht leid, Der sitzt warm in seinem verbrämten Rocke, Aber die Gäule haben kein Kleid, Keinen Pelz, in grimmiger Kälte labend, Und innerlich keinen Branntewein. Ich sollte nur einmal heute abend Einer von denen vier Schimmeln sein! Ich wollte mich wehren, ich wollte dich lehren, Herr Exzellenz mit dem Podagra, Du solltest Gottes Geschöpfe ehren Und deinesgleichen ... Hallelujah!

Dort sitzt er noch bei seinem Herrn Vetter, Wühlt in Karten und wühlt in Geld, Und laßt die Tiere in Sturm und Wetter Frieren, so lang 1 es Gott gefällt. 25

Idi rate dir, laß die Karten ruhen Und hüte dich fein, Ministerlein, Du hast es mit vier Hengsten zu tuen, Bedenk, daß das keine Bürger sein!

Erläuterungen: 4 Dingelstedts Ankündigung eines Ständchens (vgl. auch ST XVI, Z. 24) bildet eine unfreiwillige Voraussage auf das Jahr 1848, in dem — vor allem in Österreich - den Vertretern des alten Regimes sogenannte Katzenmusiken vor der Haustür dargebracht wurden. 18 Podagra = Fußgicht. 2/f. Anspielung auf die politische Passivität eines Großteils des deutschen kleinstädtischen Bürgertums, dessen Loyalität auch durch die Schikanen der Regierung nicht beeinträchtigt wird.

IX. i

Gott, einen Strahl aus deinen Wolken sende Auf dieser Vorstadt schmerzen reich es Dach! Hier ringt ein Mensch mit seinem schweren Ende, Sei gnädig, hilf der armen Seele nach! Zieh aus der Kinder fesselndem Gewimmer, Zieh aus des Weibs Umschlingung ihn zu dir. Herr, säume nicht! Er duldet ja noch immer, Herr, schläfst du auch? O wache, Herr, mit mir!

io

15

96

Am niedren Fenster schleich ich sacht vorüber, Noch glimmt der Lampe Docht, wer löscht sie aus? Sie schimmert durch die Laden, stündlich trüber, Und Käuzlein flattern um das Sterbehaus. Hu! Fort von dieser schauervollen Schwelle, Hier tut ein Andrer Wächterdienst als ich. Dort lagert er, der schreckliche Geselle, Und kauert lauernd vor die Türe sich.

20

Er malt ein Kreuz, ein weißes, an die Schalter, Er winkt, er klopft ... O Würger, hake an i Es ist geschehn. Hab Dank, du alter, kalter Nachtwächtersmann, du hast dein Werk getan!

Erläuterung: 2 Vorstadt = gegenüber der Innenstadt der Lebensbereich der unteren sozialen Schichten, in zunehmendem Maße der Industriearbeiter; mit beginnender Industrialisierung ist auch im kleinstädtischen Bereich dieses Verhältnis anzutreffen.

X. i

So oft ich dieses Gäßletn gehe, Wohl später noch als Mitternacht, Hält dort Jn respektabler Höhe Ein eifersüchtig* Lämpchen Wacht.

5

Da droben wohnt ein Versedrechsler, Ein Reimeschmied, ein Bücherwurm, Hoch sitzt er, der Gedanken Wechsler, Wie Klas auf dem Kathrinen-Turm,

io

Und zählt die Füße, feilscht um Silben, Und putzt die alte Ware rein, Und frißt wie zähe Käsemilben Sich in papiernen Quark hinein. Verdammter Kerl! Wenn ich nur wüßte, Wer ihn zur Wacht berufen hat, Und ob er mit mir hüten müßte, Als angestellter Mann, die Stadt?

20

Es tut's ihm niemand kommandieren, Er treibt's für seinen eignen Spaß, Das Predigen und Schrein und Schmieren, Und niemand weiß so recht für was? Die drunten können ihn nicht riechen, Sie fliehn ihn alle wie die Pest, Am Tag seh' ich umher ihn kriechen Scheu, wie ein Spätzchen, fern vom Nest.

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ij

30

35

Sie schelten ihn Poet und Barde, Sie schütteln stark und zischeln sacht, Doch er auf seiner Leibmansarde Hat, scheint es, dessen wenig acht. Mag wohl in seinem Oberstübchen Nicht allzurichtig mit ihm sein, Sie sperren mir das arme Bübchen Am End' noch ein auf Sonnenstein. War 1 schad' um seine Gab' zu wachen, Und kennt* ich ihn, den tollen Christ, Wollt' ich ihn zum Nachtwächter machen, Wenn er dazu noch brauchbar ist,

