188 62 24MB
German Pages 797 [800] Year 2002
SchlA 20
w DE
G
Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge
Band 20
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Bernhard Schmidt
Lied — Kirchenmusik — Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft D 011
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Schmidt, Bernhard: Lied - Kirchenmusik - Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers : zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis / Bernhard Schmidt. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Schleiermacher-Archiv ; Bd. 20) Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1999 ISBN 3-11-017063-9
© Copyright 2002 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Finbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
VORWORT Daß es zwischen „Religion und Kunst" eine „innere Verwandtschaft" gibt, ahnte ich lange, bevor mir Schleiermacher begegnete. Aus einem musischen Pfarrhaus stammend, lernte ich frühzeitig die tiefe Beziehung von Religion und Kunst kennen. Als Musiker erlebte ich die musikalische Seite, als Theologe versuchte ich die theologische Seite dieser fruchtbaren Verbindung zu ergründen. Seit meiner Hausarbeit zum Ersten Theologischen Examen über das Thema „Die Bedeutung der gottesdienstlichen Musik im liturgischen Schrifttum Friedrich Schleiermachers" (1993/94) beschäftigt mich die Liturgik Schleiermachers. In der Examensarbeit stand dem Thema gemäß die liturgische Theorie im Vordergrund. Der interessanten Frage nach der liturgischen Praxis des großen Theologen einschließlich der Kirchenmusik konnte ich damals nicht nachgehen. Nach Abschluß des Examens regte mich mein Lehrer Jürgen Henkys an, Schleiermachers Gottesdienste unter dem Aspekt der Beziehung von Predigt und Lied exemplarisch zu untersuchen. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung einer Arbeit, die von der Theologischen Fakultät der Berliner HumboldtUniversität im Sommer 1999 als Dissertationsschrift angenommen wurde. Die seitdem erschienene Literatur sowie neuere Quellenfunde konnten nur noch teilweise zur Kenntnis genommen und nicht mehr ausgewertet werden. Das gilt insbesondere für die Wiederentdeckung des bedeutenden Archivs der Berliner Singakademie in Kiew im Herbst 1999, das im Herbst 2001 nach Berlin überfuhrt wurde und erst seit Anfang 2002 öffentlich benutzbar ist. Indessen beruht jede geschichtliche Untersuchung auf einem historisch zufalligen und prinzipiell überholbaren Quellenbestand und muß bei veränderter Quellen- und Forschungslage fortgesetzt werden. Der Versuch einer möglichst umfassenden Rekonstruktion der Schleiermacherschen Gottesdienstgestaltung machte umfangreiche Recherchen erforderlich, von denen manche ergebnislos blieben. So haben sich der Charakter und die Schwerpunkte dieser Arbeit einerseits durch ausgebliebene, andererseits durch unerwartete Quellenfunde verändert und verlagert. Bei der Begehung des neuartigen Terrains habe ich großartige und selbstlose Hilfe erfahren. Sowohl der Umgang mit Archiven und Archivalien als auch das Lesen der alten Handschriften war ungewohnt und zeitaufwendig und mußte erst erlernt werden. Unschätzbar wertvoll war dabei die Anleitung und Hilfe des Germanisten Dr. Wolfgang Virmond von der Schleiermacherforschungsstelle der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Darum gilt ihm mein herzlicher und allererster Dank.
Vorwort
VI
Generell erwies sich der Kontakt zu anderen Forschern und Forschungsteams als sehr fruchtbar. Die überaus zuverlässige Begleitung und die aus einem umfassenden hymnologischen Wissen schöpfende Beratung durch meinen Mentor, Professor Dr. Jürgen Henkys und seine gründliche Lektüre meiner Texte, der ständige Kontakt mit meiner Kollegin Dr. Ilsabe Seibt und der regelmäßige interdisziplinäre Austausch mit den Hymnologinnen und Hymnologen des unter der Leitung und dem Management von Professor Dr. Hermann Kurzke und Frau Ulrike Süß stehenden Mainzer Graduiertenkollegs „Geistliches Lied und Kirchenlied interdisziplinär", dem ich von 1996 bis 1999 angehören durfte, haben mein Forschungsprojekt fachlich, ideell und praktisch kräftig unterstützt. Auch der Berliner Musikwissenschaftler Tobias Schwinger hat das Interesse an dieser Studie durch seine Hilfsbereitschaft bekundet. Zu danken habe ich schließlich den Herausgebern des SchleiermacherArchivs, den Professoren Hermann Fischer, Günter Meckenstock und KurtVictor Selge, welch letzterer sich auch als Gutachter der Dissertation intensiv mit dieser Arbeit beschäftigt hat, für die Aufnahme meiner Untersuchung in die Reihe Schleiermacher-Archiv. Dem Walter de Gruyter Verlag danke ich sehr herzlich für den Verlag des umfangreichen Buches. Die Großzügigkeit und Verläßlichkeit seiner Mitarbeiter haben mich schon beim Quellenstudium und dann wieder während der Verhandlungen um den Verlag und die Drucklegung beeindruckt. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die den Druck durch einen erheblichen Druckkostenzuschuß ermöglicht hat, ist ebenfalls Dank zu sagen. Neben Rat und Hilfe, Geld und Verlag gehört Gesundheit und Spannkraft dazu, die Arbeit aufzunehmen, in kritischen Phasen durchzuhalten und fristgerecht abzuschließen. Hier habe ich guten Geistern im Himmel und auf Erden sehr persönlich zu danken, unter den irdischen insbesondere meiner großartigen Frau, Amelie Schmidt, die diese Arbeit und das Arbeiten daran stets bedingungslos unterstützt hat. In meinen Eltern, Dr. Eberhard und Leonore Schmidt, hatte ich verständnisvolle und kompetente theologische und musikalische Gesprächspartner. Überhaupt wäre diese Arbeit ohne die Neugier vieler Menschen den Forschungsgegenstand und seine Aktualität betreffend nicht zustande gekommen. Dieses vielfaltige Interesse an einem vielseitigen Gegenstand und das durch das genannte interdisziplinäre Geflecht vorbereitete Arbeitsfeld, das mir eine ideale Forschungssituation bot, haben meine Forschungen ermöglicht, befruchtet und beflügelt, und ich hoffe, daß die Erfahrungen und Lernergebnisse aus der Beschäftigung mit Schleiermachers Gottesdienstgestaltung stets auch meiner eigenen Gottesdienstgemeinde zugute kommen werden. Ostern 2002
Bernhard Schmidt
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
1. E I N F Ü H R U N G
V
VII
1
2. D E R F E S T G O T T E S D I E N S T I N D E R L I T U R G I S C H E N T H E O R I E SCHLEIERMACHERS
2 . 1 . DER FESTGOTTESDIENST - EIN EIGENES GENUS?.-^«^.
9
9
2.1.1. DIE BEGRÜNDUNG DES GOTTESDIENSTES IN DER „CHRISTLICHEN SITTE" UND IN DER PRAKTISCHEN THEOLOGIE 2.1.2. GOTTESDIENST ALS FEST UND FESTGOTTESDIENST
9 18
2.2. DIE EINHEIT DES KULTUS
25
2.2.1. DER GOTTESDIENST ALS ORGANISMUS
25
2.2.2. DAS VERHÄLTNIS DER EINZELNEN ELEMENTE ZUEINANDER
28
2 . 2 . 2 . 1 . LITURGIE UND GEBET IM VERHÄLTNIS ZUR PREDIGT
28
2 . 2 . 2 . 2 . DAS VERHÄLTNIS VON PREDIGT UND LIED
30
2 . 2 . 2 . 2 . 1 . ZUR ALLGEMEINEN STELLUNG UND FUNKTION DES GESANGS IM GOTTESDIENST
30
2 . 2 . 2 . 2 . 2 . DIE SPEZIELLE BEZIEHUNG DES GESANGS ZUR PREDIGT
32
2.2.3. LITURGISCHE STILPRINZIPIEN
38
2 . 3 . DER GOTTESDIENST ALS KUNSTWERK?
42
2.3.1. SCHLEIERMACHERS KUNSTBEGRIFF IN DER ÄSTHETIK
42
2 . 3 . 1 . 1 . DIE KUNSTTÄTIGKEIT
42
2 . 3 . 1 . 2 . ZUM PROBLEM VON SCHLEIERMACHERS MUSIKÄSTHETIK
46
2.3.2. GOTTESDIENST ALS KUNSTWERK. ZUM VERHÄLTNIS VON KULTUS UND KUNST.... 51
3. D E R F E S T G O T T E S D I E N S T I N D E R L I T U R G I S C H E N P R A X I S SCHLEIERMACHERS
3 . 1 . DIE GEDÄCHTNISFEIER AUS ANLASS DES TODES DER KÖNIGIN LUISE 1 8 1 0
59
59
3.1.1. EINLEITUNG
59
3.1.2. DAS EINGANGSLIED „WIE FLEUCHT DAHIN DER MENSCHEN ZEIT"
62
3.1.3. DAS ALTARGEBET
65
3.1.4. DER HAUPTGESANG
67
3 . 1 . 4 . 1 . DAS REQUIEM
67
3 . 1 . 4 . 2 . DAS HAUPTLIED
68
VIII
Inhaltsverzeichnis
3 . 1 . 5 . DER PREDIGTKOMPLEX
71
3.1.5.1. Predigteinleitung und Kanzelvers 3.1.5.2. Predigt und Gebet
71 73
3 . 1 . 6 . DAS GANZE
76
3 . 2 . DER GOTTESDIENST AM ZWEITEN REFORMATIONSFEIERTAG 1 8 1 7
81
3 . 2 . 1 . EINLEITUNG. DAS REFORMATIONSJUBILÄUM 1 8 1 7
81
3 . 2 . 2 . DAS EINGANGSLIED „VOR DEM GEBET"
83
3 . 2 . 3 . LIED UND KIRCHENMUSIK „NACH DEM GEBET"
86
3.2.3.1. Das Lied „Nach dem Gebet" 3.2.3.2. Die Kirchenmusik 3.2.3.3. Das Lied vor der Predigt
86 89 92
3 . 2 . 4 . DER KANZELAUFTRITT
94
3.2.4.1. Das Lied unter der Predigt 3.2.4.2. Die Predigt 3.2.4.2.1. Aufbau und Inhalt 3.2.4.2.2. Theologie und Stil der Predigt 3.2.4.3. Das Gebet
94 95 95 97 100
3 . 2 . 5 . DAS LIED „NACH DER PREDIGT"
101
3 . 2 . 6 . DAS GANZE
102
EXKURS I: ZUR PFLEGE UND BEDEUTUNG DER KIRCHENMUSIK AN DER BERLINER DREIFALTIGKEITSKIRCHE
107
1. DIE VORGESCHICHTE
107
1.1. Zur allgemeinen Berliner Situation 1.2. Zur speziellen Situation an der Dreifaltigkeitskirche
107 110
2 . DIE KIRCHENMUSIK IM GOTTESDIENST FRIEDRICH SCHLEIERMACHERS
116
2.1. Die Berufung des Kantors C. F. Rex zur Leitung der Kirchenmusik im reformierten Gottesdienst 116 2.2. Die Ausführenden 120 2.3. Der Aufführungsstil 122 2.4. Das Repertoire 123 2.4.1. Der Quellenbestand: Die Liederblätter 123 2.4.2. Zur „Identifizierung" der Kirchenmusiken 125 2.4.2.1. Eigenkompositionen Rex'? 125 2.4.2.2. Die Eingrenzung des Repertoires 127 2.4.2.3. Die Methode 128 2.4.3. Anmerkungen zur Berliner Händelpflege und Rezeptionsgeschichte des Messias 133 2.5. Zur Entstehung der Kirchenmusiken 136 3. ZUM WESEN DER KIRCHENMUSIKEN
136
4 . REAKTIONEN AUF SCHLEIERMACHERS FESTLICHE GOTTESDIENSTE
145
5. EIN FAZIT
147
3 . 3 . DER GOTTESDIENST AM ZWEITEN OSTERTAG 1 8 1 9
153
3 . 3 . 1 . EINLEITUNG
153
3 . 3 . 2 . DAS LIED „VOR DEM GEBET"
154
3 . 3 . 3 . LIED UND KIRCHENMUSIK „NACH DEM GEBET"
159
3.3.3.1. Die Einzelstücke
159
Inhaltsverzeichnis 3.3.3.2. Zur Theologie der Komposition
IX 165
3.3.4. DIE PREDIGT
166
3.3.4.1. Die Quellen 3.3.4.2. Die Auslegung 3.3.4.3. Theologische Leitgedanken
166 167 168
3.3.5. DAS LIED „NACH DER PREDIGT"
169
3.3.6. DAS GANZE
170
EXKURS II: SCHLEIERMACHER UND DIE BERLINER GESANGBUCH-COMMISSION
173
1. EINFÜHRUNG IN DEN KONTEXT
173
2. DIE GESANGBUCHAKTEN - NEUE EINSICHTEN IN DIE ARBEIT DER GESANGBUCHCOMMISSION
2.1 Zum Umfang und Inhalt der Akten 2.1.1. Der Gesamtbestand 2.1.2. Die Arbeitsprotokolle 2.2. Zum Verlauf der Kommissionsarbeit 2.3. Die Arbeitsweise der Gesangbuch-Commission 2.3.1. Die einzelnen Arbeitsschritte 2.3.2. Die Methode der Kooperation 2.4. Die Mitglieder 2.5. Quellengesangbücherund Liedbearbeiter 2.6. Die Redaktionsprinzipien 2.6.1. Sprachliche Kriterien 2.6.2. Theologische Kriterien 2.6.3. Musikalische Kriterien 2.6.4. Traditionsverständnis 2.7. Die Revision
174
174 174 176 176 183 183 185 189 196 198 198 205 211 215 217
3. ZUR ROLLE SCHLEIERMACHERS
224
3.1. Schleiermachers Redaktionstätigkeit 3.2. Schleiermachers Konzept zur Rubrizierung des Berliner Gesangbuchs 3.2.1. Konkurrierende Entwürfe 3.2.2. Schleiermachers Entwurf 3.2.3.Würdigung und Kritik 3.2.4. Spuren Schleiermacherscher Gestaltung im Rubrikenverzeichnis des BG 3.3. Eigene Strophendichtung 3.3.1. Zu Johann Andreas Cramers „Für unsre Brüder beten wir" 3.3.2. Johann Peter Uz' „Herr sieh, ich bin verdrossen" 3.4. Zum Verhältnis von Kommissionsarbeit und Liedblattgestaltung 3.4.1. Die Komplexität der Beziehung 3.4.2. Die Praxis der integralen Liedbearbeitung 4. EIN FAZIT
224 236 236 237 240 244 245 245 247 253 253 256 261
3.4. DER GOTTESDIENST AM ERSTEN ADVENT 1 8 1 9
265
3.4.1. EINLEITUNG
265
3.4.2. DAS EINGANGSLIED „VOR DEM GEBET"
266
3.4.3. LIED UND KIRCHENMUSIK „NACH DEM GEBET"
270
3.4.3.1. Das Hauptlied
270
X
Inhaltsverzeichnis
3.4.3.2. Die Kirchenmusik
272
3.4.4. DIE PREDIGT
275
3.4.4.1. Form und Inhalt
275
3.4.4.2. Zur Theologie der Predigt
278
3.4.5. DAS SCHLUSSLIED „NACH DER PREDIGT"
281
3.4.6. DAS GANZE
281
3 . 5 . DAS UNIONSFEST AM PALMSONNTAG 1 8 2 2
285
3.5.1. EINLEITUNG. DIE GEMEINDEUNION IN DER DREIFALTIGKEITSKIRCHE
285
3.5.2. DIE QUELLEN ZU FORM UND ABLAUF DES GOTTESDIENSTES
291
3.5.3. DAS LIED „VOR DEM GEBET"
294
3.5.4. DAS ALTARGEBET
296
3.5.5. DAS LIED „NACH DEM GEBET"
297
3.5.6. DIE ALTARREDE
301
3.5.7. DIE KIRCHENMUSIK
303
3.5.7.1. Die Figuralmusik
303
3.5.7.2. Das Lied vor der Predigt
306
3.5.8. DIE PREDIGT
307
3.5.8.1. Form und Inhalt
307
3.5.8.2. Das Gebet
311
3.5.8.3. Zur Theologie der Predigt
312
3.5.9. DAS LIED „NACH DER PREDIGT"
314
3 . 5 . 1 0 . DAS GANZE
315
EXKURS Ι Π : ZU SCHLEIERMACHERS AGENDARISCHER PRAXIS
319
1. EINLEITUNG. ZUR ENTWICKLUNG DES EVANGELISCHEN GOTTESDIENSTES IM 18. UND FRÜHEN 19. JAHRHUNDERT
319
2. ZUR REKONSTRUKTION VON SCHLEIERMACHERS AGENDARISCHER PRAXIS
321
2.1. Methodische Vorbemerkungen
321
2.2. Quellentexte
322
2.3. Schleiermachers Gottesdienstordnung 1829ff.
327
2.3.1. Der Predigtgottesdienst
328
2.3.2. Die Vorbereitung des Abendmahls
334
2.3.3. Die Abendmahlsfeier
337
2.4. Zum liturgischen Ablauf vor 1829
342
2.4.1. Der Predigtgottesdienst
343
2 . 4 . 2 . D i e Vorbereitung der Abendmahlsfeier
351
2.4.3. D i e Abendmahlsfeier
353
2.5. Zeichen und Gesten
355
3. EIN FAZIT: KONTINUITÄT UND VARIABILITÄT. DIE LITURGISCHEN PRINZIPIEN SCHLEIERMACHERS 3 . 6 . DER GOTTESDIENST AM ZWEITEN WEIHNACHTSTAG 1 8 2 3
356 363
3.6.1. EINLEITUNG
363
3 . 6 . 2 . DAS EINGANGSLIED „VOR DEM GEBET"
363
3 . 6 . 3 . LIED UND KIRCHENMUSIK „NACH DEM GEBET"
365
3.6.3.1. Das Hauptlied
365
3.6.3.2. Die Figuralstücke
367
Inhaltsverzeichnis
XI
3.6.3.3. Die Kirchenmusik als Ganzes
370
3 . 6 . 4 . PREDIGT UND GEBET
371
3.6.4.1. D i e Q u e l l e n
371
3.6.4.2. Aufbau und Inhalt der Predigt 3.6.4.3. Das Gebet 3.6.4.4. Theologische Akzente
371 374 375
3.6.5. DIE LIEDSTROPHE „NACH DER PREDIGT"
376
3.6.6. DAS GANZE
377
3 . 7 . D E R GOTTESDIENST AM HIMMELFAHRTSTAG 1 8 2 5
381
3.7.1. EINLEITUNG
381
3.7.2. DAS LIED „VOR DEM GEBET"
382
3.7.3. LIED UND KIRCHENMUSIK „NACH DEM GEBET"
384
3.7.3.1. 3.7.3.2. 3.7.3.3. 3.7.3.4.
384 390 394 398
Das Hauptlied Die Figuralmusik Die Liedstrophe vor der Predigt „Du rufst uns einst vor deinen Thron" Die Kirchenmusik im Ganzen
3.7.4. DIE PREDIGT
399
3.7.4.1. Die Quelle 3.7.4.2. Aufbau und Inhalt 3.7.4.3. Theologische Akzente
399 399 401
3.7.5. DAS LIED „NACH DER PREDIGT"
403
3.7.6. DAS GANZE
403
3 . 8 . D E R GOTTESDIENST AM SONNTAG INVOCA VIT 1 8 2 6
407
3.8.1. EINLEITUNG
407
3.8.2. DAS EINGANGSLIED „VOR DEM GEBET"
408
3.8.3. HAUPTLIED UND KIRCHENMUSIK „NACH DEM GEBET"
410
3.8.3.1. Das Hauptlied 3.8.3.2. Die Kirchenmusik 3.8.3.2.1. Eine methodische Vorbemerkung 3.8.3.2.2. Die Figuralstücke 3.8.3.3. Die Liedstrophe vor der Predigt 3.8.3.4. Der Gesamtkomplex „Nach dem Gebet"
410 414 414 414 418 418
3.8.4. DIE PREDIGT
419
3.8.4.1. Die Quellen 3.8.4.2. Aufbau und Inhalt 3.8.4.3. Theologische Schwerpunkte
419 419 421
3.8.5. DAS LIED „NACH DER PREDIGT"
423
3.8.6. DER GOTTESDIENST ALS GANZES
425
EXKURS I V : Z u GOTTESDIENSTVORBEREITUNG UND GOTTESDIENSTVOLLZUG SCHLEIERMACHERS
427
1. SCHLEIERMACHERS GOTTESDIENSTVORBEREITUNG. ZEUGNISSE AUS BRIEFEN UND AMTSPRAXIS
1.1. Selbstzeugnisse zum Akt der Vorbereitung 1.2. Die drei Phasen der Gottesdienstvorbereitung 1.3. Rückverweise des Predigers auf gesungene Lieder
427
427 429 435
XII
Inhaltsverzeichnis
2. ZUR SELBSTREFLEXION VON GOTTESDIENSTVORBEREITUNG UND PREDIGTSTIL 2.1. Schleiermachers Anweisungen zur Gottesdienstvorbereitung in der Praktischen Theologie 2.2. Zur Eigentümlichkeit von Schleiermachers Predigtstil
437 437 439
3.9. DER GOTTESDIENST AM ZWEITEN PFINGSTTAG 1826 3.9.1. EINLEITUNG 3.9.2. DAS LIED „VOR DEM GEBET" 3.9.3. LIED UND MUSIK „NACH DEM GEBET" 3.9.3.1. Die Strophe „Ihr Christen rühmt, erhebt und preiset" 3.9.3.2. Die Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit a u f 3.9.3.3. Das Lied „Der Geist, der uns belehret" 3.9.3.4. Zur theologischen Komposition der Kirchenmusik 3.9.4. DIE PREDIGT 3.9.4.1. Die Quellen , 3.9.4.2. Aufbau und Inhalt 3.9.4.3. Theologische Akzente 3.9.5. DAS LIED „NACH DER PREDIGT" 3.9.6. DAS GANZE
445 445 446 451 451 454 459 464 465 465 465 468 470 474
4. S C H L U S S
477
D O K U M E N T E N - UND M A T E R I A L A N H A N G
487
1) DIE BESTALLUNG UND INSTRUKTION DES KANTORS UND MUSIKDIREKTORS CARL FRIEDRICH REX (1813) 488 2) ANTRAG SCHLEIERMACHERS AN DIE KÖNIGLICH-KURMÄRKISCHE GEISTLICHE- UND SCHULDEPUTATION (1815) 491 3) PROMEMORIA DES MUSIKDIREKTORS C. F. REX (SEPTEMBER 1817) 493 4) PROMEMORIA DES MUSIKDIREKTORS C. F. REX (14.12.1817) 502 5) TEXTE ZUR UNIONSAGENDE DER DREIFALTIGKEITSKIRCHE (1822) 507 6) SCHLEIERMACHERS KONZEPT FÜR DEN BERICHT DES VORSTANDS-COLLEGIUMS DER DREIFALTIGKEITSKIRCHE, DEN KIRCHENCHOR BETREFFEND (1825) 516 7) SCHREIBEN DES VORSTANDS-COLLEGIUMS DER DREIFALTIGKEITSKIRCHE, DEN EINSATZ UND DIE BEZAHLUNG VON STADTPFEIFERN IM GOTTESDIENST BETREFFEND (1827) 517 8) SCHLEIERMACHERS KONZEPT ZUR RUBRIZIERUNG DES BERLINER GESANGBUCHS, OHNE DATUM (ENDE 1826) 9) EINLADUNGEN UND PROTOKOLLE AUS DEN AKTEN DER GESANGBUCHCOMMISSION (GBC) 1818-1829 1. EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS 1.1. Auswahl und Anordnung 1.2. Das Zeichensystem und seine Wiedergabe 1.3. Anmerkungen und Nachweise 2. DIE TEXTE
518 522 522 522 522 524 526
Inhaltsverzeichnis
XIII
10) LISTE DER VON SCHLEIERMACHER FÜR DIE G B C BEARBEITETEN LIEDER (1819-1829)
722
11) ABBILDUNGEN
746
VERZEICHNISSE
765
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
765
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
766
1. ARCHIVALIEN
766
2. GESANGBÜCHER
768
3. LITERATUR
773
3.1. SCHLEIERMACHER
773
3.2. ANDERE
775
1. EINFÜHRUNG Wer heute eine Predigt vorbereitet und sich etwa der „Göttinger Predigtmeditationen" bedient, bekommt fast immer Liedvorschläge unterbreitet. Für uns ist es selbstverständlich, daß Predigt und Lied in Beziehung stehen. Doch das war nicht immer so. Die Frage nach dem Verhältnis von Lied Kirchenmusik und Predigt bei Schleiermacher resultierte aus der von Jürgen Henkys gemachten Beobachtung, daß Schleiermacher den gedruckten Predigten der letzten Jahre jeweils die Nummern der aus dem Berliner Gesangbuch von 1829 gesungenen Lieder beigegeben hat.1 Aber schon in den Predigtdispositionen von 1800, als Schleiermacher Prediger an der Berliner Charité war, begegnen solche entweder auf das alte (den Porst) oder das neue Gesangbuch (den Mylius) sich beziehende Liednummern.2 Diese Beobachtung weist darauf hin, daß schon der junge Prediger und Liturg Schleiermacher den Gottesdienst als ein organisches Ganzes betrachtete. Die Aufgabe einer exemplarischen Untersuchung des Schleiermacherschen Gottesdienstes erschien mir auch deshalb reizvoll, weil der Gottesdienst der Ort ist, an dem sich Theologie und Musik begegnen und ich den konkreten historischen Ort dieser Begegnung gern aufsuchen und erkunden wollte. Aus der Beschäftigung mit Schleiermachers Liturgik hatte ich die Frage mitgebracht, wie Schleiermacher die Idee von der Einheit und Ganzheit des Gottesdienstes wohl selbst verwirklicht hat, und wie er mit der eigenen Theorie, etwa für die gottesdienstliche Musik, praktisch umgegangen ist. Diese Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen war um so lohnender, als mit Schleiermachers „Liederblättern" gerade neues Quellenmaterial aufgetaucht war, das - dem Hinweis Jürgen Henkys' folgend - von Ilsabe Seibt im Blick auf die Beziehung zu dem von Schleiermacher mitherausgegeben Berliner Gesangbuch von 1829 untersucht wurde.3 So bestanden gute Rahmenbedingungen für die Erforschung des Schleiermacherschen Gottesdienstes. Doch das Thema ist ein weites Feld, da Friedrich 1
2
3
J. Henkys, Die Lieder in Schleiermachers Gottesdiensten 1830-1834. Hinweis auf eine fallige Aufgabe (IAH-Bulletin 13, 1985), jetzt auch in: J. Henkys, Singender und gesungener Glaube. Hymnologische Beiträge in neuer Folge (1999), S. 25-29. - Vgl. dazu Schleiermachers Hauptpredigten aus den Jahren 1831-1834, in SW II/3, Berlin 1843 und die Frühpredigten (über Mk und Kol, 1831-1834), SW II/5-6, hrsg. von Friedrich Zabel, Berlin 1835. Friedrich Zimmer hat in seine Edition der Predigtentwürfe (1887) die Liednummern nicht aufgenommen, wahrscheinlich weil er die Kürzel AGB und NGB nicht verstand, vgl. aber die Predigtentwürfe im Manuskript (SN 53). I. Seibt, Friedrich Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, Göttingen 1998.
2
Einführung
Schleiermacher (1768-1834) über 40 Jahre regelmäßig Gottesdienst gehalten hat, so daß der Gegenstand eingegrenzt werden mußte. In dieser Studie soll es nur um die Festgottesdienste Schleiermachers gehen, und zwar um diejenigen Festgottesdienste, die er als Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitskirche bis zum Erscheinen des Berliner Gesangbuchs, also zwischen 1809 und 1829, mit seiner Gemeinde gefeiert hat. Die Kategorie des Festgottesdienstes bezeichnet - vorläufig nach seinen äußeren Erkennungsmerkmalen charakterisiert - denjenigen liturgischen Akt, der im Unterschied zu anderen Schleiermacherschen Hauptgottesdiensten an besonderen Tagen des kirchlichen oder bürgerlichen Lebens stattfand und durch festliche Musik ausgezeichnet war. 4 Welche Quellen stehen der Untersuchung zur Verfügung? Hier ist zunächst zwischen Primär- und Sekundärquellen zu unterscheiden. Zur Rekonstruktion der Schleiermacherschen Festgottesdienste stellen die von dem Berliner Schleiermacherforscher Wolfgang Virmond 1991 wiederentdeckten sogenannten „Liederblätter" die wichtigste Primärquelle dar.5 Schleiermacher hat von 1812 oder 1813 an bis 1828 für jeden seiner Hauptgottesdienste (Sonntags 9 Uhr) ein extra Liedblatt drucken lassen.6 Diese Liederblätter konnten an der Kirchentür gekauft, sie konnten aber auch abonniert werden. Zwei große Sammlungen und einige Einzelblätter sind uns überliefert. 7 Mit den jeweils drei bis vier strophenweise aufgeführten Liedern dokumentieren die Liederblätter weit über 1000 Liedtexte von über 400 Schleiermacherschen Gottesdiensten, was um so interessanter ist, als die Textfassungen ja noch im Fluß waren und die jeweilige Textgestalt interpretierbar ist. Von Schleiermachers Zeitgenossen wurde diese Praxis als vornehm und gelegentlich sogar als extravagant empfunden, man fühlte sich an die Oper erinnert. Seiner kulturellen Bedeutung war sich Schleiermacher wohl bewußt, aber es gab auch innere Gründe. Wir wissen, daß Schleiermacher mit den beiden gebräuchlichen Berliner Gesangbüchern, dem pietistischen Porst'schen und dem rationalistischen Mylius'sehen Gesangbuch, unzufrieden war. Darum arbeitete er seit 1818 in der Berliner Gesangbuchs-Commission (GBC) mit. Bis das neue Gesangbuch eingeführt war, hatte er mit den Liederblättern die Möglichkeit, sowohl Lieder aus anderen Gesangbüchern als auch die passenden Melodien selbst auszuwählen und Textveränderungen an den Liedern vorzunehmen. Dazu kommt, daß an Festtagen die Texte der Kirchenmusik mitabgedruckt wurden und so für die 4 5
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Zur Definition des Festgottesdienstes s. u. 2.1.2. Vgl. W. Virmonds Aufsatz: Liederblätter - ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers, in: Schleiermacher in context, Lewiston 1991, S. 275-293. Die Liederblätter sind bisher nicht ediert. Kopien sämtlicher bisher bekannter Liederblätter befinden sich in der Schleiermacherforschungsstelle der BBAW in Berlin. Zur Datierung der Liederblätter vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch, S. 34, Anm. 56 und hier s. u., Exkurs I., 2.4.1. Vgl. dazu I. Seibt, Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch, S. 24ff.
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Gemeinde nachlesbar waren. So konnte Schleiermacher den Gottesdienst mit Hilfe der Liederblätter einheitlich formen und der Gemeinde sein Konzept auch visuell präsentieren. Neben den Liederblättern gehören die Predigten zu den Primärquellen meiner Gottesdienst-Rekonstruktionen. Fast 600 Predigten Schleiermachers sind bisher gedruckt8, doch weit über 500 Predigten - in unterschiedlich langen und zuverlässigen Nachschriften dokumentiert - harren noch ihrer Veröffentlichung.9 Um die gestellte Aufgabe erfüllen zu können, ausgewählte Festgottesdienste Schleiermachers aufgrund aller verfugbarer Quellen zu rekonstruieren, mußte ich z.T. auf bisher unveröffentlichte Nachschriften Schleiermacherscher Predigten zurückgreifen. Diese Predigten haben den Vorteil eines oft höheren Authentizitätswertes, aber den Nachteil, daß sie noch nicht allgemein zugänglich sind. Außer den Primärquellen Liedblatt und Predigt stehen Sekundärquellen zur Verfügung, die Informationen aus dem Hintergrund bzw. aus dem Umfeld Schleiermacherscher Gottesdienstvorbereitung und -gestaltung liefern. Dazu gehören u.a. Dokumente zum kirchenmusikalischen Leben an der Dreifaltigkeitskirche. Leider ist es mir trotz angestrengter Suche nicht gelungen, musikalische Quellen der Kirchenmusiken (Handschriften oder Drucke) ausfindig zu machen. Doch bei meinen Recherchen in Archiven und Bibliotheken stieß ich auf eine Reihe von Materialien, mittels derer es möglich ist, die kirchenmusikalische Praxis an der Dreifaltigkeitskirche besser kennenzulernen und damit auch allgemeine Aufschlüsse über die Berliner Kirchenmusik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu gewinnen. Bei den genannten Recherchen stieß ich gemeinsam mit Wolfgang Virmond auf die als verschollen geglaubten Akten der Berliner Gesangbuchs-Commission (GBC), zu deren Mitgliedern auch Schleiermacher gehörte. Erst nach und nach begriff ich, wie eng die Arbeit der GBC mit Schleiermachers Gottesdienstvorbereitungen verbunden war, und wie Schleiermacher und seine Gemeinde in den Jahren seit 1819 von der hymnologischen Arbeit der GBC profitiert haben, so daß mit dem umfänglichen Aktenfund eine wichtige Sekundärquelle zur Erforschung des Schleiermacherschen Gottesdienstes gewonnen war.10 Ein weiterer Quellenfund erhellt Schleiermachers Gottesdienstformular. Ich entdeckte eine Textsammlung, die Schleiermacher anläßlich der Spezial-Union in der Dreifaltigkeitskirche 1822 aus den ehemals lutherischen und reformierten Gottesdienst-Formularen und anderen liturgischen Texten zusammengestellt
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Vgl. die Bibliographie der Schleiermacherschen Predigten bei W. v. Meding, Bibliographie der Schriften Schleiermachers, Berlin, New York 1992, S. 229-330. Der Bestand wird heute von der SBB verwahrt. Er ist kürzlich von Matthias Wolfes gesichtet und neu geordnet worden und soll innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe in der dritten Abteilung vollständig veröffentlicht werden. Die von M. Wolfes angefertigte Bestandsübersicht liegt mir vor. Siehe unten Anhang 9).
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hatte. Mit Hilfe dieser und anderer bereits bekannter Quellen wird es möglich, die Form des Schleiermacherschen Gottesdienstes in der Dreifaltigkeitskirche vor und nach 1822 wenigstens idealtypisch zu rekonstruieren. Trotz dieser beachtlichen Quellenfunde bleiben die Kenntnisse von Schleiermacher Festgottesdienst fragmentarisch. Die Wissenslücken in Bezug auf das liturgische Formular, auf Gebete, Chorsätze, das Orgelspiel u.a. schmerzen, aber es ist wohl ein Wesensmerkmal historischer Arbeit, daß die Zufälligkeit der Quellenfunde Maß und Inhalt des Wissens bestimmt. Bei exemplarischen Untersuchungen stellt sich stets die Frage nach den Auswahlkriterien, hier: Welche Gottesdienste werden rekonstruiert und warum? Zunächst hat der Festgottesdienst meine besondere Aufmerksamkeit darum auf sich gezogen, weil hier Kirchenmusik stattfand, der von Anfang an mein spezielles Interesse galt. Damit ist ein erstes Auswahlkriterium benannt. 37 der 405 bisher bekannten Liederblätter weisen Kirchenmusiktexte aus, dazu kommt der Trauergottesdienst von 1810, der fast vollständig (mit Liedtexten und Predigt) im vierten Band der Predigten abgedruckt ist." Von den 37 Festgottesdienst-Zetteln kamen abgesehen von denen, die in ihrer Echtheit bzw. Zugehörigkeit fraglich sind 12 , nur solche Liederblätter zur Auswertung in Frage, die eindeutig datierbar sind, und denen auch eine Predigt Schleiermachers zugeordnet werden kann. Da andererseits einige Liederblätter hinsichtlich ihrer Kirchenmusiktexte völlig dunkel blieben, bot sich insgesamt nur eine kleine Zahl von Liederblättern der Gesamtrekonstruktion an. Erfreulicherweise ist es mir gelungen, einen fast kompletten Festkreis - freilich aus verschiedenen Jahren zu präsentieren: Advent (1819), Weihnachten (1823), Invocavit/Passion (1826), Ostern (1819), Himmelfahrt (1825), Pfingsten (1826), ergänzt durch drei außerordentliche Festgottesdienste: eine Trauerfeier (1810), das Reformationsjubiläum (1817) und das Unionsfest der Dreifaltigkeitskirche (1822). Leider konnte ich für den - im evangelischen Kirchenjahr so bedeutsamen - Karfreitagsgottesdienst die Quellen nicht zusammenbringen. Doch die neun ausgewählten Sonn- und Festtage umfassen einen Zeitraum von 17 Jahren und dürften aufgrund der genannten Auswahlkriterien für Schleiermachers Berliner Festgottesdienst als repräsentativ gelten. In der Struktur der Arbeit spiegelt sich ihr Thema ab: die Rekonstruktion der liturgischen Praxis. Meine Studie wird eröffnet mit einer knappen Betrachtung der liturgischen Theorie Schleiermachers in Bezug auf den Festgottesdienst. Darauf folgt der aus neun Gottesdienstanalysen bestehende Hauptteil. Zu jeder Analyse gehört - nach einer kurzen Einführung in die Zeit und biographische Situation Schleiermachers - erstens die Erforschung der Liedquellen und Liedtextbearbeitungen, zweitens eine meist hypothetische Untersuchung der Kirchenmusik auf der Grundlage der überlieferten Texte, drittens eine Betrachtung 11 12
SWII/4, S. 52-64. Siehe unten Exkurs I. 2.4.1.
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der Predigt im Blick auf ihre theologische Aussage und viertens die Erwägung der gottesdienstlichen „Gesamtkonzeption". Die Folge dieser Analysen wird durchbrochen von vier unkonventionell ausführlichen Exkursen, die die Funktion haben, das Vor- und Umfeld Schleiermacherscher Gottesdienstgestaltung in Bezug auf die Kirchenmusik, die Liedredaktion, die Liturgie sowie die Gottesdienstvorbereitung insgesamt zu charakterisieren. Sie schließen sich jeweils an solche Gottesdienst-Kapitel an, die entsprechende thematische Anknüpfungspunkte bieten. Anmerkungen zu Schleiermachers homiletischer Praxis finden sich in Exkurs IV. Mir ist bewußt, daß das homiletische Thema keineswegs gleichgewichtig behandelt worden ist. Das mag entschuldigt werden im Blick auf die Länge der Arbeit und die Tatsache, daß Schleiermachers Predigt bereits öfter Gegenstand der Forschung war. Meine Predigtanalysen sind keine homiletischen Spezialuntersuchungen, vielmehr sollen sie helfen, der jeweiligen „theologischen Idee" eines Gottesdienstes auf die Spur zu kommen und die formalen und inhaltlichen Zusammenhänge der einzelnen gottesdienstlichen Teile aufzuzeigen. Damit ist auch das Ziel meiner Arbeit beschrieben, das darin besteht, die von Schleiermacher postulierte Einheit und Ganzheit des Kultus an Hand einiger rekonstruierter Festgottesdienste exemplarisch zu demonstrieren. Auf eine kurze Zusammenfassung folgt der für die Lektüre der Arbeit unerläßliche, sehr umfangreiche Dokumenten- und Materialanhang. Die Schleiermacherforschung hat sich mit Schleiermachers liturgischer Praxis bisher nicht beschäftigt. Zwar heißt Christoph Albrechts Untersuchung „Schleiermachers Liturgik. Theorie und Praxis des Gottesdienstes bei Schleiermacher und ihre geistesgeschichtlichen Zusammenhänge" 13 , doch über die im Titel geführte Praxis, d.h. über Schleiermachers eigene Tätigkeit als Liturg, erfährt der Leser nichts. Ebensowenig erfahrt er in der sonst so wertvollen Quellensammlung von Wolfgang Herbst14, die zwar evangelische Gottesdienstformulare im Wandel der Zeiten vorstellt, aber zu Schleiermachers Gottesdienst lediglich Passagen aus der Praktischen Theologie abdruckt. Noch grundlegender als Albrecht beschäftigt sich Ralf Stroh mit Schleiermachers Gottesdiensttheorie in seiner gleichnamigen Dissertation von 1998. Dabei versucht Stroh, die Gottesdiensttheorie aus dem enzyklopädischen Rahmen der Schleiermacherschen Theologie heraus zu rekonstruieren, wobei er auf Schleiermachers Enzyklopädie („Kurze Darstellung des theologischen Studiums") und auf die Philosophische Ethik zurückgreift und ausdrücklich an den Vorlesungen zur Praktischen Theologie vorbei geht, um den Gottesdienst in seinen gesamtgesellschaftlichen Kontext einzuzeichnen. Ein methodisches Problem besteht darin, daß der Autor versucht „fehlende Teile im Sinne Schleiermachers auszufüllen." 15 13 14 is
Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik. Theorie und Praxis des Gottesdienstes bei Schleiermacher und ihre geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, Berlin 1962. W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte, Göttingen 19922. R. Stroh, Schleiermachers Gottesdiensttheorie, Berlin, New York 1998, S. 347.
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Alfred Ehrensperger unternahm vor 30 Jahren den sympathischen Versuch einer Ehrenrettung der Aufklärungsliturgik, bei dem es ihm immerhin gelang, die Motive, wenn auch nicht die Ergebnisse, der Aufklärungsliturgik zu rehabilitieren.16 Für die vorliegende Arbeit ist Ehrenspergers Untersuchung insofern interessant, als sie durch die gründliche und wohlwollende Darstellung ihres Gegenstandes Schleiermachers aufklärerische Wurzeln, die auch seine liturgische Praxis prägen, offenzulegen hilft. Demgegenüber hatte sich Albrecht in seinem Kapitel B. III. „Der Einfluß der Aufklärung auf Schleiermachers Lehre vom Gottesdienst" im wesentlichen referierend auf Paul Graffs stark tendenziöse Untersuchung „Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen [...] bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus" (1921/1939) gestützt. Das Interesse an Schleiermachers Rolle im Agendenstreit war von Beginn an groß. Dieses Interesse richtete sich einerseits auf die politische Brisanz der Sache, andererseits auf die von Schleiermacher demonstrierte charakterliche Standfestigkeit. Die Menge der Literatur allerdings erklärt sich schlicht aus der Fülle der Quellen, die der Forschung ein reiches Betätigungsfeld eröffnen. Ich nenne u.a. Ludwig Jonas, Erich Foerster, R. Burggaller, Andreas Reich.17 Noch zu Schleiermachers Lebzeiten und in den Jahren nach seinem Tode befaßten sich einige seiner Zeitgenossen und Schüler mit dem Phänomen des Predigers Schleiermacher und seiner Predigten, z.B. Alexander Schweizer, Friedrich Lücke, K. W. Rhenius, Karl Heinrich Sack u.a.18 Das Zeugnis der beeindruckten Zeitgenossen ist für mich insofern wertvoll, als diese z.T. noch um Schleiermachers Art der Vorbereitung wußten und von der Atmosphäre seiner Gottesdienste erzählen konnten. Die grundlegende Arbeit von Wolfgang Trillhaas „Schleiermachers Predigt", eine homiletische Untersuchung mit systematisch-theologischem Schwerpunkt, ist in ihrem Anliegen und ihrer Aussage klar: Trillhaas nimmt eine grundsätzliche theologische Kritik der Schleiermacherschen Predigt vor und steht im Erscheinungsjahr 1933, wie er selbst sagt, unter
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A. Ehrensperger, Die Theorie des Gottesdienstes in der späten deutschen Aufklärung (1770-1815), Zürich 1971. Eine Rehabilitierung der Ergebnisse der Aufklärungsliturgik konnte er schon deshalb nicht leisten, weil auch Ehrensperger lediglich die liturgische Theorie analysiert. L. Jonas, Schleiermacher in seiner Wirksamkeit für Union, Liturgie und Kirchenverfassung, Monatsschrift für die unirte evangelische Kirche V, Berlin 1848, S. 251-490; Erich Foerster, Die Entstehung der preußischen Landeskirche unter der Regierung Friedrich Wilhelms des Dritten, Zwei Bände, Tübingen 1905/1907; R. Burggaller, Schleiermacher als Kirchenpolitiker besonders in Bezug auf die preußische Union und Agende, Erlangen/Nürnberg 1971; A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Berlin, New York 1992. A. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger, Halle 1834; F. Lücke, Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S. 734-813; K. W. Rhenius, Friedrich Schleiermachers Predigtweise für Theologen und Nicht-Theologen, Magdeburg 1837; K. H. Sack, Rezension der 5. Sammlung Festpredigten von Schleiermacher und von 30 Predigten für Mitglieder und Freunde der Brüdergemeine von Albertini, in: Theologische Studien und Kritiken, 4. Jg. (1831), S. 350-396.
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dem prägenden Einfluß Karl Barths.19 Gegenüber Trillhaas' dogmatisch voreingenommener Perspektive richtet der historisch arbeitende Christoph Meier-Dörken einen unbefangenen Blick auf Schleiermachers Predigt. Leider untersucht er nur die frühen Predigten bis 1804.20 Trotz seiner angemesseneren Methode betrachtet auch Meier-Dörken die Predigten völlig isoliert und - wie schon Trillhaas - ohne jeglichen Bezug auf ihren liturgischen Kontext. Die Arbeit von Meier-Dörken (1988) ist ein Produkt des vor gut 20 Jahren neu erwachten generellen und speziellen Interesses an Schleiermachers Theologie. Davon zeugt die seit 1980 erscheinende Kritische Gesamt-Ausgabe (KGA) wie auch zahlreiche Monographien und Einzelstudien. Der Berliner Verlag Walter de Gruyter, Rechtsnachfolger des Georg-Reimer-Verlages, gibt seit 1985 Studien zu Schleiermachers Leben und Werk in der Reihe „Schleiermacher-Archiv" heraus. In dieser von H. Fischer, G. Ebeling, Κ. V. Selge u.a. herausgegebenen Reihe erschien 1992 die Arbeit von Andreas Reich „Schleiermacher als Pfarrer", in der der Autor Schleiermachers Amtstätigkeit als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche untersucht und gewürdigt hat. A. Reich gehört das Verdienst, sich thematisch mit Schleiermachers bis dahin unbekannter pfarramtlicher Praxis befaßt und dabei eine Fülle handschriftlicher Quellen verwertet und zugänglich gemacht zu haben. Damit hat Reich innerhalb der auf die Schriften, Briefe und Vorlesungen fixierten Schleiermacherforschung einen neuen Akzent gesetzt. Im Rahmen seines Themas streift Reich auch Fragen, die den gottesdienstlichen Vollzug im engeren oder weiteren Sinne betreffen. Den größten Nutzen für mich hatte allerdings seine umfangreiche im Anhang seines Buches befindliche Quellensammlung. Von der „Schleiermacher-Renaissance" profitierten auch die Liturgik und die Hymnologie. Der unlängst verstorbene Verfasser der bedeutenden zweibändigen „Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern", Rainer Volp, ist - wie schon der Untertitel des Buches verrät - entscheidend von Schleiermacher inspiriert. Das Interesse am Hymnologen Schleiermacher ist in letzter Zeit vor allem von Jürgen Henkys wachgehalten bzw. neu geweckt worden. Mit seinem genannten Aufsatz „Die Lieder in Schleiermachers Gottesdiensten 1830-1834" hat er auf Forschungsdefizite und -desiderate aufmerksam gemacht. Seinem Hinweis folgend hat Ilsabe Seibt unter Verwendung der wiederentdeckten Liederblätter das Wesen des Berliner Gesangbuchs von 1829, sein Werden und Wirken, beschrieben, wobei sie besonders auf den maßgeblichen theologischen Einfluß Schleiermachers aufmerksam gemacht hat. Ich bin dieser Spur gefolgt und kann aufgrund der neuen Quellenlage das von ihr gezeichnete Gesamtbild z.T. bestätigen, z.T. ergänzen und um weitere Details bereichern, was in einigen Fällen auch zu sachlichen Korrekturen an ihrer Darstellung führt.
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W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, Berlin, New York 1933/1975 2 . C. Meier-Dörken, Die Theologie der frühen Predigten Schleiermachers, Berlin, New York 1988.
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Einführung
Zur Situation der Kirchenmusik im Berlin des frühen 19. Jahrhundert ist bisher wenig geforscht worden. Die Musikgeschichte Berlins von Curt Sachs (1908) widmet sich ausfuhrlich der Kirchenmusik und der Amtstätigkeit der Kantoren, sie endet aber um 1800. Von den Musikwissenschaftlern wird das Fehlen einer neueren Musikgeschichte Berlins ehrlich bedauert, trotzdem konnte das Projekt bis heute nicht realisiert werden. Der Aufsatzband „Studien zur Musikgeschichte Berlins", herausgegeben von Carl Dahlhaus, behandelt nur Einzelfragen und gibt keinen systematischen Überblick. Lexikonartikel wie der in der neuen MGG von Ingeborg Allihn müssen sich naturgemäß kurz fassen.21 Mit jeder Forschung werden Fragen beantwortet und zugleich neue Fragen aufgeworfen. Das ist auch hier der Fall. Aus der meine Untersuchung leitenden Frage nach Schleiermachers Gestaltung der Festgottesdienste sind Spezialfragen und Aufgaben entsprungen, die durch diese Arbeit noch nicht beantwortet und gelöst werden konnten, und die eine intensive interdisziplinäre Weiterarbeit erfordern. Es sind u. a. die folgenden Aufgaben: - die geistesgeschichtliche Einordnung der ästhetischen Anschauungen und liturgischen Praktiken Schleiermachers, - eine umfassende musikgeschichtliche Untersuchung und Würdigung der Kirchenmusikpraxis an der Dreifaltigkeitskirche, - die systematische Datierung und textliche Erschließung aller Liederblätter einschließlich einer vollständigen Identifizierung der Kirchenmusiktexte,22 - die gründliche genetische Untersuchung der Dreifaltigkeitsagende von 1822, - eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der Schleiermacherschen Liedbearbeitungstechnik.
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Carl Dahlhaus (Hrsg.), Studien zur Musikgeschichte Berlins, Regensburg 1980. MGG2 Bd. 1 (1994), Sp. 1417-1475. Hier dürfte auch das von Christoph Wolff wiederentdeckte, aber zur Zeit nicht benutzbare, Archiv der Berliner Singakademie neue Aufschlüsse geben.
2. DER FESTGOTTESDIENST IN DER LITURGISCHEN THEORIE SCHLEIERMACHERS In diesem einleitenden Kapitel geht es darum, das Thema der Arbeit aus Schleiermachers Theorie heraus zu begründen, zum einen also die Spezialisierung der Arbeit auf die Festgottesdienste zu rechtfertigen, zum anderen einen ganz bestimmten Aspekt der Schleiermacherschen Liturgik herauszugreifen: die Einheit des Gottesdienstes und schließlich das Verhältnis der Religion zur Kunst im Kontext des Gottesdienstes zu erörtern.1 Methodisch werde ich so verfahren, daß ich der Untersuchung nur die einschlägigen gedruckten Schriften Schleiermachers zugrunde lege, während das Quellenmaterial aus Schleiermachers Praxis hier noch nicht berücksichtigt werden soll.
2.1. Der Festgottesdienst - ein eigenes Genus? 2.1.1. Die Begründung des Gottesdienstes in der „Christlichen Sitte" und in der Praktischen Theologie Schleiermachers Schriften zur Gottesdienst-Theorie stammen aus einer Zeit des Umbruchs. Die Aufklärungsliturgik hatte ihre höchste Breitenwirkung erreicht, doch ihren geistigen Zenit bereits überschritten.2 Goethezeit und Romantik einerseits, die napoleonische Unterdrückung andererseits, weckten die Sehnsucht nach alten Traditionen und Überlieferungen. Eine im konstruktiven Sinne verstandene Periode der Restauration hob an, lange bevor der Wiener Kongreß die politische Restauration Europas vornahm.3 In diesen Kontext fällt auch das wiedererwachende Interesse an Religion und Kirche, das in Preußen maßgeblich von dem frommen König Friedrich Wilhelm III. gefördert wurde. Friedrich Schleiermacher hat auf verschiedene Weise an dieser Entwicklung teilgenommen: Als patriotischer Prediger, als Universitäts- und Bildungspolitiker, als Kirchenpolitiker, als akademischer Theologe. Als letzterer wurde er berühmt mit seiner prägnanten theologischen Enzyklopädie von 1811, in der er der Theologie erstmals eine wissenschaftstheoretische Begründung gab. Für unseren Kontext ist diese Schrift insofern bedeutsam, als Schleiermacher dort ι
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Zur allgemeinen Analyse der Schleiermacherschen Liturgik und ihrer geschichtlichen Wurzeln verweise ich auf Christoph Albrecht, Schleiermachers Liturgik (1962). Vgl. auch das Literaturverzeichnis. Vgl. zur Würdigung der Aufklärungsliturgik und zur Geschichte und Theorie des evangelischen Gottesdienstes überhaupt: Alfred Ehrensperger, Die Theorie des Gottesdienstes in der späten deutschen Aufklärung (1971); Peter Cornehl, Art. Gottesdienst VIII. Evangelische Kirche, in: TRE Bd. XIV (1985), S. 54-85 und H.-C. Schmidt-Lauber, in: Handbuch der Liturgik (1995), S. 15-39. Vgl. etwa Schleiermachers Reformschrift „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens" 1804, SW1/5, S. 41-156.
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2. Der Festgottesdienst in der liturgischen Theorie
der Praktischen Theologie ihren Platz z u g e w i e s e n und ihr W e s e n und ihre A u f gabe folgendermaßen beschrieben hat: „Der Zwekk des christlichen Kirchenregimentes kann nur dahin gehen, dem Christenthum sein zugehöriges Gebiet zu sichern und immer vollständiger anzueignen, und innerhalb dieses Gebietes die Idee des Christenthums immer reiner darzustellen. - Hierzu muß es eine Technik geben, welche sich auf den Besiz der darzustellenden Idee, und auf die Kenntniß des zu regierenden Ganzen gründet. - Die Darstellung dieser Technik ist der praktische Theil der Theologie. - Die praktische Theologie ist die Krone des theologischen Studiums." 4 Damit hat Schleiermacher die Praktische Theologie im Kanon der theologischen Fächer fest verankert. 5 Bereits als Professor in Halle hatte Schleiermacher für das Wintersemester 1806/07 eine Vorlesung unter dem Titel „Principia Theologiae practicae tradet" angeboten, die allerdings w e g e n der Schließung der Universität durch N a p o l e o n nicht zustande kam. N a c h seiner Berufung an die Berliner Universität las Schleiermacher seit 1812 neunmal Praktische Theologie s o w i e aus g e g e b e n e m Anlaß im Wintersemester 1814/15 Liturgik. 6 In den Vorlesungen zur Praktischen Theologie behandelt Schleiermacher den Gottesdienst stets als ersten Abschnitt des Ersten Teils „Der Kirchendienst". 7 Gegenüber den anderen Tätigkeiten des Kirchendienstes (z.B. Katechetik, Seelsorge) hebt er den „Kultus" als „Hauptsache" hervor. 8 Damit hat er ein unübersehbares Zeichen zugunsten des Gottesdienstes im V o l l z u g des christlichen Lebens und zugunsten der Liturgik im Kanon der praktisch-theologischen Disziplinen gesetzt, indem nämlich die Liturgik allen anderen Arbeitsfeldern der Praktischen Theologie vorangestellt wird, und diese die Homiletik sachgemäß in sich aufnimmt. 9 4
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Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen", 18111, §§ 28-31, KGA 1/6, S. 253. - In den Vorlesungen zur PT bezeichnet Schleiermacher sie kurz als „Technik zur Erhaltung und Vervollkommnung der Kirche". Die praktische Theologie nach den Gründsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hrsg. von Jacob Frerichs, SW1/13, Berlin 1850, S. 25. Vgl. dazu auch W. Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe. Friedrich Schleiermachers Verständnis der Praktischen Theologie, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums (1991), S. 147-172. Das PT-Kolleg im Wintersemester 1813/14 mußte wegen der politischen Turbulenzen ausfallen. Schleiermacher las meistens fünfmal wöchentlich von 8 bis 9 Uhr. Vgl. die Liste der Schleiermacherschen Vorlesungen, in: A. Arndt und W. Virmond, Schleiermachers Briefwechsel (1992), S. 300-330. Die genannte Liturgik-Vorlesung war Schleiermachers Antwort auf die liturgischen Alleingänge des Königs, vgl. das Fragment E in PT, SW 1/13, S. 838-844. Vgl. die historische Begründung dieser Anordnung, PT, S. 53: Zuerst war der Gottesdienst, dann kam die Mission und Organisation. In der ersten Auflage der „Kurzen Darstellung" (1811), KGA 1/6, S. 300ff. wird das Kirchenregiment noch vorangestellt, in der zweiten Auflage (1830) wird es dem Kirchendienst wieder nachgeordnet, KGA 1/6, S. 417ff. Vgl. PT, S. 66. Ich verwende im folgenden „Kultus" und „Gottesdienst" synoym, wie es auch Schleiermacher tut. Vgl. dazu auch Schleiermachers Vorlesungsmanuskript von 1833, PT (C), S. 829f.: „In-
2. Der Festgottesdienst in der liturgischen Theorie
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Obliegt es nun der Praktischen Theologie (PT), das Regelwerk der Gottesdienstgestaltung, seine „Technik", zu explizieren, so setzt sie damit die anthropologische, in Schleiermachers Terminologie: die „ethische" Begründung des Gottesdienstes voraus, die von der theologischen Ethik, die Schleiermacher die „Christliche Sittenlehre" (ChS) nennt, geleistet werden muß.10 In ChS leitet Schleiermacher den Gottesdienst aus der anthropologischen Verfaßtheit des Menschen ab und konstruiert ihn als eine wesentliche Form des darstellenden Handelns, das er dem wirksamen Handeln gegenüberstellt. Während das wirksame Handeln des Menschen in der „Reinigung der Unlust" und der „Verbreitung der Lust" besteht - beides fuhrt zur Seligkeit hin - , ist das darstellende Handeln vom wirksamen Handeln dadurch unterschieden, daß einerseits überhaupt keine Wirkung beabsichtigt, andererseits der Gegensatz von Lust und Unlust überwunden ist. Schleiermacher bezeichnet diesen Zustand jenseits des Gegensatzes von Lust und Unlust als „Seligkeit". Freilich ist dieser Zustand nur ein „relativer", da der Gottesdienst, der diesen Zustand zur Darstellung bringt, zeitlich begrenzt ist. Die Seligkeit stellt eine höhere Stufe des Selbstbewußtseins dar, in welchem der Mensch der „Herrschaft des Geistes über das Fleisch" gewahr wird: „Das höhere Selbstbewußtsein unter der Form der Seeligkeit dagegen, sofern es gar nicht unter dem Gegensaze der Lust und Unlust steht, ist das eigentliche Grundgefuhl des Christen, das Gefühl, daß es eine Gewalt des Geistes über das Fleisch giebt." 11
Indem die Seligkeit über dem Gegensatz von Lust und Unlust steht, kann sie nicht einfach mit „Lust" identifiziert werden. Schleiermacher begründet dies auch mit dem komparativen Wesen der Lust; dagegen erscheint die Seligkeit als „Potenz schlechthin".12 Die objektive theologische Ursache des Gefühls der Seligkeit ist der christliche Grundzustand: die „Gemeinschaft mit Gott durch
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dem wir nun zur religiösen Rede übergehen, ist uns das nur ein Kapitel in der Lehre von der Thätigkeit des Geistlichen im Cultus, nicht eine eigene Disciplin." Die Christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hrsg. von Ludwig Jonas (1843). - Das Verhältnis von Ethik und Praktischer Theologie erläutert Schleiermacher in ChS, S. 537: „Wir streifen hier an das Gebiet der praktischen Theologie, der es obliegt, den Gottesdienst im engeren Sinne anzuordnen. Sie sezt die ethische Begründung desselben voraus und behandelt hauptsächlich die Technik. Wir unseres Ortes übergehen das technische und fassen nur die Aufgabe ins Auge, den Gottesdienst ethisch zu begründen." ChS, S. 516. - Daß diese heute fremd klingende Formel nicht nur ein theologisches Konstrukt und moralisches Stereotyp ist, sondern eine von Schleiermacher selbst erprobte Lebensmaxime, weiß F. Lücke zu berichten, vgl. Friedrich Lücke, Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S. 734-813, S. 808: „Diese sokratische Herrschaft und Gewalt des Geistes über den Leib gehörte zu seinem innersten Wesen, und sicherte ihm im Alter die frische Jugend ..." Beilage A (1809) § 46, S. 15. - Indem ich die Texte synchron lese, setze ich mit der Forschung eine gewisse Stabilität von Schleiermachers allgemeinen ethischen Anschauungen voraus.
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2. Der Festgottesdienst in der liturgischen Theorie
Christum".13 Dieser christliche Grundzustand stellt nun den eigentlichen Gegenstand der Darstellung im christlichen Gottesdienst dar. Allgemeiner gefaßt und für jeden Kultus gilt: Dargestellt im Gottesdienst wird das religiöse Bewußtsein, „die religiösen Gemüthszustände"14, d.h. die Beziehung des Menschen zu Gott als das Gefühl einer schlechthinnigen Abhängigkeit.15 Darin ist jeder einzelne Mensch Gott gleich-unmittelbar, indem das Gottesbewußtsein als ein religiöses Apriori gesetzt ist: „Das religiöse ist etwas gemeinsam menschliches."16 Das so beschriebene Religiöse tritt nun in den verschiedenen empirischen Religionen hervor, am vollkommensten jedoch im Christentum, wobei der Inhalt der christlichen Darstellung des Gottesverhältnisses bestimmt ist von der Erlösung durch Christus, darum ist das „innerliche [...], welches dargestellt werden soll, [...] der Zustand der freien Herrschaft des Geistes über das Fleisch, das Bewußtsein der Seligkeit, der ungetrübte Zustand in der schwebenden Mitte zwischen Lust und Unlust."17 Handelt es sich im Gottesdienst um die Darstellung des christlichen GrundZustandes, so ist damit schon eine unwillkürliche Geftihlsentladung und Augenblickspräsentation ausgeschlossen, vielmehr geht es um eine theologisch reflektierte Äußerung des christlichen Bewußtseins: „Wir aber wollen hier ein darstellendes Handeln, das kein rein willkührliches sein muß, um ein darstellendes zu bleiben, das nicht der Anhang ist eines Empfindungsmomentes, bloß Begleitung, sondern ein reines Handeln, also ein Darstellen in dem Zustande reiner und voller Besinnung, ein immer leidenschaftsloses und gemessenes. Die Aeußerungen, mit denen wir es hier nicht zu thun haben, beruhen nur auf dem Momente; wogegen die, welche uns hier angehen, nur aus dem gesammten Selbstbewußtsein erklärt werden können und nicht allein auf einem Innerlich afFicirt sein beruhen, sondern auch darauf, daß ein Moment der Besinnung dazwischen getreten ist."18
Bereits an dieser Stelle drängt sich mir eine Frage auf, die auch später wiederkehrt19: Wenn die Seligkeit als der Zustand des religiösen Bewußtseins als die eigentliche Quelle der Darstellung gilt, wo bleiben die dunklen Seiten des Lebens: Sünde, Leid, Tod? Oder anders gefragt: Wenn die kultische Darstellung stets eine Neutralisierung momentaner Empfindungen erfordert, wie wird diese Darstellung dann dem natürlichen Leben und Empfinden des Menschen ge13 14
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Beilage A (1809) § 44, S. 15. PT, S. 103. Der christliche Glaube (CG 1821/221), § 9: „Das gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott." KGA 1/7,1, S. 31. PT, S. 95. ChS, S. 527. Schleiermacher hat bei den empirischen Religionen Judentum, Islam und Christentum sowie heidnische Naturreligionen im Blick, nicht aber die östlichen Religionen. ChS, S. 509 (Beilage von 1824/25). In Schleiermachers Sprachgebrauch hat der Ausdruck Gefühl keine emotionale Valenz. S.u. 2.3.1.2.
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recht? Ist die Kategorie der irdischen Seligkeit nicht eine theologische Abstraktion, eine eher platonische Idee ohne Bezug zur realen Wahrnehmung? Schließlich: Welche Konsequenzen hat Schleiermachers Leitidee für die Darstellungsmittel, d.h. für die liturgische und ästhetische Ausgestaltung? Wie z.B. wird sich seine Maßgabe für das „Darstellen in dem Zustande reiner und voller Besinnung, ein immer leidenschaftsloses und gemessenes"20 theoretisch konkretisieren und praktisch realisieren? Muß daraus nicht ein „wohltemperierter" aber lebensfremder Gottesdienst erwachsen? Schleiermachers Praxis wird Antworten geben. Das darstellende Handeln beruht - der ChS zufolge - auf einem doppelten Kommunikationsvorgang: der Kommunikation der einzelnen Lebensmomente miteinander und der Kommunikation mit den Mitchristen. Das Gefühl tritt nur heraus, indem der Mensch als zeitliches Wesen die einzelnen Lebensmomente und als Exemplar der Gattung Persönlichkeit und Gemeingefühl verknüpft. 21 Aufgrund der notwendig interpersonalen Kommunikation kann die Äußerung des religiösen Gefühls nicht individualistisch mißverstanden werden, denn der Ort für die „Äußerung des innerlichen"22 ist der Gottesdienst, ihr öffentliches Forum die Gemeinde, wobei sich das darstellende Handeln und die Gemeinschaft gegenseitig bedingen: „Das darstellende Handeln beruht auf Gemeinschaft und bringt Gemeinschaft hervor"23, d.h. die Darstellung ist nicht nur auf Gemeinschaft angewiesen, sie begründet auch Gemeinschaft, denn nur in der Gemeinschaft kann das religiöse Interesse tradiert, präsentiert und erhöht werden. Die gesunde Empfindung verlangt nach Mitteilung, aber die Bedingung der Möglichkeit von Mitteilung ist der gemeinsame „christliche Sinn" und „der Cultus ist darstellende Mittheilung und mittheilende Darstellung des gemeinsamen christlichen Sinnes"24, somit „seinem Wesen nach das gemeinsame religiöse Leben." 25 Darum gelangt in ihm nicht nur das individuelle religiöse Bewußtsein zur Darstellung, sondern mit diesem immer auch die Idee der Gemeinschaft. 26 20 21 22 23 24
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ChS, S. 509. Mit der Kommunikation der einzelnen Lebensmomente ist die o.g. Darstellung des von Augenblicksempfindungen abstrahierenden christlichen Grundzustandes gemeint. ChS, S. 526. ChS, S. 512f. PT, S. 145. PT, S. 76. Strukturell ganz ähnlich beschreibt Schleiermacher die bürgerliche Geselligkeit: „Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn eine Einwirkung auf die andern. Nun aber kann auf ein freies Wesen nicht anders eingewirkt werden, als dadurch, daß es zur eignen Thätigkeit aufgeregt, und ihr ein Objekt dargeboten wird; und dieses Objekt kann wiederum zufolge obigen nichts seyn, als die Thätigkeit des Auffordernden; es kann also auf nichts anders abgesehen seyn, als auf ein freies Spiel der Gedanken und Empfindungen, wodurch alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und beleben." Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, KGA 1/2, S. 169f. Vgl. ChS, S. 542. Von daher verstehe ich nicht, warum Albrecht Schleiermacher einen
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Beide Kommunikationsaufgaben fordern die Künste als Darstellungsmittel heraus: die Kommunikation der einzelnen Lebensmomente setzt eine theologische, die Kommunikation mit den Mitchristen setzt eine hermeneutische Besinnung voraus, und beides erfordert vornehmlich rhetorische Kompetenz. Der Sprache, die Schleiermacher als den unmittelbaren Ausdruck der menschlichen Intelligenz betrachtet, kommt innerhalb des protestantischen Gottesdienstes eine besondere Würde zu: „Daher allerdings das Zurükktreten des leiblichen dem christlichen Gottesdienste wesentlich ist, aber auch so eigenthiimlich, als das Bewußtsein von dem άγιον πνεύμα und von der Differenz zwischen diesem und dem κοινός λόγος dem Christenthume eigenthümlich ist. Und hieraus scheint auch gleich von selbst sich abzuleiten, was wir als Hauptdifferenz zwischen dem protestantischen und dem katholischen Gottesdienste ansehen. Nämlich was dem Geiste am nächsten liegt in dem leiblichen selbst ist das ganze System der Sprache, der unmittelbare Ausdrukk des geistigen [...] Es ist also hier von selbst schon indicirt ein großes Uebergewicht aller derjenigen Darstellungsmittel, die mit der Sprache zusammenhangen, also zunächst der redenden Künste"27 Die Sprache ist für Schleiermacher das Medium des Geistes, somit auch bevorzugtes Ausdrucksmittel des άγιον πνεύμα, wobei auch die Musik nur über ihre Wortfahigkeit legitimiert wird. Hier fragt sich: Wie wird sich die Bevorzugung der Sprache als dem geistigsten Kunstelement auf Theorie und Praxis des Gottesdienstes auswirken, z.B. auf die Rolle der Musik und der Sakramente? Die von Schleiermacher ausdrücklich postulierte Verwandtschaft zwischen göttlichem und menschlichem Geist macht die im Gottesdienst sich vollziehende göttliche Mitteilung an den Menschen überhaupt erst möglich. Das darstellende Handeln, obwohl ein kunstvolles Tun des religiös affizierten Menschen muß als vom göttlichen Geist ausgehend gedacht werden.28 Daran scheitert der Versuch, Schleiermachers Liturgik auf einen anthropozentrisch-subjektivistischen Ansatz festzulegen.29 Wie gesehen setzt das darstellende Handeln Gemeinschaft voraus und begründet Gemeinschaft, denn das religiöse Bewußtsein will sich mitteilen, es ist eo ipso kommunikativ. Aus der Gemeinschaft der Christen leitet Schleiermacher ihre wesentliche Gleichheit ab. Da im darstellenden Handeln die Gemeinschaft der Christen in Erscheinung tritt, kann als das Prinzip des darstellenden Handelns die brüderliche Liebe genannt werden, „nämlich die Liebe derer zu einander, welche durch die Identität des Geistes einander gleich sind."30 Schleiermacher konstruiert seinen Kirchenbegriff aus dem Bewußtsein der wesentlichen Gleichheit aller Christen. Diese Gleichheit beruht auf zwei Gegebenheiten:
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Verlust des Gemeindebegriffs vorhält, vgl. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik (1962), S. 89. ChS, S. 539. Vgl. ChS, S. 513 (Vorlesung 1824/25). Vgl. auch Schmidt-Lauber, in: Handbuch der Liturgik (1995), S. 22. ChS, S. 514.
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„auf dem Principe der Gleichheit aller Christen als zusammengehörig wegen des ihnen identisch inwohnenden Geistes, und als gleich abhängig von Christo."31 Diese pneumatologisch und christologisch begründete Egalität muß im darstellenden Handeln, d.h. in der Form des Gottesdienstes Gestalt gewinnen. Zwar wird der faktische Unterschied zwischen den Gläubigen, sowohl bezüglich ihrer Persönlichkeit als auch ihrer Funktion von Schleiermacher nicht geleugnet, doch dieser hat keine prinzipielle theologische Relevanz: „Der Unterschied unter den gläubigen kann immer nur ein relativer sein." In der evangelischen Kirche tritt dieser Unterschied als „Duplicität von Spontaneität und Receptivität" in Erscheinung.32 Doch das gegenseitige Verhältnis beider schwankt. Darum muß unterschieden werden zwischen dem Gottesdienst mit einem starken Laienelement und einem entsprechend höheren Maß an Spontaneität einerseits und einem Gottesdienst, in dem beides sehr zurücktritt, andererseits. Schleiermacher weist nun darauf hin, daß der Anspruch an theologische Reflexion und künstlerische Vermittlung mit der Masse und Differenziertheit der Gemeinde wächst. Je öffentlicher und je festlicher ein Gottesdienst ist, desto höher ist auch der Anspruch an die theologische und ästhetische Gestaltung, so daß die Momente der Spontaneität und Improvisation zurücktreten, weil sie - Schleiermacher zufolge - einen geringeren Anspruch auf Gemeingültigkeit und -Verständlichkeit erheben können. Ein aus dem religiösen Affekt hervorgehender spontaner Beitrag hat in der Hausandacht sein gutes Recht, doch kann er keine repräsentative Gesamtgeltung beanspruchen. In dieser Kommunikationsaufgabe, in der Ermöglichung einer lebendigen Zirkulation, liegt die praktisch-theologische Zielbestimmung kirchenleitenden Handelns.33 Diese Theorie wird nun auch kunsttheoretisch untermauert. Schleiermacher unterscheidet das Kunstwerk vom Kunstelement in der Weise, daß jedes Kunstwerk eine Komposition aus Kunstelementen darstellt. Auch das einzelne Kunstelement kann sich artikulieren, jedoch: „Das reine Kunstelement, als ursprünglicher Ausdrukk betrachtet, ist immer das unwillkürliche und zum großen Theile unbewußte; aber die Zusammensezung, die eigentliche Kunst, ist allemal ein vollkommen bewußtes und kann erst durch das vollständig durchgebildete Bewußtsein zu einem gewissen Grade von Sicherheit gelangen."34 Hieraus entsteht ein relativer Gegensatz zwischen der mehr unwillkürlichunbewußten und der bewußten Äußerung. 31 32
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ChS, S. 542. ChS, S. 521. In einer Beilage von 1824/25, ebd. S. 52Iff. stellt er die Katholische Kirche und die Brüdergemeine als Extreme gegenüber, wo der Gegensatz von Klerus und Laien entweder fundamental oder nichtig sei. In der Mitte zwischen beiden Extremen stehe die evangelische (Landes-)Kirche. Unter Spontaneität ist hier zunächst nur Aktivität im Gegensatz zu Empfänglichkeit gemeint. Vgl. W. Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, S. 168f. ChS, S. 546. Zu den einzelnen Phasen der Kunsttätigkeit s. u. 2.3.1.1.
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Dieser psychologisch und ästhetisch begründete Gegensatz findet seine praktische Verwirklichung in zwei gottesdienstlichen Genera: der Hausandacht und dem öffentlichen Gottesdienst. In seiner Ethik-Vorlesung im Wintersemester 1822/23 hat Schleiermacher den Unterschied am klarsten definiert: „Da der kirchliche Gottesdienst gemeinsam ist und in bestimmte Zeiten fällt: so herrscht weniger der Augenblikk und der Ausdrukk muß also besonnen sein. Schon im häuslichen, noch mehr bei jedem einzelnen für sich, darf der Augenblikk dominiren und das unwillkührliche vortreten."35
Schleiermacher konstruiert also beide Gottesdienstformen als variable Typen, die tendenziell steigerungsfahig sind, die Hausandacht in Richtung einer gesteigerten Individualität und Intimität: der Einzelandacht, den öffentlichen Gottesdienst in Richtung einer gesteigerten Öffentlichkeit und Festlichkeit: den Festgottesdienst. Letzterer erscheint als „das Maximum des kirchlichen Gottesdienstes", gekennzeichnet durch eine große Öffentlichkeit und ein hohes Maß an künstlerischer Konzentration und Konsistenz: „und das festliche, das Maximum des kirchlichen Gottesdienstes [...] Denn in dem lezten wird diejenige Darstellung ihren Ort haben, die ein Kunstganzes ist, in dem ersten [der Hausandacht] diejenige, die der unabsichtliche Audrukk der frommen Erregung ist."36
Zwar muß auch der Festgottesdienst für den Einzelnen lebendig sein, doch sind spontane Aktivitäten nicht ratsam, „da der einzelne hier durchaus dem ganzen subordinirt ist."37 Mit der Beteiligung Aller steht die „Sittlichkeit", das Wesen des evangelischen Gottesdienstes insgesamt auf dem Spiel: „Wir müssen doch vom rein sittlichen Standpunkte aus sagen, jeder Gottesdienst sei nicht auf die rechte Weise eingerichtet, wenn in ihm die Productivität der einen die der anderen ganz absorbirt." Diesem „sittlichen" Anspruch wird die katholische Messe nicht gerecht. Im protestantischen Gottesdienst sieht Schleiermacher die aktive Beteiligung der Gemeinde vor allem im Kirchenlied realisiert: „Darum darf es keinem Gottesdienste an einem Elemente fehlen, in welchem sich die Productivität Aller äußern kann, wenn auch nur auf untergeordnete Weise, und dieses Element ist bei uns vorzüglich repräsentirt durch den Gesang der Gemeinde. Ist ein solches Element vorhanden: so ist der sittliche Charakter des ganzen gerettet."38
Schleiermachers Axiom macht neugierig, wie sich die Betonung des Laienelements als ein dem protestantischen Kirchen- und Gottesdienstverständnis wesentlicher Topos in Theorie und Praxis des Gottesdienstes niederschlagen wird. Es war von einer prinzipiellen Gleichheit aller Christen und von einer fakti-
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ChS Beilage B, S. 152, § 16 b. ChS, S. 547. ChS, S. 551. ChS, S. 556.
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sehen Ungleichheit die Rede, worunter zunächst der „relative Gegensatz" von Klerus und Laien fiel. Die faktische Ungleichheit bildet sich notwendig auch noch auf einer anderen Ebene ab: Hätten alle ein identisches religiöses Bewußtsein, dann wäre alle darstellende Mitteilung überflüssig. Eine Zirkulation des religiösen Bewußtseins als Bedingung von Erbauung kann es nur geben, wenn ein wirklicher Austausch unter den gläubigen Subjekten stattfindet. Diese faktische Ungleichheit hebt die prinzipielle Gleichheit nicht auf, sie ist eher im Sinne der paulinischen Charismenlehre zu verstehen. Während das durch das urbildliche Gottesbewußtsein Christi geprägte christliche Gottesbewußtsein allen Christen gemeinsam ist, unterscheidet sich je die individuelle Art und Weise seiner Darstellung. Die Individualität der Darstellung ist aber nicht nur in der für den Gottesdienst konstitutiven Korrelation von Spontaneität und Rezeptivität, die die Vielfalt der „Darsteller" erfordert, begründet, sondern auch darin, daß das religiöse Bewußtsein nie absolut vorhanden ist, sondern immer nur annäherungsweise verwirklicht wird, und daß die religiösen Subjekte in ihrer religiösen Entwicklung verschieden weit fortgeschritten sind: „Wenn aber nun auch alle einzelnen gleichsam als Eigenthum des göttlichen Geistes einander gleich sind: so müssen sie doch ungleich sein als Organe desselben."39 Das unerreichbare Ideal ist die vollkommene Gemeinschaft mit Gott, die trotz ihrer Unerreichbarkeit im Gottesdienst antizipatorisch dargestellt wird. Indem das allen gemeinsame und doch verschieden ausgeprägte religiöse Bewußtsein zirkuliert, ist eine extravertierte, berechnende Zweckhaftigkeit von vorn herein ausgeschlossen, was sich auch in Schleiermachers strikter Ablehnung jeglicher lehrenden und sittlichen Intentionen des Gottesdienstes äußert. Wenn Schleiermacher den Gottesdienst als ein darstellendes Handeln bezeichnet, dann unterscheidet er ihn damit ausdrücklich vom „wirksamen Handeln": Gottesdienst will nichts bewirken, er ist eine zweckfreie Veranstaltung und durchbricht den Alltag der Menschen als eine „Unterbrechung des übrigen Lebens".40 Er muß auch nichts bewirken, weil das, was dargestellt wird, potentiell in allen Menschen vorhanden ist, vorzüglich in den zum Gottesdienst versammelten.41 Die „Selbstzwecklichkeit" der Darstellung und ihr Unterbrechungscharakter verbinden die gottesdienstliche Darstellung und das Fest, wie Schleiermacher auch ausdrücklich betont: „Alles am Gottesdienst ist Fest", denn: „Je-
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ChS, S. 518. Anthropologisch beruht die Möglichkeit einer individuellen Darstellung auf dem Phänomen der Persönlichkeit. Diese besteht im „System der psychischen und physischen Organisation, welche der Geist aneignet." ChS, S. 510. PT, S. 70. Deren religiöses Bewußtsein zu beleben und zu erhöhen, kann Schleiermacher dann doch als den „Zweck" des Kultus bezeichnen, vgl. PT, S. 71 f. Doch ist das keine „wirksame Handlung", weil im evangelischen Gottesdienst der Gegensatz von aktiver und passiver Teilnahme prinzipiell aufgehoben ist und nicht mehr einseitig am Gottesdienstteilnehmer gehandelt wird. Es gehört zum Wesen der Darstellung, daß der Gegensatz von „Spontaneität und Receptivität" aufgehoben ist; theologisch begründet im „Bewußtsein der absoluten Gleichheit aller Gläubigen Christo gegenüber..." ChS, S. 521.
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des Fest will weniger einen Effect als nur Darstellung."42 Zwar steht das darstellende Handeln dem wirksamen Handeln gegenüber, zwar sind beide streng unterschieden, aber wiederum auch stringent aufeinander bezogen: Wie das wirksame Handeln zu demjenigen Zustand hinfuhrt, den das darstellende Handeln präsentiert, so ist andererseits das darstellende Handeln als eine Unterbrechung des wirksamen Handelns und als eine antizipatorische Verwirklichung des seligen Lebens zu betrachten. Schleiermacher hat diese wirkmächtige Idee vor allem in seiner EthikVorlesung 1826/27 entfaltet. Im Zusammenhang der Frage nach der richtigen Anzahl der Feste, entwickelt Schleiermacher gleichsam ein objektives und ein subjektives Kriterium: Das Christentum folgte dem Judentum, das Feste hatte, „die große Unterbrechungen des wirksamen Handelns mit sich brachten." An die Stelle des Sabbat trat der Sonntag, an die Stelle der theokratischen Feste die christlichen Erinnerungsfeste.43 Schleiermacher tritt ein für eine jeweils geschichtlich-konkrete Festidee: „Die christliche Kirche feierte den Sonntag ursprünglich als ein Fest der Erinnerung an die Auferstehung Christi [...] Die hohen Feste aber alle knüpfen an die wesentlichsten geschichtlichen Punkte an aus dem Grundfactum der Erlösung durch Christum, und der Inhalt ihrer Feier kann kein anderer sein, als diese Geschichtspunkte" 44
Bietet das objektive Kriterium für den Inhalt sowohl der Kirchenjahresfeste als auch des Sonntags eine theologische Definition im protestantischen Sinne, so fragt das subjektive Kriterium nach dem regelmäßigen Ruhebedarf des Menschen. Schleiermacher rekurriert dabei höchst modern und sehr nüchtern auf den menschlichen Biorhythmus, indem er erklärt: „Niemand nun wird behaupten, daß in der Zahl Sieben eine eigenthümliche geheime Kraft liege; aber es muß darin ein allgemein anzuerkennendes Durchschnittsverhältniß enthalten sein, von dem einem jeden sein Bewußtsein sagen muß, daß dabei auf der einen Seite dem wirksamen, auf der anderen dem darstellenden Handeln sein volles Recht widerfahrt." 45
2.1.2. Gottesdienst als Fest und Festgottesdienst Ist jeder Gottesdienst per definitionem ein Fest, was kann dann die Bezeichnung des Festgottesdienstes für einen Sinn haben? Handelt es sich hier um eine Tautologie oder ist eine Steigerung des Festbegriffs denkbar?
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PT (A), S. 737. Vgl. ChS (Beilage von 1826/27), S. 592. ChS (Beilage 1826/27), S. 592f. Die katholischen Apostelfeiertage sind Schleiermacher historisch nicht zuverlässig genug, ebd. S. 593. ChS (Beilage 1826/27), S. 594. Folgerichtig geht Schleiermacher in diesem Zusammenhang auch auf die bürgerliche Geselligkeit ein, da der bloße Ruhebedarf des Menschen noch keine hinreichende Voraussetzung des Gottesdienstes ist. - Zur historisch-theologischen und natürlich-biologischen Begründung von Feiertagen vgl. auch PT, S. 127.
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Man muß zunächst zwischen einem generellen und einem speziellen Begriffsgebrauch unterscheiden. Generell ist jeder Gottesdienst, sofern er Unterbrechung des Alltags und Darstellung des religiösen Bewußtseins ist, mit der ethischen Kategorie des Festes zu bezeichnen. Sofern der Gottesdienst der Darstellung des christlich-religiösen Bewußtseins dient, gibt es keinen Wesensunterschied zwischen gewöhnlichem und festlichem Gottesdienst. „Das darzustellende ist seinem Wesen nach dasselbe, das christlich religiöse Bewußtsein; die Darstellungsmittel sind auch dieselben, es sind nur untergeordnete Modificationen und Unterschiede in der Composition der Elemente." 46
Doch faktisch unterscheiden sich die Gottesdienste dadurch, inwieweit sie das Postulat einer Unterbrechung des Alltags tatsächlich erfüllen und demgemäß gestaltet sind.47 Schleiermacher fuhrt dazu die hilfreiche psychologische Unterscheidung der „bedingten" und „unbedingten" Darstellung ein. Ausgehend von der Definition des Gottesdienstes als der Darstellung des religiösen Bewußtseins stellt er die Frage: Wodurch wird das religiöse Bewußtsein jeweils affiziert? Dabei unterscheidet er ein externes und ein internes Erregungsmoment. Das interne Erregungsmoment besagt, daß die Erregung des religiösen Bewußtseins aus dem Inneren des religiösen Subjekts kommt; es fuhrt zur unbedingten Darstellung, d.h. die Darstellung des religiösen Bewußtseins bedarf keiner äußeren Bedingung. Dagegen bezeichnet das externe Erregungsmoment eine von außen das religiöse Bewußtsein affizierende Erregung, die vom Festkreis des Kirchenjahres ausgehen, aber auch durch andere ordentliche und außerordentliche festliche Anlässe verursacht sein kann. „Gehen wir auf den jährlichen Verlauf des Cultus zuriikk: so gehören die christlichen Feste der bedingten Darstellung an; denn die religiöse Erregung ist in ihnen bestimmt durch die Erinnerung an einen bestimmten Punkt. Dadurch ist das religiöse Bewußtsein modificirt, und diese Modification muß sich in der Darstellung abbilden. Daraus folgt noch nicht daß was außerhalb der christlichen Feste liege, der unbedingten Darstellung angehöre."
Schleiermacher meint, daß sich um die Feste herum eine Atmosphäre und eine Zeit der Vorbereitung und Nachwirkung bilde, daß die Feste sozusagen ausstrahlen und aufsaugen.48 Dieser psychologischen Begründung des Gegensatzes von gewöhnlichen und festlichen Gottesdiensten korrespondiert nun auch eine empirische Begründung: Der Gegensatz von Sonntag und Festtag entspringt nicht nur der psychischen 46 47 48
PT, S. I29f. Auf die sogenannten unvollständigen Gottesdienste, d.h. Andachten, Wochengottesdienste u.ä. gehe ich hier nicht ein, vgl. dazu PT, S. 133. PT, S. 128f. Doch nicht nur die Jahresfeste bedingen eine Modifikation des religiösen Bewußtseins. „Es kann nun auch im Leben der Gemeine selbst etwas vorkommen wodurch das religiöse Bewußtsein auf besondere Weise angeregt wird und so sehr durch die ganze Gemeine hindurchgeht daß es eine Angelegenheit derselben ist. Dann ist auch das religiöse Bewußtsein der ganzen Gemeine angeregt, und der Cultus könnte nicht Darstellung der religiösen Gemeinschaft sein, wenn er das verschweigen wollte." PT, S. 129.
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Konstitution des religiösen Subjekts, sondern er resultiert auch aus dem geschichtlichen Wesen der christlichen Religion, weil alle individuelle Darstellung „gebunden ist an den historisch symbolischen Cyklus der christlichen Urzeit [...] von der Entstehung des Christenthums bis zum Heraustreten der christlichen Kirche." Und Schleiermacher kann sogar sagen: „Das besondere Heraustreten solcher einzelnen Momente ist ein geschichtliches Naturgesez." 4 9 S o ergeben sich die christlichen Feste unmittelbar aus dem innersten Wesen des Christentums, indem Christi Lebensstationen die Festurkunden darstellen: „Dies sind die Entwikklungsknoten; und daß dies keine anderen sind, beruht darauf daß das Christenthum von der Erscheinung des Erlösers abhing. Diese Momente als den Cyklus der christlichen Feste können wir hieraus verstehen und construiren."50 Daß Schleiermacher damit kein Werturteil fallen wollte, daß dem reformierten Theologen und dem „Anwalt" des religiösen Bewußtseins die unbedingte Darstellung gleichwertig war, versteht sich von selbst. 51 Die Gleichwertigkeit versteht sich auch von Schleiermachers dialektischer Theorie des Kirchenjahres her, die das Ganze des Jahreszyklus aus dem Gegensatz von Normalsonntag und Festtag konstruiert. 52 Mit einer radikal-protestantischen Infragestellung der durch die „bedingte Darstellung" charakterisierten kirchlichen Jahresfeste würde der ökumenische Konnex und das Bekenntnis zur eigenen heilsgeschichtlichen Tradition aufs Spiel gesetzt. Doch gerade die letzte muß den Ausschlag geben für Qualität und Quantität der Feste: 49 50
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PT, S. 127. PT, S. 128. Schleiermacher stellt ausdrücklich fest, „daß die unbedingte Darstellung ein eben so wesentliches Element ist als die bedingte." PT, S. 145. Auf einen Vorrang der unbedingten Darstellung will Albrecht Schleiermacher festlegen, vgl. Ch. Albrecht, Liturgik, S. 62; 75; 112. Aber eine diesbezügliche Rivalität läßt sich in Schleiermachers Schriften nicht hineinlesen. Vgl. etwa PT (A), S. 7 5 5 : , A u f Verminderung der bedingten Darstellung brauchen wir in der protestantischen Kirche nicht Bedacht zu nehmen, sondern nur auf Vermehrung." Diese Polarität ist etwas völlig anderes als das moderne soziologische Phänomen des „Festkirchengängers", vgl. TRE, Bd. XI (1983), Art. Feste und Feiertage, VI. Praktischtheologisch, von Günter Ruddat, S. 134-143. Ruddat spricht von einer „Festpraxis nach Wahl" (S. 135) und mit G. Rau von einer „Ritualisierung der Jahres", die an die Stelle der Tages-, Wochen- und Monatsritualisierung getreten sei. (S. 141). Dabei scheint mir weniger die zeitliche Periode problematisch, als der generelle Ausfall der „unbedingten Darstellung", also jener aus dem Leben selbst hervorgehenden gottesdienstlichen Feier, ohne die der Gottesdienst dem Lebensvollzug äußerlich bleiben muß. Daß diese Kirchgangssitte ihre Wurzel bereits in der Aufklärung hat, weist P. Cornehl nach, vgl. T R E Bd. XIV (1985), Art. Gottesdienst, S. 63f. - Diese Polarität ist andererseits auch keine Adaption von Luthers Gottesdienst-Typologie, vgl. seine Vorrede zur Deutschen Messe, WA 19, S. 73ff., da für Luther die Gottesdienst-Formen Alternativen darstellten, deren Wahl vom geistlichen Entwicklungsstand einer Gemeinde abhing. Der Hauptdissens zwischen Luthers und Schleiermacher Liturgik bezieht sich auf die Rolle der Katechetik im Gottesdienst, Berührungen gibt es allerdings zwischen Luthers Form III („die dritte weyse" derer „so mit ernst Christen wollen seyn ..." WA 19, S. 75) und Schleiermachers IdealVorstellung in der vierten Rede (1799), vgl. KGA 1/2, S. 266-292, bes. S. 269f.
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„Unter die allgemeinen Feste können nur die Punkte im ursprünglichen Cyklus des Christenthums gehören und das Andenken an die Verbesserung der Kirche selbst." Darüber hinaus gilt das partikulare Gemeinde- und Ortsprinzip: „Wir werden aber wenig Stoff finden fur eine Vermehrung der bedingten Darstellung und sind daher gewiesen an das was die Localität jeder Gemeine an die Hand giebt, und das ist der evangelische Charakter in dieser Beziehung." 5 3 V o n den bürgerlichen Festen will Schleiermacher die gottesdienstliche Feier an Neujahr, Erntedank und mit Einschränkung an Büß- und Bettagen gelten lassen. 5 4 Oben war nach einer etwaigen Steigerung des Festbegriffs gefragt worden. A b w e g i g ist diese Frage nur, w e n n eine Wertung unterstellt und das einzelne aus d e m Zusammenhang gerissen wird. D a g e g e n unternimmt Schleiermacher eine formale Kategorisierung bzw. „Gradation" v o n Gottesdiensttypen, deren Kriterium z u m einen die Vollständigkeit der Elemente, z u m andern die Entfernung v o m Alltag ist. Ein vollkommener Kultus besteht aus vier Elementen. „Eine Totalität in dieser Einheit des gottesdienstlichen Tages haben wir nur in der Einheit dieser vier Momente (Rede Gesang Liturgie Gebet)." Und: „Im Sonntag finden wir bestimmte Zeiten des Gottesdienstes, einige die näher an die Grenzen des gewöhnlichen Lebens liegen, und den Zeitpunkt des festlichen Tages in der Mitte." B e i den verschiedenen Gottesdiensttypen „stoßen wir also auf eine sichtbare Gradation: was zwischen die Sonntage fällt, ist unvollständiger Gottesdienst, an den Sonntagen selbst giebt es vollständigere und unvollständigere religiöse Acte (Hauptgottesdienst, Morgen- und Mittagsgottesdienst), und unter den Sonntagen ragen die großen Feste besonders hervor." 55 Ist ein Festgottesdienst durch Vollständigkeit, Bedingtheit, Alltagsdistanz charakterisiert, dann fragt sich: Wie wirken sich diese Merkmale auf die Phänomenologie des Festgottesdienstes aus? Schleiermacher zählt zu einem „vollständig e n Cultus" neben Liturgie, Predigt und Gebet vor allem den Gesang. 5 6 Der Gesang gehört zu den unverzichtbaren und konstitutiven liturgischen Bestandteilen. D o c h die theologische Funktion des Gesangs besteht Schleiermacher
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PT, S. 152, voriges Zitat ebd. Zur Geschichte und Tradition christlicher Feste, vgl. TRE, Band XI (1983), Art. Feste und Feiertage, IV. Kirchengeschichtlich, von Helmut Merkel, S. 115-132. Vgl. PT, S. 153ff. und bereits Gutachten (1804), SW 1/5, S. 124. - Während Schleiermacher den Gottesdienst am Friedensfest uneingeschränkt begrüßt, verwirft er den Gottesdienst zum Siegesfest ebenso entschieden, denn: „der Krieg von Christen untereinander ist ein unnatürlicher Zustand" und: „Es ist nicht recht daß man Gott wenn man siegt anders dankt als wenn man geschlagen ist. Im Sieg ist keine göttliche Rechtfertigung zu finden." PT, S. 155. Zu Schleiermachers Haltung zum Totenfest, vgl. Ch. Albrecht, Liturgik (1962), S. 64. PT, S. 133. PT, S. 156.