Erläuterungen: Dingelstedts Satire auf den privatisierenden PapierPoeten, der sich sozial und politisch nicht engagiert, trifft einen Aspekt zeitgenössischer Klischees vom Dichterberuf: die Vorstellung vom aussdiließHch ästhetisch interessierten, um formale Virtuosität bemühten Verseschmied, dem sein zeitabgewandtes Tun genug ist. Zu dieser Thematik findet sich in Nr. 4 des »Salon« (24.4.1841, 3.34), verfaßt von J. Gegenbaur, eine Besprechung des eben in Kassel erschienenen Gedichtbandes von Friedrich Ludwig (Gedichte. Kassel: Jc-rome Hotop 1841) mit folgender Einleitung: »Sollte mich wundern, wie in unserer Zeit, wo es in allen Gemütern gärt und braust, ein Lyriker, nicht angegriffen von diesem Prozesse, in ungetrübter Heiterkeit seiner Seele, seine Produktion rein bewahren und Gedichte schreiben könnte, die nicht die deutlichen Spuren des gegenwärtigen Kampfes an sich trügen. Ein begabter Lyriker, ein Dichter, in dessen Stunden der wahre Genius ein Wort redet, ein solcher freilich wird es nicht können; aber ein Talent wie das unseres Dichters, dem die Welt aufgeht, in der bloßen Anschauung der Natur, und der auch in dieser Darstellung wenig geistig motiviert, ist auch kein lyrisches zu nennen.« Diesem Urteil folgen weitere Ausführungen, in denen im Positiven bezeichnenderweise auf Anastasius Grün verwiesen und im Negativen die reine Sprachstil- und Formbeherrschung als selbstverständlich gewcrtet, keineswegs aber in der Gegenwart mehr als besonderes Verdienst angesehen wird (ebda., S, 35). 8 Der Turmwächter ist der legitime Kollege des Nachtwächters im Gegensatz zu dem ebenfalls die Nacht durchwachenden Pseudopoeten. 2 j Die äußere Situation, die Dmgelstedt schildert, erinnert stark an August von Kotzebues Lustspiel »Der arme Poet«, eines der bekann98

testen und bis in die joer Jahre meistgespielten Stücke, in welchem das Schicksal eines verarmten Dachstuben-Poeten in sentimental-verklärender Weise dargestellt wird (vgl. auch Spitzwegs Gemälde gleichen Titels). = seit Klopstodt und seiner Schule Inbegriff des hohen Diditerberufs, des Sehers und Künders, im 19. Jahrhundert verstärkt mit dem Beiklang des Nationalen, Germanischen versehen. 32 Sonnenstein = über die Landesgrenze hinaus bekannte (psychiatrische) Landesheil- und Pflegeanstalt in einer ehemaligen Festung in der Nähe von Pirna. 35 Der Schluß des Gedichts (wie auch bereits Zeile 15/16) macht deutlich, daß Dingelstedt hier die jungdeutsche Auffassung vom Beruf des Dichters teilt, der als Wächter ud Kritiker der Gesellschaft gefordert ist und der seine ästhetischen Fähigkeiten dem politisch-gesellschaftlichen Ziel seiner Tätigkeit unterordnet.

XL i

5

Flattert durch die Nacht geschwind Ein verlornes, scheues Kind, Mit dem Schleier, mit dem Kleide — Ei} die süße Augenweide! — Spielt der Wind.

io

Halt' ich sie auf schlechter Bahn Scheltend, wie ich sollte, an? Treib' ich dieses Lamm mit Würde, Das verirrte, in die Hürde? Wohlgetan!

15

Haltt Verbrenn' die Finger nicht! Schau ihr erst ins Angesicht! Könntest statt gemeiner Sünden Eine — distinguierte finden ... Sachte, Wicht!

Erläuterungen: 9 Anspielung auf das bereits in ST VI angeführte Gleichnis vom verlorenen Schaf, 13 Wortspiel mit dem Doppelsinn des Wortes »gemein«. Die Bedeutung verschiebt sich im Laufe der ersten Hälfte des 19, Jahrhunderts von

99

»allgemein« zu einem pejorativen »niedrig«, »verwerflich«. Beide Bedeutungen werden hier in Opposition zu dem »distinguiert«, gemeint im sozialen Sinne, gesetzt.

XII. i

Feuerjo! Beim Burgemeister brennt's! Spritzen herbei und Schläuche! Erwacht doch drin, Euer Eminenz! Heraus, ihr faulen Gäuche!

S

»Kerl, was heulst du drunten so? Ich glaube, du bist betrunken!« Nein, am Fenster sah ich ein Bündel Stroh Und darin einen roten Funken.

io

»Bleib 3 zu Hause, du versoffner Tropf, Mit deinem verwünschten Spaße!« Verzeiht, Eminenz! Es war Euer Kopf Und darinnen Euere Nase!

Erläuterungen: Das Grundmotiv des Gedichtes scheint aus Hemridi Heines Phantasie aus dem Bremer Ratskeller (»Im Hafen«, in: »Die Nordsee« II, 9) entlehnt zu sein: Die glühende Sonne dort oben Ist nur eine rote, betrunkene Nase, Die Nase des Weltgeists, Und um die rote Weltgeistnase Dreht sich die ganze betrunkene Weit. i Burgemeister = mundartlidie Nebenform zu »Bürgermeister«. 4 Gaudi = ursprünglich Name des Kuckucks, später Synonym für »Narr,«, »Tor«.

XIII. i

roo

Der Herr! — es ist doch ein stolzes Wort Und meint eine stolzere Sache; Nicht jener über den Wolken dort, Nein, der unter goldenem Dache;

S

io

15

20

Mit Szepter und Apfel in der Hand, Auf dem Haupte die schwere Krone, Gekleidet in sein Purpurgewand, Gesessen auf hohem Throne. Da liegt sein Schloß aus Marmelstein Mit goldnem Balkon und weißen Säulen, Zwei Löwen wachen am Eingang sein, Zwei Riesen mit steinernen Keulen. Und wo durch glänzende Scheiben hin Der Schein einer Ampel schimmert, Dort steht unter seidenem Baldachin Sein Bett, aus Silber gezimmert. Im Vorsaal harrt auf der Schelle Klang Ein Dutzend verschlafener Pagen, Und Lakaien räkeln auf jedem Gang Und schnarchen in allen Etagen. Gott gebe dir eine Bettelmanns-Ruh', Herr König, in deinen Gemächern! Er wehe dir freundliche Kühlung zu Mit unsichtbaren Fächern!

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Es zeige dir Traumes Spiegelbild Dein Volk beglückt und gesegnet, Während es an die Fenster rnild, Wie Maientropfen, regnet. Ich male mir's wohl recht artig aus, Doch in "Wahrheit schläft, ich wette, Der Gardist dort süßer im Schilderhaus, Als du im Fürstenbette.

Erläuterungen: 1-4 "Wiederum Anspielung auf das Gottesgnadentum (vgl. ST III, Z. 12). 9 Marmelstein ~ archaisierend für Marmor. H-I2 Löwenfiguren und Atlas-Skulpturen sind zu häufige Elemente des Fassadendekors seit der Renaissance, als daß sie eine eindeutige lokale Bestimmung des gemeinten Hofes zuließen; dennoch liegt es (auch aus Gründen der Architektur-Geschichte) nahe, an Kassel zu denken.

XIV. i

Hier auf der Kanone will ich ruhn, Auf den eisenbeschlagenen Rädern; Ist freilich kein Lager von Eiderdun', Mit Matratzen und stählernen Federn.

j

Doch schlief vielleicht schon mancher Held Vor der Schlacht in der nämlichen Weisen Und später noch tiefer — im blutigen Feld, Auf dem Leib, statt drunter dein Eisen.

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15

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Erzähle mir nun, du eherner Mund, Von deinen glorreichen Tagen, Wie du einst zu schwerer Schlachtenstund* Die Reveille munter geschlagen. Bei Jena oder bei Austerlitz, Gen Moskau oder gen Kassel, Wo flammte zuletzt dein rötlicher Blitz, Wo rollte dein letztes Gerassel? Oder bist du gar dem alten Fritz Schon gefolgt zu rühmlicher Frone? Nein, hier am Zündloch, wo ich sitz', Steht ein N. mit Lorbeer und Krone. Den Namen, den Lorbeer kenn ich wohl, Die Zeugen deiner Blüte; Nicht wahr, da brummtest und summtest du hohl, Da glühte dein Leib und sprühte?

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Es flog das Rad auf bezwungener Erd' Über Lebende und über Leichen, Zusammen stürzte die bange Herd' Unter deinen gewaltigen Streichen. Du gabst den Takt zu dem Waffentanz, Hoch hüpfte dein Herz, das beherzte, Und schon zu der Panzer, der Schwerter Glanz Stund dein Antlitz, das pulvergeschwärzte. Jetzt bist du blank, jetzt bist du zahm, Und lahm ist deine Lafette,

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40

Dein Kupfergesicht hochrot vor Scham Und feist, als ob's gealtert hatte. Nun, schäme dich nicht, du elektrischer Aal, Hast ja noch einen wackeren Posten, Wenn auch da drüben im Arsenal, Dein Futter, die Kugeln rosten. Ertönst du nicht vom Walle herab In die bebenden Niederungen, Wenn ein armer Sklave aus seinem Grab, Aus seinen Ketten entsprungen?

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Wenn ein Krämerhaus in Flammen gerät, Zur Friedensrevue vor den Toren, Zum Namenstag Seiner Majestät, Und so oft ein Prinzeßchen geboren? Geduld! Vielleicht kannst du wiederum, Und bald! - in die Feinde hageln; Bis dahin, mein Veteran, sei stumm, Daß sie dir das Maul nicht vernageln!