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zufolge primär in seiner symbolischen Potenz, sofern er die Selbsttätigkeit der Gemeinde repräsentiert. So erscheinen kunstvollere Formen wie Wechselgesang und Figuralmusik zwar als wünschenswert doch als akzidentell57: „Was nun den künstlichen Choralgesang betrifft: so können wir ihn als ein ganz selbständiges Element nicht produciren; er kann nur auftreten in Verbindung mit anderen, und muß vorzüglich in unserem Cultus aufgestellt werden im Wechselgesang mit dem Choralgesang der Gemeine. Dies ist aber keine dem Cultus wesentliche Form, dieser Gesang hat schon einen festlichen Charakter und ist auf festliche Gelegenheiten, die eine größere Ausdehnung des Cultus erfordern, beschränkt." 58
An festlichen Tagen also scheint festliche Kirchenmusik psychologisch notwendig und formal möglich, da sich einerseits die größere religiöse Erregung Ausdruck verschaffen möchte und andererseits der größer angelegte formale Rahmen Raum gewährt. In seinem „Glükkwünschungsschreiben" von 1814 hatte Schleiermacher geäußert: „Die höhern kirchlichen Feste, und hätten wir deren doch mehrere! - fordern eine eigenthümliche Auszeichnung, daß nämlich die größere Erregtheit der Gemeine sich auch durch eine erhöhte Selbstthätigkeit derselben ausspreche, und also einen größern Reichthum des Gottesdienstes, hinter welchem die Predigt noch mehr zurükktritt; und überdies kann man wol kein kirchliches Fest für vollständig halten ohne einen selbständigeren und bedeutendem Antheil der Tonkunst, ohne eine volle Kirchenmusik, wo es nur irgend möglich ist dergleichen zu bewerkstelligen." 59
Als ein weiteres musikalisches Mittel zum Ausdruck des festlich erregten Bewußtseins an kirchlichen Feiertagen empfiehlt Schleiermacher Lieder mit „großen Strophen": „Ein festlicher Gottesdienst hingegen in dem nichts als gewöhnliche und triviale Melodien erscheinen, ist unvollkommen [...] Dies alles ist aber cum grano salis zu verstehen und leidet oft Ausnahmen; denn die besten Festlieder haben oft kleine Strophen und einfache Melodien." 60
Obwohl Schleiermacher stets von der Sorge erfüllt war, daß eine reichere musikalische Gestaltung auf Kosten der Gemeinde und ihrer Aktivität gehen könnte, weshalb er beharrlich zum Wechselgesang zwischen Chor und Gemeinde aufforderte, hat er der Kirchenmusik im Festgottesdienst doch eine tragende und den Festgottesdienst qualifizierende Rolle zugebilligt.61 Dazu gehört auch der 57 58
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Diese Zurückhaltung hängt auch zusammen mit Schleiermachers Reserve gegen den Chor als liturgischen Handlungsträger, vgl. Ueber die Neue Liturgie (1816), SW 1/5, S. 206. PT, S. 176. Glükkwünschungsschreiben (1814), SW 1/5, S. 180. PT, S. 184. Bezüglich der kirchenrechtlichen Observanz des Gottesdienstes urteilt er über Instrumente im Gottesdienst historisch-pragmatisch: „In der apostolischen Kirche hat es im öffentlichen Gottesdienst gewiß keine Instrumentalmusik gegeben, in der folgenden Zeit hat diese ihre Stelle im Gottesdienst gefunden, offenbar dadurch daß sie eine bestimmte Stelle in der allgemeinen Bildung einnahm, daß man sie im allgemeinen als Ausdrukk des Gefühls und der Empfindung liebte; und warum sollte nicht die religiöse Stimme verstärkt wer-
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sogenannte Kanzelvers, den Schleiermacher als festlichen Schmuck für hohe Feiertage empfiehlt. 62 Da die Feste des Kirchenjahres durch einen vorgegebenen äußeren Gegenstand bestimmt sind, kann eine stärkere theologische Durchstrukturierung und thematische Konzentration des Gottesdienstes stattfinden. Die psychologisch wichtige Phase der Sammlung der Gemeinde wird verkürzt, weil die Gottesdienstteilnehmer bereits auf das allgemeine Festthema eingestimmt sind. Dies hat Konsequenzen für die Auswahl der Lieder, besonders aber für das Gebet, denn das Gebet stellt innerhalb des Gottesdienstes den unmittelbarsten Ausdruck des religiösen Bewußtseins dar, hier also muß sich die Feststimmung besonders artikulieren: „Der Gegensaz zwischen dem festlichen und gewöhnlichen Gottesdienst muß sich hiebei auch zeigen. Es ist ein anderer Zustand[,] der der Gemeine identisch ist in festlichen Zeiten als in gewöhnlichen, die religiöse Stimmung hat eine andere Richtung. Da muß im Gebet der festliche Typus heraustreten an festlichen Tagen, und muß sich dies verhalten wie die bedingte Darstellung zur unbedingten."63 Die Festlichkeit findet weiterhin Ausdruck in der Distanz vom bürgerlichen Leben, daher können im Festgottesdienst die Übergänge aus dem Alltag und in den Alltag reduziert werden. Letzteres geschieht etwa dadurch, daß die Fürbitten für die Obrigkeit, die Schleiermacher ohnehin als einen - sich aus der vorläufigen Verfassungssituation der evangelischen Kirche ergebenden - Notbehelf ansieht, wegfallen: „Betrachten wir den Cultus unter der Form der bedingten Darstellung: so ist das festliche das dominirende, auf etwas in die christliche Urgeschichte gehöriges ist die Stimmung gerichtet, und da treten die Verhältnisse die der Kirche äußerlich sind zurükk. Für die festlichen Tage steht die Fürbitte für die Obrigkeit in ganz anderem Verhälniß als für die gewöhnlichen Sonntage; in den ersten ist sie etwas störendes."64
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den?" PT, S. 613. Daß die Musik zumindest im lutherischen Gottesdienst einmal eine verkündigende, also eminent theologische Funktion hatte, ist Schleiermacher nicht gegenwärtig. Für ihn bemißt sich ihr Wert allein an der Erbaulichkeit: „Alles was die religiöse Stimmung steigert ist erbaulich." PT, S. 619. In diesem Kontext hat Schleiermacher sicher an die Orgel gedacht, die er auch sonst als religiöses Symbol bezeichnen kann, vgl. PT, S. 112: „Gewiß hat die Orgel eine besondere Verwandtschaft mit dem religiösen, weil sie eine Menge Künsteleien abweist und ein strenges Maaß von Virtuosität in sich selbst trägt." Dagegen: „Die Anwendung einer zusammengesezten Instrumentalmusik ist vom Wesen des Cultus schon entfernter. So finden wir, daß die Praxis nie aufgekommen ist, Musik ohne Poesie zu haben", denn: „Der Gesang ist an der Rede haftende Musik, nicht selbständig hervortretende." Zu Schleiermachers Problem mit der Instrumentalmusik, s. u. 2.3.1.2. Vgl. Ueber die Neue Liturgie (künftig abgekürzt: NL), SW1/5, S. 209. Der Kanzelvers ist eine Liedstrophe im Eingangsteil der Predigt, meist zwischen dem „Eingang" und der Textverlesung stehend, z.B. im Trauergottesdienst für die Königin Luise, s. u. 3.1.5.1. PT, S. 193. PT, S. 195f.
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Aber auch die übrigen Fürbitten stellen für Schleiermacher eine Alltags-Störung dar. Wenn der Geistliche sich die Freiheit nehmen kann, so wäre es ratsam, „alle allgemeinen Fürbitten an den festlichen Tagen zu unterlassen, um desto bestimmter in diesem festlichen Charakter zu verbleiben."65 Jedoch kann er die übrigen Fürbitten gelten lassen um der Festigung des Gemeinschaftsbewußtseins willen. Zwar wird die Gebetspraxis der Verantwortung des jeweiligen Liturgen anheimgegeben, aber unverkennbar meldet sich die Gefahr, daß die bewußt gestaltete Festlichkeit mit einem Verlust an Weltbezug einhergeht. Dies ist freilich keine zufallige Nebenwirkung, sondern der Gottesdienst als Fest kommt im Festgottesdienst gewissermaßen zur Vollendung. Die für Schleiermachers Gottesdienstverständnis programmatische Idee von der Unterbrechung des Alltags wird hier weitergetrieben, die Religion bezieht die eigene Provinz, nun auch kultisch. Eine solche „Weltflucht" ist nur zu rechtfertigen dadurch, daß der Festgottesdienst eingebettet bleibt in einen ganzen Organismus von Gottesdiensten. Ein selektives Teilnahmeverhalten, wie es sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat („Festkirchengänger"), wollte Schleiermacher damit nicht goutieren. Die Konzentration auf das Festgeschehen bildet sich ab in der Wahl der Lieder und Kirchenmusik, des Predigttextes und -themas, der Gestaltung der Gebete und im liturgischen Teil ggf. bei der Schriftlesung.66 Obwohl Schleiermacher den Festgottesdienst nirgends systematisch expliziert, sondern ihn stets als Sonderfall behandelt, kann der Festgottesdienst doch als eine Unterkategorie bzw. Spezialform des vollständigen Gottesdienstes gelten, der sich durch eigentümliche Merkmale und scharfe Konturen auszeichnet, die folgende Definition zulassen: Ein Festgottesdienst ist ein vollständiger Gottesdienst, der auf einem überwiegend äußeren Erregungsmoment beruht, sich daher einer bedingten Darstellung bedient und nach größtmöglicher Distanz zum Alltagsleben strebt. Die Klassifizierung des Festgottesdienstes wird auch dadurch legitimiert, daß Schleiermacher selbst seine „Festpredigten" gleichsam als Gattung sui generis herausgegeben hat.67 Fragt man zurück nach den Wurzeln dieser Begeisterung für den Festgottesdienst, so läßt sich deutlich Schleiermachers herrnhutische Prägung erkennen, die sich auch in manchen seiner Gestaltungsideen niedergeschlagen hat.68
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PT, S. 196. Zur Problematik der Schriftlesung vgl. PT, S. 136ff. und Exkurs III. 2.4.1. Vgl. die von Schleiermacher selbst herausgegebenen Sammlungen mit Christlichen Festpredigten, bei Terrence N. Tice, Schleiermacher Bibliography, Princeton 1966, Nr. 125 und 147. - Bereits in Briefen Ende 1814 (an Gaß vom 29.10., vgl. Briefwechsel mit Gaß, S. 119 und an Blanc vom 27.12., vgl. Briefe IV, hrsg. von W. Dilthey, S. 201) hatte Schleiermacher den Druck einer Sammlung mit Festpredigten angekündigt. Vgl. etwa die Beschreibung der gottesdienstlichen Praxis der Brüdergemeine von A. G. Spangenberg (1786), in W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte (1992 2 ), S. 153ff. Vgl. auch Ch. Albrecht, Liturgik, S. 71ff. Neuerdings wird auch der Sinn der Aufklärungsliturgik fur die Festpraxis gewürdigt, vgl. etwa R. Volp, Liturgik 2 (1994), S. 778.
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Vergleicht man andererseits Schleiermachers Charakterisierung des Festes und des Fest-Gottesdienstes mit modernen Definitionen des Festes, so teilt sich eine erstaunliche Kongruenz mit, durch die die hier vorgenommene Kategorisierung auch religionsphänomenologisch gerechtfertigt wird.69
2.2. Die Einheit des Kultus 2.2.1. Der Gottesdienst als Organismus Schleiermacher hat seine Vorlesungen zur Praktischen Theologie zweigeteilt: in die Theorien vom „Kirchendienst" und vom „Kirchenregiment". Der Kirchendienst zerfallt wiederum in zwei Teile: den Kultus und die außerhalb des Kultus zu verrichtenden Tätigkeiten des Geistlichen. In der Vorordnung des Kultus vor Katechetik und Seelsorge drückt sich Schleiermachers theologische Wertschätzung des Gottesdienstes aus, die er damit begründet, daß im Gottesdienst die religiöse Gemeinschaft sichtbar in Erscheinung tritt, während sich die anderen Tätigkeiten nur „in Beziehung auf den einzelnen" richten.70 Diese Vorordnung weist auf einen charakteristischen Topos in Schleiermachers Theologie hin: den eschatologisch und ekklesiologisch akzentuierten öffentlichen Gottesdienst und auf die charakteristische methodische Regel: den Primat des Ganzen vor dem Einzelnen. Diese begegnet wieder in der Liturgik, die Schleiermacher so aufbaut, daß er zunächst das Wesen des öffentlichen Gottesdienstes bestimmt, dann die „Elemente des Cultus" beschreibt, worunter gleichsam die elementaren Prinzipien alles liturgischen Gestaltens verstanden sind, darauf einen Abschnitt über den „Organismus des Cultus" folgen läßt, in dem das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen reflektiert wird. Erst dann schließen sich die Theorien der einzelnen liturgischen Bestandteile: Liturgie, Gesang, Gebet, Predigt an. Mit dieser Deduktion macht Schleiermacher klar, daß sich das Teil aus dem Ganzen ergibt und das Ganze dem Teil logisch vorausliegt, daß sich also das Teil in die Idee 69
Vgl. dazu TRE, Bd. XI (1983), Art. Feste und Feiertage, I. Religionsgeschichtlich, von O. Bischofberger, S. 93-96. Bischofberger kennzeichnet das Fest mit J. Wach als „tempus par excellence", als einen Zeitabschnitt, „der sich aus der gewöhnlichen Zeitfolge durch besondere Mächtigkeit heraushebt." Diese Mächtigkeit zeigt sich in fünf Merkmalen: 1. Festlichkeit durch Musik, Lied, Tanz etc. 2. Das Fest als komplexes Gesamtgeschehen, auf das jede soziale Gruppe zur Erhaltung ihrer Identität angewiesen ist (Durkheim), weil es die Gemeinschaft bestätigt, stärkt und erneuert. 3. Bezogenheit des Festes auf die Zeit des Ursprungs. 4. Die Einbettung des Festes in einen oder mehrere Feiertage, in „eine im Sinne der Griechen ,heilige Zeit'." 5. Aufhebung herrschender Institutionen, Gesetze und Konventionen. Die Umkehrung der Werte dient nach M. Eliade der Stärkung des Lebens und der bestehenden Ordnung, ebd. S. 93. Gerhard Marcel Martin, V. Ethisch, ebd. S. 132-134, weist hin auf die Vermittlung der Zeitmodi „im Medium voll ausgelebter Gegenwart" (S. 133) wie auf die Gefahr der Ästhetisierung und der Isolation des Festes vom Alltag (!).
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Vgl. PT, S. 66.
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des Ganzen einfügen muß, daß etwa auch die Homiletik in den Deutungskontext der Liturgik fallt. Diese Idee beansprucht Geltung sowohl für die Konstruktion der Liturgik als auch für die Komposition der Liturgie: „Man fangt mit der Theorie der Theile an und gelangt nicht zu der Stellung des Ganzen. Dadurch wird das ganze lebendige Bild zerstört, das eine scheint für das andere schlechthin zufällig [...] es kann keine richtige Anschauung des Verhältnisses der verschiedenen Theile entstehen." Darum muß die Frage lauten: „Was ist die gemeinsame Idee welche dem ganzen Gottesdienst zum Grunde liegt?" 71 War Schleiermacher auch nicht der Erste, der den Gedanken der intentionalen Einheit auf die Liturgik anwendete, indem er damit eine Tradition der Aufklärung aufgriff 72 , so war er wohl der Erste, der dieses Postulat methodisch und auch theologisch reflektierte: Schleiermacher zufolge stellt es einen Wesenszug aller religiösen Kunst dar, somit vorzüglich der sich im Gottesdienst manifestierenden, daß sie auf Einheit gerichtet ist. Aus dieser formal-theologischen Prämisse ergibt sich für den Gottesdienst das Form- und Stil-Prinzip der Einheitlichkeit, zu der die verschiedenen Einzelelemente finden und beitragen müssen. Schleiermacher begründet das liturgische Einheitsprinzip buchstäblich theologisch: „Indem die religiöse Darstellung alle menschlichen Verhältnisse nur behandeln kann in Beziehung auf Gott, liegt überall die Beziehung auf die absolute Einheit zum Grunde, und die ist wesentlich hier das dominirende, so daß die Vielheit sich hier durchaus nur als Darstellungsmittel verhält."73 Schleiermacher hat in der PT und in der Ästhetik eine Stilduplizität sowohl spekulativ erörtert als auch empirisch nachgewiesen und für den religiösen Stil den Kanon der Einfachheit postuliert, der darauf beruht, „daß alles einzelne[,] selbst der Gedanke in der religiösen Composition^] nur als Darstellungsmittel erscheint. Darin liegt daß das einzelne auch seinem Gehalte nach keine Selbständigkeit haben soll, sondern es soll alles auf einen einfachen Eindrukk ausgehen [...] Es muß überall das einzelne organisch gebunden sein, so daß jedes mit dem anderen zugleich durch das andere bedingt zu dem Totaleindrukk beiträgt und nicht seinem Gehalte nach für sich heraustritt."74
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PT, S. 67. Genannt sei z.B. der Aufklärungsliturgiker G. F. Seiler (tl807), vgl. H.-Ch. SchmidtLauber, Handbuch der Liturgik (1995), S. 21. Schmidt-Lauber nennt als Merkmale aufgeklärter Liturgik u. a. das Bemühen um „thematische Durchformung (innere Einheit)" des Gottesdienstes. Zur Sache vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes (1971), S. 121 ff. „Man verlangte vom Gottesdienst der späten deutschen Aufklärung [...], daß er als ganzer ein einheitliches Gepräge und eine innere Geschlossenheit aufwies." Ebd., S. 121 f. - Zur praktischen Realisation vgl. die Schleswig-Holsteinische Kirchen-Agende (1791) von J. G. C. Adler, in: W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst. (1992 2 ), S. 158ff. und die beherrschende Stellung der Predigt, von der her der Gottesdienst vereinheitlicht wird. PT, S. 87. PT, S. 93. Zur Stilduplizität, siehe auch unten 2.3.1.1.
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Dieser Vorrang des Ganzen vor dem Einzelnen zugunsten des Totaleindrucks gilt für die Gesamtkomposition des Gottesdienstes ebenso wie für die Gestaltung eines jeden Einzelelements. Da der Primat der Ganzheit die Gefahr der Gesetzlichkeit in sich birgt, wählt Schleiermacher den Ausdruck des Organismus, den die Vorstellung eines lebendigen Austausches zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen bestimmt. „Indem wir unsere organische Betrachtung des Cultus anstellen, müssen wir ihn als ein Ganzes betrachten in welchem alle Theile nach einer innern Nothwendigkeit, die hier freilich nur die der Freiheit sein kann, zusammengehören. Ein solches ganzes ist ein Organismus, wo die Selbständigkeit des einzelnen und die Einheit des ganzen in solchem Wechselverhältniß stehen daß jedes das andere bedingt und voraussezt."75 Es wird vorausgesetzt, daß das Erlebnis des Ganzen sowohl zur Erbauung als auch zum Verständnis des Einzelnen beiträgt, daß also die Organik eine ästhetische und hermeneutische Funktion hat. „Die natürliche Folge davon ist die, daß so wie die Zuhörer durch den ganzen Act des Cultus in den Zustand der Aufregung gesezt werden, wenn das ganze geschlossen ist sie sich im Zustande der Befriedigung befinden. Wenn eine Menge Vorstellungen erregt werden ohne Zusammenhang, so könnte solche Befriedigung nicht entstehen. Je mehr man die Gedanken vereinzelt, desto weniger ist Grund, warum man aufhört; zeigt sich aber das vorgetragene als abgeschlossenes Ganze: so ist die Befriedigung das Ziel der Aufregung."76 Wie nun der einzelne Gottesdienst ein organisches Ganzes darstellt, das seinen Einzelbestandteilen Sinn und Schönheit verleiht, so muß der einzelne Gottesdienst auch seinerseits als Teil und Funktion des Kirchenjahres verstanden werden: „Die Zusammensezung des Cultus ist eine doppelte: die Zusammensezung der einzelnen Handlungen und die Zusammensezung des jährlichen Cyclus." 77 Schleiermacher sieht den einzelnen Gottesdienst eingebettet in ein größeres liturgisches Ganzes: „Das finden wir nun im jährlichen Cyklus, wie der Gottesdienst eines Jahres aus dem Gegensaz der gewöhnlichen kirchlichen Versammlungen und der in jedem Jahreslauf sich wiederholenden christlichen Feste besteht. Das bildet ein ganzes, und abstrahirt von dem was sich durch die successive Beschaffenheit daran ändert, ist es das was das größte ist und was wir suchen müssen richtig zu construiren."78 Schleiermacher betont die „Biblizität" der Feste, die Lebensstationen Christi bezeichnet er als die „Festurkunden". 79 Aber das Kirchenjahr besteht nicht nur aus der Abfolge der Kirchenjahresfeste; vielmehr bietet es die Gesamtheit aller möglichen Themen des religiösen Lebens an: 75 76 77 78
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PT, S. 126. PT, S. 217. PT (A), S. 736. PT, S. 127. PT, S. 127, siehe auch oben, 2.1.2.
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2. Der Festgottesdienst in der liturgischen Theorie „So ergiebt sich, daß nicht nur im ganzen Leben des Geistlichen sondern schon im jährlichen Cyklus eine Totalität religiöser Darstellungen gegeben sein muß."80
Ein Ganzes hat also für Schleiermacher stets einen additiv-ästhetischen und einen funktional-dialektischen Aspekt, d.h. ein Ganzes wird daran erkannt, daß es aus sinnvoll anzuordnenden Teilen besteht, und daß es einen Gegensatz überbrückt: den relativen Gegensatz von Klerus und Laien bzw. von Sonntag und Festtag. Erst diese Ganzheit erlaubt die vollkommene Erfüllung des gottesdienstlichen Zweckes: die vollständige Darstellung des religiösen Bewußtseins. 2.2.2. Das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander 2.2.2.1. Liturgie und Gebet im Verhältnis zur Predigt Wie verhalten sich nun die Einzelbestandteile des Gottesdienstes zueinander? Da Schleiermacher die Predigt in gut reformatorischer Tradition als das Zentrum des Kultus betrachtet81, muß die Frage so präzisiert werden: Wie verhalten sich die Einzelbestandteile Liturgie, Gesang und Gebet zur Predigt im Kontext des Gesamtgottesdienstes? Die „Liturgie" als Relikt des alten Meßordinariums ist per se durch eine gewisse Unabhängigkeit gegen das Proprium des Gottesdienstes charakterisiert. Dieser geschichtliche Tatbestand wird auch von Schleiermacher uneingeschränkt anerkannt, wenn er im Glückwunschschreiben 1814 äußert, „daß unserm Gottesdienste zwei gewissermaßen entgegengesezte Elemente scheinen wesentlich zu sein, das eine wodurch er immer derselbe ist, und das andere wodurch er jedesmal ein besonderer wird". Das Erste „zusammengenommen sind ja die liturgischen Formulare, und stehen also auf der Seite dessen was immer dasselbe sein muß und worin sich die Einheit der Kirche abspiegelt."82 80 81
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PT, S. 206. Vgl. etwa PT, S. 224: Schleiermacher stellt fest, „daß die religiöse Rede der Mittelpunkt von einem einzelnen Acte des Cultus ist, auf welchen sich alle anderen Standpunkte des Cultus beziehen ..." Mit „einem einzelnen Acte des Cultus" ist hier ein einzelner Gottesdienst im Kontinuum des Kirchenjahres gemeint. Zur Stellung der Predigt im Gottesdienst vgl. auch PT, S. 264 und S. 58. Glükkwünschungsschreiben, SW 1/5, S. 174. - In der „kurzen Darstellung" (1811 ') trifft Schleiermacher dieselbe Unterscheidung im Blick auf den Geistlichen: „Der Kleriker ist im Cultus theils Repräsentant der constituirten kirchlichen Autorität als Liturg, theils handelt er mit individueller Selbstthätigkeit als Prediger." KGA 1/6, S. 310. - Schleiermacher verwendet den Begriff der Liturgie etwas unglücklich für den agendarisch fixierten Bestand des Gottesdienstes. Aus dem Fehlen der Liturgie im Gutachten (1804), SW 1/5, S. 103 kann aber nicht geschlossen werden, daß der junge Schleiermacher das liturgische Element für nicht wesensnotwendig gehalten hätte (gegen Ch. Albrecht, Liturgik, S. 75). Auch in der PT kann die „Liturgie" gelegentlich fehlen, ohne daß sie deshalb als eliminiert gedacht werden müsse, vgl. z.B. PT, S. 75 und PT (A), S. 732 u. ö. Das NichtErwähnen der „Liturgie" hängt vielmehr mit ihrem statischen Charakter zusammen, nicht mit deren grundsätzlicher Entbehrlichkeit! In seiner Liturgieschrift von 1816 bezeichnet Schleiermacher den Eröffnungsteil des Gottesdienstes als „Liturgie", vgl. NL, SW 1/5, S. 204, und setzt den Begriff kategorial mit Predigt und Lied gleich, doch pflegt er auch in
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Zwar fordert Schleiermacher in seiner Liturgie-Rezension v o n 1816 die Berücksichtigung der kasuellen Situation auch bei der Eingangsliturgie 8 3 , doch das verbindende und einheitsstiftende M o m e n t der „Liturgie" liegt auf einer anderen Ebene: das liturgische Element drückt die Einheit der Einzelgemeinde sow o h l mit der konfessionell bestimmten Kirche als auch mit der Ökumene aus. 8 4 S o wird man - den Begriff der Liturgie mit Schleiermacher weit fassend - allenfalls v o n einer Anpassung der Liturgie, nicht aber v o n ihrer „Ausrichtung auf die Predigt" sprechen können. In seiner „Theorie des Gebets im Cultus" unterscheidet Schleiermacher z w e i Gebete, w o b e i das erste Gebet nach dem Eingangslied auf dieses rückbezogen sein und zugleich die psychologische Situation am B e g i n n des Gottesdienst auffangen soll. 8 5 D a g e g e n nimmt das auf die Predigt folgende Gebet natürlich auf die Predigt Bezug. D i e Bezugnahme äußert sich beidemale in Inhalt und Form bzw. Stil: „Der Gesang der der Anfang des Gottesdienstes ist, kann nur ein Ausspruch dessen sein was in allen ist, daher die symbolischen Gesänge hieher gehören. Daran wird sich auch das Gebet anzuschließen haben sofern es durch den Gesang bestimmt ist [...] Dazu ist also ein universeller Typus des Denkens und der Sprache erforderlich.
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dieser Schrift eine schillernde Wortwahl, was bereits im Titel zum Ausdruck kommt. Dagegen hat er den Begriff in der PT differenzierter verstanden und folgende Elemente darunter summiert: 1) Konfessionen und Symbole, 2) Kasualformulare, 3) Gebete, vgl. PT, S. 158. Es ist also zu berücksichtigen, daß Schleiermacher unter Liturgie generell nicht nur den agendarischen Eingangsblock des Gottesdienstes versteht, da liturgische Elemente wie das Vaterunser und der Segen im ganzen Gottesdienst verstreut sind, daß Schleiermacher die Gebete eigens rubriziert, und daß die vom Kasus des Gottesdienstes unabhängigen Sakramente, besonders das Abendmahl unter „Liturgie" firmieren: „Die Verwaltung der Sacramente bietet am wenigsten Stoff zur Theorie dar, weil dabei bestimmte Vorschriften herrschen." PT, S. 66, vgl. auch PT, S. 158; PT (C, 1833), S. 825. So ist Schleiermachers Auseinandersetzung mit der Liturgie komplexer, als es seine eigene Wortwahl zunächst vermuten läßt. Zum Problem der Schriftlesung vgl. Ch. Albrecht, ebd., S. 53ff. Vgl. Ueber die neue Liturgie (NL), SW 1/5, S. 202f. Schleiermacher fordert hier eine Sammlung von Responsorien, die der Liturg je nach Situation bestimmen könnte. Über Schleiermachers scheinbare Geringschätzung der Liturgie s. o., Anm. 82. Man hat sie daraus geschlossen, daß die „Liturgie" nicht überall zu den wesentlichen Bestandteilen des Gottesdienstes gerechnet wird (z.B. Gutachten, SW 1/5, S. 103 und PT, S. 75), vgl. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 75 u. ö. Zwar hat sich Schleiermacher 1816 zur Rangordnung von Liturgie, Lied und Predigt geäußert (vgl. NL, SW 1/5, S. 213f.) und die beiden letzteren als die Spezialität des deutschen Protestantismus gewürdigt. Doch wenn er die „Liturgie" gelegentlich unterschlägt, dann behandelt er nur die variablen Elemente. - Ch. Albrecht wirft Schleiermacher auch eine „Ausrichtung der Liturgie auf die Predigt", ebd. S. 112, S. 92 u. ö., vor, doch bleibt diese Behauptung den Beweis schuldig. Eine Ausnahme bildet der Festgottesdienst, in dem bereits das Eingangsgebet den festlichen Typus tragen und die Feststimmung der Gemeinde zum Ausdruck bringen soll: „Giebt es etwas die ganze Gemeine afficirendes: so will sie auch den Anklang davon im Gebet haben, und der Geistliche muß Freiheit hierin haben, nicht an ein buchstäbliches gebunden sein." PT, S. 194.
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2. Der Festgottesdienst in der liturgischen Theorie Anders ist es mit dem Gebet nach der Rede, denn durch diese ist schon eine Gedankenmasse angeregt die eine Gemeinschaft aller geworden ist."86
Schleiermacher kann das unmittelbar auf die Predigt folgende Gebet sogar als „das Maximum der Aeußerung der religiösen Stimmung" bezeichnen und folgern: „Nun soll die religiöse Rede das Maximum hervorbringen, und da ist solche Aeußerung an ihrer Stelle. In soweit ist das Gebet noch ein Bestandtheil der religiösen Rede und aus ihr hervorwachsend."87 Wie auch immer das Gebet aus der Predigt „hervorwächst", es kann prinzipiell nur einen Inhalt haben: die Bitte um Förderung des Reiches Gottes. Insofern schließen sich hier auch die üblichen Fürbitten sinnvoll an.88 Die Fürbitten sind als Übergang in den Alltag des Lebens zu verstehen.89 Daher empfiehlt Schleiermacher einen zurückhaltenden Umgang mit ihnen an festlichen Tagen.90 Zur textlichen Gestaltung der Kirchenmusiken hat sich Schleiermacher nicht geäußert. Doch da er sie den kirchlichen Feiertagen vorbehalten sieht, legt sich eine Beziehung auf die jeweilige Festthematik nahe. Bei der Alternatimpraxis von Chor und Gemeinde ist der Stoff ohnehin durch das Lied vorgegeben. So bleibt noch die Beziehung von Lied und Predigt zu erörtern. 2.2.2.2. Das Verhältnis von Predigt und Lied 2.2.2.2.1. Zur allgemeinen Stellung und Funktion des Gesangs im Gottesdienst Schleiermacher zufolge dient der Gottesdienst der Darstellung des religiösen Bewußtseins, doch „dies Hervorheben des religiösen Bewußtseins muß [...] ein gemeinsames sein."91 Darum beginnt der Gottesdienst mit dem gemeinschaftlichen Vollzug des Gesanges. „Der Gesang steht voran bei vorausgedachter Andacht, um in den Einzelnen das Bewußtsein der Gemeinschaft zu erregen."92 Das Singen erweckt das Gemeinschaftsbewußtsein der Versammelten bzw. bringt es zur Darstellung. Insofern trägt das Singen noch ganz unabhängig vom Text des Liedes als ein spezifisch gemeinschaftliches Tun Zeichencharakter, der
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PT, S. 192. PT, S. 195. Vgl. PT, S. 199. Zur variablen Anordnung von Predigt, Gesang und den genannten Bestandteilen des Schlußgebets vgl. PT, S. 199f. Vgl. NL, SW 1/5, S. 201. Vgl. PT, S. 195 f., s.o. 2.1.2. PT, S. 131. PT (C, 1833), S. 826. Auch Jürgen Henkys weist auf die soziale Bindekraft bzw. kommunikatorische Funktion des gemeinsamen Gesanges hin: „Das Lied vergegenwärtigt Grunderfahrungen. Auf dem Wege symbolischer Repräsentation stellt es Übereinstimmung her zu dem, was die einzelnen Christen in persönlicher Tiefe schon erfahren haben oder zu erfahren hoffen. Es verleiht ihnen und der ganzen Gemeinde, in der sie sich zusammenfinden, Stimme und Sprache, damit sie gemeinschaftlich ausdrücken können, was sie hält und bewegt." J. Henkys, Lieder im Gottesdienst, in: Handbuch der Praktischen Theologie, hrsg. von P. C. Bloth u. a., Bd. 3, Gütersloh 1983, S. 103.
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auf das Wesen des evangelischen Gottesdienstes verweist. Denn diesen konstituiert der „relative Gegensatz" zwischen Liturg und Gemeinde. Das bedeutet, daß die Aktivität des Liturgen bzw. Predigers mit der der Gemeinde abwechselt. Weil der Gesang die Selbsttätigkeit der Gemeinde darstellt, darum darf er im Gottesdienst nie fehlen.93 Dieser kommunikationstheoretischen Begründung entspricht eine kunsttheoretische: Als Komposition aus verschiedenen Kunstelementen weist der Gottesdienst gleichsam eine Klimax auf: Die Rede, die den Gegensatz von Kleriker und Gemeinde repräsentiert, erhebt sich aus dem Gesang und fuhrt auf ihn zurück. Lied und Liturgie als Symbole der Einheit der Gemeinde und der Christenheit eröffnen, Lied und Liturgie (Segen) beschließen den Gottesdienst, und sie rahmen die Predigt als den Höhenpunkt des individuellen Hervortretens ein. „Der Gegensaz muß sich aus der Identität erheben und in sie zurükkehren. Daher Stellung des Gesanges."94 Doch nun ist der Gottesdienst nicht nur ein theoretisches Konstrukt, sondern ein Dokument des geschichtlich geprägten religiösen Lebens. Schleiermacher weist darauf hin, daß die Anordnung der Lieder im Gottesdienst den Artikeln des apostolischen Glaubensbekenntnisses verwandt ist, und daß sich das im Verlaufe des Gottesdienstes entwickelnde christlich-religiöse Bewußtsein darin widerspiegelt:95 Mit einer allgemein religiösen Stimmung kommen die Gläubigen zum Gottesdienst. Diese Stimmung wird durch das Anfangslied aufgenommen und gestärkt. Das Maß, also wie viele Strophen gesungen werden, hängt von der Notwendigkeit ab: Der Gesang „muß da am längsten dauern wo es am nothwendigsten ist das Bewußtsein der Gemeinschaft zu erregen."96 Für den ersten Liedplatz empfiehlt Schleiermacher „symbolische" Lieder aus der Reformationszeit, deren vorherrschender Charakter das Gemeingefühl sei97, denn das symbolische Lied soll die Gemeinschaft der Gläubigen und die Einheit der Christenheit bewußt machen. Das zweite Lied fuhrt zur Predigt hin und trägt einen speziell christlichen Charakter. Während das erste Lied „universelle Elemente" enthält, nimmt das zweite Bezug auf die Predigt. Doch bildet der Gesang immer einen selbständigen Teil. Auf das Lied unter der Predigt geht Schleiermacher in den von J. Frerichs gesammelten Vorlesungen zur PT an keiner Stelle ein.98 Der kurze Gesang nach 93
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Vgl. PT, S. 135. Unter einem „relativen Gegensatz" versteht Schleiermacher einen formal, aber nicht prinzipiell notwendigen Gegensatz. So ist der genannte Gegensatz von Liturg und Gemeinde zwar konstitutiv für den Gottesdienst, da er den Aufbau strukturiert, aber nicht wesentlich wie etwa in der katholischen Kirche. Darum wird er in einer größeren Identität, nämlich dem Gemeindegesang als dem Symbol der Gleichheit, aufgehoben. PT (A), S. 752. - Dieses Rollenspiel erinnert an den Wechsel von Tutti und Solo im Concerto grosso. Vgl. PT (A), S. 752. PT, S. 214. Vgl.PT.S. 180f. Die Regel sind dort drei Lieder im Gottesdienst. Den Kanzelvers hat Schleiermacher
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der Predigt schließlich will die Gemeinde noch einmal zu Wort kommen lassen, er soll nach Möglichkeit das Ergebnis der Predigt festhalten und das erhöhte christliche Bewußtsein der Gemeinde in das christliche Leben des Alltags hi99
naustragen. Weil der Gottesdienst zu einer Belebung des christlich-religiösen Bewußtseins beitragen will, darum nimmt er seinen Verlauf vom Allgemeinen zum Besonderen. Die allgemein-religiöse Feststimmung wird im Verlaufe des Gottesdienstes verchristlicht und sozusagen aktualisiert.100 Das gemeinsame Singen sammelt die Gemeinde im Handeln und Empfinden, die individuell unterschiedlichen Gemütszustände werden konzentriert. „Dies specielle, das der einzelne mitbringt, muß also zurükktreten wenn alle an dem Mittelpunkt des Cultus [der Predigt] gemeinsam theilnehmen wollen."101 Und so charakterisiert Schleiermacher den Gottesdienst als eine Komposition von Elementen individueller Darstellung und kollektiver Mitteilung. „Nur in dem Wechsel und Zusammensein solcher Elemente in denen der Gegensaz auftritt, und solcher in denen die allgemeine Selbstthätigkeit ihn vermittelt, kann der Gottesdienst bestehen."102 Dieser Gegensatz manifestiert sich im Gegenüber von Lied und Predigt und wird zugleich in der größeren Einheit beider aufgehoben. 2.2.2.2.2. Die spezielle Beziehung des Gesangs zur Predigt Weil Schleiermacher diese Beziehung behauptet, darum auch kritisiert er 1816 die neue Liturgie des Königs: Der „Gesang unmittelbar vor der Predigt [...] muß sich doch einigermaßen auf den besonderen Inhalt von dieser beziehen, und kann also nicht immer Festgesang sein."103 Indem das Hauptlied der Predigt unmittelbar vorausgeht, wird es besonders von den unteren Ständen als Vorbereitung auf die Predigt verstanden. Auch selbst allerdings unterschiedlich beurteilt. Im Gutachten (1804), SW 1/5, S. 112, verwirft er ihn, in NL (1816), SW 1/5, S. 208, verteidigt er ihn vorsichtig. Zur eigenen Praxis, vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG (1998), S. 44ff. 99 Im Kontext der Theorie des Gebets (PT, S. 187ff.) wird von Schleiermacher die Möglichkeit eines doppelten Schlußgesangs erwogen, die er sogar als die „vollständige Form" bezeichnet: „Es würde eine vollständigere Form sein, wenn sich eine Selbstthätigkeit der Gemeine unmittelbar auf die religiöse Rede bezieht, dann das Gebet folgt und hernach mit einem Schlußgesang von allgemeinem Inhalt der Gottesdienst endigt. Dadurch wird die genaueste Analogie zwischen dem Schluß und dem Anfang hervorgebracht." PT, S. 199. 100 Dieser Prozeß darf liturgisch nicht gestört werden, indem etwa liturgische Gesänge zwischen Hauptlied und Predigt geschoben werden. Sie haben ihren Platz am Beginn des Gottesdienstes, vgl. PT (A), S. 757. Schleiermachers Kritik an der „neuen Liturgie" von Friedrich Wilhelm III. läuft darauf hinaus, daß hier die Organik des Gottesdienstes gestört sei. Die starre Liturgie nehme zu viel Raum ein und dränge die Variablen Predigt und Lied zurück. So sei aber keine individuelle, d.h. aktuelle Belebung des religiösen Bewußtseins möglich, die doch den Zweck des Gottesdienstes bilde. Vgl. NL, SW 1/5, S. 208. ιοί PT, S. 131. 102 PT, S. 132. 103 NL, SW 1/5, S. 203.
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Schleiermacher kann das Hauptlied „unmittelbar Vorbereitung auf die religiöse Rede" nennen.104 Doch das Lied vor der Predigt erschöpft sich nicht darin, denn der Gesang ist „religiöse Darstellung und Mitteilung an sich und muß daher betrachtet werden an und für sich."105 Das Hauptlied stellt einen organischen Bestandteil des Gottesdienstes dar,106 einen Bestand-Teil zwar, aber doch ein Ganzes. Ein Lied ist keine Predigt. Der Unterschied besteht zunächst in der Handlungsform: hier der Einzelne, dort Alle, und in der Urheberschaft: hier der Prediger, dort der häufig längst verstorbene, in seinem Anliegen und den persönlichen Empfindungen von Raum, Zeit und Schicksal geprägte Dichter. „Der religiöse Redner will und soll die religiösen Momente als seinen eigenen Zustand darstellen, aber nur wiefern sie übereinstimmend sind mit der objektiven Allgemeinheit der besonderen religiösen Form in der religiösen Gemeinschaft, und deswegen kann da nur die prosaische Form hervortreten. Der religiöse Dichter, wenn er für den Cultus dichtet, kann die religiösen Momente darstellen als wirkliche Zustände: aber es sollen sich diese Darstellungen alle aneignen können, und deswegen kann der einzelne, der Urheber der Darstellung ist, verschwinden, aber die poetische Form ist nothwendig, weil sie die bestimmte Anregung erfordert. Wenn wir auf den Unterschied der Darstellung und Mittheilung sehen, so verschwindet der Widerspruch."107
Weil die Darstellung immer auch Mitteilung sein soll, darum wird das Persönliche verallgemeinert: in der Predigt durch die Sprachform, im Lied durch den gemeinsamen Vollzug, denn Gegenstand des Kultus ist die mitteilende Darstellung des Individuellen, sofern es allgemein ist, „das Gebiet der gemeinsamen Erfahrung." 108 Der Hauptunterschied zwischen Predigt und Lied besteht in der Sprachform, hier Prosa, dort Poesie. Darum kann das Lied niemals eine stringente Einleitung der Predigt sein, „weil Poesie und Prosa nicht dieselbe Einheit haben." 109 Zwar handelt es sich bei beiden um Formen künstlerisch geprägter Sprache, denn im Christentum dominiert - nach Schleiermacher - die redende Kunst, weil der christliche Gottesdienst geistig sei und der Geist sich durch das Wort verständlich mache; die Sprache ist also das primäre Darstellungsmittel im Kultus. Doch wodurch unterscheiden sich Poesie und Prosa?
104 PT (B, 1828), S. 803. - Die Auswahl der Lieder nach ihrem Verhältnis zur Predigt war bereits Grundsatz der Aufklärungsliturgik, vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes (1971), S. 125: „Daß der belehrende Religionsvortrag der Predigt bei den Hörern eine gewisse Sammlung und Hinfuhrung erfordert und daß dies die Aufgabe der Gottesdienstteile vor der Predigt sei, darin sind sich eigentlich alle Liturgiker dieser Zeit einig." 105 PT, S. 175. 106 Vgl. PT, S. 174f. 107 PT,S. 119f. 108 PT, S. 97. Einen „individualistischen Erbauungsbegriff', so Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 114, kann ich nicht erkennen. 109 PT (B, 1828), S. 809, vgl. auch PT, S. 186.
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Mit der differenten Handlungsform ergibt sich zunächst die differente Darstellungsform: gesprochene Prosa, gesungene Poesie.110 Die Poesie gilt Schleiermacher nun als das adäquate Medium der religiösen Erregung, wobei der Grad der Poesie nicht am Silbenmaß gemessen werden kann: „Man kann nicht auf gleichmäßige Weise sagen, daß das Silbenmaaß die äußere Form der Poesie sei. Wir müssen daher versuchen einen inneren Charakter aufzusuchen." Nähert sich die Sprache dem Bild, ist es Poesie, nähert sich die Sprache der Formel, ist es Prosa. Mit dem Inhalt eines Textes hat das noch nichts zu tun, denn „daß derselbe Gegenstand auf eine poetische und prosaische Weise behandelt werden kann, ist klar."111 Als Identitäts- und Qualitätsmaßstab poetisch geprägter Sprache betrachtet Schleiermacher ihre Bildhaftigkeit, im Unterschied zur Begrifflichkeit prosaischer Sprache. Darum verwirft er sogenannte Reimpredigten, also solche Lieder, die einen dogmatischen oder moralischen Begriff entfalten. „Wenn so das Lied an einen Begriff gefesselt ist, so kann es auch nichts anders werden als eine Abhandlung in Versen oder vielmehr in Reimen. Die Gedanken durchlaufen denselben Kreis und ordnen sich auf ähnliche Art wie die Rede, die ebenfalls, aber mit mehrerem Recht, einen Begriff zur Einheit hat."112 Umgekehrt wird der prosaische Charakter der Predigtsprache ausdrücklich betont.113 Dieser manifestiert sich einerseits im klassischen Periodenbau, andererseits in der „Popularität"der Wortwahl, die Schleiermacher auch als „Sprache des Umgangs" bezeichnet.114 Der Gegensatz von Bild und Formel deutete bereits das unterschiedliche Rezeptionsverhalten gegenüber Lied und Predigt an. Doch stets ist das Bestreben darauf gerichtet, die „Einheit" eines Kunstelements zu erfassen. Während für Schleiermacher „das Thema der eigentliche Repräsentant der Einheit" der Predigt ist,115 sieht er die „Einheit des Liedes" in der jeweils vorherrschenden „religiösen Stimmung".116 Dieser Gegensatz von objektiver und subjektiver Verursachung bringt es mit sich, daß die poetische Darstellung des religösen Bewußt-
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Zur gesungenen reinen Prosa äußert sich Schleiermacher ablehnend, sie sei „kunstwidrig", PT, S. 173, nur aus akustischen Gründen kann man sie gelten lassen, vgl. PT (B, 1828), S. 803. 111 PT, S. 118. - Bei dieser Charakterisierung des Liedes kommt die musikalische Komponente, die der Poesie Melodie und Rhythmus verleihen und sie damit zum adäquaten Darstellungsmittel der religiösen Erregung machen, zu kurz. Das Lied wird vornehmlich vom Text her verstanden und formal gedeutet als gemeinschaftliches Tun. Doch das Lied ist auch ein musikalisches Ereignis! 112 So bereits im Gutachten (1804), SW 1/5, S. 104f. 113 Vgl. PT, S. 186; zur Predigtsprache vgl. auch PT, S. 286 und PT (A), S. 773. 114 Vgl. Schleiermachers homiletische „Theorie des Ausdrukkes", PT, S. 286ff. Die Begriffsbezogenheit der Predigt und Begrifflichkeit der Predigtsprache hat er in der PT nicht mehr vertreten. 115 PT (A), S. 764. Zum Verhältnis von Text und Thema in der Predigt, vgl. PT, S. 232ff. Zur Vorbereitung der Predigt und zur Ordnung und Vereinheitlichung der Gedankenfülle, vgl. PT, S. 265ff. 116 Vgl.PT.S. 186.
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seins einen eher individuellen, die prosaische dagegen einen eher universellen Charakter trägt. Die „religiöse Stimmung", das sind die religiösen Gemütszustände, deren unendliche Vielfalt zu typologisieren ist. Schleiermacher unterscheidet einfach „erhebende" und „drückende" Gemütszustände und konstruiert die möglichen Darstellungstypen durch Kreuzung von vier Koordinaten: allgemeinmenschlich, individuell-christlich, demütigend, erhebend. „Es ist natürlich daß in jedem besonderen Darstellungsact eins von den Gliedern ein Uebergewicht hat; und dann würden sie zugleich Principe der Gattung sein und wir würden sagen, Es ist eine Gattung der Darstellung in dem individuell christlichen und dem allgemeine religiösen, in dem erhebenden und niederschlagenden dominirend."117 In dieses Gattungsschema will Schleiermacher nun jeden Gottesdienst einordnen, offenbar indem er jeweils die christliche „Intensität" und die psychologische Tendenz feststellt: Handelt es sich etwa um einen vom Gedenken an das Leiden Christi geprägten Sonntag in der Passionszeit oder um einen durch die Freude an der Schöpfung bestimmten Sonntag in der Trinitatiszeit? Diese vierfache Typologie bezieht sich anscheinend primär auf die sogenannten unbedingten Darstellungen, also auf die „Normalsonntage". Und sie erübrigt natürlich nicht die notwendige theologische Spezifizierung eines Gottesdienstes in Richtung auf ein Thema, das einerseits an Kirchenjahr und Bibeltext, andererseits an der Gemeindesituation orientiert ist. Auf dieses Thema eines jeden Gottesdienstes beziehen sich Predigt und Predigtlied dann auf je ihre Weise. Der Gegenstand der Predigt und die Stimmung des Liedes sollen sozusagen in dem beide übergreifenden Thema des Gottesdienstes aufgehoben sein, das beiden Sprachformen Spielraum gewährt. So könnte man am ehesten von einem Entsprechungsverhältnis zwischen Lied und Predigt sprechen. Und darum betont Schleiermacher den besonnenen Akt der Liedauswahl: „Den Gesang hat der Geistliche zu wählen. Das Ganze soll ein Ganzes sein, ein gewisser Zusammenhang zwischen Gesang und Rede [...] und dieses überlegend müssen wir sagen: Vorausbedenken der Rede schon etwas unvermeidliches."118 Bei der Liedauswahl steht dem Liturgen über das je geltende Gesangbuch hinaus der gesamte Schatz von amtlich anerkannten evangelischen Kirchenliedern zur Verfugung." 9 Schleiermacher ordnet die Kirchenlieder historisch nach Entstehungszeit und systematisch nach Gehalt. Während die Lieder des 16. Jahrhunderts, die Schleiermacher „symbolische Lieder" nennt, zum liturgischen Eingang des Gottesdienstes passen, sind als Hauptlieder die sogenannten „individuellen" Lieder aus der „mystischen" Periode der Kirchenliedgeschichte geeignet,120 sie passen zur Rede, weil diese „auch von einem persönlichen Erre117
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PT,S. 107. PT (B, 1828), S. 795f. Vgl. PT, S. 178f. Vgl. PT, S. 180ff. Schleiermacher unterscheidet drei Epochen, die ich hier vereinfacht als
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gungsmoment ausgehen soll."121 Sie nähern sich der Predigt, weil auch da die Individualität des Einzelnen, hier des Dichters, dort des Predigers, vorherrscht. Und Schleiermacher bekennt: „Wenn die Erzeugungen der zweiten Periode nicht vorhanden wären, so würden wir nicht ein vollkommen harmonisches Ganze aus den Acten des Cultus bilden können."122 Die systematische Einteilung der Lieder fragt nach ihrem Charakter, ob das „Erhebende" oder das „Demütigende" dominiere. Als Unterabteilung empfiehlt er die Kategorie des allgemeinen und individuellen.123 Hier begegnet dasselbe Muster wie bei der Typologie der Gottesdienste. Dabei fallt auf, daß das letztgenannte Typenpaar zugleich der liturgischen Duplizität von Anfangs- und Hauptlied entspricht, so daß Schleiermacher für das Liedgut ein einfaches Rubrizierungsschema anbieten kann, das die Lieder in vier „psycho-liturgische Mischkategorien" einzuteilen erlaubt: allgemein-erhebende und allgemein-demütigende iur den Anfang, individuell-erhebende und individuell-demütigende zur Predigt. Ob Schleiermacher mit dieser sehr formalen Kategorisierung der Vielgestaltigkeit des Liedguts gerecht wird, kann man fragen, aber seine Intention ist deutlich: Das HauptLied muß nicht zu allen Einzelheiten der Predigt passen, nur zum Gesamtcharakter des Gottesdienstes. Mit Hilfe der Koinzidenz des Schemas der religiösen Gemütszustände mit der Theorie des Gottesdienstes und der Kirchenliedtypologie bahnt Schleiermacher einen methodisch reflektierten Weg, um ein Lied in Beziehung auf die Predigt auszusuchen, ohne das Lied zum Vorspiel der Predigt zu degradieren. Denn die Eigenständigkeit des Liedes soll gewahrt bleiben. Das ist auch der Grund, warum Schleiermacher vor Verstümmelung der Lieder warnt, da sie ihren Charakter dann nicht entfalten können. Darum tritt er für die Verwendung eines Liedes als Ganzes ein, mit einer Einschränkung: Die häufig eschatologisch akzentuierten Schlußstrophen sind beim Lied vor der Predigt wegzulassen, sie lenken nur vom Zusammenhang mit der Predigt ab.124 Auf die Predigt soll ein kurzer Gesang der Gemeinde folgen:
Reformationszeit, Pietismus und Aufklärung bezeichne. Ungeachtet der besonderen Eignung der Lieder aus der zweiten Periode empfiehlt Schleiermacher fur den Gottesdienst das neue Lied, da es ja um die Erbauung seiner Zeitgenossen geht: „Das natürliche für uns wird der Charakter der lezten Periode sein." PT, S. 183. Freilich weiß er auch um Mängel, weshalb er den Geistlichen ermächtigt, Lieder zu ändern bzw. auf Änderungen zu dringen um des religiösen Gebrauchs willen. Was dem gegenwärtigen Empfinden widerstrebt, muß modifiziert werden. Da der Gesang den aktiven Beitrag der Gemeinde im Gottesdienst darstellt, muß diese sich mit den Liedtexten auch identifizieren können. Zum Problem vgl. Exkurs II. 2.6. 121 PT, S. 181. 122 PT, S. 181. 123 Vgl. PT (A), S. 758. Zur Kategorie des „erhebenden und niederschlagenden", vgl. auch PT, S. 104ff. 124 Vgl. PT, S. 175. Von der Hermhuter Singstundenpraxis, die Einzelstrophen verschiedener Lieder bunt zusammenflocht, ist hier keine Rede, vgl. dazu Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 79ff.
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„Daß der Theil des Gesanges der auf die Predigt folgt der kürzere sei, finden wir in der allgemeinen Praxis; er soll nur schließen mit der Selbstthätigkeit der Gemeine und soll keinen anderen Charakter haben als daß er ein zusammengedrängter Ausdrukk dessen sei was der Inhalt dieses Actes des Cultus gewesen ist."125 Das Lied nach der Predigt soll die Richtung der Predigt aufnehmen und „in die allgemein-religiöse Stimmung aussprechen."126 Diese Liedstrophe nimmt den Inhalt der Predigt auf - eine genaue Entsprechung ist auch hier weder möglich noch nötig - und stärkt noch einmal das Gemeinschaftsbewußtsein der Gemeinde. Was den sogenannten Kanzelvers betrifft, so muß von Fall zu Fall entschieden werden, ob er sich organisch einfügen läßt. Schleiermacher empfiehlt ihn für Festgottesdienste, weil der Kanzelvers „den Gegenstand des Festes noch von einer Seite mehr vors Gemüth" stellen kann.127 Doch jeder Gottesdienst hat sein Proprium. Festgottesdienste unterscheiden sich von Normalgottesdiensten lediglich dadurch, daß dort der Gegenstand vorgegeben ist, während er hier aus dem religiösen Leben der konkreten Gemeinde erwächst. Wie Poesie und Prosa, Lied und Rede in Beziehung aufeinander stehen, so sind sie doch auch kontrastierende Elemente, die den Gottesdienst vervollständigen, denn jeder Gottesdienst soll ein Ganzes sein. „Wird eine andere Seite des Gegenstandes im Gesang herausgehoben: so ist das eher vortheilhaft als nachtheilig, weil der Gottesdienst dadurch vollständiger wird."128 Diese „andere Seite des Gegenstandes" ist vielfaltig deutbar: Von der poetischen Sprachform und der individuellen Erregung war bereits die Rede. Sodann birgt die Menge der Lieder eine große spirituelle und dogmatische Vielfalt in sich. In einem anderen Zusammenhang hebt Schleiermacher auch ihre Neutralität gegenüber obrigkeitlichen Erwartungen bzw. gegenüber der je speziellen Gemeindesituation hervor.129 Schließlich ist die konfessionsübergreifende Geltung von Gesangbüchern nicht zu vergessen.130 Allgemein gilt: Schleiermacher reflektiert sowohl die Differenz zwischen liturgischer und homiletischer Rede als auch ihre Beziehung zueinander. Die Predigt ist in die religiöse Selbstäußerung der Gemeinde, das Kirchenlied, sorgfältig eingebettet. Lied und Predigt gleichen sich darin, daß sie nicht erziehen und nicht belehren, sondern das als vorhanden gedachte religiöse Bewußtsein 125
P T , S. 176.
126 PT(A), S. 752. 127 NL, SW 1/5, S. 209. „Vorzüglich aber an den hohen Festen möchte ich mir ihn ungern nehmen lassen; denn jeder auch der kleinste Theil des Gottesdienstes giebt dann Gelegenheit den Gegenstand des Festes noch von einer Seite mehr vors Gemüth zu bringen." ebd. 128 PT (C, 1833), S. 829. Vgl. noch einmal Schleiermachers Plädoyer für den Kanzelvers, siehe die vorige Anmerkung. 129 Vgl. Gutachten (1804), SW 1/5, S. 110 und PT, S. 405. Das Lied kann sich „solchen fremdartigen Ansprüchen, die an den Cultus nicht gemacht werden sollten" leichter entziehen als die Predigt. 130 Vgl. dazu Gutachten SW 1/5, S. 71.
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beleben wollen. Doch kann es zwischen Liedtext und Predigtwort keine Identität geben, das läßt weder die verschiedene Sprachform noch die unterschiedliche Individualität des Dichters und des Predigers zu. Beide müssen in sich einheitlich sein, das Lied in der Stimmung, die Predigt im Gegenstand und zwischen beiden kann und muß es Konsonanz geben, Übereinstimmung. Das Übereinstimmende, die vorausliegende größere Einheit oder der gemeinsame Nenner ist zunächst der Typ des Gottesdienstes und dann die jeweilige „Idee des Cultus", das vom religiösen Leben der Gemeinde ausgehende spezielle Thema, dem das Lied auf seine und die Predigt auf ihre Weise entspricht. Mit der thematischen Übereinstimmung einerseits, der heterogenen Sprachform und Darstellungsweise andererseits ist allerdings über die stilistische Gestaltung der verschiedenen Sprachprodukte noch nicht entschieden. 2.2.3. Liturgische Stilprinzipien Schleiermacher hat der Theorie der gottesdienstlichen Einzelelemente eine Erörterung über die elementarischen Prinzipien vorangestellt, die sich auf alle Einzelelemente erstrecken sollen. Er beginnt mit einer Besinnung über „Die Sprache im Cultus" und über den „Religiösen Styl in der Kunst".131 Die Sprache erscheint als das hauptsächliche Darstellungsmittel im Gottesdienst. Es ist dem Christentum eigen, daß die symbolischen Handlungen zurücktreten zugunsten des Wortes „wie wir überhaupt sehen daß alle eigentliche Kraft im Christenthum überall in das Wort gelegt ist."132 Schleiermacher sieht im gesprochenen und gesungenen Wort das eigentlich christliche Element des evangelischen Gottesdienstes. Auch die Musik ist nur legitimiert durch ihre Verbindung mit dem Wort, man muß den Gesang „oder vielmehr die ihm untergelegten Worte als den poetischen Theil des durch die Sprache dargestellten Wortes ansehen."133 Die Ausrichtung auf das Wort hat für Schleiermacher eine religions- und konfessionskonstituierende Bedeutung, die er mit dem geistigen Wesen der christlichen Religion erklärt, nämlich „daß im Christenthum das Wort das überwiegende ist, weil der christliche Gottesdienst ein geistiger ist und der Geist sich unmittelbar nur durch das Wort verständlich macht. Wo symbolische Handlungen hervortreten, ist auch das sinnliche vorherrschend über das geistige. Von der Musik müssen wir sagen, daß sie ihren Ort im christlichen Gottesdienst nur hat nicht an und für sich sondern ursprünglich in 131 132
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Vgl. PT, S. 83ff. PT, S. 108. Angesichts dieser expliziten Äußerung Schleiermachers ist es problematisch, wenn Volp in Bezug auf Schleiermacher die Sakramente als „die geschichtlich ausgewiesenen inneren Kristallisationspunkte aller gottesdienstlichen und kirchlichen Akte ..." bezeichnet, R. Volp, Liturgik 2 (1994), S. 804. Vgl. die Beobachtung von W. Gräb, der den Praktischen Theologen einen „gewaltsam-vereinnahmenden Umgang mit Schleiermacher" vorwirft und die Ignoranz gegenüber den Vorlesungen zur PT beklagt. W. Gräb, Kirche als Gestaltungsaufgabe, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hrsg. von G. Meckenstock und J. Ringleben (1991), S. 147-172, S. 149. PT, S. 76.
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der Form des Gesanges, welches der Vortrag der zur Poesie gesteigerten Rede ist."134 Schleiermachers „Verbalismus" geht einher mit einem betont intellektualistischen Geistverständnis, das eine hohe Rationalität der liturgischen Produkte erwarten läßt. Nach dieser fundamentalen Einleitung kommt Schleiermacher sogleich auf den sogenannten „religiösen Stil" und seine beiden Hauptmerkmale zu sprechen 135 : „Fassen wir das zulezt entwikkelte zusammen: so können wir dabei stehen bleiben, daß das eigenthümliche Grundgesez aller religiösen Composition das der Simplicität ist und der Keuschheit. Unter dem lezteren ist dies zu verstehen, daß die technische Vollkommenheit zwar überall sein muß, aber daß sie nirgend besonders hervortreten darf, d.h. daß kein einzelner Moment die Bestimmung habe die technische Vollkommenheit zur Anschauung zu bringen; alles was da ist muß reines Darstellungsmittel sein."136 Und der Kanon der Einfachheit beruht darauf, daß alles Einzelne „selbst der Gedanke in der religiösen Composition nur als Darstellungsmittel erscheint. Darin liegt daß das einzelne auch seinem Gehalte nach keine Selbständigkeit haben soll, sondern es soll alles auf einen einfachen Eindrukk ausgehen." [...] „Es muß überall das einzelne organisch gebunden sein, so daß jedes mit dem anderen zugleich durch das andere bedingt zu dem Totaleindrukk beiträgt und nicht seinem Gehalte nach für sich heraustritt."137 Daß es sich hier nicht nur um abstrakte Prinzipien handelt, wird durch die Theorie der Einzelelemente bestätigt. So empfiehlt Schleiermacher in der Homiletik: „Das ist das wesentliche was am bestimmtesten die Idee des Ganzen in sich trägt; alles was einzeln für sich sein will, ist ein Ueberfluß." Freilich sind Elemente und Mittel der Darstellung zu unterscheiden: „Es giebt auch Gedanken die nur Darstellungsmittel sind, und diese dürfen in keiner Rede fehlen. Jedes Bild und Beispiel ist Darstellungsmittel." Aber: „Das was Darstellungsmittel ist, ist nur ein Theil eines größeren" 138 Vor einem zu reichen Gebrauch von Schrift134 135 136
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PT, S. 80f. Auf die Wortbezogenheit der brüderischen Musikanschauung und den Traditionsfaden zu Schleiermacher weist Ch. Albrecht hin, Schleiermachers Liturgik, S. 79. Zu der von Schleiermacher postulierten Stilduplizität, s. u. 2.3.1.1. PT, S. 92. PT, S. 93. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 107, vermutet, daß Schleiermacher das Stilideal der „Simplicität" von Α. H. Niemeyer übernommen habe. Ich halte fur wahrscheinlicher, daß Schleiermachers kunsttheoretisches Denken von J. F. Reichardt geprägt wurde, den er als Künstler akzeptierte und in dessen Gesellschaft er verkehrte, vgl. seinen Essay über Kirchenmusik im Musikalischen Kunstmagazin Bd. 1 (1782), in: Briefe, die Musik betreffend, Leipzig 1976, S. 170ff. Reichardt verwirft dort Üppigkeit und Künstelei und empfiehlt der Kirchenmusik „höchste Simplicität", ebd. S. 173. Übrigens war auch schon in der neologischen Predigttheorie die Forderung nach „edler Simplicität" ein „Programmpunkt der theologischen Arbeit." A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes (1971), S. 198. PT, S. 276.
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zitaten und Beispielen warnt Schleiermacher den Prediger: „Es ist eine gewöhnliche Vorstellung, daß eine Predigt recht populär würde durch die Exemplification. Das ist falsch." 139 Auch die Figuralmusik wird dem strengen Stilkanon unterworfen: „In den Arien tritt die Virtuosität der Stimme stark hervor; wenn es die reine Virtuosität der Natur ist: so können wir die Arie gelten lassen; wenn es aber eine solche ist wozu eine große Uebung gehört, wie in Trillern und Cadenzen; so will das nicht in den Cultus hinein, weil es zu sehr auf das sinnliche hinfuhrt. Wenn in den Arien der Text zu oft wiederholt wird, so ist das ein heraustreten der Musik über die Poesie, und das geht ganz aus der Natur des Cultus heraus. Das sind Grenzen, die nothwendig sind wenn die Kirchenmusik nicht soll die Andacht stören."140 Wenn Schleiermacher hier den instrumenteilen Gebrauch der menschlichen Stimme tadelt, so wundert es nicht, daß er die Verwendung von Instrumenten im Gottesdienst mit Ausnahme der Orgel beargwöhnt. Lediglich eine Instrumentalbegleitung im Kantionalsatz will er billigen, wo die Instrumentalmusik „nur Verstärkung und Ornament" ist: „Wenn es an sich nicht verwerflich ist und die Instrumente nicht eigens in einer besonderen Virtuosität hervortreten wollen: so sehen wir, daß man nicht Ursache hat dies so natürlich verbundene zu trennen."141 Die beiden Kanones Einfachheit und Keuschheit sind die grundlegenden Stilprinzipien der Schleiermacherschen Liturgik. Alle weiteren Form- und Stilüberlegungen ergeben sich daraus, z.B. der Ausschluß bestimmter Sprachmuster: „Alle Kunstelemente die dem komischen angehören, müssen aus den religiösen Darstellungsmitteln ausgeschlossen sein." 142 Neben dem Komischen ist auch alles Niedrige sowie alle wissenschaftliche und Geschäfts-Terminologie aus der Sprache des Kultus auszuschließen. Und schließlich fließt das Postulat einer unverfänglichen Zeitlosigkeit aus dem Stilkanon: „Offenbar können auch die bildlichen Vorstellungen mit der Zeit antiquiren und zulezt kann das was erbauen soll grade das Gegentheil bewirken." 143 Handelt es sich bei dem stilistischen Doppelkanon um objektive Stilprinzipien, die sich aus dem Objekt der Darstellung selbst ergeben, nämlich der Darstellung des Bewußtseins in Bezug auf Gott, so gründen andererseits allgemeine stilistische Normen in der Situation des empirischen Gemeindegottesdienstes,
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PT, S. 280f. PT, S. 174. PT, S. 173. PT, S. 86. - Zum Verdikt über das Lachen vgl. Exkurs II. 2.6.1. PT, S. 165. - Zum Erbauungsbegriff der Aufklärung, in deren Tradition sich auch Schleiermachers Liturgik befindet, vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes, S. 187f.: „Erbaulichkeit umschreibt noch nicht das Klima gewisser neupietistischer, sentimentaler Andachten und ihrer klischierten Sprache, sondern einen Akt der Förderung und Stärkung der Glaubensgewißheit." Ehrensperger hat allerdings in der Aufklärungsliturgik einen Zusammenhang von Erbauung und Belehrung festgestellt, S. 193ff., der bei Schleiermacher fehlt.
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z.B. die bereits von der Aufklärung laut erhobene Forderung nach „Popularität".144 Aus der Unterschiedlichkeit der religiösen Subjekte erwächst die Aufgabe der Ausgleichung: „Dieses ist der eigentliche Begriff des Ausdrukkes Popularität; was keineswegs eine Eigenschaft der Predigt allein ist, sondern des Cultus im allgemeinen." Sowohl die religiöse als auch die ästhetische Empfänglichkeit ist verschieden. „Die Popularität der Darstellung besteht also darin, daß sie auf einen niederen Grad der Empfänglichkeit berechnet ist."145 In der Wahrnehmung der konkreten Gemeindesituation fällt also auch die Entscheidung über die Angemessenheit von Texten, Liedern etc. „Was über religiösen Stil in der religiösen Kunst gesagt worden, gilt auch von der religiösen Poesie [...] Man muß unterscheiden zwischen religiösem Stil überhaupt und zwischen Angemessenheit für den kirchlichen Gebrauch." So haben etwa Novalis' Lieder das erste zwar, aber das zweite nicht.146 Wortbezogenheit, Einfachheit und Keuschheit, Popularität und liturgische Gebrauchsfahigkeit, das sind die elementarischen Prinzipien, die die Gestaltung des Gottesdienstes im Ganzen und im Einzelnen bestimmen, und so erweist sich die Einheit des Gottesdienstes nicht allein in seiner inhaltlichen Konsistenz, sondern ebenso in seiner stilistischen Homogenität. Mit dem Streben nach Einheit des Kultus und mit seinen liturgiereformerischen Absichten stand Schleiermacher - wie schon Christoph Albrecht nachweisen konnte - in der Tradition der Aufklärung. Die von Alfred Ehrensperger vorgestellten Theoretiker - oder als praktisches Beispiel die berühmte Adlersche Agende von 1791 - bestätigen diese Traditionsbindung.147 Doch fehlte der Aufklärung gleichsam eine positive Theorie des Gottesdienstes und seiner Einzelelemente148 wie auch eine theologische und ästhetische Durchformung der 144
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Die Forderung nach Popularität wurde zuerst von der Aufklärung erhoben, die mit ihrem Anliegen der vernünftigen und effektiven Belehrung die Rezeptionsbedingungen des Gottesdienstes reflektiert hat. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes, S. 198f., registriert: „Unvergleichlich häufiger als ,Simplicität' wurde für das geistliche Reden in Predigt und Liturgie .Popularität' gefordert. [...] Popularität ist sozusagen die Art und Weise, wie man den großen Haufen in religiöser Hinsicht belehren und erbauen soll." PT, S. 74. Zugleich ist es eine Bildungsaufgabe, das Sprachniveau der Masse zu heben. „Für die religiöse Volkssprache ist die Sprache unserer lutherischen Bibel die eigentliche Fundgrube." PT, S. 122. „Der Geistliche ist sich bestimmt seiner Fertigkeit bewußt, zu dieser hat er seine Zuhörer zu erheben. Volksmäßigkeit in Beziehung auf die religiöse Sprache ist also die Kenntniß desjenigen Sprachgebietes in welchem er in der Identität mit der Gemeine versiren kann. Dieses richtig zu kennen und keine fremden Elemente zu gebrauchen ist die wahre Popularität..." PT, S. 123. Zur Popularität der Predigt, vgl. PT, S. 287f. PT, S. 179. Vgl. W. Herbst, Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte (1992 2 ), S. 158ff. Parallelen gibt es etwa im Bemühen um Vereinfachung und Abwechslung, in der Kritik am rezitativen Gesang, an der Bibellesung und an der häufigen Wiederholung des Vaterunser. Vgl. auch „Einige Vorschläge zur Verbesserung des öffentlichen Gottesdienstes 1786 von Johann August Ephraim Goeze", ebd. S. 166ff. Bei J. G. C. Adler wird etwa das Kirchenlied auf seine psychologische Funktion reduziert,
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Gesamtliturgie. So blieb es bei Adler, Goeze u. a. bei gutgemeinten Ansätzen und Einzelvorschlägen zur Verbesserung der gottesdienstlichen Praxis. Gerade die an einem zufalligen Echo der Gemeinde ausgerichteten Ausstellungen Goezes zeigen, daß seine Maßnahmen mehr oder weniger willkürliche Symptombehandlungen waren, die aus der Verunsicherung infolge der fortschreitenden Säkularisierung resultierten, die aber einer gründlichen Diagnostik und einer darauf aufbauenden tragfahigen Gesamtkonzeption entbehrten.
2.3. Der Gottesdienst als Kunstwerk? 2.3.1. Schleiermachers Kunstbegriff in der Ästhetik 2.3.1.1. Die Kunsttätigkeit Im Sommersemester 1819 las Schleiermacher zum ersten Male Ästhetik.149 Diese Vorlesung ist unter Beiziehung von Nachschriften herausgegeben worden von Rudolf Odebrecht.150 Schleiermacher konstruiert seine Kunsttheorie ausgehend vom künstlerischen Subjekt, dem Menschen. Indem der Mensch sich seiner selbst, d. h. seiner „schlechthinnigen Abhängigkeit" bewußt wird, und diese Erfahrung seiner räumlich-zeitlichen Bedingtheit äußert, kann Kunst entstehen. Die Kunst ist freilich nicht die einzig mögliche Reflexion seiner „empirischen Subjektivität" (Lehnerer).151 Neben der Kunst stehen das Wissen und das Handeln. Während aber die Philosophie das Denken und die Ethik das Wollen reflektiert, reflektiert die Ästhetik das Fühlen und Wahrnehmen. „Was Kunst ist, ist gesagt, wenn deutlich ist, durch welche Vermögen und Handlungen sie zustande kommt." (Lehnerer).152
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das Gebet stellt eine nur grammatikalisch umgestellte Kurzpredigt dar. Beide Elemente haben keinen Eigenwert neben der Predigt. Diese Beobachtung macht auch A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes, S. 132: „Die Tendenz, das Liturgische unter dem Gesichtspunkt der Belehrung und der Aktualisierung selber zur Predigt, zum aktuellen Wort werden zu lassen, ist unverkennbar." Das Kolleg wurde 1825 und 1832/33 wiederholt. - Ich beschränke mich hier auf Schleiermachers in seiner Ästhetikvorlesung explizierte Kunsttheorie. Zur impliziten Kunstanschauung der Reden, vgl. Thomas Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers (1987), S. 339ff. Vgl. zurTextgestaltung dieser Ausgabe die Einleitung des Herausgebers, S. XXVIIIXXXV. Ich benutze bei Quellennachweisen das übliche Kürzel: ÄO. Außerdem beziehe ich mich auf die gründliche Untersuchung von Th. Lehnerer, Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, in der Lehnerer Schleiermachers Kunstbegriff untersucht und ihn in dessen System- und Wissenschaftstheorie einordnet. Th. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 93. Kunsttheorie, S. 95 Daher konstatiert Lehnerer mit Recht: „Keine Idee, keine spekulative oder empirirsche Gesellschaftstheorie bestimmt, was Kunst ihrem Begriffe nach ist, sondern die Psychologie, bzw. Anthropologie." ebd. Aus diesem Grund wird die Theologie erst nachträglich um ihren Kommentar gebeten, weil von ihr keine prinzipiell neuen Er-
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Mit der Ableitung der Kunst aus der Kunsttätigkeit - Lehnerer spricht von „Produktionsästhetik" - unterscheidet sich Schleiermachers Kunsttheorie von allen anderen Ästhetiken des deutschen Idealismus.153 Gründet die Kunsttheorie in der Anthropologie, dann gehören notwendigerweise die verschiedenen Umgangsweisen mit der Kunst: Produktion und Rezeption gleichberechtigt dazu. Tatsächlich sieht Schleiermacher in dem Gegensatz von Produktivität und Rezeptivität nur einen relativen Gegensatz und einen nur graduellen, nicht prinzipiellen Unterschied.154 „Die ästhetische Rezeption ist als die Funktion des ,Kunstsinns' der Struktur der Kunsttätigkeit eingegliedert und muß als solche wesentlich aus der Produktion begriffen werden." (Lehnerer)155 Da also Kunst eine genuin humane Tätigkeit beschreibt, und da Schleiermacher den Kunstsinn dem Kunstschaffen einordnet, kann jeder Mensch potentiell als Künstler betrachtet werden.156 Die Kunsttätigkeit beginnt im Augenblick emotionaler Erregung. Das in allen identisch gesetzte Gefühl kann sich unwillkürlich durch Ton und Gebärde äußern wie das Wissen durch die Sprache.157 Zu einem Kunstwerk wird es jedoch erst durch den künstlerischen Akt, den Schleiermacher als Akt der „Besonnenheit" bezeichnet, und den er bewußt vom spontanen Gefühl der „Begeisterung" absetzt. Erst in diesem zweiten Moment scheiden sich die Künste, und die individuelle Differenz - sowohl zwischen den Künsten als auch zwischen den Künstlern - wird wirksam. Schleiermacher unterscheidet also vom ersten Moment der Erregung oder Begeisterung das zweite Moment der Besonnenheit oder Urbildung - das ist die Erfindung oder der geistige Entwurf - und schließlich das dritte Moment der Ausführung, kurz: „erzeugende Stimmung, gestaltende Urbildung, darstellende Ausführung." 158 Obwohl die Erregung oder Begeisterung das notwendig erste Moment jeder Kunsttätigkeit darstellt, reicht es allein nicht aus, Kunst hervorzubringen, weil ihm Maß und Regel fehlt: „Wo die Regel fehlt, da fehlt das erste Zeichen der Kunst. Das Kunstlose aber ist ohne Maaß und Regel (Sprung in der Freude, Umherwüthen im Zorn, Schrei im Schreck usw.)"159 Im zweiten Moment teilen sich die Künste nach dem Grad der rationalen Vermittlung in den stärker vom Gefühl bestimmten, subjektiven (Mimik, Mukenntnisse über das Wesen der Kunst zu erwarten seien, da die Theologie (gemäß der Glaubenslehre und der theologischen Enzyklopädie) nur Berufswissen fur Kleriker zum Zwecke der Kirchenleitung enthalte. Daß dies nicht als Geringschätzung der Theologie gemeint ist, beweist Lehnerer im IV. Kapitel seines Buches: Religion und Kunst, in dem er die Kongruenz von Schleiermachers philosophischer und theologischer Kunstanschauung überzeugend nachweist. Vgl. Kunsttheorie, S. 338ff. 153 Vgl. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 97f. 154 ÄO, S. 4. 155 Kunsttheorie, S. 99. 156 Vgl. das bekannte Dictum: „Alle Menschen sind Künstler" aus: Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hrsg. Ed. Schweizer, Berlin 1835, S. 253f. 157 Vgl. ÄO, S. 29. 158 ÄO, S. 124. 159 ÄO, S. 30.
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sik) und den stärker von der Vorstellung bestimmten objektiven Kunsttyp (bildende und redende Künste). „Jene suchen den unmittelbaren, diese den mittelbaren Ausdruck." 160 In dieser zweiten Phase der Kunsttätigkeit wird nun auch die herkömmliche ästhetische Kategorie der Schönheit wieder eingeführt, die neben dem Gefühl die Gestalt des werdenden Kunstwerks im Einzelnen wie im Ganzen bestimmt.161 Die beiden Momente der Erregung und Darstellung müssen zeitlich getrennt sein, indem die Besinnung dazwischentritt, denn „Kunst fangt erst mit der Ruhe an."162 Das dritte Moment der Kunsttätigkeit ist schließlich die „darstellende Ausführung". 163 An dieses schließen sich die einzelnen technischen Theorien an, die selbst nicht mehr zur Ästhetik gehören. Dem zweiten und dritten Moment der Kunsttätigkeit zufolge, der individuellen Erfindung und Ausführung, findet in der Kunst im Gegensatz zum „identischen Erkennen" der Wissenschaft ein „eigentümliches Erkennen" statt. Während die Wissenschaft das Allgemeine identisch erkennt, d. h. nach einem allgemein anerkannten Konsens strebt, wird in der Kunst das Allgemeine individuell erkannt.164 Was ist der Gegenstand oder das Allgemeine? Schleiermacher bezeichnet als Gegenstand der Kunst: Gott, die Welt und das Selbst im subjektiven Bewußtsein des Künstlers.165 Zwar ist alle religiöse Kunst auf Gott gerichtet, doch „das Bild von Gott kann auf keine Weise unmittelbar bezeichnet werden", denn „es kann in der Kunst nur dargestellt werden, was die religiöse Stimmung in irgend einer Beziehung [...] zum Grunde hat, nie aber das religiöse Selbstbewußtsein an sich."166 So ist das religiöse Selbstbewußtsein als die Beziehung auf das Ewige oder als das Gefühl der unmittelbaren Abhängigkeit die Quelle der religiösen Kunst, und diese ist der Ausdruck der religiösen Stimmung.167 Mit der „Stimmung" haben wir einen Schlüsselbegriff der Schleiermacherschen Ästhetik. Unter Stimmung versteht Schleiermacher die Summe der einzelnen Affektionsmomente, aus denen Kunst entsteht. Kunstprodukte „gehn 160 161
ÄO, S. 53. Lehnerer sieht auch diese Kategorie im menschlichen Subjekt konstituiert, nämlich im Wohlgefallen am schönen Kunstwerk, dem sogenannten „Kunstsinn", vgl. Kunsttheorie, S. 104. Damit ist der Kunstsinn ein immanentes Moment der Kunsttheorie. 162 ÄO, S. 32. 163 ÄO, S. 124. 164 Das ist die Voraussetzung für die romantische Vorstellung von der freien Geniekunst, die sich allein der Tat des Künstlers verdankt, vgl. G. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie, Göttingen 1981, S. 143ff. 165 In der Musikästhetik des 18. Jahrhunderts war noch die Natur Gegenstand der musikalischen Darstellung gewesen, erst mit I. Kant rückte das Subjekt in den Mittelpunkt des Interesses, und nun wird Kunst „individuelle Selbsterkenntnis." vgl. G. Scholtz, Musikphilosophie, S. 62. 166 ÄO, S. 67f. 167 Und zwar die genuine Form der Äußerung, da die religiöse Stimmung nicht nur reflektiert, sondern eben dargestellt wird, vgl. ÄO, S. 71. „Denn die andere mögliche Form religiöser Darstellung, das Dogma, ist durch das dem Gefühl als solchem fremde objektive Bewußtsein; d. i. durch die Reflexion vermittelt." Lehnerer, Kunsttheorie, S. 348.
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nicht vom unmittelbaren Gefühl aus, sondern von der Stimmung, die aus dem Durchschnitt festgehaltener Affectionsmomente entsteht." „Jedes Gefühl ist ein unmittelbar Vergängliches, und so bringt es nur das Kunstlose hervor, das Kunstwerk nur, sofern es ein Gehaltenes, Permanentes ist, und das ist es nur durch das beständige Affiziert-sein-Wollen. Das Aneinanderhalten und Reihen ist die Stimmung." 168
Ausgedrückt werden also nicht einzelne, zufallige Gefühle, sondern eine permanente, überindividuelle Stimmung. Nur so kann Schleiermacher das öffentliche Interesse an Kunst erklären. Denn die Gemütsstimmung, aus der Kunst hervorgeht, ist das Allgemeine, dagegen erscheint die künstlerische Darstellung als das Einzelne, sowohl in Bezug auf eine bestimmte Einzelkunst als auch in Bezug auf jede individuelle Darstellung.169 Indem sich nun sowohl die auf Gott bezogene religiöse, als auch die auf die Welt bezogene gesellige Stimmung künstlerisch äußern will, bildet sich folgende Stilduplizität: „Wo die Richtung auf das Allgemeine dominiert, ist der religiöse, heilige Stil. Wo die Richtung auf das Einzelne, [...] die gesellige Kunst." 170 Die Prinzipien des religiösen Stils, die sich in den Kategorien der „Simplizität und Keuschheit" bündeln, wobei die Simplizität auf die Erfindung, die Keuschheit auf die Darbietung bezogen ist, werden in der PT erörtert.171 Die Stiltypologie darf allerdings nicht vorschnell auf die künstlerischen Genera übertragen werden, denn es handelt sich um Spannungsmomente, deren aktuales Verhältnis variiert. Die je dominierende Richtung entscheidet erst über die Zuordnung eines Kunstwerks. In der „hohen" oder religiösen Kunst dominiert die Einheit, in der geselligen Kunst die Vielheit und Einzelheit. Das generelle Vorhandensein des Einzelnen offenbart ein Wesensmerkmal aller Kunst: Kunst ist wesenhaft freies Spiel und damit ein Symbol der Freiheit.172 Sobald Kunst verzweckt, instrumentalisiert wird, hört sie auf, Kunst zu sein.173 Darum 168 169
ÄO, S. 52. Vgl. ÄO, S. 79. Das ist auch der Grund, warum sich das historisch und psychologisch Einzelne in Schleiermachers Identitätsphilosophie nicht durchsetzen kann. Hier verrät sich der Mangel einer philosophischen Methode, die das Momentane, historisch-individuelle aus der Ästhetik ausschließt. Das psychologisch Einzelne wird durch die Verallgemeinerung des individuellen Gefühls in eine überindividuelle Stimmung nivelliert. 170 ÄO, S. 69. Hier ist der „gesellige Stil" gemeint. Mit seiner Lehre von der Stilduplizität greift Schleiermacher wahrscheinlich auf ältere Traditionen zurück, versucht nun aber eine historische Begründung zu geben, indem er den geselligen Stil vom antiken Polytheismus herleitet, für den die Idee der Welt dominierend war, während er den heiligen Stil im christlichen Monotheismus gegründet sieht, vgl. ÄO, S. 121f. 171 Vgl. PT, S. 92ff. Und s. o. 2.2.3. 172 Vgl. ÄO, S. 77: „Die Kunst beweist daher ihre Freiheit durch die spielende und losere Seite, und ihre innere Nothwendigkeit durch die symbolische und höhere." Habe ich Schleiermacher richtig verstanden, dann beschreibt die Stilduplizität über den konkreten stilistischen Charakter hinaus die wesensmäßige Spannung aller Kunst zwischen ihrer symbolischen und ihrer spielerischen Seite. 173 Hierin kritisiert Schleiermacher sogar Piaton, vgl. ÄO, S. 77.
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urteilt Schleiermacher mit einem Seitenhieb auf die pädagogische Vereinnahmung der Kunst durch die Aufklärung: „Der Mensch soll durch die Kunst nicht anders werden, es wird durch sie kein Gegensatz vermittelt, kein Zweck erreicht [...] Die Kunst ist also durchaus nur die Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, und eben deshalb ist sie ein Spiel im Gegensatz gegen die Geschäfte des Menschen."174 Diese Beschäftigung mit sich selbst bringt dem Menschen seine Freiheit zum Bewußtsein. Aber erst im Bewußtsein der Freiheit kann der Mensch zu einem „unabhängigen permanenten Bewußtsein des Göttlichen in sich selbst kommen." So ist die Kunst ein - freilich unabsichtliches - Hilfsmittel bei der Bildung des religiösen Bewußtseins, und es gilt für die religiöse Kunst gleichermaßen, „daß sie nothwendig auch Spiel sein muß."175 Wird im Ersten Teil, dem allgemein-spekulativen, die Kunst aus der menschlichen Kunsttätigkeit hergeleitet, so bringt der Zweite Teil die Systematik der Einzelkünste, wobei Schleiermacher drei Abteilungen bildet: Die begleitenden Künste (Mimik und Musik), die bildenden Künste und die redenden Künste. Daß die Musik unter den begleitenden Künsten figuriert, ist weder selbstverständlich noch unproblematisch. 2.3.1.2. Zum Problem von Schleiermachers Musikästhetik An Schleiermachers Kunsttheorie richtet sich nun bezüglich der Musik die Frage: Ist die um 1800 aufstrebende Instrumentalmusik angemessen gewürdigt und wie hat Schleiermacher die Musik als Ausdruckskunst verstanden?176 Von der Betonung der wesenhaft spielerischen Seite jeder Kunst aus sollte sich ein Interesse an der Musik, gerade auch an der instrumentalen Musik bekunden, da sie das zweckfreie Spiel am deutlichsten zur Geltung bringt. Bereits in seinen romantischen Frühschriften (Die Reden, 1799; Die Weihnachtsfeier, 1806) hatte Schleiermacher die impliziten theoretischen Voraussetzungen für die Anerkennung auch der wortlosen Musik als Ausdruckskunst geschaffen, indem er ihre Fähigkeit hervorgehoben hatte, das Unsagbare zu artikulieren.177 174 175
ÄO, S. 81. ÄO, S. 83. Schleiermacher räumt an dieser Stelle ausdrücklich allen Kunstwerken dieselbe Dignität ein, sie bemesse sich lediglich an ihrer formalen Vollkommenheit. 176 Ich greife die Musik heraus, weil sie im liturgischen Zusammenhang eine wesentliche Rolle spielt, und weil an ihr die spezifischen Probleme der Schleiermacherschen Ästhetik exemplarisch sichtbar werden. - Auf die etwaige Entwicklung von Schleiermachers musikphilosphischem Denken zwischen 1799 (Die Reden) und 1831 (Akademierede „Über den Umfang des Begriffs der Kunst") kann ich hier nicht eingehen, vgl. dazu G. Scholtz, Schleiermachers Musikphilosophie (1981). 177 Vgl. die vierte Rede: „So wie eine solche Rede Musik ist auch ohne Gesang und Ton, so ist auch eine Musik unter den Heiligen, die zur Rede wird ohne Worte, zum bestimmtesten, verständlichsten Ausdruck des Innersten. Die Muse der Harmonie, deren vertrautes Verhältnis zur Religion noch zu den Mysterien gehört, hat von jeher die prächtigsten und vollendendsten Werke ihrer geweihtesten Schüler dieser auf ihren Altären dargebracht. In heiligen Hymnen und Chören, denen die Worte der Dichter nur lose und luftig anhängen,
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In der Ästhetik (1819) begründet er Kunst und Musik theologisch als Symbol der Freiheit, wodurch die zweck-loseste aller Künste, die sogenannte selbständige Musik, ihre Legitimation erhält. Er weist den Pythagoreismus und damit auch die Frage nach dem Wesen der Musik ab mit dem Hinweis auf die Geschichtlichkeit ihrer Gestalten.178 Hier ist eine prinzipielle Stil- und Gattungsoffenheit angelegt. Schließlich verteidigt er sogar die Isolation der einzelnen Künste als den Geist der modernen christlichen Epoche, in der nicht die Idee der Welt, sondern die Idee Gottes Kunst und Künstler inspiriert.179 Dabei sei die Musik in besonderer Weise einer Annäherung an das Unendliche fähig, worin sie den Typus der modernen Kunst insgesamt repräsentiere.180 „Die Musik ist schon an und für sich etwas Unendliches, so hat sie nur Sinn in Beziehung auf die Gottheit."181
wird ausgehaucht was die bestimmte Rede nicht mehr fassen kann, und so unterstützen sich und wechseln die Töne des Gedankens und der Empfindung, bis alles gesättigt ist und voll des Heiligen und Unendlichen." KGA 1/2, S. 269f. Und in der Weihnachtsfeier (1806) schildert Schleiermacher, wie der Ton an das Wort gebunden ist, auch wenn das Wort nicht ausgesprochen wird, so „daß die Kirchenmusik nicht des Gesanges, wol aber der bestimmten Worte entbehren könnte. Ein Miserere, ein Gloria, ein Requiem, wozu sollen ihm die einzelnen Worte? Es ist verständlich genug durch seinen Charakter [...] ja niemand wird sagen es sei ihm etwas großes entgangen, wenn er die untergelegten Worte auch gar nicht vernommen hat. [...] Darum müssen beide fest an einander halten, Christenthum und Musik, weil beide einander verklären und erheben." Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, KGA 1/5, S. 64. Beide Stellen belegen freilich die innere Bindung der wortlosen Musik an das Wort und zwar an das religiöse Wort, vgl. zur immanenten Verbindung von Musik und Religion in den Frühschriften G. Scholtz, Musikphilosophie, S. 4 5 ff. 178 Musikalische Moden werden von Schleiermacher mit Hörgewohnheiten erklärt. Anders als z.B. Hegel legt sich Schleiermacher in der Ästhetik nicht auf das Dur/Moll-System als naturgegeben fest, vgl. auch G. Scholtz, Musikphilosophie, S. 113f. 179 Der Gedanke, daß die Idee Gottes im Bewußtsein adäquater durch die isolierte Kunst zur Anschauung gebracht wird als durch eine zusammengesetzte begleitende, ist geradezu eine theologische Aufforderung zur absoluten Musik. - Schleiermacher konnte damals noch nicht wissen, daß die metaphysische Überhöhung der Instrumentalmusik, die die Musikästhetiker der Romantik vornahmen, die Beethovens Symphonien zu bestätigen schien, und die auch später insbesondere von Eduard Hanslick in Wien weitergeführt wurde, durch die symphonische Dichtung Berlioz' und Liszts und vor allem später durch Richard Wagners Bemühen um ein Gesamtkunstwerk heftig angefochten wurde. 180 Vgl. ÄO, S. 145: „Der ganze Typus der modernen Kunst ist musikalisch, subjektiv ..." Die ästhetisch-geschichtsphilosophischen Dichotomien von musikalisch-plastisch, subjektiv-objektiv, christlich-antik u. ä. finden sich bereits bei E. T. A. Hoffmann, vgl. C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik (1978), S. 47ff. 181 ÄO, S. 142. Die „Musikästhetiker" der Romantik sahen in der absoluten Musik die Vollendung der Religion, vgl. etwa Wilhelm Heinrich Wackenroders Künstlererzählung „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger", in ders.: „Die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", 1797 hrsg. von Ludwig Tieck, Leipzig 1981, S. 93-108. - E. T. A Hoffmann war dann der Erste, der diese spekulative Position mit seiner berühmten Rezension der 5. Symphonie von Beethoven empirisch verifizierte. In Beethovens Symphonie war die Idee der absoluten Musik Erfahrung geworden, vgl. C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik (1978), S. 38 u. ö.
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Doch explizit hat Schleiermacher nicht die Konsequenz gezogen, daß auch die Instrumentalmusik ein Ausdrucksmittel und selbständiges „Organ der Religiosität" werden könnte, sondern er hat die Musik als eine wesenhaft dienende Kunst bezeichnet und ihr in seinem System einen Platz unter den „begleitenden Künsten" zugewiesen und dies mit dem System der Künste begründet: Da die Kunsttätigkeit eine ist, ziehen sich ihre Zweige an.182 Woher diese „bezeichnende Inkonsequenz"?183 Was hat Schleiermacher veranlaßt, die Musik in der ihr eigentümlichen Freiheit und Selbständigkeit zu begrenzen? Schleiermacher steht unter Systemzwang, da er die beiden Pole, die subjektive Kunst (Mimik und Musik) und die objektive Kunst (bildende und redende Künste) unter den Begriff der Kunsttätigkeit subsumiert. Die bildenden Künste aber bedrohen das Ausdrucksprinzip, denn ihr Impuls liegt in der gegenständlichen Vorstellung und nicht in der Mitteilung des Gefühls. Da Schleiermacher nun ohnehin einem schwärmerisch-romantischen Subjektivismus in der Kunst gegensteuert, schränkt er die absolute Subjektivität der Musik durch ihre Anbindung an das Wort (Begleitende Kunst) teilweise wieder ein. Auch Schleiermacher sieht, daß die Musik von ihrem Wesen her die Ausdruckskunst par excellence ist184, weil sie unter allen Künsten das individuelle Bewußtsein am unmittelbarsten zum Ausdruck bringt. Doch obwohl die Musik im unmittelbaren Gefühl gründet, wird sie hier zum Ausdrucksmittel einer existenzenthobenen Individualität verobjektiviert und spricht aus, was allgemeine Bedeutung hat. Dieser m. E. sachfremden Objektivierungstendenz kommt ein allgemeines kunsttheoretisches Axiom Schleiermachers zu Hilfe: Kunst reproduziert nicht die Wirklichkeit, sondern ein Ideal, also das, was „ein Ding seiner Natur nach werden will, was [es] aber in der Wirklichkeit nie werden kann."185 Im Gegensatz zur Natur, die mangelhaftes Sein ist, stellt das Kunstwerk ein „mangelloses Sein" dar. Kunst ist also nicht nur Verobjektivierung, sondern auch Idealisierung der Wirklichkeit und Unterdrückung der Natur, deren Wesen in Zeitlichkeit und Vergänglichkeit besteht. Schleiermacher charakterisiert seinen ästhetischen Idealismus an einem Beispiel, das auch auf andere Künste übertragbar ist: „Vom Portrait anfangend ist dieses nur ein Kunstwerk, wenn der Mensch in keinem wirklichen Moment dargestellt wird und wenn er in unserem Sinn idealisirt ist. Die Porträtmalerei soll den Menschen nicht in einem einzigen Moment einer vorübergehenden Erregung darstellen; das hält man immer für maniriert. Sondern der Mensch soll in seinem inneren Wesen ergriffen sein, wie es zugrunde liegt, wenn es auch vielleicht nie so erscheint."