Erläuterungen: Das Gedicht ist ein wichtiges Zeugnis für Dingelstedts Napoleon-Verehrung. Napoleon ist für ihn, wie bereits für Immermann, Heine oder Herwegh nicht der Despot Europas oder der Erbfeind der Deutschen, als der er in der Zeit der Freiheitskriege dargestellt wurde. Vielmehr treten der weltgeschichtliche Horizont des napoleonischen Empire und die vielfachen Fortschritte in Verfassung und Recht, die Napoleon für die deutschen Kleinstaaten brachte, um so mehr in den Vordergrund, als sie sehr scharf mit den Restaurationsbestrebungen seit dem Wiener Kongreß kontrastieren. Ein Stichdatum, zu dem diese Umwertung des Napoleonbiides in höherem Maße zu Bewußtsein gebracht wurde, bildet die Rückführung der Gebeine Napoleons nach Frankreich und die Beisetzung im Invalidendom, In der ersten Nummer des »Salon« (3.4. 1841) werden unter der Rubrik »Konversation« (S. 8) Lyrik-Publikationen, des Jahres 1840 besprochen, die diese Ereignisse zum Inhalt haben. Aus einer Dichtung von Ludwig von Erfurt (»Laßt die Toten ruhn!«) wird folgende, auf Napoleon zu beziehende Strophe zitiert: Du audi, deutsche Harfe, trage, Trage klingend durch die Welt, Was der Drang bewegter Tage 103

Warnend vor das Auge stellt; Laß den Geist, den sein Jahrhundert Mächtig, kühn und groß gesehn f Viel gehaßt, geliebt, bewundert Klanglos nicht zum Orcus gehn! Die genannte Napoleon-Dichtung (in: Ludwig von Erfurt, Mähr von den drei Inseln, Leipzig: Härtung 1839) endet, nach Angabe der Rezension, »mit einer Vision, nach welcher der Kaiser, aus seinem Sarge sich erhebend, den Franzosen ernstmahnend die Worte zuruft: Ehrt die Charte!« Die neue Sicht Napoleons fand soviel allgemeinen Widerhall, daß zwei Jahre später Ernst Ortlepp ein Sammelwerk unter dem Titel »Napoleon« herausgeben konnte (Napoleonslieder von Victor Hugo, Baggesen, Rikkert, Byron, Zedlitz, Barthelemy usw. Zusammengestellt v. Ernst Ortlepp. Seitenstück zu den Schillerliedern und Goetheliedern. — Ulm: Ebner 1843), das Texte von zahlreichen französischen und nicht-französischen Autoren enthielt. Auch Dingelstedt hat ein Jahr später ein - für die Fortsetzung der >Nachtwächteri-Lieder geplantes — Gedicht der Napoleonverehrung, »Im Haus der Invaliden«, verfaßt (Sämtliche Werke» 1877, Bd,8, S. i42ff.). In dem vorliegenden Gedicht wird anhand der Kanone, des Relikts aus napoleonischen Tagen, das die alte weltgeschichtliche Bewegung noch ahnen läßt, nun die gesellschaftliche und politische Windstille der Zeit sichtbar gemacht und die kleingeistige Atmosphäre und das Repräsentationsgehabe deutscher Duodez-Fürstentümer der Lächerlichkeit preisgegeben. 3 Eiderdun = niederdeutsche Parallelform zu »Eiderdaune«. i2 Die Motive der Reveille (= militärischer Weckruf) und des Veteranen aus dem napoleonischen Heer sind seit Heines Ballade »Die Grenadiere« und seiner Gestak des >Le Grand< (»Ideen. Das Buch Le Grand«. Entstanden 1826, Ersch. m; >RciscbildcrHerrendiensteBonaventura< (vgl. S. 83) noch durchaus literarische Problem des Wahnsinns hier in konkreten Zusammenhängen dargestellt und im höchsten Maße zeit- und gesellschaftskritisch aufgefaßt wird.

I 12

XX. i

So oft ich kam, so oft ich schied, Dieselben alten Gesichter, Immer das nämliche dumme Lied: Bewahrt das Feu'r und die Lichter!

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Fürwahr, das halt* ein anderer aus, Ich nicht, soll Gott mich verdammen! Die Mauern der Stadt und das eigne Haus Fallen über mir, dünkt mich, zusammen.

io

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Luft, Licht und Luft! Nur einen Zug, Einen Blick in die Welt, und Freiheit! Ich habe des Elends satt und genug Der täglichen Einerleiheit. Da draußen vor den Toren steht Der Frühling im Flügelkleide, Er winkt mit der Hand, er lockt und weht Und ruft und wirbt; In die Weite! Und die Vöglein, schwingen von Zweig zu Zweig Sich fort, und die Bäche rinnen, In der Welt ist alles frei und gleich, — Warum ich gefangen hier innen? Fort mit dem Stock, fort mit dem Speer, Gebt Pfeife und Amt einem ändern; Bin Euer Narr und Nachtwächter nicht mehr, Verlege mich jetzo aufs Wandern;

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30

So weit So weit So weit So weit

der liebe Himmel blau, voll Menschen die Städte, voll Blumen die grüne Au, frei des Stromes Bette!

Einen Stecken aus dem nächsten Zaun, Auf den Hut ein frisches Reisig! Dann hinaus, so flink und so freudig traun Wie aus seinem Bauer der Zeisig!

Erläuterungen: Das Gedidit hat primär kompositionelie Funktion. Die Klage über die Eintönigkeit des Berufs - in der i. Strophe wird wie in 113

St, I das Naditwäditer-Lied zitiert - und die ereignislose Enge der Kleinstadt bereitet den Ausbruch des Nachtwächters aus seinem »Stilleben* vor. 4 Vgl. ST I, Z. 24. 19 Anspielung auf die Schlagworte der Französischen Revolution. 31 traun = veraltete Interjektion, »fürwahr«.

XXL

i

Die Tore offen! Im Schilderhaus Wird's gleich ein »Wer da?« schreien; Ein Schritt, ein Tritt - und ich bin hinaus, In der Welt, im Weiten, im Freien!

5

Wer hält mich denn am Ärmel fest, Was beizt mich im Auge wie Zwiebeln? Warum fesselt midi denn dieses alte Nest Mit seinen Türmen und Giebeln?

io

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20

Gewöhnung! O allmächtiger Trieb, Wer mag sich deiner erwehren? Dem Sklaven wird seine Kette lieb, Soll er sie zum ersten entbehren. Und Mariandel, die gute, ehrliche Haut! Wie wird sie's grämen und schmerzen, Wenn sie morgen früh aus dem Fenster schaut, Mich erwartend mit treuem Herzen. Es gilt ihr nicht um meine Person, Daran ist wenig gelegen; Ihr ist's nur um das Geschwätz und den Hohn, Nur der anderen Leute wegen. So tröste dich Gott! Ich kann nicht zurück, Es mahnt die Stunde zu eilen; Doch find ich draußen ein ordentlich Glück, Mit der Alten müßt ich's teilen,

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Dort steigt der Mond im Osten auf, Ein willkommener Weggeleiter; Mit Silber bestreut er meinen Lauf, Wie hell die Straße, wie heiter!

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3f

Ein Posthorn klingt aus fernem Tal Und verschwimmt im blauen Äther Leb wohl, leb wohl viel' tausend Mal, Du heilige Stadt meiner Väter! Ich küsse dein Tor im Mondenlicht, Auf den Boden fall ich nieder; Dein Sohn entflieht - O frag ihn nicht: Wie kommst du und wannen wieder?

Erläuterungen; Das Epiloggedicht des ersten Teils bietet einen Rückblick auf die Lebenssphäre, die der Naditwäditer eben verläßt; dabei fallen ebenso ironische wie audi wehmütige Liditer auf die Kleinstadt, nidit ohne daß mit der »Gewöhnung* (Z. r) die psychologische Basis für die Verhaftung in der Enge genannt würde. Wie St, XX hat audi dieses Schlußgedicht primär kompositioneile Bedeutung für den Ansdiluß des zweiten Teiles des Zyklus, Seiner Gestalt nach verdeutlicht das Gedicht den stilistisdien Umschlag vom Humoristischen ins Sentimental-Weltschmerzlidie, 11-12 Mit der Kritik an dem sich in seinen Ketten zufrieden gebenden >SklavenAdelszeitung< erscheint, wenn Fürst Pückler sich einer Vollblut-Rate unter den Menschen schmeichelt, wenn eine Gräfin Hahn-Hahn ihre >Gräfm Faustinc< [...] behaupten läßt, daß das Von-Kind vollkommener als das schlichte Kind geboren würde, und wenn endlich das in Berlin erscheinende, von höheren Staatsbeamten redigierte Politische Wochenblatt< den Beweis führt, daß — unglaublich aber wahr!! — A d a m und Eva die ersten Edelleute waren und nur durch den Sündenfall ein Bürgertum entstanden sei, - wenn s o l c h e Don Q u i x o t i a d e n im Jahre 1841 nach Christi Geburt passieren, was Wunder, daß einige junge Burschen von Adel vermeinten, sie dürften Jn Gegenwart von tausend Personen hübschen Tänzerinnen Zoten und eindeutige Zweideutigkeiten zurufen?« 40 Pränumerant: Fachwort aus dem Verlagswesen und Buchhandel des 18. Jahrhunderts, zu »Pränumeration* = Vorausbezahlung; Subskribent, der bereits im voraus den Kaufpreis entrichtet.