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Vgl. ÄO, S. 152 u. ö. In der Systematik der Einzelkünste erscheint die Musik zusammen mit der Mimik als begleitende Kunst. Doch Schleiermacher weiß es selbst: „Bei uns Musik als große Kunst allein." ÄO, S. 140. G. Scholtz, Musikphilosophie, S. 126. Vgl. z.B. ÄO, S. 52: Musik entlehnt ihren Ausdruck „von dem Unmittelbaren des Gefühls", die bildende Kunst nur von der mehr objektivierten Vorstellung. ÄO, S. 98.
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Und verallgemeinert: „Je mehr hier das Wirkliche im Einzelnen die Oberhand hat, desto mehr verschwindet das Kunstwerk, es wird eine Beilage zur Geschichte. Denn wenn bei einem großen Bilde auch ein einziger Teil noch idealisiert ist, so verträgt sich das nicht mit dem Ganzen. Historische Malerei und Dichtkunst werden also immer etwas Halbes bleiben, wenn sie zu sehr am Wirklichen versieren. Das Vollkommene schließt sich in bestimmte Kreise ein, die schon durch sich selbst etwas Idealisiertes sind." 186
Hier manifestiert sich ein generelles Problem: Schleiermachers „ästhetischer Idealismus" hindert ihn daran, die Wirklichkeit in ihrer Fragmenthaftigkeit ernstzunehmen und ihre Wahrnehmung durch die Kunst zuzulassen. Stattdessen dekretiert Schleiermacher das Ideal des Idealen: „Die Vollkommenheit der Kunst besteht darin, daß alle ihre Elemente den Charakter des Idealen an sich tragen."187 Damit stellt sich Schleiermacher in schroffen Gegensatz zur Nachahmungsästhetik des 18. Jahrhunderts. Nicht die Natur ist Urbild der Kunst, sondern im platonischen Sinne ist die Kunst Urbild einer unvollkommenen Natur und so „Ergänzung der Wirklichkeit."188 Indem die Kunst den reinen Typus darstellen soll, der von den Zufälligkeiten des Lebens und der Natur unbehelligt ist, werden die natürlichen Grenzen, insbesondere die der Zeitlichkeit übersprungen.189 Diese problematische künstlerische Idealisierung gründet in Schleiermachers ästhetischer Konzeption. Der räumlich und zeitlich begrenzte Mensch will durch Kunsttätigkeit sein subjektives Bewußtsein vergegenständlichen. Dieses subjektive Bewußtsein ist aber bestimmt durch die Identität der Person im Ablauf der Zeit. So kann sich die „empirische Subjektivität" (Th. Lehnerer) nur darstellen, indem der Einzelmoment, das Einzelgefiihl im Allgemeingefuhl der „schlechthinnigen Abhängigkeit" aufgehoben, somit idealisiert wird. Hier zeigt sich, daß Schleiermachers ästhetischer „Idealismus" abhängig ist von seiner Theologie, die Religion als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" beschreibt. Dieses theologische Paradigma versagt es der Musik, sich als individuelles Ausdrucksmittel des religiösen Bewußtseins, d.h. als Organ des endlichen und sündhaften Menschen in seiner Beziehung zu Gott, zu profilieren. Denn für Schleiermacher ist der gläubige Mensch, der seine Existenz hinter sich zurückläßt, umfangen von der Gemeinschaft derer, die am vollkräftigen 186 187 188 189
ÄO, S. 107. ÄO, S. 97. ÄO, S. 98. Den fälligen Protest gegen die Idealisierung der Wirklichkeit brachte Arthur Schopenhauer in seinem Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung" (1819) zum Ausdruck. Auch fur ihn ist die Musik metaphysisch ausgezeichnet, jedoch nicht als Prinzip des Geistes, sondern weil sie „unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt." (Zitiert nach C. Dahlhaus/M. Zimmermann, Musik zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte, S. 169) Deshalb kann allein die ästhetische Kontemplation, besonders als Musikgenuß, aus dem durch den Willen zum Leben verursachten Leidzusammenhang befreien, ein Verständnis von Musik, das sich später bekanntlich Richard Wagner zu eigen machte.
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2. D e r Festgottesdienst in der liturgischen Theorie
Gottesbewußtsein Jesu partizipieren, beseelt von einem stetig wachsenden Gottesbewußtsein. Von daher ist eine Musik, die bewußt auf das Göttliche in der menschlichen Erfahrung bezogen sein will, inhaltlich determiniert und damit stilistisch fixiert.190 So wirkt nicht nur die inhaltliche Bestimmung der Musik wirklichkeitsfremd, sondern auch ihre formale Anordnung im System der Künste. Dabei tritt eine Diskrepanz zwischen der Stellung der Musik in Schleiermachers System und ihrer Stellung im faktischen Kulturleben zu Tage. Während die Musik in Schleiermachers Ästhetik unter den begleitenden Künsten firmiert, gewinnt die „absolute Musik" Anfang des 19. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung.191 Indem Schleiermacher dieser Entwicklung durch die Theorie von der zunehmenden Isolierung der Einzelkünste Rechnung trägt, sprengt er selbst sein System, das auf der Polarität der begleitenden und bildenden Künste aufbaut.192 An dieser Systemstörung durch die Musik wird ein Charakteristikum der Schleiermacherschen Ästhetik und ein weiteres Problem, das auch seine Liturgik kennzeichnet, deutlich: Es ist die Wortfixiertheit und betonte Rationalität seiner Kunstanschauung, die weder dem Wesen der absoluten Musik noch der emotionalen Erlebnisdimension von Musik überhaupt gerecht wird. Im Zusammenhang der Frage nach einer Typologie der Künste diskutiert Schleiermacher mehrere Einteilungsvorschläge, u.a. die Gliederung nach dem rezipierenden Organ, um diese dann mit der signifikanten Begründung zu verwerfen: „keine andere Kunst kann mit irgend einem Sinn allein gefaßt werden, sondern immer ihr symbolischer Gehalt nur mit dem Verstand."193 Dieser intellektualistische
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Schleiermacher und seinen Zeitgenossen schien die in sich ruhende, statische, als akkordische Musik gehörte Vokalpolyphonie Palestrinas alle Voraussetzungen des heiligen Stils zu erfüllen. Obwohl der Name Palestrinas nirgends fällt, klingen seine Messen an, wenn es heißt: „Der Charakter des Kirchenstyls ist Einfachheit und Klarheit." Er ist „an die strengsten Geseze des Rhythmus, der Melodie und Harmonie gewiesen [...] Außer der Einfachheit soll im Kirchenstil [...] die größte Bedeutsamkeit herrschen. [...] Der Kirchenstil bedarf überall der Worte, um die Klarheit auch im Einzelnen zu erhalten ..." ÄO, S. 189. Zur Frage der praktischen Palestrinarezeption s. u. Exkurs I. 3. - Zur romantischen Palestrinarezeption vgl. auch Ε. T. A. Hoffmanns Aufsatz „Alte und neue Kirchenmusik", in: AMZ 16/1814. 191 Vgl. dazu C. Dahlhaus, Instrumentalmusik und Kunstreligion, in: Die Idee der absoluten Musik, S. 91-104. 192 Es ist ein Selbstwiderspruch, wenn Schleiermacher dem Gang der Musikgeschichte folgend der „selbständigen Musik" innerhalb der „begleitenden Kunst" einen eigenen Abschnitt widmet, vgl. ÄO, S. 195ff. 193 ÄO, S. 131. Hier stimmt Schleiermacher mit Hegel überein. Auch für Hegel manifestiert sich der Geist im Wort. Deshalb bedeutet ihm der Rückgang in die Innerlichkeit zwar eine Loslösung und Selbstverwirklichung der Musik, zugleich droht dieser aber eine Entleerung und Formalisierung durch ideellen Substanzverlust. Zieht sich die Musik in sich selbst zurück, bleibt sie leer und bedeutungslos und ist - „da ihr die eine Hauptseite aller Kunst, der geistige Inhalt und Ausdruck abgeht - noch nicht eigentlich zur Kunst zu rechnen." G. W. F. Hegel, Ästhetik, Berlin 1955, S. 817. - Auch J. G. Herder sah den Ursprung der Musik in der Sprache, vgl. dazu C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, S. 8 Iff.
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Rezeptionsbegriff wurzelt in Schleiermachers kognitiv bestimmtem Kunstbegriff als „eigentümliches Erkennen".194 Das von der Musik begleitete Wort muß freilich kein λόγος im johanneischen Sinne sein, da es primär eine semantische Kategorie darstellt. Darum ist Schleiermachers Ästhetik in diesem Punkt gegen den Vorwurf einer gezielten religiösen Vereinnahmung der Musik zu verteidigen.195 Doch sie leistet dieser Vorschub. Zwar kommt die Unterscheidung der Genera (begleitende und selbständige Musik) mit der Unterscheidung der Stilduplizität (Kirchen- und Kammerstil) nicht zur Deckung, da Schleiermacher zur begleitenden Musik auch die Tanz-Musik und zum Kammerstil die Oper zählt, aber Schleiermacher bevorzugt den Kirchenstil eben doch wegen seiner hermeneutischen Qualität: weil ihn die höchste Einfachheit und „größte Bedeutsamkeit" auszeichnet, „um die Klarheit auch im Einzelnen zu erhalten".196 Und letztere wird nur durch das Wort erreicht. Die ästhetischen Prinzipien Einfachheit, Klarheit, Eindeutigkeit sind bereits aus der Liturgik bekannt, sie indizieren den Anspruch der Kunst auf „symbolischen Gehalt". 2.3.2. Der Gottesdienst als Kunstwerk. Zum Verhältnis von Kultus und Kunst Der Durchgang durch die Liturgik und Ästhetik hat auf Berührungen von Kultus und Kunst aufmerksam gemacht, die sich als Analogien und als Beziehungen darstellen. Zunächst die Analogien: Wie die Kunst so wird auch der Kultus „ethisch" hergeleitet als eine primär humane Tätigkeit197, als ein „darstellendes Handeln", das das Selbstbewußtsein zur Darstellung bringt. Diese Darstellung, sofern sie „mitteilende Darstellung" ist, erfordert Produzenten und Rezipienten, entsprechend dem Künstler und seinem Publikum, wobei speziell im evangelischen Gottesdienst beide Rollen nicht starr verteilt sind, sondern wechseln. Auch in der Kunst ist der scheinbar passive Rezipient „künstlerisch" tätig: indem er sich rezeptiv verhält, betätigt er sei194
Schleiermachers Beschränkung auf die wortbegleitete Kirchenmusik empfindet auch Martina Kumlehn, Symbolisierendes Handeln (1999), S. 106 als „überaus problematisch". 195 Diesen Vorwurf erhebt G. Scholtz, Musikphilophie, S. 138: „Eine autonome ästhetische Sphäre wird von Schleiermacher auch 1819 noch nicht anerkannt." Doch mit der Aufnahme der „selbständigen Musik" signalisiert Schleiermacher jedenfalls die Bereitschaft, sich mit deren Autonomiestreben auseinanderzusetzen. 196 Die unterscheidenden Stilkriterien beschreibt Schleiermacher wie folgt: „Das Charakteristikum des Kirchenstyls ist Einfachheit und Klarheit. Der Kammerstil ist auf die Fülle im Gleichzeitigen und Wechsel gewiesen.", ÄO, S. 189. - Von dem romantischen Musikideal, das aus dem dichterischen „Unsagbarkeitstopos" (Dahlhaus) hervorgangen ist, hat sich Schleiermacher in der Ästhetik distanziert, vgl. ÄO, S. 196f. Daß Religion „durch Musik chiffriert" werden könne und so „eine Sprache über der Sprache" sei (Dahlhaus, Idee, S. 89), hätte der reife und „kirchliche" Schleiermacher nicht mehr gelten lassen. 197 Zur theologischen Problematik des Gottesdienstes zwischen Wort und Antwort Gottes bei Schleiermacher, vgl. H.-C. Schmidt-Lauber, in: Handbuch der Liturgik (1995), S. 22.
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nen „Kunstsinn" und ist ebenso wie der Produzent konstitutiv für die Darstellung.198 Dieser kommunikative Wesensaspekt der Darstellung beinhaltet aber keinen fremden Zweck im Sinne einer Wirkabsicht. Wie die Kunst Darstellung des Schönen und freies Spiel ist, so will auch der Kultus nur Darstellung des religiösen Bewußtseins sein, beide Darstellungen geschehen ohne „praktischen", d. h. ohne pädagogischen Zweck.199 Kunst und Kultus geschehen zwecklos, doch nicht sinnlos. Ihr Sinn besteht darin, daß sie ein spezifisches Bewußtsein zum Ausdruck bringen. Schleiermacher spricht bei der Wissenschaft vom „identischen Erkennen", bei der Kunst vom „spezifischen Erkennen". Bei der Religion geht es um den Ausdruck des religiösen Gefühls, wobei der Kultus beides bietet: dem mehr allgemeinen und dem mehr individuellen religiösen Empfinden Ausdruck zu geben. Die anthropologische Begründung der Kunsttheorie setzt eine transzendentale Einheit aller Künste voraus. Obwohl Schleiermacher wie gesehen für seine Gegenwart ein Autonomiestreben der Einzelkünste konstatiert, widersetzt sich sein System dieser Tendenz: „So ist in dieser Einteilung schon ein Bestreben aller Kunst nach Zusammensein angelegt."200 Praktisch zeigt sich diese Einheit in der Verbindung einzelner Künste und total „in einem alle Zweige vereinenden Festleben."201 Während diese Synthese in der Kunsttheorie nicht expliziert wird, findet das Zusammenspiel verschiedener Künste und Kunsttypen in der Theorie vom Gottesdienst tatsächlich statt: Je festlicher er ist, desto kunstvoller und kunsthaltiger muß er sein, denn im Festgottesdienst „wird diejenige Darstellung ihren Ort haben, die ein Kunstganzes ist."202 Aber bereits in einer kleinen liturgischen Form vereinen sich die Künste: die Verbindung von Poesie und Musik im Kirchenlied ist keinem Gottesdienst entbehrlich. Doch jedes Kunstwerk für sich bildet ein Ganzes, das aus Einzelnem besteht. Und die Mannigfaltigkeit in einem Kunstwerk verlangt nach Organik: „Es muß daher ein Organisches sein. Wo dies stattfindet, da haben wir im Einzelnen das Ganze; es ist das Ganze im Einzelnen mitgesetzt. Aus diesen beiden besteht also die wesentliche Vollkommenheit des Kunstwerkes: 1. daß es Totalität in sich sei, 2. daß es in organischem Verhältnis zur Totalität seines Kunstgebietes stehe. Beides bewirkt dasselbe, das Kunstwerk in sich abzuschließen."203 In der Liturgik wird diese Forderung ebenfalls erhoben und erfüllt: durch die Konsistenz und Konsonanz eines Gottesdienstes nach innen sowie durch die Zugehörigkeit zu einem Zyklus (Jahresfestkreis) nach außen. 198 199 200 201 202 203
Auch Lehnerer, Kunsttheorie (1987), S. 362, sieht die Analogie von Künstler-Publikum und Klerus-Laien. Zur „Zwecklosigkeit" der Kunst vgl. ÄO, S. 81 und s. ο. 2.3.1.1.; zur „Zwecklosigkeit" des Kultus vgl. PT, S. 70ff. ÄO, S. 139. ÄO, S. 58. ChS, S. 547. ÄO, S. 110.
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Im Kirchenjahr unterscheidet Schleiermacher je nach Erregungsmoment und Darstellungstyp gewöhnliche Sonntage und Festtage. Analog zu diesem Gegensatz von unbedingter und bedingter Darstellung kennt auch die Ästhetik die Unterscheidung des Gelegenheitswerkes von dem „eigentlich freien Kunstwerk" 204 Die Erregung ist die notwendig erste Stufe des Kunstbildungsprozesses. Auch die weiteren Entstehungsphasen des Kunstwerkes nach der Erregung: Besinnung oder Erfindung und Ausführung weist der Kultus auf: Die Erregung geht beim „Produzenten" vom religiösen Bewußtsein, bei den „Rezipienten" vom Festgeschehen aus. Die Momente der Besinnung und Ausführung begegnen im Gottesdienst notwendig dort, wo Künste zur Anwendung kommen. Vor allem aber die Besinnung und Konzeption des Ganzen - als dem organischen Zusammenhang der Einzelelemente - ist dem Liturgen aufgegeben. Im Moment der Besinnung wird das subjektive Gefühl künstlerisch verobjektiviert. Auch der Kultus weist das von Schleiermacher geforderte Doppelmerkmal des Kunstwerkes auf: Er teilt Gefühl - hier das religiöse Gefühl - mit und stellt es dar, und er ist im Ganzen (Komposition) wie im Einzelnen (liturgische Elemente) an den Kriterien der Schönheit und Vollkommenheit orientiert. Hier greifen die von Schleiermacher postulierten Prinzipien des religiösen Stils. Schließlich: Wie die Kunst erst spekulativ und dann empirisch betrachtet wird, erst als notwendige, dann als faktische menschliche Hervorbringung205, so wird auch der Kultus zuerst aus der Frömmigkeit des Menschen abgeleitet und dann in seinen faktischen Bestandteilen näher untersucht.206 D. h. die Theorie der Kunst und die Theorie des Kultus werden analog dargestellt, eine Strukturparallele, die sich aus der Sachparallele: der anthropologischen Verfaßtheit beider, ergibt. Wenn nun der Kultus ganz ähnliche Entstehungs- und Wesensmerkmale wie das Kunstwerk aufweist, und wenn der Liturg gleichsam als Künstler handelt, muß man dann nicht vom Gottesdienst als einem kultischen Kunstwerk sprechen? Auch Lehnerer beobachtet: „Der kollektive Vollzug von Religion bedient sich nämlich nicht nur der Kunst, er muß selbst als Kunst bestimmt werden."207 Doch inwiefern? Auf die faktische Inanspruchnahme der Künste durch den Kultus sei hier nur pauschal hingewiesen.208 204
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Vgl. ÄO, S. 126f. Dabei darf das Gelegenheitswerk nicht herabgesetzt werden, da es von dem speziellen Bedarf zeugt und somit auf die wesentliche Polarität von Spontaneität und Rezeptivität verweist. Im ersten Teil der Ästhetik versucht Schleiermacher, „das Ganze in ein System zu bringen, und [...] die verschiedenen Kunstzweige aus der Einheit der Kunst zu konstruieren." ÄO, S. 21. Vgl. den Aufriß der PT. - Volp weist zu Recht daraufhin, daß Schleiermacher beide Seiten berücksichtigt und weder dem reinen spekulativen Idealismus, noch dem reinen Empirismus verfällt, vgl. R. Volp, Liturgik 2 (1994), S. 795. Th. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 338. Vgl. dazu besonders PT, S. 108ff. und Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 35ff.
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An dieser Stelle interessiert vor allem die Bedingung der Möglichkeit und der Modus der Beziehung von Religion und Kunst. Wie die Kunsttheorie kennt die Liturgik die Unterscheidung bzw. Abstufung von Begeisterung und Besonnenheit, d. h., daß die unmittelbare emotionale Empfindung zwar wesentliche Voraussetzung jeder religiösen bzw. künstlerischen Äußerung ist, daß sie aber in einem Akt der Besonnenheit erst gestaltet werden muß, um mitteilbar und darstellbar, d. h. kommunizierbar zu sein. Kunst und Religion setzen gleichermaßen die Gemeinschaft der „Mit-Fühlenden" voraus. In diesem Akt der Besonnenheit, der einen der drei wesentlichen Schritte der Kunsttätigkeit darstellt, muß die religiöse Darstellung sich notwendig künstlerischer Mittel bedienen, denn die Besinnung ist „ein inneres Bewegen vor der Äußerung"209, eine Beruhigung der Leidenschaft, d. h.: die Religion braucht die Kunst zur Formung ihrer Äußerung. Schleiermacher bringt es auf die Formel: „Kunst die Form, Religion der Stoff." 210 Die Verbindung von Religion und Kunst ist somit keine beliebige, sondern eine notwendige, wo Religiosität aus sich heraustritt und sich zur Darstellung und Mitteilung erhebt. Ist also die Liturgik eine Kunst und der Gottesdienst ein Kunstwerk, in dem Kunst die Form und Religion der Stoff ist? An dieser Stelle macht sich eine differenzierende Erläuterung in Bezug auf Schleiermachers Kunstbegriff erforderlich. Neben den in der Ästhetik systematisierten „schönen Künsten" spricht Schleiermacher auch von einem „uneigentlichen Kunstgebiet"211, das solche Handlungen umfaßt, in denen der Mensch nach den Regeln von Maß und Ordnung zwar gestaltend tätig ist, die aber auf einen anderen Zweck abzielen und nicht ausschließlich Kunst sein wollen. Weil die Kategorisierung in ein eigentliches und ein uneigentliches Kunstgebiet schwerfallt, legt Thomas Lehnerer eine eigene, auf dem Schleiermacherschen Gesamtsystem basierende, Interpretationshypothese vor, in der er vier Erscheinungsformen „uneigentlicher Kunst" ausmacht, worunter auch die „Vollkommenheit" zählt.212 In diese Kategorie fallen neben wissenschaftlichen- und Gesetzeswerken auch Volksfeste und die „Versammlung der Frommen" 213 , von denen Schleiermacher bekennt: „Und werden wir nicht dasselbe [wie beim Volksfest] zugeben müssen von den Versammlungen der frommen, wenn sich erhabener Gesang und würdige Rede, bedeutsame Handlungen und ausdrukksvolle Bewegungen zu einem ergreifenden ganzen bilden, daß auch dieses, nicht nur in dem Maaß als jeder der einzelnen Theile kunstgerecht ist, sondern auch fur sich als Einheit dieser Theile ein Kunstwerk sei?" 214
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ÄO, S. 31. PT (Beilage B, 1828), S. 789. Vgl.ÄO, S. 15ff. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 106ff., besonders S. 108f. Lehnerer stützt sich dabei insbesondere auf Schleiermachers Akademierede vom 11.8.1831: Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst in Bezug auf die Theorie derselben, in: SWIII/3, S. 181-198. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 108. Akademierede, S. 187.
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Lehnerer zieht daraus den Schluß, daß Schleiermacher den Gottesdienst dem uneigentlichen Kunstgebiet zuordne, weil dieser „einen anderen Zweck besitze[n]."215 Tatsächlich sieht Schleiermacher den Zweck des Gottesdienstes nicht im Kunstgenuß, sondern in der Erbauung.216 Doch andere Gedankengänge treten hinzu: Schleiermacher fragt: „Warum sollen wir den Ausdrukk auf das beschränken, was der einzelne hervorbringt, und was eine bestimmte Einheit in sich selbst hat?"217 Der Gottesdienst als „Gemeinschaftswerk" der Frommen und als „Gesamtkunstwerk", das seine Einheit im Ganzen hat, scheint dem vorgängigen Muster nicht zu entsprechen. Als auch die Natur als göttliches Kunstwerk in Betracht gezogen wird, muß Schleiermacher die Grenze ziehen: „Löset sich aber auf diese Weise alles in der Einheit der göttlichen Kunst auf, deren Werk dann auch die künstlerische Art und Richtung des menschlichen Geistes ist: so müssen wir wol davon abstehen das besondere Gebiet der menschlichen Kunst nach derselben Formel auszumessen"218 Und so wird dann das eigentliche Kunstgebiet markiert, wenn Schleiermacher ankündigt, „das künstlerische, wie es an einem andern oder in einem anderen vorkommt, vorläufig bei Seite zu stellen und uns zunächst nur an die selbständig auftretende Kunst zu halten, welche Werke, die nichts anderes sein wollen, zu Tage fördert."219 Die Ästhetik behandelt nur „die selbständig auftretende Kunst" aus dem „Gebiet der menschlichen Kunst". Schleiermacher bedient sich also eines doppelten Kunstbegriffs: eines engeren, der nur die traditionell „schönen Künste" umfaßt und eines weiteren, der - gemäß der anthropologischen Grundlegung der Kunsttätigkeit - alles planvolle Gestalten des Menschen umschließt. In diesem eher medialen Sinne ist hier zunächst von Kunst die Rede.220 Da aber der Gottesdienst nicht nur ein Ordnungsgefüge ist, sondern auch materialiter aus künstlerischen Beiträgen: Musik, Rede etc. besteht, darum stellt sich nun auch der Kunst die Gretchenfrage: Wie hält sie es mit der Religion? Modern gefragt: Bedeutet die Inanspruchnahme der Kunst durch den Kultus 215 216
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Lehnerer, Kunsttheorie, S. 109. Vgl. PT, S. 215. Das ist etwas fundamental anderes als die „ästhetische Kontemplation" Joseph Berglingers in Wackenroders Herzensergießungen. Für Schleiermacher ist die Form nur Form, nicht Inhalt. Akademierede, S. 186. Akademierede, S. 188f. Akademierede, S. 189. Mit diesem Begriffsverständnis bezieht sich auch R. Volp mit seiner „Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern" (1/1992) auf Schleiermacher: ,„Kunst' nennen wir die sinnvolle Verwirklichung menschlichen Tuns, d.h. die sich vollendende Wahrnehmung." S. 89. Und Volp unterscheidet ausdrücklich: „Nicht das gegenständlich gewordene .Kunstwerk', sondern die Kunst als sich vollendende Wahrnehmung hat eine alte theologische Legitimation, die heute wieder von hoher Aktualität ist." Ebd. S. 90. - Auf den weiteren Kunstbegriff Schleiermachers bezieht sich wohl auch Albrecht Grözinger, wenn er den Gottesdienst gewagt als ein „Gesamtkunstwerk im Sinne Wagners" bezeichnet. A. Grözinger, Der Gottesdienst als Kunstwerk, in: Pastoral-Theologie. 10/1992, S. 443-453, S. 446.
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nicht eine einseitige Funktionalisierung und Bedrohung ihrer Autonomie? Oder ist andererseits auch die Kunst auf die Religion angewiesen? Die Frage entscheidet sich für Schleiermacher am Gegenstand und am Darbietungscharakter der Kunst. Schleiermacher kennt strenggenommen nur zwei Gegenstände der Kunst: die Einheit Gottes und die Vielheit der Welt, wonach sich auch die beiden Stiltypen scheiden, die quer durch alle Einzelkünste auftreten: der heilige und der gesellige Stil. „Die religiöse Beziehung der Kunst ist gar nicht zu verkennen, und der religiöse Charakter ist immer der dominierende, so wie wir die Kunst betrachten, wo sie als ein Ganzes erscheint. Diese religiöse Seite finden wir überall; und je gewisser wir etwas in das Gebiet der Kunst ziehen können, desto gewisser muß diese Tendenz darin sein. So finden wir also in der Seele die Richtung auf die höchste Einheit des Seins. Gehen wir aber auf das, was auf den Grenzen der Kunst liegt, so finden wir wieder das Spielen mit den einzelnen Elementen."221 Das heißt doch: Wo ein zusammengesetztes Kunstwerk nach Einheit strebt, da ist religiöse Kunst, denn die Kunst braucht „einen universalen Interpretationshorizont", den nur „die Religion zur Verfugung stellt" (Volp).222 Bedarf also auch die Kunst der Religion, so kann doch der Kultus im engeren Sinne nur als e i n Raum unter anderen gelten. Wenn religiöse Kunst so weit gefaßt wird, nämlich als solche, die „als ein Ganzes erscheint" und auch außerhalb des Kultus zugelassen wird, dann stellt das Bündnis mit der Religion für die Kunst keine Bedrohung ihrer Autonomie dar, sondern eine reiche Quelle von Stoff und Maß.223 Religion und Kunst stehen im Verhältnis von Stoff und Form, aber in einem so weitgefaßten Sinne, daß der Gottesdienst nur ein möglicher, wenn auch der vorzügliche Treffpunkt beider wird. Da die Kunst andererseits stets einen öffentlichen Rahmen braucht, den der Kultus ihr bietet, mag man sich wundern, daß die Liturgik nicht zu den Künsten gezählt wird, und auch Lehnerer registriert: „der kollektive Vollzug von Religion bedient sich nämlich nicht nur der Kunst, er muß selbst als Kunst bestimmt werden."224 Daß also die Liturgik nicht unter den Künsten und der Kultus nicht unter den Kunstwerken figuriert, obwohl das liturgische Handeln der von Schleiermacher definierten Kunsttätigkeit sehr genau entspricht, hat kunsttheoretische und theologische Ursachen: Auch die von Schleiermacher als „religiöse Kunst" bezeichnete ist nicht eo ipso gottesdienstliche Kunst, da der Gottesdienst einen Rahmen vorgibt, dem
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ÄO, S. 65f. Rainer Volp, Liturgik 2 (1994), S. 816. In diesem Sinne versteht wohl auch A. Grözinger die theologische Ästhetik als „theologische Verantwortung autonomer Ästhetik", A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik (1987), S. 218. Nach Lehnerers Schleiermacherverständnis ist die Kunst sogar „selbst Teil von Religion", Kunsttheorie, S. 347. - Lehnerers Identifizierung von Kirche und Kunst, ebd. S. 361 f., die wahrscheinlich auf dem Mißverständnis beruht, daß der „Kirchenstil" nur kirchliche Kunst hervorbringen könne, kann ich allerdings nicht zustimmen. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 338.
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sich die Kunst nur freiwillig unterwerfen kann, so daß hier ihre Selbstzwecklichkeit und Autonomie auf dem Spiel steht.225 Zum andern handelt es sich bei der Liturgik um eine sozusagen „synthetische Kunst". Die Ästhetik weist zwar auf die gegenseitige Anziehung der Einzelkünste und auf das Ideal eines Gesamtkunstwerks hin, doch expliziert sie dieses nicht, sondern charakterisiert das Kunstwerk als ein dem Kunsttrieb eines einzelnen Künstlers entsprungenes Produkt, das zwar auf den Kunstsinn der anderen angewiesen bleibt, aber von diesen eben doch nur rezipiert wird.226 Die theologisch motivierte Scheu, die Liturgik der Ästhetik einzugliedern, besteht zunächst darin, daß Schleiermacher mit seiner theologischen Enyzklopädie (1811) ausdrücklich für die Selbständigkeit der Theologie als Wissenschaft gestritten und die Praktische Theologie als Disziplin der Theologie erfolgreich etabliert hatte. Neben dieser systemtheoretischen Erwägung steht eine genuin theologische: Schleiermacher klammert die „liturgische Kunst" aus, weil daran festzuhalten ist, daß ein christlicher Gottesdienst immer auch Dienst Gottes am Menschen ist, traditionell gesprochen: Verkündigung von Gottes Wort in Gesetz und Gnade. Darum kann das Handeln Gottes im Sinne der Schleiermacherschen Ästhetik nicht zur eigentlichen Kunst gerechnet werden, weil die Kunst durch menschliche Kunsttätigkeit qualifiziert ist. „Gegenstand der Ästhetik können nur diejenigen Kunstwerke sein, die Gott durch die menschliche Kunsttätigkeit hervorbringt", stellt Lehnerer fest und fahrt fort: „Zum eigentlichen Kunstgebiet können nur die Gattungen von Gegenständen gerechnet werden, die allein aus dem vom Menschen willentlich vollzogenen Kunsthandeln stammen."227 Der Gottesdienst nimmt hier eine Zwischenstellung ein, da er nicht allein Menschenwerk, sondern eine cooperatio Dei et hominum bezeichnet, nämlich den „Inbegriff aller Handlungen, durch welche wir uns als Organe Gottes vermöge des göttlichen Geistes darstellen."228 Ja, der Begriff des Gottesdienstes impliziert für Schleiermacher sogar ein Offenbarungsgeschehen: „Der Audrukk Gottesdienst kann vernünftigerweise gar keinen andern Sinn haben, denn eben dadurch kommt das göttliche als seiend zur Offenbarung." 229 225 226
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Daß der Gottesdienst auch für religiöse Kunst zu eng sein kann, machte Schleiermacher schon am Beispiel des Oratoriums deutlich, vgl. PT, S. 173f. So kommt die Gottesdienstgestaltung eher in Analogie zur Kunsttheorie insgesamt zu stehen, da sie das Zusammenspiel verschiedener Kunsttypen ist. Dagegen werden liturgisch relevante BinzelkUnste wie z.B. die Kirchenmusik und die „Kanzelberedsamkeit" in der Ästhetik unbefangen und ausführlich behandelt. - In seiner Schrift: Ueber homiletische Kritik. Zum Ehrengedächtniß G. A. L. Hansteins (1821) hat sich der Prediger Schleiermacher unbefangen als „selbst ausübender Künstler" bezeichnet. SW1/5, S. 463-476, S. 471. Th. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 113. ChS, S. 525f. - Geht man über den Begriff der Erbauung und der Darstellung des religiösen Bewußtseins hinaus, und fragt im Blick auf die empirische Wirklichkeit der Gemeinde nach dem Zweck des „Cultus" im Horizont Schleiermacherscher Theologie, so drängt sich der leider nicht ausgeführte Gedanke Rainer Volps auf, daß im Gottesdienst „die Darstellung des Urbilds Christi" (Liturgik, S. 794) geschieht, d. h. daß im Gottesdienst die Bildung der Gläubigen nach dem Urbild Christi mit den Mitteln der Kunst stattfindet. ChS (A, 1809), § 68, S. 23f.
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So arrangiert die Liturgik die Begegnung von Theologie und Ästhetik und der Gottesdienst - der Festgottesdienst in exponierter Weise - die von Religion und Kunst. Während die Kirche die sich emanzipierenden Künste nicht mehr zu binden vermochte und Schleiermachers romantische Freunde die Kunst im Sinne einer überkonfessionellen „Kunstreligion" außerhalb der protestantischen Kirche etablieren wollten, empfiehlt Schleiermacher, die formalen Gesetze der Kunsttheorie (Kirchenstil) auf die Liturgik anzuwenden und den Gottesdienst selbst künstlerisch zu konzipieren nach dem Motto: „Alle Kunst hat in der Darstellung ihr Wesen, und alles was nichts anderes sein will als Darstellung ist Kunst. Beides läßt sich auf den christlichen Cultus anwenden."230 Mit dieser „Anwendung" scheint sich zugleich eine alte Hoffnung zu erfüllen. Bereits in den Reden (1799) hatte Schleiermacher davon geträumt, der Kunst den Weg zur Religion zu weisen und der Religion die Hilfe der Kunst anzubieten. Damals hatte er die Beziehungslosigkeit beider beklagt: „Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen, deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist." [...] „Aber fur jetzt entbehren nicht nur beide Arten der Religion der Hülfe der Kunst, auch an sich ist ihr Zustand übler als sonst. Groß und prächtig strömten beide Quellen der Anschauung des Unendlichen zu einer Zeit, wo wissenschaftliches Klügeln ohne wahre Prinzipien durch seine Gemeinheit der Reinigkeit des Sinnes noch nicht Abbruch tat, obschon keine für sich reich genug war, um das Höchste hervorzubringen; jetzt sind sie außerdem getrübt durch den Verlust der Einfalt und durch den verderblichen Einfluß einer eingebildeten und falschen Einsicht. Wie reinigt man sie? Wie schafft man ihnen Kraft und Fülle genug, um zu mehr als ephemeren Produkten den Erboden zu befruchten? Sie zusammenzuleiten und in einem Bett zu vereinigen, das ist das einzige, was die Religion auf dem Wege, den wir gehen, zur Vollendung bringen kann, das wäre eine Begebenheit, aus deren Schoß sie bald in einer neuen und herrlichen Gestalt bessern Zeiten entgegengehen würde." 2 3 1
Von der romantischen Utopie einer reinen Kunstreligion, eines gleichsam dritten Weges zum Absoluten hat der reife Schleiermacher Abschied genommen, seinen Traum von einer neuen Blüte der Religion aber bewahrte er sich. Ob er mit der gedachten und getanen Vereinigung von Religion und Kunst im Gottesdienst dazu einen persönlichen Beitrag leisten konnte?
230 PT,S. 71f. 231 Dritte Rede „Über die Bildung zur Religion", KGA 1/2, S. 263. Lehnerer meint, daß Schleiermacher die Vereinigung von Kunst und Religion noch 1799 von seinen romantischen Freunden erwartete, daß er diese Erwartung aber bereits anläßlich der zweiten Auflage 1806 stark zurücknahm, vgl. Lehnerer, Kunsttheorie, S. 343f. - Nach Dahlhaus war es „Wackenroder, bei dem die Kunstreligion, der Schleiermacher den Namen und Tieck das Dogma gab, originäre Erfahrung war." C. Dahlhaus, Die Idee, S. 93. - Die enge Verbindung von Kunst und Religion hat Schleiermacher später noch einmal ausgesprochen in einem Brief an seine Braut vom 27.11.1808: „Religion und Kunst gehören zusammen wie Leib und Seele." Briefe II, S. 174.
3. DER FESTGOTTESDIENST IN DER LITURGISCHEN PRAXIS SCHLEIERMACHERS 3.1. Die Gedächtnisfeier aus Anlaß des Todes der Königin Luise am 5.8.1810. 3.1.1. Einleitung Völlig unerwartet verstarb am 19.7.1810 im mecklenburgischen Hohenzieritz die beliebte preußische Königin Luise (1776-1810), geborene Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz und Gemahlin König Friedrich Wilhelms III., im Alter von 34 Jahren. Was Luise dem preußischen Staat und seinem Volk schon zu Lebzeiten bedeutet hatte, brachte am treffendsten von allen Verehrerinnen und Verehrern Heinrich von Kleist in einem Sonett zu Ehren ihres letzten Geburtstages, am 10.3.1810, zum Ausdruck: Erwäg ich, wie in jenen Schreckenstagen, Still deine Brust verschlossen, was sie litt, Wie du das Unglück, mit der Grazie Tritt, Auf jungen Schultern herrlich hast getragen, Wie von des Kriegs zerrißnem Schlachtenwagen Selbst oft die Schar der Männer zu dir schritt, Wie, trotz der Wunde, die dein Herz durchschnitt, Du stets der Hoffnung Fahn uns vorgetragen: O Herrscherin, die Zeit dann möcht ich segnen! Wir sahn dich Anmut endlos niederregnen, Wie groß du warst, das ahndeten wir nicht! Dein Haupt scheint wie von Strahlen mir umschimmert; Du bist der Stern, der voller Pracht erst flimmert, Wenn er durch finstre Wetterwolken bricht.1 Kleist spielt auf die Durchdringung des persönlichen mit dem nationalen Schicksal an. Die besondere politische Konstellation in Europa zwischen 1804 und 1810 zwang Luise in diejenige Rolle, die sie schon zu Lebzeiten zur Legende machte: Der strotzenden Kraft des übermächtigen Franzosenkaisers Napoleon Bonaparte, der sich je länger je mehr als unersättlicher Tyrann erwies, und dem die übrigen Herrscher Europas, Kaiser Franz I., Zar Alexander I. und vor allem der preußische König Friedrich Wilhelm III. mehr oder weniger hilfl
Zitiert nach Heinz Ohff, Ein Stern in Wetterwolken (1998 4 ), S. 14f.
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los ausgeliefert waren, setzte Luise ihren mit der weiblichen Ohnmacht spielenden weiblichen Charme entgegen. Am 6.7.1807 trat Luise Napoleon in Memel gegenüber. Obwohl sie die harten Bedingungen des Tilsiter Friedens nicht abmildern konnte - Preußen verlor alle Provinzen westlich der Elbe und damit die Hälfte seines Territoriums - , wurde das selbstbewußte Auftreten Luises vor dem Beherrscher Europas in einer Phase allgemeiner Ratlosigkeit als Zeichen der Selbstachtung und Ermutigung empfunden. Napoleon schrieb über die Tilsiter Begegnung mit Luise: „Sie ist nie meine Freundin gewesen, ich weiß es wohl, aber ich vergebe es ihr leicht. Als Frau hatte sie es nicht nötig, die politischen Interessen genau abzuwägen. Sie ist für ihre Impetuosität bestraft, aber schließlich, sie hat Charakter im Unglück bewiesen. Sie hat mir über ihre Stellung mit vielem Interesse gesprochen, ohne irgend einen Schritt zu tun, der ihre Würde beeinträchtigen könnte".2 Daß sie „Charakter im Unglück bewiesen" hat, empfanden dankbar auch ihre Untertanen. Luise nutzte ihre Chance als Frau, sie verkörperte die würdevolle und ermutigende Seite der Machtlosigkeit, und sie spürte wohl, daß mit der wachsenden Mutlosigkeit des Königs, der sich oft mit Abdankungsplänen trug, ihr die Rolle zufiel, die politischen Fäden im Hintergrund zu spinnen. So wurde sie nach und nach für viele ein Symbol der Hoffnung und eine Leitfigur des Widerstandes gegen den verhaßten Eroberer (Kleist: „stets der Hoffnung Fahn uns vorgetragen"). Als ihre „bedeutendste politsche Tat" bezeichnet Ohff die Wiederberufung Hardenbergs zum Staatskanzler nach der von Napoleon erzwungenen Entlassung des Freiherrn vom Stein. Hardenberg kam am 4.6.1810, wenig später war Luise tot. Aber mit der Rückkehr Hardenbergs, der Steins Reformpolitik fortsetzte, war die politische Wende zugunsten Preußens eingeleitet. Doch nicht nur ihr politischer Instinkt machte Luise zur populärsten Königin in der Geschichte Preußens. Es war ihre natürliche und unbefangene, den Menschen aller Stände zugewandte und leutselige Art, ihre allseits gepriesene Schönheit und ihre anmutige Erscheinung (Kleist: „Wir sahn dich Anmut endlos niederregnen") an der Seite ihres stets hölzern wirkenden Gatten, die sie zur „Märchenprinzessin" werden ließ. Während Friedrich Wilhelm für alle sichtbar unter dem offensichtlichen Scheitern seiner eigenen Politik litt, verstand es Luise - gerade auch während ihres ostpreußischen Exils - zu repräsentieren und wenigstens den Schein staatlicher Normalität zu wahren. Die Tatsache, daß Luise als Idol, Friedrich Wilhelm aber als Versager von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, entfremdete das königliche Paar zu keiner Zeit. Ihre über alle politischen und militärischen Rückschläge Friedrich Wilhelms erhabene glückliche Ehe steigerte nur Luises Popularität. Oder war es umgekehrt? Machte ihr glückliches Familienleben Mode? 3 Luises Vorbildcharakter im privaten Bereich 2 3
H. Ohff, Ein Stern, S. 365. Schon Novalis hoffte: „Der Königin Beispiel wird unendlich viel wirken. Die glücklichen Ehen werden immer häufiger, die Häuslichkeit wird immer mehr Mode werden. Jede gebildete Frau und jede sorgfältige Mutter sollte das Bildnis der Königin in ihrem [...] Wohnzimmer haben." H. Ohff, Ein Stern, S. 169.
3.1. Die Gedächtnisfeier fìir die Königin Luise 1810
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erstreckt sich schließlich auch auf ihren Glauben. Ihre Briefe legen Zeugnis ab von einer fröhlichen Gottergebenheit und echten Religiosität.4 Mit ihrer sittlichen Integrität und Prinzipienfestigkeit und mit ihrer praktisch gelebten Religiosität wurde Luise tatsächlich zur Inkarnation Preußens bzw. seines stilisierten Selbstbildnisses. Luise - Idol der Männer und Idol der Frauen, respektiert von den Mächtigen und geliebt von den Machtlosen. Ihr früher Tod verklärte ihr Bild und vollendete die „Luisenlegende". „In Preußen, und nicht nur dort, glaubt man allgemein, die Königin sei am Leid des Vaterlands gestorben, am gebrochenen Herzen' über das Unglück ihres Landes." 5 Schon Kleists Sonett war vom Opfergedanken („Wie du das Unglück, mit der Grazie Tritt, Auf jungen Schultern herrlich hast getragen") bestimmt und damit auch von trüben Vorahnungen („Wie groß du warst, das ahndeten wir nicht!") erfüllt. Doch die Empörung über ihr so verstandenes „Martyrium" und ihr vermeintliches Vermächtnis sowie das allgemein tief empfundene Mitleid mit dem verwitweten König trugen zur moralischen Aufrüstung Preußens entscheidend bei und stärkten den nationalen Selbstbehauptungswillen. Als Paris nach der Schlacht bei Waterloo (1815) kapitulierte und der legendäre Feldmarschall Blücher die weißen Fahnen wehen sah, soll er gerufen haben: „Jetzt endlich ist Luise gerächt!" 6 Die Feierlichkeiten aus Anlaß des Todes der Königin am 19.7.1810 gestalteten sich entsprechend pathetisch. Friedrich Wilhelm hatte eine sechswöchige Staatstrauer mit einer detaillierten Kleiderordnung für alle Stände verhängt.7 Bis zum 3.8.1810 läuteten von allen Berliner Kirchtürmen mittags die Trauerglokken. Die Szenen an den einzelnen Stationen des Leichenzuges von Hohenzieritz über Gransee und Oranienburg nach Berlin, die Rituale bei der Ankunft des Leichnams in Berlin am 27.7., die stille Beisetzung im Berliner Dom am 30.7., die zum Staatstrauerakt umfunktionierte Spielzeiteröffnung des Nationaltheaters am 4.8. und schließlich die katholische Seelenmesse in der Hedwigskathedrale am 6.8. sind in der „Sammlung der vollständigsten und zuverlässigsten Nachrichten" ausführlich mitgeteilt.8 Am 5.8.1810 fanden in allen Berliner evangelischen Kirchen Gottesdienste zum Gedächtnis an die verstorbene Königin statt. Im Dom predigte in Gegen4
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Vgl. etwa den von Luise selbst als „politisches Glaubensbekenntnis" bezeichneten Brief an den Vater aus Königsberg vom 12.4.1808, bei: Paul Bailleu, Königin Luise. Ein Lebensbild, Berlin-Leipzig 1908, S. 273f. H. Ohff, Ein Stern, S. 445. - Auch Schleiermacher in seiner Predigt vom 22.7.1810 über Act 6,15 spielte darauf an: „... daß jeder wahrhafte treue Jünger Jesu den Märtyrertod stirbt." SW II/4, S. 43. H. Ohff, Ein Stern, S. 445. Vgl. Spenersche Zeitung vom 24. Juli 1810. Zum Angedenken der Königin Luise von Preußen. Sammlung der vollständigsten und zuverläßigsten Nachrichen von allen das Absterben und die Trauerfeierlichkeiten dieser unvergeßlichen Fürstin betreffenden Umständen. Nebst einer Auwahl der bei diesem Anlaß erschienen Gedichte und Gedächtnißpredigten, Berlin 1810. (SBB: Sw 2604 a ). Leider fehlt in dieser Sammlung ein Bericht über den Gedächtnisgottesdienst am 5.8.1810 in der Dreifaltigkeitskirche.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
wart des Königs und der königlichen Familie Hofprediger Friedrich Ehrenberg, in St. Nicolai der Beichtvater Luises, der Berliner Propst Ribbeck, in der Klosterkirche der Cöllner Propst Hanstein und in der Dreifaltigkeitskirche Friedrich Schleiermacher; alle über den vorgegebenen Predigttext Jes 55,8f. Was Schleiermacher persönlich von Luise hielt, wissen wir nicht. Es mag interessantere Frauen in seinem Umkreis gegeben haben, doch Luises Schönheit und Natürlichkeit, ihr Patriotismus und ihre Religiosität dürften auch ihn beeindruckt haben.9 Und daß ihr früher Tod Schleiermacher tief betroffen hat, ist der Predigt vom 22.7.1810 und den Texten des Gedächtnisgottesdienstes am 5.8.1810 abzuspüren. Letzteren habe ich als erstes Beispiel zur Veranschaulichung von Schleiermachers Festgottesdienstgestaltung ausgewählt, weil hier neben der Predigt auch Gebete und Texte zur Kirchenmusik dokumentiert sind.10 3.1.2. Das Eingangslied „Wie fleucht dahin der Menschen Zeit" Das Lied des reformierten Liederdichters Joachim Neander (1650-1680) erschien zuerst in Neanders „Glaub- und Liebes-Uebung: aufgemuntert durch einfaltige Bundeslieder und Dank-Psalmen." Bremen 1679.11 Von Anfang an, also seit 1713, stand es auch im Porstschen Gesangbuch und wurde in Berlin vor allem bei Frühverstorbenen gesungen.12 Das vom 90. Psalm inspirierte Lied handelt von der Vergänglichkeit des irdischen Lebens. In Anbetracht seiner Unverfügbarkeit soll der Mensch allein auf Gott, den Herrn über Leben und Tod, sein Vertrauen setzen und die von Gott gesetzte, dem Menschen ungewisse, Lebenszeit nutzen. Vorbild und Führer durch das zeitliche Leben ist Jesus, der Gottessohn. Der Christ muß wissen, daß das irdische Leben im Horizont des eschatologischen Gerichts gefuhrt wird. Das Lied wurde wahrscheinlich auf die Melodie des Sterbeliedes „Ich hab mein Sach Gott heimgestellt" gesungen, die erstmals im Frankfurter Gesangbuch von 1589 bezeugt ist.13 Ungewöhnlich ist das Metrum durch die verkürzte 9
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Im Brief an Brinckmann vom 11.2.1809 berichtet er nur kurz von einem Besuch in Königsberg: „... die Königin gesprochen ..." Schleiermacher als Mensch, hrsg. von H. Meisner, S. 118. Über seinen Jugendfreund, den schwedischen Gesandten Carl Gustav Brinckmann, war Schleiermacher gut über die Verhältnisse am Exilshof in Ostpreußen informiert. Brinckmann soll sogar bei Luises Begegnung mit Napoleon dabei gewesen sein, vgl. H. Ohff, Ein Stern, S. 361. Vgl. Schleiermachers Vorerinnerung zur Druckausgabe der beiden nach dem Tode der Königin Luise gehaltenen Predigten, SWII/4, S. 42. Vgl. A. F. W. Fischer, Kirchenlieder-Lexikon (1878), Bd. 2, S. 372f. Auch bei der Ankunft des Leichenzuges mit dem Sarg der Königin in Berlin am 27.7.1810 wurde das Lied von einem Chor unter dem Brandenburger Tor angestimmt, vgl. Zum Angedenken der Königin Luise von Preußen (1810), S. 21. Vgl. W. Blankenburg, in: Handbuch zum Evangelischen Kirchengesangbuch Band II/2, Geschichte der Melodien des Evangelischen Kirchengesangbuchs (1957), S. 89, s. EKG, Nr. 315. - Zur zeitgenössischen melodischen Gestalt vgl. Kühnaus Choralbuch (1786), Nr. 86. Vgl. zur Melodie auch J. Zahn, Die Melodien, Bd. 1, Nr. 1679.
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3.1. D i e Gedächtnisfeier für die Königin Luise 1810
vierte Zeile. Soll damit der fragmentarische Charakter des Lebens angedeutet sein?14 Die Tatsache, daß Schleiermacher die Liedtexte dieses Gottesdienstes mit der Predigt abdrucken ließ, weist darauf hin, daß es einen eigenen Liederzettel für diese Gedächtnisfeier gab, der leider nicht erhalten ist. Ein solcher aber hat nur Sinn, wenn er Texte enthält, die entweder im gebräuchlichen Gesangbuch fehlen oder im Wortlaut abweichen. Der zweite Fall tritt hier ein. Zur Untersuchung von Schleiermachers Liedredaktion stelle ich die Textversion vom 5.8.1810 den Textfassungen der beiden damals gebräuchlichen Berliner Gesangbücher, dem „Porst" und dem „Mylius" gegenüber. Dieser Vergleich beruht auf der Hypothese, daß Schleiermacher seine Liedfassung unter Verwendung des Porst und des Mylius hergestellt hat. Mit einer Vergleichung des Urtextes ist nicht zu rechnen.15 Porst'sches Gesangbuch 1790,
Mylius 'sches Gesangbuch
Nr. 889
1780, Nr. 379
Mei. Ich hab mein ' Sach Gott heimgestellt
In bekannter Melodie
Wie fleucht dahin der Menschen Zeit! Wie eilet man zur Ewigkeit! Wie wenig dencken an die Stund, von Hertzensgrund! wie schweigt hievon der trüge Mund! 2. Das Leben ist gleich wie ein Traum, ein nichteswerther Wasserschaum: im Augenblick es bald vergeht, und nicht besteht, gleichwie ihr dieses täglich seht. 3. Nur Du, Jehowa! bleibest mir das, was du bist, ich traue dir; Laß Berg' und Hügel fallen hin, mir ist Gewinn, wenn ich allein bey Jesu bin. 4. So lang' ich in der Hotten wohn', ey! lehre mich, o Gottes Sohn! gib, daß ich zähle meine Tag, und munter wach, daß, eh ich sterbe, sterben mag. 5. Was hilft die Welt in letzter Noth? Lust, Ehr und Reichthum in dem Tod? O Mensch! du läufst dem Schatten zu, bedenck es nu, du kommst sonst nicht zur wahren Ruh. 6. Weg, Eitelkeit! der Thoren Lust!
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Wie fleucht dahin der Menschen Zeit wie eilen wir zur Ewigkeit; wie mancher sinkt, eh er's gedacht, ins Todes nacht! Ο Seele, nimm dies wohl in Acht! 2. Dieß Leben ist gleich einem Traum; gleich einem leichten Wasserschaum ist alle seine Herrlichkeit Der Strom der Zeit reißt schnell uns fort zur Ewigkeit. 3. Nur du, mein Gott, du bleibest mir, das, was du bist; ich traue dir. Es falle berg und Hügel hin! mir bleibt's Gewinn, wenn ich dein todt und lebend bin. 4. So lang' ich noch auf Erden wohn', erwecke mich, o Gottes Sohn! Verborgen ist mein Todestag; gieb, daß ich wach', und, wann er kommt, bereyt sein mag. 5. Was hilft die Welt in Todesnoth? was Ehr u. Reichthum nach dem Tod? Bedenk's o Mensch, was eilest du dem Schatten zu? kein irdisch Glück giebt wahre Ruh. 6. Weg, Eitelkeit, der Thoren Lust,
Textfassung
Gedächtnisfeier
5.8.1810, SWII/4, S. 52
Wie fleucht dahin der Menschen Zeit! Wie eilen wir zur Ewigkeit! Wie mancher hat, eh er's gedacht, Zur Todesnacht Sein kurzes Leben schon gebracht. Dies Leben ist gleich einem Traum; Gleich einem leichten Wasserschaum Ist alle seine Herrlichkeit; Der Strom der Zeit Reißt schnell uns fort zur Ewigkeit. Nur Du, o Gott, Du bleibest mir Das was du bist, ich traue Dir. Laß fallen Berg und HUgel hin! Mir bleibt's Gewinn, Daß ich bei Dir und Jesu bin. So lang ich in der Hütte wohn Sei du mein Führer, Gottes Sohn! Gieb daß ich zähle meine Tag und munter wach, und eh' ich sterbe sterben mag. Was hilft die Welt in letzter Noth? Lust, Ehr und Reichthum in dem Tod? O Mensch, lauf nicht dem Schatten zu, Bedenk es nu! Du kommst sonst nie zur wahren Ruh. Weg Eitelkeit, der Thoren Lust!
Auch die mit dieser Melodie verbundenen Lieder im Berliner Gesangbuch von 1829 (BG) sind Lieder von Tod und Sterben. Neben dem Neander-Lied (BG, Nr. 753) das Passionslied „Nun ist es alles wohl gemacht" (BG, Nr. 190) von Laurentius und Klopstocks Sterbelied „Dein sind wir, Gott, in Ewigkeit" (BG, Nr. 720). Vgl. PT, S. 179 und 182f. - Das reformierte Berliner Domgesangbuch (1790) enthält das Lied unter Nr. 447 in der Porstschen Fassung, ebenso Freylinghausens Gesangbuch (1741), Nr. 1420. - Zur Berliner Gesangbuchgeschichte vgl. zuletzt I. Seibt, F. Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch (1998), S. 13-23.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Porst'sches Gesangbuch 1790, Nr. 889 mir ist das höchste Gut bewuBt; das such ich nur, das bleibet mir, o mein Begier Herr Jesu! zeuch mein Herz nach dir. 7. Was wird da seyn, wenn ich dich seh', und bald vor deinem Throne steh? Du unterdessen lehre mich, daß stetig ich mit klugem Hertzen suche dich.
Mylius 'sches Gesangbuch 1780, Nr. 379 mir ist ein bess'res Gut bewußt; dahin allein geht mein Begier, das bleibet mir. HerT Jesu, mich verlangt nach dir. 7. Wie wird mir seyn, wann ich dich seh, und froh zu deiner Rechten steh? O mein Erlöser, stärke mich, daß eifrig ich bis an mein Ende liebe dich.
Textfassung Gedächtnisfeier 5.8.1810, S W11/4, S. 52 Mir ist das höchste Gut bewußt, Das such' ich nur, das bleibet mir, Und mein Begier, Herr Jesu, zieht mein Herz nach dir.
Ein erster Blick zeigt, daß sich Schleiermacher in den ersten beiden Strophen an die Mylius'sche, in den letzten drei Strophen an die Porst'sche Fassung angelehnt hat. Im Mylius wird das Lied im inklusiven „wir" eröffnet. Damit ist eine Sprachform gewählt, die Schleiermacher im Blick auf die Sammlung der Gemeinde zu Beginn des Gottesdienstes stets wichtig war. Abweichend von Mylius' Lesart eliminiert er die - an dieser Stelle verfrühte - belehrende Pointe der letzten Zeile und faßt dadurch die letzten drei Verse zu einem Satz zusammen. Die Neufassung der letzten Zeile ist keine Anspielung, sondern eine allgemeine Aussage über die relative Kürze des menschlichen Lebens. Der Wortlaut der zweiten Strophe entspricht dem des Mylius. Die altertümliche Ausdrucksweise und die belehrende Pointe der Porstfassung mögen Schleiermachers Wahl bestimmt haben. Eine Vorlage der dritten Strophe ist nicht zu ermitteln. In der letzten Zeile scheint Schleiermacher beide Vorlagen zu kombinieren: Der singende Christ weiß sich geborgen in Gott und Jesus. Die Einführung und Beiordnung Jesu wird verlangt durch die direkte Anrede in der vierten Strophe: „Sei du mein Führer, Gottes Sohn!". Diese Bitte entspricht Schleiermachers Verständnis vom Christsein: Der Christ ist bereits belehrt und erweckt, aber er läßt sich von Christus durch das Leben fuhren. Schleiermacher hat spätestens mit der vierten Strophe die Quelle (Porst) gewechselt. Das Sterben vor dem Sterben im letzten Vers ist im Sinne von Rom 6 als eine poetische Umschreibung der Heiligung zu verstehen. Schleiermacher orientiert sich auch in der fünften Strophe an der Porstschen Vorlage. Doch in Zeile drei ersetzt er die pauschale Anklage durch eine Warnung: „O Mensch, lauf nicht dem Schatten zu." Die Schattenexistenz scheint nicht unausweichlich zu sein. Die sechste Strophe ist fast identisch mit der Porstfassung, die Schleiermacher durch die Kopulation „und mein Begier" (Vers vier) lediglich etwas verflüssigt hat. In der letzten Zeile („zieht") handelt es sich wahrscheinlich um einen Druckfehler. Es muß wohl heißen: „Herr Jesu, zieh' mein Herz nach dir." Mit dieser Bitte schließt das Eingangslied. Die eschatologisch pointierte
3.1. Die Gedächtnisfeier fur die Königin Luise 1810
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Schlußstrophe fehlt wie gewöhnlich an diesem liturgischen Ort.16 Schleiermachers „Textkritik" ist nur z.T. ein veränderndes Eingreifen. Der Vergleich mit Porst und Mylius zeigt, daß Schleiermacher zwischen verschiedenen Lesarten wählen konnte, d.h. seine Textarbeit bestand in Eingriff und Auswahl. Insgesamt lassen die redaktionellen Maßnahmen das Bemühen Schleiermachers um sprachliche Modernisierung und Verflüssigung, um eine inklusive Sprachform (I/2)17, um die innere Einheit und logische Stringenz der Strophenfolge (I; III), um Aufwertung des irdischen Lebens und ein optimistischeres Menschenbild (V/3) und damit verbunden um die Tilgung moralisierender Wendungen (I; V) erkennen. In seiner Liturgik empfiehlt Schleiermacher zum Eingang des Gottesdienstes ein „symbolisches Lied"18, um den Sinn der Einzelnen auf den ihnen gemeinsamen Glauben zu lenken. Diesem Gottesdienst jedoch liegt ein besonderer Kasus zugrunde, der spezielle Anpassungen notwendig macht, was auch die Liturgik konzediert.19 Das allgemeine Empfinden wird hier durch die Trauer beherrscht, die die Gläubigen in den Gottesdienst mitbringen, und die das Lied aufnehmen und ausdrücken soll. Neanders „Wie fleucht dahin" ist sowohl seiner Entstehungsgeschichte als auch seiner Entstehungszeit und seinem literarischen Charakter nach ein stärker persönlich geprägtes Lied. Insgesamt steckt bereits in diesem Eingangslied ein Gefalle vom allgemein-menschlichen Erleben und Empfinden (Wir-Form) zum persönlichen christlichen Erlösungsglauben (Ich-Form), eine Entwicklung, die nach Schleiermachers Liturgik dem ganzen Gottesdienst vorbehalten ist. Die Warnung vor irdischer Sicherheit ist zwar ein Topos aller Sterbelieder des 17./18. Jahrhunderts und durch die Autorität des 90. Psalms gedeckt, doch durch den speziellen Kontext gewinnt dieser Topos den Charakter einer aktuellen Mahnung. Trotz dieser Aktualität bleibt der Liedtext - auch der redigierte eine allgemeine Besinnung auf die Endlichkeit der Existenz und die Unverfügbarkeit der Lebenszeit. Die verstorbene Königin kommt in diesem Lied noch nicht vor. 3.1.3. Das Altargebet Die letzte Liedzeile „Herr Jesu, zieh(t) mein Herz nach dir" leitet schön über zum folgenden Altargebet20, das nach der programmatischen Anrede: „Barmherziger getreuer Gott, du ewiger Vater unsers Herrn Jesu Christi, und Aller, die durch ihn deine Kinder geworden sind! du weiser Gebieter, unter dessen Schutz wir leben und nach dessen wohlbedachter Vorsehung wir sterben" die verbindende Gemütsstimmung ausspricht („Fest der Wehmuth und Trauer"). Das Ge-
lò 17 18 19 20
Vgl. PT, S. 175. Die römischen Ziffern beziehen sich auf die Liedstrophen, die arabischen auf die Verse. Vgl.PT.S. 181. Vgl. PT, S. 129. SWII/4, S. 53.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
bet besteht aus dem Dank für das vollendete Leben der Königin, aus der Bitte um Kraft zur Heiligung und aus der Fürbitte für die unmittelbar Betroffenen; schließlich spricht es die Hoffnung aus um „Wiedervereinigung" vor Gott. Damit umspannt es alle drei Zeitebenen wie auch das alte reformierte Morgengebet, das sonst an dieser Stelle gesprochen wurde, und dessen sich Schleiermacher als Gerüst bedient.21 Schleiermacher rezipiert Aufriß und Ideengang dieses von ihm sehr geschätzten Gebetes, und wichtige Topoi wie die Anrede („Barmherziger, getreuer Gott, du ewiger Vater unsers Herrn Jesu Christi"), den leicht modifizierten Schluß nach IThess 5,23f. („Der Herr sei mit uns und bewahre uns unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi. Getreu ist Er, der uns ruft, Er wird es auch thun. Amen.") 22 und einige kasusgerechte Passus wie z.B. das „christlich leben und selig sterben", die er sinngemäß aufnimmt: Morgengebet aus „ Kirchen-Gebete " 1741 (1713'), S. 3 f f . „Insonderheit dancken wir dir, daß du bey uns die schreckliche Finstemiß des Pabstthums vertrieben, und das helle Licht des Evangelii hast lassen aufgehen, bey welchem wir dich und dienen Willen recht erkennen und lernen können, wie wir Christlich leben und selig sterben sollen".
Gedächtnisfeier 5.8.1810, Altargebet (SW11/4, S. 53) „... aber vor allem dafür gebührt es uns Deine Gnade zu preisen, daß ihr Herz durchdrungen war von Liebe zu Dir, daß auch ihr aufgegangen war das Licht der christlichen Wahrheit zur Erkenntniß Deines Willens, zum Dir wohlgefälligen Leben und zum ruhigen und seligen Sterben".
Der Liturg dankt für das Leben der Verstorbenen, das er im Kontext dieses Gebetes als ein exemplarisches evangelisches Leben würdigt, da Luise im Licht des Evangeliums den Willen Gottes erkannt, Gott wohlgefällig gelebt hat und selig gestorben ist. Der Dank - sonst bezogen auf die Reformation - gilt hier dem segensreichen Leben und Wirken der verstorbenen, die Bitte um fortwährende und fortschreitende Heiligung knüpft vergleichend an das strahlende Vorbild Luises und ihr gottgefälliges Leben an, und die Hoffnung auf die himmlische Heimat findet ihre kasuelle Konkretion in der noch größeren Trauer der unmittelbaren Angehörigen und ihrer Hoffnung auf „Wiedervereinigung" mit der Verstorbenen. Freilich bleibt der Liturg nicht bei Luise stehen, sondern wei-
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Das reformierte Morgengebet von 1741 (1713 1 ) beinhaltet den Dank für Bewahrung in der Nacht und das Erleben des neuen, gottesdienstlichen Tages, den Dank für die Vertreibung des Papsttums und den Aufgang des hellen Lichts des Evangeliums, dann die Bitte um Erhaltung dieses Lichts, um die Vergebung der Sünden und um fortschreitende Heiligung, schließlich die Bitte um andächtiges Hören und die Hoffnung auf den himmlischen Gottesdienst. Kirchen-Gebethe, Welche Von Seiner Königlichen Majestät in Preussen, in allen Evangelisch-Reformirten und Evangelisch-Lutherischen Gemeinen [...] Von neuem wieder aufgelegt im Jahr 1741, S. 3 - 6 5 . - V g l . den Wortlaut auch in Exkurs III. 2.4.1. Auffallig gegenüber den Vorlagen des Morgengebets ist die inklusive Sprache. Dazu PT, S. 163. „Ob aber der Geistliche dich, euch oder uns im Segen gebraucht, ist völlig gleichgültig."
3.1. Die Gedächtnisfeier für die Königin Luise 1810
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tet das Gebet der Vorlage gemäß auf die Gemeinde aus: „So laß denn uns allen [...] auch jetzt die Feier ihres Gedächtnisses dazu erweklich sein, daß auch wir [...]". Es ist die Bitte um Erhebung aus dem Schmerz und um Erweckung zur Nachfolge. Der theologische Skopus dieses Gebets besteht in der alle Zeitebenen übergreifenden göttlichen Weltordnung, der sich die christliche Gemeinde - gerade auch in der Stunde der Trauer - vertrauensvoll unterwirft. Während der Dank für Gottes „Wohlthaten und Segnungen" und das Vertrauen auf die göttliche Vorsehung dominiert, wird die Auferstehungshoffnung nur angedeutet. Hier ist der sonst so wortreiche Beter kurz und fast wortkarg: „daß es eine Wiedervereinigung giebt vor Dir". Gewagt erscheint die Beiordnung der Gläubigen zu Christus zu Beginn: „du ewiger Vater unsers Herrn Jesu Christi, und Aller, die durch ihn deine Kinder geworden sind!" Später wird Gott sogar dafür gepriesen, daß „Du Dich in ihr [Luise] verherrlicht hast." Eine gewisse dogmatische Unscharfe manifestiert sich auch darin, daß in der traditionell trinitarischen Gottesanrede der Heilige Geist fehlt. 3.1.4. Der Hauptgesang 3.1.4.1. Das Requiem Der Hauptgesang der Gedächtnisfeier anläßlich des Todes der Königin Luise gestaltet sich als Responsorium zwischen Chor und Gemeinde. Zu Beginn stimmt der Chor die Eingangssequenz des Requiems an: „Requiem aeternam dona Ei Domine! et lux perpetua luceat Ei." Wie bei allen Kirchenmusiken, von denen nur die Texte bekannt sind, ist es äußerst kompliziert, den Komponisten der Vertonung zu ermitteln23, zumal hier, wo es sich um einen kanonischen Text handelt, der keinerlei individuelle Spuren aufweist. Leider schweigen auch die zeitgenössischen Quellen zur Gedächtnisfeier in der Dreifaltigkeitskirche. Immerhin läßt Schleiermachers Vorrede zu den beiden dem Gedächtnis der Königin Luise gewidmeten Predigten, in der er einer „Anzahl von Mitgliedern der Singakademie" seinen „und der Versammlung herzlichen Dank" abstattete24, Vermutungen zu: Gesungen wurde wahrscheinlich ein Stück aus dem Repertoire der Singakademie. Dafür kommen hauptsächlich die Requiemskompositionen von Fasch, dem Gründer der Singakademie, und W. A. Mozart in Frage.25 Für Mozarts Requiem könnte sprechen, daß dieses Werk am Vortag, bei einem offiziellen Staatsakt im königlichen Opernhaus aufgeführt worden war. Am folgenden Montag, dem 6.8., wurde es beim katholischen Trauergottesdienst in der Hedwigskathedrale wiederholt.26 Dagegen spricht für die „Re23 24
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Vgl. zu diesem Problem Exkurs I. 2.4.2. SW II/4, S. 42. Mozarts Requiem (KV 626) wurde von der Singakademie gern und oft gesungen, das erste Mal zum Tode ihres Gründers Fasch im Jahre 1800. Doch war dort wohl - neben den Mitgliedern der Hofkapelle - der königliche Opernchor
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
quiem" genannte Trauermotette Karl Christian Friedrich Faschs (1736-1800) neben der besonderen Beziehung des Chores zu seinem Gründer27 die Kürze (90 Takte) und Kompaktheit des Werkes, das lediglich aus dem Introitus der lateinischen Totenmesse: „Requiem aeternam dona eis Domine! Et lux perpetua luceat eis" besteht.28 Faschs Requiem ist ein a-capella-Stück für 8-stimmigen gemischten Chor, ein einsätziges Stück im düsteren f-moll. Das Stück ist wie alle FaschChoräle dreiteilig und im Mittelteil („Et lux perpetua luceat eis" As-Dur) von kleineren Solopassagen durchzogen, in denen allerdings auch wie in den ChorTuttis der homophone Satz und eine deklamierende Silbenbehandlung dominiert, was zur Textverständlichkeit wesentlich beiträgt und dem sogenannten Kirchenstil - und damit auch Schleiermachers musikästhetischen Vorstellungen - entspricht.29 Auffallig, weil ganz im Sinne Schleiermacherscher Liturgik, ist die Übersetzung des lateinischen Textes in der Druckausgabe30 und die ebenfalls typische kasuell bedingte - Modifizierung des lateinischen Textes: Ei statt Eis. Der Chor singt ein Requiem für die verstorbene Königin. 3.1.4.2. Das Hauptlied An das Requiem schließt sich unter dem Stichwort der „requies" ein Choral an, der einige Rätsel aufgibt: Ein Lied mit dem Incipit „Staub bei Staube ruhst du nun" findet sich weder im Porst'schen noch im Mylius'schen noch in anderen Berliner Gesangbüchern. Ich fand aber in den Geistlichen Liedern F. G. Klopstocks unter dem Titel „Vorbereitung zum Tode" das Lied „Selig sind des Himmels Erben".31 Das Lied hat die Form eines Wechselgesangs zwischen Chor und Gemeinde. Der Chor eröffnet mit einer hymnischen Strophe im Metrum von „Wachet auf, ruft uns die Stimme". Darauf folgt ein achtstrophiges Gemeindelied mit dem Beginn „Staub bey Staube ruht ihr nun" (Mei. Jesus, meine Zuversicht), schließlich eine doxologische Chorstrophe und zuletzt eine hymnische Gemeindestrophe, beide wiederum auf die Melodie „Wachet auf'. 3 2
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ausführend. Vgl. die Sammlung „Zum Angedenken der Königin Luise von Preußen" (1810), S. 42ff. Die Singakademie hatte bei der familiären Trauerfeier am 28.7.1810 im Dom den FaschChoral: „Was mein Gott will, das gescheh allzeit" (vgl. Fasch, Sämmtliche Werke, Erster Teil, Choral I) unter Ritschis Leitung gesungen, vgl. Zum Angedenken der Königin Luise, S. 28. Vgl. K. C. F. Fasch, Sämmtliche Werke, hrsg. von der Singakademie in Berlin, Berlin o. J., Dritter Teil, Nr. II. Requiem, S. 11-15 (SBB: N. Mus. 13001). Bereits der schleiermacherkundige Waither Sattler hatte in seinem Aufsatz „Die Bedeutung der Singakademie zu Berlin für die liturgisch-musikalische Entwicklung Schleiermachers" vermutet, daß bei dieser Gelegenheit Faschs Requiem gesungen worden sei. Vgl. ZfM 1. Jg. 1918, S. 165-176, S. 170. Vgl. seine Warnung vor lateinischen Texten im evangelischen Gottesdienst, in: „Glükkwünschungsschreiben an die [...] Mitglieder der [...] zur Aufstellung neuer liturgischer Formen ernannten Commission (1814), SW 1/5, S. 181. Vgl. Klopstocks Lieder. Wien 1784. (SBB: Yk 9599 a ), S. 11-14. Vorbereitung zum Tode. In seiner originalen Kantaten-Form begegnete mir das Lied bei Stichproben erstmals im
3.1. Die Gedächtnisfeier fìir die Königin Luise 1810
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Schleiermacher hat dieser Klopstockschen Liedkantate drei kurze Strophen entnommen und sie leicht modifiziert, bzw. für den Kasus aktualisiert. Woher aber stammt die zweite Strophe „Nur ein Herz, das Gutes liebt"? Ich fand sie zufallig in Gellerts Geistlichen Liedern. Es ist die dritte Strophe des Liedes „Vom Tode" mit dem Incipit „Meine Lebenszeit verstreicht" (Mei. Jesus, meine Zuversicht).33 Ich gehe hypothetisch davon aus, daß diese Lied-Komposition von Schleiermacher stammt34 und stelle die Textfassung vom 5.8.1810 den Originalquellen synoptisch gegenüber: Klopstocks Lieder, Wien 1784 C. F. Geliert, Geistliche Vorbereitung zum Tode, S. U f f . Oden und Lieder (1757). Vom Tode (Str. 3)
Textkomposition Gedenkfeier 5.8.1810, Gesang nach dem Gebet. SWII/4, S. 53/. Chor Requiem aeternam dona Ei Domine! et lux perpetua luceat Ei.
Das Chor Mei. Wachet auf, ruft uns die Stimme etc. Selig sind des Himmels Erben, Die Todten, die im Herren sterben, Zur Auferstehung eingeweiht! Nach den lezten Augenblicken Des Todesschlummers, folgt Entzücken, Folgt Wonne der Unsterblichkeit! In Frieden ruhen sie, Los von der Erde Muh! Hosianna! Vor Gottes Thron, Zu seinem Sohn Begleiten ihre Werke sie! Die Gemeine Mei. Jesus meine Zuversicht etc. Staub bey Staube, ruht ihr (*) nun In dem friedvollen Grabe! Möchten wir, wie ihr, auch ruhn In dem friedvollen Grabe! Ach! der Welt entrannt ihr schon, Kamt zu eures Schweisses Lohn!
[Chor] Staub bei Staube ruhst Du nun In dem friedevollen Grabe Möchten wir wie Du auch ruhn Einst im friedevollen Grabe! Ach, der Welt entrannst Du schon, Kamst zu Deiner Tugend Lohn!
(*) ruht ihr) ruhst du, u.s.w., wenn es als ein Begräbnißlied gesungen wird. Nur ein Herz, das Gutes liebt, Nur ein ruhiges Gewissen, Das vor Gott dir Zeugniß giebt, Wird dir deinen Tod versüssen; Dieses Herz, von Gott erneut, Ist des Todes Freudigkeit.
Nur ein Herz, das Gutes liebt, Nur ein ruhiges Gewissen, Das vor Gott auch Zeugniß giebt, konnte dir den Tod versüßen; Solches Herz, von Gott erneut, Ist des Todes Freudigkeit.
Jesus wills! wir leben noch, Leben noch in Pilgerhütten!
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Jauerschen Gesangbuch (1813, Nr. 849). Andere Aufklärungsgesangbücher, wie z.B. Zollikofers Gesangbuch (Leipzig 1766, Nr. 294; 297), Cramers Gesangbuch (Altona 1780, Nr. 546), das Rigaer Gesangbuch (1805, Nr. 733), aber auch später das Bremer Gesangbuch (1812, Nr. 330; 836) enthalten nur eines der Lieder oder fuhren beide Lieder getrennt auf. C. F. Geliert, Geistliche Oden und Lieder, Leipzig 1757. Vom Tode. Zur Begründung s. u. 3.1.6.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Klopstocks Lieder, Wien 1784 C. F. Geliert, Geistliche Vorbereitung zum Tode, S. l l f f . Oden und Lieder (1757). Vom Tode (Str. 3)
Textkomposition Gedenkfeier 5.8.1810, Gesang nach dem Gebet. SW11/4, S. 53f.
Alle trugen einst dieß Joch, Alle, die die Krön* erstritten! Endlich, endlich kommt der Tod, Fahrte sie; führt uns zu Gott! Jesus lebte selber hier, Lebte selbst in Pilgerhutten! Ach! vielmehr, vielmehr als wir Hat der Göttliche gelitten! Standhaft laß im Kampf uns stehn, Stets auf dich, Vollender, sehn! Was ist dieses Lebens Zeit, Diese schwule Mittagsstunde Gegen die Unsterblichkeit? Aber, an der kurzen Stunde, Hängt, du unerforschter Gott! Gleichwohl Leben oder Tod! O du unsre Zuversicht, Unser Theil ist einst das Leben! Wenn auch unser Auge bricht, Wirst du, Mittler, uns es geben! Gottes und des Menschen Sohn, Deinen Frieden gabst du schon!
Gemeine Herr, du unsre Zuversicht! Unser Theil ist einst das Leben; Wenn auch unser Auge bricht Wirst Du Mittler es uns geben, Gottes und des Menschen Sohn, Deinen Frieden gabst Du schon.
Daß wir dein sind, nicht der Welt, Daß du uns wirst auferwecken! Diese Kraft der bessern Welt Laß in unserm Tod uns schmecken, Gieb uns mehr noch, als wir flehen: Mehr noch, als wir izt verstehen!
Daß wir Dein sind, nicht der Welt, Daß Du uns wirst auferwekken, Diese Kraft der bessern Welt Laß in unserm Tod uns schmekken! Segnend hast Du uns bedacht Als Du riefst: Es ist vollbracht!
Wenn wir einst, wie sie zu ruhn, Zu den Todten Gottes gehen; Wollst du Uberschwenglich thun, Ueber alles, was wir flehen! Denn was hattst du nicht vollbracht, Als du riefst: Es ist vollbracht! Das Chor Dank, Anbetung, Preis und Ehre, Macht, Weisheit, ewig, ewig Ehre Sey dir, Versöhner, Jesu Christ! Ihr der Ueberwinder Chöre, Bringt Dank, Anbethung, Preis und Ehre Dem Lamme, das geopfert ist! Er sank, wie wir, ins Grab! Wischt unsre Thränen ab, Alle Thranen! Er hats vollbracht! Nicht Tag, nicht Nacht, Wird an des Lammes Throne seyn! Die Gemeine Nicht der Mond, nicht mehr die Sonne Scheint uns alsdann! Er ist uns Sonne Der Sohn! die Herrlichkeit des Herrn! Heil! nach dem wir weinend rangen, Nun bist du, Heil! uns aufgegangen, Nicht mehr im Dunkeln, nicht von fern! Nun weinen wir nicht mehr! Hallelujah! Er sank hinab, Wie wir, ins Grab! Er gieng zu Gott! wir folgen ihm!
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In den zwei vom Chor vorgetragenen Anfangsstrophen wird ausdrücklich die verstorbene Königin angeredet: „Staub bei Staube r u h s t Du nun". Im Zuge dieser Individualisierung wird der Text quasi veredelt: „ K a m s t zu D e i n e r Tugend Lohn!" statt: „kamt zu eures Schweißes Lohn!" Der Lohn der Tugend wird nun mit Hilfe der Gellert-Strophe näher erläutert: Es ist die Reinheit des Herzens, die einen friedlichen Tod verheißt. Im jetzigen Kontext erklären sich weitere Aktualisierungen des Textes: „konnte dir den Tod versüßen", statt „wird dir deinen Tod versüßen." Bei Geliert ist der Mensch im Angesicht des Todes angesprochen, hier ein bereits Verstorbener. Die Frage, warum Schleiermacher die Gellert-Strophe hier eingefugt hat, kann, wenn es nicht aus sehr persönlichen Gründen geschah, nur die Predigt beantworten. Aus Klopstocks zehnstrophigem Lied läßt Schleiermacher die Strophen aus, die den Tod herbeiwünschen und das irdische Leben herabsetzen (III; V)35, die historisieren (IV) oder moralisieren und einschüchtern (V). Es sind auch solche Strophen, die erwägen und von Gott in der dritten Person sprechen. Mit der sechsten Strophe nimmt er den Faden wieder auf und weitet das Thema auf die Gemeinde aus. Sie ist nun Subjekt und Christus Adressat, darum muß der anonyme Vokativ „O!" durch „Herr" ersetzt werden. Schleiermacher behält die soteriologischen Strophen bei und hält so mit Klopstock an der paulinischen Auferstehungshoffnung fest, die im Erlösungstod Christi gründet. Schleiermacher hat allerdings die Gewißheit vermittelnde perfektische Seite des Heilsgeschehens durch die vorgezogene und akkomodierte johanneische Pointe „Segnend hast Du uns bedacht Als Du riefst: Es ist vollbracht!" sichtbar verstärkt, eine theologische Akzentsetzung, die sich im Zuge der Abkürzung und Abrundung des Liedes bot. Das Lied wird auf die Weise des im Berlin des 19. Jahrhundert wohl beliebtesten Beerdigungsliedes „Jesus, meine Zuversicht" gesungen. Welcher Chorsatz verwendet wurde, läßt sich leider nicht mehr feststellen.36 3.1.5. Der Predigtkomplex 3.1.5.1. Predigteinleitung und Kanzelvers Als Bindeglied zwischen Hauptgesang und Predigt fungiert der Kanzelgruß, der einerseits auf das Requiem zurück-, andererseits auf die Predigt vorausweist: „Herr! Deine Ruhe über die, welche schlafen, und Dein ewiges Licht leuchte ihnen! Aber Deine Ruhe und Dein Licht auch über uns, die wir noch hier sind,
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Die eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf die Strophen des Klopstockliedes. Vgl. aber etwa den vierstimmigen Satz in Kühnaus Choralbuch (1786), Nr. 101. - Zur Popularität der Melodie: Das Lied wurde auch bei der Ankunft des Leichenzuges am Königlichen Palais von einem Chor intoniert, vgl. Zum Angedenken der Königin Luise (1810), S. 21. Vgl. auch die Beschreibung des Trauerzeremoniells fur den Grafen Waldemar in Fontanes Roman Stine, Th. Fontane, Sämtliche Werke, Abt. I, Band 2, München 1962, S. 561.
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daß auch unser Wandel sei im Himmel!" 37 Schon hier beginnt die Grenze zwischen dem ewigen und dem irdischen Leben zu verschwimmen.38 Es folgen - dem traditionellen Exordium der orthodoxen Homiletik und auch Schleiermachers Predigtlehre gemäß - der sogenannte Eingang, der vom Anlaß des Gottesdienstes zur Textverlesung überleitet, und eine vom Text zur Disposition fuhrende Einleitung.39 Der „Eingang" beginnt mit der offiziellen Bekanntmachung des Anlasses. Schleiermacher erläutert den Zweck der Gedächtnisfeier: Die Trauernden suchen Trost bei Gott, der das Schicksal gefugt hat. „So sind auch heute die Häuser der Andacht in dieser königlichen Hauptstadt dazu eröffnet, um den gemeinsamen Schmerz aufzunehmen und durch Andacht zu heiligen. Denn der Trost, welchen der Christ sucht, ist nicht nur Hemmung der Thränen und Lüftung der beklommenen Brust; sondern darnach vornehmlich strebt er, daß auch die Schickung, die ihn am tiefsten beugt, ihm zugleich zu einer neuen Kraft des geistigen Lebens gedeihe."40 Damit ist zugleich Absicht und Thema der Predigt bezeichnet. Schleiermacher will die allgemeine Stimmung der Trauer aufnehmen, die Trauer läutern, d. h. neu ausrichten, und sie in eine Stimmung der Dankbarkeit verwandeln. Vor Verlesung des Predigttextes unterbricht der Prediger noch einmal zu Gesang (Kanzelvers) und Gebet (Vaterunser).41 Als Kanzelvers hat Schleiermacher wiederum eine kasusbezogene Liedstrophe gewählt. Es handelt sich um die nahezu unveränderte42 achte Strophe des Liedes „So komm', geliebte Todesstund'" (Porst, Nr. 882) auf die Melodie „Was mein Gott will." An uns stirbt nichts als Sterblichkeit, Wir selbst sind unverloren, Der Leib wird nur der Last befreit Und himmlisch neu geboren. Denn was man hier verweslich sät, Was hier verdirbt im Dunkeln, Das wird, sobald es aufersteht, Von Glanz und Schönheit funkeln. Warum hat Schleiermacher gerade diese Liedstrophe ausgewählt? Zunächst gibt es biographische Parallelen zwischen der Verfasserin des Liedes und der be37 38 39
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Predigten SWII/4, Berlin 1844, S. 54. Zur Umbestimmung und Entlokalisierung der Himmelsvorstellung in Schleiermachers Predigten vgl. Martin Weeber, Schleiermachers Eschatologie (2000), S. 181 ff. Vgl. zur Predigtlehre der Orthodoxie und der Aufklärung, E. Winkler, Aus der Geschichte der Predigt und Homiletik, in: Handbuch der Predigt (1990), S. 592ff. Zu Schleiermachers Predigtlehre, vgl. PT (A), S. 770: „Der Eingang ist bestimmt aus der allgemeinen religiösen Stimmung zu dem besonderen Gegenstande hinüberzuleiten; die Einleitung vom Thema aus auf die Eintheilung zu fuhren." SW II/4, S. 55. Im reformierten Wortlaut „Unser Vater", vgl. dazu Exkurs III. 2.3.1. Die Stelle „nach dem Kanzelgesang" bezeugt Schleiermacher auch in der Schrift „Ueber die neue Liturgie" (1816), SW 1/5, S. 195. In Porst, Nr. 882, 8 (1790), heißt die letzte Zeile: „Voll Glantz und Schönheit funckein".
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trauerten Königin: Das Lied „So komm', geliebte Todesstund'" stammt von der ebenfalls früh verstorbenen Herzogin von Sachsen-Zeitz, Sophie Elisabeth (1653-84). 43 Unter den Strophen des Liedes hebt sich die achte hervor durch das kollektive „wir", das Schleiermacher im liturgischen Zusammenhang stets wichtig ist, durch Abwesenheit von Todessehnsucht und Sentimentalität, durch die biblischen Assoziationen (IKor 15) und durch einen einfachen Versbau ohne Versüberschreitung. Inhaltlich vertritt das Lied die traditionelle Eschatologie, hier unter der besonderen Autorität des IKor. Schleiermacher dürfte der explizite Bezug auf die neutestamentliche Auferstehungshoffnung gerade vor der Verlesung des alttestamentlichen Predigttextes wichtig gewesen sein. Die beiden Anfangsverse bereiten auf Schleiermachers eigentümliche, in seiner Predigt ausgeführte, Unsterblichkeitsanschauung vor. 3.1.5.2. Predigt und Gebet Auf das Herrengebet folgt die Verlesung des vom König angeordneten Predigttextes Jes 55,8-9 und die sogenannte Einleitung, die Hinflihrung vom Text zum Thema und zur Disposition der Predigt. Schleiermacher hat seine Ablehnung des AT nie verhehlt.44 Entsprechend freizügig geht er hier mit dem Text um. Ist die eigene Aussage des Textes die fundamentale Überlegenheit Gottes über jegliches menschliches Vorstellungsvermögen im Kontext der babylonischen Gefangenschaft und der deuterojesajanischen Trost- und Hoffnungsbotschafl, so entnimmt Schleiermacher dem Text die hybride wirkende Anweisung, unsere Gedanken mit denen Gottes zu einigen, d.h. das vollendete Leben der Betrauerten im Urteil Gottes zu betrachten. Damit greift er allerdings die dialektische Struktur des Textes auf und macht sie seiner Predigt fruchtbar, indem er mit dem vom Predigttext angebotenen Raumschema seine präsentische Eschatologie legitimiert: „Nicht in irgend eine irdische Ferne werden wir verwiesen, um uns dort mit den göttlichen Gedanken wieder zusammen zu treffen, sondern auf die himmlische Güte und das himmlische Licht über uns." (56)45 Die Einleitung fuhrt hin zur Exposition des Themas: „So laßt uns demnach überlegen, wie wir auch in Bezug auf das Andenken an die vollendete Königin unsere Gedanken
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Eduard Emil Koch teilt dazu mit: Sophie Elisabeth, Herzogin von Sachsen-Zeitz (16531684) war Schülerin Speners in Frankfurt. ,„So komm, geliebte Todesstund' - erstmals gedruckt in dem Anhang zu 4 Liedern zu J. J. Schütz christl. Gedenkbüchlein, Frankf. 1673 mit der Überschrift: .Todesgedanken einer hochfürstlichen Prinzessin.'" Im Hildburghauser Gesangbuch (1714) „mit der Angabe, daß sie es über ihren selbsterwählten Leichentext Hiob 19,25 verfaßt habe." E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 4 (1868), S. 221f. - Zur Verfasserfrage vgl. auch A. F. W. Fischer, Kirchenliederlexikon (1878), Bd. 2, S. 265f. Zuletzt in seinem das BG verteidigende Sendschreiben an Ritsehl 1830, SW 1/5, S. 637: „Ich habe es doch laut genug gesagt daß ich das alte Testament nicht eben so ansehe und stelle als göttliche Offenbarung wie das neue ..." Die eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf die Seitenzahlen im vierten Band der Predigten: SW II/4.
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mit Gottes zu einigen haben", aus dem sogleich die Disposition hervorgeht. Die Einigung mit Gottes Gedanken erfolgt auf eine dreifache Weise: „Erstlich unsere Gedanken über den Werth des Lebens und seiner Güter. Zweitens unsere Gedanken über das Wesen und den Ursprung menschlicher Liebe und Verehrung, und endlich unsere Gedanken über die Art und den Umgang menschlicher Wirksamkeit." (56f.) Der gesamte Predigtkomplex ist unbeschadet der Kritik an der Textbehandlung und an den theologischen Prämissen von großer Einheitlichkeit bestimmt. Der Prediger gedenkt zu trösten, indem er die Gemeinde an die unsterblichen Güter erinnert, die ein Leben auszeichnen: an die „unverlierbare Anmut und Schönheit der Seele" (59) und an Luises Wirksamkeit „auf die Seelen der Menschen" (62). Aller äußerer Glanz und Erfolg ist vergänglich und daher nichtig. Die unvergänglichen und unverlierbaren Güter sind es, die ein Leben vor Gott reich machen.46 Der thematische Leitfaden der gesamten Predigt ist das Bemühen, sich das Urteil Gottes über den Menschen anzueignen. Die theologische Prämisse dieses Versuchs nennt Schleiermacher selbst: „die gottähnliche Natur und Abstammung des Menschen." (61) Diese Gottesverwandtschaft läßt sowohl eine solche Spekulation über Gottes Urteil wie auch die Möglichkeit eines Gott gefalligen Lebens und damit eines guten Urteils Gottes zu. Der anthropologische Optimismus, der daraus spricht, ist von theologischer Seite oft genug angefragt worden. Muß der Mensch nicht als totus peccator angesehen werden?47 Im Blick auf die trauernde Gemeinde stellt sich die Frage, ob sich Schleiermacher womöglich über ihre Trauer zu leicht hinwegsetzt?48 Diese Frage ist zu verneinen, wenn man die Predigt nicht isoliert, sondern den ganzen Gottesdienst vergleicht und die Lieder psychologisch auch als Ventile seelischer Spannungen auffaßt. Und sofern der Prediger mit seiner Rede die Absicht verbindet, durch Läuterung der Trauer zu trösten, hat er wirklich seine Adressaten im Blick, freilich nicht auf eine empathische, sondern auf eine erstaunlich strenge, fast kerygmatische Art. In allen drei Predigtteilen korrigiert Schleiermacher Zerrbilder der Königin und Entartungen der Trauer. Man wird Schleiermacher nicht vorwerfen können, daß er die Trauernden billig vertröstet hätte. Nirgends verweist er auf eine Auferstehung oder auf die Unsterblichkeit der Seele. Stattdessen predigt er das Weiterleben der Verstorbenen in den Herzen und im Gedenken der Trauernden, wo es auch Frucht bringen soll; vermeintlich ein schwacher Trost. Doch Schleiermacher spendet der Verstorbenen höchstes Lob und damit der Gemein46
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Schleiermacher preist die Verewigte „in ihrem beständigen Bestreben, das Gute und Schöne darzustellen." SW II/4, S. 61. Die Beeinflussung durch das griechische Menschenbild und Piatons Idee der „Kalogathie" sind unübersehbar. Vgl. etwa Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1985 5 ). Barth registriert bei Schleiermacher eine „fließende Differenz" zwischen Sünde und Gnade und verweist auf Luther und Calvin, S. 423f. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1933/1975 2 ), wirft den Schleiermacherschen Predigten über den Tod insgesamt einen „Zug ins Harmlose", S. 125, ja sogar „Stoizismus", ebd. S. 127, vor.
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de tiefsten Trost, wenn er die Betrauerte in eine bestürzende Nähe zum Erlöser bringt: „Denn wie der Sohn Gottes das ewige Wort des Vaters genannt wird: so ist auch jedes edlere Gemüth, das ein Zeugniß von Gott giebt durch sein Dasein, ein Wort des Herrn, und kehrt nicht leer zurück, wenn es von der Erde verschwindet, sondern trägt noch spät bleibende Frucht!" (64)49 Schleiermacher hat hier im Blick auf die weitere Geschichte Preußens zweifellos prophetische Worte gesprochen, doch theologisch muß man besorgen: Wird mit solchem Synergismus nicht die Einzigartigkeit und Gottheit Christi in Frage gestellt? Der Aufbau der Predigt und das gesamte Denken, das sich darin ausspricht, ist von einem platonischen Dualismus bestimmt, der das wesentliche Innere vom nur scheinbaren Äußeren unterscheidet. Um diesen Dualismus zu verdeutlichen, kann Schleiermacher gelegentlich auch Metaphern verwenden, z.B. die von Schale und Kern. (57) Auffällig, weil in Schleiermachers Predigten selten, ist die Häufung von Schriftzitaten am Schluß.50 Die vergleichsweise größere Plastizität der Predigt ergibt sich aus dem Kasus. Die Anspielungen auf Luises politisches und repräsentatives Wirken sind relativ leicht zu entschlüsseln.51 Trotz des zuweilen strengen Tons in der Auseinandersetzung mit falschen oder „unreinen" Denkungsarten, geschieht diese nicht im anredenden „Ihr", sondern im unpersönlichen „sie". So bezieht sich der Prediger in die Gemeinschaft der Hörenden ein und meidet den Habitus des Lehrers und Moralisten. Nach der konsequenten Durchführung seiner Predigtdisposition endet der Gottesdienst im vorliegenden Druck mit einem Fürbittgebet für die Trauernden, besonders für die königliche Familie.52 Dieses Gebet faßt den Ertrag der Predigt in Gebetssprache noch einmal bündig zusammen. Es endet allerdings mit der konkreten Bitte um Erweckung des Einheitsbewußtseins: „Ja erwekke uns allen in diesem Schmerz zugleich das erhebende Gefühl, wie alle die dir dienen und dich lieben auch Eins und unzertrennlich sind vor Dir. Amen." (64) Ganz sicher ging der Gottesdienst mit Liedstrophe und Segen zu Ende. Leider hat Schleiermacher auf den Abdruck des Liedes nach der Predigt verzichtet.53 49
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Derselbe Gedanke findet sich bereits in der Predigt vom 22.7.1810, in der Schleiermacher das Martyrium des Stephanus vor dem Hintergrund des als Opfer verstandenen Todes der Königin deutet, vgl. SW II/4, S. 42ff. Jes 55,1 Of. und Prov 10,7. Vgl. etwa die Anspielungen auf Luises Begegnung mit Napoleon, SW II/4, S. 63. Es handelt sich in der vorliegenden Fassung nicht um das allgemeine Kirchengebet, sondern um ein kasuell spezialisiertes Fürbittgebet. Möglicherweise aber hat Schleiermacher nur auf den Abdruck alles liturgisch Wiederkehrenden verzichtet. „Denn an das Kirchengebet nach der Predigt [...] lehnen sich hernach herabsteigend alle Fürbitten für einzelne Gemeindeglieder. [...] Eben so ist auch von vorne herein in dem alten Kirchengebet die Fürbitte für den König nicht ohne Einleitung; sie geht vielmehr wie ganz von selbst hervor aus der Fürbitte für die Kirche." Ueber die neue Liturgie, SW 1/5, S. 200. Vgl. Schleiermachers Vorerinnerung zur Druckausgabe: „Von dem zur allgemeinen Gedächtnißfeier besonders bestimmten Tage gebe ich hier [...] f a s t den ganzen Verlauf des Gottesdienstes." SW II/4, S. 42.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
3.1.6. Das Ganze Die Gedenkfeier steht insgesamt unter dem Motto der Predigt: „Wie wir in Bezug auf das Andenken an die vollendete Königin unsere Gedanken mit Gottes zu einigen haben." Schleiermacher bezweckt weder einen hymnischen Nachruf noch theologische Spekulationen über die Unsterblichkeit, sondern die „Läuterung" der Trauer und damit die Tröstung der Gemeinde.54 Wie muß das Bild der Königin, nämlich das Andenken an sie, gestaltet sein, damit es weiterlebt und weiterwirkt und Frucht bringt für die Lebenden, die versammelte Gemeinde? Es geht also in den Handlungen dieses Gottesdienstes darum, wie das tragische Ereignis begriffen und bewältigt werden kann. Schleiermacher verfolgt ein seelsorgerliches Anliegen, wobei zwischen den Liedtexten und der Predigt ein komplexes Verhältnis stattfindet. 1. Während das Eingangslied nur in einem sehr allgemeinen Verhältnis zum Predigtthema steht, leitet das Altargebet zum casus diei über. Die Gesänge vor der Predigt weisen zu dieser genauere Entsprechungen auf. Diese Entsprechungen sind formaler und inhaltlicher Art: Formal fallen die grammatikalischen Umstellungen von der dritten in die zweite Person sofort auf. Was aber hat die Einschaltung der Gellert-Strophe im Kontext der Gesamtkonzeption zu bedeuten? In seiner Predigt zwingt Schleiermacher die Gemeinde, die Verstorbene mit Gottes Gedanken zu bedenken, indem er die Gemeinde davor warnt, vergänglichen Gütern nachzutrauern. Es sind die geistlichen Werte, die Bestand haben. Wohl im Vorgriff auf diese theologische Deutung des Todes der Königin fugt Schleiermacher die Gellert-Strophe in das Klopstock-Lied ein und nimmt damit Bezug auf das schon zu Lebzeiten Luises sprichwörtliche „gute Herz". Doch Schleiermacher meint mit Geliert ein „solches Herz, von Gott erneut". Die interpolierte Strophe ist der poetische Ausdruck dessen, wofür der Liturg im Altargebet Gott dankt: „daß ihr Herz durchdrungen war von Liebe zu Dir, daß auch ihr aufgegangen war das Licht der christlichen Wahrheit zur Erkenntniß Deines Willens, zum Dir wohlgefälligen Leben". (53) Der Prediger verallgemeinert es folgendermaßen: „Der Mensch liebe zuerst Gott, und alles andre[,] sich selbst sowohl als seinen Nächsten[,] nur in Beziehung auf Gott. Wo ihm Aehnlichkeit entgegenstrahlt mit göttlichen Eigenschaften, wo gehandelt wird nach göttlichen Gesezen, da neige sich sein Herz hin [...] Wer von uns sollte es auch nicht fühlen, daß es diese Liebe und Verehrung ist, die unsere Herzen so unablöslich fesselt an unsere verewigte Königin!"55 Nur die Gottesliebe, nur „ein Herz, das Gutes liebt" hat Anspruch auf Verehrung. Indem Luise diese Be54
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Diese Funktion der Predigt blendet der Systematiker Trillhaas bei seiner Kritik an Schleiermachers Predigten über den Tod aus, vgl. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 119-130. Trillhaas moniert: „In den beiden Predigten von 1810, welche unter dem Eindruck des Hinscheidens der Königin Luise gehalten wurden [...], wird der Todesgedanke selbst kaum berührt." Ebd. S. 126. SW II/4, S. 60. Luise wurde schon zu Lebzeiten als „Königin der Herzen" bezeichnet. Diesen Titel nahm auch Hofprediger Ehrenberg in seiner Trauerpredigt am 5.8.1810 auf, vgl. Zum Angedenken der Königin Luise von Preußen (1810), Anhang B, S. 4.
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dingung erfüllte, ist sie wahrhaft Hebens- und verehrenswert, aber darum wird sie, wird ihr Vorbild, weiterwirken über ihren Tod hinaus und Trauer in Hoffnung und Stärke verwandeln. Durch seine Auslegung greift der Prediger freilich über den Heilsindividualismus des Dichters weit hinaus und thematisiert die Konsequenzen dieses Todes für die Hinterbliebenen. Diese will er lösen aus der rückwärtsgerichteten Trauer, aber auch aus der nur jenseitsbezogenen Erwartung und frei machen für die heilvolle Gegenwart. Schon das kurze Kanzelgebet („Aber Deine Ruhe und Dein Licht auch über uns, die wir noch hier sind, daß auch unser Wandel sei im Himmel!") offenbart sein johanneisches Denken. Und als Aufgabe für den Trauernden bezeichnet er es, „daß auch die Schickung, die ihn am tiefsten beugt, ihm zugleich zu einer neuen Kraft des geistigen Lebens gedeihe." (55) Besonders durch die Johannes-Zitate in den Schlußzeilen der beiden Gemeindestrophen ist die Richtung der Predigt vorbereitet: der bereits gegebene Friede und das bereits vollbrachte Heil. Diese Lehre ist auch aus dem Tod der Königin zu ziehen. Darum endet die Predigt mit den Worten: „Je mehr wir verloren haben, um desto mehr auch behalten wir, und auch von ihr der Vollendeten gilt es: ,der Gerechte stirbt, aber sein Andenken bleibt im Segen. '"5 du; ihr > uns), in sprachlicher Hinsicht Wortwiederholungen beseitigt (V. 1: Gottheit Fülle > Ew'gen Fülle) und den dichterischen Überschwang gedämpft (Davids Psalmenschwung V. 5), in liturgischer Hinsicht die Gottesdienstsituation bezeichnet (zweimaliges Jetzt" V. 7 und 8), in dogmatischer Hinsicht die Trinität vervollständigt (Christi Wahrheit V. 9). Und durch die rhetorische Frage am Schluß wird der strophische Zusammenhang verstärkt. In den folgenden Strophen werden das aktive Handeln Gottes betont und passivische Aussagen zurückgedrängt, theologisch oder sprachlich als unangemessen empfundene Ausdrücke werden ersetzt (Satan > Hölle, Herzenshuldigungen > sel'gen Huldigungen: BG, Nr. 265, 3; „schnöd und kraftlos schauen" > „in ihr Verderben schauen" „dem Gnadenstuhle trauen" > „dem Ruf vertrauen": BG, Nr. 265,4), biblische Wendungen werden näher an den Wortlaut der Luthertextes herangeführt und erhöhen dadurch ihren Wiedererkennungswert (BG, Nr. 265, 4: „wenn sich der Geist zwar willig zeiget, doch ihn des Fleisches Schwachheit beuget", vgl. Mt 26,41), schließlich werden dogmatische Ungenauigkeiten korrigiert („Dereinst wirst Du herniederschweben, Und weit und breit das Todtenfeld ..." > „Wenn Christus einst herniederschwebet auf das geschloßne Todtenfeld..." BG, Nr. 265, 6). Am Beispiel dieser Liedbearbeitung ist die „Verkirchlichung" exemplarisch zu beobachten. Sie beinhaltet: - Zweck-entsprechende Einrichtung durch Kürzung und klare liturgische Rollenverteilung.138 - Sprachliche und theologische Korrekturen im Sinne der Kirchenlehre (opera trinitatis), christologische Konzentration und trinitarische Vervollständigung. - Verdeutlichung biblischer Anspielungen in Anlehnung an den Luthertext. b) Das BG ist bestimmt zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische G e m e i n e n . Die genannte Verstärkung der dialogischen Struktur weist auf ein Anliegen hin, das an anderer Stelle noch klarer vertreten wird. Der gottesdienstliche Liedgesang wird von der Gemeinde ausgeübt. Darum werden alle zu subjektiven Lieder ausgeschlossen, individualisierende Passagen werden gestrichen oder geändert und „unkirchliche" Lieder verworfen, z.B. am 27.7.1826: „Auf Hrn. Ritschis Vorschlag wurde beschlossen, das Lied: SCHWINGT HEILIGE GEDANKEN, welches ihm aufgegeben war, als unkirchlich, fallen zu lassen." Das Lied (vgl. Mylius, Nr. 13) huldigt einer theistischen Philosophie und einer individualistischen Seelen-Religion („Im Geiste bet ihn, Seele, und in der Wahrheit an. Lieb ich des Herrn Befehle, wie selig bin ich dann ...") und wurde zu Recht verworfen. Andererseits konnten Lieder auch „verkirchlicht" werden, indem sie - das augenfälligste Merkmal - in die Wir-Form umgestellt wurden, wie z.B. das 138
Garves dritte Strophe, die die Passionsgeschichte nacherzählt, und die letzte Strophe, die die himmlische Seinsweise des Geistes besingt, wurden gestrichen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Lied von Κ. B. Garve (Nr. 73): „Komm, die du Jesu Kreuz erhebst". Schleiermacher bearbeitete das Lied für die GBC und lieferte seine Fassung am 26.10.1826 ab mit dem bezeichnenden Incipit: „Kommt, die ihr Jesu Kreuz erhebet" (BG, Nr. 185). Deutlich wird die Option der GBC für die Wir-Form auch in Ritschis Bearbeitung von Tersteegens „Gott ist gegenwärtig" (BG, Nr. 28).139 c) Das BG ist schließlich bestimmt zum gottesdienstlichen Gebrauch für e v a n g e l i s c h e Gemeinen. Wie spiegelt sich die programmatische Bestimmung für „evangelische Gemeinen" in den Akten ab? Man muß für das Prädikat „evangelisch" eine doppelte Bedeutung unterscheiden: Zum einen die sich von der katholischen Kirche abgrenzende exklusive Bedeutung, die freilich entsprechend königlicher Richtlinie bereits abgemildert war, indem Friedrich Wilhelm III. im Zuge der Union von 1817 auf den Verzicht des Prädikats „protestantisch" gedrungen hatte. Zum andern die unionistische inklusive Bedeutung, die Lutheraner und Reformierte integrativ einschloß. Von der konfessionell anteiligen Besetzung der GBC war oben bereits die Rede. Einen ähnlichen Proporz konnte es bei der Quellenrekrutierung nicht geben, da weit weniger reformierte Gesangbücher im Umlauf waren, dennoch sind auch reformierte Gesangbücher in der Kommissionsarbeit gut bezeugt.140 Die Benutzung katholischer Gesangbücher ist nicht nachweisbar, wohl aber wurden z.B. sieben Lieder des zum Katholizismus konvertierten Johann Scheffler aufgenommen. Konfessionelle, insbesondere antikatholische Polemik spielte nach Ausweis der Protokolle eine eher geringe Rolle. Dennoch gab es sie, wie wir im Protokoll vom 26.1.1826 lesen: „Hr. Marot hatte das, von mehreren Stimmen sehr nachdrücklich verworfene Dieterich'sche Lied: LASS MICH DES MENSCHEN HOHEN WERTH dennoch, als Versuch, zur Bearbeitung übernommen. Die in der vorigen Sitzung sehr lebhafte Contestation gegen dieß Lied, welche besonders von Hrn. Ritsehl ausgegangen war, erneuerte sich mit eben so großer Lebhaftigkeit, u wurde von Hrn. Theremin, der in der vorigen Sitzung fehlte unterstützt. Man hatte besonders gegen das Lied einzuwenden, daß es mit der Kirchenlehre im Widerspruche sei, u die katholische Lehre begünstige. Der Bearbeiter nahm es zurück, u die Commiss/o« ließ es geschehen; doch erklärte Hr. Propst Ribbeck, daß er die Verwerfung des Liedes, welches durch die Bearbeitung ein christliches Gepräge erhalten hatte, nicht billigen könne, weil nicht gefordert werden dürfe, daß in jedem Liede das Dogma erscheine, sondern nur, daß es im Geiste des Christenthums gedichtet sei." 141
Den Lutheraner Ritsehl mag an dem Lied das semipelagianische Menschenbild (Vernunft und Freiheit) gestört, ihm mag Luthers Topos von der totalen Ver-
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Die Bearbeitung durch Ritsehl erfolgte am 7.12.1820 nach dem Urtext, vgl. auch Protokoll vom 11.5.1820. 140 Z.B. das rationalistische Leipziger Gesangbuch von G. J. Zollikofer (1766), das alte Frankfurter Gesangbuch (1744) und das neue Bergische Gesangbuch (Elberfeld 1805), zum Nachweis s. u. mein Gesangbuchverzeichnis. 141 Vgl. Mylius, Nr. 252: „Laß mich des Menschen wahren Werth".
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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derbtheit der menschlichen Natur gefehlt haben.142 Dennoch konnte sich in der Diskussion ein dogmatisch tolerantes, ökumenisch gesinntes theologisches Verständnis Gehör verschaffen. Trotz dieser protokollierten Kontroverse erwecken die Protokolle im Ganzen den Eindruck einer - die gemeinsame Arbeit tragenden und konfessionelle Differenzen überbrückenden - theologischen Grundübereinstimmung. Wie stark diese von Schleiermacher durch seine theologischen Schriften als auch durch seine persönliche Gegenwart bestimmt worden ist, entzieht sich der Nachprüfbarkeit. Jedenfalls zeigen I. Seibis Analysen über die theologischen Einflüsse Schleiermachers auf das BG in Verbindung mit den Protokollen, daß auch die Liedbearbeitungen anderer Kommissarien diesen Einflüssen unterlagen, und daß das BG dadurch ein stimmiges theologisches Profil bekam, das die Individualität der Bearbeiter und ihrer konfessionellen Prägung - wie beabsichtigt erfolgreich zu „verschleiern" verstand. Korrespondierend zu dem Streben nach sprachlicher „Klassizität" beobachten wir theologisch das Bemühen um eine Standardisierung der Liedtexte auf der Basis einer aufgeklärten evangelischen Normaltheologie, wobei die theologischen Profile der einzelnen Bearbeiter in den Hintergrund treten. 2.6.3. Musikalische Kriterien Besonders stolz war die GBC auf die musikalischen Rücksichten, die sie genommen hatte. Wilmsen rühmt das BG in einem Empfehlungsschreiben vom 14.11.1829 gegenüber dem Presbyterium der eigenen Gemeinde: „Das erscheinende muß eben deswegen schon das vorzüglichste seyn, weil es das Beste aus so vielen Vorarbeiten und Vorgängern sich aneignen konnte, und weil sich acht Männer vereinigten zu einer Bearbeitung der schwierigsten Art, bei welcher unter andern ein Punkt, der von allen früheren Bearbeitern übersehen wurde, aufs sorgfältigste berücksichtigt worden ist, der musikalische nemlich, oder die genaue Beobachtung der Fermaten, wodurch der Gesang so sehr an Eindruck u Erbaulichkeit gewinnt. [...] Ferner werden durch dieses Gesangbuch gegen 200 treffliche Choräle wieder in Cours gesetzt, welche ganz aus dem Kirchengesange verschwunden waren."143 Wilmsen benennt zwei musikalische Kriterien, von denen sich die GBC leiten ließ: „die genaue Beobachtung der Fermaten" und ein größtmöglicher Melodienreichtum. Die bereits oben beschriebene Bekämpfung der Versüberschreitung hatte nicht allein pädagogische und ästhetische Gründe, etwa um der singenden Gemeinde das Textverständnis zu erleichtern, sondern diese prinzipielle Maßnahme geschah auch aus einem ganz praktisch-musikalischen Grund: Die Organisten füllten die Fermaten gern mit kleinen kadenzierenden Zwischenspielen aus, um der Gemeinde Atempausen und Lesezeit zu gewähren, andererseits um Pro142 143
Schleiermacher hätte von seiner Inkarnationschristologie her mit diesem Lied keine Probleme gehabt, doch da er fehlte, konnte er das Lied nicht verteidigen. J.I.9 Vol. II. Bl. 1 4 9 - 1 4 9 V (nicht im Anhang).
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3. D e r Festgottesdienst in d e r liturgischen P r a x i s
ben der eigenen Kunstfertigkeit zu geben.144 Diese Zwischenspiele konnten aber dazu führen, daß bei längeren Perioden der Verständnisfaden abriß, weshalb nach dem Willen der GBC jeder Vers möglichst eine konsistente Sinneinheit bilden sollte.145 Neben der Sorge um die Übereinstimmung von musikalischer Phrase und Syntax wurde vor allem auf die Vielfalt der Melodien großer Wert gelegt. So war z. B. Georg Neumarks Melodie „Wer nur den lieben Gott läßt walten" ihrer weiten Verbreitung wegen fast in Verruf geraten.146 Entweder ersetzte man die allzu bekannte Weise durch eine andere desselben Versmaßes, wie z. B. durch „O daß ich tausend Zungen hätte"147, oder man änderte das Versmaß, wobei dann auch Texte manipuliert werden mußten, um sie einer gegebenen anderen und selteneren Melodie anzupassen. Am 8 . 2 . 1 8 2 1 trug Marot vor: „MEIN GOTT, 148 ICH KLOPF' AN DEINE ρ von B. Schmolke, in eine kürzere Versart umgestellt." Durch die Umstellung der Versart konnte die seltene Melodie „Zeuch meinen Geist" für das Lied (BG, Nr. 335) in Gebrauch genommen werden.149 144
Es ist merkwürdig, daß Schleiermacher sich diesem „Gesetz" fügte, weil solche Momente „absoluter Musik" eigentlich seinem Stilideal von „Simplizität und Keuschheit" widersprachen. In der PT jedenfalls wird die Unsitte der Zeilenzwischenspiele nicht kommentiert. Allerdings bemerkt Schleiermacher, daß durch diese Praxis die poetische Freiheit der Liederdichter eingeschränkt wird, vgl. PT, S. 172. Und das in Schleiermachers Ästhetik, vgl. ÄO, S. 194, legalisierte Zwischenspiel könnte auch das Choralvorspiel oder das Strophenzwischenspiel meinen. - In der Brüdergemeine war das Zeilenzwischenspiel allerdings nicht üblich, vgl. J. F. Reichardts Bericht, bei Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 84. Vgl. zur Praxis der Zeilenzwischenspiele, W. Blankenburg, in: Leiturgia IV, S. 60Iff. Blankenburg datiert diese Praxis seit ca. 1700. Sie hänge mit der Verlangsamung des Singens zusammen, die wiederum eine Folge des aufklärerischen Bedürfnisses nach Erbauung gewesen sei. 145 Wie sich diese Maxime auf die Textredaktion auswirkte, ist ζ. B. in dem von Schleiermacher bearbeiteten Weihnachtslied „Bringt frohen Dank und Lobgesang" (BG, Nr. 116) zu beobachten. Die Melodie „Wir Christenleut' hab'n jetzo Freud" ist durch je zwei Fermaten innerhalb der Verse 1 und 3 gekennzeichnet. Vgl. die Melodie in A. W. Bach, Choralbuch zum BG (1830), Nr. 241 (vgl. auch EKG, Nr. 22). Schleiermacher hat auf diese musikalische Eigentümlichkeit bei der Bearbeitung besonders von Strophe 4 Rücksicht genommen, indem er jeweils sinnvolle Halbverse bildete, vgl. den Gottesdienst am 2. Weihnachtstag 1823,3.6.3.1. 146 Vgl. Schleiermacher, PT, S. 184. 147 So etwa bei dem Lied „Mein Gott, du weißt am allerbesten", das in Trowitzschs Probedruck, Nr. 18 noch mit Neumarks Melodie steht, die aber bei der Revision ausgetauscht wurde, siehe BG, Nr. 16 und s. u. Exkurs II. 2.7. 148 Das Lied war am 17.8.1820 von Schleiermacher, wohl aus dem Stralsunder Gesangbuch, Nr. 604 (Mein Gott! ich klopf an deine Pforte, Mei. Wer nur den lieben Gott) vorgeschlagen worden. Mit Hilfe der Bearbeitungen im Mylius und in Zollikofers Gesangbuch (dieselbe Melodie) sollte es von Marot redigiert werden. In BG, Nr. 335 steht es mit der Melodie: Zeuch meinen Geist (zwei Reimpaare aus jambischen Vierhebern, das erste mit weiblichem, das zweite mit männlichem Schluß). Die Strophe war von A. Lobwasser für seine Übersetzung des 46. Psalms geformt und später vor allem von Tersteegen verwendet worden, vgl. H. J. Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 241 f. 149 Vgl. A. W. Bach, Choralbuch (1830), Nr. 252.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
213
Das Ansehen einer seltenen Melodie bezeugt auch das Protokoll vom 13.7.1820: „Darauflegte Hr. Marot vor die Bearbeitwwg des Liedes: ICH RUF ZU DIR HERR JESU CHRIST p. welches wohl eigentlich nur um der Melodie willen beizubehalten ist, da es wenig inneren Gehalt, u einen sehr unbequemen Versbau hat." Schließlich kann der hohe Rang, der der Melodie beigemessen wurde, nicht eindrücklicher demonstriert werden als dadurch, daß ein Lutherlied bloß wegen der Melodie beibehalten wurde: „Hr. K ü s t e r trug v o r L u t h e r s L i e d JESUS CHRISTUS UNSER HEILAND m i t w e n i g e n
Veränderungen. Um die Melodie nicht verloren gehen zu lasssen, ward es beibehalten. Jedoch soll wegen der Melodie erst noch nähere Prüfung angestellt werden, welche Hr. Ritsehl übernahm."150
Konnten Texte geändert und Strophen umgebaut werden, um sie einer seltenen Melodie anzupassen, so konnte andererseits die geschätzte Charakteristik einer Melodie der „Rettung" eines Originaltextes zu Hilfe kommen, wie das Protokoll vom 7.12.1819 veranschaulicht: „Hr. Superintewifenf K ü s t e r las d i e B e a r b e i t u n g d e s L i e d e s : EIN LÄMMLEIN GEHT,
UND TRÄGT DIE SCHULD. Diese Bearbeitung wurde zwar als Umarbeitung sehr gebilligt, aber das alte Lied müßte doch unverändert bleiben, u schon der Anfang der Melodie wegen stehen bleiben".
Erst am 2.1.1823 wurde das Lied wieder verhandelt, indem Küster vortrug: „EIN LÄMMLEIN GEHT UND TRÄGT p. M a n b l i e b l a n g e über d e n A n f a n g u n e i n s , in-
dem eine Stimme den alten Anfang, eine das Gotteslamm u Einige „Ein Lamm geht hin u trägt die Schuld" wollten. Zuletzt wurde auf Hrn. Propst Ribb. Antrag das Alte beibehalten als das dem Ton des ganzen Liedes angemessenste. - Ein Vers aus Zollikofer wurde mit einiger Veränderung aufgenommen; die letzten drei zusammengezogen." 151
Die Mehrheit hatte zunächst das prosodisch korrekte Initium aus Zollikofers Gesangbuch bevorzugt, doch konnte man sich schließlich auf das Originalincipit einigen, da das Paul Gerhardt-Lied mit der alten Melodie („An Wasserflüssen Babylon") inzwischen symbiotisch so verwachsen war, daß BG, Nr. 169 „In eigener Melodie" geführt wird. Der Melodie wegen kehrte man also zum Urtext zurück.152 Neben dem Aspekt der Melodienvielfalt wurde auch die Frage der Melodieneignung gestellt. Auf Ritschis Anmerkungen zu § 6 der Grundsatzerklärung vom 24.7.1818 und auf seine Kritik an der Praxis der gedanken- und gelso 151 152
Protokoll v o m 6.12.1821. Vgl. Zollikofers Gesangbuch, Nr. 186: Ein Lamm geht hin und trägt die Schuld. D i e H y m n o l o g e n hatten wahrscheinlich Anstoß genommen an dem Diminutiv „Lämmlein", das fur viele mit unangenehmen Herrnhuter Assoziationen besetzt war - nicht für Schleiermacher! D o c h wird gerade dieser Diminutiv durch die Viertelbewegung musikalisch illustriert.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
s c h m a c k l o s e n V e r w e n d u n g der M e l o d i e „Herzliebster Jesu" v o n Johann Crüger war bereits h i n g e w i e s e n worden. 1 5 3 Hauptkriterien bei der Beurteilung v o n M e l o d i e n waren einerseits die Häufigkeit, andererseits eine eigene ästhetische Bewertung, die zwar musiktheoretisch nirgends reflektiert wird, sich aber einige M a l e in - vielleicht zufalligen Urteilen äußerte: A m 2 3 . 8 . 1 8 2 1 wird das Pfingstlied „O heiliger Geist, o heiliger Gott" w e g e n „der s c h ö n e n M e l o d i e " a u f g e n o m m e n . 1 5 4 E s handelt sich in A . W. B a c h s Choralbuch u m eine e i n g ä n g i g e B - D u r - M e l o d i e i m s c h w i n g e n d e n 3/4 Takt. A m 9 . 5 . 1 8 2 2 trägt Ritsehl vor: „WIE BIST DU SEELE IN MIR SO GAR BETRÜBT nach einer schönen, nur selten v o r k o m m e n d e n M e l o d i e u Sylbenmaaß." D i e heute g e l ä u f i g e s c h w u n g v o l l e M e l o d i e „ N u n preiset alle" v o n M . A . v o n L ö w e n s t e r n ist i m Choralbuch v o n A . W. B a c h (Nr. 178) im 3/4 Takt notiert. 1 5 5 D a s Prädikat „eine sehr schöne M e l o d i e " wurde am 2 1 . 1 1 . 1 8 2 2 auch d e m L i e d „ M e i n Vater z e u g e m i c h dein Kind" ( B G , Nr. 5 4 1 ) verliehen. D a s in A . W. B a c h s Choralbuch (Nr. 159) in a-moll und i m 4/4-Takt stehende L i e d hat trotz 153
S. o. Exkurs II. 2.4. - Der Paragraph, auf den Ritschi hier (vgl. seine Anmerkungen vom 11.8.1818 zum Protokoll vom 24.7.1818, in Anhang 9), Bezug nimmt, lautet: „Da der Rhythmus der meisten Lieder eine vier- ja sechs- u achtfache Anpassung von gangbaren Melodien zuläßt, so würde aus diesen die passendste auszuwählen u auf diese Art der musikalische Theil der Verbesserung zu bewirken seyn. Außerdem wären besonders gute alte, verschollene Melodien wieder herzustellen, u in Gang zu bringen, u also kein Lied deswegen zu verwerfen, weil es nur nach einer unsern Gemeinden unbekannten Melodie gesungen werden kann." Protokoll vom 24.7.1818, Anhang 9), J.I.13, Bl. lf. Allerdings hielt sich auch Ritsehl selbst nicht immer an seine Forderung, als er z. B. am 27.4.1826 das Cramersche Lied „Jauchzt unserm Gott mit freudigem Gemüthe" (BG, Nr. 65) mit der Crügerschen Melodie ablieferte. Hier fehlten noch die entsprechenden Zuordnungskriterien, doch der Sinn fur die kirchenjahreszeitliche Bestimmung einer Melodie wurde wieder wach. A. J. Rambach hatte bereits 1815 für die Wahl der Texte und Melodien die Orientierung am Kirchenjahr nach dem Vorbild der alten Kirche gefordert: „Man hatte für die Advents- und Weihnachtszeit besondere, den Worten und der Melodie nach eigene Anfangsgesänge, Antiphonien, Responsorien, Hymnen, wieder andere für die Passionszeit, für das Osterfest u.s.w. die außer dieser Zeit nicht gebraucht wurden. [...] Aber unglücklicherweise verließ man später den von den Vorfahren vorgezeichneten weg, und führte, ich weiß selbst nicht warum? mit Ausnahme eines oder zweyer sogenannter Hauptlieder eine durchgängige Gleichheit der Gesänge fürs ganze Jahr ein; wie denn bey uns noch jetzt in dem Vormittags-Gottesdienste Jahr aus Jahr ein die beyden Lieder: ,Komm heiliger Geist' und .Allein Gott in der Höh sey Ehr' gesungen werden. [...] Es muß für die Hauptfeste und Zeiten, die gleichsam Epoche in unserm Kirchenjahr machen, ein besonderes Ritual in Absicht auf den Gesang, mit Ausnahme der von dem Prediger selbst jedesmal zu wählenden Haupt- und Kanzellieder, angeordnet werden, so daß z. B. für die Adventszeit eigne Anfangsgesänge nebst dazu gehörigen Antiphonien und Responsorien, andre für die Weihnachtszeit und für das Epiphaniasfest u.s.w., wieder andre für die gewöhnlichen Sonntage dienen." A. J. Rambach, Ueber das Bedürfniß einer verbesserten Einrichtung des Gottesdienstes in den protestantischen Kirchen, 1815, S. 46ff.
154 Anmerkung auf Liederliste J.I.12, Bl. 48v: „wegen der besonders schönen Mei." (nicht im Anhang), vgl. die Melodie in A. W. Bach, Choralbuch, Nr. 188. 155 Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 131, zählt im Bach'schen Choralbuch 10 Sätze im % Takt.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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des schreitenden Duktus wenig choralhaftes, sondern eine liedhafte Melodik mit ζ. T. großen und schwierigen Sprüngen (Dezime: c-e2, übermäßige Terz: c-gis). Diese Beispiele ergeben längst kein Gesamtbild, sie deuten aber darauf hin, daß die GBC-Mitglieder in ihrem durchschnittlichen musikalischen Geschmack der Epoche der Empfindsamkeit näher standen als der romantischen Kirchenmusikästhetik mit ihrem hymnischen und isometrischen Stilideal. Man legte Wert auf Vielfalt, auf melodischen und rhythmischen Schwung und vor allem auf die ursprüngliche Charakteristik einer Melodie. Diese und das Versmaß veranlaßten die meisten Textänderungen. Wie das letzte Beispiel zeigt, wurde manchmal das Interesse an der Originalmelodie sogar dem Interesse an der Sangbarkeit vorgeordnet. Mit der bekundeten Sorge um die Vielfalt und Individualität der Melodien erwies man sich in musikalischer Hinsicht als wegweisender denn bei der Behandlung der Texte. 2.6.4.
Traditionsverständnis
I. Seibt hat das BG als „Reformgesangbuch" charakterisiert und damit den Übergang vom Rationalismus zur Restauration gemeint.156 Mein Eindruck ist zwiespältig: Eine restaurative Haltung wird vornehmlich gegenüber den Lutherliedern eingenommen. Am 11.11.1819 wurden zwei Lutherlieder beraten: „Heute versammelte sich die Conferenz bei dem Hrn. Superintendewi Küster, u er eröffnete die Arbeit mit Vorlesung des von ihm verbesserten Liedes: ERHALT UNS HERR BEI DEINEM WORT p. Da V. 4 u 5 ein Zusatz des J. Jonas sind, so wurde beschlossen, sie weg zu lassen, damit es ein reines Luther-Lied sei. Eine Veränderung des Liedes: EIN VESTE BURG IST UNSER GOTT p. welche Hr. Superintendent Küster vorschlug, wurde nicht gebilligt, sondern beschlossen, daß das Lied völlig unverändert, u zwar so, daß die 5te 6te u 7te Zeile immer funfsylbig ist, aufgenommen werde, auch mit dem stahn, welches Hr. Propst Ribbeck wegwünschte." 57 Die Protokollnotiz bestätigt den aufgestellten Grundsatz, daß fur die GBC kein Lied als a priori unveränderlich anzusehen sei, andererseits wird der Respekt deutlich, auf den man sich den Lutherliedern gegenüber einigen konnte - hier findet gleichsam die „Purifizierung" eines Lutherliedes (Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort) statt - , doch auch nicht in jedem Fall. Eine uns überlieferte Bearbeitungsskizze des Liedes „Aus tiefer Noth schrei ich zu dir" zeigt, daß im Laufe der Diskussion zwar manche originale Lesarten wiederhergestellt wurden, daß man sich aber auch gegenüber Luthers Text einen Beurteilungsspielraum offen hielt und den Wortlaut am Maßstab zeitgenössischen Empfindens prüfte. Davon, daß dem letzteren vor allem Anthropomorphismen widersprachen, war bereits die Rede gewesen. Darum werden sogleich die Verse drei und vier der ersten Strophe folgendermaßen abgewan-
156 157
I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 215f. In BG, Nr. 296 sind besagte Verse zumeist sechs-silbig. BG, Nr. 296, 4: „Das Wort sie sollen lassen stahn..."
216
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
delt: „Nicht ins Gericht wollst du mit mir, der Gnade suchet, gehen." 158 Im Vergleich mit der Textfassung im Mylius, Nr. 260 stellt BG, Nr. 388 zwar eine entschiedene - j e d o c h keine totale - Rückkehr zum Urtext dar.159 Bei den anderen sogenannten alten Liedern achtete man darauf, die Textanfange möglichst unverändert zu lassen, um die Wiedererkennung der Lieder nicht zu beeinträchtigen. Am 7 . 1 2 . 1 8 1 9 las Küster eine „Bearbeitung des Liedes: EIN LÄMMLEIN GEHT, UND TRÄGT DIE SCHULD. Diese Bearbeitung wurde zwar als Umarbeitung sehr gebilligt, aber das alte Lied müßte doch unverändert bleiben. [...] Das neue würde also auch hier als Umarbeitung zu den neuen Liedern gerechnet werden. Die alten müßten aber unverändert bleiben, um keine Täuschung zu veranlassen." Tatsächlich wurden in der „ersten Runde" die alten Lieder ausschließlich aus den sogenannten alten Gesangbüchern vorgeschlagen, d.h. man setzte sich mit den alten Liedern im alten Wortlaut auseinander. Doch der Vorsatz: „Die alten müßten aber unverändert bleiben" wurde nicht realisiert. Trotz des vorhandenen Problembewußtseins blieb das Bemühen um Restauration insgesamt halbherzig. Ein Urtext wurde nur dann wiederhergestellt, wenn er auch den stilistischen und theologischen Kriterien der GBC entsprach, keineswegs aus Demut vor dem Werk. In Bezug auf die Lutherlieder konnte die GBC bereits an restaurative Tendenzen in anderen Gesangbüchern anknüpfen.160 Andererseits verzeichne ich einen sehr freizügigen Umgang mit der Liedtradition. Es war vor allem Schleiermachers Maxime gewesen, nur solche Lieder auszuwählen, die bereits in Gesangbüchern standen und sich somit bereits im gottesdienstlichen Gebrauch bewährt hatten. Diese Regel blieb zwar nicht unwidersprochen und auch Schleiermacher selbst mußte sie verletzen, als er die ganz neuen Garve-Lieder einbrachte, doch hat sie als Richtlinie Geltung gehabt, was zu der Praxis führte, Rezensionen verschiedener Gesangbücher miteinander zu vergleichen und ggf. verschiedene Lesarten zu kombinieren. Am 1 9 . 2 . 1 8 2 4 lesen wir: „Hr. Schleiermacher nach 2 verschiedenen Recens/o«e« VOLLENDET 161 IST DEIN W E R K von Lavater. Am 1 4 . 1 2 . 1 8 2 6 trug Schleiermacher Cramers „Wo find' ich Gott, den meine Seele" vor und wir wissen aus einer Vorschlagsliste, daß Schleiermacher drei Gesangbücher verglichen hatte: „Schleiermacher Wo find' ich Gott p. Jauer 5 0 8 . Brem 4 0 0 . Riga 3 1 8 . " 1 6 2
158 159
160 161 162
Vgl. BG, Nr. 388 und J.I.10, Bl. 70v (Beigabe zum Protokoll vom 11.3.1819, Anhang 9). Vgl. auch das Faksimile der Liedabschrift, s. u. Anhang 11). Zur Bearbeitungsgeschichte dieses Liedes vgl. auch I. Seibt, S. 82ff. Vgl. auch die Bearbeitung und Revision des Osterliedes „Christ ist erstanden" von Martin Luther, s. u. Exkurs II. 2.7. Vgl. das Neue Breslauer Gesangbuch (Hrsg. D. G. Gerhard 1799/1810), das 30 unveränderte Lutherlieder blockartig voranstellt. Dann beginnt die Zählung wieder von vorn! Lavaters Lied (BG, Nr. 249) steht im Bremer Gesangbuch (1812, Nr. 195) und im Jauerschen Gesangbuch (1813, Nr. 306) in verschiedenen Textfassungen. J.1.12, Bl. 7v (nicht im Anhang).
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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Hinausgehend über das Zusammentragen von Lesarten scheute man sich auch nicht, Strophen verschiedener Lieder zu einem Lied zu kombinieren. So wurde etwa am 17.6.1824 vorgeschlagen, „die beiden Lieder: HERR DU WILLST SIE VORBEREITEN und: DIE IHR CHRISTI JÜNGER SEID Ρ zu verbinden. Hr. R . übernahm es."163 Wie man nun Strophen verschiedener Lieder zusammensetzen konnte, so konnte man auch Lieder teilen, wenn sie als zu lang empfunden wurden, so geschehen am 11.9.1823: „Wn. trug vor: das bereits in der vorigen Sitzung angef a n g e n e HERR STÄRKE MICH DEIN LEIDEN p . D e r s e l b e : LASS DEINEN GEIST MICH
STETS." Beim dem letztgenannten Lied (BG, Nr. 186) handelt es sich lediglich um die Strophen 9 bis 20 und 22 des voranstehenden Gellert-Liedes (BG, Nr. 177). Die Frage nach dem Traditionsverständnis der GBC ist nicht einfach zu beantworten. Durch die Zuhilfenahme von über 50 alten und neuen Gesangbüchern stellte man sich bewußt in die Tradition der singenden Gemeinden, d. h. man knüpfte vorzugsweise an solche Liedfassungen an, die im liturgischen Vollzug bereits eine Tradition aufzuweisen hatten. Dabei war Schleiermacher der Exponent dieses pragmatischen Traditionsverständnisses, das dem Gebrauchswert der Überlieferung einen so hohen Wert beimißt. Geschätzt und bewahrt werden die liturgisch bewährten Überlieferungen allerdings nicht um ihrer selbst willen - darum bleiben sie ja auch nicht unverändert - , sondern weil sie Eigentum der Gemeinden geworden sind. Mit Schleiermacher als dem „Benutzer-Typ" und Ritsehl als dem „SammlerTyp" sind die Antipoden hinsichtlich des Traditionsverständnisses genannt, wobei beide in der GBC kompromißbereit und konstruktiv mitarbeiteten und ihre Maximen nicht dogmatisch vertraten. Aufgrund von Schleiermachers theologischem Gewicht und bedingt durch Ritschis Ausscheiden aus der GBC schlug das Pendel am Ende zugunsten von Schleiermachers Traditionsverständnis aus. Nicht in der Breite der Quellenbasis und in der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Frömmigkeitsformen, wohl aber in der Weise des respektlos technischen Umgangs mit den Liedern gehörte dieses von Schleiermacher protegierte Traditionsverständnis der Vergangenheit an und erklärt, warum das BG von den Zeitgenossen kaum als „Reformgesangbuch" wahrgenommen wurde und sich langfristig nicht durchsetzen konnte. 2.7. Die Revision Im Verlauf der elfjährigen Arbeit am BG hat es zwei Revisionsvorgänge gegeben.164 Die erste Revision fand 1826/27, vor Abschluß der ersten Redaktions163
164
Vgl. etwa Erfurter Gesangbuch (1796), Nr. 274: „Herr, du wollst uns vorbereiten" und „Die ihr Christi Jünger seid", ebd., Nr. 268. Ritsehl hat für das BG (Nr. 364) eine Rahmenkomposition beider Klopstocklieder geschaffen, bei der das Lied „Die ihr Christi Jünger seid" als Gemeindegesang von 8 Strophen (Mei. Jesus, meine Zuversicht) von den rahmenden Chorstrophen des Liedes „Herr, du wollst uns vorbereiten" eingschlossen ist. Die Revision wird hier darum so ausfuhrlich erörtert, weil sie die Brücke schlägt von dem
218
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
phase statt, bevor das Manuskript dem Konsistorium übergeben wurde. Diese Revision, von der wir nicht viel wissen, geschah auf eigenen Antrieb der GBC und stellte quasi eine freiwillige Selbstkontrolle dar, um nach achtjähriger Tätigkeit die Prinzipien der Liedbearbeitung zu vereinheitlichen. Dieser Revisionsvorgang verlief parallel zur Schlußphase der Liedvorstellungen. Der reformierte Superintendent Marot hatte sich bereit erklärt, das sogenannte Archiv zu sichten und einer Revision zu unterziehen. Vom 2.11.1826 bis 7.12.1826 trug er seine „Bemerkungen" in sechs Sitzungen vor. Z.T. wurden originale Lesarten wiederhergestellt. Protokoll vom 23.11.1826: „Dann fahr Hr. Marot fort, seine Bemerkungen über die im Archiv befindlichen Lieder mitzutheilen, wobei beliebt wurde, einige Stellen nach der ursprüng//cAe« Leseart herzustellen." Die zweite, die sogenannte Superrevision165 wurde im ersten Halbjahr 1829 durchgeführt, nachdem das Manuskript dem Konsistorium und dem Ministerium der Geistlichen Angelegenheiten vorgelegt worden war und das Ministerium das Manuskript sorgfaltig geprüft und drei Listen angefügt hatte, die die zu streichenden (A), die zu restaurierenden (B) und die neu aufzunehmenden (C) Lieder enthielt.166 Die GBC dankte für die Durchsicht, behielt sich aber die eigene Zuständigkeit vor. Intern war man sich darüber einig, daß ein zu bereitwilliges Eingehen auf die ministeriale Kritik das Gesamtkonzept der GBC verderben würde.167 Außerdem befürchtete die GBC durch ein abermaliges Liedauswahlverfahren eine weitere Verzögerung der inzwischen ungeduldig erwarteten Herausgabe des BG, wie einem Schreiben Wilmsens an Bresicus vom 26.1.1829 zu entnehmen ist: „Wir dürfen doch hoffen, daß die Voranstalten zum Druck von dem hochw. Consistorio werden gutgeheißen werden. Da das Publikum anfängt, ungeduldig zu werden, u zehn Jahre hingegangen sind, seit die Arbeit angefangen wurde, so kann man sich recht innig furchten, bei dem Gedanken, daß neue Hindernisse u Verzögerungen eintreten könnten. Noch muß ich bemerken, daß die von dem Referenten im Ministerium zur Einschaltung vorgeschlagenen Lieder fast ohne Ausnahme Schwierigkeiten zeigten, die eine Arbeit von mehreren Monaten erfordert haben dürften. Dagegen könnte das G.b. noch einen guten Vorrath von Liedern entbehren."168 In dem offiziellen Schreiben „An Ein Hochwürdiges Consistorium der Provinz Brandenburg. Die Revision und den Druck des Neuen Berliner Gesangbuches betr." vom 29.1.1829 erklärt Brescius namens der GBC:
165 166 167 168
durch die Protokolle dokumentierten Verlauf der GBC-Arbeit zu deren faktischem Ergebnis, dem BG von 1829. Die Terminologie ist nicht einheitlich, ich verwende den Begriff der Superrevision für die Endredaktion des BG im ersten Halbjahr 1829. S. o. Exkurs II. 2.2. Vgl. Schleiermachers Brief an Wilmsen vom 23.8.1828 (J.I.9 Vol. I., Bl. 1-1 v, nicht im Anhang), s. u. Exkurs II. 3.1. c). J.I.9 Vol. II, Bl. 110v-l 11 (nicht im Anhang).
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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„Die von Einem Königlichen Hochwürdigen Consistorio unter dem 25ten July vorigen Jahres uns gefälligst mitgetheilten Erinnerungen und Bemerkungen des Königlichen Ministerii der geistlichen ρ Angelegenheiten über das in der Handschrift eingereichte Neue Berliner Gesangbuch, haben wir auf das Sorgfaltigste erwogen, und dem gemäß nicht nur die von der hohen Behörde für entbehrlich erachteten Gesänge großentheils ganz entfernt, sondern auch unsre mit den ältern Liedern vorgenommenen Veränderungen theils gemildert, theils auch völlig zurückgenommen. Von den zur Aufnahme empfohlnen, alten oder veralteten Liedern konnten wir uns jedoch nur zu einer kleinen Auswahl bestimmen, indem ihre Bearbeitung zum Theil mit zu großen Schwierigkeiten verbunden seyn würde, unsre Sammlung auch bereits Lieder deßselben Inhalts, auch wohl von größerm poetischen Werthe enthalten dürfte, endlich auch bei näherer Prüfung sich ergab, daß mehrere der in Vorschlag gebrachten, alten Gesänge bereits von uns, nur theils abgekürzt, theils mit einem veränderten Anfange aufgenommen worden sind".169 Während man sich intern einig war, die Revision zu beschleunigen und damit die Fertigstellung des BG zu forcieren, wahrte man gegenüber der Behörde die Form, ohne durch die behördliche Rezension sich wirklich beeindrucken zu lassen. Die erstaunliche Selbstsicherheit der GBC manifestiert sich etwa darin, daß von den 76 zur Streichung empfohlenen Liedern (Liste A) am Ende lediglich 16 gestrichen, daß umgekehrt von den 129 zur Aufnahme empfohlenen Liedern sogar nur zwei aufgenommen wurden. 170 Was die sogenannte Liste Β und die damit verbundene Frage nach Art und Umfang der Endredaktion im einzelnen angeht, so ist zwar nicht generell, aber immerhin punktuell nachprüfbar, was bei der „Superrevision" wirklich geschah. Dank des marktwirtschaflichen Konkurrenzprinzips besitzen wir mit den Angeboten der verschiedenen Druckereien erfreulicherweise verschiedene Probedrucke aus dem Jahre 1827. Dieser Service der Drucker Schade, Trowitzsch, Hayn, Reimer und Nauck bieten Texte von 61 Liedern auf der Bearbeitungsstufe vom Frühjahr/Sommer 1827, also im prä-revidierten Wortlaut ihrer ersten Bearbeitung, mit deren Hilfe Stichproben zu Art und Umfang des Revisionsgeschehens gemacht werden können. 171 169 170
171
Anhang 9), J.I.9 Vol. II, Bl. 112. BG, Nr. 90 „Ach mein Herr Jesu, dein Nahesein" und BG, Nr. 247 „Auf singt mit uns, ihr hohen Himmesschaaren". - Die GBC konnte sich freilich durch den ministerialen Zensor auch nicht ernst genommen fühlen, da dieser allein 18 Lieder zur Aufnahme empfahl, die bereits im Manuskript standen, dazu kamen noch neun Lieder mit verändertem Incipit. Die erste Revision im Winter 1826/27 kann hier unterschlagen werden. - Die Druckprobe von Nauck umfaßt 16 Lieder - darunter 14 vollständige - aus der Rubrik VI. „Von der Erlösung durch Jesum Christum im Allgemeinen". Sie befindet sich in GBC-Akte J.I.9 Vol. II, Bl. 70-74v. Dagegen sind die übrigen Druckproben in der bereits mehrfach erwähnten EZA-Akte 14/878 (nicht paginiert) enthalten. Die Druckprobe Trowitzsch enthält 18 Lieder aus der Rubrik I. „Allgemeine Bitten", die Druckprobe Schade enthält zehn Lieder aus der Rubrik II. „Vom christlichen Gottesdienst", die Druckprobe Hayn enthält 14 Lieder aus der nachmaligen Rubrik IX. „Von der Auferstehung Christi", die Druckprobe Reimer enthält drei Lieder aus der nachmaligen Rubrik XV. „Vom Gebet". Dagegen haben die Drucker Diterici und Decker wahrscheinlich Liedtexte aus dem Mylius vorgelegt. Sie sind für den textkritischen Vergleich irrelevant.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Von den vier Liedern, die in den Probedrucken, aber nicht im BG stehen, wurden drei auf Vorschlag des Ministeriums gestrichen172, während das Lied „In keinem andern ist das Heil" (Nauck Nr. 108) erst bei der Superrevision, am 12.3.1829, von der GBC verworfen wurde, so daß zum Vergleich der prä-revidierten mit den revidierten Textfassungen 57, z.T. fragmentierte Lieder bleiben. Davon weisen 30 Lieder im Vergleich mit der Finalfassung (BG 1829) ganz überwiegende Übereinstimmung auf. Bei 16 Liedern habe ich minimale oder kleine Differenzen festgestellt, die im wesentlichen stilistische Sachverhalte betreffen. Bei zehn Liedern hat die Superrevision Veränderungen bewirkt, die ζ. T. auch in die theologische Substanz der Texte eingreifen.173 Zu den letztgenannten gehört auch das Lied „Beschwertes Herz, leg ab die Sorgen" (BG, Nr. 22) von C. Wegleiter (1680-1706), das am 21.11.1822 von Ritsehl aus Rambachs Anthologie vorgeschlagen und am 19.12.1822 von demselben vorgetragen wurde. Diese Bearbeitungsstufe repräsentiert der Probedruck Schade in der mittleren Spalte. Die bei der Revision geänderten Passagen in den Strophen 3, 5 und 6 (BG, Nr. 22, rechte Spalte) sind unterstrichen: A. J. Rambach, Anthologie christ¡icher Gesänge, Bd. 4, S. I23f.
Druckprobe Schade Nr. 2
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 22
3. Mein Gott, ich bin vor dir erschienen, Und gebe auf dein Winken Acht. Wie kann ich dir gefällig dienen, Wenn mich dein Geist nicht tüchtig macht?... 5. Mein Jesus hat mein Herz so theuer Zu seinem Tempel eingeweiht. Hier ist dein Heerd, hier ist dein Feuer,
3. Mein Gott, ich bin vor dir erschienen und gebe auf dein Winken Acht; wie kann ich dir wohl würdig dienen, wenn mich dein Geist nicht tüchtig macht?... 5. Mein Jesus hat mein Heiz so theuer zu seinem Tempel eingeweiht. Hier sey dein Heerd, hier sey dein Feuer, die Fülle deiner Herrlichkeit! 6. Vollftlhre, was du angefangen, und neig' dein Angesicht zu mir, dann ist der Seele aufgegangen der wahre Sonntag, Herr, in dir.
3. So bin ich Gott, vor dir erschienen und fleh' um deines Geistes Kraft: wie kann ich dir wohl würdig dienen, wenn er nicht in mir wirkt und schafft?
Die Fülle deiner Herrlichkeit!... 6. So find ich recht den Tag der Sonnen So h ab' ich meine Ruh* in dir. Ach habe du dein Werk in mir, Vollführe, was du hast begonnen!
5. Erkauft hat Jesus mich so theuer. zu seinem Tempel mich geweiht. Hier sey dein Heerd, hier sey dein Feuer, die Fülle deiner Herrlichkeit! 6. Vollführe, was du angefangen, neig' auch zu mir dein Angesicht dann ist der Seele aufgegangen des Sabbaths rechtes Freudenlicht.
Bei der Revision wurde in Strophe 3 der Anschluß durch die Konjunktion „So" glatter, ein stehengebliebener Anthropomorphismus („Gottes Winken") wurde beseitigt. Die Umstellung am Anfang der fünften Strophe bezweckt die Sortierung des Inhalts auf die Verse 1 und 2. Der Vergleich mit der Anthologie als dem Quellenbuch zeigt, daß die Revision das Lied vom Urtext noch weiter entfernte. Die bemerkenswerte semitophile Lesart „dann ist der Seele aufgegangen des Sabbaths rechtes Freudenlicht" konnte ich nirgends finden. Die Revision 172
173
„Dich preise dankvoll jeder Christ" (Nauck, Nr. 102), „Laut ruft das Heil" (Nauck, Nr. 144), „Frommer Vater, Gott der Stärke" (Trowitzsch, Nr. 9), vgl. Liste A, J.I.9 Vol. II, Bl. 121-123 (nicht im Anhang). Fünf der in den Druckproben enthaltenen Lieder stehen auch auf der Liste B, d. h. sie wurden auf Bitte des Ministeriums noch einmal überprüft: „Auf, auf ihr meine Lieder" (Schade, Nr. 1, BG, Nr. 21), „Beschwertes Herz, leg ab" (Schade, Nr. 2, BG, Nr. 22), „Herr, wie du willst" (Trowitzsch, Nr. 13, BG, Nr. 11), „Ich ruf zu dir" (Trowitzsch, Nr. 15, BG, Nr. 13) und „König, dem kein König" (Nauck, Nr. 109, BG, Nr. 100).
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
221
erfolgte unabhängig von Schleiermachers Liederblättern, auf denen das Lied nicht begegnet. Die umfangreichste der rekonstruierbaren Revisionsvorgänge fand statt bei dem von Wilmsen am 7.6.1821 referierten Lied: „Mein Gott, du weißt am allerbesten" (BG, Nr. 16) von I. Ciauder (1670-1721), bezeugt durch das Protokoll vom 29.1.1829: „... E b e n s o der Protokoll
Führer, w e l c h e r in d e m Liede: MEIN GOTT, DU WEISST AM
ALLERBESTEN fast bei jedem Verse Verbesserungen in Vorschlag brachte, welche auch größtentheils angenommen wurden, so wie die Wegstreichung der beiden letzten Verse."
Dem Porst als möglichem Quellen-Gesangbuch und der revidierten Version (BG, Nr. 16) stelle ich die prä-revidierte Textfassung aus dem Probedruck Trowitzsch gegenüber.174 Die revidierten Passagen sind wiederum unterstrichen: Porstsches Gesangbuch (1790), Nr. 343
Druckprobe Trowitzsch (1827), Nr. 18.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 16
Mei. Wer nur den lieben Gott
Mei. Wer nur den lieben Gott
Mei. O daß ich tausend Zungen
Mein Gott, du weißt am allerbesten, das was mir gut und nützlich sey, hinweg mit allen Menschenvesten, weg mit dem eigenen Gebäu: Gib Herr, daß ich auf dich nur bau und dir alleine gantz vertrau.
Mein Gott, Du weißt am allerbesten was mir zu meinem Heil gereicht, deß müsse sich mein Heiz getrösten, so oft dein Rath mir schädlich deucht. Auf Dich allein, Herr, laß mich bau'n, und Dir mit ganzem Herzen trau'n.
Mein Gott, du weißt am allerbesten, was mir zu meinem Heil gereicht, deß müsse sich mein Herz getrösten, so oft dein Rath mich niederbeugt. Auf dich allein, Herr, laß mich baun und dir mit ganzem Herzen traun.
2. Reiß alles weg aus meiner Seelen, was dich nicht sucht und deine Ehr, j a wollte es sich auch verhehlen: so prüfe selbst j e mehr und mehr mein innere Beschaffenheit, und gib mir Hertzens-Redlichkeit. 3. Daß ich könn in der Wahrheit sprechen: Du bist mein Abba, Licht und Heil: du heilest alle mein Gebrechen und schenckest mir an Christo Theil! du bist mein allerbester Freund, ders allzeit hertzlich mit mir meynt. 4. Denn kann ich Dich nur Vater nennen, o Abgrund der Barmhertzigkeit! so muß mir alles nützen kennen
2. Reiß' alles weg aus meiner Seelen, was Dich nicht sucht, und deine Ehr; will mein Verderben sich verhehlen, so prüfe mich j e mehr und mehr; zeig' mir, wie ich beschaffen bin, und gieb mir einen lautern Sinn. 3. Laß mich in Geist und Wahrheit sprechen: mein Gott, mein Vater, Licht und Heil, denn Du heilst gnädig mein Gebrechen, und schenkest mir an Christo Theil, Du bist mein allerbester Freund, der's allzeit herzlich mit mir meint. 4. Denn darf ich Dich nur Vater nennen, o Abgrund der Barmherzigkeit, so muß mir alles nutzen können
2. Reiß' Alles weg aus meiner Seele, was dich nicht sucht und deine Ehr'; wenn ich mir meine Schuld verhehle, so prüfe mich j e mehr und mehr; zeig' mir, wie ich beschaffen bin, und gieb mir meines Heilands Sinn.
was man sonst heißet Creutz und Leid; denn auch das Bittre süße ist, wenn du o Gott im Hertzen bist. 5. Drum gib, daß ich recht kindlich glaube und nur fein frisch und unverzagt jedoch in Demuth mir zuschreibe, was mir dein heilig Wort zusagt. Dein Geist erklare meinen Geist, was deine Vatertreue heißt. 6. Du unerschaffnes höchstes Wesen,
so dient zum Heil auch Kreuz und Leid. Wenn Du, o Gott, im Herzen bist, wird auch das Bitterste versüßt. 5. Drum gieb, daß ich recht kindlich
174
glaube, in Dir getrost und unverzagt, und nichts den sel'gen Trost mir raube, den mir dein Wort hat zugesagt. Dein Geist erkläre meinem Geist, was deine Vatertreue heißt. 6. Du unerschaffnes höchstes Wesen
3. Daß ich in Wahrheit könne sprechen: du bist mein Vater, bist mein Heil: voll Gnade heilst du mein Gebrechen und schenkest mir an Christo Theil; du bist mein allerbester Freund, der's all'zeit herzlich mit mir meint. 4. Denn darf ich dich nur Vater nennen, o Abgrund der Barmherzigkeit, so wird mir nichts mehr schaden können. so dient zum Heil auch Kreuz und Leid. Mir wird das Bitterste versüßt, wenn du in meinem Heizen bist. 5. D'rum gieb, daß ich recht kindlich glaube, in dir getrost und unveizagt, und nichts den sel'gen Trost mir raube, den mir dein Wort hat zugesagt. Dein Geist erkläre meinem Geist, was Gnad' und Vatertreue heißt. 6.Du, unerschaffnes höchstes Wesen,
Im Probedruck Trowitzsch bricht das Lied nach der 10. Strophe ab.
222
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Persisches Gesangbuch (1790), Nr. 343
Druckprobe Trowitzsch (1827), Nr. 18.
hast vor der Welt an mich gedacht, und da ich gar noch nicht gewesen, den liebesvollen Schluß gemacht, daß ich in Christo dein soll seyn und frei von aller Höllenpein. 7. Dein Kind, mein Jesus, hat vollendet, was du beschlossen vor der Zeit, hat Schuld und Strafen abgewendet, und mir geschenckt die Seligkeit. Dein Geist, der mir dis macht bekannt,
hast vor der Welt an mich gedacht, und schon, da ich noch nicht gewesen, zum Erben deines Heils gemacht, ich sollte Dein in Christo sein, und frei von aller Schuld und Pein. 7. Dein Kind, mein Jesu, hat vollendet, was Du beschlossen vor der Zeit, hat Schuld und Strafen abgewendet, erworben mir die Seligkeit. Dein Geist macht mir dieß Heil bekannt, sein Zeugniß ist mein Unterpfand. 8. Was soll ich von der Güte sagen,
hast vor der Welt an mich gedacht, mich schon, da ich noch nicht gewesen, zum Erben deines Heils gemacht; ich sollte dein in Christo seyn und frei von aller Schuld und Pein. 7. Dein Kind, mein Jesus, hat vollendet, was du beschlossen vor der Zeit, hat Schuld und Strafen abgewendet, erworben mir die Seligkeit. Dein Geist macht mir dies Heil bekannt, sein Zeugniß ist mein Unterpfand. 8. Was soll ich von der Güte sagen,
die ich auch sonst bisher gespurt, mit der Du mich in meinen Tagen so wunderbar, doch treu geführt, und welche mir in Ewigkeit halt unvergänglich Gut bereit.
die ich auch sonst bisher gespürt, mit der du mich in meinen Tagen so wunderbar, so treu geführt, und welche mir in Ewigkeit hält unvergänglich Gut bereit!
9. Weil ich denn auf so viele Weise mein Vater bin dein Eigenthum, so gieb, daß ich Dich würdig preise, und freudig mehre deinen Ruhm; laß mich Dir dienen allezeit in Unschuld und Gerechtigkeit. 10. Du wirkst das Wollen und Vollbringen von Dir kommt Weisheit und Verstand, drum reiche mir in allen Dingen aus Gnade deine Vaterhand, weil hier nicht Fleiß und eigne Kraft nur dein Erbarmen alles schafft. 11. Legst... [Text abgebrochen]
9. Weil ich denn auf so viele Weise, mein Vater, bin dein Eigenthum: so gieb, daß ich dich würdig preise und freudig mehre deinen Ruhm; laß mich dir dienen allezeit in Unschuld und Gerechtigkeit.
ist alles dessen Unterpfand. 8. Ich weiß nicht, was ich sonst soll sagen von deiner Treu, die ich verspürt, da du mich hast in meinen Tagen bis hieher wunderbar geführt. Ja dort bey dir in Ewigkeit ist mir das Beste noch bereit. 9. Nun Herr, ich falle dir zu Füßen, und bitt', o allerhöchstes Gut, laß mich wie Wachs doch gantz zerfließen in dieser deiner Liebesglut. Ach gib, daß eine Gegentreu doch stets in meiner Seelen sey. 10. Und weil ich auf so viele Weise, mein Vater! bin dein Eigenthum! so gib, daß ich auch dir zum Preise und deines großen Namens Ruhm, stets diene in Gerechtigkeit, und dir beliebter Heiligkeit. 11. Du mußt das Gute selbst vollbringen in Worten, Wercken und Verstand: drum reiche mir in allen Dingen aus Gnaden deine Vaterhand: denn hier gilt nicht, wer rennen kann, bloß kommt's auf dein Erbarmen an. 12. Legst du was auf, so hilfs auch tragen, gib mir Geduld in Leidenszeit, und sey in gut und bösen Tagen mein Trost, mein Rath und meine Freud. Gib Demuth, Einfalt, Lieb und Zucht; was falsch und hoch ist, sey verflucht.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 16
13. Nun, Amen! es sey vest beschlossen; nur, daß des Heilgen Geistes Kraft bleib über mir stets ausgegossen, als welche alles Gute schafft: So bleibts in Ewigkeit dabey, daß du mein, und ich deine sey.
Der Vergleich der Textfassungen zeigt die typischen Redaktionsmaßnahmen: Ersetzung der allzuhäufigen Melodie „Wer nur den lieben Gott", Kürzung durch die Streichung von Strophen, Beseitigung bzw. Austausch unpassender Wörter und Wendungen (Strophe 1), „Verkirchlichung" (Strophen 2 und 5), Versum-
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
223
Stellung (4). Von einer generellen Annäherung an das Original oder gar einer Restauration des Urtextes kann keine Rede sein. Die Revision erfolgte unabhängig von den Liederblättern, auf denen auch dieses Lied fehlt. Wie stellt sich der Befund bei den „altehrwürdigen" Liedern dar? Überliefert ist ein Probedruck (Hayn, Nr. 78) des Osterliedes „Christ ist erstanden". Das Luther zugeschriebene Osterlied war sehr wahrscheinlich von Hanstein 1819 fast unverändert vorgetragen worden.175 Unbeanstandet gelangte es ins Archiv und von dort 1827 auf den Probedruck. Der fehlende Kehrvers der dritten Strophe ist gleichsam der Beweis dafür, daß dem Drucker Hayn Hansteins Manuskript vorlag. Bei der Revision am 19.3.1829 wurde die Textbearbeitung weitergeführt und die zweite Strophe vor allem im Interesse des Sprachflusses abgewandelt. 176 Mit dem alternativen Verbum „erhöhn" wird sowohl eine mühsame Apostrophierung ersetzt als auch eine sprachliche Entsprechung zu Jesu Auferstehen erzielt. Im Kehrvers hat man den vermeintlich passenderen hebräischen Lobruf „Halleluja" eingeführt, der metrisch tatsächlich besser paßt. Breslauer Gesangbuch (1745/1773), Nr. 580
Hamteins Bearbeitung 1819
Probedruck Hayn (1827), Nr. 78
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 216
Christ ist erstanden von der Marter alle, des soll'n wir alle froh seyn. Christ will unser Trost seyn.
1. Christ ist erstanden Von der Marter alle. Deß solln wir alle froh seyn. Christus will unser Trost seyn. Gelobt sey Gott! 2. Wär' er nicht erstanden, So wär' die Welt vergangen. Seit daß er erstanden ist Lob'n wir den Herren Jesum Christ. Gelobt sey Gott! 3. Halleluja! Halleluja! Halleluja! Deß solln wir alle froh seyn.
Christ ist erstanden von der Marter alle. Deß solln wir alle froh seyn. Christus will unser Trost seyn! Gelobt sey Gott!. 2. War er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen. Seit daß er erstanden ist, so lob'n wir den Herren Jesum Christ. Gelobt sey Gott! 3. Halleluja! Halleluja! Halleluja! Deß sollen wir alle froh seyn. Christus will unser Trost seyn. [feUtKehrvers] Luther
Christ ist erstanden von der Marter alle. Deß soll'n wir Alle froh seyn. Christus will unser Trost seyn!
Kyrie eleison. 2. War er nicht erstanden, so wär die Welt vergangen, seit daß er nun erstanden ist, so lob'n wir den Herren Jesum Christ. Kyrie eleison. 3. Halleluja! Halleluja! Halleluja! Deß soll'n wir alle froh seyn, Christ will unser Trost seyn. Kyrie eleison.
Christus will unser Trost seyn. [fehlt Kehrvers] Luther
Halleluiah! 2. War' er nicht erstanden, so wär' die Welt vergangen. Seit er auferstanden ist, erhohn wir den Herrfeln Jesum Christ. Halleluiah! 3. Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Deß soll'n wir Alle froh seyn. Christus will unser Trost seyn. Halleluiah!
Zwar bleibt bei den exemplarischen Vergleichungen eine gewisse Unschärfe, da Abschreib- bzw. Druckfehler nicht ausgeschlossen werden können, auch ist die
175
176
Vgl. J.I.10, Bl. 65 (Vgl. unter dem Protokoll vom 25.3.1819). Verändert gegenüber seiner mutmaßlichen Vorlage (Breslauer Gesangbuch, Nr. 580) war nur - wie in allen neuen Gesangbüchern - der Kehrvers. Für „Kyrieleis" setzte Hanstein „Gelobt sey Gott". Sogar A. Knapp in seinem Evangelischen Liederschatz (1891 4 , Nr. 591) hat noch das „Hallelujah". Schleiermacher hatte Ostern 1817 (H 75) die erste Strophe des Liedes mit dem Kehrvers „Erbarm dich Herr" singen lassen. Zur Syllabik bzw. Melismatik des Textes, vgl. die Melodie bei A. W. Bach, Choralbuch (1830), Nr. 32.
224
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Liedauswahl nicht repräsentativ für das Gesamtgesangbuch, doch insgesamt läßt sich soviel sagen: - Viele Liedbearbeitungen blieben im Kern ihrer Erstbearbeitung (1819-27) unangetastet. - Eine systematische Restauration der Originaltexte hat es nicht gegeben. Zwar wurden in einigen Liedern alte und charakteristische Lesarten wiederhergestellt, wie ζ. B. das Incipit von „Der Tod ist tot" (BG, Nr. 217)177, doch stehen dahinter keine grundsätzlichen Erwägungen. - Bei den Liedern, die auf der ersten und zweiten Bearbeitungsstufen differieren, gibt es keine eindeutige Tendenz. Mal wurden alte Lesarten wiederhergestellt, mal brachte die Revision eine Annäherung an den Urtext (z.B. bei Schmolks „Der Tod ist todt"), dann wieder wurde die Verfremdung noch weiter getrieben, und oft finden sich die verschiedenen Modi in ein und demselben Lied.178 - Auch die altbekannten Lieder konnten diese Behandlung erfahren, z. B. Luthers „Christ ist erstanden" oder Paul Gerhardts „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden". 179 Die Revision bewirkte also entgegen der offiziellen Verlautbarung tendenziell eine noch weitergehende Korrigierung der Lieder, um den selbstgegebenen stilistischen Prinzipien gerecht zu werden und eine fortgesetzte Anpassung der Lieder an die liturgische Situation. 3. Zur Rolle Schleiermachers 3.1. Schleiermachers Redaktionstätigkeit Von dem mittelmäßigen Wahlergebnis, der zunächst kollegialen Unterordnung und kontinuierlichen Mitarbeit und dem zuletzt dominanten Einfluß Schleiermachers war bereits die Rede. Aber welche inhaltlichen Akzente hat Schleiermacher in der achtjährigen Redaktionsarbeit gesetzt, für welche Liedtraditionen hat er sich eingesetzt? Welches Profil bilden die Protokolle vom Hymnologen Schleiermacher ab? Die Akten lassen vier Beobachtungen zu:
177 178
S. o. 3.3.2. Diese Eigenwilligkeit zeigt sich z. B. bei dem Lied: „Allgütiger, allein bei dir" aus dem Neuen Dresdener Gesangbuch, wo die Revision den Anfang der 7. Strophe wiederherstellte, während die bis dahin erhalten gebliebene 8. Strophe modifiziert wurde. Vgl. den Probedruck Trowitzsch, Nr. 4 mit dem „Dresdnischen Gesangbuch" (1818), Nr. 490 und BG, Nr. 4. - Die Wiederherstellung alter Lesarten ist an den vorliegenden Liedern schwer zu verifizieren, ist aber bezeugt im Protokoll vom 12.3.1829, wo es heißt: „Die Conferenzen im Februar u März wurden regelmäßig gehalten, u in denselben die 9 ersten Abtheilungen des Gesangbuches, welche an die Mitglieder vertheilt waren, genau revidirt, häufig die alten Lesearten hergestellt, u in mehreren Liedern bedeutende Veränderungen vorgenommen, besonders in dem: Wie herrlich strahlt der Morgenstern und in einigen Geliert'sehen Liedern."
179
Zu Gerhardts Osterlied vgl. das Protokoll vom 27.4.1820 mit der Druckprobe Hayn, Nr. 73 und BG, Nr. 211.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
225
a) Rein statistisch hat Schleiermacher als verantwortlicher Redaktor mindestens 144 BG-Lieder bearbeitet.180 Darunter befinden sich 63 Lieder aus den sogenannten alten und 81 aus den sogenannten neuen Gesangbüchern. Bei 100 Liedern geben entweder die Akten oder Küsters Verzeichnis Auskunft über das jeweilige Vorschlagsgesangbuch. Vielen der übrigen Lieder können mehr oder weniger wahrscheinliche Vorschlagsgesangbücher zugewiesen werden. Interessant ist nun die Frage, welche Lieder Schleiermacher übernahm: Von den im BG enthaltenen 16 Lutherliedern hat Schleiermacher - zumindest in der ersten Redaktionsphase (1819-27) 181 - keines zur Bearbeitung übernommen. Auch sonst wird das Liedgut des 16. Jahrhunderts von Schleiermacher eher gemieden. Nur drei ursprünglich aus dem 16. Jahrhundert stammende Lieder hat er nach meiner Kenntnis bearbeitet, wobei zwei davon neuen Gesangbüchern entnommen und dort bereits stark verändert sind (BG, Nr. 116 und 726) 182 , dazu kommt N. Selneckers Strophe „Laß mich dein sein und bleiben" (BG, Nr. 14). Unter den ins BG aufgenommenen 30 Paul Gerhardt-Liedern befindet sich nach Ausweis der Protokolle kein von Schleiermacher selbständig bearbeitetes. 183 Zwar stammen mindestens dreizehn von Schleiermacher redigierte Lieder von Paul Gerhardt-Zeitgenossen aus dem 17. Jahrhundert, doch die meisten der sogenannten alten Lieder stammen von jüngeren Autoren, die die Wende zum 18. Jahrhundert passiert haben (Schmolck, Rambach u. a.). Von den 42 Gellert-Liedern des BG hat Schleiermacher zwei selbständig bearbeitet184, ebensoviele von den im BG enthaltenen 23 Klopstock-Liedern.185
180
Vgl. dazu Anhang 10). - Die Mindestzahl ergibt sich daraus, daß einigen BG-Liedern kein Redaktor zugewiesen werden kann, und daß in der letzten Sitzung am 27.8.1829 auf die ausdrückliche Bitte Schleiermachers noch einmal sieben Hausstandslieder (darunter zwei von Garve) dazukamen, von denen wir nicht genau wissen, ob Schleiermacher sie eingebracht und ggf. redigiert hat. Auch nicht mitgerechnet sind die Lieder, die im Zuge der Revision oder vorher aussortiert wurden. 181 Wer fur welches Lied bzw. für welche Rubrik 1829 jeweils die Revision übernommen hat, ist in den meisten Fällen unbekannt. 182 BG, Nr. 116 „Bringt frohen Dank und Lobgesang" von Caspar Füger wahrscheinlich aus dem Jauerschen Gesangbuch, Nr. 171. Vgl. den synoptischen Textvergleich in 3.6.3.1. und BG, Nr. 726: „Du wirst, o Vater, für mein Wohl" von B. Ringwaldt aus dem Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 587, wo das Lied bereits in einer von Cramer und Diterich redigierten Textgestalt steht. 183 Mit Paul Gerhardt hatte Schleiermacher kein Glück. Zwar hatte er das Lied „Fröhlich soll mein Herze springen" zur Bearbeitung übernommen, doch kam es nicht ins BG. Bei der Revision stand es auf der Liste Β mit kritischer Anmerkung des Ministeriums: „Fröhlich lasset uns lobsingen (weit über das Maaß - und nicht glücklich)", J.I.9 Vol. II, Bl. 124v, und wurde durch die GBC ganz gestrichen. Von dem Lied „Du bist ein Mensch, das weißt du wohl" hatte Schleiermacher am 5.5.1819 eine Parallelbearbeitung zu der Küsterschen vorgelegt. Doch die kollegial erarbeitete Version wurde bei der Revision ebenfalls gestrichen, vgl. J.I.9 Vol. II, Bl. 125ν (nicht im Anhang). 184 BG, Nr. 338 „Welch Glück, so hoch geehrt zu werden" und BG, Nr. 585 „Du klagest über die Beschwerden". 185 BG, Nr. 564 „Ach wie hat mein Herz gerungen" und Nr. 770 „Halleluja, Amen, Amen".
226
3. D e r Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Auch die Lieder anderer durch die GBC bevorzugter Liederdichter des 18. Jahrhunderts wie J. C. Lavater (19 χ im BG, drei von Schleiermacher bearbeitet), B. Münter (1735-93) (27/3) oder C. C. Sturm (15/0) wurden von Schleiermacher nur gelegentlich oder gar nicht zur Bearbeitung übernommen. Dagegen hat Schleiermacher von den im BG enthaltenen 37 Liedern des Herrnhuters Karl Bernhard Garve wahrscheinlich 17186 und von den wahrscheinlich sieben Zinzendorf-Liedern fünf selbst bearbeitet, eine signifikante und wenig überraschende Präferenz Schleiermachers.187 Von den neueren nichtpietistischen Liederdichtern bevorzugte Schleiermacher J. A. Cramer, von dessen mindestens 28 ins BG gelangten Liedern er zwischen acht und elf Liedern selbst bearbeitete.188 186
Die Lieder BG, Nr. 863 und 871 wurden vielleicht von Schleiermacher in der letzten Sitzung, am 27.8.1829, eingebracht. Die kleinen Abweichungen vom Original, vgl. Κ. B. Garve, Christliche Gesänge (1825), Nr. 266 und 263, stammen wohl auch von Schleiermacher. - In der Zählung der Garve-Lieder gibt es Unstimmigkeiten bei I. Seibt, Schleiermacher und das BG. Während ihre Tabelle 8.3., S.281f. 38 Garve-Lieder zählt, nennt sie in der Diskussion mit Ch. Albrecht, gestützt auf Küsters „Kurze lebensgeschichtliche Nachrichten", nur 37 Garve-Lieder, ebd., S. 78f. Der Fehler liegt bei dem Lied „Gieb deinen Frieden uns, du Gott der Stärke" (BG, Nr. 682), das nicht von Garve, sondern aus dem Jauerschen Gesangbuch (Nr. 533) stammt. 187 Nach I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 300, handelt es sich bei folgenden BG-Nr. um Zinzendorf-Lieder: 291 (wahrscheinlich von Schleiermacher eingebracht und unverändert aufgenommen, vgl. Protokoll vom 12.12.1822), 430, 472, 674, 722. Nicht von Schleiermacher redigiert waren die Lieder BG, Nr. 560 und 707. Zur Verfasserschaft des von Schleiermacher am 11.4.1822 vorgestellten „Jesus Christus, Gottes Lamm" (BG, Nr. 183) werden unterschiedliche Angaben gemacht. Während Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 127, es Zinzendorf zuweist, nennt I. Seibt mit J. F. Bachmann, Geschichte der Berliner Gesangbücher, S. 307, Joachim Justus Breithaupt (1658-1732) als Verfasser. 188 Zu I. Seibts Tabelle 8.3. (Schleiermacher und das BG, S. 276-300) sind einige Korrekturen bzw. Ergänzungen erforderlich. Von den auf S. 277f. aufgeführten 29 Cramer-Liedern - Küster folgend - konnte ich sechs Titel in Cramers Sämmtlichen Gedichten, Carlsruhe/Leipzig 1783 nicht verifizieren, die BG-Nr. 41, 65, 71, 292, 387, 649. Einzig das Lied „Gott, meine ganze Seele macht" (BG, Nr. 649), von Küster dem Nördlinger Gesangbuch zugewiesen, steht in dem von Cramer herausgegebenen Schleswigschen Gesangbuch von 1780 (Nr. 609) und scheint von Cramer zu stammen, vgl. das Verfasserverzeichnis in einer späten Auflage desselben Gesangbuchs, s. mein Gesangbuch-Verzeichnis. Von den fünf Liedern, die ich bei Cramer nicht fand - woher Küster seine Verfasserkenntnisse hat, wissen wir nicht - , hat Schleiermacher eins, BG, Nr. 292 bearbeitet. - Zusätzlich zu den von I. Seibt aufgeführten Titeln stehen folgende Lieder in Cramers Sämmtlichen Gedichten und in Cramers Gesangbuch (1780)i „Gott, wie du bist..." (BG, Nr. 63, in Cramers Sämmtlichen Gedichten Nr. 11, Cramers Gesangbuch Nr. 67, von I. Seibt B. Münter zugeschrieben); „Fest steht zu Gottes Ruhme" (BG, Nr. 301, Cramers Gedichte, Nr. 124, Cramers Gesangbuch, Nr. 472); „Wer mit gläubigem Gemüthe (BG, Nr. 752, Cramers Gedichte, Nr. 145, Cramers Gesangbuch, Nr. 794, von Theremin frei bearbeitet, vgl. Protokoll vom 9.11.1826); „In deiner Stärke freue sich" (BG, Nr. 858, Cramers Gedichte, Nr. 173, Cramers Gesangbuch, Nr. 814, von I. Seibt W. A. Teller zugeschrieben); „Die Menschen mögen herrschen" (BG, Nr. 864, Cramers Gedichte, Nr. 170, Cramers Gesangbuch, Nr. 805); „Nicht alle können herrschen" (BG, Nr. 874, Cramers Gedichte, Nr. 171, Cramers Gesangbuch, Nr. 806). - BG, Nr. 292 stammt wohl nicht von Cramer, BG, Nr. 301 hat Schleiermacher bearbeitet, BG, Nr. 864 und 874 hat er wahrscheinlich eingebracht. -
E x k u r s II: Schleiermacher und die G e s a n g b u c h - C o m m i s s i o n
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Unter den protegierten Zeitgenossen hebt sich neben Garve Schleiermachers Hallenser Lehrer und Kollege August Hermann Niemeyer hervor, von dessen vier ins BG aufgenommenen Liedern Schleiermacher drei selbst redigierte.189 Schleiermachers Einsatz für Garve und Zinzendorf läßt die vorsichtige Vermutung zu, daß die Wahl der zu bearbeitenden Lieder, somit auch der Cramerschen, bewußt geschah. Schleiermachers Wertschätzung fur Cramer könnte zusammenhängen mit dessen ganz ähnlichen - durch Einfachheit und Natürlichkeit geprägten - Vorstellungen von der Ästhetik des Kirchenliedes.190 In der ersten Redaktionsphase (1819-1827) redigierte Schleiermacher als verantwortlicher Redaktor mindestens 144 Lieder von ca. 70 verschiedenen Autoren.191 Unter den Dichtern der sogenannten alten Lieder dominieren solche des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Unter den Liedern aus den neuen Gesangbüchern ist das Liedgut des 18. Jahrhunderts stark vertreten, doch finden sich unter den Liederdichtern mindestens 15 (mit mindestens 34 Liedern), die das 19. Jahrhundert noch erlebt haben (Lavater +1801 und Klopstock +1803 nicht mitgerechnet). Mindestens dreizehn der von Schleiermacher erwählten Liederdichter waren zu Beginn der GBC-Arbeit 1819 noch am Leben. 192
Zu Cramers Gesangbuch vgl. E. Brederek, Geschichte der schleswig-holsteinischen Gesangbücher, II. Teil: Vom Cramerschen Gesangbuch bis auf die Gegenwart (1922) und A. Kadelbach, Matthias Claudius und die Gesangbücher im dänischen Gesamtstaat, in: J. U. Fechner (Hrsg.), Matthias Claudius. Leben-Zeit-Werk (1996), S. 209-238. 189 Schleiermachers Wertschätzung für Niemeyer war bereits beim Reformationsfest 1817 aufgefallen, als er mehrere seiner Lieder hatte singen lassen, s. o. 3.2. 190 Cramer schreibt in der Vorrede der Sämmtlichen Gedichte, Carlsruhe 1783 (Kiel, 24.3.1782): „Daß ausser einer treuen Sprachrichtigkeit des Ausdrucks auch diejenige Deutlichkeit, die sich von allzukühnen, dem gemeinen Ohre zu fremden Wendungen in Wortfuhrungen und Wortversetzungen entfernt, vorzüglich in Gesängen dieser Art herrschen müsse, das ist eine Meynung, die vielleicht in unsern Zeiten weniger gefällt, als sie meiner Empfindung nach gefallen sollte, weil nun, besonders in Uebersezungen orientalischer Gedichte, die Figur der Inversion fast jede natürliche Wortfolge verdrängt, und alles heben, allem Stärke mittheilen soll, was sonst keinen auszeichnenden Schmuck hat, oder zuläßt. Doch man mag hierüber urtheilen, wie man will; ich wenigstens glaube oft empfunden zu haben, daß die Abweichung von den Gesezen einer schon ausgebildeten Sprache leichter seyn müsse, als die genaue und strenge Beobachtung derselben." Auch Schleiermacher hat in seinen Liedbearbeitungen Inversionen häufig rückgängig gemacht. Übrigens wird Cramer auch in Schleiermachers PT als Repräsentant der dritten hymnologischen Epoche (neben Klopstock und Uz) ausdrücklich erwähnt, vgl. PT, S. 181. 191 Die numerische Unschärfe ergibt sich aus der Anonymität von 97 Liedern, deren Verfasser unbekannt sind. (I. Seibt). Das sind gut 10% des Liedbestandes. Diese Zahl erhöht sich noch dadurch, daß damals noch weniger Autoren bekannt waren. I. Seibt konnte insgesamt 238 Liederdichter des BG ermitteln, Küster waren erst 214 bekannt. Etwa fünf der ca. 70 von Schleiermacher gewürdigten Autoren waren damals wahrscheinlich noch nicht bekannt. Vgl. die mit * versehenen Verfasser in meiner Liste der von Schleiermacher bearbeiteten Lieder, s. u. Anhang 10). 192 Die Mindestzahl rührt wiederum daher, daß viele neue Lieder anonym überliefert sind, und daß wir von einigen Autoren keine genauen Lebensdaten haben, vgl. dazu I. Seibt, Schleiermacher und das BG, Tabelle 8.3., S. 276-300. Einschließlich der dichtenden GBC-Mitglieder Küster und Marot hat das BG mindestens 24 Zeitgenossen aufzuweisen,
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Wenn man Küsters Verfasserliste zugrunde legt und sie für den repräsentativen Kenntnisstand der GBC in Anspruch nimmt, dann dürfen ca. 30 der von Schleiermacher bearbeiteten Lieder damals als anonym überliefert gelten, davon sind bei 20 Liedern die Verfasser auch uns noch nicht bekannt. Interessant ist auch die Gesangbuchstatistik: In der ersten Runde der Liedauswahl aus den sogenannten alten Gesangbüchern (1819-1822) hatte Schleiermacher neben dem Brüdergesangbuch das Stettinische und das Stralsundische Gesangbuch gewählt. Daneben schlug er nachweislich aber auch Lieder aus anderen, wie ζ. B. aus Freylinghausens Gesangbuch, vor. Für die von ihm selbst zur Bearbeitung übernommenen Lieder hat Schleiermacher das Brüdergesangbuch (16 mal sicher, einmal unsicher) am häufigsten benutzt, gefolgt vom Stettiner Gesangbuch (12/9), dem Stralsunder Gesangbuch (8/1) und Freylinghausens Gesangbuch (6/9). In der zweiten Runde der Liedauswahl, die am 9.1.1823 begann, schlug Schleiermacher vor allem aus dem Jauerschen, dem Bremer und dem Rigaer Gesangbuch, sowie aus den neuen Sammlungen von Garve und Döring vor. An der Spitze der Quellengesangbücher liegt dabei das Jauersche Gesangbuch (20/14)193. Es folgen das Bremer Gesangbuch(13/9) und das Rigaer Gesangbuch (7/3). Von Garves Christlichen Gesängen bearbeitete Schleiermacher wahrscheinlich 17 Lieder. Vorbehaltlich einer gründlichen Analyse der Gesangbuchakten läßt sich vorläufig erkennen und im Blick auf J. Henkys' Frage modifiziert feststellen194: - Schleiermacher bevorzugte als Mitglied der GBC die Lieder des 18. und 19. Jahrhunderts. - Schleiermacher hat prozentual die meisten anonymen Lieder redigiert und mit ca. 144 Liedern von ca. 70 Autoren eine überdurchschnittlich hohe Verfasserfrequenz erreicht, ein beredtes Zeugnis für sein auch an anderer Stelle proklamiertes Interesses an hymnologischer Vielfalt.195 Dabei spielte fur ihn die Prominenz eines Verfassers oder Liedes keine Rolle. - Schleiermacher erweist sich mit der Wahl des Brüdergesangbuchs sowie der auffälligen Vorliebe für Zinzendorf und Garve innerhalb der GBC als Anwalt des herrnhutischen Liedguts. 196
193
194
195
196
die zu Beginn der GBC-Arbeit im Jahre 1819 noch lebten. Die Zahlen beziehen sich nur auf die von Schleiermacher selbst bearbeiteten Lieder. Die Anzahl der aus den genannten Gesangbüchern vorgeschlagenen und von anderen übernommenen Lieder liegt weit höher. Vgl. J. Henkys' Frage nach Schleiermachers ,,persönliche[r] Vorliebe im Blick auf Liederdichter, Liedtypen und Liedepochen", in ders., Die Lieder in Schleiermachers Gottesdiensten 1830-1834 (IAH-Bulletin 13, 1985), jetzt auch in: Singender und gesungener Glaube. Hymnologische Beiträge in neuer Folge (1999), S. 26. PT, S. 182: „Daher sollen wir den ganzen Schaz im kirchlichen Gebrauch zu erhalten suchen. Könnte man eine Sammlung anstellen, worin alles vortreffliche aus diesen drei Perioden zusammen wäre: so wäre das köstlich." Vgl. zur Rehabilitierung Zinzendorfs und zur Würdigung Garves auch Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik (1962), S. 126-129. - Übrigens ist auch das von Schleiermacher gewählte Stettiner Gesangbuch „Heiliges Lippen- und Herzensopfer einer gläubigen See-
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
229
- Nach Karl Bernhard Garve ist Johann Andreas Cramer der von Schleiermacher am häufigsten gewürdigte Liederdichter. - Schleiermacher hat sich neben der Herrnhuter Liedtradition auf die Gesangbücher aus dem Nord- und Ostseeraum spezialisiert. Daneben hatte - wie auch die Liederblätter bestätigen - das neue Jauersche Gesangbuch (1813) für Schleiermacher große Bedeutung.197 b) Der Spezialisierung auf das Herrnhuter Liedgut korrespondiert auch Schleiermachers Verteidigung typisch pietistischer Wendungen in den Debatten der GBC. Während andere Kommissionsmitglieder in ihrem Verlangen nach Korrektheit oft puristisch argumentierten, hat Schleiermacher Ausdrücke der Glaubensfreude oft verteidigt. Am 28.6.1821 klagt Wilmsen: „Auf Hr. Schi. Vorschlag wurde das ziemlich werthlose, mit Spielereien erfüllte Lied: O JESU SÜSSES L I C H T Ρ leider angenommen." Und im Protokoll vom 12.3.1829 heißt es: „Auf den Antrag des ProtoA:o//Führers, daß das Weihnachtslied: FREUT EUCH IHR CHRISTEN ALLE wegen des geschmacklosen Schlusses, der in allen Versen wiederkehrt „Wonne, Wonne, über Wonne, Freude, Freude über Freude!" möchte gestrichen werden, wurde, weil Hr. Dr. Sehl diesen Schluß lebhaft in Schutz nahm, nicht geachtet." Während einige GBC-Hymnologen mit dem Christustitel „Lamm Gottes" Schwierigkeiten hatten, hat der „Herrnhuter Schleiermacher" die Beibehaltung dieses Titels einige Male verteidigt und durchgesetzt. Am 7.12.1819 legte Küster eine Bearbeitung zu Nicolaus Decius' „Allein Gott in der Höh sei Ehr" vor. Küster hatte den Text stilistisch geglättet und dogmatisch korrigiert, doch: „Hr. D. Schleierm. erklärte, daß er den Versöhner u dai Lamm Gottes sehr ungern aufgäbe. Die Conferenz fand Bedenken bei der Stelle „Heilger Herr und Gott", weil dadurch die Kirchenlehre bestätig/ würde, u doch hier Christus als Lamm Gottes nicht zugleich Herr und Gott genannt werden könne."198 Dasselbe Motiv leitet einen Vorschlag Schleiermachers in der Sitzung am 31.5.1821: „Hr. Küster trug vor: O LAMM, DAS KEINE SÜNDE JE welches im N. Beri. Gb anfängt: SEI HOCHGELOBET H£ÄR FÜR DEINE LIEBE. Gleich bei der zweiten Zeile entstanden langwierige Berathungen. Hr. Schi, schlug vor: ,das nie die Schuld getheilt,
197
198
le" (1791) ein entschieden pietistisches Gesangbuch. Schleiermachers Freund J. Chr. Gaß, seit 1810 Konsistorialrat und Professor in Breslau, hatte sich 1812 mit Scherer, dem Herausgeber des Jauerschen Gesangbuchs (1813), getroffen. Im Brief vom 23.2.1812 hatte er Schleiermacher von dieser Begegnung und von Scherers Gesangbuchprojekt berichtet, vgl. Schleiermachers Briefwechsel mit Gaß, S. 105. Ob Schleiermacher Scherer persönlich kannte, ist mir unbekannt. Die Anbetung des Lammes schmückt übrigens als Titelkupfer sowohl das alte GesangBuch der Gemeine Herrn-Huth (1735) als auch das von Schleiermacher geschätzte Freylinghausensche Gesangbuch (1741).