F Ü N F T E STATION Erläuterung: Die deutsche Nordseeküste und die Insel Helgoland bilden den Inhalt der fünften Station. Einmal mehr zeigt sich Dingelstedt als Schüler Heines. Erst seit Heines Nordsee-Gedichten spielt die konkrete Motivik von Meer und Strand eine nennenswerte Rolle in der Lyrik. 1877 hat Dingelstedt diese Beziehung durch den Titel-Anklang »Aus der Nordsee« eigens hervorgehoben. Dingelstedts erste »Lieder aus Helgoland«, die er im »Salon« veröffentlichte (Nr. 15/16/17; IQ. 7·/17. 7·/24· 7. 1841; S. I3}f./i4if,/i49f.) halten sich inhaltlich im Bereich zwischen Liebesromanze und Reise-Lyrik, bewegen sich stilistisch in vager Imitation des »Buches der Lieder« (aus Nr. VII: »Meine Sonne sind deine Äugelein, / Mein Leuchtturm ist dein Licht; / So lang die nicht erloschen sein, / kenn ich kein Dunkel nicht!«}, einschließlich der saloppen Tonlagen (aus Gedicht Nr, V; »Verdammt, wer weder Frack noch Glieder / Zum Tanze hat, im Nordseebade i«). In der fünften Station des »Nachtwächters« unterliegen die Meermotive grundsätzlich einer Politisierung, die aber vergleichsweise blaß und unkonkret bleibt; die Tatsache, daß Helgoland unter britischer Hoheit steht, wird nur vage politisch reflektiert (Andeutung in V). Dingelstedt führt eine einschichtige Allegorisierung der Motive auf die Themen Auf171

rühr, Befreiung, Freiheit und Leben durch und gewinnt auf diese Weise Gegenbilder zu den realen deutschen Zuständen, Der Allegorisierung, häufig im einfachen wie-so-Schema, entspricht (mit Ausnahme von W, $ , I ) eine ins Pathetische und Beschwörende gleitende Stilisierung» die sidi weitgehend vom Stilniveau der übrigen Stationen abhebt. Auch inhaltlich dominieren die Naturmotive, die mit dem metaphysischen Wert des Ursprünglichen versehen und der bedingten Welt sozialen Lebens entgegengesetzt werden, gegenüber expliziten politischen Aussagen, doch bleibt das Thema des Volks in Unfreiheit als kontrapunktisches Motiv durchgehend erhalten (II, Z, / , 2. 3).

I. i

Wie? Dies das Meer? So friedlich und so glatt? Nichts weiter, als die blanke Wasserfläche? So zahm, wie ein politisch1 Wochenblatt, So hell, wie deutsche Philosophen-Bäche?

i

Wie anders, anders hab' ich mirs geträumt, Daheim am Ofen, über Büchern brütend; Ist das ein Meer, das Dämme überschäumt Und Schiff und Fels verschlingt, gen Himmel wütend?

io

ij

Fort schlich ich zur Kajütentur hinein Und setzte mich, wo viele andre saßen; Wie heimisch dort! Die Männlein tranken Wein, Indes die Fräulein strickten, gähnten, lasen. Ich tat wie sie und griff ein Zeitungsblatt Und käute, was schon Hundert wiederkäuten; Das will, so seufzt" ich bald und hatt* es satt, Ein deutsches Meer, ein deutsches Volk bedeuten?

Erläuterung: Thema im Äußeren bildet die Überfahrt nach Helgoland, inhaltlich wird eine allegorische Annäherung zwischen Meer und Volk vorgenommen, wobei das satirische Vorspiel (zum Stil vgL W, 3,1) einen Kontrast zwischen gesellschaftlidi-bürgerlicher Salon-Kultur und einer ursprünglichen Lebensart des Volkes zu Bewußtsein bringen soll.

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II. i

Es stürmt, es stürmt! Hinan den Felsensteig, Blick in die Nacht, du Lästerer, und neige Zur Erde dich, vor Freud' und Schrecken bleich, Das ist das Meer! Nun sieh und beb* und schweige!

j

Wie weit wirft es die Wellen-Kronen fort, Wie rüttelt's an der morschen Felsenkammer! Es ächzt das Schifflein selbst im sichren Port Und halt sich fester an des Ankers Klammer.

io

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Ist's eine Woge, die gen Himmel rennt, Ist's eine Wolke, die zum Meere regnet? Du weißt es nicht; es haben ungetrennt Sich Meer und Himmel brüderlich begegnet. Zermalmt es nicht, entfesselt' Riesenpaar, Das Kindlein, das in Euren Armen zittert, Laßt stehn die Hütten, die so manches Jahr In Eurem Grimme furchtsam sind verwittert! Der Leuchtturm schwankt, die Glocke dröhnt im Turm, Die Insel schüttert, - Herr, es geht zu Ende! Sieh her, mein Volk, das ist Dein Meer im Sturm, Nun hebe betend die gebundnen Hände!