230
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
die uns bedecket', um den Anfang beibehalten zu können, u es wurde endlich angenommen."199 In diesem Sinne typisch für die Rolle Schleiermachers innerhalb der GBC ist auch ein Auszug aus dem Protokoll vom 25.5.1820: „... HERZ UND HERZ VEREINT ZUSAMMEN
(Brüder Gb. Hr. D. Schleierm.) Bei diesem Liede die Äußerung, daß er besorge, dai Herrnhutische nicht herauszubringen, weil es ihm nicht so sehr mißfalle, als Anderen. Dennoch übernahm er es." Schleiermacher übernahm das Lied zur Bearbeitung, ohne die Verpflichtung einzugehen, dem Lied den herrnhutischen Geist auszutreiben, der offenbar vielen mißfiel. Die Protokolle werfen nur Schlaglichter auf die Sachdebatten der GBC, aber immer wieder tritt Schleiermacher als der engagierte und authentische Vertreter einer durch die Brüdergemeine geprägten Herzensfrömmigkeit auf. Wenn Schleiermacher auch sonst z.T. rigoros mit den Texten umgegangen ist, so offenbart er doch bei pietistischen Liedern eine heimliche Schwäche für gefühlsbetonte und bildhafte Wendungen, ein in diesem Gesangbuch fast exotischer, „wilder Trieb". c) Abgesehen von seinem Eintreten für das pietistische Liedgut und seinem biographisch bedingten Frömmigkeitsstil ist Schleiermacher nach Ausweis der Protokolle weder ein Liedkonservator noch ein Liedrestaurator gewesen. Zwar verstärkte sich im Laufe der Redaktionzeit die konservative Tendenz im Umgang mit den alten Liedern. Die Restauration lag in der Luft, und auf Druck des Ministeriums ist die GBC in einigen Fällen zu dem originalen Wortlaut zurückgekehrt. Doch es war Schleiermacher, der ausdrücklich davor gewarnt hatte, im Zuge der Revision die bisher beachteten Prinzipien zu verlassen. So schrieb er an Wilmsen vor Antritt seines Urlaubs am 23.8.1828 in Bezug auf den Umgang mit dem Votum des Ministeriums der geistlichen Angelegenheiten: „Die Liste Β habe ich gar nicht in näheren Augenschein nehmen können ich zweifle aber nicht daß wir bei einer genauen Revision manche nachzuarbeiten finden werden. Nur andere Principien dürfen wir uns nicht mehr einreden lassen wenn wir nicht nachträglich unsere Arbeit verderben wollen."200 Trotz seines gelegentlichen Einsatzes für originale Lesarten ist Schleiermacher ein fleißiger und profilierter „Lied-Verbesserer" gewesen, am besten sichtbar daran, daß er bei 55 von ca. 144 Liedern die Anfänge verändert hat.201 Für alte Lesarten hat er nur gestritten, wenn er sie theologisch oder sprachlich für treffend hielt, nicht jedoch aus einer originalitätsfixierten Selbstgesetzlichkeit. Insofern ist die GBC unter der Aufsicht Schleiermachers dem Paragraphen 3 ihrer Grundsatzerklärung vom 24.7.1818 bis zuletzt treu geblieben, der da lautet: 199 200 201
Vgl. Mylius, Nr. 99: Sey hochgepriesen Herr, für deine Liebe. In BG, Nr. 193,1 beibehalten. J.I.9 Vol. I, Bl. 1 - l v , nicht im Anhang. Zum Inhalt der Listen A , B, C s. o. Exkurs II. 2.2. Vgl. meine Liste der von Schleiermacher bearbeiteten Lieder, s. u. Anhang 10).
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
231
„Kein Lied würde bei der Auswahl a priori als unverbesserlich anzuerkennen seyn, doch würde bei der Verbesserung mit der größten Bescheidenheit u Schonung verfahren, u dieselbe nur in der Veränderung obsoleter, u dem geläuterten Geschmack anstößigen Ausdrücke, u in der Weglassung solcher Verse, welche keiner Verbesserung fähig sind, bestehen ..."202 d) Die ausfuhrliche Revision im ersten Halbjahr 1829 wie die Beobachtung, daß Schleiermacher auch von ihm selbst redigierte Lieder dieser Revision unterzogen hat, werfen die Frage nach einer etwaigen Entwicklung im hymnologischen Verständnis der GBC und insbesondere Schleiermachers auf. Der Vergleich von prä- und postrevidierten Liedfassungen ist in dieser Hinsicht aufschlußreich203: Das Lied „Ach was sind wir ohne Jesum?" von P. Lackmann (Î1713) war von Schleiermacher aus dem Brüdergesangbuch bearbeitet und auf einer der allerersten Konferenzen, am 25.2.1819, vorgetragen worden. Diese Textfassung wird wahrscheinlich durch die Druckprobe Nauck (1827, Spalte 2 der folgenden doppelseitigen Tabelle) repräsentiert. Das Lied steht außerdem auf dem Liedblatt vom Zweiten Advent 1823 (Spalte 3). In der folgenden Tabelle sind diejenigen Veränderungen unterstrichen, die bei der Revision 1829 vorgenommen wurden, und die dann zur endgültigen Textgestalt im BG (Nr. 104) (Spalte 4) geführt haben:
202
203
Das Bemühen um „Bescheidenheit und Schonung" bei der Veränderung der Lieder ist ein Topos, der auch bereits in rationalistischen Gesangbüchern begegnet. So heißt es z.B. im Vorwort des Anhangs zu Freylinghausens Gesangbuch von 1790 über die Textänderung alter Lieder sinngleich: „... Man ist dabey [...] mit möglichster Schonung zu Werke gegangen." Zur Revision und zu Zweck, Inhalt und Fundort der Probedrucke s. o. Exkurs II. 2.7.
232
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Brüdergesangbuch (1778), Nr. 733
Druckprobe Nauck (1827), Nr. 100 (25.2.1819)
Mei. Herr, ich habe mißgehandelt
Mei. Herr, ich habe mißgehandelt
Ach was sind wir ohne Jesu? dürftig, jämmerlich und arm: ach was sind wir? voller Elend: ach, Herr Jesu, dich erbarm; Iaß dich unsre Noth bewegen, die wir dir vor Augen legen! 2. Ohne dich, herzliebster Jesu! Körnt man nicht durch diese Welt, sie hat fast auf allen Wegen unsern Füssen Netz' gestellt: laß uns meiden alle Stricke, und nicht wieder gehen zurücke! 3. Laß den Geist der Kraft, Herr Jesu! geben unserm Geiste Kraft, daß wir brünstig dir nachwandeln, nach der Liebe Eigenschaft. Ach Herr! mach uns selber tüchtig, so wird unser Wandel richtig. 4. Tritt den Satan, starker Jesu! unter unsern schwachen Fuß. Du kennst unser Unvermögen, gib uns deines Heils Genuß; daß wir deine Kraft stets spüren, und uns nie von dir verlieren. 5. Dann wird Lob und Dank, Herr Jesu! schallen aus des Herzens Grund: dann wird alles jubiliren, und dir singen Herz und Mund: dann wird schon auf dieser Erden Jesus hochgelobet werden.
Ach was sind wir ohne Jesum? dürftig jämmerlich und arm. Ach was sind wir? voller Elend! darum Jesu dich erbarm, laß dich unsre Noth bewegen, die wir dir vor Augen legen. 2. Ohne dich du Helfer Jesu, kommt man nicht durch dieseWelt, weil sie fast auf allen Wegen, unsern Füßen Netze stellt. Laß uns meiden alle Stricke, und nicht wieder gehen zurücke! 3. Laß den Geist der Kraft HetT Jesu, geben unserm Geiste Kraft, daß wir brünstig dir nachwandeln nach der Liebe Eigenschaft. Ach Herr, mach uns selber tüchtig, so wird unser Wandel richtig. 4. Gieb den Satan, starker Jesu, unter unsern schwachen Fuß, du kennst unser Unvermögen, gieb uns deines Heils Genuß, daß wir deine Kraft verspüren, und uns nie von dir verlieren. 5. Dann wird Lob und Dank Herr Jesu, schallen aus des Herzens Grund, dann wird alles jubiliren, und dir singen Herz und Mund, dann wird überall auf Erden, Jesus hochgelobet werden.
Der Vergleich der ersten Bearbeitungsstufe (Sp. 2) mit dem Original im Brüdergesangbuch zeigt, daß Schleiermacher in dieser ersten Phase der Redaktionsarbeit noch vorsichtiger zu Werke ging, sogar der später von ihm kategorisch abgelehnte „Satan" blieb hier noch stehen (Strophe 4). Erstmals bei der Liedblattbearbeitung von 1823 fiel er den „Feinden" zum Opfer. In Strophe 1 wurde die Reihe der Prädikationen umgestellt, um die Wiederholung der Eingangsfrage zu vermeiden. Dabei wurde der Titelvers nach dem Vorbild der zweiten Strophe gebildet. Und erstmals bei der Revision wurde das anstößig „brünstige" Nachwandeln zum „eifrigen" Nachwandeln abgeschwächt (Strophe 3) Am Beispiel der verschiedenen Bearbeitungsstufen dieses Liedes kann die Entwicklung des Hymnologen und Gesangbuchmachers Schleiermacher gut veranschaulicht werden: Wir beobachten nicht nur hier eine immer konsequenter werdende Anwendung der selbst bestimmten stilistischen und theologischen Prinzipien der GBC auf die Textbearbeitungen, auch wenn - wie so oft - der Preis der Abweichung vom gewohnten Titelvers gezahlt werden mußte.204 204
Zur Wechselbeziehung von GBC-Arbeit und Liedblattpraxis Schleiermachers, s. u. Ex-
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
Liedblatt L 182, A m zweiten Advent 1823
Mei. Herr, ich habe
mißgehandelt
Ohne dich, was sind wir, Jesu? Dürftig, jämmerlich und arm, ach was sind wir? voller Elend! Darum Jesu dich erbarm. Laß dich unsre Noth bewegen, die wir dir vor Augen legen. 2. Ohne dich, du Helfer Jesu, kommt man nicht durch diese Welt weil sie fast auf allen Wegen unsern Füßen Neze stellt. Laß uns alle Stricke meiden, daß wir uns von dir nicht scheiden. 3. Laß den Geist der Kraft, Herr Jesu, geben unserm Geiste Kraft, daß wir brünstig dir nachwandeln, nach der Liebe Eigenschaft. Ach Herr mach uns selber tüchtig, so wird unser Wandel richtig. 4. Tritt die Feinde, starker Jesu, unter unsern schwachen Fuß! Du kennst unser Unvermögen; gieb uns deines Heils Genuß, daß wir deine Kraft verspüren, nie den Muth zum Kampf verlieren 5. Dann wird Lob und Dank, Herr Jesu! schallen aus des Herzens Grund, dann wird alles jubiliren, und dir singen Herz und Mund; so wird überall auf Erden Jesus hochgelobet werden.
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Berliner Gesangbuch( 1829), Nr. 104
Mei. Herr, ich habe
mißgehandelt
Ohne dich, was sind wir. Jesu? dürftig, arm und jämmerlich! Ja. wir sind nur voller Elend: d'rum erbarm', o Jesu, dich! Laß dich unsre Noth bewegen, die wir dir vor Augen legen. 2. Ohne dich, du Helfer Jesu, kommen wir nicht durch die Welt, weil sie fast auf allen Wegen unsern Füßen Netze stellt. Hilf uns alle Stricke meiden, daß wir uns von dir nicht scheiden. 3. Laß den Geist der Kraft, Herr Jesu, unserm Geiste Kraft verleihn. daß wir eifrig dir nachwandeln bei des Wortes hellem Schein. Mache du. Herr selbst uns tüchtig, so wird unser Wandel richtig. 4. Gieb die Feinde, starker Jesu, unter unsern schwachen Fuß! Du kennst unser Unvermögen; schenk' uns deines Heils Genuß, daß wir deine Kraft verspüren, nie im Kampf den Muth verlieren. 5. Dann wird Lob und Dank, Herr Jesu, schallen aus des Herzens Grund. Dann wird Alles jubiliren und dir singen Herz und Mund, und einst überall auf Erden Jesus hochgelobet werden.
Ein weiteres gut zu dokumentierendes Beispiel für Schleiermachers hymnologische Entwicklung geben die Redaktionsstufen des Liedes „Du, durch den die Sonnen glühen" aus dem Jauerschen Gesangbuch. Schleiermacher hatte seine Bearbeitung am 24.11.1825 vorgelegt. Die am 1.12.1825 abgelieferte Reinschrift ist uns zufälligerweise erhalten und zwar mitsamt den gelegentlich der Revision erfolgten Korrekturen.205 Diese Behauptung läßt sich durch den Vergleich der Druckprobe Trowitzsch (Nr. 12) mit dem Finaltext (BG, Nr. 10) verifizieren, da die Erstfassung des Manuskripts mit Trowitzsch, die Korrekturfassung des Manuskripts mit dem BG-Text wörtlich übereinstimmt. Dem Textvergleich auf der nächsten Doppelseite ist noch die Liedblattfassung vom Sonntag Jubilate 1827 beigegeben: kurs II. 3.4. D i e v o n I. Seibt, Schleiermacher und das B G , S. 51, festgestellte T e n d e n z einer „immer deutlichere[n] Abkehr Schleiermachers v o n stark rationalistisch geprägten U m f o r m u n g e n alter Lieder hin zur mehr oder w e n i g e r entschiedenen Annäherung an die Originaltexte", kann ich nicht bestätigen. E s gibt diese Tendenz zwar innerhalb der G B C (Ribbeck, Ritsehl), aber Schleiermacher war weder ihr Motor n o c h ihr Exponent. 205
V g l . das Faksimile des unsignierten Textblattes ( Ü B Bonn), s. u. A n h a n g 11).
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Jauersches Gesangbuch Nr. 583
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
(1813),
Me!. Schmücke dich, o liebe etc. Ps 65, 3. (Feierlich flehend.) Du, durch den die Sonnen glühen, du, vor dem die Geister knieen, du, o du, zu dessen Fußen Engel Seligkeit genießen, Herr, von Millionen Reichen, Herrscher ohne Deines gleichen! Du erlaubst auch mir zu beten, kindlich zu dir hinzutreten.
Schleiermachers GBC-Reinschrift vom 24.11.25 (Textblatt UB Bonn) Mei. Schmücke dich, o liebe ρ Gott vor dem die Engel knien Und in hoher Andacht glühen, Du erlaubst auch mir zu beten, Kindlich vor dich hin zu treten. Und du blickst auch mir entgegen Liebreich so wie Väter pflegen Ja du giebst auch eh' ich flehe, Mir schon mehr als ich verstehe.
2. Alles darf ich dir bekennen; darf, o Herr, dich Vater nennen, und du blickst wie Vater pflegen, o so liebreich mir entgegen,
und ich dich in Freud' und Schmerzen, immer hab 1 in meinem Herzen. 4. Der im Leben und im Sterben uns erlöste vom Verderben, Jesus Christus, meine Freude, du mein Trost, wenn ich einst scheide; dir, wie sehr auch Spötter spotten, dir auch unter Frevelrotten treu zu seyn in meinem Glauben, diesen Schmuck laß Nichts mir rauben. 5.Deinen Geist, der Schwachen Führer, gib auch mir ihn zum Regierer, daß ich nie den Pfad erwähle, wo ich meines Ziels verfehle, ernstlich nur nach Wahrheit ringe, jede Leidenschaft bezwinge, christlich froh sei, christlich leide, und mit Christensinne scheide. 6. Willst du, Herr, zum Erdenleben mir vom Irdischen auch geben: gib Gesundheit, Muth und Kräfte, segne des Berufs Geschäfte; laß, die Dürftigen zu laben, immer mich ein Scherflein haben, und im Menschenkreis' erfreue Frieden mich und Lieb' und Treue.
Jubilate
Mel. Schmücke dich, o liebe etc. Gott vor dem die Geister knieen, In der Andacht Feuer glühen, Herr der Welt, zu dessen Fußen Engel Seligkeit genießen, Herrscher über Millionen, Die in deinem Schatten wohnen! Auch mir ist vergönnt zu beten, Kindlich darf ich vor dich treten. Ja ich darf dich Vater nennen, Alles darf ich dir bekennen, Und du blickst, wie Väter pflegen, Liebreich deinem Kind entgegen; Gnädig hörst du mein Begehren, Trocknest meine Leidenszähren, Und du giebst mir, eh ich flehe, Immer mehr als ich verstehe.
und du hörst, was ich begehre, trocknest meine Leidenszähre, gibst mir auch, noch eh' ich flehe, immer mehr, als ich verstehe. 3. O, so höre, Vater, höre, was ich demuthsvoll begehre; laß vor Eifer mich entbrennen, dich zu suchen, dich zu kennen; daß mich, wo ich bin und lebe, deine Herrlichkeit umschwebe,
Liedblatt L 289, Am Sonntag 1827(6.5.1827)
Dennoch höre, Vater, höre Was ich demuthsvoll begehre. Laß vor Eifer mich entbrennen Dich zu suchen dich zu kennen; Daß mich, wo ich immer lebe, Deine Herrlichkeit umschwebe, Und du stets bei Freud und Schmerzen wohnen mögst in meinem Herzen. Christus bleibe meine Freude; Gieb daß ich von ihm nie scheide Der durch Leben und durch Sterben Mich erlöste vom Verderben, Daß auch wenn der Frevler Rotten Ueber seine Lehre spotten Niemand je den Ruhm mir raube, Daß ich treulich lieb und glaube! Deinen Geist, der Gläubgen Führer, Gieb auch mir Gott zum Regierer, Daß ich stets den Pfad erwähle, Der zum Heil führt meine Seele; Daß ich ernst nach Wahrheit ringe, Und der Sünde Macht bezwinge, In des Geistes Kraft und Freude Fröhlich sei, auch wenn ich leide. Willst du Herr in diesem Leben Auch noch Irdisches mir geben: So erhalt mir Muth und Kräfte, Segne des Berufs Geschäfte, Daß ich Dürftige zu laben Ferner mög' ein Scherflein haben, Und im Kreise deiner Treuen Friede mich und Lieb erfreuen.
O so höre, Vater, höre, Was ich demuthsvoll begehre; Eifriger möchte' ich entbrennen Dich zu suchen, dich zu kennen, Daß mich, wo ich bin und lebe, Deine Herrlichkeit umschwebe, Und ich dich in Freud' und Schmerzen Immer hab' in meinem Herzen. Der im Leben und im Sterben, Uns erlöste vom Verderben, Dem getreu zu sein im Glauben, Diesen Schmuck laß nichts mir rauben! Laß mich deinen Geist regieren, Und den rechten Pfad mich ftlhren, Daß ich christlich leb' und leide, Und mit Christensinn einst scheide.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
Druckprobe Trovitzsch (1827), Nr. 12
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 10
Mei. Schmücke dich, o liebe eie.
Mei. Schmücke dich etc.
Gott, vor dem die Engel knieen und in hoher Andacht glühen! du erlaubst auch mir, zu beten, kindlich vor dich hinzutreten. Und du blickst auch mir entgegen liebreich, so wie Vater pflegen; ja, du giebst, auch eh' ich flehe, mir schon mehr, als ich verstehe.
Gott, vor dem die Engel knieen und in hoher Andacht glühen! du erlaubst auch mir, zu beten, kindlich vor dich hinzutreten. Und du blickst, wie Väter pflegen, liebreich deinem Kind' entgegen: ja, du giebst, noch eh' ich flehe, mir schon mehr, als ich verstehe.
2. Dennoch höre, Vater, höre, was ich demuthsvoll begehre: laB vor Eifer mich entbrennen Dich zu suchen, Dich zu kennen; daß mich, wo ich immer lebe, deine Herrlichkeit umschwebe, und du stets bei Freud und Schmerzen wohnen mög'st in meinem Herzen. 3. Christus bleibe meine Freude; gieb daß ich von ihm nie scheide, der durch Leben und durch Sterben mich erlöste vom Verderben; daß auch, wenn der Frevler Rotten Uber seine Lehre spotten, niemand je den Ruhm mir raube, daß ich treulich lieb' und glaube. 4. Deinen Geist, der Gläub'gen Führer, gieb auch mir, Gott, zum Regierer, daß ich stets den Pfad erwähle, der zum Heil fllhrt meine Seele; daß ich ernst nach Wahrheit ringe und der Sünde Macht bezwinge, in des Geistes Kraft und Freude fröhlich sey, auch wenn ich leide. 5. Willst du, Herr, in diesem Leben auch noch Irdisches mir geben: so erhalt' mir Muth und Kräfte, segne des Berufs Geschäfte, daß ich Dürftige zu laben immer mög' ein Scherflein haben, und im Kreise deiner Treuen Friede mich und Lieb' erfreuen.
2. Dennoch höre, Vater, höre, was ich demuthsvoll begehre: eifriger möcht' ich entbrennen. dich zu suchen, dich zu kennen; daß mich, wo ich immer lebe, deine Herrlichkeit umschwebe, und ich dich bei Freud' und Schmerzen immer hab' in meinem Heizen. 3. Christus bleibe meine Freude, daß ich nie von ihm mich scheide, der durch Leben und durch Sterben mich erlöste vom Verderben; daß auch, wenn der Frevler Rotten Uber seine Lehre spotten, niemand je den Ruhm mir raube, daß ich treulich lieb' und glaube. 4. Deinen Geist, der Gläub'gen Führer, gieb auch mir, Gott, zum Regierer, daß ich stets den Pfad erwähle, der zum Heil fühlt meine Seele; daß ich ernst nach Wahrheit ringe und der SUnde Macht bezwinge, in des Geistes Kraft und Freude fröhlich sey, auch wenn ich leide. 5. Willst du, Herr, in diesem Leben auch noch Irdisches mir geben: so erhalt' mir Muth und Kräfte, segne des Berufs Geschäfte, daß ich, DUrftige zu laben, ferner mög' ein Scherflein haben, und im Kreise deiner Treuen Friede mich und Lieb' erfreuen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Der Textvergleich bestätigt den Wert und die Zuverlässigkeit der Druckproben. Er bestätigt eine partielle Wiederherstellung des „Urtextes" (I/5206; 11/7,8), eine Weiterbearbeitung (III/2) wie auch gelegentliche Anleihen bei den Liederblättern (1/5,6; II/3). Doch handelt es sich in allem immer nur um Einzeloperationen, nie um ganze Strophen. Die BG-Texte stellen somit Konglomerate verschiedener Textüberlieferungen und Redaktionsstufen dar, und sie erweisen sich als Produkte einer unendlich mühsamen und fleißigen Kleinarbeit am Text. Typisch für Schleiermachers Redaktionstätigkeit ist die Komprimierung des Stoffes durch Strophenverschmelzung. Mittels dieser Technik wird das Lied von einem Lied über das Gebet zu einem trinitarisch gegliederten allgemeinen Eröffnungslied des Gottesdienstes transformiert. Die an Gott gerichteten Bitten werden äußerst vorsichtig formuliert, Schleiermacher geht vom Imperativ zum Optativ über. 3.2. Schleiermachers Konzept zur Rubrizierung des Berliner Gesangbuchs 3.2.1. Konkurrierende Entwürfe Die GBC hatte sich anläßlich der Vorbereitung der Kreissynode 1818 erstmals mit der Frage des Aufrisses beschäftigt. In der vorbereitenden Sitzung am 24.7.1818, bei der nur Hanstein, Wilmsen und Schleiermacher anwesend waren, war ein erstes Konzept erarbeitet worden, das leider verloren ist. Immerhin geht aus Küsters kritischen Anmerkungen vom 12.8.1818 (ad 11.) hervor, daß die Hauptrubrik I. des verlorenen Entwurfs den öffentlichen Gottesdienst betraf, daß weiter „die Zwischen- und Schlußgesänge [...] eine eigene Rubrik" ausmachten.207 Die Bruchstücke der Küsterschen Kritik weisen auf Schleiermachers Handschrift hin, die in einem Konzept von 1826 deutlich hervortritt. Mit diesem Konzept hatte Schleiermacher versucht, auf die Gesamtgestalt des BG entscheidenden Einfluß zu nehmen.208 Außer Schleiermacher hatten sich auch Küster und Ritsehl mit der Rubrizierung beschäftigt. Das Konzept Ritschis, das wahrscheinlich die meiste Zustimmung erhielt, ist ebenfalls verloren, aber Küsters Entwurf vom 16.11.1826 liegt vor und kann mit dem Schleiermachers verglichen werden.209 Über folgende Punkte war man sich einig: - Die Rubrizierung müsse so einfach wie möglich sein. - Es sollte keine Einteilung in Glaubens- und Sittenlehre stattfinden.210
206 207 208 209
210
Vgl. Strophe 2, Vers 3 und 4 im Quellengesangbuch. S.u. Anhang 9), J.I.13, Bl. 4v-5. S. u. Anhang 8). Vgl. Küsters Schreiben vom 13.12.1826, J.I.12, Bl. 2. Küsters Entwurf, auf dessen Abdruck aus Platzgründen verzichtet werden muß, und der hier nur referiert werden kann, befindet sich in J.I.12, Bl. 3-3v. Die Zweiteilung in Lieder zur Glaubens- und zur Sittenlehre war ein Charakteristikum rationalistischer Gesangbücher, vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 73. Beispielhaft im Neuen Dresdnischen Gesangbuch (1818), das beide Hauptteile ausdrücklich mit „Glaubenslehre" und „Sittenlehre" übertitelt.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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Neben den Hauptabteilungen sollte es - der Nutzer wegen - Unterabteilungen geben. Küster schlägt eine grobe Dreiteilung des BG vor, die den Artikeln des apostolischen Glaubensbekenntnisses entspricht. Vorangestellt in einer Einleitung sind allerdings die Eröffnungs- und Schlußlieder für den Gottesdienst. In die erste Hauptabteilung gehören die Schöpfungs- und Vorsehungslieder, aber auch Lieder von der Liebe und vom Vertrauen zu Gott und Lieder von der Nächstenund Selbstliebe. Die zweite Hauptabteilung beinhaltet sämtliche christologische Lieder, beginnend mit den Liedern vom Fall und Verderben der Menschen. Es schließen sich die Lieder zum Kirchenjahr (ohne Pfingsten) an, dann Sakramentslieder, die hier also christologisch verortet werden und Nachfolgelieder. In der dritten Hauptabteilung will Küster „dem III. Artikel von Wort zu Wort folgen", so daß die Lieder vom Heiligen Geist (Pfingsten), der Kirche, der Sündenvergebung und Buße, Tod und Auferstehung und Trinität aufeinander folgen sollen.211 Korrespondierend zur Einleitung soll es eine Schlußabteilung geben mit Liedern für besondere Zeiten und Umstände. 212 Trotz der am Gottesdienst orientierten Einleitung zeigt Küsters Entwurf eine ausdrücklich dogmatische Durchstrukturierung des Liedgutes. 213 Dabei geraten Symbol und Kirchenjahr unvermeidlich in Konflikt, wie die Abtrennung der Pfingstlieder vom Jahreskreis beweist. 3.2.2. Schleiermachers Entwurf Obwohl Schleiermacher seinen Rubrizierungsentwurf 214 letztendlich nicht durchsetzen konnte, so zeigt dieser doch, worauf Schleiermachers Theorie des BG hinauslief und unterstreicht nachdrücklich Schleiermachers praktisch-liturgisches Denken. „Wenn man voraussezen dürfte, daß diejenigen, welche das Gesangbuch gebrauchen werden, die darin enthaltenen Lieder kennen: so wäre alle Rubricirung derselben überflüßig; wir dürften sie vielmehr nur streng alphabethisch ordnen."215 211
212 213
214 215
Daß die Trinität an den Schluß des Entwurfs rückt, folgt nicht aus dem Apostolikum, sondern beweist, wie sehr Küster und seine Kollegen unter dem theologischen Einfluß Schleiermachers standen. Zitat Küster: „Die Trinitätslehre ist der eigentliche Schluß der christlichen Dogmatik, und daher gehörten die Trinitätslieder, wenn wir sie in eine eigene Rubrik bringen wollen, hieher." J.I.12, Bl. 3v. In Schleiermachers Glaubenslehre (CG 1821/22 1 ) bildet der Locus „Von der göttlichen Dreiheit" den Schluß, §§ 186-190. Diese Rubrik trägt traditionell Anhangscharakter, vgl. etwa das Jauersche Gesangbuch (1813), wo sie ausdrücklich als „Anhang" deklariert ist. Man muß Küster zugute halten, daß der Aufbau nach der Ordnung des Apostolikums gegenüber der traditionellen Einteilung in Glaubens- und Sittenlehre schon einen Fortschritt darstellte, vgl. A. Völker, Art. Gesangbuch, in TRE Bd. XII (1984), S. 558. Völker lobt dasselbe Rubrikenmuster im Lübecker Gesangbuch von 1832 ausdrücklich als reformerisch. Vgl. Anhang 8), J.I.12, Bl. l-2v. Anhang 8), J.I.12, Bl. 1. - Es gab solche Gesangbücher, z.B. das Neu vermehrte Geistreiche Gesangbuch, Berlin 1711 (gedr. bei Johann Lorentzen), in dem die 840 Lieder von A bis Ζ streng alphabetisch geordnet sind. Ich fand dieses - wahrscheinlich reformierte -
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Die Rubrizierung stellt einen Notbehelf dar, der allein der Handhabbarkeit des Gesangbuches dient. Weil mit der vollständigen Kenntnis der Lieder nicht gerechnet werden kann, müssen die Rubriken dem Prediger helfen, die für den Gottesdienst passenden Lieder aufzusuchen, wobei Schleiermacher zufolge drei Regeln gelten sollen: 1. Die Rubriken sind zu begrenzen. 2. Die Rubrizierung darf nicht dem System der Dogmatik und Moral folgen. 3. Der folgende Vorschlag muß als Versuch betrachtet werden, weil eine Theorie des Kirchenliedes noch fehlt.216 Schleiermachers Vorschlag geht aus vom praktischen Verwendungszweck des Gesangbuches, das eine Sammlung von Liedern für den öffentlichen Gottesdienst darstellen soll. Folglich empfiehlt sich eine Systematik nach praktisch-liturgischen Gesichtspunkten, wobei zunächst zwei Kategorien gebildet werden: „Die Kirchenlieder theilen sich in dieser Hinsicht in solche, welche sich näher auf den Inhalt der Predigt beziehen und in solche die mehr durch die Stelle bestimmt sind, welche sie im öffentlichen Gottesdienst einnehmen." Die letztgenannte Kategorie sortiert Schleiermacher unter der Rubrik I. (Lieder beim Anfang und Schluß der Versammlungen). Dort wird der Benutzer die Lieder für Anfang und Schluß sowie Kanzelverse finden. „Die Schwierigkeit", so schreibt er, „liegt in den Liedern welche dem Inhalt der Predigt verwandt sein sollen ..." Dabei handelt es sich um die von Schleiermacher oft als „individuelle" bezeichneten Lieder.217 Unproblematisch ist dabei die Anordnung der Lieder für die großen Kirchenfeste, die nach Schleiermachers Systematik in die Rubrik II. (Lieder für die christlichen Feste) sortiert werden. Auch die Kasuallieder bieten keine Schwierigkeit, allerdings bildet Schleiermacher fur sie keine eigene Rubrik, sondern er ordnet sie z.T. in die nachfolgende Systematik ein, z.T. werden sie anhangsweise an den Schluß gestellt, in die Rubrik VIII. (Lieder fur besondere Zeiten und Gelegenheiten). Als kompliziert erscheint dagegen die Anordnung der nichtkasuellen Lieder. Wie sollen sie geordnet werden, wenn Dogmatik und Moral als Leitfaden ausfallen? „Wenn wir aber doch an den christliehen Festen bestimmte Rubriken haben: so scheint mir in dieser Rathlosigkeit das beste[,] zuerst wenigstens zu untersuchen was sich an jene zunächst anschließt." Schleiermacher bedient sich also der dem Festkreis immanenten Systematik und versucht, die Lieder nach solchen Themen zu ordnen, die in der kirchlichen Glaubenspraxis einen liturgischen Sitz im Leben haben. Die Feste des Kirchenjahres mit ihren Themen sollen das Gerüst für die Rubriken III. bis VII. darstellen. Zunächst wird die Rubrik III. gebildet, die sich an die Advents- und Weihnachtsthematik von der Menschwerdung Gottes anschließt und den Titel trägt:
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Gesangbuch in der UB Eichstätt (Sign.: 141 BS 4835 Ν 498). J.I.12, Bl. l v - 2 . Vgl. die folgenden Zitate aus Schleiermachers Konzept in Anhang 8). Die bereits aus Schleiermachers Praktischer Theologie bekannte Unterscheidung von „symbolischen" und „individuellen" Liedern kehrt hier wieder, vgl. PT, S. 183f.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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„Von der menschlichen Natur". Die darin enthaltenden Lieder befassen sich mit der Bestimmung und Würde der menschlichen Natur sowie mit deren Verderben. Thematisch anknüpfend an Weihnachten und die Passion ergibt sich die Rubrik IV.: „Lieder zur Verherrlichung des Erlösers in seinem irdischen Leben". An Ostern und Himmelfahrt schließt sich thematisch die Abteilung VII. an: „Von den Verheißungen nach diesem Leben" mit den Unterabteilungen „Vom hoffnungsvollen Tode des Christen" und „Vom ewigen Leben und den lezten Dingen". 218 „An Pfingsten aber", schreibt er, „schließt sich mit der christlichen Kirche alles übrige an. Denn alles, was im Kirchenliede dargestellt wird, ist doch etwas der christlichen Kirche und ihrem Leben angehöriges. Nur weil diese Masse zu groß wäre, sind hier Unterabtheilungen nöthig, wenn der Zweck soll erreicht werden." Darum teilt Schleiermacher diese genuinen „Kirchenlieder" in zwei Rubriken: Rubrik V. „Von der Offenbarung der göttlichen Gnade" Diese Lieder sollen die göttliche Verursachung der christlichen Kirche zum Inhalt haben, hier finden sich z.B. Lieder von den Gnadenmitteln (Wort und Sakrament), aber auch die Lieder vom göttlichen Schutz und Regiment, die traditionell reichhaltigen Vorsehungslieder.219 Rubrik VI. „Von der christlichen Kirche auf Erden" Diese Rubrik mit Liedern, die das religiöse Leben des Christen aus seiner Erfahrung betrachten, teilt sich in fünf Unterabteilungen: 1. Vom Wesen der christlichen Kirche und ihrer Verbreitung, 2. Von der Gemeinschaft des Christen mit Gott im Gebet, 3. Von der fortgehenden Buße des Christen, 4. Vom Wandel in der Nachfolge Christi, 5. Von der Seligkeit des Christen. Interesse verdienen Titel, Inhalt und Aufbau der Rubrik VI. (Von der christlichen Kirche auf Erden), wo sich die traditionellen Morallieder wiederfinden. Hier setzt Schleiermacher einen besonderen Akzent, indem er die Abteilungen 1. (Vom Wesen der christlichen Kirche und ihrer Verbreitung) und 2. (Von der Gemeinschaft des Christen mit Gott im Gebet) vorordnet. Nicht das persönliche Gottesverhältnis des Einzelnen stellt diese Rubrik in den Vordergrund, sondern die kirchliche Gemeinschaft und den liturgischen Vollzug des Glaubens im Gebet. In dieser Anordnung und in der Einordnung der Morallieder in die Kategorie der Lieder von der Kirche wirkt sich die Rückbindung der Rubrik an das Pfingstfest aus. Auffallend ist auch die Vorordnung der Gebetslieder vor die Bußlieder.220 218 219
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Diese Rubrik entspricht dem Locus „De novissimis". Diese Einordnung findet sich bereits im Porst'sehen Gesangbuch (1728). Dort bildet die Abteilung „Von göttlicher Vorsorge und Regierung" den dritten Teil der Rubrik „Von den Gütern des Heils" Dagegen hat das BG die Vorsehungslieder wieder dem ersten Glaubensartikel zugeordnet: Rubrik V. „Von der Schöpfung, Erhaltung und Regierung". Zur Entwicklung der Rubrikenverzeichnisse in Berliner Gesangbüchern vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 70ff. Im BG steht die Rubrik XIV. „Vom Gebet" zwischen den göttlichen Gnadenmitteln Wort und Sakrament. Von der Apologie der CA wird das Gebet sogar unter die Sakramente im
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Erst auf die Gebetslieder folgen die Lieder vom christlichen Leben in drei Abteilungen: Buße, Nachfolge, Seligkeit.221 Überraschenderweise fehlt in der Rubrik VI. eine Abteilung mit Glaubensliedern.222 Dagegen darf das Fehlen einer Rubrik: Kreuz und Anfechtung bei Schleiermacher nicht überraschen. 3.2.3. Würdigung und Kritik Schleiermachers Entwurf verrät einen entschieden liturgischen Ansatz, der durch zwei Stichworte charakterisiert ist: öffentlicher Gottesdienst und Kirchenjahr. Durch die geringe Zahl von nur acht Hauptrubriken läßt sich die theologische Schwerpunktsetzung und Gestaltung weit besser erkennen als im Rubrikenverzeichnis des BG. Da Schleiermacher mit dem Geistlichen als dem Rezepienten des Rubrikenverzeichnisses rechnet, der Lieder für den öffentlichen Gottesdienst nach den Vorgaben des Kirchenjahres und in Bezug auf seine Predigt heraussucht, sollen die Form des Gottesdienstes und der Lauf des Kirchenjahres die Anlage des Gesangbuches bestimmen. Die Gesamtordnung wurde primär nach liturgischen Gesichtspunkten erstellt. Streng genommen bildet Schleiermacher nur vier Hauptabteilungen:
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weiteren Sinne gerechnet. Vgl. Apologie XIII/16: „Postremo, si omnes res annumerari sacramenti debent, quae habent mandatum Dei et quibus sunt additae promissiones, cur non addimus orationem, quae verissimae potest dici sacramentum? Habet enim et mandatum Dei et promissiones plurimas..." BSLK Bd. 1, Berlin 19787, S. 294. - Die Anordnung der Gebetslieder in Rubrik VI. stimmt überein mit Schleiermachers Charakterisierung in PT, S. 187: „daß es keinen anderen Gegenstand des Gebets giebt als die Förderung des Reiches Gottes, und sich alles andere auf dieses bezieht." Schleiermacher betrachtet das Gebet nicht als Gottesgabe, sondern als eine exklusiv auf die Förderung des Gottesreiches gerichtete religiöse Handlung. - Zur Nachordnung der Bußlieder in VI. 3. machen Schleiermachers Erläuterungen allerdings deutlich, daß die eigentlichen Bußlieder (Beichtlieder) in der Abteilung V. 3. stehen sollen, und daß die hiergenannten Lieder den Vorgang der Heiligung thematisieren. Darauf weist auch der Titel: „Von der fortgehenden Buße des Christen". - Innerhalb der GBC war der Platz der Buße lange umstritten, vgl. das Protokoll vom 25.1.1827: „Bei der fortgesetzten Berathung über die Anordnung der Rubriken konnte man über den Platz, den die Buße einnehmen sollte, lange nicht eins werden. In den meisten GesangbwcAer/i folgt sie sehr unpassend auf das Abendmahl. Dennoch fand man es unvermeidlich, ihr diesen Platz zu lassen." Die Abfolge Taufe-Abendmahl-Buße (so auch im BG) offenbart deutlich das strukturierende Prinzip: die Dogmatik, vgl. z. B. die CA oder Luthers Kleinen Katechismus. Schleiermacher: „Das besondere in der christlichen Kirche aber was Inhalt der Gesänge sein kann, scheint mir nur dreierlei zu sein. Darstellung der noch immer vorhandenen Unvollkommenheit. Das sind die B u ß l i e d e r , welche sich freilich an die Beichtlieder anschließen; allein die Beziehung der lezteren auf das Sacrament giebt doch eine bestimmte Unterscheidung. Darstellung des christlichen Wandels, und das sind die so oder v o n d e r N a c h f o l g e C h r i s t i überschriebenen Lieder und endlich Darstellung der S e l i g k e i t d e s C h r i s t e n . " Anhang 8), J.I.12, Bl. 2-2v. Wahrscheinlich sortiert Schleiermacher die Glaubenslieder unter VI. 3.-5., denn nach § 130 der Glaubenslehre (CG 1821/22 1 ) ist der Glaube Bestandteil der Bekehrung, vgl. KGA 1/7,2, S. 118. Auch in der Glaubenslehre hat der Glaube keinen eigenen Artikel.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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Lieder beim Anfang und Schluß der Versammlungen, Rubrik I. (Der Gottesdienst, hier stehen die sogenannten symbolischen Lieder) Lieder für die christlichen Feste, Rubrik II. (Das Kirchenjahr) Lieder für die Predigt, Rubriken III. bis VII. Lieder für besondere Zeiten und Gelegenheiten, Rubrik VIII. Es handelt sich also um eine Mischsystematik: Gottesdienst und Kirchenjahr bilden die Struktur und zwar so, daß das Liedgut zunächst in zwei Gruppen geteilt wird: symbolische und individuelle, oder auch allgemeine und spezielle Lieder, wobei die ersten in Rubrik I. (und II.) stehen.223 Die Ordnung der Abteilungen in Rubrik I. spiegelt grob die liturgische Form des Hauptgottesdienstes sowie die gottesdienstliche Gestaltung des Sonntags wider: Eingangs- und Loblieder für den Anfang, Dank- und Fürbittlieder für den Schluß, Credo-Lieder für den Anfang bzw. für die an den Hauptgottesdienst sich anschließenden Kommunionen und Taufen, schließlich die Morgen- und Abendlieder, durch die die Früh- und Nachmittagsgottesdienste eine erhebliche Aufwertung erfahren. Der Titel der Rubrik I.: „Lieder beim Anfang und Schluß der Versammlungen" weist bereits darauf hin, daß Lieder zur Predigt hier nicht zu finden sind. Die Abteilungen der Rubrik II. folgen nicht dem zweiten Glaubensartikel, sondern der Folge der Hauptfeste im Jahreskreis, wozu das Pfingstfest gehört, dessen Lieder darum auch Pfingstlieder heißen und nicht: „Von dem heiligen Geist" oder „Von der christlichen Kirche" wie im BG. Rubrik II. beinhaltet nur die Lieder für die biblisch legitimierten christlichen Hauptfeste.224 Die möglichen Predigtlieder werden mit Hilfe der theologischen Topoi, die das Kirchenjahr vorgibt, gegliedert. So entstehen die Rubriken III. (Mensch), IV. (Jesus), V. (Gnade), VI. (Kirche und christliches Leben) und VII. (Tod und Ewigkeit). Die Jesuslieder finden sich bezeichnenderweise nicht in Rubrik II. zwischen den Weihnachts- und Passionsliedern, wo sie den Festkreis aufbrechen würden (wie z.B. in Küsters Entwurf), sondern sie bilden die eigene Rubrik IV. Durch ihre Selbständigkeit - Rubrik IV. hat als einzige keine Unterabteilungen - und ihre Zentralstellung wird sie erheblich aufgewertet.225 Die Rubriken III. bis VII. sortieren die Lieder nach den impliziten theologischen Topoi des Kirchenjahres, allerdings nicht in liturgischer, sondern in 223 224
225
In Rubrik II. stehen die Lieder fur den Jahresfestkreis. Sie können an Festtagen auch an Stelle der symbolischen Lieder als Eingangslieder gewählt werden. Das Erntedankfest fehlt ebenso wie das Reformationsfest, dafür ist Karfreitag eigens genannt und auch Himmelfahrt wird zu den Hauptfesten gezählt. Die Zusammenfassung von Oster- und Himmelfahrtsliedern hängt mit Schleiermachers Theologie zusammen. Schleiermacher hielt Auferstehung und Himmelfahrt für Mythen, vgl. seine Glaubenslehre (CG 1821/22 1 ), § 120, KGA 1/7,2. Die Anordnung der Rubrik IV. zwischen III. (Würde und Elend des Menschen) und V. (Offenbarung der Gnade) entspricht Schleiermachers bekanntem christologischen Grundverständnis vom urbildlichen und erlösenden Menschsein Jesu.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
heilsgeschichtlicher Anordnung, so daß die Lieder vom Tod und ewigen Leben - wie gewöhnlich - den Schluß bilden. Rubrik VIII. kann als Anhang gelten mit Liedern zu den Themen: Jahreswechsel und Jahreszeiten, Ernte, Politik, Ehe und Haus.226 Die Anordnung der Abteilungen in Rubrik VIII demonstriert wiederum die Vorordnung des öffentlichen vor dem privaten Leben. Da es um Lieder der christlichen Gemeinde geht, werden solche Lieder, in denen das spezifisch Christliche nicht hervortritt oder die keinen theologischen Haftpunkt im Kirchenjahr haben, nicht eigens rubriziert, sie werden in andere Rubriken eingeordnet. So fehlen in Schleiermacher Konzept wichtige Topoi des dogmatischen Systems wie ζ. B. der erste Artikel, für den es im Kirchenjahr kein entsprechendes Fest gibt. Die Lieder von den göttlichen Eigenschaften (BG Rubrik IV.) finden sich hier bei den allgemeinen Lob- und Dankliedern (I. 2.) und die sehr zahlreichen allgemeinen Vorsehungs- und Vertrauenslieder (BG XXI.) unter der Überschrift „Von der Offenbarung der göttlichen Gnade" in Rubrik V. wieder.227 Damit werden die Vorsehungslieder vom Rand einer vagen Vorsehungstheologie weggeholt und in das Zentrum des christlichen Glaubens: neben Wort und Sakrament! gestellt, eine spektakuläre theologische Aufwertung, die im Horizont von Schleiermachers Religionstheorie als Abhängigkeitsgefühl durchaus sinnvoll ist. Die Lieder über das christliche Leben des Einzelnen werden in der Rubrik VI. (Von der christlichen Kirche auf Erden) registriert und damit in das Kirchenjahr integriert. Schleiermacher will so die Trennung von Lehre und Leben, die die rationalistischen Gesangbücher vorgenommen hatten228, aufheben und das christliche Leben herausrufen aus der Privatsphäre in den gottesdienstlichen Glaubensvollzug der Gemeinde. Die formale Stärke des Entwurfs gegenüber der späteren Gliederung des BG liegt zweifellos in der Hierarchisierung der Abteilungen, die eine sichtbare Ordnung und Gewichtung ermöglicht, doch ist die theologische Idee des Aufrisses ohne Erläuterungen nicht zu fassen. Zugleich hat die geringere Zahl der Rubriken in Verbindung mit Schleiermachers sehr persönlicher theologischer Gestaltung auch Nachteile: Sie behindert die Findung, ζ. B. der Glaubenslieder und Anfechtungslieder. Auch würden einige Abteilungen zu umfangreich, ζ. B. die Lob- und Danklieder (I. 2.). Die inhaltliche Stärke des Entwurfs liegt in dem doppelten Ansatz bei Gottesdienst und Kirchenjahr wie es im evangelischen Gesangbuch seit Anfang an (Klugsches Gesangbuch 15332) üblich war.229 Im Unterschied zu Luther ordnet 226
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Die ungewöhnliche Bezeichnung der Abteilung VIII. 5.: „Von Krieg und Frieden" hat vielleicht damit zu tun, daß Schleiermacher in den Befreiungskriegen intensive Erfahrungen mit dem Kirchengesang gemacht hat, vgl. etwa das Protokoll vom 13.4.1820. Vgl. J.I.12,B1.2v, Anhang 8). Vgl. dazu auch I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 70ff. Zu Luthers Gesangbüchern (Klug 1529/15332, Babst 1545) vgl. A. Völker, Art. Gesangbuch, in TRE Bd. XII (1984), S. 548ff. Luthers Gesangbücher setzen ein mit dem Kirchenjahr, es folgen Katechismus- und Psalmlieder, dann liturgische Stücke: Sanctus, Da-
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
243
Schleiermacher den Gottesdienst dem Kirchenjahr äußerlich vor, womit der Anwendungsbereich unmißverständlich kundgetan wird: Gesangbuch zum g o t t e s d i e n s t l i c h e n Gebrauch. Warum sich allerdings gottesdienstlicher- und Haus-Gebrauch ausschließen, warum das Rubrikenverzeichnis allein dem Geistlichen dienen soll, ist auch von Schleiermacher Standpunkt aus, den er etwa mit seinem Plädoyer für die geistliche Mündigkeit in der vierten Rede „Über das Gesellige in der Religion" eingenommen hatte, nicht einzusehen. Dagegen überrascht es wenig aber befriedigt nicht, daß die Sakramentslieder nicht als integraler Bestandteil des Gottesdienstes gelten und in Rubrik I. stehen, sondern gleichsam als ein dogmatischer Topos unter die Gnadengaben oder Heilsmitteln gerechnet werden. Schleiermachers Problem mit den Sakramenten, bereits aus der PT bekannt, spiegelt sich auch hier ab. Die innere Strukturierung des Liedguts mit Hilfe der theologischen Topoi bewirkt eine starke christologische und ekklessiologische Konzentration, weil alle Lieder unter dem Aspekt ihrer liturgischen Verankerung im Kirchenjahr und ihrer gottesdienstlichen Verwendbarkeit, vor allem in Bezug auf den Gegenstand der Predigt, betrachtet und eingeordnet wurden. Hier lauert die Gefahr jedes Systems: Viele Lieder würden thematisch einseitig vereinnahmt und in ein theologisches Korsett gezwungen, eine Bevormundung des Benutzers, die Schleiermacher ja eigentlich vermeiden wollte, weshalb er die rein-alphabetische Ordnung idealisiert hatte. Vielleicht war es diese Unstimmigkeit, die Schleiermacher bewog, seinen Entwurf zurückzuziehen. Wie Wilmsen empfanden wohl auch die anderen diesen Enwurf als zu kompliziert: „Ich besorge, daß die sinnreiche Anlage des Hr. D. Schleiermacher zu einer Rubricirung der Gesänge in der Ausführung bedeutende Schwierigkeiten haben werde." 230
Und Schleiermacher war die Rubrizierung wohl nicht wichtig genug, um darum zu kämpfen, so daß sich die GBC-Hymnologen durchsetzen konnten, die den rationalistischen Vorbildern und dem dogmatischen System folgten, das die drei Glaubensartikel nacheinander abhandelt.231 Strukturbildend wurde nicht der Gottesdienst und das Kirchenjahr, sondern das dogmatische System des trinitarischen Glaubens. Konnte der Aufriß des BG auch nicht ohne Schleiermachers Zustimmung beschlossen werden, so mahnt das vorliegende Konzept doch zur Vorsicht, das BG insgesamt als Werk Schleiermachers zu lesen. Mit seinem wegweisenden Versuch232, die Lieder nach liturgischen Gesichtspunkten anzuordnen, konnte er pacem, Tedeum, Litanei. Zum Sinn und liturgischen Ort seiner Lieder vgl. auch Luthers Formula Missae et Communionis. 1523, WA 12, S. 218. 230 J.I.12, Bl. 2, nicht im Anhang. 231 Vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 74. Die endgültige Rubrizierung stammt vielleicht von Ritsehl, dessen Entwurf leider verloren ist. 232 H. Hoffmann sieht zu dieser Zeit bereits eine allgemeine Tendenz der Hinwendung zu
244
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
sich nicht durchsetzen. Wohl mehr aus Kollegialität als aus Überzeugung hat er die Rubrizierung des BG später öffentlich verteidigt. 233 3.2.4. Spuren Schleiermacherscher
Gestaltung im Rubrikenverzeichnis
des BG
Vorausgesetzt, daß Schleiermacher an der endgültigen Rubrizierung des BG mitgearbeitet hat, fragt sich: Welche Akzente konnte er da noch setzen? Am 18.1.1827 wurde die Rubrizierung verhandelt: „Dann kam die Anordnung der Rubriken zur Sprache. Hr. Schleiermacher, Hr. Ritsehl und Hr. Küster hatten Entwürfe dazu gemacht, und Hr. Sehl den seinigen mit ausführlichen Bemerkungen begleitet. Es wurde beschlossen, daß die Sonntagslieder den Anfang machen sollten unter der Benennung: „christlicher Gottesdienst"; diesen folgen die symbolische« Lieder unter dem Namen: „Bekenntniß des Glaubens an Gott den Dreieinigen". Gegen die Benennung: „von den Eigenschaften Gottes" erklärten sich mehrere Stimmen, wofür „Preis der göttlichen Eigenschaften" beliebt wurde, doch nicht einstimmig. Dann: „Schöpfung Erhaltung u Regierung" als Eine Rubrik, wobei aber die Vorsehungs-Lieder streng abzusondern seyn würden. Dann: der Mensch („vom natürlichen Zustand des Menschen")234 - „Von Christo dem Erlöser", ganz allgemein genommen. Advents und Weihnachts Lieder. Vom Leben Christi. Leiden und Tod Christi. Osterlieder. Auferstehung Himmelfahrt." Die Abteilung „Vom christlichen Gottesdienste überhaupt" wurde zwar in der übernächsten Sitzung den „Allgemeinen Bitten" wieder nachgeordnet, konnte sich aber als BG-Rubrik II. immerhin vorn behaupten. 235 Mit der Umbenennung der Rubrik „Von den Eigenschaften Gottes" in „Preis der göttlichen Eigenschaften" (BG IV.) wurde der liturgische Vollzug betont. Die Absonderung der Vorsehungslieder geschah sicher auf Drängen Schleiermachers, der diese theologisch stärker gewichten wollte. Eine Rubrik „Vom Leben Christi" zwischen den Weihnachts- und den Passionsliedern, befand sich auch noch im vorläufigen Rubrikenverzeichnis von 1827.236 Diese Rubrik, die sich z.B. auch in Küsters Entwurf mit dem Titel: „Wandel auf Erden" findet, fehlt in Schleiermachers Entwurf, weil sie die nach den Hauptfesten geordnete Abfolge stört. Durch die Eliminierung dieser Rubrik bei der Revision blieb wenigstens der Festkreis mit den BG-Rubriken VI. bis XI. kompakt.
233
234 235 236
Gottesdienst und Kirchenjahr, vgl. H. Hoffmann, Tradition und Aktualität im Kirchenlied (1967), S. 46. Sendschreiben an Ritsehl SW 1/5, S. 664: „Und dann das Kirchenjahr. Aber dieses kann für einen protestantischen Gottesdienst keinen Einfluß auf das Gesangbuch haben, als nur die Festlieder in richiger Ordnung zu stellen, welches auch jedes Kind kann. Denn außer den festlichen Zeiten übt der Stand des Kirchenjahres gar keinen Einfluß auf den Kirchengesang aus." Diese Rubrik fehlt im BG. Vgl. Protokoll vom 1.2.1827. Vgl. das Rubrikenverzeichnis in der Anlage zm Schreiben der GBC vom 19.4.1827 an das Konsistorium, in EZA-Akte 14/878.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
245
Daß das BG keine Rubrik „Wiederkehr zum Gericht" aufweist, kann nach Kenntnisnahme der theologischen Redaktionsprinzipien nicht verwundern. Hier zeigt sich deutlich Schleiermachers Handschrift. Die alphabetische Anordnung der Lieder innerhalb der Rubriken ist sicherlich nicht allein auf Schleiermachers Wunsch hin erfolgt, dennoch sahen wir, daß er die rein alphabetische Liedfolge für das eigentliche Ideal hielt, da sie dem Liturgen die größtmögliche Freiheit bei der Liedauswahl gewährt. Da Schleiermacher den Vorgang der Endredaktion 1829 massiv bestimmte, ist denkbar, daß er für die merkwürdig anmutende Anordnung der Schlußrubrik XXVII. verantwortlich zeichnete. 237 3.3. Eigene Strophendichtung 3.3.1. Zu Johann Andreas Cramers „Für unsre Brüder beten wir" Die bisher beobachtete Tätigkeit des Hymnologen Schleiermacher war lediglich eine korrigierende, renovierende oder restaurierende. Aber hat sich Schleiermacher auch schöpferisch betätigt? I. Seibt vermutet, „daß eine Reihe dieser Liedstrophen [auf den Liederblättern unter bzw. nach der Predigt] Schleiermacher zugeschrieben werden müssen." 238 Ohne den Bestand systematisch gesichtet zu haben, hat sich durch Stichproben allerdings herausgestellt, daß die meisten einzelnen Liedstrophen Gesangbuchliedern entstammen. 239 Doch soll damit I. Seibis These, daß Schleiermacher auch einzelne Strophen selbst gedichtet habe, nicht generell widersprochen werden. Bei dem von I. Seibt vorgeführten Beispiel, Johann Andreas Cramers „Für unsern Nächsten beten wir" (BG, Nr. 8) verhält sich die Sache allerdings komplizierter. 240 Das Lied wurde am 15.12.1825 von der GBC beraten. Auf einer Vorschlagsliste von Wilmsen ist zu lesen: „K. Für unsre Brüder beten wir p. Cramer (Brem, u Jauer. Magdeb.)" 241 Diese Zeile enthält folgende wichtige Informationen: Nicht Schleiermacher, sondern Küster hat das Lied redigiert und zwar mit Hilfe der genannten Gesangbücher. 242 Am 15.12.1825 trug Küster das Lied der GBC vor, am 5.1.1826 lieferte er es ins Archiv ab. Diese Küstersche Archivfassung liegt uns höchstwahrscheinlich im Probedruck des Verlegers Trowitzsch (Nr. 10) vor.
237
238 239 240 241 242
Mit der alphabetischen Gliederung auch des letzten Unterabschnitts F. der Rubrik XXVII. „Für besondere Lebensverhältnisse" erklärt sich der „wenig passend[e] und durchaus unüblich[e]" Abschluß. C. Harms, zitiert nach I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 76. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 53. Anhand der Melodien können Einzelstrophen häufig zugeordnet werden. Vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 53ff. GBC-Akte J.I.12, Bl. 17v (nicht im Anhang). Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 605; Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 592 und Magdeburger Gesangbuch (Neues Magdeburger Gesangbuch 18184), Nr. 382. Auf Küsters Rezeption der einzelnen Textversionen muß ich hier nicht eingehen.
246
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Erst nach Küsters Vortrag brachte Schleiermacher zunächst drei Strophen des Liedes am 23. Sonntag nach Trinitatis 1826 nach der Predigt243, schließlich eine - gegenüber der mutmaßlichen Vorlage, der Küster-Version (Druckprobe Trowitzsch) - geringfügig veränderte siebenstrophige Fassung am zweiten Advent 1827.244 Schleiermacher hat also höchstwahrscheinlich Küsters Liedbearbeitung samt dessen hinzu gedichteten Strophen rezipiert.245 So ist dieses Lied, das I. Seibt für Schleiermachers theologischen Einfluß auf das BG reklamiert246, ungeeignet, diesen Nachweis zu führen, weil mit dem Bekanntwerden der Druckproben das Liedblatt L 306 vom zweiten Advent 1827 nicht mehr den ältesten Textbeleg für die BG-Fassung des Liedes darstellt. Der Textvergleich zeigt auch, daß bei der Revision im Frühjahr 1829 auf Schleiermachers Liedblatt-Text keine Rücksicht genommen wurde. Gegen Ilsabe Seibis Vermutung, daß Schleiermacher für das Liedblatt zum 22. Sonntag nach Trinitatis 1821 (L 120) zwei Strophen gedichtet habe247, ist nichts einzuwenden. Doch führe ich die Interpolation der beiden fremden Strophen lieber auf die Wahl des Predigttextes und -themas zurück. Schleiermacher predigte am 22. Sonntag nach Trinitatis 1821 über „die Grenzen unserer Wirksamkeit in der Verbreitung der Wahrheit" (die Pharisäer als Blindenführer, Mt 15, 13f.). Diese Predigt bildete den Abschluß einer ganzen Predigtreihe über die Aussendung der Jünger und ihren zukünftigen Beruf. 248 Da Schleiermacher sich frühzeitig auf die Wahl des Predigtthemas festgelegt hatte, konnte er auch das Liedblatt themenbezogen gestalten. Damit relativieren sich alle biographischen Spekulationen über die Hintergründe der - mutmaßlich eigenen - Strophendichtung.249
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Vgl. Liedblatt L 272 vom 29.10.1826. In der zweiten Liedblatt-Strophe erscheinen die offenbar von Küster stammenden Verse: „Auch die Verirrten führe du der Heerde Christi wieder zu", in der dritten: „Hör unser brünstiges Gebet, das allen Brüdern Heil erfleht." Die Abweichungen, auf die ich hier nicht ausführlich eingehen kann, führe ich wiederum auf die von Schleiermacher reflektierte liturgische Situation zurück. Gegen I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 58: „Auffallend sind die 2. und 3. Strophe, weil sie keinerlei Anhalt am Original oder einem anderen der naheliegenden Gesangbücher haben. Wortwahl und theologischer Gehalt weisen diese beiden Liedstrophen als eigenständige Dichtung Schleiermachers aus, durch die das Lied ergänzt wird." I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 58 und 172f. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 56f. SW 11/10, S. 318-334. Schleiermacher nimmt zu Beginn seiner Predigt auf das Hauptlied Bezug: „... und woran wir alle doch nie ohne Wehmuth denken mögen, nemlich daß auch wir oft unseren Bemühungen, das Licht der Wahrheit zu verbreiten und in die Herzen dringen zu machen, Grenzen sezen müssen, die wir nicht übersteigen können, und daß uns dann nichts anderes übrig bleibt, als was wir e b e n in u n s e r e m G e s ä n g e gethan, die Seelen derjenigen, auf die wir nicht weiter wirken können, in menschenfreundlichen und liebreichen Gebeten demjenigen zu empfehlen, der Alles lenkt." S. 319. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 56f., fuhrt Schleiermachers Strophendichtung auf persönliche Anfechtungen im Zusammenhang mit der Erscheinung der Glaubenslehre im Jahre 1821 zurück. - Zum Zusammenhang von Predigt und Lied, s. u. Exkurs II. 3.4.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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Insgesamt zeigt die Rezeption des Cramerschen Liedes, daß Schleiermacher bei der Lied- und Strophenauswahl und bei der Gestaltung der Liederblätter völlig ungebunden war, daß er sowohl Strophen hinzudichten als auch Bearbeitungen seiner Kollegen verwenden konnte, wenn die jeweiligen Texte in die Konzeption seines Gottesdientes paßten. Dabei bot ihm das GBC-Archiv, je mehr es sich füllte, einen willkommenen Fundus von Liedern, die bereits in seinem Sinne geprüft und korrigiert waren, ohne daß er für nötig hielt, sich buchstäblich an die autorisierte Textfassung zu halten. 3.3.2. Johann Peter Uz' „Herr sieh, ich bin verdrossen" Daß Schleiermacher nun tatsächlich auch eigene Strophen geschaffen hat, ist bezeugt durch das Protokoll vom 10.3.1825: „Hr. Schleiermacher [trug vor]·. ACH HERR ICH BIN VERDROSSEN. Einige Verse hatte der Bearbeiter zusammengezogen, und 2 neue hinzugefügt, die den Schluß bilden." Wie aus einem in den Akten befindlichen Liederverzeichnis hervorgeht, ist die Bearbeitung unter Berücksichtigung der Textfassungen des Bremer und des Zollikoferschen Gesangbuches entstanden.250 Der Synopse auf den folgenden Doppelseiten beigegeben ist neben den Quellengesangbüchern und dem Finaltext das Originalgedicht von Uz im Urtext und in einer selbstverbesserten Gestalt (im Kleindruck):
250
Liederverzeichnis J.I.12, Bl. 50 (nicht im Anhang), vgl. Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 209 und Zollikofers Gesangbuch (1766), Nr. 305.
248
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Sämmtliche Poetische Werke von J. P. Uz.25'
Zollikofers Gesangbuch (1766), Nr. 305
Titel: Erinnerung des letzten Gerichts.
Rubrik: Vom zukünftigen Gerichte. Mei. Befiehl du deine Wege etc.
Herr, sieh, ich bin verdrossen, Zu thun, was dir gefallt: Mein Herz wankt (hinkt) unentschlossen Noch zwischen Gott und Welt. Mich drücken schnöde Ketten Und alter Sünden Sclaverey: Verzeuch nicht, mich zu retten, Und mach, o Gott, mich frey! Geh auf in meiner Seele, Geh auf mit vollem Glanz! Damit ich dich erwähle, So zeige dich mir ganz, Wie schrecklich du dem Sünder, O heiligstes der Wesen, seyst, Du Vater deiner Kinder, Vollkommner höchster Geist! Sollt' in gewohnten Sünden, Eh' ich versöhnet bin, Dein großer Tag mich finden, O Gott, wo flöh ich hin, Wann unter Ungewittern Die Berge taumeln, wie vom Wind (die Berge taumein
und
Herr, sieh, ich bin verdrossen, zu thun, was dir gefällt! Mein Herz hinkt unentschlossen noch zwischen Gott und Welt. Mich drücken schnöde Ketten, der Sünden Sklaverey: Verzeuch nicht mich zu retten, und mach, o Gott, mich frey. 2. Geh auf in meiner Seele, geh auf mit vollem Glanz! damit ich dich erwähle, so zeige dich mir ganz: wie schrecklich du dem Sünder, o reinstes Wesen, seyst, du Vater deiner Kinder, vollkommner höchster Geist! 3. Sollt in gewohnten Sünden, eh ich versöhnet bin, dein großer Tag mich finden; o Gott! wo flöh ich hin: wenn Berg in Ungewittern hertaumeln wie vom Wind,
verhüllt,)
Und Erd und Himmel zittern, (in Himmelsdunkel zittern) Und Sonnen finster sind! (aus dem der Donner brüllt?) Ringt jammernd eure Hände, Die ihr auf Erden lebt (die ihrhienieden lebt!) Sie fühlt ihr kommend Ende (Die Erde fühlt ihr Ende:) Sie ängstet sich und bebt. Sie (Schon) rauchen angezündet Die Wohnungen der Missethat, Da, der die Welt gegründet, Sich ihr als Richter naht.
und Erd und Himmel zittern, und Sonnen dunkel sind? 4. Tag, schrecklichster der Tage, für den, der Böses thut! du bist ein Tag der Klage, der allgemeinen Glut! Er rauchet angezündet, der Sitz der Missethat, da, der die Welt gegründet, sich ihm als Richter naht!
251 Erster Band, Leipzig 1772, S. 265. - In Klammern: Johann Peter Uz, Poetische Werke nach seinen eigenhändigen Verbesserungen hrsg. von Ch. F. Weisse, 2. Band, Wien o. J., S. 225.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 209
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 782 (Schleiermacher)
Rubrik: Wiederkunft Jesu Mei. Befiehl du deine Wege
Rubrik: Vom ewigen Leben Mei. Befiehl du deine Wege
Ach, Herr, ich bin verdrossen, zu thun, was dir gefällt; mein Herz wankt unentschlossen oft zwischen Gott und Welt. Mich drücken schnöde Ketten, der Sünden Sklaverey; verzeuch nicht, mich zu retten, und mach, o Gott, mich frey! 2. Geh auf in meiner Seele, geh auf mit vollem Glanz; daß ich das Leben wähle, so zeige du mir ganz, wie schrecklich du dem Sünder, o heil'ges Wesen, seyst, du, Vater deiner Kinder, vollkommner höchster Geist! 3. Sollt in gewohnten Sünden, eh' ich begnadigt bin, dein großer Tag mich finden, o Gott, wo flöh' ich hin, wann Berg' in Ungewittern dann taumeln, wie vom Wind, wann Meer und Erd' erzittern, und Sonnen finster sind. 4. Ringt jammernd eure Hände, die ihr als Frevler lebt! Die Erde fühlt ihr Ende; sie ängstet sich und bebt. Schon rauchet angezündet das Reich der Missethat, da, der die Welt gegründet, sich ihr als Richter naht.
Sieh, Herr, ich bin verdrossen, zu thun, was dir gefällt, mein Herz wankt unentschlossen und neigt sich hin zur Welt. Mich drückt gleich schweren Ketten der Sünde Sklaverei; verzeuch nicht, mich zu retten, und mache selbst mich frei. 2. Geh auf in meiner Seele, geh' auf mit deinem Glanz! damit ich dich erwähle, so zeige dich mir ganz! Ein Schrecken allen Sündern bist du, o reinster Geist, doch Vater deinen Kindern, wenn gnädig du verzeihst. 3. Sollt'einst dein Tag mich finden mit unbekehrtem Sinn, stürb' ich in meinen Sünden, o Gott! wo flöh' ich hin, wenn, der die Welt gegründet, sich ihr als Richter naht, und graunvoll sich entzündet der Sitz der Missethat.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Sämmtliche Poetische Werke von J. P. Uz.252 Er kömmt, und Blitze röthen Den Arm des Menschensohns: Herr! deine Blicke tödten Die Feinde deines Throns; Und Erd und Himmel fliehet (denn auch die Himmel fliehen) Vor deinem furchtbarn Angesicht, Und wer nach ihnen siehet, (und keine Sonnen glühen,) Sieht ihre stäte nicht, (verloschen ist ihr Licht.) Ihr neuen Himmel, schweiget! Der Sünder wird verklagt, Und sein Gewissen zeuget, Das an der Seele nagt. Er bebt, er weicht zurücke: Weh ihm! die ganze Hölle glüht In seinem finstern Blicke, Der seinen Richter flieht. Was helfen Ruhm und Siege? Was hilft dem Sünder itzt Des Marmors feile Lüge, Die auf dem Grabmal blitzt, In dieser großen Scene, Wo der sich unter Engel mischt, Der eine fromme Thräne Dem Armen abgewischt? Wann die verdammte Rotte, Verfolgt vom Donner, eilt, Und, ewig fern von Gotte, Gequält und lästernd heult, Am Tage deiner Rache, Gott! Mittler! nimm dich meiner an, Und führe meine Sache, Wie du am Kreuz gethan!
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Zollikofers Gesangbuch (1766), Nr. 305 5. Er kommt und Blitze röthen den Arm des Menschen Sohns! Herr! deine Blicke tödten die Feinde deines Throns: und Erd und Himmel fliehet vor deinem Angesicht, und wer nach ihnen siehet, sieht ihre Stätte nicht! 6. Ihr neuen Himmel, schweiget! der Sünder wird verklagt; und sein Gewissen zeuget, das an der Seele nagt. Er bebt, er weicht zurücke: weh ihm: die Hölle glüht in seinem wilden Blicke, der seinen Richter sieht. 7. Was hilft nun alle Größe, die unsern Neid erweckt, dort, wo des Lasters Blöße kein falscher Schimmer deckt: in dieser großen Scene, wo sich mit Engeln mischt, wer eine fromme Thräne dem Armen abgewischt? 8. Wann die verdammte Rotte, verfolgt vom Donner, eilt, und, ewig fern von Gotte, gequält und lästernd heult: Am Tage deiner Rache, Herr! nimm dich meiner an, und führe meine Sache, wie du am Kreuz gethan!
1. Band, Leipzig 1772, S. 265. - In Klammern: J. P. Uz, Poetische Werke nach seinen eigenhändigen Verbesserungen hrsg. von Ch. F. Weisse, 2. Band, Wien o. J., S. 225.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 209 5. Er kömmt, und Blitze röthen den Arm des Menschensohns! Herr, deine Wetter tödten die Feinde deines Throns; und Erd' und Himmel fliehet vor deinem Angesicht, und wer nach ihnen siehet, sieht ihre Stätte nicht. 6. Ihr neuen Himmel schweiget! Der Sünder wird verklagt, und sein Gewissen zeuget, das an der Seele nagt. Er bebt, er weicht zurücke; weh' ihm, die Hölle glüht in seinem finstern Blicke, der seinen Richter flieht. 7. Was helfen Ruhm und Siege? Was hilft dem Sünder itzt des Marmors feile Lüge, die auf dem Grabmal blitzt, in dieser großen Scene, wo sich zu Engeln mischt, wer eine fromme Thräne dem Armen abgewischt? 8. Wann die verdammte Rotte, verfolgt vom Donner, eilt, und, ewig fern von Gotte, gequält und lästernd heult, am Tage deiner Rache, Herr, nimm dich meiner an, und führe meine Sache; dann darf ich dir mich nahn!
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 782 (Schleiermacher)
4. Die Himmel alle schweigen, der Sünder wird verklagt und muß nun laut bezeugen, was sein Gewissen plagt. Er bebt und weicht zurücke, und die Verdammniß glüht in dem erstarrten Blicke, der seinen Richter flieht. 5. Was hilft dann alle Größe, die hier den Neid erweckt, wenn dort des Lasters Blöße kein falscher Schein mehr deckt? Was hilft des Nachruhms Lüge, die auf dem Grabmal glänzt? was sind des Helden Siege, den Lorbeer hier bekränzt?
6. Wer wird an jenem Tage dir, Herr, zur Rechten stehn und frei von aller Klage in deinen Himmel gehn? Wer gern der Jünger Zähren mitleidig abgewischt und, ihrer Noth zu wehren, den Labetrunk gemischt. 7. Wer immer in den Deinen dich selbst gesehn, geliebt, und auch der Kleinsten keinen aus Eigensucht betrübt, der wird von dir geladen zu ew'ger Freud' und Ruh'; du, Richter voller Gnaden, sprichst ihm das Erbe zu.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Schleiermacher hat die dritte und vierte Strophe verschmolzen, die fünfte ausgelassen und den Text der siebenten Strophe (BG, Nr. 782, 5) sehr frei umgeformt. Besonders bei letzterer wird anschaulich, wie Schleiermacher mit bereits vorhandenen und eigenen Lesarten jongliert: Entsprechen die ersten vier Verse sinngemäß Zollikofers Version, so nehmen die Verse fünf bis sieben auf die erste Bremer Strophenhälfte Bezug. Dagegen hat Vers acht „den Lorbeer hier bekränzt" gar keinen Anhalt in den Quellen.253 Die oben beschriebenen stilistischen und theologischen Redaktionsprinzipien kennzeichnen auch diese Arbeit Schleiermachers: Der Sprachfluß wird geglättet durch die Meidung von Anaphern und Asyndeta (IV/5)254, Parenthesen und Apostrophierungen (1/8). Der Stoff wird neu geordnet (II/5-8; III/1-3). Schließlich zeigt sich auch hier eine Tendenz zur Entmaterialisierung und Vergeistigung: z.B. „Nachruhms Lüge" statt „Marmors Lüge" (V/5). Wo Bilder stehen bleiben, macht der Bearbeiter deutlich, daß er sich der Metaphorik der Dichtung bewußt ist: „Mich drückt gleich schweren Ketten..." (1/5-6). Mit den neugedichteten Strophen nimmt Schleiermacher den Gedanken der Barmherzigkeit aus der siebenten Originalstrophe auf (Abwischen der Tränen), führt ihn aber über Mt 25,3Iff. hinaus und pointiert ihn ekklesiologisch, unter Bezugnahme auf Mt 10,42.255 Das Verhalten gegenüber den „Seinen" wird ausschlaggebend im Gericht sein. Aus dem unnahbaren apokalyptischen Pantokrator wird „der Richter voller Gnaden", der die Seinen zu ewiger Freude und Ruhe einlädt und ihnen das Erbe zuspricht. Schleiermacher hat die Gedankenfolge in seinem Sinne so geordnet, daß der Sinn im Ganzen liegt. Nicht der Ernst des Gerichtes, wohl aber die drastischen Schilderungen werden abgemildert und reduziert, es bleibt eine aus der synoptischen Tradition stammende positive Pointe, die Schleiermachers Eschatologie klar zum Vorschein bringt. Schleiermacher hat die Frage-Antwort-Struktur aus der siebenten Originalstrophe aufgenommen und dabei die Form des Gleichnisses vom Weltgericht aus Mt 25,3 Iff. adaptiert. Auf die vierzeilige Frage folgt die an Mt 10,42 orientierte Antwort, die auf Strophe 7 übergreift. Mit Asyndeta („gesehn, geliebt", VII/2) und Assonanzen („der Kleinsten keinen", VII/3) hat Schleiermacher diese letzten Strophe im Rahmen des selbstgesetzten strengen Stilkanons kunstvoll gestaltet und das Lied so in einem von herzlichem Vertrauen bestimmten Ton beschlossen.
253 254 255
Der Uz'sehe Urtext ist ohne Einfluß auf Schleiermachers Bearbeitung geblieben. Die Zählung bezieht sich auf BG, Nr. 782. Römische Ziffern bezeichnen die Strophen, arabische die Zeilen. Zur Auslegung von Mt 25,40 vgl. J. Gnilka, Das Matthäusevangelium II. Teil, Herder 1992 2 , S. 374ff. Gnilka weist exegetisch nach, daß mit der singulären Redeweise von den geringsten Brüdern „alle Notleidenden" eingeschlossen sind, S. 375. Zur Auslegung von Mt 10, 42 vgl. U. Luz, EKK1/2, Neukirchen 1990, S. 152f. Luz registriert hier ein typisch matthäisches „unhierarchisches geschwisterliches Gemeindeverständnis" (S. 152). Mit den „Kleinen" sind die „nichtbesonderen unbedeutenden Christen" gemeint (ebd.)
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
253
3.4. Zum Verhältnis von Kommissionsarbeit und Liedblattgestaltung
3.4.1. Die Komplexität der Beziehung Daß Schleiermacher von ihm bearbeitete und im Gottesdienst der Dreifaltigkeitskirche erprobte Lieder in die Kommissionssitzungen mitbrachte und zur Diskussion stellte, ist bereits von I. Seibt vermutet worden. Die Protokolle bestätigen diese Vermutung. Am 13.4.1820 wird vorgeschlagen: „GROSSER GOTT IN DEINEM LICHTE p. eine poetische Bearbeitung des 72. Psalms. Hr. Dr. Schi, war der einzige, welcher sich des Liedes annahm, u bemerkte, daß er es in der Kriegszeit mit großer Wirkung habe singen lassen."
Obwohl sich das Lied weder auf den überlieferten Liederblättern findet, noch ins BG kam, bestätigt die Passage unsere Vermutung, daß Schleiermachers Mitarbeit in der GBC im Kontakt zur eigenen liturgischen Praxis stattfand. Ein schönes - bereits bekanntes - Beispiel dafür stellt das Lied „Der Glaube bricht durch Stahl und Stein" (BG, Nr. 430) aus dem Brüdergesangbuch dar. Schleiermacher war es am 1.4.1819 übertragen worden, doch erst unter dem 6.9.1821 lesen wir: „ H r . S c h l e i e r m . a u s d e m B r ü d e r - G e s a n g b u c h e DER GLAUBE BRICHT DURCH STAHL
UND STEIN UND KANN DIE ALLMACHT FASSEN. Der Anfang machte große Schwierigkeit. Man vereinigte sich nach langer Berathschlagung darüber zu sagen: DER GLAUBE ISTS, DER WUNDER SCHAFFT, KANNS GLEICH DIE WELT NICHT FASSEN."
Da das Lied am darauf folgenden 12. Sonntag nach Trinitatis, dem 9.9.1821, fast identisch mit BG, Nr. 430 auf dem Liedblatt stand, muß Schleiermacher die Liedbearbeitung bereits Wochen zuvor gemacht haben, was wiederum beweist, daß der veränderte Titelvers von Schleiermacher stammt. In der GBC-Sitzung konnte er diesen dann „nach langer Berathschlagung" durchsetzen. Aber der Weg der Lieder war keine Einbahnstraße von den Liederblättern ins BG, wie nun die Akten ebenfalls bezeugen. Schleiermacher hat häufig auch Liedbearbeitungen - eigene wie fremde - aus dem „Archiv" der GBC später auf die Liederblätter übernommen. Das bereits oben in anderem Zusammenhang erwähnte Lied von Gottfried Arnold „O Durchbrecher aller Banden" in der Thereminschen Bearbeitung mag hier für viele andere stehen.256 Daraus, daß die Liederblätter den frühesten gedruckten Beleg der neuen Textfassungen darstellen, kann keinesfalls pauschal geschlossen werden, daß Schleiermacher alle Textversionen, die sich auf seinen Liederblättern finden, selbst hergestellt hätte.257 Der statistische Befund ist überraschend: Lediglich 67 der 275 von Ilsabe Seibt aufgelisteten Lieder, die auf den Liederblättern und im BG stehen, hat Schleiermacher selbst für das BG bearbeitet.258 256 257 258
S. o. Exkurs II. 2.3.1. und s. u. 3.4.2. Vgl. auch 3.7.3.3. Vgl. die Liste der Schleiermacherschen Liedbearbeitungen fur das BG, s. u. Anhang 10). Vgl. I. Seibts Tabelle 8.5. (S. 327-335). Der Schlußfolgerung, „daß die mit den Liederblättern übereinstimmenden Textfassungen tatsächlich von Schleiermachers Hand stammen. Auf den weitaus überwiegenden Teil der 275 Lieder dürfte dies zutreffen." muß
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Nun bezeugen die Protokolle breit und mit großer Eindeutigkeit Schleiermachers Einfluß bei der Endredaktion des BG im ersten Halbjahr 1829, z.B. das Protokoll vom 28.5.1829: „Die Revision war in den am 14 u 21 Mai gehaltenen Conferenzen bis zu dem Abschnitt von der .Liebe zu Gott und Christo' vorgerückt. In dem Liede: GOTT IST DIE WAHRE LIEBE [522] wurden mehrere bedeutende Veränderungen beliebt. Ebenso in den Liedern: A N DICH MEIN GOTT GEDENKEN [515] CHRISTE, MEIN LEBEN MEIN HOFFEN p. [516] u in den mehresten aus diesem Abschnitte, wobei größtentheils die von Hr. Schlm. bereits in seiner für den Gebrauch an der DreifaltigkeitsKirche getroffenen Veränderungen u Verbesserungen angenommen wurden." Daraus stellt sich die Frage: Hat Schleiermacher bei der Revision die Textversionen der Liederblätter systematisch durchgesetzt?259 Bei den im Protokoll erwähnten drei Liedern stellt sich der Befund so dar, daß BG, Nr. 515 auf den überlieferten Liederblättern fehlt, daß BG, Nr. 522 zwar auf dem Liedblatt L 139 (2. Sonntag nach Trinitatis, 16.6.1822) steht, daß es aber bereits am 28.9.1820 von Ritsehl abgeliefert worden war, so daß die evtl. auf Schleiermachers Liedblatt-Text Bezug nehmenden Modifikationen nicht nachweisbar sind. Ähnliches gilt fur das Lied BG, Nr. 516, das am 24.4.1823 von Ritsehl vorgetragen wurde, aber erstmals am 1. Sonntag nach Trinitatis 1828 auf einem Liedblatt (8.6.1828, Β 20) begegnet. Das heißt: der vom Protokollanten nachdrücklich betonte Einfluß, den Schleiermacher kraft seiner praktisch-liturgischen Erfahrung auf die Revision genommen hat, läßt sich methodisch schwer greifen. 260 Hilfe leisten könnte ein Vergleich der Textfassungen (vor und nach der Revision) solcher Lieder, die auf Liederblättern stehen und auf Probedrucken des Jahres 1827 erhalten sind und die im Februar/März 1829 revidiert wurden261: 1. Das Lied von J. J. Rambach „König, dem kein König gleichet" (BG, Nr. 100) war am 19.2.1824 von Theremin aus dem Hannoverschen Gesangbuch übernommen, am 10.2.1825 vorgetragen und am 21.4.1825 abgeliefert worden. Diese Bearbeitungsstufe des Textes liegt vor in einem Probedruck des Buchdruckers Nauck vom Dezember 1827.262
259 260
261 262
aufgrund des statistischen Befundes widersprochen werden. Vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 47f. - Meine Statistik wird auch dadurch kaum relativiert, daß unter den von Schleiermacher für das BG redigierten Titeln auch Kasuallieder waren, die sich für den Gemeindegottesdienst nicht eigneten, daß nicht alle Schleiermacherschen Liederblätter vorhanden sind, daß Einzelstrophen in der Statisitik noch nicht systematisch erfaßt sind und daß einige wenige seiner Liedbearbeitungen bei der Revision aussortiert wurden. I. Seibt registriert eine sich verdichtende „Verwendung späterer Gesangbuchlieder" seit 1824,1. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 47. Da es sich bei den genannten Liedern um Bearbeitungen von Hanstein und Ritsehl, also nicht mehr anwesender Kollegen, handelt, ist an der Protokollnotiz um so weniger zu zweifeln, nur verifizieren läßt sie sich nicht! Vgl. etwa das Protokoll vom 12.3.1829, das Schleiermachers Aktivität ausdrücklich hervorhebt. Zu den Probedrucken s. o. Exkurs II. 2.7.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
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Schleiermacher hatte das Lied bereits Jahre vorher rezipiert. An einem Himmelfahrtstag o. J. (H 115) hatte er wahrscheinlich die vierstrophige Fassung aus dem Jauerschen Gesangbuch (Nr. 310) übernommen und geringfügig bearbeitet, Himmelfahrt 1820 (H 112) ließ Schleiermacher nach der Predigt noch einmal die vierte Strophe des Liedes in derselben Fassung singen. In einer ganz neuen Version begegnet das Lied dann am 2. Sonntag nach Epiphanias 1826 (L 248) wieder. Schleiermacher bietet eine dreistrophige Textfassung vor der Predigt, wobei er nun auf Theremins Bearbeitung, die auf der Nauckschen Druckprobe vorliegt, Bezug nimmt, allerdings die vier zu zwei Strophen zusammenzieht und mit der fünften Strophe schließt. Und noch einmal begegnet das Lied auf den Liederblättern: am zweiten Advent 1827 (L 306). Hier hat Schleiermacher die Thereminsche Bearbeitung fast wörtlich übernommen. Der Vergleich von Probedruck (1827) und BG-Fassung (1829) zeigt, daß das Lied unrevidiert übernommen wurde. 2. Gottfried Arnolds „Komm, beuge dich, mein Herz und Sinn" (BG, Nr. 101) war am 8.3.1821 von Ritsehl aus unbekannter Quelle (vielleicht aus Freylinghausens Gesangbuch, Nr. 1201) vorgetragen und eine Woche später ins Archiv abgeliefert worden. Die Naucksche Druckprobe (Nr. 110) dokumentiert diese Bearbeitungsstufe des Liedes. Auf den Liederblättern begegnet das Lied fünfmal, ζ. T. vollständig, ζ. T. strophenweise, aber erst nach Ritschis Vortrag zum ersten Mal (6. Sonntag nach Trinitatis, 29.7.1821, L 112), danach an Trinitatissonntagen 1822 und 1823 (L 138/L 168), am 4. Sonntag nach Epiphanias 1827 (L 280) und Rogate 1828 (H 105). Der Text in BG, Nr. 101 entspricht fast vollständig dem der in der Druckprobe erhaltenen Ritschlschen Bearbeitung. Die geringfügigen Verbesserungen im Rahmen der Revision gehen nicht auf die von Schleiermacher auf den Liederblättern festgehaltene Textform zurück. 3. Das Lied „Sey hochgelobt barmherz'ger Gott" (BG, Nr. 105) von L. A. Gotter war ebenfalls von Ritsehl redigiert worden. Am 20.12.1821 hatte er es aus unbekannter Quelle (vielleicht Porst, Nr. 352) vorgetragen und am 10.1.1822 abgeliefert. Der Text nach Ritschis Bearbeitung ist durch Naucks Druckprobe (Nr. 444) bekannt. Auf diese Textversion nimmt nun auch Schleiermachers Liedblattfassung für den zweiten Weihnachtstag 1824 (L 216) Bezug. Bei der Revision 1829 sind einige Stellen verändert worden, aber wiederum nicht in Übereinstimmung mit dem Liedblatt-Text. Die drei Beispiele belegen die bei meinen Gottesdienstanalysen häufig aufgestellte Vermutung, daß Schleiermacher sich der Liedbearbeitungen seiner Kollegen gern bedient und diese auf seinen Liederblättern abgedruckt hat. Diese Praxis widerspricht keineswegs der Forderung nach individueller Gestaltung des Gottesdienstes, da Schleiermacher an der Herstellung der Textfassungen ja mitbeteiligt war, und da er die Texte nicht sklavisch übernahm, sondern für sich die ihm eigene Freiheit reklamierte, wie auch die Beispiele 1. und 2. zeigen. Aber für die in den letzten Protokollen breit bezeugte Einflußnahme Schleiermachers auf die Endgestalt des BG können die oben erfolgten Stichproben
256
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
den Beweis nicht führen. Wahrscheinlich betrafen die Textänderungen meist Kleinigkeiten, was auch nicht anders vorstellbar ist, wenn man in sieben Monaten die Arbeit von zehn Jahren nicht wiederholen und schon gar nicht zerstören, sondern vollenden wollte. Die auf Schleiermachers Liedblatt-Texte sich beziehenden Revisionsvorgänge mögen in solchem Umfang erfolgt sein, wie sie das Lied „Ohne dich, was sind wir, Jesu?" (BG, Nr. 104) beurkundet. 263 So ist I. Seibts These dahingehend zu modifizieren, daß die Liederblätter zwar häufig die Textgestalt des BG vorwegnehmen, daß aber daraus nicht pauschal geschlossen werden kann, daß Schleiermacher die von den Liederblättern repräsentierte Textgestalt selbst hergestellt hat. Da Schleiermacher von den 275 Liedern, die sowohl im BG als auch auf den Liederblättern stehen, nur 67 für die GBC selbst bearbeitete, hat er die übrigen über 200 Lieder entweder in einer fremden Bearbeitung aus dem GBC-Archiv übernommen, oder er hat eine jeweils aktuelle, liturgisch passende Liedfassung selbst hergestellt. 264 Da von Schleiermacher mindestens 144 Lieder für das BG redigiert wurden, muß er mindestens 77 Lieder für das BG bearbeitet haben, die weder vor noch nach ihrer Bearbeitung auf den Liederblättern „ausprobiert" wurden. Das erlaubt zunächst eine doppelte Feststellung: Zwischen Gottesdienstvorbereitung und Gesangbucharbeit besteht eine sehr komplexe Wechselbeziehung dergestalt, daß Schleiermacher seine langjährige praktisch-liturgische und hymnologische Erfahrung in die Kommissionsarbeit eingebracht hat, und daß er umgekehrt die Kommissionsarbeit seiner eigenen Gottesdienstvorbereitung hat zugute kommen lassen, indem er das GBC-Archiv als Lied-Depot nutzte. So fungierten die Liederblätter einerseits als Quelle und Fundus redigierter Liedtexte, andererseits gleichsam als Vorabveröffentlichungen gemeinsam bearbeiteter und verantworteter Liedtexte und als eine Art liturgischen Probevollzugs. Trotz dieser Wechselbeziehung gilt: Schleiermachers hymnologische Wirksamkeit bewegte sich auf zwei sich berührenden verschiedenen Ebenen: der aktuell liturgischen zugunsten seiner Gemeinde und der langfristig programmatischen zugunsten des Allgemeinen Kirchengesangbuchs. Zwischen beiden Ebenen besteht wohl eine Wechselwirkung, aber kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis. 3.4.2. Die Praxis der integralen
Liedbearbeitung
Wir sahen, daß Schleiermacher eigene oder fremde Liedbearbeitungen gern auf die Liederblätter übernahm, oft ohne sich wörtlich an den festgestellten Wortlaut zu halten. Einige Beispiele: Am 22.8.1822 trug Schleiermacher das Lied „Rüstet euch, ihr Christenleut" wahrscheinlich aus Freylinghausens Gesangbuch, Nr. 775 vor. Das vorgeschlagene Incipit „Auf, ihr theur erworbne Christen" konnte sich nicht behaupten, 263 264
Zu diesem Lied s. o. Exkurs II. 3.1. d). Beide Methoden waren bei Schleiermachers Rezeption von Cramers „Für unsern Nächsten beten wir" aufgefallen, s. o. Exkurs II. 3.3.1.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
257
doch mit Marots Vorschlag „Auf, erhebet euch, ihr Christen" war Schleiermacher offenbar einverstanden, so daß das Lied seitdem unter diesem Titel sowohl ganz als auch strophenweise auf den Liederblättern begegnet 265 und gleichlautend auch ins B G (Nr. 449) einging. Am 15.1.1826, dem 2. Sonntag nach Epiphanias, folgt die Schlußstrophe des Liedes auf die Predigt, in folgender Form: Freylinghausens Gesangbuch (1741), Nr. 775,4
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 449,4 (Textfassung von 1822?)
Liedblatt L 248, 2. Sonntag nach Epiphanias 1826, Nach der Predigt
Jesu, stärcke deine kinder,
Jesu, mächt'ger Ueberwinder!
Jesu, mächt'ger Ueberwinder!
und mache die zu Überwindet
Dir nach zeuch die verlomen Kinder,
Dir nach zeuch die verlernen Kinder,
die du erkauft mit deinem blut.
Die du erkauft mit deinem Blut!
Die du erkauft mit deinem Blut!
Schaffe in uns neues leben,
Stärk' in uns das neue Leben,
Stärk' in uns das neue Leben,
daß wir uns stets zu dir erheben,
Daß wir uns stets zu dir erheben,
Daß wir uns stets zu dir erheben,
wenn uns entfallen will der muth.
Wenn uns entfallen will der Muth.
Wenn uns entfallen will der Muth.
Geuß aus auf uns den Geist,
Geuß auf uns deinen Geist,
Geuß auf uns deinen Geist,
dadurch die liebe fleusst
Durch den die Liebe fleußt
Der stärkt und unterweist.
in die hertzen;
In die Herzen!
Und uns reinigt:
so halten wir getreu an dir,
So halten wir getreu an dir In Tod und Leben für und für.
So halten wir getreu an dir
im tod und leben für und für.
In Tod und Leben flir und ftlr.
Die auffallige Abweichung in den Versen 8 und 9 von der selbst besorgten Textfassung (BG, Nr. 449) wirft die Frage auf: In welcher Rücksicht änderte Schleiermacher den biblisch gut fundierten Text (Rom 5,5) noch einmal ab, wenn er ihn doch selbst der GBC empfohlen hatte? Dieser Eingriff kann nur mit der speziellen liturgischen Situation erklärt werden: Schleiermacher predigte über die Tempelreinigung nach Joh 2, 13-16. 2 6 6 Daß dieser Zusammenhang nicht zufällig ist, bestätigt das Lied vor der Predigt desselben Gottesdienstes: Gottfried Arnolds Lied „O Durchbrecher aller Bande", das Theremin der GBC am 11.12.1823 unter ihrem Beifall vorgetragen hatte.267 Am 22.2.1827 wurde es zum ersten Mal revidiert, am 26.3.1829 zum zweiten Mal: „Das Lied: O DURCHBRECHER Ρ erhielt einen sehr zweckmäßigen Schluß, u das Geschmacklose: ,der aus deiner Füll' sich füllt' wurde dadurch entfernt." 268 Auf dem Liedblatt L 248 (2. Sonntag nach Epiphanias 1826) fehlt die beanstandete Stelle, indem die beiden letzten Strophen zusammengezogen sind. Damit weicht Schleiermacher einerseits der anstößigen Stelle aus, andererseits fuhrt die so gebildete Strophe mit der in den Versen 7 und 8 ausgeführten Bitte um Reinmachung stringent zur Predigt hin:
265
266 267 268
Vgl. die Liederblätter Η 140 (4. Sonntag nach Trinitatis 1825), L 198 (Bettag 1824) und L 242 (22. Sonntag nach Trinitatis 1825). Das Liedblatt Η 176 für den 16. Sonntag nach Trinitatis 1822 (22.9.22) mit der Schlußstrophe des Liedes „Jesu stärke deine Kinder" hatte Schleiermacher sicher vor dem 22.8. entworfen. Die Predigt ist überliefert in Nachschriften von Sobbe und Sethe im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter). Das Quellengesangbuch ist gänzlich unbekannt. BG, Nr. 311,7: „... wer die Gnade hat genommen, die aus deiner Fülle quillt."
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3. D e r Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Hast du uns dir doch erworben Durch die bittre Kreuzespein; Drum, so wahr du bist gestorben, Mußt du uns auch machen rein. Zeuch uns mit dir in dein Sterben, Laß uns mit dir auferstehn; W a s dein R e i c h nicht kann ererben, D a s laß in uns untergehn.
Schleiermacher bediente sich zwar Theremins Bearbeitungsversion, doch richtete er die Strophenauswahl und Textgestalt gleichsam situativ auf Text und Thema der Predigt aus. Am 1.12.1825 trug Schleiermacher das Lied „Erheb', o Seele, deinen Sinn" aus dem Jauerschen Gesangbuch (Nr. 738) vor, am 8.12.1825 lieferte er es mit dem Incipit „Erhebet Christen euren Sinn" ins Archiv ab, unter dem es auch ins BG (Nr. 461) gelangte. Bei seiner „Hausaufgabe" für die GBC konnte Schleiermacher auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen, da er sich bereits im Sommer 1825 mit dem Lied beschäftigt hatte. Auf das Liedblatt L 235 (8. Sonntag nach Trinitatis, 24.7.1825) hatte Schleiermacher das Lied aus dem Jauerschen Gesangbuch relativ wortgetreu übernommen, doch mit kleinen, aber signifikanten Abwandlungen, z.B. in der zweiten Strophe: Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 738,2 Was hat die Welt, was beut sie an? Nur Tand und nichtge Dinge! Wer einen Himmel hoffen kann, schätz' Erdengut geringe.
Liedblatt L 235, 8. Sonntag nach Trinitatis 1825, Strophe 2 Was hat die Welt, was beut sie an? Nur Tand und nicht'ge Dinge! Wer schon im Himmel wandeln kann. Schätzt Erdengut geringe.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 461,2 Was beut die Welt euch lockend an? Nur Tand und nichtge Dinge! Wer einen Himmel hoffen kann, schätzt irdisch Gut geringe.
Auch hier erklärt sich die Wahl des Liedes und die bezeichnende Abwandlung in der zweiten Strophe aus dem liturgischen Gesamtzusammenhang: Schleiermacher predigt über den himmlischen Wandel in der Welt nach lJoh 2,1517269, eine Perikope mit typisch johanneischer Eschatologie. Mit seiner spezifischen Textvariante nimmt Schleiermacher die präsentische Pointe des Predigttextes vorweg: „Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit" (lJoh 2,17), die in BG, Nr. 461 im Sinne der traditionellen Eschatologie und in Übereinstimmung mit dem Quellentext, dem Jauerschen Gesangbuch, wieder zurückgenommen ist.270 Obwohl Schleiermacher immer eine präsentische Eschatologie vertreten hat, unterstreicht das Beispiel nachdrücklich die Beziehung von Lied und Predigt, weil zum einen die genannte Textstelle nur hier geändert ist, weil zum andern 269 270
Die Predigt ist überliefert in Nachschriften von Sobbe und Sethe im Verlagsarchiv W. de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter). Und auch das Liedblatt L 267 (13. Sonntag nach Trinitiatis 1826) bietet wieder die von Schleiermacher erarbeitete BG-Fassung.
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
259
die Strophe nach der Predigt den Topos thetisch wieder aufnimmt: „Unser Wandel ist im Himmel, Welch ein köstlich theures Wort!", und weil schließlich die Beziehung des Liedes auf lJoh 2,15-17 schon im Quellengesangbuch vorgegeben ist. Das wahrscheinlich von J. A. Cramer stammende Lied „Fest steht zu Gottes Ruhme" (BG, Nr. 301) hatte Schleiermacher am 24.4.1824 vorgetragen, Küster zufolge aus dem Rigaer Gesangbuch.271 „Hr. Schleiermacher [trug vor. ] FROHLOCKT zu GOTTES RUHME von einem unbekannten Verflasser. Im Kieler Gb. GROSS IST DES HÖCHSTEN NAME ."
Schleiermacher selbst wird auf die verschiedenen Initien hingewiesen haben: im Rigaer Gesangbuch (und im Jauerschen Gesangbuch, Nr. 338): „Frohlockt zu Gottes Ruhme", im Kieler Gesangbuch Nr. 472: „Groß ist des Höchsten Name". 272 Die Version des Kieler Gesangbuchs kannte Schleiermacher aus dem Jahre 1823, als er das Lied am 24. Sonntag nach Trinitatis (9.11.1823, L 180) aus dieser Quelle hatte singen lassen. Diesen beiden Belegen stelle ich die Fassung des Jauerschen Gesangbuchs gegenüber, das mit dem Rigaer Gesangbuch übereinstimmt, und der Schleiermacher am 2. Sonntag nach Trinitatis 1820 (L 77) und dann wieder am 14. Sonntag nach Trinitatis 1827 (L 300) gefolgt war. Die vierte Strophe lautet: Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 338,4
Allgemeines Gesangbuch (Kiel 1805"), Nr. 472,5
Liedblatt L 180, 24. Sonntag nach Trinitatis 1823, Str. 4
4. Frohlocke, Kirche, singe, erhebe deines Königs Ruhm!
5. Frohlocke, Kirche, singe! Erhebe deines Königs Ruhm! Breit aus sein Reich und bringe der Sünder viel ins Heiligthum, daß sie gereinigt werden, daß sie von dir erhellt, ihm dienen, und auf Erden gern thun, was ihm gefällt; bis alle deine Scheuern voll Garben sind, und wir, der Erndte Fest zu feyem, vereinigt all' in dir.
Frohlocke Kirche, singe, Erhebe deines Königs Ruhm! Breit aus sein Reich,und bringe Die Sünder all' ins Heiligthum, Daß sie erneuert werden, Von Gottes Licht erhellt, Ihn lieben, und auf Erden Gern thun, was ihm gefällt; Bis endlich alle Scheuern Voll Garben sind, und wir Das Emdte-Fest zu feiern Vereinigt All' in dir.
Breit' aus sein Reich, und bringe die Sunder all' ins Heiligthum; daß sie gereinigt werden, daß sie, von dir erhellt, ihn lieben, und auf Erden gem thun, was ihm gefällt; bis alles Volk, erneuert, und in dein Licht verklärt, ein Fest des Friedens feiert, der ewig, ewig währt.
Berliner Gesangbuch Nr. 301,4
(1829),
4. Frohlocke denn und singe, Stadt Gottes, deines Königs Ruhm Breit' aus sein Reich und bringe, die draußen sind, ins Heiligthum, daß Alle selig werden, von seinem Wort belehrt, und freudig thun auf Erden, was seinen Namen ehrt; bis alles Volk erneuert und in sein Licht verklärt ein Fest des Friedens feiert, das ewig, ewig währt.
Auffallig sind vor allem die letzten vier Verse, in denen Schleiermacher nur am 9.11.1823 (L 180) dem Kieler Gesangbuch folgte.273 Der Befund erklärt sich 271 Lt. S. C. G. Küster, Kurze lebensgeschichtliche Nachrichten, S. 63, aus dem Rigaer Gesangbuch (1805). Dort die Nr. 795: „Frohlockt zu Gottes Ruhme". 272 Bei dem Kieler Gesangbuch handelt es sich um eine spätere, in Kiel gedruckte Auflage des von J. A. Cramer 1780 herausgegebenen „Allgemeinen Gesangbuchs" für Schleswig, Holstein u. a., ζ. B. Kiel 180514. Zu Cramer vgl. E. Brederek, Geschichte der schleswigholsteinischen Gesangbücher, II. Teil (1922). Zu Cramers Liedern im BG s. o. Exkurs II. 3.1.a), Anm. 188. 273 Am 14. Sonntag nach Trinitatis 1827 und im BG folgte er dann wieder der Jauerschen
260
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
wiederum durch Predigttext und -thema. Schleiermacher predigte am 24. Sonntag nach Trinitatis 1823 über die große Ernte (Mt 9, 35-38).274 Diese Andeutungen müssen hier genügen.275 Die jeweils genaueren Entsprechungen zwischen der Predigt, ihrem Text und Thema einerseits und der Liedbearbeitung andererseits werden im Hauptteil 3 dieser Untersuchung für die Festgottesdienste analysiert und können hier nicht erörtert werden. Obwohl sich der Zusammenhang von Lied und Predigt nicht auf allen Liederblättern gleichermaßen aufweisen läßt, scheint Schleiermachers Praxis der integralen Liedbearbeitung evident, weil sie auf das liturgische Ideal Schleiermachers hinweist: die themenbezogene Einheit des Gottesdienstes. Die Liederblätter boten ihm die Gelegenheit zum Experimentieren mit den Liedern, ihren Texten und Melodien. Vor Erscheinen des BG kannte Schleiermacher keine „kanonische" Textfassung, auch dann nicht, wenn er ein Lied selbst bearbeitet hatte.276 Immer blieb der spezielle liturgische Kontext mitentscheidend. Andererseits begegnen in den Protokollen auch Bearbeitungsvorschläge Schleiermachers, die man auf den Liederblättern vergeblich sucht, wie ζ. B. bei dem Lied „Gott, der wirds wohl machen" (BG, Nr. 78)277, und die darauf aufmerksam machen, daß Schleiermachers Liedbearbeitungsfreude nicht nur in seiner liturgischen Konzeption von der Einheit und Ganzheit des Gottesdienstes wurzelt, sondern daß sie gleichsam begünstigt war von seiner eigenen dichterischen Begabung und von der romantischen Allgegenwart der Poesie, die es Schleiermacher besonders, aber auch seinen Kollegen leicht machte, Verse aus dem Stegreif auf- und umzuschreiben und mit Wörtern und Strophen virtuos zu jonglieren. 278
(bzw. Rigaer) Vorlage. Eine Nachschrift von A. Gemberg befindet sich im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter). Vom 14. Sonntag nach Trinitatis 1827 ist keine Predigtnachschrift erhalten, am 2. Sonntag nach Trinitatis 1820 predigte Schleiermacher über Act 4,5-14, vgl. SW11/10, S. 1-16. 275 Vgl. noch einmal Exkurs II. 3.3.1. zu Schleiermachers Verwendung des Cramerschen Liedes „Für unsern Nächsten beten wir" und s. o. 3.3.2. Anm. 17. 276 So ist etwa bei den Lavaterschen Liedern „Dich, Vater, preist mein Lobgesang" (BG, Nr. 259) und „Dein Werk, Erlöser, ist vollendet" (BG, Nr. 249) ein von den GBC-Reinschriften unbeeindrucktes Weiterprobieren Schleiermachers zu beobachten. 277 Vgl. das Protokoll vom 11.5.1820 mit dem Liedblatt L 209 (15. Sonntag nach Trinitatis 1824). 278 Lilly Parthey, Tagebücher aus der Berliner Biedermeierzeit (hrsg. 1926), S. 218, berichtet von der Hochzeit ihrer Freundin Jenny Humbert: „Ich saß an der Brautjungfer-Ecke, Schleiermacher saß neben Jenny, die ganz glücklich war, und neben Mutter. Pauli war au comble des Glücks und Übermuths. Schleierchen muß man lieben - er war ,ganz äußerst' liebenswürdig und allerliebst und machte eine Charade auf uns, die er mit eigener Hand für mich aufschrieb ..." Es folgt die Charade. - Zu Schleiermachers Charadendichtung vgl. auch H. Patsch, Alle Menschen sind Künstler (1986), S. 77ff. 274
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
261
4. Ein Fazit 1. Die wiederentdeckten Gesangbuchakten eröffnen neuen Einblicke in die Entstehung des Berliner Gesangbuchs und seiner Liedfassungen. Dank akribischer Protokollführung ist in den meisten Fällen die Zuordnung eines Liedes zu dem je verantwortlichen Redaktor und in vielen Fällen die Zuordnung zu einem oder mehreren Quellengesangbüchern möglich. Dieser Erkenntnisfortschritt erlaubt eine noch zuverlässigere Untersuchung der Redaktionstätigkeit Schleiermachers und seines Bearbeiterprofils. 2. Obwohl den allermeisten Liedern des BG ein verantwortlicher Redaktor zugewiesen werden kann, stellen viele BG-Lieder in ihrer Finalgestalt „Gemeinschaftsproduktionen" dar. Den Arbeitsstil der GBC kennzeichnet ein umfassender, modern wirkender hymnologischer Kommunikationsprozeß, der nicht allein Theologen, Musiker, Verleger, Beamte einbezog, sondern der auch im ständigen Dialog mit über 50 alten und neuen Gesangbüchern stattfand. Diese für das Selbstverständnis und den Arbeitsstil der GBC konstitutive Methode der Kooperation wurde wegweisend für künftige Gesangbuchausschüsse.279 3. Dem eigenen Selbstverständnis nach war die GBC ein synodal gewählter und legitimierter Ausschuß. Dieses Selbstverständnis erklärt die Ausdauer und das erstaunliche Selbstbewußtsein der GBC. Wie eng die Kommissionsarbeit mit der Kirchen- und Verfassungsgeschichte verwoben war, deuten die Akten an. Ohne Union und Synode wäre das BG weder zustande gekommen noch so geworden, wie es ist. Die Besetzung der GBC erfolgte - offenbar nach einem konfessionellen Proporz - durch Synodalwahl. Die Sacharbeit der GBC war durch demokratische Regeln bestimmt, indem alle Mitglieder einer prinzipiellen Gleichheit unterlagen. Dieses Gleichheitsprinzip machte eine vorherige Verständigung über die tragenden Grundsätze der gemeinsamen Arbeit erforderlich. 4. Der Überblick über zwölf Jahre Kommissionsarbeit (1818-1829) zeigt, daß die GBC den einmal vereinbarten Prinzipien treu blieb. Eine generellrestaurative Tendenz bei der Textbehandlung ist nicht zu erkennen. Das BG ist seinem Titel entsprechend vor allem gebrauchsorientiert. Diese Bestimmung zeigt sich im Umgang mit den Texten, in der Bemühung um eine Verbesserung der Sangbarkeit und in einer allgemeinen Tendenz zur Verkirchlichung. Die Textbehandlung läßt ein Streben nach technischer Perfektion (Versbau), nach Verbegrifflichung und rationaler Sinndominanz erkennen, der poetische Figuren (z.B. Wiederholungen) gern geopfert werden. Vor allem die stilistische - weniger die theologische - Normierung der Lieder führte aber zwangsläufig zu deren Verwechselbarkeit und Austauschbarkeit. Die Gesangbuchbibliothek der GBC mit dem Schwerpunkt Nord-OstseeRaum und Schlesien deutet die Orientierung der Berliner Hymnologen auf einen nord-ostdeutschen Kulturraum an. 279
Zur Entstehung des EG (1993) vgl. Martin Rößler, Prospekt eines Projekts, in: Auf dem Weg zum neuen Evangelischen Gesangbuch. EKD-Texte 36, Hannover 1990, S. 5-53, s. dort auch weitere Literatur.
262
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
5. Die Rolle Friedrich Schleiermachers innerhalb der GBC kann verkürzt auf einen vierfachen Nenner gebracht werden: Schleiermacher legte mit seinen Schriften und durch seine Gegenwart das theologische Fundament, auf dem das ganze Unternehmen ruht. Daher ist es schwieriger als bisher angenommen, in einzelnen Liedbearbeitungen die persönliche theologische Handschrift eines der beteiligten Theologen nachzuweisen.280 So mahnt etwa Schleiermachers auffallend häufige Rezeption der kirchlichen Trinitätslehre281 zur Vorsicht, seine Bearbeitungsprinzipien vorschnell aus der Glaubenslehre abzuleiten. Als Liedbearbeiter respektiert und rezipiert er einen dogmatisch breiten Traditionsstrom und verwirft lediglich einige Topoi der traditionellen Eschatologie (Teufel, Verdammnis u. ä.). Schleiermacher wachte von Anfang bis Ende der Kommissionsarbeit streng über die Einhaltung der gemeinsam beschlossenen Redaktionsprinzipien und verhalf so dem BG zu einer homogenen Gestalt und zu dem von I. Seibt charakterisierten eigenen Profil.282 Schleiermacher insistierte beharrlich auf der Gebrauchseignung des Gesangbuchs und geriet so mit der beginnenden Restauration und ihrem Originalitätsideal in Konflikt, wobei sich die Gebrauchseignung von Liedern für Schleiermacher an deren Gottesdienst- und Gemeindetauglichkeit (Kirchlichkeit) entschied. Um diese herzustellen, scheute Schleiermacher weder „Rotstift" noch „Schere". Die wenigen Prominentenlieder in Schleiermachers Liedbearbeitungskartei und die vielen anonymen Lieder zeugen von seiner Bereitschaft zur „Liedverbesserung". Die Gottesdienst- und Gemeindetauglichkeit von Liedern machte er andererseits an ihrer allgemeinen Akzeptanz, die sich durch die Aufnahme in Gesangbüchern ausdrückt, fest.283 Dieses nicht unproblematische Engagement geschah womöglich noch aus einer höheren liturgischen Einsicht: Bereits bewährte Liedtexte sind die Kircheneinheit symbolisierende und stiftende Faktoren im Gottesdienst der Einzelgemeinde. In seinem Entwurf zur Rubrizierung des BG hat Schleiermacher wiederum ein Bekenntnis zur thematischen Einheit des Gottesdienstes abgelegt, indem er das Liedgut - ausgehend von einer formalen Zweiteilung des Gottesdienstes - grob in zwei Gruppen eingeteilt hat: die allgemeinen oder symbolischen Lieder und die speziellen oder Predigtlieder, wobei letztere die überwiegende Masse der Lieder ausmacht. Schließlich setzte sich Schleiermacher entschieden und auch gegen Widerstände für das Herrnhutische Liedgut ein. Es hat den Anschein, als ob sich der Hymnologe Schleiermacher gern von Kindheits- und Jugenderinnerungen leiten 280
281 282 283
Viele Liedbeispiele von I. Seibt, Schleiermacher und das BG (Kap. 5), zeigen, daß sich Einflüsse von Schleiermachers Theologie, wie er sie in seiner Glaubenslehre systematisiert hat, auch in den Liedbearbeitungen anderer GBC-Mitglieder finden. Vgl. die Beispiele in Exkurs II. 3.1. d): Gott, vor dem die Engel ... und 2.6.2. a): Geist Gottes, aus des Ew'gen Fülle. Vgl. die Zusammenfassung, in I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 215f. Gegen Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik (1962), S. 134: „Der Grundsatz, daß man in das BG 1829 nur solche Lieder aufnehmen wolle, die ihre Bewährungsprobe in den Gemeinden schon bestanden hätten, ist überdies fast völlig vernachlässigt worden."
Exkurs II: Schleiermacher und die Gesangbuch-Commission
263
ließ, und als ob bestimmte Lieder und Gesangbücher alte Herzensbindungen Schleiermachers offenbarten. 6. Das Verhältnis zwischen Schleiermachers Liedbearbeitungen für die Liederblätter und die GBC ist komplexer als bisher angenommen: Schleiermacher und der GBC dienten die Liederblätter entweder als Quellensammlung oder als liturgischer Probevollzug, oft gab es auch gar keine Querverbindungen. Auf vielen Liederblättern verwendet Schleiermacher Liedbearbeitungen seiner Kollegen. Doch übernahm er diese nicht mechanisch, sondern paßte sie häufig situativ in den liturgischen Gesamtzusammenhang eines Gottesdienstes ein. Schleiermachers Hymnologie ist liturgisch geerdet und geschieht stets im Horizont des Gottesdienstes und im Blick auf die singende Gemeinde. Mit liturgisch integrierten Liedern, verflüssigten und „gereinigten" Texten sowie charakteristischen Melodien gedachte Schleiermacher dem kulturell anspruchsvollen, aber zunehmend kirchenfremden Bildungsbürgertum seiner Zeit neue Brücken zum öffentlichen Glaubensvollzug zu bauen.
3.4. Der Gottesdienst am ersten Advent 1819 (28.11.1819) 3.4.1. Einleitung Der Gottesdienst am ersten Advent 1819 fällt in eine nicht nur für Schleiermacher bewegte Zeit. Im Anschluß an die Karlsbader Konferenz (6.-31.8.1819) waren am 20.9.1819 die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse verabschiedet worden. Die Entlassung De Wettes, der einen Trostbrief an die Mutter des Kotzebue-Attentäters Sand geschrieben hatte, ging Schleiermacher sehr nahe. Als Dekan der theologischen Fakultät verfaßte er am 25.10.1819 ein Schreiben, in dem er das Bedauern über die Entlassung des geschätzten Kollegen offiziell zum Ausdruck brachte. Nicht zuletzt durch dieses Schreiben geriet Schleiermacher in den Verdacht, selbst ein „Jakobiner" zu sein.1 Optimistisch stimmte Schleiermacher dagegen der erfolgreiche Verlauf der Berliner Provinzialsynode im Sommer 1819. Hier hoffte er auf eine Generalsynode und auf die Verabschiedung eines neuen Kirchengesetzes, wobei er auf eine reine Synodalverfassung setzte.2 Am 3./4.10.1819 hatte sich Schleiermacher mit Vertretern der westfälischen Provinzialsynode in Hagen zu einem Erfahrungsaustausch getroffen. 3 Die Gesangbuch-Commission hatte nach halbjähriger Pause am 11.11.1819 ihre Arbeit wieder aufgenommen. Man versammelte sich vierzehntägig und bearbeitete zunächst die sogenannten alten Lieder in alphabetischer Reihenfolge. 4 Die Dreifaltigkeitskirche war auf dem von Schleiermacher geebneten Weg zur Union mit der Ernennung Marheineckes zum ersten lutherischen Prediger einen großen Schritt vorangekommen. Noch gab es allerdings Konflikte mit dem dritten Prediger, dem Lutheraner Herzberg, der sich der Union energisch widersetzte.5 1
2
3 4 5
Zur Demagogenverfolgung und zum „Fall Schleiermacher" vgl. A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (1997), S. 282ff. Die Behandlung De Wettes führte offenbar auch zum Konflikt mit Hegel, der seit 1818 an der Berliner Universität lehrte. Vgl. den Brief J. C. Gaß' vom 28.11.1819, Briefwechsel mit Gaß, S. 180. Wahrscheinlich handelte es sich um den Streit in der Sitzung der „gesetzlosen Gesellschaft" am 13.11.1819 darüber, wie der Staat mit dem mißliebigen Theologen De Wette umgehen solle. Hegel vertrat eine loyale, Schleiermacher eine staatskritische Meinung. Vgl. A. Arndt und W. Virmond (Hrsg.), F. Schleiermacher zum 150.Todestag. Handschriften und Drucke (1984), S. 29. Vgl. sein Schreiben an Blanc vom 7.8.1819: „Von unserer Provinzialsynode kann ich Ihnen nur erfreuliches sagen. [...] Die Hauptsache ist daß wir auf eine gänzliche Veränderung der Kirchenverfassung angetragen haben. Weltliche Deputine der Presbyterien in die Kreissynode, und der Kreissynode in die Provinzialsynode, und der Provinzialsynode in die Landessynode. Die Superintendenten und Generalsuperintendenten gewählt, und die Consistorien in gewählte Ausschüsse der Provinzialsynode, das Ministerium in einen gewählten Ausschuß der Landessynode sich verwandelnd." Briefe IV, S. 260. Vgl. zum „Hagener Gespräch" A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker, S. 263ff. Vgl. GBC-Akte J.I.13, Bl. 17ff„ s. u. Anhang 9). Vgl. Schleiermachers Brief an Gaß vom 6.8.1819: „Hecker ist plözlich gestorben, und heute schon ist Marheinecke zu seinem Nachfolger an der Kirche ernannt; aber die Acci-
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
D i e hier nur angedeutete Fülle der Aufgaben, Probleme und Konflikte nahm Schleiermacher so in Anspruch, daß er seine literarische Tätigkeit z u m eigenen Bedauern vernachlässigen mußte. A m 2 8 . 1 1 . 1 8 1 9 , d e m Tage dieses Gottesdienstes, schrieb er an die Gräfin Voß: „Ein Jahr nach dem andern geht hin, und außer dem unmittelbarsten Geschäft kommt nichts zu Stande. [...] Wenn ich nur das Wichtigste noch könnte zu Tage fördern! Aber in Berlin ist zu viel, was sich einer recht tüchtigen schriftstellerischen Thätigkeit, der ich sonst einige Jahre wol noch fähig wäre, entgegenstellt. Nun, wie Gott will!" 6 Zu Schleiermachers umfangreichem Arbeitspensum gehörte schließlich seine theologische Professur. Im Wintersemester 1819/20 beschäftigte ihn vor allem das „Leben Christi", das er in einem gut besuchten Kolleg fünfmal wöchentlich las 7 , und worüber er Blanc am 17.1.1820 berichtete: „Mein neues Collegium über das Leben Christi beschäftigt mich viel, und ich hätte auch die Zeit gespart, wenn ich früher dazu gearbeitet hätte; aber das geht nun einmal nicht. Jetzt ist es noch eine rudis indigestaque moles 8 und würde erst etwas Ordentliches werden, wenn ich es zum zweiten Male läse. Es ist aber das stärkste besetzte Collegium, was ich noch gehabt habe, denn meine Liste zählt 135 Zuhörer." 9 D i e Beschäftigung mit der Christologie s o w i e das Ringen um christliche Beurteilungs- und Handlungsmaßstäbe hat auch in diesem Adventsgottesdienst deutliche Spuren hinterlassen. 3.4.2. D a s E i n g a n g s l i e d „ V o r d e m Gebet" Schleiermacher eröffnet den Gottesdienst mit Michael Schirmers Adventslied in der Bearbeitung v o n J. S. Diterich „Erhebt den Herrn, ihr Frommen". 1 0 D i e Quelle wird nicht mitgeteilt. Aber die übrigen Lieder dieses Liedblattes legen
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dentien sind schon so zwischen ihm und Herzberg getheilt, daß alle Hoffnung auf die Union der beiden Gemeinden wieder verschwunden ist, wenigstens bis einmal Herzberg abgeht." Briefwechsel mit Gaß, S. 177f. Schleiermacher als Mensch. Familien- und Freundesbriefe 1804-1834, hrsg. von H. Meisner (1923), S. 309. Vgl. W. Virmond, Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge, in: New Athenaeum, Vol. III, 1992, S. 143. Eine rohe und ungeordnete Masse. Schleiermacher als Mensch, S. 312. Bereits am 30.9.1819 hatte Schleiermacher an A. Twesten geschrieben: „Das Leben Christi wird mir je länger desto unbekannter und verwickelter, und ich fürchte, meine Zuhörer werden sehr skeptisch erbaut von dannen gehen." Ebd., S. 308. Johann Samuel Diterich (1721-1797) ist der Bearbeiter bzw. Neudichter des Liedes von M. Schirmer (1606-73) „Nun jauchzet all', ihr Frommen", vgl. EG, Nr. 9. Diterich wurde 1754 Pastor an der Berliner Marienkirche und 1770 Oberkonsistorialrat. Hymnologische Bedeutung erlangte er mit den als Anhang zum Porstschen Gesangbuch gedachten „Lieder[n] für den öffentlichen Gottesdienst", Berlin, bei D. G. Schatz, 1765. Vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 6. (1869), S. 228. Zur Berliner Gesangbuchgeschichte vgl. auch I. Seibt, F. Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch (1998), S. 13-23.
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3.4. Der erste Advent 1819
nahe, hypothetisch mit dem Jauerschen Gesangbuch (1813) als Quellengesangbuch zu rechnen.11 Die Liedbearbeitung für die GBC besorgte Marot im Februar 1823, völlig unabhängig von Schleiermachers Liedblattversion12, so daß hier auf den Vergleich mit dem BG-Text (BG, Nr. 126) verzichtet werden kann. Michael Schirmer, Nun jauchzeI all', ihr Frommen, Porstsches Gesangbuch (1790), Nr. 17.
Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 147 1. Timoth. 1,15.
Liedblatt Η196/L 59 Am ersten Advent Sonntag 1819
Mei. Von Gott will ich nicht etc.
Mei Aus meines Herzens etc. (Lebhaft) Chor. Erhebt den Herrn, ihr Frommen! Er hält, was er verspricht. Der Heiland ist gekommen, der Völker Trost und Licht. Gott, der uns nicht verstößt, hat uns zum Heil und Leben selbst seinen Sohn gegeben; durch ihn sind wir erlöst. Gemeine. 2. Erlöst! O welche Liebe hat uns der Herr erzeigt! mit welchem Vatertriebe sein Herz zu uns geneigt! Von seinem Himmelsthron' kommt Rettung vom Verderben uns Sündern zu erwerben, sein eingeborner Sohn. 3. Er kommt zu uns auf Erden in tiefer Niedrigkeit, nimt auf sich die Beschwerden der schwachen Menschlichkeit, enthält sich seiner Macht, entbehret Himmelsfreuden, bis er durch Todesleiden das große Werk vollbracht. Chor. 4. Er hats vollbracht. Ο bringet Gott euern Lobgesang! Erlöste Menschen, singet dem Mittler ewig Dank! Wo niemand helfen kann, da hilft er gem aus Gnaden, heilt unsem Seelenschaden. O nehmt ihn gläubig an. Gemeine. 5. Du Freund der Menschenkinder, verwirf uns Jesu nicht. Dein Name, Heil der Sünder, ist unsre Zuversicht. Gib unsern Seelen Ruh, Hilf jeden Reiz zu Sünden uns glucklich überwinden, gib Muth und Kraft dazu. 6. Dich wollen wir erheben,
Mei. Von Gott will ich nicht etc.
Nun jauchtzet all ihr Frommen in dieser Gnadenzeit, weil unser Heil ist kommen, der Herr der Herrlichkeit; zwar ohne stoltze Pracht, doch mächtig zu verehren und gäntzlich zu zerstOhren des Teufels Reich und Macht. 2. Er kommt zu uns geritten auf einem Eselein und stellt sich in die Mitten für uns zum Opfer ein; Er bringt kein zeitlich Gut: Er will allein erwerben durch seinen Tod und Sterben was ewig währen thut. 3. Kein Scepter, keine Krone sucht er auf dieser Welt: im hohen Himmels Throne ist ihm sein Reich bestellt. Er will hier seine Macht und Majestät verhüllen, bis er des Vaters Willen im Leiden hat vollbracht. 4. Ihr großen Potentaten, nehmt diesen König an, wenn ihr euch wollet rathen, und gehn die rechte Bahn, die zu dem Himmel führt: Sonst wo ihr ihn verachtet, und nur nach Hoheit trachtet, euch Gottes Zorn denn rührt. 5. Ihr Armen und Elenden, in dieser bösen Zeit die ihr an allen Enden müsst haben Angst und Leid, seyd dennoch Wohlgemuth! Laßt eure Lieder klingen, und thut dem König singen, der ist eu'r höchstes Gut. 6. Er wird nun bald erscheinen
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Erhebt den Herrn, ihr Frommen, Er hält was er verspricht, Der Heiland ist gekommen, Der Völker Trost und Licht! Gott, der uns nicht verstößt, Hat uns zum Heil und Leben Selbst seinen Sohn gegeben; Durch ihn sind wir erlöst.
Er kommt zu uns auf Erden In tiefer Niedrigkeit Und träget die Geberden Der schwachen Menschlichkeit, Entsaget aller Macht, Entbehret Himmelsfreuden, Bis er durch Todesleiden Das große Werk vollbracht.
Du Freund der Menschenkinder, Verwirf uns, Jesu', nicht! Dein Name Heil der Sünder, Ist unsre Zuversicht! Sind wir auf ewig dein, So kann uns nichts mehr fehlen; Es werden unsre Seelen Im Glauben selig sein.
Die linke Spalte der Synopse bietet Schirmers Original in der in Berlin damals bekannten Fassung des Porstschen Gesangbuchs. - Vgl. Schleiermachers Liedblatt Η 196/L 59 in Anhang 11), s. u. Vgl. BG, Nr. 126 und GBC-Akte J.I.10, Bl. 33 und 34v.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Michael Schirmer, Nun jauchzet all', ihr Frommen, Porstsches Gesangbuch (1790), Nr. 17.
Jauersches Gesangbuch (1813), Nr.147 1. Timoth. 1,15.
Liedblatt H196/L 59 Am ersten Advent Sonntag 1819
Mei. Von Gott will ich nicht etc. in seiner Herrlichkeit, und all' eu'r Klag' und Weinen verwandelen in Freud. Er ists, der helfen kann: h a l f t eure Lampen fertig, und seyd stets sein gewärtig, er ist schon auf der Bahn.
Mei. Aus meines Herzens etc. (Lebhaft) jetzt und in Ewigkeit; wo uns ein beßres Leben vor deinem Thron erfreut. Dann sind wir ewig dein, und Nichts wird uns mehr fehlen, dann werden unsre Seelen vollkommen selig seyn. Schirmer nach Diterich.
Mei. Von Gott will ich nicht etc.
Die Übersicht über die auf den Liederblättern befindlichen Melodien belegt, daß die Melodie „Aus meines Herzens Grunde" in Verbindung mit Adventsliedern unüblich war.13 So ließ Schleiermacher das Lied mit der in Berlin gebräuchlichen Melodie „Von Gott will ich nicht lassen" (vgl. Porst, Nr. 17) singen. Schleiermacher hat aus dem sechsstrophigen Lied von Diterich drei Strophen gemacht. Während er die Eingangsstrophe unverändert läßt, hat er in der zweiten Liedblattstrophe gegenüber Diterich, der das irdische Leben Christi in M. Schirmers dritter Originalstrophe in das Schema des Philipper-Hymnus eingespannt hatte, das wahre Menschsein Jesu prononciert: Christus nimmt nicht nur die Beschwerden des Menschseins auf sich, sondern er trägt die Gebärden des Menschen, er ist also ganz Mensch. 14 Christus enthält sich nicht nur seiner Macht (Jauersches Gesangbuch), sondern er entsaget aller Macht.15 Aus den beiden letzten Strophen der Vorlage bildet Schleiermacher seine dritte Strophe, die die soteriologische Pointe seiner zweiten Strophe („Bis er durch Todesleiden das große Werk vollbracht") aufnimmt. Die zweite Strophenhälfte der Vorlage wird durch eine modifizierte Form der zweiten Stro-
13 14 15
Die Melodie begegnet an zwei Lätare-Sonntagen (1822/1827) sowie Bettag und Totenfest 1826. Zu Schleiermachers Christologie vgl. Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche (CG 1821/225, §§ 113-126, KGA 1/7,2, S. 17-103. Damit nähert sich Schleiermacher dem sogenannten Kenosis-Standpunkt in der christologischen Debatte an. Beim „Kenosisstreit" zwischen Theologen der Gießener und der Tübinger Fakultät 1620ff. vertraten die Gießener die Kenosislehre, die besagt, Christus hätte sich in statu exinanitionis seiner göttlichen Eigenschaften völlig entäußert (κέντπσις), während die Tübinger meinten, Christus habe seine göttlichen Eigenschaften nur verhüllt (κρύψις). Vgl. B. Hägglund, Geschichte der Theologie, Berlin 1983, S. 241f. - Indem Schleiermacher jegliche Distinktion von Erniedrigung und Erhöhung ablehnt: „Die Person Christi kann aber nicht höher gewesen sein als sie überhaupt war, und sie wurde erst bei der Menschwerdung." (CG 1821/221), § 119, KGA 1/7,2, S. 59, und indem er den Präexistenzgedanken abweist (§ 119, ebd. S. 51 f.), radikalisiert er den Kenosisstandpunkt. Die Entsagung der Macht ist nicht Kennzeichen seiner Göttlichkeit - denn der Besitz göttlicher Eigenschaften kann nicht ohne deren Gebrauch gedacht werden - , sondern seiner Menschlichkeit, d.h. seiner faktischen Ohnmacht, vgl. CG (1821/22 1 ), § 119, ebd. S. 60. - Zu Schleiermachers Problem mit dem Philipper-Hymnus, „eine Stelle von streitiger Auslegung" und ,,rhetorisierende[m] Charakter", vgl. CG (1821/22 1 ), § 119, KGA 1/7,2, S. 60.
3.4. Der erste Advent 1819
269
phenhälfte der Schlußstrophe ersetzt. Es überrascht nicht, daß Schleiermacher die eschatologische Pointe der Schlußstrophe eliminiert und stattdessen die ewige Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus als eine religiöse Gemeinschaft „im Glauben" auffaßt. Bei Schleiermacher fehlt der temporale Aspekt, den die Vorlage durch das Adverb „dann" (2 mal) ausdrückt, vielmehr wird gleichsam ein Konditionalverhältnis begründet: „Sind wir auf ewig dein - So kann uns nichts mehr fehlen." Die adverbiale Bestimmung „auf ewig" will keine individualeschatologische Aussage treffen, sondern den Zustand der christlichfrommen Menschheit post christum natum charakterisieren: die Seligkeit, d. h. „ein beßres Leben" findet nicht erst im Jenseits, sondern schon hier und heute „im Glauben" statt. Schleiermachers theologische Intention wird auch in dem auswählenden Umgang mit der Vorlage sichtbar. Da die zweite Quellenstrophe gegenüber der ersten inhaltlich nichts Neues bringt, wird sie von Schleiermacher ausgelassen.16 Ähnlich steht es um die vierte Quellenstrophe, die mit ihrer doxologischen Grundstimmug keinen Gedankenfortschritt bringt. Aus der fünften und sechsten Quellenstrophe hat Schleiermacher die quietistischen und eschatologischen Motive übergangen, von Sünder und Sünde ist nur summarisch die Rede. Neben den dogmatischen Auswahl- und Bearbeitungskriterien gibt es möglicherweise ein liturgisch-strukturales Auswahl- und Bearbeitungsprinzip. Schleiermacher bringt zu Beginn des Gottesdienstes gern dreistrophige Lieder. Da er das Eingangslied auch als „symbolisches Lied" bezeichnet, liegt die Vermutung nahe, es könnte sich um eine am Credo orientierte theologische Linie handeln: Die erste Strophe ist dem Lob Gottes gewidmet, der zur Erlösung seinen Sohn gesendet hat. Die Inkarnation, Thema der Advents- und Weihnachtszeit, ist Gegenstand der zweiten Strophe, die in ihrem aufzählenden Duktus an den zweiten Glaubensartikel erinnert. Die dritte Strophe handelt von der Gemeinschaft der Glaubenden mit Christus. Gab es ein solches liturgisch-strukturales Bearbeitungsprinzip Schleiermachers, dann erklärt sich auch damit seine hier angewendete Bearbeitungstechnik des Kompilierens, Komprimierens und Komponierens. Auf hymnische und doxologische Redundanz wird an dieser Stelle des Gottesdienstes kein Wert gelegt, sondern auf symbolische Kürze und Vollständigkeit, auf dogmatische Korrektheit und logische Stringenz.17 16 17
Die gedankliche „Stagnation" der Vorlage hängt mit deren responsorialer Form zusammen: Die Gemeinde nimmt den Gedanken der ersten Chorstrophe auf. Wurden Schleiermachers Liedbearbeitungen auch durch den jeweiligen liturgischen Ort, dem sie je zugedacht waren, bestimmt, dann müßte die Bearbeitung ein und desselben Liedes unterschiedlich sein, je nachdem für welchen Liedplatz es gerade bestimmt war. Der Vergleich mit der Bearbeitung desselben Liedes am zweiten Advent 1824 (L 214) unterstützt diese Hypothese. Schleiermacher hat das Lied 1824 „Nach dem Gebet" in einer sechsstrophigen Fassung singen lassen (Mei. Helft mir Gott's Güte), die wahrscheinlich auf die Predigt über Rom 15,8f. bezogen war. Eine Predigtnachschrift liegt im Verlagsarchiv De Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter). Am ersten Advent 1821 (H 195) wurde die zusammengefaßte Schlußstrophe des Liedes nach der
270
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Bedauerlich ist, daß durch Schleiermachers Bearbeitung und Strophenauswahl die schöne responsoriale Struktur mitsamt den Stichwortanknüpfungen „erlöst - erlöst", „vollbracht - vollbracht", die das Lied im Jauerschen Gesangbuch aufweist, verloren ging. 18 3.4.3. Lied und Kirchenmusik „Nach dem Gebet" 3.4.3.1. Das Hauptlied Das Liedblatt teilt wiederum keine Quelle mit, aber das gleiche Arrangement wie im Jauerschen Gesangbuch und die Beobachtung, daß sich alle drei Lieder dieses Liedblattes in fast unmittelbarer Nachbarschaft auch im Jauerschen Gesangbuch wiederfinden19, weist mit Bestimmtheit auf das schlesische Gesangbuch hin. Autor des Liedes ist D. Schiebeier.20 Für die GBC beschäftigte sich Küster erst 1823 mit dem Lied.21 Jauersches
Gesangbuch
(1813),
Nr.
1. Buch Mosis 49,10. Mei. Lobt Gott, ihr Christen etc. (Feierlich Chor. Er kommt, er kommt, der starke Held, voll göttlich hoher Macht. Sein Arm zerstreut, sein Blick erhellt des Todes Mittemacht. Gemeine. 2. Wer kommt, wer kommt? Wer ist der Held voll göttlich hoher Macht? Chor. Sieh', Christus ists. Lobsinge Welt! Dein Heil wird dir gebracht.
18
19 20
21
148.
Liedblatt
H196/L
59, Am ersten Advent
Mei. Lob Gott, ihr Christen
1819
etc.
lebhaft.) Chor. Er kommt, er kommt, der starke Held Voll gottlich hoher Macht, Sein Arm zerstreut, sein Blick erhellt, Des Todes Mitternacht. Gemeine. Wer kommt, wer kommt? wer ist der Held Voll göttlich hoher Macht? Chor. Sieh Christus ist's! lobsinge Welt, Dein Heil wird dir gebracht. O du des Guten Verktlnderin Zion, Des Heiles Botin Jerusalem, Erhebe die Stimme mit Macht! Verkünden den Städten Juda Er kommt euer Gott! Wohlan die Herrlichkeit des Herrn Geht auf Uber dir!
Predigt (Mei. Von Gott will ich nicht lassen) gesungen. Bemerkenswerterweise beließ er der Strophe dort ihre eschatologische Pointe, die ihm an diesem liturgischen Ort - am Ende des Gottesdienstes - angemessen erschien. Zu Schleiermachers Praxis der integralen Liedbearbeitung s. o. Exkurs II. 3.4.2. Dieser Verlust hängt sicher mit dem speziellen liturgischen Ort des Liedes in diesem Gottesdienst zusammen. Im Eingangsteil des Gottesdienstes lehnte Schleiermacher Wechselgesänge generell ab. Es handelt sich um die Adventslieder mit den Nummern 147, 148,150. Daniel Schiebeier (1741-1771), ein frühreifer und frühvollendeter „Dichterjüngling" (Koch), der auch musikalisch begabt und tätig war. Eine Auswahl seiner Gedichte wurde posthum von Johann Joachim Eschenburg 1773 herausgegeben, Vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 6, S. 357. Vorgetragen am 6.2.1823, am 20.2.1823 von Küster abgeliefert, vgl. BG, Nr. 127.
271
3.4. Der erste Advent 1819 Jauersches
Gesangbuch 1. Buch Mosis
Mei. Lobt Gott, ihr Christen
(1813),
Nr.
148.
H196/L
59, Am ersten Advent
Met. Lob Gott, ihr Christen
49,10. etc. (Feierlich
Liedblatt
1819
etc.
lebhaft.) Recitativ Wir sind nun Gottes Kinder: doch es ist Noch nicht erschienen, was wir werden sein. Das aber ist das ewige Leben, Ihn Den wahren Gott zu kennen, und den Herrn, Den er gesendet, Jesum Christum. Arie Erwache zu Liedern der Wonne, Frohlocke du Tochter Zion, Und jauchze du Tochter Jerusalem! Blick auf! dein Kenig kommt zu dir, Er ist ein Gerechter und ein Helfer, Und bringet Heil allen Völkern. Chor. Hoch thuet euch auf, und öffnet euch weit ihr Thore der Welt, daß der König der Ehren einziehe! Wer ist der König der Ehren? Der Herr, stark und mächtig im Streit, Gott Zebaoth! er ist der König der Ehren.
Gemeine. 3. Dir, Menschgewordner, singen wir Anbetung, Preis und Dank! An deiner Krippe schalle dir der Erde Lobgesang!
4. Wohl dem, der voll Vertraun und Muth zu deiner Fahne schwört! Sieg, Heil, des Himmels höchstes Gut sind deines Kampfes werth. Schiebeier.
Gemeine. Mei. Lobt Gott, ihr Christen etc. Wohl dem, der voll Vertraun und Muth, Zu seiner Fahne schwört! Des Glaubens Sieg ist hohes Gut, Und jedes Kampfes werth!
Hauptlied und Kirchenmusik sind aktional und theologisch eng miteinander verwachsen.22 Von dem vierstrophigen Adventslied läßt Schleiermacher die dritte Strophe wahrscheinlich wegen des Weihnachtsmotivs („An deiner Krippe schalle dir") aus.23 So schließt auch die vierte Strophe mit ihrer Kriegsmetaphorik inhaltlich an den Ps 24,10 vertonenden Chor sinnvoll an. Die ersten beiden Strophen werden - einschließlich der responsorialen Form - vermutlich aus dem Jauerschen Gesangbuch unverändert übernommen. Die vierte Strophe bietet Schleiermacher bearbeitet: Zunächst wird sie durch die dritte Person (zu seiner Fahne) den Anfangsstrophen und dem vorausgehenden Chor nach Ps 24 angeglichen und damit auch leichter verständlich gegenüber der Vorlage. Kampf und Sieg werden durch die Einführung des Glaubens vom Himmel auf die Erde geholt. Auch Schleiermachers Textfassung meint den
22
Z u r B e s t i m m u n g d e r K i r c h e n m u s i k s. u. 3 . 4 . 3 . 2 . Z u r m e l o d i s c h e n G e s t a l t v o n „ L o b t G o t t , i h r C h r i s t e n " u n d e i n e m m ö g l i c h e n C h o r s a t z v g l . J. C . K ü h n a u s C h o r a l b u c h ( 1 7 8 6 ) , N r . 89.
23
Freilich hätte er d e n T e x t a u c h ä n d e r n k ö n n e n , s o w i e er e s e i n Jahr z u v o r g e m a c h t hatte. A b e r a m 1. A d v e n t 1 8 1 8 w a r d i e K i r c h e n m u s i k a n d e r s a u f g e b a u t , s . u . 3 . 4 . 6 . A n m . 4 5 .
272
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
eschatologischen Kampf des Christen, aber den immanenten, dessen Sieg mit lJoh 5,4 der Glaube ist. Die vom Lied eingeschlossenen Kantatentexte befassen sich auf unterschiedliche Weise mit der adventlichen Erwartung. Zwischen drei alttestamentliche Prosa-Stücke ist ein Rezitativ mit Texten aus lJoh 3,2 und Joh 17,3 getreten. Die theologische Tendenz des Liedes: Ankündigung des Kommens Gottes Bestätigung des Gekommenseins Gottes in Christus wird auch durch die Kantatentexte unterstützt, indem diese das Kommen Gottes biblisch begründen und den Advent Jesu Christi gleichsam religionsgeschichtlich herleiten. Die durch das Lied vorgegebene Struktur von Frage und Antwort, die der theologischen Spannung von Verheißung und Erfüllung ähnelt, zieht sich durch, wobei die Gemeinde in die Rolle des Fragestellers schlüpft und Chor und Solisten Antwort geben. Man könnte auch sagen: Innerhalb des Liedes baut die Kirchenmusik quasi die Brücke von der christologischen Affirmation zur soteriologischen Applikation, von der geschichtlichen Behauptung: „Sieh Christus ist's!" zur persönlichen Anwendung: „Wohl dem, der durch Vertraun und Muth zu seiner Fahne schwört! Des Glaubens Sieg ist hohes Gut und jedes Kampfes werth." 3.4.3.2. Die Kirchenmusik Aufgrund auffalliger Textverwandtschaft gehe ich hypothetisch davon aus, daß auch am ersten Advent 1819 wiederum Stücke aus Händeis Messias aufgeführt wurden. Beim Textvergleich beziehe ich mich auf die von der Singakademie rezipierte Mozart-Ausgabe, der der Klopstock-Ebelingsche Texttyp zugrunde liegt.24 G. F. Händel 's Oratorium „ Der Messias " nach W. A. Mozart 's Bearbeitung. Bei Breitkopf und Härtel in Leipzig 1803 Nr. 9. Coro. Ο du, der Gutes predigt zu Zion und Gutes in Jerusalem, erhebe die Stimme mit Macht, verkünde den Städten Juda: seht euem Gott! Wohlan! die Herrlichkeit des Herrn geht auf Uber dir.
24
Liedblatt H196/L 59, Am ersten Advent-Sonntag 1819
[Chor], Ο du des Guten Verkünderin Zion, Des Heiles Botin Jerusalem, Erhebe die Stimme mit Macht! Verkünde den Städten Juda Er kommt eur Gott! Wohlan die Herrlichkeit des Herrn geht auf Uber dir!
Zum Problem der Textübertragung vgl. W. Siegmund-Schultze, Über die ersten Messiasauffuhrungen in Deutschland, Händeljahrbuch 1960, S.51-109. Siegmund-Schultze vergleicht drei Texttypen miteinander: Die in verschiedenen Varianten kursierende Textfassung von Klopstock/Ebeling, die wahrscheinlich für die erste deutsche Messiasaufführung in Hamburg 1772 erarbeitet und später vielfach überarbeitet und abgewandelt wurde. Sie liegt auch der von Mozart und G. v. Swieten besorgten Wiener Messiasausgabe von 1789 und dem von C. F. G. Schwencke 1809 herausgegebenen Klavierauszug zugrunde. Dann die von Johann Adam Hiller 1786 in Leipzig herausgebrachte Textfassung, die selbst auf Klopstock/Ebeling gründet, und die sich später weit verbreitete (auch etwa der Mozartfassung untergelegt wurde, Siegmund-Schultze, S. 68) und schließlich die Nachdichtung von J. G. Herder, Weimar 1781. Für den Vergleich mit den Liedblatt-Texten kommen nur die zwei erstgenannten Texttypen in Betracht, wobei bei der Klopstock/Ebelingschen Textfassung ihre verwickelte Redaktionsgeschichte zu berücksichtigen ist.
3.4. Der erste Advent 1819 G. F. Händel 's Oratorium „ Der Messias " nach W. A. Mozart 's Bearbeitung. Bei Breitkopf und Härtel in Leipzig 1803
Nr. 16. Aria. Erwach! erwach zu Liedern der Wonne, frohlocke, du Tochter Zion, und jauchze, du Tochter Jerusalem. Blick auf! dein König kömmt zu dir. Er ist ein Gerechter und ein Helfer, und bringet Heil allen Völkern. Nr. 30. Coro. Hoch thut euch auf, und öffnet euch weit, ihr Thore der Welt, dass der König der Ehren einziehe! Wer ist der König der Ehren? Der Herr-, stark und mächtig, stark und mächtig im Streite. Wer ist der König der Ehren? Gott Zebaoth. Er ist der König der Ehren.
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Liedblatt H196/159, Am ersten Advent-Sonntag 1819
Recital. Wir sind nun Gottes Kinder; doch es ist Noch nicht erschienen, was wir werden sein. Das aber ist das ewg Leben, Ihn Den wahren Gott zu kennen, und den Herrn, Den er gesendet hat, Jesum Christum. Arie. Erwache zu Liedern der Wonne, Frohlocke du Tochter Zion, Und jauchze du Tochter Jerusalem! Blick auf! dein König kommt zu dir, Er ist ein Gerechter und ein Helfer, Und bringet Heil allen Völkern. Chor. Hoch thuet euch auf, und öffnet euch weit ihr Thore der Welt, daß der König der Ehren einziehe! Wer ist der König der Ehren? Der Herr, stark und mächtig im Streit, Gott Zebaoth! er ist der König der Ehren.
Drei der vier Prosastücke, nämlich beide Chöre und die Arie, weisen textlich große Ähnlichkeit mit den entsprechenden Nummern aus Händeis Messias in Mozarts Bearbeitung auf.25 Das erste Stück, der Chor Nr. 8 (9) „O du des Guten Verkünderin Zion" nimmt textlich Bezug auf Jes 40,9 und 60,1. Die auf das Rezitativ folgende Sopran-Arie Nr. 16 (16)26 stützt sich auf Sach 9,9 und der funfstimmige Chor Nr. 30 (30) „Hoch thuet euch auf, und öffnet euch weit" vertont Ps 24,7-10. Während die Sopran-Arie „Erwache zu Liedern der Wonne" und der Chor „Hoch thuet euch a u f mit dem Text der Mozartschen Messiasausgabe wörtlich übereinstimmen, registriere ich im Eingangschor „O du des Guten Verkünderin Zion" eine Textabweichung, die auch in anderen Textversionen dieser Zeit nicht begegnet. Der Texter hat hier - gegen das englische Original: „O thou that tellest good tidings to Zion, good tidings to Jerusalem" - versucht, Wortwiederholungen zu vermeiden (Gutes - Gutes) und den hebräischen Parallelismus wiederzugeben: O du des Guten Verkünderin Zion Des Heiles Botin Jerusalem. Dabei ist freilich die Textunterlegung bei „des Heiles Botin" nicht glücklich geraten, indem die unbetonte Silbe -tin auf einen metrischen Schwerpunkt zu stehen kommt. Da Kantor Rex selbst Teile aus dem Messias herausgegeben hat,
25
26
Numerierung nach „The Messiah. Oratorio in three parts", hrsg. von John Tobin, Hallische Händelausgabe Bd. 17, Kassel u. a. 1965. Dahinter in Klammern die Nummern in der Mozart-Ausgabe von 1803. Die Besetzung ist bei dieser Nummer unsicher. Andere Messiasausgaben verzeichnen hier Tenorsolo.
274
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
ist nicht auszuschließen, daß auch diese Textfassung von ihm stammt.27 Davon, daß Rex Text und Musik jeweils neu einrichtete, zeugt der Vergleich mit der Kirchenmusik am ersten Advent 1818 und eine Aussage in seiner Denkschrift vom 14.12.1817.28 Bei der textlichen und musikalischen Einrichtung griff Rex möglicherweise auch auf gebräuchliches Auffuhrungsmaterial zurück, neben der Mozartschen Messiasausgabe vielleicht auf den viel rezipierten Klavierauszug des Hamburger Musikdirektors Schwencke.29 Mit dessen Textfassung stimmt eine andere Abweichung im vorliegenden Eingangschor überein: die adventlich stimmende Lesart „Er kommt euer Gott!"30 Das an zweiter Stelle stehende Rezitativ mit Texten aus lJoh 3,2 und Joh 17,3 stammt nicht aus Händeis Messias. Doch wie gesehen, war es damals durchaus üblich, Stücke verschiedener Herkunft nach Pasticcioart zu arrangieren.31 Die musikalische Gestalt dieses Rezitativs wäre nur zu ermitteln, wenn man das Auffuhrungsmaterial fände. Denkbar ist, daß Rex den Text entweder einer anderen Komposition unterlegte, oder daß er die Vertonung der beiden kurzen Texte selbst übernahm, eine musikalisch nur dadurch anspruchsvolle Aufgabe, daß das Rezitativ zwischen zwei Händeischen Sätze steht. Stammen Chöre und Arie aus Händeis Messias, so fragt sich, warum hier noch ein messiasfremdes Rezitativ eingearbeitet wurde. Aus formalen Gründen? Mit Eingangschor - Rezitativ - Arie - Schlußchor ergibt sich die klassische italienische Kantatenform. Andererseits kommen viele der RexSchleiermacherschen Kirchenmusiken ohne Rezitative aus. So scheint diese Interpolation theologisch begründet zu sein: Schleiermacher will dem Hörer mit dem neutestamentlichen Text einen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der alttestamentlichen Texte an die Hand geben nach dem Schema: Verheißung - Erfüllung. Denn der König, der dem AT nach kommen soll (Eingangschor), ist dem NT nach bereits gekommen. Trotz dieser Erfüllungsgewißheit wird die Adventsspannung nicht gänzlich aufgehoben, sondern mit dem Text lJoh 3,2 aufrechterhalten, allerdings entscheidend modifiziert: Denn die Erwartung des Kommenden richtet sich hier nicht mehr auf eine geschichtliche Zukunft, sondern auf den eigenen religiösen Reifeprozeß. Gott kommt, wenn wir ihn erkennen und den, den er gesandt hat. Die Spannung zwischen eschatologischer Erwartung und Erfüllung, die die AT-Texte bestimmt, wird also von dem Rezitativ durchaus aufgenommen, aber umgedeutet auf den religiösen Erkenntnis· und Reifeprozeß der Christen, so daß die Bewegungsrichtung des Kommens umgekehrt wird: Wir kommen zu ihm! Die die Kirchenmusik abschließende Gemeindestrophe nimmt diese Perspektive der Gläubigen auf.
27 28 29 30 31
Vgl. Vier Alt-Arien aus Haendels Messias [...] eingerichtet von C. F. Rex, Berlin o. J. Vgl. Promemoria vom 14.12.1817, Bl. 8v, Anhang 4). Der Messias im Clavierauszuge von C. F. G. Schwencke mit deutschem Texte von Klopstock und Ebeling. Hamburg bey Johann August Böhme 1809. Im Text der Mozartausgabe heißt es hier: „Seht euern Gott!" S . o . Exkurs 1.3.
3.4. Der erste Advent 1819
275
Theologische Gestaltung ist auch daran zu erkennen, daß der Chor „Hoch thuet euch a u f Nr. 30 (30), der bei Händel in österlichem Zusammenhang steht, wie es altkirchlichem Brauch entspricht32, hier in einen adventlichen Kontext gerückt wird.33 Schleiermacher und Rex haben also die Stücke sehr bewußt ausgewählt und angeordnet. Beide Chöre stehen inhaltlich in genauer Verbindung mit den ihnen benachbarten Liedstrophen. Während der erste Chor die Stichworte „er kommt", „Macht" und vor allem „Heil" aufgreift, fuhrt der letzte Chor mit seiner Kriegsmetaphorik „Der Herr stark und mächtig im Streit, Gott Zebaoth" auf die Gemeindestrophe hin. Nur das Subjekt des Kampfes wird ausgetauscht. Ist es in Ps 24 der Herr selbst, so ist es im Lied nun der Gläubige, der im Kampf den Sieg des Glaubens erringt. Die sich durch diese Anordnung ergebende Bedeutung entspricht der oben angestellten Vermutung über den Sinn der rezitativischen Einschaltung. Schleiermacher deutet die alttestamentliche Adventshoffnung neutestamentlich auf den Glaubenskampf des Christen. Der Christ ist noch unterwegs, der Herr ist schon da. 3.4.4. Die Predigt 3.4.4.1. Form und Inhalt Schleiermachers Predigt am ersten Advent 1819 ist abgedruckt im vierten Band der Predigten.34 Auf den Kanzelgruß frei nach 2Kor 13,13 folgt sogleich die Verlesung des Textes Mt 16,13-19. Mit Wegfall des sogenannten Predigteingangs entfällt auch der Kanzelvers. Der Prediger knüpft in seiner Einleitung an den Kirchenjahresbeginn an und imaginiert die „herrlichen Tage unserer hohen christlichen Feste" (120) Mit dem Advent beginnen die Christusfeste, und Christus ist der Anfanger und Vollender unseres Glaubens. Vom Glauben hängt die Fülle des Lebens ab: „So viel wir glauben, so viel werden wir auch genießen und gefördert werden, denn nur wie wir glauben, so sind wir auch in seinem Namen versammelt." (121) Das Stichwort Glaube im Horizont des Predigttextes fuhrt zur Exposition des Themas: „Auf diese Frage nun, welches der rechte Glaube an den Erlöser sei, von dem die Erfüllung seiner Verheißungen abhängt? enthält unser Text die 32
33 34
Ps 24 wurde in der Alten Kirche als Himmelfahrtsweissagung verstanden vor allem in der Osternacht gelesen, vgl. E. Kähler, Te Deum laudamus. Studien zum Te Deum und zur Geschichte des 24. Psalms in der alten Kirche (1958), S. 55ff. Schon Georg Weisseis Adventslied „Macht hoch die Tür" (EG, Nr. 1) zeugt davon, daß Ps 24 spätestens im 17. Jhd. adventlich rezipiert wurde. SW II/4, Berlin 1844, S. 120-132. Auf diese Ausgabe beziehen sich die im Text beigegebenen Seitenzahlen. Dem Abdruck liegt zugrunde der Erstdruck: „Predigt am ersten Adventssonntag 1819. Gesprochen von Schleiermacher. Berlin 1820." Außerdem liegt zum Vergleich vor: eine Predigt-Kurznachschrift von August Gemberg aus den Gemberg-Dispositionen im Verlagsarchiv Walter de Gryuter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter).
276
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Antwort. Es ist der Glaube, den Petrus bekannte, daß er sei Christus der Sohn des lebendigen Gottes." (121 f.) Aus dem Thema geht die Gliederung hervor: „Und dieser ist der rechte Glaube deshalb, Erstlich, weil es ein Glaube ist, den nicht Fleisch und Blut offenbart, sondern nur der Vater im Himmel, und Zweitens, weil dies allein der Glaube ist, auf den der Herr seine Gemeine bauen kann, und zwar so, daß wie in ihr und durch sie eben so auch im Himmel alles gebunden bleibe und gelöset." (122) Im ersten Teil werden ausgehend vom Text die verschiedenen „fleischlichen" Weisen des Glaubens an Christus analysiert und summiert: „Aller Glaube solcher Art kann also rein menschlichen Ursprungs sein, von Fleisch und Blut her, und so mögen auch jezt noch gar viele unter denen, die sich Christen nennen, keinen andern als solchen Glauben haben." (124) Das Bedürfnis nach Verringerung des Bösen entsteht in Zeiten eines allgemeinen Verfalls „und wenn Noth und Elend aller Art überhand nehmen." (123) Dieses Bedürfnis nach Verringerung des Bösen, mit dem auch Jesus konfrontiert wurde, ist aber noch nicht der rechte Glaube. Bevor Schleiermacher zur Beschreibung des rechten Glaubens schreitet, muß er eine falsche Erwartung zurückweisen. Wie der Text nicht Auskunft über die Natur des Gottmenschen geben will, ebenso wenig will dies der Prediger. Jesus ging es nicht um „spitzfindige" Distinktionen, damit sich der Glaube nicht in dogmatischen Spekulationen verliere, sondern sich das Bekenntnis des Petrus aneigne. (125) Und dieses Bekenntnis ist zweiteilig: „Jesus sei der Christ" meint die Letztgültigkeit und Unüberbietbarkeit Christi: „er sei nicht nur gleich anderen Propheten ein bessere Zukunft verheißender Tröster in Zeiten des Elends und der Buße, und an geistiger Kraft und Anmuth hervorragend die Blüthe des Volkes, sondern er sei die ewig kräftige und schöne Blüthe der ganzen Menschheit, derjenige, in welchem alle Weissagung ihre Vollendung findet, so daß jede künftige nur immer ihn wiederholen kann, der, von welchem alle Begeisterung ausgeht, und in welchem aller geistige Trost so im Voraus für alles gegeben ist, daß niemand etwas bedürfen kann, was nicht aus seiner Fülle zu schöpfen wäre." (125 f.) Und das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes bedeutet, daß Jesus „sich Gott auf eine besondere Weise als Vater angeeignet" habe. So war in Christus alles Leben und Reden aus Gott, und andererseits war er „unser Bruder [...] in aller menschlichen Schwachheit, ausgenommen die Sünde." (126) Dieses Bekenntnis mußte offenbart werden, denn der natürliche Mensch leugnet das Gute und zerstückelt die Hoffnung. Der Maßstab für die Güte des Glaubens ist demnach die alleinige Ausrichtung auf den Einen, in dem alle Verheißungen erfüllt sind. Der Mensch auf der Stufe des sinnlichen Lebens kann nur äußerem Glanz Verehrung erweisen. Aber äußeren Glanz weist Jesus nicht auf. Wer Jesus als Sohn Gottes bekennen will, muß zuvor die Welt verleugnen und einsehen, daß alle menschliche Weisheit und Einsicht selbst dem irdischen und eitlen angehört. Der rechte Glaube kann nicht deduziert werden. Er ist ein Geschenk Gottes und „die Gemeinschaft des Menschen mit Gott und [...] Gehorsam gegen dessen Willen." (128)
3.4. Der erste Advent 1819
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Der zweite Teil befaßt sich mit den ekklesiologischen Konsequenzen des oben beschriebenen Glaubens. Nur auf den von Gott geoffenbarten Glauben kann der Erlöser seine Gemeinde bauen. Alle andere Treue und Gehorsam bleibt vergänglich. Alle „Schulen der Weisen", alle „Vereine der Gerechten" bestehen eine Zeit lang, und wenn das „Bild des Stifters" verblaßt, verschwinden sie. (129) Alles irdische muß und soll vergehen. Das ist sein natürliches Geschick. Nur im Sohn Gottes „ist eine unerschöpfliche Fülle, den allein können wir nie erreichen, und wissen, daß ein auf ihn gegründeter Bau nicht vergehen darf. Keines Menschen Schüler sollen die andern bleiben ewiglich, sondern die Söhne immer besser sein als die Väter, und jedes menschliche Ansehn, welches sich erhebt innerhalb seiner Gemeine [...], es besteht nur seine Zeit, und Meister sollen wir uns unter einander gar nicht nennen: aber daß Christus der Sohn Gottes unser aller Meister bleibt ewiglich [...], das kann nur unser Gewinn sein und unser Ruhm, und darum ist es auch dieser Glaube allein, auf dem die Gemeine Christi sich bauen kann." (130) Petrus bekennt stellvertretend für alle Jünger, und so bevollmächtigt auch Christus nicht nur Petrus, sondern alle Jünger. Das Binden und Lösen für den Himmel meint, „daß wir für die Beurtheilung und Behandlung des würdigen und unwürdigen keinen andern Maaßstab haben sollen, als den göttlichen und himmlischen selbst." (130) Wo ein gewöhnlicher Mensch Vorbild einer Gemeinschaft ist, schleicht sich die Sünde mit ein, weil auch der Mensch sündhaft ist. Das Vorbild muß ergänzt und ersetzt werden. So aber gibt es keine Vollkommenheit, und die Gemeinschaft hat nicht Bestand. Die Gemeinschaft aber, die sich um Christus bildet, hat in ihm nicht nur das unerreichbare Vorbild und Ziel, sondern auch den unbestechlichen Maßstab allen Urteilens. „Er also ist das ewig unerreichte Vorbild, dem sich aber von seinem Standort aus jeder annähern möge nach Vermögen, an dem das ganze Geschlecht der Menschen für alle Zeiten genug hat, und kein Fortschreiten auch das gesegnetste nicht kann uns jemals nöthigen, die Regel, die wir von ihm nehmen, gegen eine andere zu vertauschen, ja erst durch die Beziehung auf ihn können wir uns irgend eines menschlichen Vorbildes erwecklichen Wirkungen ohne Bedenken überlassen. Je mehr wir sein Bild, so weit es die menschliche Schwachheit leidet, rein ins Auge fassen, um desto weniger wird unsere Liebe und unser Urtheil irren [...] Und dieses nun ist das rechte himmlische Binden und Lösen aus dem Wort des Erlösers selbst, daß wir eines Theils nicht richten die unvermeidlichen Mängel alles menschlichen im Vergleich mit jenem göttlichen, damit nicht auch wir gerichtet werden, andern Theils aber auch eben so fest überzeugt sind, wer nicht glaube, der sei schon gerichtet." (131 f.) Von dem so charakterisierten Glauben und seiner Vertiefung und Verbreitung hängen Segen und Seligkeit ab. „Möge sich dann dieser Glaube auch in dem neuen Kirchenjahr immer mehr unter uns befestigen und immer weiter auf der Erde verbreiten: so werden wir auch in unsern Versammlungen immer reichlicher die Seligkeit erfahren, welche Jesus mit diesem Glauben verbunden
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
hat, und in welcher jeder Gläubige mit Wort und That den Herrn verkündend, auch eine feste Stütze seines Reiches auf Erden sein wird. Amen." (132) 3.4.4.2. Zur Theologie der Predigt Der der Predigt zugrundeliegende Text ist das Glaubens-Bekenntnis des Petrus, ihr Thema der rechte Glaube. Im ersten Teil fragt der Prediger nach Inhalt und Herkunft des rechten Glaubens. Gemäß der Struktur des Textes werden unangemessene Glaubensweisen erörtert und abgewiesen. Die Vergleiche Jesu mit den Propheten des alten Bundes zeugen vom menschlichen Ursprung dieses Glaubens, den es zu allen Zeiten gibt. Dagegen bietet das Petrusbekenntnis mit seinen zwei Prädikaten: Jesus, der Christus und Jesus, der Sohn Gottes, den Maßstab für die Richtigkeit des Glaubens. Unter der ersten Prädikation erörtert Schleiermacher den heilsgeschichtlichen Aspekt des Kommens Christi: Jesus als der unüberbietbare Gesandte Gottes, die endgültige Erfüllung aller Verheißungen, „die ewig kräftige und schöne Blüthe der ganzen Menschheit". (126) 35 Unter der zweiten Prädikation, Christus als Sohn des lebendigen Gottes, behandelt er die christologische Frage. Zwar nennt Schleiermacher die christologischen Distinktionen der alten Kirche „fast spitzfindig", doch geht aus der Predigt sehr eindeutig seine christologische Präferenz für das homo factus est hervor. Mit Bezugnahme auf Jes 53, IKor 1,18 und Hebr 4,15 wird die Niedrigkeit Christi beschrieben. Die Hoheit und Absolutheit Christi resultiert allein aus seiner Sündlosigkeit.36 Doch diese entzieht sich dem menschlichen Urteil, darum 35 36
Die Adventspredigten überblickend urteilt Trillhaas: „Es sind Predigten über die Einzigartigkeit Jesu." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 40. Vgl. Der Christliche Glaube (CG 1821/22 1 ), § 116,1, KGA 1/7,2, S. 27. Die Glaubenslehre verweist den Leser für die Erörterung der sogenannten göttlichen Natur auf die im Anhang befindliche Trinitätslehre, §117, ebd. S. 38. Von der Christologie wird nur die menschliche Natur Christi (§118) und die Einwohnung des göttlichen Wesens in der menschlichen Natur (§119) behandelt. Schleiermacher bezeichnet die beiden „Naturen" infolge seiner Skepsis gegen den homonymen φύσις-Gebrauch auch als die „geschichtliche" und die „urbildliche" Seite des Erlösers. „Vermöge dieser Vereinigung des geschichtlichen und urbildlichen ist der Erlöser auf der einen Seite, was die menschliche Natur betrifft, uns vollkommen gleich, auf der andern Seite als Anfänger eines zur Verbreitung über das ganze menschliche Geschlecht bestimmten neuen Lebens dadurch von allen andern Menschen unterschieden, daß das ihm einwohnende Gottesbewußtsein ein wahres Sein Gottes in ihm war." Leitsatz §116, ebd. S. 27. Über Christi Gottnatur heißt es: „Was aber den Erlöser als solchen konstituirt kann dem zufolge nichts anders sein als eine solche vollkommne Einwohnung des höchsten Wesens im Bewußtsein, welche als die reine Thätigkeit Gottes in der menschlichen Natur angesehen werden, und vermöge deren man vom Erlöser sagen muß, daß Gott in ihm war in dem höchsten Sinne, in welchem überall Gott in Einem sein kann." §116, ebd. S. 29. Schleiermacher kann die GottMensch-Einheit Christi mit einer religionspsychologischen Definition auch bezeichnen als „das in Eins gebildetsein der brüderlichen Genossenschaft und der unbedingten Verehrung." §117, ebd. S. 33. Trotz der „Unsündlichkeit Christi" hält Schleiermacher an dessen Empfänglichkeit für Lust und Unlust fest, allerdings behauptet er auch die absolute Irr-
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bedarf es des von Gott geschenkten Glaubens. So ist der Glaube an Christus nicht selbstevident und keine natürliche Möglichkeit, sondern ein Werk Gottes im Menschen. Schleiermacher spricht zwar von einem Trieb in der Seele, der „aufgeht als eine Sehnsucht." (128), aber die übernatürliche Herleitung des Glaubens aus der Offenbarung Gottes bleibt thetisch und damit ein Beweis wahrer Gläubigkeit des Predigers. Aus der Struktur des Textes folgt der zweite Teil: Der rechte Glaube als die unzerstörbare Basis der Gemeinde. Nur auf den geoffenbarten Glauben an den Gottessohn kann der Erlöser seine Gemeinde bauen. Nur aufgrund seiner unsündlichen Vollkommenheit kann Christus ewiges Urbild seiner Gemeinde sein; wäre er nicht sündlos, könnten seine Anhänger ihre eigene Sünde mit der seinen rechtfertigen, oder sie würden ihre Heilserwartungen auf verschiedene Heilsbringer verteilen. Christus ist sowohl der alleinige Grund und Gegenstand des Glaubens als auch der alleinige Maßstab des Handelns. Natürlich wird der Auftrag des Bindens und Lösens vom Protestanten Schleiermacher als der gesamten Gemeinde erteilt verstanden. Das Binden und Lösen meint ein Beurteilen irdischer Verhältnisse nach himmlischen Maßstäben, d.h. nach dem Maßstab Christi, dem Maßstab der Vollkommenheit. Die absolute Suffizienz Christi macht sowohl die Orientierung an anderen irdischen Maßstäben überflüssig wie auch eine - über das in Christus Geschehene hinausgehende - eschatologische Hoffnung. Die Endgültigkeit und Unüberbietbarkeit Christi schließt für Schleiermacher eine noch ausstehende geschichtliche Vollendung aus.37 Der Glaube an den Erlöser tumslosigkeit Christi. §118, ebd. S. 46f. Die antike Vorstellung von der Schönheit des Erlösers (z.B. bei Chrysostomus) wird von Schleiermacher abgelehnt, die Ehelosigkeit Jesu „scheint seiner vollkomnen Vorbildlichkeit Eintrag zu thun, und ist überhaupt für die Erörterung ein schwieriger Punkt." Doch Schleiermacher gibt zu bedenken, „daß der Erlöser nur durfte der Vater einer geistigen nicht einer leiblichen Nachkommenschaft sein. Und vielleicht mußte er schon deshalb im ersten Anfang des männlichen Alters sterben, damit kein bestimmter und entschiedener Wille diesen allgemein menschlichen Beruf nicht zu theilen in ihm dürfe vorausgesezt werden." §118, ebd. S. 49. Der Zölibat Jesu wird also nicht christologisch begründet, sondern quasi mit der Chancengleichheit der Christen erklärt: damit niemand genetisch bevorzugt wäre! Schleiermachers Skepsis gegen jede Form von Doketismus äußert sich auch in einer Anmerkung zu § 119, ebd. S. 50: „Mit Recht haben die Abendländer für den Act der Vereinigung nur den Ausdruck incarnatio als Uebersezung von έ ν σ ά ρ κ ω σ ι ς aufgenommen, nicht incorporatio als Uebersezung von έ ν σ ω μ ά τ ω σ ι ς . Denn der leztere Ausdruk läßt auch unvollständige Vorstellungen von der menschlichen Natur in Christo zu." - In der Predigt bezieht Schleiermacher seine Niedrigkeits-Christologie vor allem aus dem Hebräerbrief, vgl. Hebr 4,15; 12,2, Textstellen, die auch implizit zitiert werden. 37
Vgl. Trillhaas' Zitat aus einer Adventspredigt über Mt 21,9: „Der neue Himmel und die neue Erde, sie dürfen nicht erst kommen, sie sind schon da, seitdem der Eine gekommen ist im Namen des Herrn." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 42. In einer Adventspredigt über Joh 1,19-28 hat Schleiermacher auch über die „zweite Zukunft des Herrn" gesprochen. Gemeint ist aber kein apokalyptisches Ereignis, sondern das „Hervortreten ,der schöpferischen und bildenden Kraft des Erlösers', und zwar an uns selbst." Ebd., S. 43. Trillhaas bezeichnet diese Eschatologie als naturalistisch, als „ein Äußerlichwerden
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
wird Wegweiser auf dem Lebensweg des Einzelnen und Fundament für den Bau der Gemeinde. Die Christozentrik dieser Predigt ist nicht zu überbieten. Wie oft in Schleiermachers Festpredigten bietet der spezielle Festcharakter dem Prediger einen Anknüpfungspunkt, doch mehr noch: Der Beginn des neuen Kirchenjahres fordert dazu heraus, über die Zeit, über Geschichte und Zukunft generell nachzudenken.38 Schleiermacher deutet den ersten Advent, den Beginn des neuen Kirchenjahres, liturgisch als den Beginn eines Zyklus von Christusfesten und eschatologisch als eine Wegmarke im Fluß d e r Zeit, die in Christus bereits erfüllt ist. Die Zukunft wird qualitativ nichts Neues bringen, Erfüllung findet nur statt im Rückblick, im Rückgriff, im Glauben an Christus. Die Geschichte verläuft zwar progressiv, doch als ein rein immanenter Progress ohne transzendentale Qualität. Wie nimmt Schleiermacher die dem Advent innewohnende Spannung auf? Jedenfalls nicht im heilsgeschichtlich-apokalyptischen Sinne. Schleiermacher wählt auch keine der üblichen Perikopen (z.B. Mt 21), die vom Kommen Christi erzählen, sondern einen Text, der vom Kommen des Gläubigen zu Christus handelt. Der Glaube ist der einzige Ort der Begegnung mit dem Gekommenen, aber nur der - im Spektrum aller möglichen Glaubensweisen qualifizierte rechte Glaube. Im Sinne johanneischer Theologie (Joh 3,16; 5,24 u. ö.) ereignet sich im Glauben die Begegnung mit Christus. Aber die Glaubenden sind nicht allein, sondern versammelt in der Gemeinde. Und diese „ewige Gemeine" (131), die sich im Glauben an Christus konstituiert, ist unzerstörbar, weil Christus unzerstörbar und unüberbietbar ist, sie wächst und breitet sich auch global immer weiter aus. So wird die vom Kirchenjahr her insinuierte Eschatologie zum Deutungsrahmen des Textes: Der - gemäß dem Bekenntnis des Petrus - wahre Glaube an Christus ist der Weg, der zurückzulegen und auf dem anzukommen (Advent) ist, für den Einzelnen wie für die Gemeinde. Darum schließt Schleiermacher mit Blick auf die ganze Christenheit: „Möge sich dann dieser Glaube auch in dem neuen Kirchenjahr immer mehr unter uns befestigen und immer weiter auf der Erde verbreiten." (132)39 Das adventliche Spannungsmoment liegt nicht in der heilsgeschichtlichen Erwartung der Ankunft oder Wiederkunft Christi, sondern in der intensiven und extensiven Mehrung des Glaubens an den Gekommenen.
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des Innerlichen". Ebd. S. 44. Trillhaas beobachtet an den Predigten zum ersten Advent: „Hier ragt - so weit das bei Schleiermacher überhaupt möglich ist - das .Heute' in die Welt der Predigt herein, so daß fast in jeder Adventspredigt der Beginn des Kirchenjahres notiert ist." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 47. Gerade wegen dieser Bezugnahme und der Blickrichtung auf das Wesen von Zeit und Geschichte kann ich Trillhaas nicht zustimmen, wenn er über die Adventspredigten schreibt, daß sie „leicht lösbar von ihrem Anlaß, zu jeder beliebigen anderen Zeit gehalten werden konnten." Ebd. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 46f.: „An Stelle der Endgeschichte steht die Ausbreitung, die intensive Aufnahme Christi in uns, und die extensive Hineinbreitung des Christentums in die Kultur."
3.4. Der erste Advent 1819
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3.4.5. Das Schlußlied „Nach der Predigt" Es handelt sich um die zweite Strophe des Liedes „Jesus ist gekommen! Dankt ihm seine Frommen" von Balthasar Münter (1735-1793). 40 Aus den genannten Gründen41 und wegen der wortwörtlichen Übereinstimmung ist auch bei dieser Strophe damit zu rechnen, daß Schleiermacher sich des Jauerschen Gesangbuches als Quelle bediente. Jauersches Gesangbuch (1813) Nr. 150. Mei. Jesu meine Freude etc. [Mit frohem Dankgefuhl.] 2. Laßt uns niederfallen, danken, daß er Allen Freund und Bruder ist! Gott auf seinem Throne liebt uns in dem Sohne, hilft durch Jesum Christ. Welch ein Heil! an Christo Theil, Theil durch seiner Sendung Gaben an Gott selbst zu haben! Schleiermacher könnte die Strophe gewählt haben wegen der kohortativen Form und der doxologischen Grundstimmung, die gut an den liturgischen Ort nach der Predigt paßt. Das Christusprädikat „Freund und Bruder" entspricht genau Schleiermachers Niedrigkeits-Christologie, schließlich ist die zweite Strophe neben der sechsten die einzige ohne die - in diesem Gottesdienst sorgfaltig gemiedenen - apokalyptischen Motive.42 Stattdessen bestätigen die letzten drei Verse Schleiermachers Eschatologie: Die Teilhabe an Christus ist Berührung mit dem Ewigen, Heil und Seligkeit. 3.4.6. Das Ganze Da das Liedblatt vor der Predigt entstand, stellt sich zunächst die Frage nach möglichen Anknüpfungen an die Liedblatt-Texte in der Predigt. Die durch das Eingangslied (zweite Strophe) erinnerte Zwei-Naturen-Lehre wird von Schleiermacher im ersten Teil seiner Predigt angesprochen. Er knüpft dabei an Allgemeinwissen an, vielleicht auch bezugnehmend auf das Eingangslied: „Es kann wohl keinem unbekannt sein, wie viel Streit in der Christenheit darüber von Anfang an gewesen ist und auch noch ist, wie viel denn eigentlich der Aus-
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Zu Leben und Werk des norddeutschen Aufklärungspredigers und -dichters vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 6, 348-356. - Für die GBC wurde das Lied (BG, Nr. 139) von Marot bearbeitet, am 3.4.1823 vorgetragen, eine Woche später ins Archiv abgeliefert. S . o . 3.4.3.1. Besagte Strophe 6 taucht tatsächlich auf einem Liedblatt auf: L 27, am 1. Advent 1817, nach der Predigt.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
druck, daß Jesus der Sohn Gottes oder der eingebohrene Sohn Gottes heißt, bedeute, und auf welche Weise nun das menschliche und das göttliche in ihm mit einander vereint sei." (124) Andererseits zeigen sich thematische Entsprechungen zwischen den Liedbearbeitungen und der Predigt, wobei es zwei Themen sind, die die Texte dieses Gottesdienstes durchziehen: Zum einen stimmen Lieder (Eingangslied III/8; Hauptlied III/3-4) 43 und Predigt darin überein, daß sich die Vergegenwärtigung des Heils immanent ereignet: im Glauben. Dabei wird der temporale Ewigkeitsgedanke in ein psychologisches und ein ekklesiologisches Verständnis transformiert: Ewigkeit, d. h. Berührung mit dem Ewigen, wird erfahrbar sowohl im Glauben des Einzelnen als in der unbedingten Treue Christi zu seiner Kirche. Überall wird die eschatologische Pointe abgebrochen. Am deutlichsten spricht sich diese Tendenz im Rezitativ der Kirchenmusik aus: „Das aber ist das ewige Leben, Ihn den wahren Gott zu kennen, und den Herrn, den er gesendet, Jesum Christum." Und die bearbeitete Liedstrophe unmittelbar vor der Predigt fugt hinzu: Der Sieg des Glaubens ist das höchste Gut, das im Kampf errungen werden muß. Aber schon die Schlußstrophe des Eingangsliedes hatte die Seligkeit der Seelen im Glauben verortet. Der rechte Glaube ist nun auch das Thema der Predigt: „Auf diese Frage nun, welches der rechte Glaube an den Erlöser sei, von dem die Erfüllung seiner Verheißungen abhängt?" enthält unser Text die Antwort. „Es ist der Glaube, den Petrus bekannte, daß er sei Christus der Sohn des lebendigen Gottes." (121 f.) Dabei ist das adventlich Ausstehende nicht das Kommen Christi, sondern der totale Triumph des Glaubens, die Erscheinung der wahren Kindschaft. Nicht von einem künftigen Handeln Gottes, sondern von der Fülle und Güte des Glaubens hängt die Fülle des Heils ab. In diesem Sinne wird der Glaube nicht einseitig intellektualistisch, sondern ganzheitlich als das Leben im Glauben verstanden. Zum andern betont Schleiermacher in Predigt und Lied die menschliche Schwachheit Christi. Bei seiner Rezeption der Zwei-Naturen-Lehre bleibt die Gottheit Christi merkwürdig blaß: „daß auf der einen Seite alles Leben aus Gott war, was er [Christus] that, und alles göttliche Wahrheit, was er redete, und daß er auf der andern unser Bruder war in aller menschlichen Schwachheit, ausgenommen die Sünde." (126) An späterer Stelle beschreibt er die Menschlichkeit Christi in schönen parallelen Formulierungen, angelehnt an Jes 53 und IKor 1,18. (127f.) Diese „Unscheinbarkeitstheologie" stellt im Kontext keineswegs nur einen Seitengedanken dar, die äußere Unscheinbarkeit Christi ist konstitutiv für den „rechten Glauben an den Erlöser", bei dem sich Petrus von der Stufe des sinnlichen Lebens erhoben hatte, bzw. der ihm von Gott geschenkt worden war. Die Akzentuierung der „schwachen Menschlichkeit" Christi in der Predigt koinzidiert mit der Textrevision des Eingangsliedes (II/3-5), wo Schleiermacher 43
Die Zählung der Strophen (römische Ziffern) und der Verse (arabische Ziffern) bezieht sich jeweils auf die Liedblattversion.
3.4. Der erste Advent 1819
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ebenfalls die Schwachheit und Niedrigkeit Christi („Entsaget aller Macht") hervorgehoben hatte. Trotz grundsätzlicher theologischer Übereinstimmung setzen die Lied- und Musiktexte einerseits, Schleiermachers Predigt andererseits unterschiedliche Akzente: Die Musiktexte sind stärker an die theologische und liturgische Tradition gebunden, d. h. die adventliche Erwartung Christi wird in geschichtlichen Kategorien ausgedrückt, wozu alttestamentliche Verheißungstexte herangezogen werden: Jes 40,9; 60,1 Sach 9,9 Ps 24,7-10. Trotz der oben erörterten theologischen Redaktion der Musiktexte bilden sie einen Kontrapunkt zur Predigt. Will man diesen Kontrapunkt nicht nur negativ damit erklären, daß Schleiermacher ja nicht alle Texte selber machen konnte, so ist daraufhinzuweisen, daß auch nach Schleiermachers Auffassung Lied und Kirchenmusik Medien der Tradition und einer gemeindeübergreifenden kirchlichen Einheit sind44, sie bilden den Kontakt zur weltweiten Christenheit auf der Zeit- und Raumachse, d. h. in Geschichte und Gegenwart, ab. Schleiermachers Skepsis gegenüber dem AT ist bekannt. Doch durch die Traditionsbindung der Kirchenmusiken schleichen sich alttestamentliche, vor allem messianische Texte in Schleiermachers Festgottesdienste gleichsam wieder ein. Die Text-Arrangements zeichnen sich häufig durch eine „orthodoxe" Anordnung aus, dergestalt, daß alttestamentliche Motive und Zitate neutestamentlich verklammert und gebunden werden. Dies kann durch neutestamentliche Prosastücke oder durch „dogmatisch korrekte" Liedstrophen geschehen. So wird die liturgisch-biblische Tradition aufgenommen und im jeweiligen Kontext gedeutet. Was an den Textzeugnissen dieses Adventsgottesdienstes aus dem Jahre 1819 sichtbar wird, ist keine kasuelle Sondertheologie. Schleiermacher bleibt seinen bekannten theologischen Prämissen treu, setzt aber klare Akzente, die sich gewiß auch aus der speziellen Situation seiner Gemeinde im Herbst 1819 erklären. Und er stimmt Lied, Musik und Predigt so aufeinander ab, daß die singende und hörende Gemeinde den „roten Faden" nicht verliert: die Erfüllung aller adventlichen Erwartungen im rechten Glauben an den Erlöser. Die Gefahr eines „Glaubenspelagianismus" ist dabei nicht ganz ausgeschlossen. Daß Schleiermacher am ersten Advent mit teilweise gleichen Texten auch ganz andere Akzente setzen konnte, würde der Vergleich mit dem Gottesdienst ein Jahr zuvor - am ersten Advent 1818 - zeigen.45 Hier läßt die Auswahl der Liedstrophen, konfrontiert mit der Predigtdisposition erkennen, daß Schleier44 45
Zum Gesangbuch als Symbol der Kircheneinheit und als einheitsstiftendes Mittel vgl. PT, S. 177ff. Vgl. das Liedblatt H 193, Am ersten Advent-Sonntage 1818 (29.11.1818) und die Predigt in der Kurznachschrift des Domkandidaten August Gemberg. Die Predigt befindet sich in: Gemberg-Konvolut, div. Dispositionen und Fragmente 1818-24 im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter), frühere Signatur: E.C.4. - Eine detailliertere Untersuchung der Texte dieses Gottesdienstes befindet sich im Manuskript zur Dissertation unter 3.4.7.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
macher auch für diesen Gottesdienst ein Konzept hatte, das - ausgehend vom Predigttext - drei Schwerpunkte setzte: 1) Advent, Feier des Kommens Christi und Beginn des neuen Kirchenjahres. 2) Leiden und Leidensnachfolge. 3) Gericht. Die zwei letztgenannten thematischen Schwerpunkte verliehen diesem Gottesdienst ein völlig anderes Gepräge als der Feier des ersten Advents ein Jahr später.
3.5. Das Unionsfest am Palmsonntag, den 31.3.1822 3.5.1. Einleitung. Die Gemeindeunion in der Dreifaltigkeitskirche Am 31.3.1822 vereinigten sich die beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden, die lutherische und die reformierte, zu einer linierten Gemeinde. Dieses Ereignis war insofern spektakulär, als damit die erste Berliner Gemeindeunion nach der preußischen Kirchenunion vom 30.10.18171 zustande kam. Die Kirchenunion hatte eine lange Vorgeschichte und wurde vor allem durch das persönliche Engagement König Friedrich Wilhelms III. vorangetrieben; doch wurde sie auch von vielen Theologen, z.B. von Friedrich Schleiermacher, aus innerer Überzeugung, unterstützt.2 Die Zustimmung zur Generalunion sollte sich so äußern, daß sich lutherische und reformierte Gemeinden in Spezialunionen zusammenschlössen. In seinem Unionsaufruf vom 27.9.1817 hatte Friedrich Wilhelm auf die Evidenz und Dynamik der Sache vertraut: „Auch hat diese Union nur dann einen wahren Werth, wenn weder Ueberredung noch Indifferentismus an ihr Theil haben, wenn sie aus der Freiheit eigener Ueberzeugung rein hervorgeht, und sie nicht nur eine Vereinigung in der äußeren Form ist, sondern in der Einigkeit der Herzen, nach ächt biblischen Grundsätzen, ihre Wurzeln und Lebenskräfte hat." 3
Doch der Unionsprozeß geriet bald ins Stocken, was nicht nur damit zusammenhing, daß gemäß königlicher Anordnung die dogmatischen und liturgischen Differenzen nicht ausdiskutiert wurden4, sondern vor allem damit, daß die Union vom König und seinen Behörden einseitig als Sache des Ritus betrachtet und neben den dogmatischen auch die rechtlichen und ökonomischen Voraussetzungen und Konsequenzen außer acht gelassen wurden. So waren im Jahre ι 2
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S. o. 3.2. Neben Schleiermacher seien genannt F. S. G. Sack, K. G. Ribbeck, G. L. A. Hanstein und der amtierende lutherische Superintendent S. C. G. Küster. Quellenangaben bei H. D. Loock, Die Berliner Geistlichen und die Union von 1817, in Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 56 (1987), S. 57-77. Zit. nach Klaus Wappler, Reformationsjubiläum und Kirchenunion, in J. F. G. Goeters/R. Mau, Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1 (1992, S. 88-115), S. 91 f. - Die wünschenswerte „Zwanglosigkeit" bei der Einfuhrung der Union betont schon der Entwurf der Synodal-Ordnung vom 10.5.1817. Im Entwurf § 31 wird erklärt, „daß es erfreulich sein werde, wenn der Kirchenverein sich von selbst macht." Vgl. H. D. Loock, JBBKG 56 (1987), S. 60ff. Dieselbe Tendenz findet sich auch bei den Synodalverhandlungen im Jahre 1817. Loock spricht darum von einer „Verschweigungsunion", JBBKG 56 (1987), S. 70. - Schon in seinem Glückwunschschreiben an die Mitglieder der liturgischen Kommission 1814 (SW 1/5, S. 157-187) hatte Schleiermacher bezüglich der bei Lutheranern und Reformierten unterschiedlichen Kirchen- und Altargestaltung treffend bemerkt: „Ich meines Theils kann es [...] nur lobenswürdig finden, wenn auf diesen Unterschied kein Werth gelegt wird; allein das Uebel ist nur dieses, daß der Unterschied gerade in seiner öffentlichen und äußerlichen Geltung dadurch nicht verschwindet daß man ihn ignorirt." Ebd. S. 183.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
1827 in der Provinz Brandenburg erst vier Gemeinden der Union beigetreten.5 Besonders die Lutheraner bremsten, was neben dem gewachsenen konfessionellen Selbstbehauptungswillen vor allem mit befürchteten Einkommenseinbußen zu tun hatte.6 Das Unionswerk war von Schleiermacher tätig unterstützt worden. Schon lange vor 1817 hatte er sich als Unionsbefürworter und Konfessionsvermittler ins Gespräch gebracht.7 Am 1.10. 1817 war er von der „Vereinigten Berliner Synode" zu ihrem ersten Präses gewählt worden. In dieser Eigenschaft verfaßte er die „Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30. October von ihr zu haltende Abendmahlsfeier. 1817."8 Als Synodalpräses betrieb er eifrig die innerprotestantische Verständigung und behielt den Fortgang der Union auf gemeindlicher und übergemeindlicher Ebene auch nach 1817 fest im Auge. 9 Als reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche ergriff Schleiermacher entschlossen die Chance zur Union, die sich mit dem Tod seines lutherischen 5 6
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Oranienburg, Neu-Küstrinchen, Müncheberg und die Berliner Dreifaltigkeitskirche Vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer (1992), S. 149. In dem wenig bekannten, anonym erschienenen Aufsatz von 1818 „Wie steht es mit der Union? (Von einem Prediger in Berlin)", Märkisches Provinzialblatt 1818, S. 126-156, berichtet wahrscheinlich Schleiermacher über den schleppenden Fortgang der Unionssache in Berlin. Die Lutheraner waren vor allem deswegen gegen die Durchführung der Union auf der Gemeindeebene, weil sie im Falle des Wegfalls des für die Reformierten unannehmbaren Beichtgeldes eine Schmälerung ihrer Einkünfte befürchteten. Der Verfasser hat ebd. versucht, praktische Vorschläge zu machen. Vgl. das erste der beiden Gutachten von 1804 „Ueber die Trennung der beiden protestantischen Kirchen." SW 1/5, S. 46-93. Durch seine überragende theologische Autorität eignete sich Schleiermacher als Vermittler zwischen den protestantischen Konfessionen. Im Glükkwünschungsschreiben (1814), SW 1/5, S. 157-187, bot er sich quasi als Vermittler an: „Können Sie nicht auch wie ich mit beiden harmoniren?" Ebd., S. 184. Die Union lag gleichsam „in der Luft". Dennoch ermutigt Schleiermacher die Mitglieder der Liturgischen Kommission zu einem behutsamen konfessionsvermittelnden Denken: „Es kann eine Zeit kommen wo keiner mehr so ängstlich an seine Form gebunden ist, wo eine Vermittelung zwischen beiden möglich wird; aber jetzt liegt uns ob beide möglichst frei zu lassen und möglich zu machen daß durch mannigfaltige Uebergänge und Zwischenformen, die sich von selbst erzeugen werden, jene Vermittelung entstehen könne." Ebd., S. 185. Aber er gibt auch konkrete Empfehlungen für einen „erstefn] vorläufigefn] Schritt zu einer Kirchenvereinigung, die wol nicht mehr gar lange ausbleiben darf..." Ebd., S. 183f. Zur Verfassungsfrage hat Schleiermacher mehrere Schriften verfaßt: „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im Preußischen Staate" (1808), in: Doves Zeitschrift für Kirchenrecht 1/1861, S. 327-343, „Entwurf einer Synodalordnung für die protestantische Geistlichkeit in sämtlichen Provinzen", vom 2.1.1813, in: E. Foerster, Die Entstehung der preußischen Landeskirche unter der Regierung Friedrich Wilhelms des Dritten, Tübingen 1905, Bd.l, S. 306-309, schließlich: „Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staates einzurichtende Synodalverfassung" (1817), in: SW 1/5, S. 217-294. SW 1/5, S. 295-307. Vgl. den o. g., wahrscheinlich von Schleiermacher stammenden, Aufsatz von 1818 „Wie steht es mit der Union?", in dem er die Langsamkeit des Unionsprozesses verteidigt, aber die Gemeinden und Geistlichen ausdrücklich zur Union ermutigt und konkrete Schritte auf dem Weg zur Gemeindeunion vorschlägt.