Erläuterung: Das Gedicht entwirft eine Art »Stimmungsbild* von der Insel Helgoland — äußerlich betradhtet; die Funktion besteht darin, den Aufruhr der Natur als Metapher der Auflehnung verstehen zu lassen, damit eine politisdie Dimension anzudeuten.

HI. Noch einen Strahl, eh' in dem Wogenbette Du deines Tages letzte Glut ertränkst, Und fern auf andre, glücklichere Städte, Belebende! dein Himmels-Auge lenkst! Noch einmal webe um die rote Firne Des Felsens deinen zauberischen Glast, Ein Diadem um eines Riesen Stirne, Das hell der Falten grauen Ernst umfaßt. 173

io

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Wer wandeln könnte auf dem goldnen Pfade, Dem Lichte nach, in die Unendlichkeit! Wen der Delphin hintrüge, die Najade, Die Wogen auf und ab, wer weiß wie weit? Dort, wo der Sonne Feuerball sich bettet In WelP, und Wolkenpfühle eingehüllt, O wer dahin, dahin sich erst gerettet, Dem Glücklichen war' Wunsch und Traum erfüll:! Da fangen Brück' und Band an zu zerrinnen, Die Bogen lösen sich in Schaum und Duft, Es dunkelt um des Eilands Felsenzinnen, Die Nacht bewältigt Meer und Land und Luft. Fahr wohl, fahr wohl! Noch seh* ich deinen Schimmer, Den sterbenden, der mir verheißend winkt, Doch ach! erreichen kann ich dich ja nimmer, Da mit dir auch der lichte Pfad versinkt.

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So steht enttäuscht, die Arme ausgebreitet, Der Dichter an des Lebens nacktem Strand; Das luft'ge Bild, das seinem Blick entgleitet, Vergeblich wähnt er's nah-gerückt, gebannt. Nach Zielen schwärmt er in der Weihe Stunden, Zu denen glanzvoll sich ein Weg ihm beut, Doch mit dem Ziel ist auch der Weg verschwunden, Wie jene goldne Sonnenbrücke heut*.

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Geh heim! Es harret an dem Felsengange Im letzten Häuschen eine Zelle dein, Dort wiege bei dem nächtlichen Gesänge Des Winds, der Welle dich getröstet ein. Und sieh, 1st auch die Sonne gleich versunken,

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Sie winkt, die Sonne, freundliche Gewährung Und lauscht aus Wolkenschleiern groß hervor; Es schwimmt das Meer, die Insel in Verklärung, Der ganze Westen scheint ein flammend Tor. Aus lauter Strahlen baut sich eine Brücke, Den Himmel einend mit dem dunklen Strand, Fort strebt die Welle, strebt zum Land zurücke Und spinnt so hin und her ihr funkelnd' Band.

Du bist verlassen, du bist lichtlos nicht, — Im Osten taucht ja eben, wehmut-trunken Und mild, empor des Mondes Angesicht. Erläuterungen: 3 Gemeint 1st Amerika, das für viele Oppositionelle des Vormärz das Ideal des demokratisch verfaßten Staates mit fester Rechtsgrundlage darstellte, auf dieser Basis ist die Kategorie der Macht durch die des Glücks der Bewohner ersetzt, wie es in der amerikanischen Verfassung an zentraler Stelle dura die Garantie eines Rechts auf ein »pursuit of happiness« ausdrücklich formuliert wird. 19 Najaden = eigentlich Quellnymphen, niedere Naturgottheiten der griechischen Mythologie. 28 bewältigt = überwältigt.

IV. r

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io

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Auf diesen Felsen möcht* ich Hütten baun, Ein treuer Gast dem abgeschiednen Eiland, Nicht um nach Süden, heimatwärts, zu schaun} So wie gen Ithaka der Dulder weiland, Nein, urn des Festlands dürres Einerlei Im Meereshauch auf ewig zu vergessen; Hier weht das Banner Albions, und frei Hat hier von je ein freies Volk gesessen. Laßt mich Willkomm an Eurem Herde sein, Als Bürger grüße jeder mich, als Bruder, Legt in die schwache Rechte mir hinein Statt eines Wanderstabs ein tüchtig Ruder, Lehrt auf den Dünen mich den Robbenfang Und andre Kiel* als Gänsekiele führen; Müd' war ich's, beim Allmächtigen, schon lang, Sie täglich sonder Ziel und Rast zu rühren! Gib mir die Hand, du schönes Fischerkind, Sei du mein Weib, mein Engel, meine Muse, Auf daß ich werde, was die Deinen sind, Ein wackrer Lotsen-Mann in blauer Bluse; Streich mir die alten Falten von der Stirn