3.5. Das Unionsfest 1822
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Kollegen, des Unionsgegners Andreas Jacob Hecker am 25.7.1819, ergab. Schleiermacher setzte umgehend ein Schreiben an das Ministerium der geistlichen Angelegenheiten auf, mit dem er auf die sich - bei Neubesetzung der Stelle - bietende Chance zur Union hinwies, ein zwar indirekter, aber unverhohlener Hinweis auf Marheinecke.10 Konrad Philipp Marheinecke (1780-1846), seit 1811 Professor der Kirchengeschichte, galt seit seiner Schrift „Die Geschichte der teutschen Reformation" (1817) als eifriger Befürworter der protestantischen Union und sogar der Annäherung an den Katholizismus.11 Seine loyale Gesinnung war bekannt. Schleiermachers Intervention hatte Erfolg. Bereits am 6.8.1819 wurde Marheinecke in Heckers Nachfolge berufen.12 Nach Ablauf des Gnadenjahres hielt Marheinecke am 27.8.1820 seine Vorstellungspredigt13, und schon am 6.12.1820 konnte die von Schleiermacher verfaßte, vom Kirchenvorstandskollegium herausgegebene und von den Superintendenten Küster und Marot genehmigte Schrift „An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinen. 1820." erscheinen.14 Bereits seit 1817 waren sich die beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden liturgisch näher gekommen, so daß sich die Gemeindeunion, was den Gottesdienst betraf, fast von selbst ergab.15 Man hatte verabredet, daß die reformierte Gemeinde das Abendmahl stets, die lutherische Gemeinde jedes zweite Mal nach dem Unionsritus halten sollte. Nach Marheineckes Amtsantritt setzte sich der Unionsritus generell durch, d. h. es wurde - gemäß reformierter Praxis - nur noch mit Brot, statt mit Oblaten gefeiert. Die Reformierten nahmen den lutherischen Altarschmuck, Kruzifix und Leuchter, an. Im Gegenzug akzep10
Vgl. den ungedruckten Brief Schleiermachers v o m 1.8.1819 an das Ministerium, in: Geheimes Staatsarchiv Dahlem, Ministerium der Geistlichen Unterrichts- und MedicinalAngelegenheiten. Geistliche und Unterrichts-Abtheilung. Acta betr. die Angelegenheiten der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin ... Vol. 1.1. Hauptabt. Rep. 76 III, Sekt. 12, Abt. X I X X X . Akte nicht paginiert. Schleiermacher drängt: „Deshalb eben habe ich mich nicht enthalten können Einem hohen Ministerium den angelegentlichen Wunsch vertrauensvoll auszusprechen daß doch diese erledigte Stelle nur einem der guten Sache der Union zugethanen M a n n e möge anvertraut, und daß derselbe gleich möge mit Bezug auf die Veränderungen berufen werden, welche bei der früher oder später erfolgenden Vereinigung beider Gemeinen eintreten müssen."
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Vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, S. 151. Vgl. auch Kurt Hünerbein, Der Berliner Theologe Philipp Konrad Marheineke als Kirchenhistoriker, in: J B B K G 54 (1983), S. 7 4 - 9 6 . Z u m Projekt der Vereinigung der beiden großen Kirchen äußert sich Marheinecke in seiner 1810 erschienenen kleine Schrift „Nathaneis Briefe über das wahre Verhältnis des Katholizismus und Protestantismus und die projektierte Kirchenvereinigung." Marheinecke griff Napoleons Idee einer Weltkirche (mit Sitz in Paris!) auf, ebd., S. 75. Vgl. Brief Schleiermachers an Gaß vom 6.8.1819, Briefwechsel mit Gaß, S. 177. Vgl. die Sitzung des Kirchenvorstands v o m 18.8.1820, in: Protokolle des Kirchenvorstandscollegiums Bd. 1, S. 107, Archiv der Dreifaltigkeitskirche. S W 1/5, S. 4 5 5 - 4 6 2 . In besagter Vereinigungsschrift von 1820 schreibt Schleiermacher: „ W a s nun zuerst unsern Gottesdienst im allgemeinen betrifft: so war darin so wenig Verschiedenheit bei den beiden bisherigen Gemeinen, daß auch nach der Vereinigung ziemlich alles beim alten bleiben kann." S W 1/5, S. 458.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
tierten die Lutheraner nach Heckers Tod nun auch Prediger reformierten Bekenntnisses zu Vertretungsdiensten.16 Schleiermachers außerordentliches liturgisches Interesse manifestiert sich darin, daß er anläßlich der Gemeindeunion eine unierte Agende schuf, in der er Gebetstexte und Kasualformulare beider Konfessionen zusammenstellte und bearbeitete. Diese Dreifaltigkeitsagende sollte interimistisch gelten, bis die angekündigte Provinzialagende erschienen wäre.17 Die administrativen, ökonomischen und theologischen Konsequenzen der Gemeindeunion sind im Unionsstatut vom 10.1.1822 detailliert dargestellt:18 War das gemeinsame Abendmahl der Kristallisationspunkt der Union, so mußte nun auch regelmäßig Abendmahl stattfinden. Es wurde verabredet, daß mit Einführung der Union jeweils zweimal hintereinander im Frühgottesdienst und dann zweimal hintereinander im Hauptgottesdienst Kommunion sein sollte, so daß jeder Pfarrer jeweils einmal im Monat die Früh- und einmal die Hauptkommunion zu zelebrieren hatte. Das Abendmahl sollte laut Unionsstatut § 11 nur noch nach dem Unionsritus gefeiert werden.19 Die Zusammenarbeit der Pastoren beim Abendmahl wurde so geregelt, daß der sogenannte dritte Prediger und Adjunkt Herzberg stets bei den Hauptkommunionen assistieren sollte. 0 Als ausdrücklich reformierten Beitrag konnte Schleiermacher u. a. die Aufhebung des Perikopenzwangs einbringen.21 Ein diffiziler Punkt war die Parochialpflicht der reformierten Gemeindeglieder, denn bis zur Union gehörten alle reformierten Christen Berlins de jure zu einer Gemeinde. Das Unionsstatut bezeichnet als Gemeindeglieder „diejenigen in der Parochie wohnenden Reformirten welche sich bis jetzt auch zur Kommunion bei der DreifaltigkeitsKirche gehalten haben."22 Mit dieser Sanktionierung des Gewohnheitsrechts sollte sich „ein neues, im Sinne der Union verantwortetes Gemeindeverständnis durchsetzen. Entscheidend ist jetzt die vollzogene Kirchengemeinschaft in der konkreten Gestalt des Herrenmahls."23 16
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Vgl. Schleiermachers Vereinigungsschrift von 1820, SW 1/5, S. 457. - Als Kontroverspunkte neben dem theologischen Abendmahlsverständnis nennt Schleiermacher in der „Amtlichen Erklärung ..." von 1817 die Einsetzungsworte, die Gestalt, das Brechen und die Einsegnung (Kreuzzeichen) des Brotes und den Altarschmuck, SW 1/5, S. 303. - Zum Problem des Unionsritus vgl. Exkurs III. 2.4. S. u. Exkurs III. und Anhang 5). Unionsstatut fur die Dreifaltigkeitsgemeinde vom 10.1.1822, vgl. das Konzept im GStA Provinz Brandenburg, Rep. 40, Nr. 876, abgedruckt bei A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 31, S. 482ff. Unionsstatut § 11 : „Das heilige Abendmahl wird fortan durchgängig nach dem am Jubiläum der Reformation eingeführten ritus gehalten, u. so auch das Gebet des Herrn nach dem Buchstaben der kirchlichen Übersetzung bei allen gottesdienstlichen Handlungen gesprochen." Vgl. A. Reich, Anhang Nr. 31, S. 484. Vgl. Unionsstatut ad § 16, A. Reich, Anhang Nr. 31, S. 487. Unionsstatut § 11, vgl. A. Reich, Anhang Nr. 31, S. 484. Unionssstatut § 2b, vgl. A. Reich, Anhang Nr. 31, S. 483. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, S. 160.
3.5. Das Unionsfest 1822
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Die Union konnte nur gelingen, wenn sie von beiden Gemeinden getragen wurde und dabei niemanden übervorteilte. Nach § 4 kam es zur Vereinigung der lutherischen Kirchenkasse mit der reformierten Armenkasse. Schleiermacher war auch zu persönlichen Opfern bereit, etwa zur Übernahme zwangsläufig größerer Konfirmandengruppen und deutlich vermehrter Kasualgeschäfte. Auch erklärte er sich bereit, sein bis dahin höheres Gehalt mit Marheinecke zu teilen und ihm von den 200 Talern, die er bis dahin mehr verdient hatte, 100 Taler abzutreten.24 Zur Durchführung der Union und zur Stärkung des Einheitsbewußtseins der Gemeinde gehörte schließlich die Regulierung der Mitarbeiterstellen. Von nun an sollte es lt. § 17 nur noch einen Kantor, einen Organisten und einen Küster geben.25 Ein Hauptgesichtspunkt für Schleiermacher war die Akzeptanz der Union in der Gemeinde, was in dem Passus zum Ausdruck kommt, die Gemeindeglieder hätte das Recht, sich zu dem Unionsentwurf zu äußern und ihn zu kritisieren: „So wenig wir indeß von Seiten unserer Gemeineglieder Einwendungen gegen dies Vereinigungswerk erwarten, so werden doch nicht eher als unmittelbar nach Ablauf dieses Jahres unsere Vorschläge bei der Behörde eingereicht werden, und wir bitten daß jedes Mitglied unserer Gemeinen, dem irgend etwas in dem neuen Verhältniß, wie wir es hier auseinander gesezt haben, noch dunkel ist oder bedenklich erscheint, sich in dieser Zwischenzeit darüber mit einem der beiden Herren Superintendenten besprechen möge, damit diese mit unserm Entwurf zugleich einen gewissenhaften Bericht über die Zustimmung unserer Gemeinen zu demselben abstatten."26
Die Gemeinde hatte ein Jahr Zeit, gegen die geplante Union Einspruch zu erheben. Da dies nicht geschah, konnte das am 10.1.1822 vom Konsistorium verfaßte Unionsstatut verabschiedet und am Sonntag Palmarum, dem 31.3.1822, die Gemeindeunion feierlich vollzogen werden. Im Jahre 1828 teilte Schleiermacher auf Anfrage des Konsistoriums in Bezug auf unterschiedliche Abgaben und Gebühren innerhalb der Gemeinde mit: „Da bei der DreifaltigkeitsKirche von einer reformirten und lutherischen Gemeine nicht mehr die Rede ist, und überall keine Ungleichheit stattfindet, so ist ad 1 und 2 von uns nichts zu berichten."27 Wesentlich für den langfristigen Erfolg des Unionswerkes an der Dreifaltigkeitskirche war zunächst die Offenlegung der theologischen Prämissen der Union: die Ablehnung des Meßkanons und Opfergedankens einerseits und die Be-
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Vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, S. 157. Unionsstatut § 5 und Ergänzungsbestimmung zu § 14, vgl. Reich, S. 483. 486. Zur Vermehrung der Kasualhandlungen, vgl. die Statistik bei A. Reich, S. 535f. Auch diese Regelung kam für die Gemeinde nicht abrupt, da ζ. B. Schleiermacher den lutherischen Kantor Rex schon seit vielen Jahren für die Kirchenmusiken in seinen Festgottesdiensten verpflichtet hatte, vgl. Exkurs I. 2.1. und Anhang 2), s. u. SW 1/5, S. 461. Zu den Konsequenzen der Union vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, S. 156ff. Zitiert nach A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, S. 169f.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
zugnahme auf die historische Stiftung Christi andererseits. Dabei wirkte sich die in Schleiermachers Reformations- und Kirchenverständnis gegründete Toleranz gegenüber einem historisch gewachsenen Brauchtum unionsfördernd aus, so daß er das ökumenische Prinzip der „Gemeinschaft in Verschiedenheit" freudig bejahen konnte. Zweck der Union ist ihm die praktische Kirchengemeinschaft in Gestalt der gemeinsamen Kommunion 28 , während er ausdrücklich darauf hinweist, daß historisch erklärbare Verschiedenheiten im Lehrbegriff bestehen bleiben: „Wir wollen nicht darauf ausgehen, sie [die Lehrverschiedenheiten], wie man sonst versucht hat, durch Disputation zu beseitigen, sondern indem wir voraussezen daß sie fortbestehen, wollten wir nur die Thatsache aufstellen, daß Christen von beiden Meinungen einträchtig und andächtig das Mahl des Herrn mit einander genießen können. Dieses wesentliche kann erreicht werden, wenn die ganze Abendmahlsliturgie die gemeinschaftlich anerkannten Hauptpunkte hervorhebend die streitigen Nebenpunkte übergeht, und die Austheilung des Abendmahls, anstatt polemisch an den Gegensaz beider Parteien zu erinnern, sich an den Worten Christi selbst begnügt, aus deren verschiedener Auslegung die verschiedenen Meinungen der Lutheraner und Reformirten hervorgegangen sind, und bei denen sich also auch jeder einzelne seiner ganzen Vorstellung kann bewußt werden."29 Außerdem kam dem Gelingen der Union zugute: die langfristige Einstimmung und geduldige Einführung 30 , die fur damalige Verhältnisse ungewöhnlich breite 28
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In der „Amtlichen Erklärung" von 1817 nennt er als die theologischen Klammern eines unierten Abendmahlsverständnisses: die Ablehnung der Vorstellungen von Verwandlung und Opfer, die Austeilung unter beiderlei Gestalt, und das Handeln nach dem Vorbild Christi: Brechen des gesegneten Brotes und Verteilen des Kelches. Vgl. SW 1/5, S. 298f. Das sind die w e s e n t l i c h e n Merkmale, alles andere ist zufällig und soll nach dem Prinzip christlicher Liebe geregelt werden. Dieses sehr pragmatische Denken hatte bereits Hofprediger Sack demonstriert, vgl. sein Promemoria vom 13.7.1798, in: E. Foerster, Die Entstehung der preußischen Landeskirche, Bd. 1, S. 105ff. Amtliche Erklärung SW 1/5, S. 302f. Dabei geht es Schleiermacher nicht um eine Unterdrückung der konfessionellen Traditionen, im Gegenteil: wirkliche Gemeinschaft kann nur entstehen im Wissen um die eigene Identität. Darum schreibt er über die Verschiedenheit beim Abendmahl: „Ist sie jetzt so gut als ganz bei vielen evangelischen Christen in Vergessenheit gekommen aus Mangel an Unterricht oder aus Gleichgültigkeit gegen die Sache, so ist das auch nicht löblich. Je mehr Eifer im Christenthum wieder rege wird, wie wir ja hoffen, um desto mehr werden auch diese Verschiedenheiten wieder hervortreten ..." Ebd. - Zu Schleiermachers Unionsverständnis vgl. auch Exkurs III. 3. Schleiermacher rät den Predigern: „Sie müssen sich mit ihren Gemeinen [...] in immer lebendigere Verbindung setzen um sich recht klar zu machen, wo gerade in ihrem Falle die meisten Schwierigkeiten sich finden werden, und mit ihren Kirchenvorständen sich über die einzelnen Punkte, welche in Ordnung zu bringen sein werden, im Voraus fleißig besprechen, damit ein günstiger Zeitpunkt nicht aus Mangel an Vorarbeiten versäumt werde." Wie steht es mit der Union? Märk. Provinzialblatt (1818), S. 154. - Und in der amtlichen Erklärung (1817) hatte Schleiermacher geschrieben: „So können wir doch gar nicht so allgemein verlangen daß jeder sich selbst ohne gründliche Prüfung und Ueberlegung, wie sie einem freien evangelischen Christen geziemt, sogleich zur Theilnahme solle bereit finden lassen, auf daß nicht die Gewissen verwirrt werden. Und lieber wollen wir daß diese Umgestaltung und Vereinigung, wie sehr sie uns auch am Herzen liege, etwas später
3.5. Das Unionsfest 1822
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Diskusionsbasis31 und nicht zuletzt die umsichtige verwaltungstechnische Vorbereitung. Es war gelungen, die Gunst der geschichtlichen Stunde zu nutzen, die sich nach der Kirchenunion von 1817 und in der Dreifaltigkeitskirche nach Heckers Tod 1819 mit dem Amtsantritt Marheineckes bot. Bei einer so langfristigen und gründlichen gedanklichen und organisatorischen Vorbereitung der Gemeindeunion darf man gespannt sein, wie sich diese in Wort und Lied des Vereinigungsgottesdienstes niedergeschlagen hat und welche Akzente Schleiermacher „im Konzert" mit seinen Kollegen Marheinekke und Küster setzen konnte. 3.5.2. Die Quellen zu Form und Ablauf des Gottesdienstes Da der liturgische Verlauf dieses Gottesdienstes für die Zukunft der fortan unierten Gemeinde Modellcharakter hat, da er den Geist der Union anschaulich macht und daher selbst auch Inhalt ist, sei er hier ausführlicher dargestellt. Über Form und Inhalt des Gottesdienstes informieren drei Primärquellen: 1) Der Einzeldruck „Gottesdienstliche Feier bei der am Palmsonntag, den 31. März, vollzogenen Vereinigung der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden", enthaltend das Altargebet Marheineckes, die Altarrede Küsters und die Predigt Schleiermachers, sowie eine Widmung an den König und die Lied- und Musiktexte.32 2) Das Liedblatt L 131, das den genannten Erstdruck um zwei Lied-QuellenAngaben ergänzt.33 3) Die amtliche Zeitungsmeldung in der Vossischen Zeitung Nr. 44 vom 11.4.1822 folgenden Wortlauts: „Am Palm-Sonntage, den 31. März, ward in der DreifaltigkeitsKirche zu Berlin die Vereinigung der beiden zu derselben bisher gehörigen Gemeinen, der reformirten und lutherischen zu Einer evangelischen Gemeinde feierlich begangen. An diesem festlichen Tage sprach der bisher lutherische Pastor Dr. Marheinecke mit Beziehung auf diese Feier, das Altargebet, und der Superintendent Küster vollzog die Union in einer am Altar gesprochenen feierlichen Rede, in welcher er zugleich, ehrfurchtsvoll des von Sr. Majestät dem Könige ihm und dem Superintendenten Marot mittelst nachstehender Allerhöchster Cabinets-Ordre gewordenen Auftrages erwähnte: ,Ihre Anzeige von der vollständigen Vereinigung der beiden zu der hiesigen Dreifaltigkeits-Kirche gehörenden evangelischen Gemeinen ist Mir sehr erfreulich gewesen, indem Ich hoffe, daß dieses Beispiel von den gesegnetsten Folgen seyn werde. Die Mitwirkung, welche Sie und die Geistlichen der Dreifaltigkeits-Kirche dabei bewiesen haben, anerkennend, beauftrage Ich Sie hierdurch ausdrücklich, den letzteren sowohl, als den vereinigten Gemeinen selbst, diese Aeußerung Meines
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allgemein werde, als daß irgend ein bedenkliches Gemüth sich beklagen solle, daß ihm durch eine nicht ganz vollkommen freie Theilnahme an neuen Formen seine Ruhe und Andacht in dem heiligsten Geschäft des Christen gestört sei..." SW1/5, S. 300. Vgl. Schleiermachers Vereinigungsschrift, SW 1/5, S. 461. Gedruckt bei Theodor Chr. Fr. Enslin, Berlin 1822. Vgl. Liedblatt L 131, s. u. Anhang 11 ).
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Wohlgefallens mitzutheilen. Berlin, den 26sten März 1822. Friedrich Wilhelm.' Nachdem hierauf der 11 Ite Psalm nach Naumann's Composition gesungen worden, hielt der bisher reformirte Pastor Dr. Schleiermacher die Predigt, in welcher er das Wesen dieser Union von ihrer Entstehung und den davon zu hoffenden Folgen darstellte. Es folgte hierauf das heilige Abendmahl, wobei der Superintendent Marot, unter dessen Aufsicht der reformirte Pastor bisher gestanden hatte, dessen Verbindung mit der Kirche nun aber aufhört, die Consecration verrichtete, und welches dann zuerst die beiden Superintendenten den drei Geistlichen der Gemeine und dann die beiden Pastoren den beiden Superintendenten und den Mitgliedern des Kirchen-Vorstands-Collegii austheilten, denen sich dann eine bedeutende Anzahl Communicanten von beiden bisherigen Gemeinen anschlossen. Das Dankgebet nach dem Abendmahl, welches der Prediger Herzberg verrichtete, beschloß die ganze Feier. Diese Vereinigung der beiden Gemeinen ist um so erfreulicher, da sie dieselben vollständig und auch in Hinsicht ihrer äußern Angelegenheiten zu einer einzigen evangelischen Gemeine verschmilzt, und das ganze Werk glücklich vollendet ist, ohne daß irgend ein Widerspruch Seitens der Gemeinen und der dabei betheiligten Kirchen-Beamten, ungeachtet sie in der hiesigen Residenz das erste Beispiel einer solch innigen Vereinigung gegeben haben, sich geäußert hätte. Möge das ehrenvolle Beispiel wahrhaft christlichen Sinnes und brüderlicher Eintracht, welches die mit der Leitung dieser Angelegenheit beauftragten Superintendenten, die Geistlichen der Kirche u. die beiden Gemeinen auf diese Weise ihren evangelischen Mitbrüdern gegeben haben, für diese eine dringende Aufforderung werden, demselben bald und in dem nämlichen einer heiligen Sache lediglich hingegebenen Sinn zu folgen." 34 Der Gottesdienst gipfelte in der feierlichen Besiegelung der Gemeindeunion. Zugleich sollte er demonstrieren, wie lutherische und reformierte Christen bei weitgehender Wahrung eigener angestammter Traditionen in Zukunft gemeinsam Gottesdienst feiern konnten. So mußten dem Zweck: der Union in der Gemeinde Akzeptanz zu verschaffen, die Mittel dienen: eine größtmögliche Kontinuität im liturgischen Ablauf. Die Rekonstruktion des Gottesdienstformulars wird einerseits erleichtert durch die vergleichsweise gute Quellenlage, andererseits erschwert durch die im speziellen Fall doppelte Rückbindung an liturgische Traditionen, von denen wir zu wenig wissen. Dem sich hier anschließenden Exkurs III. über Schleiermachers Gottesdienstformulare vorgreifend, nehme ich auf eine Erklärung Schleiermachers aus dem Jahre 1825 Bezug, aus der hervorgeht, daß es im Eingangsteil des Gottesdienstes beider Gemeinden keine Responsorien („Der Herr sei mit euch"), keine Kollekten(-Gebete) und im Verkündigungsteil keine Lesung und keine Präfati-
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Gleichlautender Bericht in der Spenerschen Zeitung Nr. 44 vom 11.4.1822 und in „Ireneon. Eine der evangelischen Kirchenvereinigung gewidmete Zeitschrift, hrsg. von D. Emst Gottfried Adolf Böckel." Bd. 1, Berlin 1823, Nr. XXII., S. 341 f.
3.5. Das Unionsfest 1822
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on gab.35 Daß Schleiermacher den regelmäßigen Gebrauch des Apostolikums ablehnte, ist bekannt, nur bei der Taufe sollte es seinen regelmäßigen Platz haben.36 Nach Predigt und Kirchengebet wurde der Gottesdienst mit einem Gemeindelied und daran anschließend mit der Abendmahlsfeier fortgesetzt.37 Beim Abendmahl hielt man sich an den Unionsritus von 1817.38 Unklar sind die Eröffnung der Abendmahlsfeier, da von der üblichen Anrede an die Kommunikanten hier nichts verlautet39, und ein möglicherweise gesungenes Sanctus.40 Die Schlußkollekte sprach Prediger Herzberg.41 Nach den Quellen läßt sich etwa folgender Ablauf rekonstruieren: Orgelvorspiel Eingangslied „Herr dir sei Dank und Preis gebracht" „Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen." (Marheinecke) Altargebet (Marheinecke) Hauptlied „Dir bleibe, Herr, geweihet" Altarrede und Proklamation der Union (Superintendent Küster) Kirchenmusik: 111. Psalm von Naumann (Chor unter Leitung von Kantor Rex)
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Vgl. Briefe IV, S. 446ff. und s. u. Exkurs III. 2.2. - Die Preußische Agende von 1829 stellt anknüpfend an die Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin (1822) die Präfation mit dem Sursum corda („Erhebet eure Herzen"), dem vere dignum („Recht ist es und wahrhaft würdig") sowie Sanctus und Benedictus (vom Chor gesungen) vor die Predigt. Diese Losreißung der Präfation vom Abendmahl war eine Neuerung König Friedrich Wilhelms III., vgl. R. Stählin, in: Leiturgia Bd. 1 (1954), S. 75f. Vgl. Ueber die neue Liturgie, SW 1/5, S. 202. Zum Problem vgl. auch Exkurs III. 3. Wie es allerdings im Unionsgottesdienst gehandhabt wurde, hängt auch von der lutherischen Gemeindetradition ab, über die ich noch zu wenig weiß. Daß ein Credo in diesem Gottesdienst fehlte, ist jedoch nur schwer vorstellbar. Einen den Predigtgottesdienst abschließenden Segen, wie ihn die Agenden von 1822 und 1829 vorsehen, hat es kaum gegeben. Schleiermacher bezeichnet den Segen als das „lezte Entlassungsgebet der Gemeine", PT, S. 163. In seiner Liturgieschrift von 1816 benennt er den protestantischen Konsens, „daß der Segen eine Beendigungsformel ist und die Gemeine mit demselben entlassen wird." SW 1/5, S. 204. Vgl. Exkurs III. 2.4. Vgl. die Alternativformulare „Von der Austheilung des heiligen Abendmahls", s. u. Anhang 5). Zum Sanctus vgl. Exkurs III. 2.3.3. Eine Präfation (beginnend mit „Der Herr sei mit euch ..." ) gab es wohl nicht, denn der Brauch von Responsorien wird von Schleiermacher ausdrücklich verneint, s. u. Exkurs III. 2.2. In der Dreifaltigkeitskirche pflegte man immer schon die Praxis der sogenannten „Vorbereitung", vgl. Unionsstatut (1822) § 12, so daß die sonntägliche Abendmahlsliturgie keine Beichtrede, kein Sündenbekenntnis und keine Absolution enthielt. So wird die Abendmahlsfeier evtl. mit einem Lied, dann aber mit einer Anrede an die Kommunikanten eröffnet worden sein, in der anknüpfend an die vortägliche Vorbereitungsrede noch einmal auf die Bedeutung des Abendmahls hingewiesen wurde. Zum Vorbereitungs- und Abendmahlsformular und zur Abfolge: Vaterunser Einsetzungsworte, s. u. Exkurs III. 2.2. Vgl. die Alternativformulare „Nach der Austheilung des heiligen Abendmahls", s. u. Anhang 5).
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Gemeindelied „Triumphire Gottes Stadt" Predigt über Phil 2 , 1 - 4 (Schleiermacher) Kirchengebet (Schleiermacher) Schlußlied „Preis dir o Gott und deiner Macht" Abendmahl: Anrede an die Kommunikanten - Vaterunser - Einsetzungsworte (Marat) - Kommunion der Geistlichen und der Gemeinde - sub communione evtl. Heilig (Chor) - Dankgebet (Herzberg) Segen 3.5.3. D a s L i e d „ V o r d e m Gebet" Der Gottesdienst beginnt nach d e m Präludium mit d e m Lied „Herr dir sei und Preis gebracht" aus d e m Bremer Gesangbuch (1812). Es handelt sich u m eine Bearbeitung der Strophen 7. 9 - 1 0 des zehnstrophigen Liedes „O dein seeligmachend Wort" v o n Justus Gesenius ( 1 6 0 1 - 1 6 7 3 ) . 4 2 D i e G B C sich nicht mit d e m Lied befaßt. Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 349 Mei. Oft klagt dein Herz Herr, dir sey Dank und Preis gebracht, daß wir zur Wahrheit kommen, daß deines Wortes Licht die Nacht und Blindheit weggenommen. Wir wissen: wer auf Christum traut, erlanget Heil und Leben; wer glaubend auf den Heiland schaut, dem wird die Schuld vergeben. 2. Dieß lehret uns, o Herr, dein Mund, wobey wir vest verbleiben; uns soll von diesem Felsengrund kein Engel selbst vertreiben. Es werde deine Gütigkeit, die uns zum Heil gewiesen, o Bundesgott, zu jeder Zeit durch unsern Dank gepriesen. 3. Zeuch durch dein Gnadenwort an dich, die noch den Irrweg gehen; steu'r allen Frevlern kräftiglich, die dir noch widerstehen! Nichts müsse, Herr, dein Lebenswort, nichts dessen Lauf verhindern! Erhalt' es weiter fort und fort bey uns und unsern Kindern!
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Dank dabei Herr, hatte
Liedblatt L 131, 31.3.1822 Mel. Was mein Gott will Herr dir sei Dank und Preis gebracht, Daß wir zur Wahrheit kommen, Daß durch dein Wort des Irrthums Nacht Stets mehr wird weggenommen. Es werde deine Gütigkeit, Die uns zum Heil gewiesen, In der Gemeine jederzeit Mit frohem Dank gepriesen. „Wer gläubig hin auf Christum schaut Dem ist die Schuld vergeben." Das ist das Wort dem wir vertraut, Das Wort voll Kraft und Leben! Das bleibt der Kirche Felsengrund, Den soll uns nichts zerstören; Durch deinen Geist mach ferner kund, Was unser Heil kann mehren. Zeuch Vater auch zu deinem Sohn, Die noch den Irrweg gehen; Und steure aller Frevler Hohn, Die frech dir widerstehen. Nichts müsse Herr dein Lebenswort In seinem Lauf verhindern; Erhalt es kräftig fort und fort Bei uns und unsern Kindern. [Brem. Ges.B.J
Vgl. A. Fischer/W. Tümpel, Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jhds., Bd. 2, Gütersloh 1905, Nr. 410, S. 427f.
3.5. Das Unionsfest 1822
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Das Lied mußte mit einer anderen Melodie versehen werden, da die Bremer Weise in Berlin unbekannt war.43 Schleiermacher wählte die Melodie „Was mein Gott will, gescheh allzeit".44 Der Bearbeiter hat kaum neue Reime gemacht, sondern vor allem Zeilen umgestellt. Schleiermachers Textrevisionen haben stilistische und theologische Ursachen. Aufgrund stilistischer Bedenken beseitigt er Enjambements (1/3,4), glättet (steure III/3), temperiert (Beseitigung des emphatischen doppelten „nichts" III/5,645) und stellt strophische Geschlossenheit her (II). Das doppelte „noch" (III/4) ersetzt er durch das überraschend kräftige „frech". Anthropomorphismen (Gottes Mund), alttestamentliche (Bundesgott) und mythologische Reminiszenzen (Engel) werden eliminiert. Theologisch fuhrt Schleiermacher das Weiterwirken des Geistes und die Mehrung des Heils ein (1/4; II/7-8). 46 Preis und Dank bekommt seinen Sitz in der Gemeinde. Die ausdrücklich proklamierte reformatorische Rechtfertigungslehre (11/1,2) und die reformatorische Ekklesiologie werden in eine Strophe gebracht. Die Christusbindung bietet Schleiermacher auch in der dritten Strophe als Heilmittel gegen den Irrweg an. In der jetzigen Gestalt ist das Lied ein Lied zum Preis des Wortes. Das Wort als „der Kirche Felsengrund" bildet den Zentralbegriff des Liedes, der in jeder Strophe begegnet. So handelt es sich um ein theologisch gewichtiges, den speziellen Charakter des Gottesdienstes jedoch noch nicht verratendes Lied. Von Liebe, Eintracht, kurz von Union, ist nicht die Rede, nur vom reformatorischen Fundament, das vor allem durch den strapazierten Begriff des „Wortes" zu Ausdruck kommt. Das Alter des Liedes sowie das Gewicht und die Allgemeinheit der theologischen Aussagen machen das Lied zu einem - von Schleiermacher für den Anfang des Gottesdienstes geforderten - symbolischen Lied.47 Es scheint kein Zufall zu sein, daß Schleiermachers Bearbeitung so dogmatisch gewichtige Begrif43
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Zur alten Straßburger Melodie (1530) vgl. J. Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder Bd. 4, Nr. 7553. Mit Gellerts „Oft klagt dein Herz" wurde die Melodie also nicht erst im Karlsruher Gesangbuch von 1836 verbunden (so Zahn), sondern bereits im Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 518. Die Melodie ist zuerst mit einem weltlichen Lied 1529 überliefert, vgl. EG, Nr. 364. Vgl. zur Überlieferung auch J. Zahn, Die Melodien, Bd. 4, Nr. 7568. - Zur zeitgenössischen Melodiegestalt, vgl. etwa Joh. Chr. Kühnaus Choralbuch (1786), Nr. 157. Dort ist die Melodie - dem Zeitgeschmack folgend - vereinfacht worden. Sie fließt ausschließlich in halben Noten dahin. Die rhythmischen und melodischen „Schnörkel" der Originalmelodie sind eingeebnet, doch ist der Melodieverlauf im wesentlichen gleich geblieben. Man kann damit rechnen, daß die Dreifaltigkeitsgemeinde das Lied in der isorhythmischen Form sang, da Kühnau von 1788 bis zu seinem Tode im Jahr 1805 Kantor an dieser Kirche gewesen war. S. u. Anm. 49 (Liedblatt L 23). Vgl. Schleiermachers programmatischen Ausspruch „die Reformation geht noch fort", in: Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende (1827), SW1/5 (S. 537-625), S. 625. Die Anklänge an Luthers „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort" sind unübersehbar.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
fe wie „Geist" und „Kirche" enthält, die das Lied trinitarisch akzentuieren und „symbolisch" qualifizieren.48 Die Abgrenzung von der katholischen „Irrlehre" ist für Schleiermacher Element des evangelischen Bekenntnisses. Streitbar und siegesgewiß ruft er dem Nachfolger Petri und allen Wankelmütigen das Wort von der Rechtfertigung zu: „Das bleibt der Kirche Felsengrund, den soll uns nichts zerstören."49 3.5.4. Das Altargebet Auf den trinitarischen Eingangsspruch: „Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen." folgt das obligatorische Altargebet, hier vom ehemals lutherischen Prediger Philipp Konrad Marheinecke gesprochen.50 Es handelt sich bei diesem Gebet um die in der ehemals lutherischen Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche gebräuchliche Fassung des alten, im Jahre 1713 offiziell eingeführten Morgengebets.51 In der von Schleiermacher für die Gemeindeunion der Dreifaltigkeitskirche 1822 eigens besorgten Textsammlung steht das von Marheinecke gesprochene Gebet unter den beiden Morgengebeten voran.52 Marheinecke hat sich überwiegend an das Formular gehalten. Er hat lediglich eine auf das Proprium des Tages bezogene Interpolation folgenden Wortlauts vorgenommen: „... insonderheit aber heute, dir zu danken, daß du uns an das Ziel geführt, an welchem wir gegenwärtig vor dir stehen, und daß du es dahin gebracht hast, daß diese beiden, dem äußern Anscheine nach verschiedenen Gemeinden sich vereinigt und nun auch den letzten Schein einer Trennung überwunden und beseitiget haben. Laß diesen Bund christlicher Eintracht und Liebe, den wir geschlossen haben, nun auch und allezeit in Segen unter uns bestehen. Laß dieses dir wohlgefällige Werk uns allen gereichen zur Stärkung und Erhöhung unsers Glaubens an dich und den du gesandt hast, deinen Sohn Jesum Christum, und laß es freudige Nachfolge finden in deiner ganzen evangelischen Kirche." Das Altargebet weist in seiner vorliegenden Form keine grundlegenden theologischen Differenzen zu Schleiermacher auf. Auch Marheinecke schneidet das Altargebet auf die speziellen Erfordernisse des Festtages zu, wobei verwundert, daß im Rahmen der Bitte um Segen für diesen Gottesdienst das gemeinsame Abendmahl keine Erwähnung findet. Sprachlich verbleibt Marheinecke im sehr 48
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Schleiermacher betrachtete ein symbolisches Eingangslied als Ersatz für das regelmäßig gesprochene Glaubensbekenntnis. Vgl. Schleiermachers Bericht an das Konsistorium vom 31.10.1832, Exkurs III. 2.2. (VIII.) Als Eingangsgesang bei Kirchenfesten war das Lied übrigens schon erprobt. Schleiermacher hatte es bereits am „dritten" Feiertag des Reformationssäkulums, am 2.11.1817, singen lassen. Im Vergleich mit der Fassung des Bremer Gesangbuchs weist das Lieblatt L 23 (2.11.1817) nur zwei geringfügige Abweichungen auf. Vgl. Einzeldruck (s. Anm. 32), S. 2f. Vgl. Exkurs III. 2.4.1. Vgl. Anhang 5).
3.5. Das Unionsfest 1822
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direkten Gebetsstil seiner Vorlage (dreimaliges „Laß!"). Die theologische und psychologische Zielsetzung des Gottesdienstes betreffend besteht völlige Übereinstimmung mit Schleiermacher. Vielleicht überrascht der irenische, die Lehrunterschiede fast nivellierende, Ton („der letzte Schein einer Trennung"), der freilich schon in der Gebets-Vorlage angelegt ist.53 Insgesamt dokumentiert das Altargebet den offenbar breiten Konsens, auf den die Union auch in der lutherischen Gemeinde stieß. Im Vergleich zu der von Schleiermacher in diesem Gottesdienst vertretenen Unionstheologie und -strategie fallt lediglich die das Unionswerk betreffende zweckgerichtete Bitte auf: „Laß es freudige Nachfolge finden in deiner ganzen evangelischen Kirche." 3.5.5. Das Lied „Nach dem Gebet' Das Lied steht im Jauerschen Gesangbuch (1813), Nr. 349 unter den Rubriken „Dem heiligen Geiste" und „Von der christlichen Kirche" sowie in der Unterrubrik „Die Kirchweihe", die zwei Lieder zählt. Der Verfasser ist unbekannt. Im BG fehlt das Lied. Jauersches Gesangbuch, Nr. 349
Liedblatt L 131, 31.3.1822
Psalm 138,2; I.Chr 17,8-12. Mei. Nun lob ' mein ' Seel' den etc. (Bittend)
Mei. Nun lob mein Seel etc.
Es bleibe dir geweihet, Herr unser Gott, dein Tempel hier! Dir ward er einst *(wird er heut') geweihet; stets ward *(sei) er auch beschirmt von dir! Wend' ferner ab *(ab von ihm) Gefahren, gib Pfleger treu bemüht, daß noch in fernen Jahren hier tön' des Enkels Lied. Kein Frevlerfuß betrete das theure Heiligthum! Es wohn' an dieser State nur deines Namens Ruhm!
Dir bleibe Herr geweihet Dies Haus wo deiner wird gedacht; Das heut uns wird erneuet Durch frommer Eintracht Liebesmacht. Es wohn an dieser Stäte Nur Jesu Christi Ruhm; Nur wer ihn sucht betrete Dies theure Heiligthum. Laß stets die Liebe walten, Die heut uns hier vereint; Den Eifer nicht erkalten, Der treu das Beste meint.
* Die eingeschlossenen Worte bei Einweihung einer Kirche.
2. Erhalte treue Lehrer, die rein dein Wort verkündigen! Gib stets hier fromme Hörer, die reich des Glaubens Früchte sehn! Wer irgend hierher komme, geh' besser weg von hier; der Gläubige und Fromme fühl' sich gestärkt in dir. Das zagende Gemüthe 53
Laß fest und rein die Lehrer Gemeinsam predigen dein Wort Zu Thätern mach die Hörer, Die sich erbaun an diesem Ort. Daß betend sich die Frommen Erheben Herr zu dir, Und wer verzagt gekommen, Gestärket geh von hier. Erweck uns und bewahre
Vgl. Anhang 5). Man vermißt die polemische Passage aus dem alten Morgengebet, den Dank für die Vertreibung der Finsternis, die Schleiermacher so wichtig war, und auf die er in seiner Predigt hinweist, s. u. 3.5.8.1.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis Jauersches Gesangbuch, Nr. 349
Liedblatt L 131, 31.3.1822
Psalm 138,2; I.Chr 17,8-12. Mei. Nun lob ' mein ' Seel ' den etc. (Bittend)
Mei. Nun lob mein Seel etc.
erheb' hier muthig sich; gerührt von deiner Güte, such' hier der Sünder dich!
In unserm Bund, o Gott, Wenn feiernd am Altare Wir preisen Christi Tod. [Jauersch. Ges.B.J
3. Wen Sorg' und Mangel drücken, wer einsam unter Menschen steht, wer mit des Kummers Blicken umsonst nach Hilf und Hoffnung späht, dem komm' hier Trost von oben in das beklommne Herz zu dir, o Gott, erhoben, vergeß' er seinen Schmerz. Und jedes heiße Flehen, das hier dich kindlich ehrt, laß es erfüllet sehen, wenns wahres Heil begehrt. 4. Die feiernd am Altare verkündigen des Heilands Tod, erwecke und bewahre zur Heiligkeit dein Geist, o Gott. Die in der Taufe Weihe dir werden dargebracht, veredle und erfreue des Christenglaubens Macht. Die hier vor dir beschwören der Ehe heiigen Bund, laß treu im Wandel ehren was dir gelobt der Mund. 5. Erhör' uns, Herr! so schauen als Himmels Vorhof wir dies Haus; noch in der Gräber Grauen strömt es dann seinen Segen aus. Es nah' nun auch die Stunde, die uns von hinnen ruft: die hier erhaltne Kunde folgt uns selbst in die Gruft, daß einstens höhre Sonnen sich uns zum Tempel weihn, daß reinem Preises Wonnen uns ewig dort erfreun.
Der Festlichkeit des Tages und des Textes entsprechen Festlichkeit und Umfang der Melodie. Die zwölfzeilige jambische Melodie gehört zu den sogenannten
3.5. Das Unionsfest 1822
299
„großen Strophen" und wird traditionell mit Lob- und Danktexten verbunden.54 Daß die Melodie aus dem Reformationsjahrhundert stammt, erscheint der Feier des Tages angemessen. Schleiermacher hat aus seiner Quelle zwei Strophen ausgewählt bzw. neu gebildet.55 Dabei bedient er sich des Ideen- und Wortmaterials und fugt es neu zusammen. Selten ist er sprachschöpferisch, meistens arrangierend tätig. So setzt er die ersten vier Zeilen der vierten Strophe an den Schluß seiner zweiten Strophe. Durch den Austausch der Apposition „Es" gegen das Objekt „Dir" im ersten Vers der Kopfstrophe akzentuiert er nicht nur die Gottesanrede, es bildet sich in den ersten vier Zeilen auch ein Stabreim, ein Zufall? Doch die meisten Textänderungen scheinen durch theologische Überlegungen bzw. konkrete Aktualisierungen verursacht zu sein. Im Zuge solcher Aktualisierung wird Tempel durch Haus ersetzt. Schleiermacher dichtet das Lied um im Blick auf den speziellen Kasus: „das heut' uns wird erneuet durch frommer Eintracht Liebesmacht." Die bisherige Simultankirche wird als die erste unierte Berliner Kirche „erneuet durch frommer Eintracht Liebesmacht." Die Union wird nur Bestand haben, wenn der Macht der Liebe, d. h. der konfessionellen Toleranz Raum gegeben wird, der Liebe, die die Gemeinschaft und deren Bestes sucht. Der „nicht erkaltende Eifer" scheint ein verbales Stereotyp im Kontext der Unionsveranstaltung gewesen zu sein.56 Die in der Vorlage genannten Gefahren werden von Schleiermacher präzisiert: Gefahren gehen für diese Gemeinde von innen aus: von Lieblosigkeit, Intoleranz, Selbtsucht, erkaltendem Eifer. Die singende Gemeinde bittet allein um den Ruhm Jesu Christi. Denn Jesus Christus ist Chiffre dieser Liebe und der interkonfessionelle Nenner.57 Bei der Textrevision beharrt Schleiermacher auf dem Christusnamen und tauscht „deines Namens Ruhm" gegen das exklusive „Nur Jesu Christi Ruhm" aus. Die zweite Strophe ist wie in der Vorlage den Lehrern, d. h. den Predigern gewidmet. „Laß fest und rein die Lehrer gemeinsam predigen dein Wort." Zwei Gedanken sind Schleiermacher wichtig: Der gemeinsame Dienst soll und darf die Reinheit der Lehre, d. h. das historisch gewachsene Bekenntnis, nicht auf54
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Zur Festlichkeit der „großen Strophe", vgl. Schleiermacher, PT, S. 184. - Wegen der sehr synkopischen Rhythmik der Originalweise ist auch hier mit einer vereinfachten Form zu rechnen, vgl. Kühnaus Choralbuch (1786), Nr. 126. Der durch den Wechsel von halben und ganzen Noten hervorgerufene Swing der Ursprungsweise (latenter 3/2 Takt) geht in Kühnaus Melodiefassung durch die rhythmische Vereinförmigung verloren. Der Melodieverlauf ist aber in etwa erhalten. Die Strophen 3 bis 5 der Quelle fehlen aus Gründen der Zeitökonomie des Gottesdienstes, wegen ihres individualistischen Duktus (III), wegen der Anspielungen auf pastorale Amtshandlungen (IV) und wegen des eschatologischen Ausgangs (V). In dem Aufsatz „Wie steht es mit der Union?" widerspricht der Verfasser (Schleiermacher?) der landläufigen Beobachung von „einem erkaltenden Eifer". Märkisches Provinzialblatt 1818, S. 128. Was besonders bei der Einigung im Streit um die Einsetzungsworte virulent wurde. Hier hatte man sich schließlich auf die Herrenworte einigen können, s. u. Exkurs III. 2.3.1.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
heben und die Festigkeit nicht aufweichen. Einheit in Mannigfaltigkeit! Und die Gemeinde wird aufgewertet: Zwar behält Schleiermacher wohl nicht nur aus reimtechnischen Gründen das Wort „Lehrer" bei.58 Doch werden die Hörer unter Bezugnahme auf Jak 1,22 sogleich als Täter angesprochen: „Zu Thätern mach die Hörer!" Dahinter mag Schleiermachers ekklesiologische und kirchenrechtliche Auffassung stehen von der Gemeinde als Subjekt des kirchlichen Handelns, die seine gesamte kirchenpolitische Wirksamkeit motiviert hat. Auf Art und Weise des praktischen Tätigwerdens der Gemeindeglieder wird Schleiermacher in der Predigt näher eingehen. Doch hinter dieser Textänderung steht auch eine liturgische Maxime. Nach Schleiermachers Theorie ist der evangelische Gottesdienst ein darstellendes Handeln zum Zweck der Erbauung, ein gegenseitiger Austausch des religiösen Bewußtseins zwischen Klerus und Laien: „Zu Thätern mach die Hörer, die sich erbaun an diesem Ort." Der Gottesdienst dient der Erhebung der Frommen und der Stärkung ihres religiösen Bewußtseins. Die Frömmigkeit ist nicht Ziel, sondern Ursache des Gottesdienstes: „Daß betend sich die Frommen erheben Herr zu dir, und wer verzagt gekommen, gestärket geh von hier." Das fur Schleiermachers Liturgik signifikante Verbum „erbauen" darf nicht fehlen, wenn von Sinn und Zweck des Gottesdienstes die Rede ist (II/4).59 In diesem Sinne verwirft er die polarisierende Tendenz von Frommen und Frevlern, und auch „der Sünder" (Jauersches Gesangbuch 11/12) fehlt. Dagegen ist das Beten (II/5) dasjenige gottesdienstliche Element, in dem sich Liturg und Laie vereinigen. In den interpolierten Versen der zweiten Strophe geht Schleiermacher explizit auf die neu errungene Abendmahlsgemeinschaft ein: „Erweck uns und bewahre in unserm Bund, o Gott, wenn feiernd am Altare wir preisen Christi Tod." Der in Strophe 4 der Vorlage begegnende Gedanke von der Verkündigung bzw. dem Preis des Todes Christi stammt aus der Abendmahlsvermahnung IKor 11,26. Schleiermacher formt ihn in inklusive Sprache um: „Wenn feiernd am Altare w i r preisen Christi Tod." Der Begriff des Bundes und der Hinweis auf das Feiern am Altare sind Metaphern für die Abendmahlsgemeinschaft, die größte Errungenschaft der Union. Der von Schleiermacher zweimal eingebrachte theologische Begriff der „Liebe" korrespondiert dem auffälligen Schweigen von einem etwaigen Nacheifern dieser Union. Es geht um die Segensbitte für dieses Haus, hier und heute. Man vergleiche den häufigen Gebrauch des Demonstrativpronomens „dies" (viermal). Eine im Vergleich zur Vorlage auffällige Veränderung ist die Betonung des Subjektes „wir". Während es in den ersten beiden Strophen der Quelle nur einmal formelhaft begegnet („Herr unser Gott"), wird es von Schleiermacher gleich fünfmal gebraucht.
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Schleiermacher spricht im Kontext der Unionsvorbereitung auch ganz ungezwungen von „Lehrern", z. B. in seiner Vereinigungsschrift „An die Mitglieder ..." von 1820, SW 1/5, S. 455-462. „... da aber die Erbauung Zwekk des Gottesdienstes ist..." PT, S. 215.
3.5. Das Unionsfest 1822
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In seiner jetzigen Strophenauswahl führt das Lied mitten hinein in diesen Gottesdienst und sein Thema: die Union. Ausgehend vom Gedanken der Kirchweihe durch die Vereinigung zweier Gemeinden, die durch das Band der christlichen Liebe gehalten wird, fuhrt es hinein in die konkreten Inhalte der Union, die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, und damit auch hinein in den festlichen Unionsgottesdienst, den lutherische und reformierte Geistliche mit ihren Gemeinden gemeinsam feiern. So spricht das Lied sowohl die Bitte um dauernden Segen des Unionswerkes als auch die Bitte um Erweckung und Bewahrung in diesem feierlichen Unionsgottesdienst aus und fuhrt stringent zu Unionsakt und Predigt hin. 3.5.6. Die Altarrede Die Altarrede, die in der feierlichen Proklamation der Union gipfelt, wird von dem lutherischen Superintendenten und Prediger an der Friedrich Werderschen Kirche, Samuel Christian Gottfried Küster (1762-1838), gehalten.60 Die Rede beginnt mit einem einleitenden kurzen Gebet, das Lobpreis mit der Bitte um Segen und dauerhafte Eintracht verbindet. Als biblisches Leitmotiv seiner Rede verwendet Küster Rom 11,34 „Wer hat des Herrn Sinn erkannt?" (5), und er beschreibt den Unionsschluß mit schwärmerischen Worten als das Ziel einer langen und dunklen Geschichte der Christenheit: „Aber was uns in Rücksicht auf die Vergangenheit unerforschlich ist, das ist es nicht in Rücksicht auf die Gegenwart. Was jetzt geschehen soll, darüber ist des Herrn Sinn unzweifelhaft und klar." (6) Mit Anspielungen auf Eph 2,14 und Joh 10,16 (7) rückt Küster den zu vollziehenden Unionsschluß als ein langerwartetes Erfüllungsgeschehen in eschatologisches Licht: „Der Herr hat in diesen unsern Tagen viel zu vernehmbar darüber selbst gesprochen, als daß es einer weitläufigen Erklärung seiner von tausend und aber tausend Gemüthern verstandenen Worte bedürfte." (7) Doch die Union hat nicht nur das göttliche Wohlgefallen und die biblische Bestätigung für sich, sondern vor allem das Wohlwollen des Königs: „Was der fromme Sinn des Regenten in unleugbarer Uebereinstimmung mit der heiligen Schrift und zum offenbaren Segen für die Kirche, nicht gebietet - denn unser König will nicht seiner Unterthanen Ueberzeugung Gewalt anthun - sondern von ihrer eigenen freien Entschließung erwartet, das ist auch in dem göttlichen Willen gegründet. Folgen wir daher in dieser Angelegenheit dem Wunsch und eigenen Beispiel unseres Königs; so gehorchen wir zugleich dem Befehl Gottes und Jesu Christi." (8)61 In exemplarischer Weise preist der lutherische Superintendent die sprichwörtliche „Allianz von Thron und Altar", in deren Konse-
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Die in den Text eingefügten Seitenzahlen beziehen sich auf den Einzeldruck „Gottesdienstliche Feier..." Berlin 1822, S. 4 - 1 1 . Zur Unionspolitik Friedrich Wilhelms III. vgl. E. Foerster, Die Entstehung der preußischen Landeskirche Bd. 2 (1907), S. 2 6 - 5 4 ; zur Instruktion über die Union von 1822, ebd. S. 3 2 4 - 3 4 5 .
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quenz göttlicher Segen als landesherrliches Wohlwollen erfahrbar schien. Immerhin weist Küster auch darauf hin - und Schleiermacher wird es gern gehört haben - , daß der König die Gewissensfreiheit seiner Untertanen achte, und daß die Union der Wille nicht nur der Geistlichen, sondern ausdrücklich auch des Kirchenvorstands und beider Gemeinden sei. Als unmittelbare Wirkung des Unionsschlusses erwartet Küster das Nacheifern anderer Gemeinden: „... und wem öffnete sich nicht die frohe Aussicht, daß das durch diese beide Gemeinden aufgestellte erste Beispiel einer solchen Vereinigung in unserer Hauptstadt von dem gesegnetsten Einfluß auf andere Gemeinden sein werde." (10) Bevor Küster den rechtlichen Vereinigungsakt vornimmt, versichert er nochmals die Gemeinde des allerhöchsten Wohlgefallens: „Darum ist sie auch Sr. Majestät dem Könige höchst erfreulich, und Er hat uns ausdrücklich beauftragt, sowohl den Geistlichen dieser Kirche, deren Mitwirkung zur vollendeten Vereinigung Er anerkennet, als auch den vereinigten Gemeinden die Aueßerung Seines Wohlgefallens mitzutheilen." (10) Es folgt die Proklamation der Union. Die feierliche Unionsformel lautet: „Im Namen Gottes und Jesu Christi erkläre ich daher hiermit die beiden zu dieser Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden für Eine ganz ungetrennte evangelische und hebe in Ansehung ihrer allen bisherigen Confessionsunterschied für immer auf. Verschwunden müssen sein aus ihr von heute an die Namen, welche seit der Wiederherstellung der Kirche Christi durch Luther und Zwingli die Mitglieder der von ihnen gestifteten evangelischen Kirchen unterscheiden, und diese Gemeinde sei mit ihren jetzigen und künftigen Predigern, ihren jetzigen und künftigen Mitgliedern fortan Eins in dem Namen, in der Art und Weise, wie die heiligen Sacramente ausgespendet werden, und in dem gemeinsamen Besitz der Kirchengüter." (lOf.)
Nach der feierlichen Proklamation der Union segnet Küster die nunmehr vereinigte Gemeinde: „Sei mir nun gesegnet in deinem gegenseitig geknüpften ehrwürdigen Bunde, du theure, erste evangelische Gemeinde unserer Hauptstadt. Dein Bund stehe durch Gottes Gnade fest und unbeweglich, so lange sich in dieser Kirche eine Gemeinde versammelt, und er sei das Vorbild, dem bald alle Gemeinden dieser Stadt folgen mögen ..." (11) Mit einer trinitarischen Segensformel schließt die Rede ab. Küster spricht eine kräftige, bildreiche, gelegentlich pathetische Sprache („Apostel des 16. Jahrhunderts") (6). Er rückt den Unionsschluß schwärmerisch ins Licht endzeitlicher Erfüllung („Jetzt ist die Zeit erfüllet") (6). Die Union der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden soll Signalwirkung für Berlin und ganz Preußen haben. Mit der Äußerung dieser Erwartung liegt der königliche Superintendent genau auf der kirchenpolitischen Linie seines Königs und läuft Gefahr, sich mit seinem Reden und Handeln politisch instrumentalisieren zu lassen. Wie so manchem preußischen zumal lutherischen Theologen fiel es auch Küster schwer, das göttliche Heilswerk vom politischen Tagewerk zu unterscheiden.
3.5. Das Unionsfest 1822
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3.5.7. Die Kirchenmusik 3.5.7.1. Die Figuralmusik Auf den feierlichen Akt der Union folgt stimmungsgerecht eine festliche Chormusik: „Der einhunderteilfte - Der Ulte Psalm - Vierstimmig componirt für die Berliner Singakademie von Naumann 1796".62 Johann Gottlieb Naumann (1741-1801) war Hofkomponist und kurfürstlicher Kapellmeister in Dresden. Er hatte bei Tartini in Padua und bei Hasse in Venedig die italienische Oper studiert, schrieb aber auch Kirchenmusik im Stil der lyrischen Chorkantate und im Geiste Klopstocks.63 Den 111. Psalm widmete Naumann der Berliner Singakademie, die er 1796 besucht hatte. Es handelt sich um eine Psalmkomposition für vierstimmigen gemischten Chor, Soli und Orchester.64 Dreifaltigkeitskantor Rex hatte Teile dieses Werkes, das zum Repertoire der Singakademie gehörte, schon früher aufgeführt. 65 Auch beim Unionsfest kommen nur sechs, z. T. fragmentierte, Sätze des insgesamt achtsätzigen Werkes zur Auffuhrung. Neben Mitgliedern der Singakademie wirkte wahrscheinlich noch Dreifaltigkeitsorganist Kühnau mit, der den falligen Orchesterpart auf der Orgel gespielt haben dürfte. 66 Der erste Satz „Halleluja!", ein Andante Maestoso im gravitätischen 4/2-Takt für Chor (2 Soprane, Tenor und Baß) und volles Orchester (mit Hörnern, Trompeten und Pauken) eröffnet das Werk mit einer festlichen Introduktion in CDur, wobei Orchester und Chor nacheinander, gleichsam doppelchörig, einsetzen sowie Tutti und Soli responsorial miteinander verkehren. Überwiegend Halbe- und Viertelnoten imitieren den Choralton. Das Halleluja ist trotz versetzter Einsätze homophon gesetzt, die Instrumentalstimmen laufen meist colla parte mit. Die Soli werden nur von Oboen und Generalbaß begleitet.67 In gleicher Besetzung folgt ein Andante „Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen im Rath der Frommen und in der Gemeine", in dem wiederum chorische und solistische Passagen abwechseln. Typisch für die ariose Melodik ist der affekthafte Quintsprung auf dafncke], auf ga[nzem] und auf Rath. Zu Beginn liegt der Quintsprung bedeutsam auf den Worten „dem Herrn". Sonst gibt es
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Abschriften der Partitur besitzen die SBB (Sign.: Mus. ms. 15951) und die Sächsische Landesbibliothek Dresden (Sign.: Mus. 3438-E-509). Z. B. Unsere Brüder (1785) und das berühmte Vater unser (nach Klopstock, 1799), vgl. Brockhaus/Riemann Musiklexikon 1979, Bd. 2, S. 199. Vgl. zu Naumann auch die Monographie von Richard Engländer, Johann Gottlieb Naumann als Opernkomponist, Leipzig 1922. Da hier Gewißheit über das aufgeführte Stück besteht, gehe ich etwas ausführlicher als sonst auf die Kirchenmusik ein. Auf einem Liedblatt für das Bibelfest 1819, das traditionell in der Berliner Dreifaltigkeitskirche stattfand, finden sich die Texte der ersten drei Sätzen der Psalmkantate, an die sich zwei Strophen von Stegmanns „Ach bleib mit deiner Gnade" anschließen, vgl. Sammelband Textbücher SBB Mus.T 94, Nr. 17. Zur Auffuhrungspraxis in der Dreifaltigkeitskirche vgl. Exkurs I. 2.3. Vgl. die erste Partiturseite, s. u. Anhang 11).
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wenig Verzierungen, lediglich bei Gemeine einen Achtelvorhalt auf die Silbe mei. Der Satz weist überwiegend syllabische Textbehandlung auf.68 Rex fahrt fort mit einem Soloterzett (2 Soprane und Tenor): „Was er ordnet das ist löblich und herrlich und seine Gerechtigkeit bleibet ewiglich", ein nur mit Oboen und Generalbaß begleitetes tänzerisches Andantino (3/4-Takt). Das 4-taktige Thema des Ritornells schwebt, weil die erste Zählzeit übergebunden ist. Die Singstimmen enthalten Figuren und Koloraturen (auf bleibet, auf herrlich und ewig). Über die Motiveinwürfe: „das ist löblich", „löblich und herrlich" schraubt sich der Solopart bis zum g 2 in die Höhe. Melodisch lebt der Satz von dem langsamen sequenzartigen Aufstieg und dem schnellen Abstieg. Es folgt der Chor: „Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige Herr", ein 4-stimmiges Fugato über ein 6-taktiges Thema, das in ein homophon gesetztes Adagio mit dem Text: „Der gnädige und barmherzige Herr" mündet. Das Orchester, bestehend aus Hörnern, Oboen und Streichern, verstärkt die Singstimmen. Naumann hat mit der Fuge eine Probe seines kontrapunktischen Könnens (z.B. Engfuhrung) gegeben, das freilich nicht an J. S. Bach gemessen werden darf. Die Deklamation der Psalmprosa erweist sich als schwierig. " τ
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Ein kurzes Instrumentalzwischenspiel im Gestus einer französischen Ouvertüre schließt mit dem Fugenmotiv die Chorfuge ab und leitet über zum fünften Satz (Adagio): „Er giebt Speise, denen so ihn furchten. Er gedenket ewiglich an seinen Bund." Besetzt sind Soli und Chor, Hörner, Flöten, Streicher und Generalbaß. Nach dem Vortrag des 4-taktigen Themas durch ein Sopransolo wechseln sich Chor und Duett (2 Soprane) mit der gleichen Melodie ab. Auffallig sind die maniriert wirkenden Tritonussprünge und die „verschnörkelte" Melodiefuhrung. Soprano
Er giebt Spei - se
d e - n e n so ihn fürch - ten,
er
ge-den-ket
e - wig -lieh an
sei
-
nen
Bund.
Das folgende Moderato auf Ps 111,6-8: „Er lässet verkündigen seine gewaltige Thaten seinem Volk ..." (103 Takte) fehlt auf dem Liedblatt. Stattdessen schließt sich ein Adagio an: 68
Musikalisch wird der Satz fortgeführt mit Ps 111,2: „Groß sind die Werke des Herrn, wer ihrer achtet, der hat eitel Lust daran." Dieses hier ausgelassene Chorstück (80 Takte) ist dramatischer komponiert, z.B. mit effektvollen Streichertremoli.
3.5. Das Unionsfest 1822
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„Er sendet eine Erlösung seinem Volk. Er verheißet, daß sein Bund ewiglich bleiben soll" für Sopran Solo, ein kurzes (14 Takte) durch Dreiklangsmelodik gekennzeichnetes Stück. Schließlich folgt der Chor: „Heilig und hehr ist sein Name" mit vollem Orchester. Das Thema wird zunächst mottoartig, mit imitierenden Einsätzen in doppelten Notenwerten vorgestellt, bevor sich die Melodie stufenweise, zuletzt chromatisch, in die Höhe schraubt. Auf ein kurzes Soloquartett folgt ein triumphales Schlußtutti mit Paukenwirbel.69 Zur stilistischen Stellung merke ich an: Die einzelnen Sätze sind durchkomponiert, es gibt keine da-capo-Form. Naumann pflegt eine schlichte Harmonik sowie einfache Stufen- oder Dreiklangsmelodik, während chromatische Partien seltener sind. Gelegentliche Affekte und Koloraturen in den Solopassagen erinnern an die Oper, aber die meisten Texte werden deklamiert. Naumann befleißigt sich überwiegend einer homophonen Stimmführung, doch begegnen auch Fugen und polyphone Elemente. Die Instrumente gehen häufig colla parte mit den Singstimmen mit. Diese verbleiben auch bei Soli im Stimmumfang von Chorsolisten. An einigen Stellen begegnet in Satztechnik und Instrumentation Händeische Pracht. Naumann fordert ein vorklassisches Orchester mit Flöten, Oboen (ohne Klarinetten), Fagotten, Hörner, Trompeten, Pauken, Streichern und Generalbaß.70 Mit Kontrapunkt und Generalbaß hat Naumann die wichtigsten Kriterien des sogenannten „Kirchenstils" erfüllt. Der Komponist knüpft mit seiner empfindsamen Melodik und dem gelegentlich imitierten Kontrapunkt bewußt an den Berliner Kirchenstil etwa Carl Heinrich Grauns an (f 1759). Insgesamt dürfte der lyrische Charakter der Komposition dem Geschmack Faschs und Zelters und damit dem - durch die Singakademie geprägten - Geschmack Schleiermachers entsprochen haben71, letzterem gerade auch wegen der ausschließlichen Verwendung des Bibelwortes. Der von Naumann vertonte Luthertext wird völlig unverändert geboten. Madrigalische Texte fehlen. Eine Gattungsbestimmung fallt schwer. Während die Abfolge der Sätze und die solistischen Einlagen an die Kantate erinnern, steht die musikalische Textbehandlung und die weitgehend unselbständige Führung der Instrumente der Motette nahe. Rex hat die Komposition etwa um die Hälfte gekürzt. Stärker opernhafte und dramatische Stücke wie der zweite Teil des zweiten Satzes aber auch der lange Eingangsteil des sechsten Satzes sind ausgelassen. Das Werk endet in der Auf69
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Die letzten beiden Sätze auf Ps 111,10: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang" ein Andante für Tenor und Bass und: „Wer darnach thut, des Lob bleibt ewiglich", ein Allegro Moderato für Soli, Chor und Orchester wurden bei der gottesdienstlichen Aufführung am 31.3.1822 übergangen. Letzterer galt bis ins 19. Jhd. hinein als genuines Stilmittel der Kirchenmusik, während er in der Symphonie seit der Mannheimer Klassik mehr und mehr verdrängt wurde. Peter Kopp bezeichnet „ihre emotionale Wirkung" als das Hauptmerkmal der Naumannschen Kirchenmusik, vgl. P. Kopp, Wer war Johann Gottlieb Naumann, in Musik und Kirche 5/2001, S. 316.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
führungsfassung mit einem triumphalen Schlußchor, an den das Gemeindelied „Triumphire Gottes Stadt" sinnreich anschließt.72 Vor allem aber gab die traditionelle typologische Deutung des Psalms auf das Abendmahl den Ausschlag zugunsten der Aufführung dieses Werkes.73 Besonders die letzten drei Stücke aus Ps 111,4.5.9 lenken die Gedanken suggestiv auf das Abendmahl hin, und der triumphale Chor „Heilig und hehr ist sein Name" weist auf das - auch in der Dreifaltigkeitskirche übliche - Sanctus voraus. 3.5.7.2. Das Lied vor der Predigt Die Kirchenmusik schließt mit zwei Gemeindestrophen. Schleiermacher macht keine Quellenangabe. Naheliegend ist der Blick in die bereits benutzten Gesangbücher. Das Bremer Gesangbuch (1812) beinhaltet das Lied des von Schleiermacher geschätzten Johann Andreas Cramer (1723-1788) in einer Kurzfassung. 74 Im BG fehlt das Lied. Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 346
Triumphire Gottes Stadt, die sein Sohn erbauet hat! Kirche Jesu freue dich! Der im Himmel schützet dich. 2. Deine Feinde wüthen zwar; zittre nicht, du kleine Schaar! Denn der Herr der Herrlichkeit Machet deine Gränze weit. 3. Nimmt der Völker Toben zu; laß sie wüthen, leide du! Leide mit Geduld und Muth! Blute! Fruchtbar ist dein Blut.
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Liedblatt L 131, 31.3.1822 Mei. Nun komm der Heiden etc. Triumphire Gottes Stadt, Die sein Sohn erbauet hat! Kirche Jesu freue dich, Der im Himmel schützet dich. Ja der Herr der Herrlichkeit Mache deine Grenzen weit. Er verleih dir Gnad' und Huld, Einigkeit, Muth und Geduld.
Die weisheitliche Schlußmahnung Ps 111,10 klappt auch inhaltlich nach und wurde daher gestrichen. Schon Luther schlägt im Babstschen Gesangbuch (1545), Nr. IXI., Ps 111 als CommunioPsalm vor: „Der CXI. Psalm, den man singen mag, wenn man das hochwirdige Sacrament reicht." Ähnlich bereits im Klugschen Gesangbuch (1533 2 ). Im 16./17. Jhd. bürgerten sich Figuralmusiken sub communione ein, bei denen u. a. der 111. Psalm gesungen wurde, z. B. vertont von M. Praetorius, vgl. Leiturgia, Bd. 4, S. 693. Auch im reformierten Raum gehörten Psalmlieder sub communione zur Mahlfeier, z. B. das Lied „Ich dank dir, Herr, von Herzen rein" auf den 111. Psalm, vgl. die reformierte preußische Kirchen-Agenda von 1717, S. 84f. Es handelt sich um die unverändert aufgenommenen ersten drei Strophen des elfstrophigen Liedes nach dem 18. Psalm, vgl. J. A. Cramers Sämmtliche Gedichte, Carlsruhe 1783, Nr. 129. Vgl. das vollständige Lied etwa auch in dem von Cramer herausgegebenen Schleswigschen Gesangbuch, Altona 17812, Nr. 489. - Zur Wertschätzung Cramers, vgl. PT, S. 181 und s. o. Exkurs II. 3.1.
3.5. Das Unionsfest 1822
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Im Bremer Gesangbuch fehlt die Melodieangabe, doch ist das Lied bereits in Cramers Gesangbuch mit der alten Luther-Weise von 1524 überliefert75, so daß die unglückliche Wahl der unzeitgemäßen Melodie (an Palmarum!) nicht Schleiermacher anzulasten ist. Doch kann die Liedwahl auch als eine Reverenz an den Melodisten und Reformator Martin Luther verstanden werden. Schleiermacher hat die drei Bremer Strophen zu zweien „verschmolzen", indem er aus den Quellenstrophen zwei und drei die ihm wichtigen Motive herausgezogen hat. Dabei erscheinen in Strophe 2 erst die göttlichen Eigenschaften, das in der Vorlage fehlende Paar: Gnad' und Huld, dann in der Schlußzeile die fìir das Gelingen der Union erforderlichen menschlichen Eigenschaften: Einigkeit, Mut und Geduld. Während sich die Worte Geduld und Mut schon in der Vorlage finden, hat Schleiermacher die wichtige Einigkeit selbst hinzugefugt. Interessanterweise transformiert Schleiermacher die zweite Strophe in den gebetsformigen Optativ, aus theologischen oder phonetischen Gründen?76 Typisch für Schleiermachers Bearbeitung ist wieder die normierende Binnenperspektive der Kirche, der die Bilder vom Wüten der Feinde und vom Toben der Völker zum Opfer fallen. Auch das Motiv des Leidens fällt. Er paßt nicht in die Konzeption dieses Gottesdienstes und schon gar nicht an diesen liturgischen Ort.77 Mit dem Lied antwortet die Gemeinde auf die Chormusik, den 111. Psalm von Johann Gottlieb Naumann. Das Incipit „Triumphire Gottes Stadt" bildet einen idealen Anschluß an den triumphalen Chor „Heilig und hehr ist sein Name". 3.5.8. Die Predigt 3.5.8.1. Form und Inhalt Die Predigt wurde von Schleiermacher, dem ehemals reformierten Prediger, gehalten.78 Auf den Kanzelgruß frei nach 2Kor 13,13 folgt sogleich die Verlesung des Predigttextes Phil 2,1-4. Schleiermacher verzichtet auf das traditionelle Exordium, wie meistens in den späteren Jahren und damit auch auf den Kanzelvers.79 75
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Vgl. zur Melodie J. Zahn, Die Melodien, Bd. 1, Nr. 1174. Kühnau bringt das Lied in seinem Choralbuch (1786) unter der Nr. 123. Die Punktierung in der zweiten Zeile hat er aufgelöst, aber den Melodieverlauf erhalten. Ohne Schluß-t lassen sich die auf die Verben folgenden Pronomina besser aussprechen! Nicht erst hier fällt auf, daß der Kasus des Gottesdienstes das de tempore des Sonntags (Palmarum) völlig verdrängt hat. Ich beziehe mich zwecks besserer Kommunizierbarkeit auf den Abdruck der Predigt im vierten Band der Predigten, SW II/4, S. 162-176. Die Seitenzahlen sind in den Text eingefügt. Zu Schleiermachers Brauch des Kanzelverses, vgl. I. Seibt, F. Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch (1998), S. 44ff. - Übrigens fordert auch die Dom-Agende von 1822 die direkte Abfolge von Eingangsgebet und Text und damit den Verzicht auf die doppelte Einleitung.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Es gibt nur eine Einleitung, die direkt vom Text zu Thema und Disposition fuhrt. Schleiermacher entnimmt dem Text die Ermahnung zu Eintracht, Demut und christlicher Liebe. Die mögliche Verwunderung des Hörers über diese Ermahnung wird aufgelöst durch die Erinnerung an die urchristlichen Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen (163). Die ganze Kirchengeschichte ist die Geschichte drohender und tatsächlicher Spaltungen, Wiedervereinigungen und Abspaltungen. Doch die Zeit der Eintracht und Liebe wird kommen, „wo die Christenheit ganz und ungetheilt Eine Heerde wäre unter Einem Hirten." (164) Diese Zeit ist noch nicht gekommen, aber sie hat angefangen mit der Vereinigung der äußerlich getrennten aber innerlich sich am nächsten stehenden Gemeinden. Die Predigteinleitung gipfelt in der Feststellung: „Und diese Worte des Apostels, wie sie unmittelbar den Zweck hatten, allen Trennungen unter den Christen vorzubeugen: so sprechen sie auch seinen Segen aus über jede durch diesen Geist der Liebe und der Eintracht hervorgebrachte Wiedervereinigung der Christen, und zeigen uns, worauf es ankommen wird, damit die Vereinigung, die wir unter uns gestiftet haben, und deren Beginn und feierlicher Begehung dieser Tag gewidmet ist, uns allen und unsern Nachkommen in dieser evangelischen Gemeinde des Herrn den Segen wirklich bringe, der auf dem Gehorsam gegen die liebliche Stimme des göttlichen Wortes ruht." (164) Auf die Exposition des Themas: „So laßt uns denn, m.g.F.80, nach Anleitung der Worte des Apostels mit einander über das Wesen der unter uns zu Stande gekommenen Vereinigung nachdenken" folgt die Disposition: 1. „Laßt uns zuerst zurücksehen auf die Art, wie dieselbe zu Stande gekommen ist, [2.] dann aber auch vorwärts schauend uns die Frage beantworten, wie wir nun dem Geiste dieser Vereinigung gemäß mit einander werden zu leben haben von diesem heutigen Tage an ..." (164) Der erste Teil richtet seinen Blick zurück in die Geschichte und auf die nun aufgehobene Trennung. Schleiermacher erklärt die Trennung der Kirchen der Reformation genetisch: „so entzündete sich das von dem göttlichen Geiste angefachte Feuer zugleich an verschiedenen Orten der Christenheit [...] und wie die ersten Leiter und Beweger unabhängig von einander waren und ohne persönliche Verbindung, so war es natürlich und menschlich, daß auch ihr Werk eine verschiedene Gestalt annahm nach der Verschiedenheit der Personen und Umstände." (164f.)81 In der Frühzeit der Reformation war die Verschiedenheit der rechtlichen Ordnungen und gottesdienstlichen Gebräuche infolge der individuellen und kulturellen Verschiedenheit der Reformatoren „natürlich und menschlich". Später gab es zwar gutgemeinte Versuche der Wiedervereinigung der getrennten Gemeinden, Schleiermacher spielt auf Leibniz' und D. E. Jablonskis Unionsprojekte an, „aber die Stunde des Herrn war noch nicht gekommen ..." (166) Der Kairos war die 300-Jahrfeier der Reformation 1817 und 80 81
Meine geliebten Freunde. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 96, bezeichnet Schleiermachers Differenzierung richtig als einen „Temperamentsunterschied in Ablehnung römischer Lehren und Sitten."
3.5. Das Unionsfest 1822
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die gemeinsame Abendmahlfeier der Berliner Geistlichen. „Und zwar thaten sie [die Geistlichen] das wohlbedächtig und gut erwogen, ohne sich etwa vorher zu vereinigen über diese oder jene streitige Meinung, indem sie der bisherigen Erfahrung gemäß nicht anders konnten, als glauben, daß, wenn das Unerklärliche und Unbegreifliche wieder ausführlich besprochen, wenn das Geheimnißvolle in menschliche Worte gezwängt werden sollte, doch keines das rechte sein könne, und eben weil das rechte fehle, nur immer eine größere Mannichfaltigkeit von Audrücken und Vorstellungsweisen müsse zum Vorschein kommen." (167) Mit der gemeinsamen Abendmahlsfeier war der Grund der Union gelegt und „das Wesentliche in dieser Sache geschehen." (167) Nur die Durchführung der Union auf Gemeindeebene steht noch aus, „wodurch das, was im allgemeinen schon geschehen war, unseren besonderen Verhältnissen angepaßt wird." (168) Diese Anpassung beinhaltet die freie Wahl des Seelsorgers, die Vereinigung des Kirchenbesitzes und die Erarbeitung einer eigenen Agende: Die Unionspartner „haben auch für die verschiedenen gottesdienstlichen Handlungen und für die Darreichung der heiligen Sakramente der christlichen Kirche eine gemeinsame Art und Weise entworfen, wodurch auch hierin alle bisherige Trennung aufgehoben, und das bisher in jeder Gemeine übliche so zusammengeschmolzen ist, daß ein jeder neben dem Seinigen auch das des Anderen findet, [...] indem wir nämlich auf der einen Seite alles gern behalten haben, wodurch wahrhaft christlicher Sinn sich ausspricht, und was einen Theil des christlichen Glaubens vergegenwärtigen kann, auf der andern Seite aber auch streng geprüft, daß wo möglich nichts zurückbleibe in unserm Gottesdienst, was zur Anbetung Gottes im Geist nicht gehören kann, und mit dem Wesen der christlichen Frömmigkeit nicht zusammenhängt." (168f.) Nach dieser ausführlichen geschichtlichen Darstellung befaßt sich Schleiermacher im zweiten Teil mit der geistigen und leiblichen Ausgestaltung der Vereinigung nach apostolischer Anleitung. Dabei gliedert Schleiermacher diesen Abschnitt, indem er ein innerlich geistiges von einem äußerlich leiblichen Verständnis unterscheidet. Mit dem ersten beginnt er. Die Union geschieht nicht im Zeichen der Nivellierung von Tradition und Bekenntnis, sondern die Vereinigung der beiden Gemeinden dient ausdrücklich der „Läuterung und Stärkung unseres Christentums" (169). Die Befürworter der Union sind nicht leichtfertig, „sondern gerade solche, die einen hohen Werth legen auf die unter uns wiederhergestellte Lehre von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch den Glauben an den Erlöser, und von der Heiligung desselben in der Gemeinschaft mit ihm ..." (170) Schleiermacher weist den Vorwurf des konfessionellen Indifferentismus zurück und bekennt sich zum evangelisch-katholischen Schisma. Dabei weist er ausdrücklich auf das sonntäglich gesprochene Morgengebet hin: den Dank „für die Befreiung [vom Joch des Gesetzes,] von welchem auch wir noch in unsern gemeinsamen Gebeten Gott mit inniger Dankbarkeit preisen, und die Erhaltung dieser Freiheit von ihm erflehen." (169f.)82 Mit einem Sei82
Zum Morgengebet vgl. Exkurs III. 2.4.1. In diesem Gottesdienst sprach allerdings Marheinecke das Morgengebet in einer Version, der der genannte Passus fehlt, s. o. 3.5.4.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
tenhieb auf seinen Freund Friedrich Schlegel und andere Konvertiten tadelt er die damals romantisch chice Rom-Nostalgie. Viele verlassen den „Schooß" der evangelischen Kirche und kehren unter das Joch menschlicher Satzungen zurück. Dieser Tendenz ist die Union gerade entgegengesetzt. „Diese Vereinigung, mögen wir sie nun allgemein betrachten oder in Bezug auf unsere Gemeinde, kann und soll die Versuchung zum Abfall nicht vermehren, sondern nur vermindern. Denn jeder steht ja nur um so sicherer, je mehr Hülfe ihm geboten wird und je mehr Stützen er sich verschaffen kann." (170) Die Union ist Stütze zur Stärkung der geistigen Kräfte, zur Befestigung der schwachen Gemüter und ein Vehikel des christlichen Fortschreitens. Sie erweitert den Raum und die Freiheit für die Einzelnen. Weiter gehört zur geistigen Seite der Vereinigung „der innere Gehalt" und „die äußere Gestalt" des gemeinsamen Gottesdienstes: „Wesentlich aber und unabänderlich [sind\ nur die Einsetzungen unsers Erlösers selbst, welcher Taufe und Abendmahl angeordnet und die Verkündigung des göttlichen Wortes in seiner Kirche gestiftet hat. Alles Andre in unserm Gottesdienst soll nur dazu dienen, daß das Wort des Herrn und der Segen jener himmlischen Güter [...] leichter und tiefer in die Seelen eingehe." (171 f.) Eindringlich fordert Schleiermacher Mut zu Variabilität und Vielfalt sowie Offenheit für Veränderungen der Form in der Zukunft: „Sondern das wollen wir im voraus bei uns beschließen, daß, wo uns der Herr etwas Besseres offenbart, wir es annehmen wollen mit frohem und dankbarem Sinne." (172) Das Alte ist festzuhalten, so lange es Segen gibt, aber nicht zu verehren des Alters wegen, „damit nicht das Erstorbene, wenn es mit dem Lebendigen vermischt bleibt, die frische Kraft desselben schwäche, und seine Schönheit verunreinige." (172) Der letzte Abschnitt des zweiten Teils thematisiert „das Aeußerliche und Leibliche in dieser unserer Vereinigung" (172): die Vereinigung der Finanzen zwecks Unterstützung der dürftigen Glieder und der Erziehung der verlassenen Jugend. „Wie könnte sich nun die Verschmelzung zweier Gemeinden in Eine schöner verherrlichen, als wenn das gemeinsame kirchliche Leben nun desto frischer erblühe und sich auch lebendig erwiese in allerlei christlicher Milde und Barmherzigkeit!" (173) Schleiermacher ruft zu fleißiger Mildtätigkeit auf und erinnert an die Opferbereitschaft bei der Instandsetzung der Kirche (1808— 1811) und an die Gründung des Vorstandes (1810): „Denn wir haben [...] vornämlich aber seitdem mehrere Gemeindeglieder die Sorge für das Gemeinsame mit uns theilten, die herrlichsten Beweise erhalten von dem lebendigen Antheil, den unsere werthen Gemeinden nahmen an der Beförderung und Verschönerung unseres Gottesdienstes, und an allem was gemeinsame Sorge und Pflicht so verbundener Christen sein muß." (173) Besonders lobenswert wäre eine kontinuierliche finanzielle Unterstützung der Gemeindearbeit: „... laßt uns dieses ja nicht vergessen, daß auch Wohlthätigkeit und Freigebigkeit, wenn sie nur durch die jedesmaligen Umstände der Einzelnen aufgeregt werden, weder eben so ehrenvoll sind noch dieselbe Stufe christlicher Gottseligkeit einnehmen, als wenn sie nur die natürlichen Aeußerungen eines wahren Gemeingeistes sind."
3.5. Das Unionsfest 1822
311
(173) 83 Mit dem letzten Wunsch wendet sich Schleiermacher nicht nur an die versammelte Gemeinde, sondern er klagt bei der anwesenden kirchlichen Obrigkeit die seit langem versprochene Kirchenverfassung ein, um das Unionswerk institutionell und jurisdiktionell auf sichere Füße stellen zu können, wissend, daß das Wohlergehen einer Gemeinde auch von strukturellen Faktoren abhängig ist. 3.5.8.2. Das Gebet Das verhältnismäßig lange Gebet (174-175) wächst direkt aus der Predigt heraus. Es folgt im wesentlichen dem Schema des alten Kirchengebets (von 1713)84, ist von Schleiermacher allerdings auf den Kasus zugeschnitten worden. Im ersten Teil rekapituliert Schleiermacher das Gesagte und bringt die Gegenstände der Predigt als Bitten vor Gott. Das Gebet beginnt ohne Dank mit der Bitte um Eintracht im gemeinsamen Bekenntnis zum Erlöser und im gemeinsamen Wissen um Schuld und Verderben (174). Es folgt die Bitte um Segen für Wort und Sakrament, die Bitte um treue Lehrer samt der Bitte um den Durst der heilsbedürftigen Seelen, die Bitte um Ausrichtung aufs Ewige, Heil für alle und Seligkeit für jeden einzelnen, die Bitte um Erhaltung der Gewissensfreiheit der evangelischen Kirche, die Bitte um Segen „auf der neuen wiewohl wenig veränderten Gestalt unseres Gottesdienstes" (175), schließlich die Bitte um Erhaltung der christlichen Mildtätigkeit. Dieser umfangreiche Gebetsteil folgt zwar dem Bittregister des Kirchengebets, er ist aber auf die Union bezogen und an die Predigt anknüpfend formuliert worden. Es schließt sich an ein zweiter Gebetsteil für König und Welt, der mit der Fürbitte für den König und sein ganzes Haus als dem Vorbild christlicher Gottseligkeit beginnt. Es folgt die Bitte um Segen für des Königs Wirken zum Wohl der Völker und der Dank für den Sieg, „der die kriegerischen Thaten des Königs [...] krönte" (175)85, die Bitte um einsichtsvolle und gewissenhafte Berater 83
84 85
Bei diesem Aufruf ging es konkret um die Kompensation des Beichtgeldes für die lutherischen Prediger Marheinecke und Herzberg, das einen wesentlichen Teil ihrer Einnahmen bildete. Im Unionsaufsatz von 1818 hatte der Vf. (Schleiermacher?) erläutert: „Eine besondre Schwierigkeit scheint hier noch das Beichtgeld zu bilden, welches man den ehemals reformirten Predigern nicht gut zumuthen kann, anzunehmen, welches die ehemals lutherischen nicht missen können, und welches abzuschaffen und auf eine andre Art zu ersetzen zwar verheißen ist, bis jetzt aber noch nicht hat erfüllt werden können." Märk. Provinzialblatt 1818, S. 149. Damit die lutherischen Prediger finanziell nicht langfristig geschädigt werden, hatte Schleiermacher vorgeschlagen, daß die begüterten Gemeindeglieder die „Liebesbeweise" gegen ihre Prediger von Beichtgeld und anderen Kasualgebühren unabhängig machen sollten, ebd., S. 143f., und daß bei den Kommunionen die reformierten Becken aufgestellt werden sollten, in die auch die ehemals lutherischen Gemeindeglieder eine dem Beichtgeld entsprechende Gabe legen sollten, ebd., S. 150. Nur so konnte der unionsbedingte Einkommensverlust der Prediger aufgefangen werden. Zum traditionellen Kirchengebet, vgl. Exkurs III. 2.3.1. Seit 1816 wurde am am 31.3. jährlich der erste Einzug der preußischen Truppen in Paris, am 31.3.1814, gefeiert, vgl. E. Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche Bd. 1 (1905), S. 248.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
und treue und gehorsame Untertanen. Mit der Bitte um Segen der Arbeit für alle und der Bitte für die Betrübten: „Erquicke sie mit deinem Tröste, und wenn sich deine Gnade mächtig zeigt in den Schwachen, so laß auch dadurch in uns allen den Glauben immer mehr sich befestigen, daß denen, die dich lieben, alle Dinge zum Besten gereichen..." (175)86 geht das Gebet zu Ende. Dieses Gebet führt gleichsam paradigmatisch vor, wie sich Schleiermacher den in der Predigt erörterten Umgang mit der Tradition im Geist der Reformation vorstellt. Er benutzt das traditionelle Kirchengebet als Gerüst und Leitfaden, wählt Gebetsanliegen aus, formt sie um und fügt neue ein, mit anderen Worten: er tradiert es, indem er es aktualisiert. Diese Aktualisierung legt freilich auch Schwächen bloß: Die zum Grundstock des alten Kirchengebets gehörende Bitte um Sündenvergebung ist sehr verblaßt (174), der Passus um Beistand in der Todesstunde fehlt ganz. Andererseits wird die Bitte um Erhaltung von Wort und Sakrament aktualiter extensiviert. Die Fürbitte für den König wirkt loyal aber nicht überschwenglich, sie ging Schleiermacher leicht von den Lippen, da er in der Unionsfrage mit dem König einig war. 3.5.8.3. Zur Theologie der Predigt Obwohl Schleiermacher zu den energischen Befürwortern der Union gehörte, enthält er sich sprachlich wie theologisch jeglichen Pathos' und urteilt auffallend milde über die Entstehung und Geschichte der innerprotestantischen Kirchentrennung, deren Überwindung nun beginnt.87 Die Union ist ihm ein Schritt auf dem Wege zu wahrer christlicher Einheit, sie ist aber noch nicht das Ende.88 Die Union sei Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck, sie diene der „Läuterung und Stärkung" des christlichen Bewußtseins. Schleiermacher bezeichnet sie als eine Stütze, die vor Sturz und Anfechtung schützt. Denn die Vereinigung zu einem größeren Ganzen bedeutet eine Vervielfältigung und Erweiterung der Anregungen. 86
87
88
Das implizite Zitat von Röm 8,28 beschließt häufig Schleiermachers Kirchengebete. Es stammt aus dem alten Formular und ist Schleiermacher bei aller Freiheit des Buchstabens ausgesprochen wichtig gewesen, vgl. Liturgieschrift (1816), SW 1/5, S. 198. Die Anspielung auf 2Kor 12,9 faßt den gesamten letzten individual-eschatologischen Teil des alten Kirchengebetes zusammen. Ähnlich schon in der .Amtlichen Erklärung" der Synode von 1817: „Die Verschiedenheit ist entstanden aus verschiedener Auslegung ..." SW 1/5, S. 302. In seinen liturgischen Schriften hat Schleiermacher den Unterschied zwischen der lutherischen und der reformierten Kirche wiederholt als einen notwendigen Gegensatz der liturgischen Gestaltungsprinzipien typisiert, der schrittweise überwunden werden müsse, z.B.: „Wir finden gleich im Anfang der Reformation ein entgegengeseztes Princip in der Gesezgebung über den Cultus, das eine ein revolutionäres, das andere ein am Alten festhaltendes, und die ursprüngliche Verschiedenheit hinsichtlich des Cultus in der evangelischen Kirche ist von diesen Principien ausgegangen" PT, S. 606. „Beides zusammen muß die Vollendung des evangelischen Cultus darstellen." PT, S. 608. In dem Aufsatz „Wie steht es mit der Union", Märkisches Provinzialblatt 1818, S. 126156 hatte der Verfasser (Schleiermacher?) die Unumkehrbarkeit der Union kirchenrechtlich begründet. Auf dieser Überzeugung beruht seine Gelassenheit.