Und die Gedanken-Runzeln aus den Brauen» Fortan soll nur dein Kuß, du schmucke Dirn1, Und Arbeitsschweiß auf diesen Schläfen tauen. 25

Hinein ins Bad! des Staubes letzten Rest, Daß ihn hinweg der Schaum der Welle spüle! Wie dehnt die Brust, so enge, so gepreßt, Sich selig aus in dieses Morgens Kühle! Den alten Adam tauch' ich opfernd ein, Du, weihe, Meer, mich selbst zum neuen Lose, Laß mich gesund und dein auf ewig sein, Wenn ich entsteige deinem Mutterschoße!

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Erläuterungen: i Anspielung auf den neutestamentHchen Bericht von der Verklärung Jesu mit den Worten des Petrus: »Hier ist gut sein. Lasset uns drei Hütten machen« (Mt. /, -9/Mc. 9,2-cj/Lc. 9,28-36). 6 Albion = England; Helgoland gehörte seit 1814 zu England, bis zum Jahre 1850, in dem es vom Deutschen Reich gegen die Insel Sansibar ausgetauscht wurde. Wie Amerika so wird auch Großbritannien von vielen deutschen Oppositionellen als Staat mit vorbildlicher Sicherung von Verfassung, Freiheit und Recht betrachtet, in dem die Möglichkeit des Fortschritts der Menschheit — gegenüber den Verhältnissen im Deutschen Bund gegeben ist.

V. i

Umsonst! Es nimmt das reine Element Den Leib nicht auf, der sich mit Schuld beladen, Das Mal, das mir auf Stirn und Achseln brennt, Wäscht keine ab der kosenden Najaden.

5

Zu ihrem Sklaven prägte mich die Welt, Ich naschte von der Frucht der Hesperiden, Nun scheucht micros fort, wo's eben noch mich hält, Selbst Meer und Eiland geben keinen Frieden.

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Gern hätt* ich meinen Stab hier eingepflanzt» Zu sehen, ob der dürre grünt 5 und trüge, Im roten Wasser lustig mitgetanzt Und mich zur Ruh* gesetzt und zur Genüge.

Es soll nicht sein, die Welle stößt midi aus, Der Felsen will den Gleitenden nicht tragen, — So leb denn wohl, du räuchrig Fischerhaus, Das mich geborgen hat in stillen Tagen!

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Leb wohl, der Helga grün-rot-weißes Land) Gott schütze dich, und englische Gesetze! Daß nie der Seehund mangle deinem Strand, Nie Schell- und Stockfisch deiner Söhne Netze! Reich mir noch eins den Mund zum Kusse her, Schön-Ännchen, morgen küßt er andre Jungen; Dann denk an mich, wenn nicht das weite Meer, Das rächende, zur Heimkehr mich verschlungen!

Erläuterungen: Gegenstand des Gedichtes ist der Gegensatz zwischen der einfachen, naturnahen Lebensweise der Inselbewohner und der Lebensweise unter modernen gesellschaftlichen Verhältnissen, vor allem in der Stadt, 3 Mal — Im Volksglauben wird das Mal oft als Teufelszeichen betrachtet, dessen Ort die erwartbare Todesart des Menschen andeutet (z. B. Mal an den Ohren deutet auf Tod durch Ertrinken). - Der Platz des Mals auf der Stirn läßt an Kain und damit an eine Art Kainsmal des natürlicher Lebensweise entfremdeten Menschen denken. - Die Erkennung eines Mals an den Achseln gemahnt an Siegfrieds einzige verwundbare Stelle. - In Frankreich wurden Verbrecher und Prostituierte an der Achsel gebrandmarkt, 6 Hesperiden: die Töchter des Atlas, die im Garten der Götter den wunderbaren Baum mit den goldenen Äpfeln des Lebens bewachten. Herakles entwendete 3 dieser Früchte, 7 »nun scheucht michs fort« = Anspielung auf Kain, der nach dem Mord an Abel verflucht wurde, »unstet und flüchtig« zu leben (i. Mose 4). 9-10 Anspielung auf den Stab Tannhäusers; das neue Grünen des 'Wanderstabes sollte Vergebung und Entsühnung bedeuten. 17 Die Etymologie von »Helgoland« führt vermutlich auf »Halligland« zurück, doch ist seit etwa 1300 die vulksetymologische Abwandlung zu »Heiligland« belegbar; auf dieser Ebene ist die Zusammenstellung mit »Helga« sinnvoll, da der Name, wie auch »Helge«, seinerseits auf »heilig« zurückweist. (W. Laur; Die Ortsnamen in Schleswig-Holstein. Schleswig 1960, S. 3