3.5. Das Unionsfest 1822
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Zu dieser vergleichsweise nüchternen Betrachtungsweise paßt, daß Schleiermacher in seiner Predigt mit keinem Wort auf die allerhöchst erwünschte Vorbildwirkung dieser Union eingeht. Schon in der Geschichte (1817) habe das Freiwilligkeitsprinzip den größten Erfolg gehabt.89 Damit proklamiert Schleiermacher gleichsam die Reformation „von unten." Entsprechend erscheint die gemeinsame Abendmahlsfeier der Berliner Geistlichen am 30.10.1817 als die eigentliche Initialzündung, nicht aber der Unionsaufruf des Königs. Um den Verdacht konfessioneller Gleichgültigkeit zu entkräften, bekennt sich Schleiermacher ausdrücklich zum „reformatorischen Kerygma". Theologischer Angelpunkt ist ihm die Rechtfertigungslehre, das Bekenntnis zum Erlöser und die Heiligung (170). Diese theologischen Daten bilden die „Uebereinstimmung in dem Wesentlichen des christlichen Glaubens" (167). Dabei muß dieses Wesentliche nicht näher definiert werden, da der Glaube als ein Mysterium niemals auf e i n e n Begriff gebracht werden kann, sondern in der Mannigfaltigkeit der Anschauungen existiert. Schleiermacher fordert keine Bekenntnisunion. Es sei nicht die Aufgabe der Union, die Lehrunterschiede vollständig abzugleichen - das wäre sogar eine Verarmung! - , sondern die bisher Getrennten unter einer Kanzel und an einem Abendmahlstisch zu versammeln. Der gemeinsame Fluchtpunkt ist Christus. Das Bekenntnis zu Christus in Bezugnahme auf die Schrift bildet die innere Klammer der Union in Theologie und Frömmigkeit. Die liturgischen Formen sind Adiaphora und haben nur instrumentellen Wert. Das Bestehende muß und darf so lange festgehalten werden, wie es Segen bringt, d. h. die liturgischen Formen tragen geschichtlichen Charakter, sie sind wandelbar, mit Ausnahme der von Christus gestifteten notae ecclesiae: Wort und Sakrament. Die Vereinigung ist nicht Rückschritt, wie ihre Kritiker behaupten, sondern Fortschritt, weil sie die Reformation, die Schleiermacher vor allem als Werk der Befreiung begreift, fortführt. In diesem Sinne ist die liturgische Innovation ein integraler Bestandteil der Reformation. Und die Gemeindeglieder erleben durch die Vereinigung der beiden Gemeinden eine befreiende Entgrenzung, sofern ihnen nun die freie Wahl des Seelsorgers und Predigers zuteil wird, ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Wege zur Vollendung evangelischer Freiheit.90 Bemerkenswert für die ganze Predigt ist das sich manifestierende ökume89
90
Im Unions-Aufsatz von 1818 erklärt Schleiermacher(?) den notwendig schleppenden Fortgang der Unionssache: „Weil nemlich nicht durch Eine große Maaßregel die würkliche Zusammenschmelzung im Ganzen erfolgen konnte: so konnte im Ganzen nur die Möglichkeit dazu eröffnet und die Erlaubniß dazu gegeben werden, und diese muß nun im Einzelnen von den Gemeinen selbst benutzt, und auf die würkliche Vereinigung angetragen werden." Märkisches Provinzialblatt, S. 135. Und programmatisch ebd., S. 147: „Denn auch hier wird das Einzelne dem Allgemeinen vorangehn müssen ..." Die christliche Freiheit erachtet Schleiermacher lt. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 87 „für den köstlichsten Gewinn der Reformation." Schleiermacher selbst bezeichnet die Freiheit als das Gestaltungsprinzip der evangelischen Kirche, vgl. PT, S. 621. Darum geht die größte Bedrohung für die evangelische Freiheit Schleiermacher zufolge vom Buchstaben der Lehre aus. Vgl. W. Trillhaas, ebd., S. 88.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
nisch-praktische Denken. Wo es um den Vollzug der Kirchengemeinschaft geht, müssen dogmatische Kontroversen zurückstehen; das Leben hat Vorrang vor der Lehre. Darum betont Schleiermacher auch die äußerlich-leibliche Seite der Vereinigung, und zwar sowohl ihre ethisch-praktischen Konsequenzen als auch ihre verfassungsmäßigen Implikationen.91 Obwohl sich der Prediger wenig um den sensus litteralis seines Textes schert - immerhin wird das schwierige urchristliche Miteinander von Juden- und Heidenchristen angesprochen und als der Gegensatz der starken und schwachen Gewissen typisiert - , hat der Text doch eine tragende Funkion. Nicht allein wegen der Einzelanweisungen Liebe, Barmherzigkeit, Eintracht, Demut etc., die auf die Situation der Dreifaltigkeitsgemeinde übertragbar sind und ausdrücklich auch auf die verschiedenen liturgischen Traditionen übertragen werden, sondern weil Schleiermacher die Autorität des Apostels Paulus für das Unionswerk in Anspruch nimmt. Ursprünglich bezweckte der Philipperbrief, Trennungen vorzubeugen, nun sie aber geschehen sind, soll er sie überwinden helfen und alle im Geist der Liebe und Eintracht hervorgebrachten Wiedervereinigungen segnen und zur segensreichen Vereinigung anleiten. Pointiert gesagt: Der Text liefert die Prinzipien und verbürgt den Segen für das Unionswerk. 3.5.9. Das Lied „Nach der Predigt" Auf Predigt, Gebet und evtl. Segen folgt der Gesang nach der Predigt, zwei Strophen eines herkunftsmäßig unbekannten Liedes. Wieder empfiehlt sich der Blick in bereits verwendete Gesangbücher. Das Jauersche Gesangbuch (1813) fuhrt unter der Rubrik „Von der christlichen Kirche" (Nr. 341) das anonym überlieferte Lied „Preis dir, o Gott, daß deine Macht."92 Jauersches Gesangbuch (¡813), Nr. 341
Liedblatt L 131, 31.3.1822
Mei. Ach bleib ' bei uns, Herr etc. Mit freudigem Ernst
Mei. Ach bleib bei uns etc.
Preis dir, o Gott, daß deine Macht stets Uber deine Kirche wacht, daß nicht der Spott, nicht Finsterniß bisher die Wahrheit uns entriß. 2. Wir schwören Jesu: Er, nur er sei unser Meister! keiner mehr! Und ernstes, frommes Forschen sei dem Hörer wie dem Lehrer frei. 3. Erleuchte nah, erleuchte fem, wo es noch dunkelt, Geist des Herrn! Beseligend heb' uns das Herz durch frommen Glauben himmelwärts!
91
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Preis dir, o Gott, und deiner Macht, Die über Christi Kirche wacht, Daß weder Spott noch Finsterniß Den wahren Glauben uns entriß. Wir halten treu an Jesu Lehr'; Er sei uns Meister, keiner mehr! Und was noch dunkelt nah und fern, Erleuchte bald der Geist des Herrn.
Zur verfassungsgeschichtlichen Entwicklung und zu Schleiermachers kirchenrechtlichen Vorstellungen und Aktivitäten, vgl. A. Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker (1997), S. 278£f. Die GBC hat sich nicht mit dem Lied beschäftigt.
3.5. Das Unionsfest 1822
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Musikalisch handelt es sich sehr wahrscheinlich um Luthers Melodie zu „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort".93 Textlich hat Schleiermacher die erste Strophe bearbeitet und wichtige Motive aus Quellenstrophe 2 und 3 in seiner zweiten Strophe zusammengefaßt. In der ersten Strophe wird im Zuge einer Glättung des Textflusses die Kirche Gottes durch „Christi Kirche" konkretisiert und die „Wahrheit" gut reformatorisch durch den „wahren Glauben" ersetzt. Mit der Einfügung Christi hat Schleiermacher das Lied christologisch akzentuiert. Indem er an dem unvollständigen „Wir schwören Jesu: Er nur er" und seinem dramatischen Gestus Anstoß nimmt, ersetzt er den Vers durch das ruhige „Wir halten treu an Jesu Lehr'", wobei der Sinnakzent hier auf J e s u Lehr liegt, wie der Fortgang des Liedes, aber auch der Kontext des Gottesdienstes zeigt: Die Besinnung auf das solus Christus und Christi Stiftungen in Bezugnahme auf den Wortlaut der Schrift ist ja der gemeinsame Nenner der nunmehr unierten Gemeinde und der theologische Konsens bei der sich anschließenden Abendmahlsfeier. Lob- und Danklieder mit kurzer Strophe finden sich häufig an diesem liturgischen Ort. Vielleicht hat auch der Melodieschöpfer Martin Luther die Entscheidung für das Lied begünstigt.
3.5.10. Das Ganze Das Unionsfest 1822 gehört gattungsmäßig zu den Reformationsgottesdiensten, wie das Eingangslied mit seiner ekklesiologisch-reformatorischen Thematik sogleich deutlich macht. Als spezielle Idee liegt dem Gottesdienst die Union der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden zugrunde. An dieser Stelle interessiert, wie die Liedtexte die generelle und spezielle Thematik aufnehmen, und wie sie sich zur Predigt als dem theologischen Maßstab dieses Gottesdienstes verhalten. Wo und wie hat sich Schleiermachers Unionsverständnis in den Liedtexten niedergeschlagen? Schleiermachers Ansicht der Union als Prozeß („Die Union geht noch fort.") bildet sich bereits im Eingangslied ab. Weil er die Dreifaltigkeitsunion als einen Schritt im Fortschreiten der Reformation betrachtet, ist ihm jener Enthusiasmus fremd, wie er etwa vom lutherischen Superintendenten Küster vertreten wird. Stattdessen sieht Schleiermacher in diesem Ereignis lediglich einen Progress, eine „Mehrung des Heils". Von dieser Betrachtungsweise zeugen zwei Korrekturen mit dem Wortstamm „mehr-" im Eingangslied. Die für Schleiermachers Predigt sonst ungewöhnliche, hier aber notwendige, konfessionelle Polemik hat ebenfalls im Eingangslied eine Entsprechung, wo
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Zwar fuhrt J. Zahn, Die Melodien, Bd. 1, Nr. 613 fur das Lied eine Melodie von Johann Biereige (* um 1620) auf, doch in der Dreifaltigkeitskirche war das Lied damals unter der Luther-Melodie bekannt, denn Kühnaus Index (Choralbuch 1786) verweist bei dem Lied „Ach bleib bei uns" auf die Nr. 44 „Erhalt uns Herr etc." - Auch EG, Nr. 246 bringt das Lied („Ach bleib bei uns") mit Luthers Melodie von 1543.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
sie freilich dem „symbolischen" Charakter des Eingangsliedes zufolge sowieso einen festen Topos bildet. In seiner Predigt geht Schleiermacher auf die gemeinsame Wurzel beider Konfessionen und damit auf den theologischen Konsens der Union ein: Beide Zweige der Reformation gründen sich auf die paulinische Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Diese fundamentale reformatorische Wiederentdeckung hat Schleiermacher in das Zentrum des Eingangsliedes gerückt und diesen locus regelrecht proklamiert: „Wer gläubig hin auf Christum schaut Dem ist die Schuld vergeben." Das ist das Wort dem wir vertraut, Das Wort voll Kraft und Leben! Während diese Verse allenfalls einen versteckten Hinweis auf die Union, nämlich auf das beide Konfessionen tragende Glaubens- und Lehrfundament darstellen, nimmt das Hauptlied explizit auf die Union Bezug und stilisiert sie als Kirchweihe bzw. mit Blick auf den kultischen Vollzug der Union als Bundesschluß. Anknüpfend an den Predigttext wird die Union in den Liedern mit dem Begriff der „Liebe" (Hauptlied) umschrieben, aber auch mit den Begriffen „Eintracht" (Hauptlied) und „Einigkeit" (Lied zur Predigt). Wenn es im Lied zur Predigt heißt: „Ja der Herr der Herrlichkeit mache deine Grenze weit. Er verleih dir Gnad' und Huld, Einigkeit, Muth und Geduld", so möchte man bei „Grenze" an die internen Grenzen der Toleranz denken. Bei der Bearbeitung des Hauptliedes geht Schleiermacher ungewöhnlich ins Detail und präsentiert gleichsam eine implizite Liturgik, die die Wesensmerkmale des evangelischen Gottesdienstes benennt: Wort und Sakrament. Dabei hat er sogar die spezielle Situation der konfessionell verschieden geprägten Prediger ins Wort gesetzt: „Laß fest und rein die Lehrer gemeinsam predigen dein Wort". Neben der nunmehr gemeinsamen Verkündigung war die Tischgemeinschaft der eigentliche Zweck und Erfolg der Union sowie der unbestrittene Höhepunkt dieses Gottesdienstes, denn in ihr kommt die neue Qualität der Gemeinschaft nicht nur symbolisch, sondern ganz leiblich zum Ausdruck. Darum darf der Hinweis auf das gemeinsame Mahl auch im Hauptlied nicht fehlen, in dem Schleiermacher die Bitte um Erweckung und Bewahrung beim gemeinsamen Genuß des Altarsakraments der Gemeinde selbst in den Mund legt: Erweck uns und bewahre In unserm Bund, o Gott, Wenn feiernd am Altare wir preisen Christi Tod. Noch deutlicher weist der vom Chor gesungene 111. Psalm auf das Altarsakrament hin. Die nachdrückliche Aufforderung des Predigers an die Versammelten, die Union durch rege Teilnahme, durch Liebe, Demut und Geduld, wie auch durch persönliche Spendenbereitschaft zu beleben und aktiv mitzugestalten, hat
3.5. Das Unionsfest 1822
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in der Bearbeitung des Hauptliedes ebenfalls eine Entsprechung gefunden: „Zu Thätern mach die Hörer". Der Kontext legt nahe, daß Schleiermacher dabei zuerst an die kultische Mitwirkung der Hörer im Gottesdienst dachte. Doch suggeriert gerade die Jakobusstelle auch die soziale und ökonomische Täterschaft des Christen, die in den Versen „Laß stets die Liebe walten [...] den Eifer nicht erkalten" insinuiert wird, ein Gedanke, den die Predigt unter dem Titel der leiblichen Folgen der Union ausfuhrlich entfaltet. Der Prediger beschreibt - wie gesehen - die „wiederhergestellte Lehre von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch den Glauben an den Erlöser" als den Extrakt reformatorischer Lehre. Angesichts der demonstrativen Hochschätzung der Rechtfertigungslehre kann ich eine Geringschätzung der reformatorischen „Lehre" weder in der Predigt noch in den Liedbearbeitungen erkennen.94 Die Besinnung auf das „Wesentliche" und die Vernachlässigung der Lehr-unterschiede ist ja nur eine praktische Regel, die der Union zum Erfolg verhelfen soll. Es fallt sogar auf, daß Schleiermacher παραμύθιον αγάπης (Phil 2,1) außer in der Textverlesung stets als „Trost der Lehre" zitiert, und daß im Verlaufe dieses Gottesdienstes die Worte „Lehrer" und „Lehre" oft und synonym für Prediger und Predigt verwendet werden. Damit unterstreicht Schleiermacher das Bemühen um Konkordanz in Predigt, Gebet, Lied. Neben der Rechtfertigungslehre setzt Schleiermacher einen besonderen Akzent auf die Christusbindung. Sie ist ihm das Verbindende und Gemeinschaftsbildende. Am schönsten hat er das in seinem Gebet zum Ausdruck gebracht: „Erhalte uns alle auf das innigste verbunden in dem Einen was Noth thut, daß wir in einem gemeinsamen Bekenntniß dessen, den du uns zum Erlöser gesandt hast [...] die Seligkeit schmecken." Die Christusbindung hat bei den Textredaktionen fast aller Lieder dieses Liedblattes eine Rolle gespielt. Wir haben ein überdurchschnittlich hohes Maß an Übereinstimmungen und Beziehungen zwischen den verschiedenen Textsorten zugehörigen Dokumenten dieses Gottesdienstes beobachtet. Die besondere Sorgfalt der Liedbearbeitungen erklärt sich nicht dadurch, daß Schleiermacher Textrevisionen für das neue Berliner Gesangbuch testen wollte95, so lassen sich die starken situativen Bezüge nicht rechtfertigen. Vielmehr strebt er nach dem Ideal, Predigt, Lied und Gebet in Übereinstimmung zu bringen. Dabei weist der Kultus eine semantische Binnenstruktur auf, die die Liedbearbeitungen motiviert und normiert. Schleiermacher hat mit Ausnahme des Eingangsliedes neuere Texte ausgewählt und sie mehr oder weniger stark redigiert und „aktualisiert". Beides entspricht seinem Reformationsverständnis, wie er es in seiner Predigt entwickelt
94
95
So W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 95. - Auch in seiner Schrift „Ueber den eigenthümlichen Werth ..." (1819) hat Schleiermacher die Rechtfertigungslehre zum Kern des Protestantismus sine qua non erklärt, SW 1/5, S. 451. Das ist die Grundthese von I. Seibt, Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch (1998), S. 216. Übrigens ist keines der auf dem Liedblatt L 131 stehenden Lieder in der GBC verhandelt worden!
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
und wie schon der Gottesdienst am 1.11.1817 gezeigt hatte.96 Dagegen verbürgen die Melodien durchgehend die Bezugnahme auf die Tradition des 16. Jahrhunderts. Für den de Tempore-Charakter der Melodien hatte Schleiermacher keinen Sinn, wohl aber für die Symbolik von Alter und Schöpfer der Melodien. Der Absicht Schleiermachers, mit der Union lutherische und reformierte Gottesdienstformen zu versöhnen, dient die Chormusik auf exemplarische Weise, indem sie lutherische Kirchenmusik- und reformierte Psalmtradition verbindet und mit dem 111. Psalm das gemeinsam zu feiernde Abendmahl vorbereitet. Das Unionsfest zeigt uns Schleiermacher nicht nur als Liedbearbeiter und Prediger, sondern auch als Amtsbruder neben Küster, Marheinecke, Herzberg und Marot. Obwohl Schleiermacher diesen Gottesdienst mit Liedbearbeitung und Predigt wesentlich stärker geprägt hat als seine Kollegen, ist ein Vergleich aufschlußreich und beleuchtet Schleiermachers Profil: Schleiermacher charakterisiert die Geschichte der Union und die künftigen Aufgaben der Gemeinde nüchtern, ohne dabei einem schwärmerischen Heilsenthusiasmus anheim zu fallen. Vielmehr appelliert Schleiermacher an die Verantwortung seiner Gemeinde, denn die Union geschieht durch die Gemeinde und um der Gemeinde willen. Sie ist Mittel zum Zweck der weiteren und unbeschränkteren geistigen Stärkung der Christen; sie ist begonnen, aber nun auch gemeinsam auszugestalten und mit Leben zu erfüllen. Im Unterschied zu seinen Kollegen läßt sich Schleiermacher politisch nicht instrumentalisieren und steht davon ab, die Nachahmung der Gemeindeunion zu propagieren. Sie muß stets „von unten", aus den Gemeinden selbst hervorgehen.97 In diesem Sinne tritt der Reformierte Schleiermacher entschieden für die lange versprochene neue Kirchenverfassung ein, von der er sich eine Stärkung der Synoden und Presbyterien erhofft. Nicht nur in dieser Frage weicht Schleiermacher von den Vorstellungen seines Universitätskollegen und Amtsbruders Marheinecke ab.98 Im Vergleich mit Marheinecke, der einer Wiedervereinigung mit der katholischen Kirche zuneigte, fällt Schleiermachers evangelisches Selbstbewußtsein auf. So sehr er sich für die innerprotestantische Verständigung einsetzt, so deutlich grenzt er sich von der katholischen Theologie und Kirche ab. Damit weist er den Vorwurf zurück, die Unionsbefürworter hätten kein konfessionelles Bewußtsein und untermauert sein Eintreten für historisch gewachsene Glaubens- und Frömmigkeitsformen.
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S. o. 3.2.6. König Friedrich Wilhelm III. plante langfristig eine bekenntnismäßig einheitliche preußische Landeskirche, vgl. K. Wappler, Reformationsjubiläum und Kirchenunion, in J. F. G. Goeters/R. Mau, Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. 1 (1992), S. 107f. Zu Marheinecke und seiner Kirchenpolitik, s. o. 3 . 5 . 1 A n m . 11.
Exkurs III: Zu Schleiermachers agendarischer Praxis 1. Einleitung. Zur Entwicklung des evangelischen Gottesdienstes im 18. und frühen 19. Jahrhundert Es sind zwei historische Entwicklungen für die Reduzierung und Elementarisierung der einstmals reichen lutherischen Messe Kurbrandenburgs1 verantwortlich zu machen: der Übertritt des brandenburgischen Hofes zum reformierten Bekenntnis 1613 und die etwa 150 Jahre später auch die Liturgie einholende Aufklärung. Zwar konnten die brandenburgischen Lutheraner nach der Konversion Sigismunds im Jahre 1613 mit der Goltzschen Agende von 1614 ihre liturgischen Traditionen einigermaßen bewahren, aber gerade in zeremonieller Hinsicht bekamen sie den reformierten Purismus des brandenburgischen Hofes deutlich zu spüren: kein Kreuzschlagen, keine Leuchter, kein Altargesang, Beseitigung lateinischer Gesänge usw.2 Die liturgische Reduktion setzte sich im Geist der Aufklärung, rücksichtslos gegen konfessionelle Traditionen, fort. Waren durch die pietistische „Gefuhligkeit" die verobjektivierenden liturgischen Formen bereits ausgehöhlt worden, so setzte die aufklärerische „Vernünftigkeit" dieses Werk fort und brach jene ab.3 So sind etwa in der Gottesdienstordnung der Berliner Nikolaikirche von 1778 Introitus und Kyrie durch ein „Morgenlied" ersetzt, die Kollekte wird als „Morgengebet" aufgefaßt. 4 Häufig fiel die Schriftlesung (am Altar) weg und damit das Graduallied, oft auch das Credo, so daß sich für den gewöhnlichen Predigtgottesdienst folgender typischer Ablauf ergab: Morgenlied - Morgengebet Hauptlied - Predigt - Schlußlied.5 Damit war der gesamte Gottesdienst auf die Predigt ausgerichtet und so der subjektiven geistigen und geistlichen Kraft des Predigers überantwortet, während das liturgisch fixierte Proprium des Sonntags als charakteristisches und liturgisch prägendes Merkmal verloren ging.6 1
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Vgl. die kurbrandenburgische Kirchenordnung Joachims II. von 1540 bei Leonhard Fendt, Einfuhrung in die Liturgiewissenschaft (1958), S. 198ff. Fendt bezeichnet diese Messe als das „Vollbeispiel des lutherisch-katholischen Typus". Vgl. das „Reglement" für die Berliner Petrikirche 1733, L. Fendt, S. 200. Fendt bezieht sich auf W. Wendland, Die praktische Wirksamkeit Berliner Geistlicher, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte (JbBKG) 11/12 (1914), S. 269ff. Zu den in Berlin gebräuchlichen lutherischen Formularen, vgl. Wendland ebd., S. 277. Die Mitverantwortung des Pietismus für die „Zerstörung" des Gottesdienstes betont auch Wendland, ebd., S. 273. - Programmatisch für das Vernunftstreben in liturgicis ist das Fazit in J. Α. E. Goezes „Vorschlägen zur Verbesserung des öffentlichen Gottesdienstes" von 1786: „Gott gebe uns die große Wohlthat, daß unser christlicher Gottesdienst [...] werde: ein vernünftiger Gottesdienst." Vgl. W. Herbst, Ev. Gottesdienst. Quellen, S. 169. Vgl. L. Fendt, Liturgiewissenschaft, S. 200f. Vgl. L. Fendt, Liturgiewissenschaft, S. 201. Fendt zitiert den Ordo anläßlich der Einweihung der Berliner Neuen Kirche im Jahre 1708, bei dem Introitus, Kyrie, Credo, Epistel, Graduale, Evangelium, Predigtlied fehlten und nennt ihn ein „Quid pro quo um die Predigt herum", ebd., S. 202. Vgl. auch Georg Rietschel/ Paul Graff, Lehrbuch der Liturgik (1951 2 ), S. 385ff.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Der prinzipiell und traditionell schmucklose, liturgisch ärmere reformierte Gottesdienst war von der beschriebenen Entwicklung nicht in gleicher Weise betroffen. Zwar wurden auch reformierte Gebetsformulare und Traditionsstücke rationalisiert und modernisiert, aber die systematische Reduktion liturgischer Bestandteile traf vor allem den lutherischen Gottesdienst. Ja es scheint, als hätten die lutherischen Gottesdienstmodernisierer an dem - auf das liturgisch nötigste beschränkten - reformierten Gottesdienst Maß genommen. So bewirkten der durch die Konversion des brandenburgischen Kurfürsten bedingte wachsende Einfluß der Reformierten einerseits und die zunehmende dogmatische und liturgische Indifferenz infolge von Pietismus und Aufklärung andererseits eine stete liturgische Konvergenz beider protestantischer Konfessionen. Diese staatlicherseits nicht ungern gesehene Annäherung der Konfessionen betraf die von Friedrich Wilhelm I. (1713-40) gestifteten Simultankirchen in verstärktem Maße. Die allgemeine Tendenz der mehr oder weniger willkürlichen Verkürzung der Liturgie, der alleinigen Konzentration auf die Predigt sowie der liturgischen Konvergenz und Abkoppelung von der eigenen konfessionellen Tradition wurde erst durch den theologisch interessierten und kirchenpolitisch engagierten König Friedrich Wilhelm III., der von 1797 bis 1840 regierte, gestoppt. Im Zuspruch zu seinen Plänen bzw. im Widerspruch gegen sie und seine „Machtanmaßungen" entwickelte sich ein neues, an der Tradition orientiertes liturgisches Bewußtsein. Schleiermacher gehörte von Beginn an zu den kritischen Weggefahrten des liturgiebegeisterten Königs. Seine Rolle im Agendenstreit, die darin bestanden hatte, für provinziale und lokale Eigentümlichkeiten einzutreten und dem Liturgen einen größeren Gestaltungsspielraum zu erhalten, ist oft gewürdigt worden.7 Im Agendenstreit hat Schleiermacher nicht nur grundsätzlich die evangelische Freiheit und die Autonomie der Gemeinden in liturgicis, sondern auch die spezielle reformierte Tradition innerhalb seiner seit 1822 unierten Gemeinde und damit die Errungenschaften der Union zu verteidigen gesucht. Das hieß, den unierten Gottesdienst vor solchen pflichtmäßig auferlegten liturgischen Restitutionen zu schützen, die im ehemals reformierten Teil der Gemeinde keine Tradition hatten. Das genannte rationalistische Schema für den Predigtgottesdienst: Lied Gebet - Lied - Predigt - Lied war um 1800 weitgehend konfessionsneutral in Gebrauch und liegt auch Schleiermachers Liederblättern in bemerkenswerter Stereotypie zugrunde. Doch um welches „Gebet" handelt es sich und was geschah sonst noch?
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Vgl. zuletzt A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer (1992), S. 171ff. (siehe dort auch die ältere Literatur).
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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2. Zur Rekonstruktion von Schleiermachers agendarischer Praxis 2.1. Methodische Vorbemerkungen Schleiermacher hat von 1793 bis zu seinem Tode im Jahre 1834 mit kurzen Unterbrechungen regelmäßig auf der Kanzel gestanden. Als Charitéprediger (1796-1802) hatte er sonntäglich oft drei Gottesdienste zu halten, seit Amtsantritt an der Berliner Dreifaltigkeitskirche im Jahre 1809 hielt er abwechselnd die Früh- oder die Hauptpredigt. Dazu kamen Beichtfeiern und Kasualien, Geschäfte, die sich seit der Gemeindeunion 1822 deutlich häuften. Unter diesen mehreren tausend gottesdienstlichen Feiern interessieren hier nur die liturgischen Abläufe der Hauptgottesdienste Schleiermachers an der Dreifaltigkeitskirche mitsamt den Kommunionen und den ihnen vorausgehenden vorbereitenden Beichtfeiern. Dagegen können Taufen und andere Kasualien nicht berücksichtigt werden. Die so eingegrenzte liturgische Praxis Schleiermachers soll näher untersucht werden, doch ist sie nur hypothetisch rekonstruierbar, aus zwei Gründen: Einmal stellt es ein grundsätzliches Problem dar, die für jede Situation sensible und sich ihrer Improvisationskunst durchaus bewußte Gottesdienstgestaltung Schleiermachers buchstäblich fixieren zu wollen, zumal Schleiermacher selbst sich lebenslang gegen dergleichen Zwänge gewehrt hat. Weil aber die Negation des Buchstabens flir Schleiermacher nicht die Willkür, sondern die am Maßstab der Nachvollziehbarkeit und des Traditionsbezugs orientierte Ordnung im Bewußtsein der Freiheit war, darum mag es erlaubt sein, liturgische Abläufe zu rekonstruieren, wenn bewußt bleibt, daß es sich dabei um idealtypische Rekonstruktionen handelt, und daß es einen Gottesdienst wie den unten modellierten nie gegeben hat. Schleiermachers Gottesdienst entzieht sich seiner buchstäblich genauen Reproduzierbarkeit. Zum andern ist Schleiermachers Gottesdienstpraxis gestempelt von der Ambivalenz der Geschichte. Die zahlreichen Ereignisse im Kontext von Union und Agende verbieten es, ein gültiges Gottesdienstformular Schleiermachers zu proklamieren und zu präsentieren. Dafür bereichern die geschichtlichen Umstände unsere Kenntnisse und verbreitern die Quellenbasis. Zu den Primärquellen zähle ich nicht die einschlägigen Ausführungen in der PT, da diese idealtypischen Charakter tragen und Rückschlüsse auf Schleiermachers eigene Praxis verwehren. Außerdem wird sich zeigen, daß Schleiermachers Theorie und Praxis gelegentlich divergieren. Stattdessen stütze ich mich insbesondere auf Auszüge aus Briefen und Berichten, in denen Schleiermacher, ohne einen normativen Anspruch zu erheben, über seine liturgische Gestaltung bzw. über den Usus in der Dreifaltigkeitskirche berichtet. Diese Dokumente stammen aus den späteren Amtsjahren Schleiermachers, was damit zusammenhängt, daß er erst im Zusammenhang des „Agendenstreites" und vor allem nach Einführung der neuen Agende 1829 über seine eigene agendarische Praxis Rechenschaft gab.8
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Auch die Schrift „Ueber die neue Liturgie fur die Hof- und Garnison-Gemeine zu Pots-
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
In diesem Zusammenhang erfahren wir, daß bei der reformierten Dreifaltigkeitsgemeinde bis zur Union 1822 die von König Friedrich Wilhelm I. bereits 1713 eingeführte Agende in Gebrauch gewesen war.9 Auf deren Formulare stützte sich auch die von Schleiermacher 1822 zusammengestellte unierte Agende für die Dreifaltigkeitskirche, eine eklektisch erstellte Sammlung von Formularen beider Konfessionen für Gottesdienst und Kasualien, auf die ich bei meinen Recherchen im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem stieß.10 Mit Hilfe dieser vier Quellengruppen: der reformierten Agende von 1713/1717, der Textsammlung Unierte Dreifaltigkeitsagende von 1822, der Agende von 1829 (sowie ihrer Vorgängerin, der Dom-Agende von 1822)" und einigen Passagen aus offiziellen und privaten Schreiben läßt sich das Schleiermachersche Gottesdienstformular im Wandel der Zeiten nachzeichnen. 2.2. Quellentexte Es folgen ζ. T. ungedruckte, meist abgekürzte, für Schleiermachers Gottesdienstgestaltung relevante Dokumente, hier in chronologischer Reihenfolge 12 : I. Aus der Ausführungsbestimmung zu einem Protokoll der Unionsverhandlungen an der Dreifaltigkeitskirche, von Superintendent Küster geschrieben an das Konsistorium am 28.5.1820.13 Continatum den 2.ten May 1820. e. In Ansehung der Form der sämmtlichen Amtshandlungen wird folgendes festgesetzt. Die Predigten können von einem jeden Prediger über die Perikopen gehalten werden, jedoch bleibt den Predigern unbeschränkte Freiheit in der Wahl der Texte. Das Gebet des Herrn wird immer nur nach den Worten der lutherischen Uebersetzung und nie anders gesprochen. Die öffentliche Vorbereitung geschieht des Sonnabends und die Rede wird nicht von der Kanzel sondern vor dem Altar gesprochen und nachher stehet es den Mitgliedern der Gemeinde frei, sich zur besonderen Vorbereitung zu ver-
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dam und für die Garnisonkirche in Berlin. 1816", SW 1/5, S. 189-216, ist als Rezension fur unseren Zweck nur bedingt brauchbar, wird aber additiv hinzugezogen, ζ. B. bei der Diskussion um die gottesdienstlichen Lesungen. Zum Quellennachweis und zur Historie s. u. Exkurs III. 2.2. Anm. 16-17. GStA, Consistorium der Provinz Brandenburg. Dreifaltigkeitskirche. Acta betr: Vereinigung der beiden Gemeinden der Dreifaltigkeits Kirche 1820-22. Hauptabteilung X. Pr. Br. Rep. 40, Nr. 876. (Das Konvolut ist nicht paginiert). Auszüge s. u. in Anhang 5). - Im folgenden nenne ich diese Textsammlung „Unierte Dreifaltigkeitsagende". Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, Berlin 18222. Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen. Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg, Berlin 1829. Die Textsammlung von 1822 befindet sich ihres Umfangs wegen im Anhang, siehe Anhang 5). Hier steht unter II. lediglich das Anschreiben der Superintendenten an das Konsistorium anläßlich ihrer Übergabe. GStA, Consistorium der Provinz Brandenburg. Acta betr: Vereinigung der beiden Gemeinden der Dreifaltigkeits Kirche 1820-22 . HA. X. Pr. Br. Rep. 40, Nr. 876.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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sammeln. Des Sonntags während der Predigt findet durchaus keine Beichte statt. Das heilige Abendmahl wird abwechselnd nach der Früh und Vormittags Predigt gehalten. Geschähe dieses aber einen Sonntag um den andern, so würde jeder Pastor entweder nur die Früh- oder die Vormittags Predigt zu administriren haben und deshalb werden immer zwei Sonntage hintereinander Früh- und dann wieder eben so oft Vormittags Communionen gehalten. Was die Form der bei der Vorbereitung zu ertheilenden Absolution und der Abendmahlsfeier betrifft, so wird diese erst durch die zu erwartende allgemeine Agende bestimmt werden können; bis zu deren Erscheinung aber werden sich die Prediger wegen einer gemeinschaftlichen Form einigen, damit nicht durch Verschiedenheit derselben die schwächeren Gemeinde-Glieder auf die Vorstellung gefuhrt werden können, daß die Union noch nicht vollständig sei. Soviel kann indessen hier schon festgesetzt werden, daß zum heiligen Abendmahl nur rundes Brodt gebraucht, daß die Einsetzungs-Worte nicht gleich anfangs, sondern erst nach dem Gebet des Herrn mit Hinweisung auf die heiligen Zeichen gesprochen und daß die Distributions-Worte keine andern als die für die Union bestimmten sein werden. II. Anschreiben der Superintendenten Küster und Marot an das Konsistorium anläßlich der Übergabe der unierten Agende für die Dreifaltigkeitskirche vom 23.2.1822.14 Berlin den 23. Februar 1822. Die Unterschriebenen überreichen die für die hiesige DreifaltigkeitsKirche bestimmte und entworfene Agende. Einem Hochwürdigen Consistorium der Provinz Brandenburg überreichen wir ehrfurchtsvoll zur hochgeneigten Prüfung und Genehmigung di verse Formulare zu den geistlichen Amtshandlungen, wie sie in der Dreifaltigkeitskirche nach vollendeter Union der darin eingepfarrten beiden evangelischen Gemeinden gebraucht werden sollen. Der Pastor D. Schleiermacher hat sie aus den bisher bei diesen Gemeinden gebrauchten, sowohl lutherischen als reformirten Agenden so zusammengesetzt, daß jede Gemeinde in sämtlichen Formularen etwas von dem findet, woran sie gewöhnt ist. Zugleich müssen wir aber noch bemerken, daß diese unierte Agende nur interimistisch und so lange gebraucht werden soll, bis die allgemeine, woran jetzt eine besondere Commission im Auftrag der Provincialsynode des Berlinischen und Potsdamischen Regierungsbezirks arbeitet, erschienen sein wird. Küster Marot. III. Aus Schleiermachers Erklärung an das Konsistorium vom 13.9.1825.15 Bei der Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche nämlich muß unterschieden werden ihr Zustand vor der im Jahre 1822 vollzogenen Spezialunion und ihr Zustand 14 15
Signatur s. o. Anm. 10; die Texte s. u. in Anhang 5). Abgedruckt in: Briefe IV. Hrsg. von Wilhelm Dilthey, S. 446f.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
seit derselben. In der ersten Beziehung habe ich vorzüglich den ehemals reformierten Theil der gegenwärtigen Gemeinde zu vertreten, und in diesem ist notorisch seit Gründung unsrer Kirche die fast gleichzeitig unter der Regierung des in Gott ruhenden Königs Friedrich Wilhelm I. eingeführte Agende gebraucht worden. Diese Agende besteht aus zwei Abtheilungen unter dem Titel: Kirchengebete, welche von Sr. Majestät dem Könige in Preußen in allen evangelisch reformirten und evangelisch-lutherischen Gemeinden verordnet sind16; Kirchenagende d. i. Gebete und Formulare, welche bei den evangelischreformirten Gemeinden in Sr. Königlichen Majestät in Preußen Königreich und andern Landen gebraucht werden.17 Die lutherische Gemeinde hat sich zwar während dieses Zeitraums nicht derselben Agende bedient; da indeß bei ihr derselbe Typus des Gottesdienstes herrschte, ohne Präfationen, Collecten, Responsorien etc., ja auch ohne Bibellection vor dem Altar: so war es leicht unsern Gemeinden bei Anregung der Union zu versprechen, und wir können dies mit vollem Recht als eine Bedingung ansehn unter welcher die Union abgeschlossen worden ist, daß in den bisherigen Formen des Gottesdienstes möglichst wenig sollte verändert werden. Demgemäß wurde dann bei der Union der bisherige einfache Typus des Gottesdienstes beibehalten, und aus der oben angeführten Agende und den bisher bei der lutherischen Gemeinde üblich gewesenen Formularen (diese führen den
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Kirchen-Gebethe, Welche Von Seiner Königlichen Majestät in Preussen, in allen Evangelisch-Reformirten und Evangelisch-Lutherischen Gemeinen Dero Königreichs und andern Landen; und zwar An denen Sonn- und hohen Fest-Tagen vor und nach der Predigt, So dann Bey denen Wochen-Predigten, und In denen Bethstunden und Bußtagen, vorzubethen verordnet seynd. Mit Sr. Königl. Majestät in Preussen Allergnädigstem Privilgio, Von neuem wieder aufgelegt [Berlin] im Jahr 1741 (SBB: Dr 14938 {1}). Kirchen-Agenda, Das ist Gebeth, und andere Formulen, Welche bey denen EvangelischReformirten Gemeinden, in Sr. Königl. Majestät in Preussen Königreich, und andern Landen gebrauchet werden, samt beygefügten Symbolis, oder Glaubens-Bekänntnissen der alten Christlichen Kirchen. Mit Sr. Königl. Majestät in Preussen allergnädigstem Privilegio. Berlin o. J. (SBB: Dr 14938 {2}). - Diese reformierte Agende besteht vor allem aus Sakraments- und Kasualformularen, ein Formular für den gewöhnlichen Predigtgottesdienst fehlt. Enthalten sind aber die Ordnungen für die Vorbereitung und die Abendmahlsfeier mitsamt der zu singenden Liedtexte. Zur Geschichte der reformierten Agende teilen E. Wolf/M. Albertz, Kirchenbuch. Ordnungen fur die Versammlungen der [...] reformierten Gemeinden deutscher Zunge (1941), S. 476, mit: „König Friedrich Wilhelm I. setzte 1713 fur die deutsche reformierte Kirche des damaligen Preußen das reformierte Kirchendirektorium in Berlin ein, das noch 1713 eine Agende (Berlin, Ulrich Liepert) herausgab. Während diese Agende nur die Vorschriften für die Predigt-Gottesdienste und Betstunden darbot, wurden in der Neubearbeitung der Agende von 1717 Festgebete und die Ordnung für die Sakramente und andere Zeremonien zugefügt. Der erste Teil der Agende wurde auch fur die evangelisch-lutherischen Gemeinden verpflichtetend gemacht. [...] Der zweite Teil der Agende schließt sich, wie das bei dem pfalzischen Ursprung der meisten preußischen Gemeinden natürlich ist, an die Pfälzer Überlieferung, hier und da auch an die niederländische an." Beide Teile der Agende: die Kirchen-Gebete (1713) und die Kirchen-Agenda (1717) wurden 1741 von Friedrich II. bestätigt.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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Titel Kirchenagende Berlin 1774 und muß ich es meinen Herren Collegen überlassen derselben nachzuweisen) 18 neue in der Weise zusammengesezt, daß jeder Theil das Wesentliche seines bisherigen Rituals wiederfand, nur in verschiedenen Formularen auf verschiedene Weise mit dem verschmolzen was dem andern Theil angehörte. Diese Formulare sind unter Zuziehung beider Superintendenten abgefaßt und Einem Hochwürdigen Consistorio auf dessen Befehl vorgelegt worden. IV. Aus einem Schreiben des Vorstandskollegiums an das Konsistorium vom 26.9.1825. 19 Auf die verehrte Verfügung vom 2t. Augwjí et praesentatum d. 12t. beriethen wir gehorsamst daß in der bei unserer Gemeine eingeführten Form des Gottesdienstes keine Responsorien vorkommen, und nur bei den Communionen nach den Hauptpredigten ein Heilig vom Chor gesungen wird. Dieses hat bisher der Singechor der Realschule immer verrichtet. V. Aus Schleiermachers Stellungnahme für das Konsistorium zur Agende vom 25.2.1829. 20 2. Was die Liturgie besonders anlangt: so wäre vielleicht nicht nöthig zu erwähnen daß ich den Gebrauch der größeren, auch wenn wir einen für den Gottesdienst der Gemeinde verpflichteten Chor bekämen, den Verhältnissen doch nicht angemessen finden würde. Allein auch in dem Auszuge ist noch immer das Verlesen beider Perikopen vorgeschrieben. Dies scheint mir für eine Gemeine welche nie an eine solche Verlesung gewöhnt gewesen ist um so mehr zu viel, als doch beide Perikopen nicht unter sich zusammenhangen, und also auch nicht mit dem auf die Predigt bezüglichen Gesang in Verbindung stehen können. Ich möchte sogar wünschen, wenn beide sich von dem Gegenstande der Predigt zu weit entfernen ein dem Texte verwandteres biblisches Stück an die Stelle sezen zu dürfen. VI. Aus einem Brief Schleiermachers an Gaß, Frühjahr 1829.21 Nur bei der Vorlesung beider Perikopen würde es in der Regel doch bleiben müssen. Ich hatte deshalb auch ein Lüstchen, am Charfreitag Jes. 53 und die Passionsgeschichte ganz zu lesen, aber ich unterließ es doch und habe immer nur einen Abschnitt gelesen, das Glaubensbekenntniß immer ausgelassen, auch 18 19 20 21
Auch ich bin zum Nachweis dieser Agende leider nicht imstande! Das Dokument ist vollständig abgedruckt bei A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 62, S. 526f. und hier in Anhang 6), s. u. Abgedruckt in: Briefe IV, S. 486. Vgl. Schleiermachers Briefwechsel mit Gaß, S. 212f. Der Brief stammt aus der Zeit kurz nach Veröffentlichung der „Agende für die evangelische Kirche [...] Mit besonderen Bestimmungen und Zusätzen für die Provinz Brandenburg, Berlin 1829". Als Provinzialausgabe war die Agende für Schleiermacher annehmbar geworden. Hier berichtet er über seinen Umgang mit der neuen Agende und die Auflagen des Staatsministers von Altenstein. - Die erwähnten liturgischen Stücke weise ich hier bereits in Anmerkungen nach.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
wenn ich kein symbolisches Lied singen ließ. Das kurze Sündenbekenntniß22 und das „Herr erbarme Dich" ziehe ich ohne Amen in Eins zusammen mit Nr. 7 und 8 der Epistelsprüche23, welche beide zusammen ziehmlich unser reformirtes Morgengebet sind. Dann lasse ich Epistel und Evangelium folgen mit irgend einem angemessenen Votum, ohne mich an die vorgeschriebenen zu kehren, und dann ist es aus. Nach der Predigt nehme ich, wie ich auch sonst immer that, einen Auszug aus dem auch in den Nachtrag aufgenommenen alten Kirchengebet.24 Was die Communion betrifft, so behalte ich unser Vorbereitungsformular als ein bestätigtes, welches der Nachtrag zuläßt25; bei der Communion nehme ich dann das Formular S. 64 des Nachtrages26 (aber vor den Einsezungsworten) nebst dem darauf folgenden Gebet, welches beides sehr mit unserer Agende übereinstimmt, und so hat bis jezt wirklich noch Niemand viel neues bemerkt. VII. Aus einem Brief Schleiermachers an Blanc, vom 5. Mai 1830.27 Ihre Frage wie es denn in den rein reformirten Kirchen hier gehalten wird, weiß ich nicht einmal vollständig zu beantworten. Der Dom ist ganz an die große Liturgie gebunden, und alle späteren sogenannten Bewilligungen gehen an ihm vorbei, meine Kirche war schon seit der Union keine reformirte mehr. Es bleiben also nur die anderen Simultankirchen übrig, die jezt erst in der Union begriffen sind, und die Parochialkirche. In der lezteren habe ich den Altarschmuck - ein Kreuz wenigstens, aber ich meine auch Kerzen - schon seit mehreren Jahren gesehen, und so ist es auch bei mir seit der Union. Von der Agende halten wir uns wol alle an ein Minimum, unter allen aber glaube ich das wenigste zu haben. Ich halte mich an den Auszug28, fange (mit Uebergehung des In nomine) wie sonst auch mit dem adjutorium an. Dann nehme ich eins der Sündenbekenntnisse und schließe an dieses vermittelst des „Herr erbarme Dich und erhöre uns", ohne Amen und mit Uebergehung des gloria, die Sprüche 7 und 8 sub rubro „Vor der Epistel" an, welche zusammen genommen fast ganz unser altes Morgengebet sind. Dann lese ich immer nur eines von beiden, Epistel oder Evangelium, und schließe darauf mit unserm „Der Gott des Friedens etc.", welches auch irgendwo unter den Sprüchen steht.29 Kreuz machen und der Gemeine den Rücken kehren habe ich mir ganz verbeten, und überhaupt gegen alle Buchstäblichkeit protestili, was ich mir denn auf die angezeigte Weise zu nuze mache. Unser Vorbereitungsformular, wie wir es bei der Union zusammengesezt, behalten wir; denn das ist freigestellt30, und für das Abendmahl giebt es ein
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Sündenbekenntnisse zum abwechselnden Gebrauche, Nr. 4, Agende 1829,1 .Teil, S. 61. Gebete (Collecten) vor der Epistel, Nr. 7/8, in: Agende 1829, 1 .Teil, S. 67f. Agende 1829,2.Teil, S. 65-70. Agende 1829, 2.Teil, S. 48. Hier Hegt schlicht ein Abschreib- bzw. Druckfehler vor! Gemeint ist S. 50 des 2.Teils. Abgedruckt in Briefe IV, S. 398f. Auszug aus der Liturgie, in: Agende 1829,1 .Teil, S. 22-26. Vgl. Agende 1829, 1 .Teil, S. 84. Unierte Dreifaltigkeitsagende, s. u. Anhang 5).
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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Formular im zweiten Theil, welches auch großentheils unser altes ist.31 Das Trauungsformular ist sehr leicht zu arrangiren; aber nach der neuen Agende zu taufen habe ich mich noch nicht entschließen können; es ist mir zu trocken und mangelhaft. Indeß hat noch kein Hahn danach gekräht, daß ich selbst in der Kirche mich unsres bisherigen Formulars bediene. VIII. Gehorsamster Bericht über den Gebrauch der Agende, an Superintendent Pelkmann vom 31.10.1832.32 Bei dem sonn und festtäglichen Hauptgottesdienst bediene ich mich des Auszuges der Liturgie, so daß ich von den beiden Eingangssprüchen immer nur einen, gewöhnlich das adjutorium nehme, nach dem Sündenbekenntniß mit dem Kyrie gleich die Collecte Nr. 7 u 8 - mit Weglassung dessen, was im Sündenbekenntnis schon vorgekommen ist - verbinde, von den beiden Perikopen nur eine, gewöhnlich die Epistel lese, das credo aber weglasse - da der Gottesdienst größtenteils mit einem symbolischen Liede beginnt und das Credo doch hernach noch bei den Taufen gesprochen werden muß - und mit einem von den Sprüchen vor dem Glauben33 schließe, indem das Kirchengebet auf die Predigt folgt. Bei den Communionen bediene ich mich der Formulare Theil II S. 48 aber nur von S. 50 an indem das Frühere in unsern Vorbereitungsformularen vorkommt. Die Einsetzungsworte lasse ich erst auf das Unser Vater folgen indem eine Abweichung von dieser alten Ordnung meiner Gemeine sehr störend sein würde. Nach der Communion gebrauche ich das Gebet Thez71. S.18.34 Die Taufe verrichte ich nach dem Formular Theil II. S. 54 seinem wesentlichen nach, bediene mich aber auch zur Abwechslung noch öfter der bei unsrer Kirche vorher üblich gewesenen. Bei Trauungen gebrauche ich das Formular S. 59 und bei Begräbnissen schalte ich wenn keine besondre Grabrede gehalten worden ist dem liturgischen Gebet die individuellen Beziehungen ein. Berlin den 31. October 1832 Dr. Fr. Schleiermacher 2.3. Schleiermachers Gottesdienstordnung 1829ff. Auf der Folie der verordneten Agende von 1829 und mit Hilfe der Zeugnisse und Selbstzeugnisse läßt sich das Schema für Schleiermachers Hauptgottesdienst nach 1829 relativ genau rekonstruieren und zwar: der Predigtgottesdienst, die Abendmahlsfeier und die Vorbereitung zum Abendmahl.35 Wo Schleierma31 32
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34 35
Vgl. Agende 1829, 2. Teil, S. 50f. Superintendentur Friedrichswerder, Acta V/2, betr. die Agende und den vorschriftsmäßigen Gebrauch in den Kirchen. Bl. 114. Abgedruckt bei A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 34, S. 490f. Schleiermacher meint wohl, wie auch A. Reich, S. 216, vermutet, einen der Sprüche aus der Sammlung „Sprüche nach dem Glauben zum abwechselnden Gebrauche", Agende 1829, 1. Teil, S. 84-86. Dankgebet nach dem Abendmahl, Agende 1. Teil, S. 18f. Den Versuch, Schleiermachers Gottesdienstformular zu rekonstruieren, hatte bereits Reich unternommen, vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, S. 214ff. Ich kann seine Vermutungen nur z. T. bestätigen, zur Kritik im einzelnen s. u.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
eher auf Kontinuität ausdrücklich hinweist, da können - wie im Fall des Vorbereitungsformulars - auch frühere Texte „interpoliert" werden. Erst in einem zweiten Schritt wird es möglich sein, hinter die Ordnung von 1829 zurückzugehen.36 2.3.1. Der
Predigtgottesdienst
Für den Predigtgottesdienst konfrontiere ich die obigen Angaben mit dem von Schleiermacher benutzten „Auszug aus der Liturgie".37 Dabei gehe ich hypothetisch davon aus, daß er sich dieses Formulars dort bedient hat, wo von Abweichungen nichts verlautet. Die liturgischen Texte (kursiv gesetzt) stammen aus dem „Auszug" und sind in Schleiermachers Gebrauch lediglich als Richtlinie zu betrachten, d. h. das Formular der rechten Spalte trägt reinen Modellcharakter. Auszug aus der Liturgie Gesang der Gemeinde Der Geistliche spricht: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Unsere Hülfe sey im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat [Folgt eins der Sündenbekenntnisse.]
Schleiermachers Formular 1829ff. Gesang der Gemeinde38
Unsere Hülfe sey im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Allbarmherziger Gott und Vater! In tiefer Demuth erkennen und bekennen wir vor Dir unsere vielfachen Sünden und Vergehungen. Siehe erbarmend auf uns nieder und vergieb uns Reuigen alle unsere Sünden, um des Verdienstes Deines lieben Sohnes, unseres Heilandes, Jesu Christi willen. 39 [Amen.]
Herr erbarme Dich unser, (und erhöre uns Herr erbarme Dich unser, und erhöre uns gnädiglich!) [oder anstatt der eingeklamgnädiglich! 40 merten Worte: „und sey uns gnädig!"7 Ehre sey Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Amen.
36 37
38 39
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Obwohl die Gottesdienste der letzten Jahre nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit sind, empfiehlt sich eine Rekonstruktion des Formulars aus methodischen Gründen. Agende 1829, 1. Teil, S. 22-26. Das einlinige Formular reicht nur bis zum Credo, ab da gibt es Varianten zur Abfolge von Predigt, Kirchengebet und Vaterunser, vgl. S. 26. Ich stelle hier die erste Variante vor. Zum Orgelvorspiel, s. u. nach dieser Tabelle und Anm. 47. Vgl. den Brief an Gaß, s. o. Exkurs III. 2.2.: „Das kurze Sündenbekenntniß und das ,Herr erbarme Dich' ziehe ich ohne Amen in Eins zusammen mit Nr. 7 und 8 der Epistelsprüche." Das kürzestes Sündenbekenntnis der Sammlung ist die Nr. 4, Agende 1829, 1. Teil, S. 61. Vgl. Brief an Blanc, s. o. Exkurs III. 2.2.: „Dann nehme ich eins der Sündenbekenntnisse und schließe an dieses vermittelst des ,Herr erbarme Dich und erhöre uns', ohne Amen und mit Uebergehung des gloria, die Sprüche 7 und 8 sub rubro ,Vor der Epistel' an ..."
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
Auszug aus der Liturgie
329
Schleiermachers Formular 1829ff.
Der Herr sey mit euch!
[Folgt eins der Gebete (Collecten) vor der Epistel.]
Barmherziger, getreuer Gott, der Du bei uns das helle Licht Deines Evangelii hast lassen aufgehen, bei welchem wir Dich und Deinen Willen recht erkennen, und lernen können, wie wir christlich leben und selig sterben sollen, wir bitten Dich, heilige uns duch Deinen Geist, j e länger j e mehr, daß wir der Welt und allen weltlichen Lüsten von Herzen absagen, und unsere Freude darin suchen, Dir zu dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die Dir gefällig ist, durch Jesum Christum unsern Herrn. Allmächtiger Gott und Vater, demnach wir allhier versammelt sind, den Tag des Herrn zu feiern, so eröffne unsere Ohren und Herzen, daß wir Dein heiliges Wort hören, mit Fleiß erwägen und in reinem Herzen behalten, Dich getrost anrufen, und alle noch übrigen Tage unseres kurzen Lebens uns zubereiten zu der Seligkeit, da wir mit englischen Zungen und Herzen Deine große Thaten mit allen auserwählten Engeln und Menschen rühmen und preisen werden in alle Ewigkeit. Amen. 41
Die Epistel steht geschrieben:
[Vorlesung
derselben.]
Die Epistel [bzw. das Evangelium] steht geschrieben: [Vorlesung derselben.] 42 Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar, und euer ganzer Geist, Seel' und Leib, werde unsträflich bis auf die Zukunft unseres Herren Jesu Christi behalten. Getreu ist der euch ruft, der wird's auch thun. 43
[Folgt einer der Sprüche vor dem Alleluja.J Das heilige Evangelium stehet geschrieben:
[Vorlesung desselben.] Gelobt seyst Du, o Christus. Amen. Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen
41
42 43
Schleiermacher zieht die beiden Kollektengebete Nr. 7 und 8 zusammen, was die Agende auch ausdrücklich erlaubt, vgl. Agende 1. Teil, S. 67f. Die Nr. 8 beginnt mit den Worten „Allmächtiger Gott und Vater..." Die förmliche Ankündigung der Schriftlesung ist aus Schleiermachers Munde schwer vorstellbar. Vgl. Brief an Blanc, s. o. Exkurs III. 2.2. (unter VII.): „Dann lese ich immer nur eines von beiden, Epistel oder Evangelium, und schließe darauf mit unserm ,Der Gott des Friedens etc.' ..." Dieser Spruch aus IThess 5, 23f. Schloß traditionell das Morgengebet ab, vgl. die unierte Dreifaltigkeitsagende (beide Formen), s. u. Anhang 5).
330
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis Auszug aus der Liturgie
Schöpfer Himmels und der Erde; und an Jesum Christum, seinen eingebornen Sohn ... Amen. Predigtlied Predigt Kirchengebet Herr Gott, himmlischer Vater! wir bitten Dich, Du wollest Deine christliche Kirche mit allen ihren Lehrern und Dienern, durch Deinen heiligen Geist regieren, daß sie bei der reinen Lehre Deines Wortes erhalten, der wahre Glaube in uns erweckt und gestärkt werde, auch die Liebe gegen alle Menschen in uns erwachse und zunehme. Laß, o Herr, Deine Gnade groß werden über den König, unsern Herrn, den Kronprinzen, die Kronprinzessinn, das ganze Königliche Haus, und alle, die ihm anverwandt und zugethan sind. Erhalte sie uns bei langem Leben, zum beständigen Segen und christlichen Vorbilde.Verleihe unserm Könige eine lange und gesegnete Regierung. Beschütze das Königliche Kriegsheer und alle treuen Diener des Königs und des Vaterlandes. Lehre sie, stets wie Christen, ihres Eides gedenken und laß dann ihre Dienste gesegnet seyn zu Deiner Ehre und des Vaterlandes Bestem. Segne uns und alle königlichen Länder. Hilf einem jeden in seiner Noth, und sey ein Heiland aller Menschen, vorzüglich Deiner Gläubigen. Bewahre uns vor einem bösen, unbußfertigen Tode, und bringe uns endlich uns Alle in Dein ewiges Himmelreich, durch Jesum Christum unsern Herrn. Amen.
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Schleiermachers
Formular
1829jf.
Predigtlied Predigt Kirchengebel44 Allmächtiger, ewiger Gott, barmherziger Vater in Jesu Christo, wir danken Dir von Herzen, daß Du uns in diesem zeitlichen Leben bisher gnädiglich erhalten, und durch Dein Evangelium von Deinem Sohne auch zu dem ewigen Leben berufen und zubereiten lässest, wie wir denn eben jetzo Dein heiliges Wort in Friede und Ruhe zu dem Ende anhören können. Wir bitten Dich demüthiglich, siehe uns ferner in Gnaden an, vergieb uns unsre Sünden und Uebertretung, und erneuere uns im Geist unsers Gemtlths, daß wir Dir dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die Dir gefällig ist. Erhalte unter uns die Predigt Deines Worts, sammt dem reinen Gebrauch Deiner heiligen Sakramente, und gieb treue Hirten und Lehrer uns und unsern Nachkommen. Steure und wehre mächtiglich allen Verfuhrungen und Verleitungen von der Kraft der Gottseligkeit; damit also Dein Name einmüthiglich, wie in der ganzen Christenheit, also auch in diesem unsern Lande geheiliget, Dein Reich vermehret, und des Satans Reich mehr und mehr gestöret werde. Nimm dich allenthalben gnädiglich Deiner Kirchen an, sonderlich der Verfolgten, und schaffe ihnen Pfleger und Säugammen, an allen Herrschaften und Regenten. Absonderlich laß Dir, o Gott! in Deinem Schutz und Gnade befohlen seyn: Alle mit uns verbündete Kaiser, Könige und Fürsten, damit sie alles befördern mögen, was zum allgemeinen Wohl und Frieden ersprießlich ist. Zu dem Ende laß Dir, o Gott! in Deinem Schutz und Gnade befohlen seyn alle christliche Potentaten. Fürnehmlich laß Deine Barmherzigkeit groß werden Uber unsern allertheuersten König und Herrn, über die königlichen Prinzen und Prinzessinnen, und alle die dem königlichen Hause anverwandt und zugethan sind. Setze sie bei gesundem und langem Leben, zum beständigen Segen und christlichen Vorbilde Deinem Volke für und fur. Sonderlich wollest Du, o Herr, unserm Könige zu seiner Regierung geben und verleihen ein weises Herz, königliche Gedanken, heilsame Rathschläge, gerechte Werke, einen tapfern Muth, starken Arm, verständige und getreue Räthe zu Krieges- und Friedenszeiten, sieghafte Kriegesheere, getreue Diener
Gaß gegenüber hatte Schleiermacher erklärt: „Nach der Predigt nehme ich, wie ich auch sonst immer that, einen Auszug aus dem auch in den Nachtrag aufgenommenen alten Kirchengebet." s. o. Exkurs III. 2.2. (unter VI.) - Dieses alte Kirchengebet von 1713 steht im Nachtrag der Agende, 2. Teil, S. 65-70. In einer Anmerkung wird auch dort die Abkürzung erlaubt und empfohlen.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis Auszug aus der Liturgie
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Schleiermachers Formular 1829ffi und gehorsame Unterthanen, damit wir noch lange Zeit unter seinem Schutz und Schirm ein geruhiges und stilles Leben fähren mögen in aller Gottseligkeit. Nimm auch in Deinen väterlichen Schooß alle hohe und niedrige Offiziere und Soldaten, bewahre sie auf ihren Wegen und Stegen; regiere ihre Herzen jederzeit, daß sie dem Eid, welchen sie so theuer geleistet, fleißig und gehorsamlich nachleben. Behüte sie vor Krankheiten und ansteckende Seuchen, und allem andern Uebel. Lasse sie Deine väterliche Liebe und Fürsorge dergestalt erkennen, daß ihre Dienste gereichen zu Deiner Ehre, zum Schutz der Kirchen und des Vaterlandes, wie auch zu ihrer zeitlichen und ewigen Wohlfahrt. Wir befehlen Dir auch alle hohe und niedrige Civilbediente, die sowohl anderswo, als hier, insondernheit des Königs und des Vaterlandes Bestes suchen und befördern; wie auch einen hochweisen Rath und verordnete Gerichte dieser Städte. Lehre sie alle einmUthig dahin trachten, daß Recht und Gerechtigkeit gehandhabet, und hingegen alles ungerechte Wesen durch ihren Dienst getilget werde. Stehe ihnen bei mit Deiner väterlichen Hilfe, daß der Sünden und Seufzer des Landes weniger, und Dein Segen undter uns vermehret werde. O Du Gott der Heerschaaren! Zieh' allenthalben aus mit des Königs Armee und Truppen, verleihe ihnen Glück und Sieg, damit ein redlicher allgemeiner Friede beständig erhalten werde. Segne liebreicher Gott, uns und alle Königliche Länder, die christliche Kinderzucht, alle ehrliche Handthierung und Nahrung zu Wasser und zu Lande. Hilf einem jeden in seiner Noth, und erbarme Dich aller, die wo zu Dir schreien. Behalte uns in Deiner Liebe, und laß uns alles in der Welt zum Besten dienen. Wende von uns in Gnaden ab alle wohlverdiente Landplagen, Krieg, Hunger und theure Zeiten, feuer- und Wassersnoth, Pestilenz und andere Seuchen an Menschen oder Vieh, oder was wir sonst mit unsern Sünden verdienet haben. Gieb gedeihliches Gewitter, und laß wohlgerathen die Früchte der Erden. Sey ein Heiland aller Menschen, sonderlich Deiner Gläubigen. Du heiliger Gott! bewahre uns vor Sünden und Schanden, und stehe uns bei mit Deinem guten Geiste, damit wir nicht durch Uebertretung Deinen Segen verscherzen und Deine gerechte Strafe uns zuziehen. Wir erkennen, o Herr, wenn Du uns nach Deiner Langmuth damit verschonest, daß es nicht ist unsere Gerechtigkeit, die Dich hierzu beweget, denn wir sind unnütze Knechte vor Dir, sondern allein Deine grundlose Barmherzigkeit. Nach derselben sei uns ferner gnädig, und lenke unsere Herzen auch zur Liebe gegen den Nächsten, und Mitleiden gegen alle Nothleidende, daß wir nie vergessen jedermann, auch unsern Feinden, Gutes zu thun, damit wir erweisen, daß wir Deine Kinder sind. Bewahre uns vor einem bösen und schnellen Tode, und bereite uns mehr und mehr durch Deinen Geist und Gnade zu einem seligen Ende.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis Auszug aus der Liturgie
Schleiermachers Formular 1829ff. Vornehmlich aber in der letzten Todesstunde, treib von uns den Satan mit allen seinen Anfechtungen und vermehre uns den Glauben an Deinen Sohn Jesum, daß wir überwinden alle Schrecken des Todes. Wenn dann unsere Ohren nicht mehr hören können, so laß Deinen heiligen Geist Zeugniß geben unserm Geiste, daß wir als Deine Kinder und Christi Miterben, bald sollen mit Jesu bei Dir im Paradiese seyn. Wenn auch unsere Augen nicht mehr werden sehen können, so thue unsere Glaubensaugen auf, daß wir alsdann vor uns Deinen Himmel offen sehen, und den Herrn Jesum zu seines Vaters Rechten; auch wir seyn sollen, wo er ist. Wenn auch unsere Zunge nicht mehr wird sprechen können, dann laß sonderlich Deinen Geist uns vor Dir vertreten mit unaussprechlichem Seufzen und einen jeden lehren in seinem Herzen rufen: Abba, lieber Vater! Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist. Gieb also, getreuer Gott! daß wir leben in Deiner Furcht, sterben in Deiner Gnade, dahinfahren in Deinem Frieden, ruhen im Grabe unter Deinem Schutz, auferstehen durch Deine Kraft, und darauf ererben die selige Hoffnung, das ewige Leben! Um Deines lieben Sohnes willen, Jesu Christi unsers Herrn, welchem sammt Dir und dem heiligen Geist, sey Lob und Preis, Ehre und Herrlichkeit jetzt und immerdar. Amen! Amen!
U n s e r Vater, der D u bist im H i m m e l ! G e -
U n s e r Vater, der D u bist im H i m m e l ! G e h e i -
heiliget ... A m e n .
liget ... A m e n . 4 5
D e r Herr s e g n e dich etc.
Kurzer Gesang der Gemeinde
D e r Herr s e g n e dich etc.
Kurzer Gesang der Gemeinde46
Der Gottesdienst beginnt mit dem Gemeindegesang („Vor dem Gebet"). Zum Orgelpräludium schweigt die Agende. Doch in Schleiermachers Gottesdienst ist fest damit zu rechnen.47 Für den Eingang wählt Schleiermacher gern Lieder mit „symbolischem", d. h. bekenntnismäßigem Charakter. Dann eröffnet der Geistliche mit dem Adjutorium „Unsere Hilfe ...", einer typisch reformierten Eröffnung.48 Auf ein kurzes Sündenbekenntnis folgt das deutsche Kyrie: „Herr erbar45 46 47
48
Zum unierten Wortlaut des Herrengebets s. u. nach dieser Tabelle und Anm. 54. Evtl. folgte das letzte Lied unmittelbar auf das Gebet und ging dem Segen voraus, zum Problem s. u. Exkurs III. 2.4.1. Ebenso die D o m - A g e n d e v o n 1822, dagegen hatte der König in der Militär-Agende ( 1 8 1 6 ) gefordert: „Einige Accorde auf der Orgel bezeichnen den Anfang des Gottesdienstes." Vgl. Liturgie für die H o f - und Garnison-Gemeinde zu Potsdam und für die Garnison-Kirche in Berlin, Berlin 1816. In seiner Rezension hat Schleiermacher gerade an der Formulierung „einige Accorde" Anstoß genommen: „und es bleibt daher eine sehr verständige Einrichtung daß in allen unsern Kirchen ein Orgelvorspiel, nicht bloß einige Accorde [...] diese Stelle einnimmt." S W 1/5, S. 205. - D i e Schwierigkeiten des Königs mit dem Orgelvorspiel belegen auch seine Agendenentwürfe und Randbemerkungen, vgl. E. Foerster, D i e Entstehung der preußischen Landeskirche Bd. 2 (Beilagen 3 und 5). Mit dem „Nostre aide soit au N o m de D i e u etc." eröffnete bereits Calvin seinen Predigt-
E x k u r s III: Schleiermachers agendarische Praxis
333
me dich und erhöre uns gnädiglich!", das infolge der Auslassung von Gloria und Salutatio geschmeidig zur Kollekte (Morgengebet) überleitet.49 Die von Schleiermacher mühsam akzeptierte Epistellesung wird mit einem der Sprüche „vor dem Glauben" abgeschlossen. 50 Bei dem im Brief an Blanc erwähnten Spruch IThess 5, 23f. handelt es sich nicht um einen beliebig austauschbaren Bibelvers, sondern um den ursprünglichen Abschluß des alten reformierten Morgengebets. Indem Schleiermacher die Epistel auf diese Weise abschließt, bewahrt er ein Traditionsstück und schließt die seiner Gemeinde fremde Lesung behutsam in Vertrautes ein.51 Damit fällt auch „einer der Sprüche vor dem Alleluja", einen Halleluj avers gab es in der Dreifaltigkeitskirche sowieso nicht. Ebenfalls entfallen das Evangelium samt Akklamationen und der Glaube52, so daß sich an die Epistel direkt das Lied zur Predigt („Nach dem Gebet") anschließt und an dieses die Predigt. Beim Abschluß des Predigtgottesdienstes scheint es keine Differenzen zur Agende gegeben zu haben, so daß davon auszugehen ist, daß der Predigt das abgekürzte Kirchengebet folgte. Schleiermacher legt großen Wert auf die Bewahrung der Tradition des freien Gebetes im Anschluß an die Predigt. Zahlreiche solcher Gebete sind mit den Predigtdrucken und -nachschriften überliefert. Es scheint, daß sie oft in das allgemeine Kirchengebet und die Fürbitten übergingen, bzw. eine freie Paraphrasierung desselben waren.53 Das Kirchengebet und die Fürbitten schlossen mit dem Herrengebet, das seit 1817 immer im Wortlaut der „kirchlichen Überlieferung", das hieß entsprechend Luthers Bibelübersetzung, gesprochen wurde. Unter dieser Formel
49
50 51
52 53
gottesdienst, vgl. Rietschel-Graff, Lehrbuch der Liturgik (1951 2 ), S. 357. Zum Wortlaut des sogenannten Morgengebets s. u. Exkurs III. 2.4.1. Die Zusammenfassung von Sündenbekenntnis, Kyrie und Gebet hat sich seit der Kurpfälzer Ordnung von 1563 im deutschsprachigen reformierten Raum durchgesetzt, vgl. E. Wolf/M. Albertz (Hrsg.), Kirchenbuch, S. 56f. Gemeint ist einer der Sprüche „nach dem Glauben" Agende 1 .Teil, S. 84-86. Mit dieser „List" erfüllte Schleiermacher einerseits die episkopalen und ministerialen Auflagen, vgl. Briefwechsel mit Gaß, S. 212, andererseits bettete er die seiner Gemeinde fremde Lesung sanft in die altvertrauten Worte des reformierten Morgengebets ein. - Zur Tradition der Schriftverlesung in der reformierten Kirche, vgl. Kirchenbuch, S. 56. Das Apostolikum findet sich als obligatorisches Credo seit 1816 in allen Agendenversuchen des Königs. Am Osterfest 1833 predigte Schleiermacher über Lk 24,5f. Am Schluß folgt ein Gebet mit Anmerkung des Hrsg.: „Folgen die gewöhnlichen Fürbitten", Vgl. SW II/2, S. 464. Vgl. auch das Gebet im Anschluß an die Predigt vom 31.3.1822, s. o. 3.5.8.2. - Bereits in seiner Schrift „Lieber die neue Liturgie" (1816) hatte Schleiermacher seine eigene Handhabe zu Protokoll gegeben, daß nämlich „viele Prediger zu denen ich auch gehöre es zwekkmäßig finden, so oft die Predigt ein auf ihren Inhalt sich beziehendes Schlußgebet herbeifuhrt, mit diesem auch gleich die allgemeine Fürbitte, die das Wesen des Kirchengebets ausmacht, zu verbinden. Dann wird eine Abkürzung wünschenswerth; und ich habe immer geglaubt daß wenn ich hierbei nur dem Gedankengange des vorgeschriebenen Gebetes gefolgt bin und keinen Hauptpunkt übergangen habe, dann der Liturgie ihr volles Recht widerfahren ist." SW 1/5, S. 195. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist das Gebet am zweiten Weihnachtstag 1823, s. u. 3.6.4.3., Anm. 37.
334
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
verbarg sich eine unierte Mischform mit den Identitätsmerkmalen: „Unser Vater ..." und der siebenten Bitte: „... sondern erlöse uns von dem Übel".54 Mit einem kurzen Gemeindegesang („Nach der Predigt") und dem aaronitischen Segen ging der Gottesdienst zu Ende.55 2.3.2. Die Vorbereitung des Abendmahls Das Abendmahl begann am Vortag (Samstag Mittag 13 Uhr)56 mit der sogenannten Vorbereitung, einer Beichtfeier, die von dem jeweils am Sonntag amtierenden Geistlichen gehalten wurde. In den genannten Dokumenten weist Schleiermacher ausdrücklich darauf hin, daß das anläßlich der Union 1822 eingeführte Vorbereitungsformular bestätigt worden sei.57 Da sich das Vorbereitungsformular von 1822 auf die alten, in beiden Gemeinden in Geltung gewesenen Ordnungen bezieht, ist es für die Rekonstruktion der Schleiermacherschen „Vorbereitung" sinnvoll, die nun bekannten Texte der unierten Dreifaltigkeitsagende (kursiviert) in das agendarische Gerüst der alten reformierten Agende von 1717 einzufügen. 58 Für Schleiermachers Gottesdienst kommen die Texte der Form II. als die stärker reformiert geprägten in Betracht. Der agendarische Eingang der „Vorbereitung" (Lied, Eingangsspruch, Beichtrede, Lied) ist unscharf und wird im nachfolgenden Schema aus der Agende von 1829 ergänzt.59
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55 56 57 58
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S. o. Exkurs III. 2.2. Auf die Autorität von Luthers Übersetzung (Mt 6,9-13) weist auch die Agende 1829, 1. Teil, S. 10 in einer Anmerkung ausdrücklich hin. Der unierte Wortlaut stellt insofern einen Kompromiß dar, als er bei der Anrede die bisherige reformierte Praxis, bei der siebenten Bitte die lutherische Praxis rezipierte. Dort beten die Reformierten: „Erlöse uns von dem Bösen." Gegen A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer (1992), S. 147: „Auch in der heftig diskutierten Frage des Wortlauts des Herrengebets konnten sich die Lutheraner durchsetzen (,Vater unser [...] erlöse uns von dem Obel' gegenüber der reformierten Lesart .Unser Vater [...] erlöse uns von dem Bösen')." Das stimmt nicht! Zur Diskussion der Reihenfolge nach der Predigt, s. u. Exkurs III. 2.4.1. Unionsstatut für die Dreifaltigkeitsgemeinde vom 10.1.1822, § 12, vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 31, S. 484. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter VI. und VII.). Ich gebe hier nur die Texteingänge. Für die vollständigen Texte der unierten Dreifaltigkeitsagende (1822) verweise ich auf meinen Anhang 5). - Das von Schleiermacher bis 1822 benutzte reformierte Vorbereitungsformular findet sich auf S. 25-53 der KirchenAgenda (1717, neu aufgelegt 1741). 1. Teil, S. 33: Lied - In nomine - Beichtrede. - Die alte kurpfalzische Ordnung von 1563, die für viele reformierte Abendmahlsformulare vorbildlich war, begann mit einem Bußpsalm, es folgte ein Eingangsspruch und die evtl. Zulassung „neuer Abendmahlsgenossen". Vgl. Kirchenbuch, S. 197ff.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
335
Gesang der Gemeinde60 evtl. Eingangsspruch. Der Geistliche: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. evtl. Beichtrede61 evtl. Lied62 Vorbereitungsrede63 Geliebte in dem Herrn! Da wir in dem heiligen Abendmahl unseres Herrn ... Sündenbekenntnis (alternativ) So kniet nun nieder, und bekennet Gott eure Sünden also: Allmächtiger Gott und Vater unsres Herrn und Heilandes Jesu Christi! ich bekenne daß ich durch mannigfaltige schwere Versündigungen [...] Amen. 64 Oder Ich armer Sünder bekenne vor dir meinem Gott und Schöpfer, daß ich leider schwer und [...] Amen. 65 Absolution Auf solch euer Bekenntniß verkündige ich euch allen, dieweil ihr euch des 60
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62 63
64
65
In der Kirchen-Agenda (1717) beginnt die Vorbereitung mit dem Psalmlied „Herr Gott nach deiner großen Gütigkeit" (Ps 51, 9 Strophen), ebd., S. 25-28. Welche Lieder an der Dreifaltigkeitskirche bei der Vorbereitung gesungen wurden, wissen wir nicht; daß gesungen wurde, ist sicher. In einem Schreiben vom 31.1.1821 bittet das Vorstandscollegium die königliche Regierung um die Genehmigung für eine Gehaltszulage von 30 Talern fur den Organisten Kühnau. Zur Begründung heißt es: „Wenn wir daher ganz gehorsamst darauf antragen, dem ρ Kühnau die von seinem Vorgänger mehr bezogenen 30 rth schon gegenwärtig vom lten Januar ab aus unserer Kirchenkasse anzuweisen: so dürfen wir zur Unterstützung unsers Gesuchs [...] den Umstand anführen, daß dem ρ Kühnau aus der eingeleiteten Union, wirklich mehr Arbeit erwächst, da er dann jeden Sonnabend die Vorbereitung zu der Tages darauf folgenden Abendmahlsfeier, mit der Orgel begleiten soll." GStA, Consistorium der Provinz Brandenburg. Acta betr. Vereinigung... 1820-22. HA X. Pr. Br. Rep. 40 Nr. 876. - Gelegentlich hat auch der Realschulchor den Gesang bei der Vorbereitung unterstützt, vgl. Schleiermachers Schreiben vom 28.1.1828, bei A. Reich, Anhang Nr. 64, S. 528. Vgl. als Muster zwei Beichtreden in: SW II/4, S. 839ff. - Die Agende von 1829 scheint zwischen der freien Beichtansprache und der agendarischen Vorbereitungsrede gar nicht zu unterscheiden, vgl. die Hinweise 1. Teil, S. 33. In der Kirchen-Agenda (1717) folgt an dieser Stelle (Nach der Predigt) das Lied „Allein zu dir, Herr Jesu Christ, mein Hoffnung steht auf Erden" (4 Strophen), ebd., S. 28f. Vgl. den Text in Anhang 5): Vorbereitung zum heiligen Abendmahl II. - Diese stereotype Beichtrede aus Schleiermachers Unionsformular von 1822 besteht aus drei Teilen, die jeweils mit einer an die Kommunikanten gerichteten Frage abschließt. In der kurpfälzischen Ordnung heißen die drei Teile: Bekenntnis unseres Elendes - Bekenntnis des Glaubens Bezeugung des christlichen Vorsatzes. Hier handelt es sich um den Extrakt der Beichtrede aus der Kirchen-Agenda von 1717, die Schleiermacher vor der Union benutzt hatte. Zum Vergleich und zur Abhängigkeit vom Heidelberger Katechismus, s. u. Exkurs III. 2.4.2. Dieses Sündenbekenntnis (vgl. auch EG, Nr. 799) stammt wohl von Luthers Beichtgebet ab, vgl. Luthers Betbüchlein WA 10 II, S. 470f. Zur Überlieferung dieser Sammlung vgl. ebd., S. 347ff. und Frieder Schulz, Die Gebete Luthers (1976), S. 379f. Das Stück ist weitgehend identisch mit der Confessio der Kirchen-Agenda (1717), S. 45-47. Hier wären zu Beginn nur die Aufforderung an die Gemeinde und die Anrede Gottes zu ergänzen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Verdienstes Jesu Christi in wahrem Glauben tröstet, auch euer Leben zu bessern gedenkt, kraft meines Amtes als ein berufener und verordneter Diener des Wortes die Gnade Gottes und Vergebung der Sünden im Namen Gottes des Vaters des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.66 Herrengebet67 Unser Vater etc. Abkündigung68 Sollte jemand ein besonderes Anliegen haben, weshalb er wünschte sich einzeln zu besprechen, der komme in Gottes Namen es soll ihm unverwehrt sein. Segen Der Herr segne etc. evtl. Liedvers69 Der hier vorgestellte Ablauf der „Vorbereitung" hatte seit 1822 Geltung und ist 1829 offiziell bestätigt worden.70 Was der Vorbereitungsrede vorausging, wissen wir nicht genau, sicherlich ein Lied. Ob eine freie Beichtansprache jedes Mal gehalten wurde oder nur zu besonderen Anlässen, ist unsicher.71 Jedenfalls fand die gesamte Zeremonie in der Kirche statt72, nach der Vorbereitunsrede traten die Kommunikanten zum Altar, zur Confessio knieten sie nieder. Für die Einsammlung des Beichtgeldes - eine lutherische Tradition - waren Becken in Altarnähe aufgestellt worden.73 Wurde eine Privatbeichte gewünscht, so konnte diese im Anschluß in der Sakristei stattfinden.74
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Die Absolutionsformel ist in beiden Vorbereitungsordnungen identisch! Die Herkunft bzw. Abstammung dieses Stücks ist mir allerdings noch unklar. Es weist Ähnlichkeit auf mit der Absolution der Dom-Agende (1822), S. 30f. Allerdings fehlt dort das typisch reformierte Motiv der Heiligung, vgl. ζ. B. die Kurpfalzer Ordnung (1563), Kirchenbuch, S. 199, hier das Motiv der Sündenreue. Zur Vielfalt lutherischer Absolutionsformeln vgl. Rietschel/Graff, Lehrbuch der Liturgik (19512), S. 826f. In der Kirchen-Agenda (1717) folgt das Herrengebet auf die Confessio, in der Agende 1829 folgt es auf die Abkündigung. Im ersten Formular „Vorbereitung zum heiligen Abendmahl I." fehlt das Herrengebet ganz. Diese Einladung zum seelsorgerlichen Einzelgespräch findet sich bereits in der Kurpfälzer Ordnung von 1563, vgl. Kirchenbuch, S. 200. Geht aus Schleiermachers Textsammlung, wie auch zu Beginn, nicht hervor, aber vgl. Agende 1829, 1. Teil, S. 36 und s. o. Anm. 60. Nach der Kirchen-Agenda (1717) wurde die Vorbereitung mit dem Psalmlied „Nun lob mein Seel den Herren" (4 Strophen) abgeschlossen, ebd. S., 51-53. Vgl. Brief an Gaß, s. o. Exkurs III. 2.2. (unter VI.) Im Unionsstatut § 12 heißt es: „Sie [die Vorbereitung] wird allemal vor dem Altar gehalten, u. besteht aus einer Anrede und der unmittelbar darauf folgenden Absolution." Vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 31, S. 484. Bis dahin war die Predigt von der Kanzel gehalten worden, zur Absolution versammelten sich die Kommunikanten in der Sakristei, wo auch das Beichtgeld eingesammelt wurde, vgl. An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinen. 1820, SW 1/5, S. 459. Unionsstatut § 12, bei A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 31, S. 484. Zum Verständnis der Seelsorge bei Schleiermacher vgl. Dieter Gerbracht, Die Gemeinde
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
337
Abweichend von anderen Formularen ist die Stellung des Herrengebets. Schleiermacher sah in ihm das Richtmaß für jedes christliche Gebet und die ultimative Bündelung sämtlicher Gebetsanliegen 75 , darum schließt es die Beichthandlung im engeren Sinne ab. Im Alternativangebot zweier Sündenbekenntnisse manifestiert sich der unierte Geist dieses Formulars. Man darf aber damit rechnen, daß Schleiermacher selbst sich wahlweise auch der lutherisch geprägten Confessio bediente. Im alternativen Sündenbekenntnis hat er allerdings in dem Passus: „mit innerlicher angeborner Blindheit" das Attribut „angeboren" gestrichen. 2.3.3. Die
Abendmahlsfeier
„Bei der Communion nehme ich dann das Formular [...] des Nachtrages (aber vor den Einsezungsworten) nebst dem darauf folgenden Gebet, welches beides sehr mit unserer Agende übereinstimmt, und so hat bis jezt wirklich noch Niemand viel neues bemerkt ,.."76
Weil Schleiermacher auch bei der Kommunion auf Kontinuität bedacht war, darum stelle ich hier die Texte der unierten Dreifaltigkeitsagende 1822 („unserer Agende") und des Nachtrags (1829) 77 für die Abendmahlsbetrachtung und das Dankgebet 78 gegenüber. Bei den verba testamenti und den verba distributionis gab es keinen Dissens. Schleiermacher akzeptierte den Unionsritus von 1817, dem sich die Agende von 1829 anschloß, uneingeschränkt. Nach Predigt, Gebet und Lied wurde der Hauptgottesdienst mit einer Meditation „Von der Austheilung [...] II."79 wie folgt fortgesetzt: Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822 Vor der Austheilung des heiligen Abendmahls II.
Agende von 1829 Abendmahlsbetrachtung
Die Gnade unsres Herrn Jesu Christi sei mit uns Allen. Amen. Geliebte in Christo! Bei gegenwärtiger Handlung des heiligen Abendmahls zu wel-
75 76 77 78 79
und der Einzelne. Das Verständnis der Seelsorge bei Friedrich D. E. Schleiermacher, Göttingen 1977. Vf. beschreibt Schleiermachers Seelsorge-Anliegen als Herstellung bzw. Wiederherstellung der Gemeindezugehörigkeit, vgl. S. 81. So bereits in „Zwei unvorgreifliche Gutachten ..." (1804), SW1/5, S. 120ff. Brief an Gaß, s. o. Exkurs III. 2.2. (unter VI.) Agende von 1829, 2.Teil, S. 50-54. Schleiermacher hat das Dankgebet der Agende 1829, 1 .Teil, S. 18f., nach eigener Auskunft benutzt, vgl. seinen Bericht an Pelkmann (1832), s. o. Exkurs III. 2.2. (unter VIII.). Beide Abendmahlsbetrachtungen sind sich sehr ähnlich. Form II. ist der reformierten Agende von 1717 verwandt, zum Vergleich s. u. Exkurs III. 2.4.3. Leider ist mir das lutherische Quellen-Formular nicht zuhanden. Es gibt aber in Form I. einen Passus, der mit der Realpräsenz die lutherische Herkunft verrät: „... und daß er auch unsre Seelen mit seinem Fleisch und Blut zum ewigen Leben speisen und tränken will", während Form II. an dieser Stelle den Heiligen Geist als Vermittler einschaltet.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822 Vor der Austheilung des heiligen Abendmahls II.
eher ihr versammelt seid bleibet mit euren Herzen nicht an dem äußerlichen Brodt und Wein haften: sondern gründet Herz und Glauben auf das Wort der Verheißung, und zweifelt nicht daß ihr so wahrhaftig auch an euren Seelen mit des Herrn Leib und Blut durch die Wirkung des heiligen Geistes sollet gespeiset und getränket werden, als ihr das irdische und sichtbare nämlich das gesegnete Brodt und den gesegneten Kelch des Herrn empfanget. Demnächst aber bedenket auch, wozu uns der Herr dieses heilige Sakrament seines Leibes und Blutes habe eingesetzet, nämlich daß wir es halten sollen zu seinem Gedächtniß. Also aber sollen wir seiner dabei gedenken, daß er uns in seinem heiligen Versöhnungstode fest ins Herz gedrückt wurde, und wir nicht zweifeln, daß unser Herr Jesus Christus vom Vater in diese Welt gesandt sei, Fleisch und Blut an sich genommen, und von Anfang seiner Menschwerdung an alle Gerechtigkeit erfüllet hat, bis er endlich mit seinem Tod und Blutvergießen das neue und ewige Testament, den Bund der Gnade und Versöhnung beschloß als er ausrief: Es ist vollbracht. So oft wir nun von diesem Brodt essen und von diesem Kelch trinken, sollen wir dadurch erinnert und versichert werden seiner herzlichen Liebe und Treue gegen uns, daß er für uns, damit wir nicht des ewigen Todes sterben müßten, seinen Leib am Stamme des Kreuzes in den Tod gegeben und sein Blut vergossen hat. Und er weiset in der Einsetzung dieses heiligen Mahles ganz besonders unsern Glauben auf sein vollkommenes Opfer einmal am Kreuz geschehen als auf den einigen Grund unserer Seligkeit. Denn durch seinen Tod hat er die Ursache unseres Elendes nämlich die Sünde
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Agende von 1829 Abendmahlsbetrachtung
„Aus dieser Einsetzung des heiligen Abendmahles unsers Herrn Jesu Christi sehen wir80, daß er unsern Glauben und unser Vertrauen hinweiset auf sein vollkommenes Opfer, einmal am Kreuz geschehen, als auf den einzigen Grund unserer Seligkeit. Er ist unsern hungrigen und durstigen Seelen Speise und Trank des ewigen Lebens geworden, hat durch seinen Tod die Ursach unsers ewigen Elendes, nämlich die Sünde, hinweggenommen und uns den lebendigmachenden Geist erworben, der in ihm, als dem Haupte, und in uns, seinen Gliedern, wohnet, damit wir mit unserm Heilande und Herrn wahre Gemeinschaft haben, und aller seiner Güter, des ewi-
Schleiermacher mußte, wenn er dieses Formular verwendete, die Abendmahlsbetrachtung anders einleiten, da die Einsetzungsworte erst auf das Vaterunser folgen.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822 Vor der Austheilung des heiligen Abendmahls II.
Agende von 1829 Abendmahlsbetrachtung
und ihre Herrschaft hinweggenommen und uns den lebendig machenden Geist erworben, daß wir durch denselben Geist, der in ihm als dem Haupt und in uns als seinen Gliedern wohnet, aller seiner Gerechtigkeit und Herrlichkeit in der wahren Gemeinschaft mit ihm teilhaftig würden. Wir sollen aber auch als Glieder Eines Leibes durch dieses heilige Abendmahl in wahrer brüderlicher Liebe unter einander verbunden werden. Wie der Apostel spricht: Ein Brodt ist es so sind wir viele Ein Leib, und dieses sollen wir um deswillen, dem wir einverleibt sind, und der uns zuvor so hoch geliebet hat, nicht nur mit Worten sondern auch mit der That gegen einander beweisen. Kniet nun nieder und bete ein jeder mit mir also:
gen Lebens, der Gerechtigkeit und Herrlichkeit theilhaftig werden mögen. Lasset uns aber auch bedenken, daß er durch diesen seinen Geist uns unter einander zu Gliedern eines Leibes in brüderlicher Liebe verbinden will, denn nach dem Ausspruche des heiligen Apostels: Ein Brodt ist es, so sind wir viele Ein Leib, dieweil wir alle Eines Brodtes theilhaftig sind, sollen wir alle, die wir durch wahren Glauben Christo einverleibt sind, durch herzliche Liebe, um Christi willen, zusammen Ein Leib seyn, und solches nicht allein mit Worten, sondern auch durch die That gegen einander beweisen. Dazu helfe uns der allmächtige, barmherzige Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi durch seinen heiligen Geist. Amen. Lasset uns beten:
Barmherziger Gott und Vater! ich bitte dich du wollest in diesem Abendmahl durch deinen heiligen Geist in meinem Herzen wirksam sein, daß ich mich im rechten Glauben dir und unserm Herrn Jesu Christo je länger je mehr ergebe, so daß ich nicht mehr in meinen Sünden, sondern er in mir und ich in ihm lebe und wahrhaftig des neuen und ewigen Bundes der Gnade theilhaftig sei, nicht zweifelnd du wollest ewiglich mein gnädiger Vater sein, mir meine Sünde nimmermehr zurechnen, sondern mich in allem an Leib und Seele versorgen als dein liebes Kind um Jesu Christi deines Sohnes willen. Amen.
Barmherziger Gott und Vater, wir bitten Dich; du wollest in diesem Abendmahle, in welchem wir das herrliche Gedächtniß des bittern Todes Deines lieben Sohnes Jesu Christi begehen, durch Deinen heiligen Geist in unsern Herzen wirken, daß wir uns mit wahrem Glauben Deinem Sohne je länger j e mehr ergeben, damit unsere mühseligen und zerschlagenen Herzen mit seinem wahren Leibe und Blute, als dem ewigen HimmelsBrodte, gespeiset und erquicket werden. Gieb denn, daß wir nicht mehr in unsern Sünden, sondern Er in uns, und wir in Ihm leben, und, aufgenommen in den neuen und ewigen Bund der Gnade, nicht zweifeln, Du wollest ewiglich unser gnädiger Vater seyn, und uns unsere Sünden nimmermehr zurechnen, sondern uns an Leib und Seele versorgen, als Deine lieben Kinder und Erben. Verleihe uns auch Deine Gnade, daß wir getrost unser Kreuz auf uns nehmen, uns selbst verläugnen, unsern Heiland bekennen, und in aller Trübsal mit aufgerichtetem Haupte unsers Herrn Jesu Christi warten, welcher unsern sterblichen Leib seinem verklärten Leibe ähnlich machen und uns zu sich in den Himmel aufnehmen wird in Ewigkeit. Amen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Herrengebet. Unser Vater... Einsetzungsworte. Unser Herr Jesus Christus in der Nacht, da Er verrathen ward, nahm Er das Brodt, dankete, brach es, gab es seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset: das ist mein Leib +, der für euch gegeben wird, das thut zu meinem Gedächtniß. Desselbigen gleichen nach dem Abendmahl, nahm Er den Kelch, sagte Dank und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus, dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut +, das für euch und für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden, solches thut, so oft ihr's trinket, zu meinem Gedächtniß.81 Austeilung mit den SpendeformelrP". Nehmet hin und esset, spricht unser Herr und Heiland Jesus Christus: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das thut zu meinem Gedächtniß. Nehmet hin und trinket Alle daraus, spricht unser Herr und Heiland Jesus Christus: Dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blute, das für euch vergossen wird; solches thut zu meinem Gedächtniß. evtl. Gesang sub communione (evtl. Chor: Heilig)*3 Nach beendigter Communion spricht der Geistliche: Lasset uns beten: Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822. Nach der Austheilung des hl. Abendmahls II.84 Allmächtiger, barmherziger Gott und Vater! Wir danken dir von ganzer Seele daß du uns deinen eingebornen Sohn zum Mittler und zum Opfer fìir unsere Sünde geschenkt hast, und uns wahren Glauben gegeben, durch den wir solcher Wohlthat theilhaft worden. Wie nun zu Stärkung dieses Glaubens in uns unser Herr und Heiland sein heiliges Abendmahl eingesezt hat: so bitten wir dich getreuer Gott und Vater, du wollest auch die heutige Feier desselben
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Agende 1829 (Teil 1) Dankgebet nach dem Abendmahl, S. 18f. Allmächtiger, Ewiger Gott! wir sagen Dir unsern inbrünstigen Dank für die unaussprechliche Gnade, deren wir durch den Genuß des heiligen Abendmahls theilhañig geworden sind; wir bitten Dich demüthiglich, Du wollest uns der Wirkungen Deines heiligen Geistes eben so gewiß werden lassen, als wir Dein heiliges Sacrament jetzt empfangen haben, damit wir Deine göttliche Gnade, Vergebung der Sünden, Vereinigung mit Christo, und ein ewiges Leben, so uns
Nach Agende 1829, 1. Teil, S. 15f. Die Agende hatte verfugt, daß die Einsetzungsworte zum Altar hin gesprochen werden sollten, Schleiermacher widersetzte sich dieser Anordnung, wie auch dem Kreuzschlagen, s. o. Exkurs III. 2.2. (unter VII.). Nach Agende 1829, 1. Teil, S. 17f. - Zum Problem der referierenden Spendeformel, s. u. Exkurs III. 2.4. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter IV.). Zum Problem des liturgischen Ortes des Sanctus, s. u. Anm. 87. Form II. ist der Postcommunio der Kirchen-Agenda (1717) verwandt, vgl. Kirchen-Agenda, S. 89f., während Form I. die charakteristisch lutherische Wendung enthält: „daß du uns mit dem Leib und Blute deines Sohnes in seinem heiligen Abendmahl gespeiset und getränket hast." Vgl. Anhang 5).
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822. Nach der Austheilung des hl. Abendmahls II.84
Agende 1829 (Teil 1) Dankgebet nach dem Abendmahl, S. 18f.
uns gesegnet sein lassen zur kräftigen Verkündigung seines Todes, zum starken Glauben an dich und zur inbrünstigen Liebe unter einander durch unsern Herrn Jesum Christum deinen Sohn, der mit dir und dem heiligen Geiste lebet und regiret in Ewigkeit. Amen.
allen darin verheißen ist, mit festem Glauben ergreifen, und ewig behalten mögen. Wir danken Dir auch, Allmächtiger, daß Du uns durch Deine göttliche Gnade erquickt hast, und bitten Dich, daß Deine Barmherzigkeit uns solches gedeihen lasse zum starken Glauben an Dich, zur brüderlichen Liebe gegen alle Menschen und zum Wachsthum in der Gottseligkeit und allen christlichen Tugenden, durch unsern Herrn Jesum Christum, der vereint mit Dir und dem heiligen Geiste regieret in Ewigkeit. Amen
Segen. Der Herr segne dich und behüte dich ... + Amen.85 Unsicher ist der Beginn bzw. der Übergang vom Predigtgottesdienst zur Abendmahlsfeier. Ob der Predigtgottesdienst mit Segen und Lied abgeschlossen wurde und die Nichtkommunikanten zunächst die Kirche verließen, bevor die Abendmahlsfeier begann? Die Agende 1829 legt nahe, daß sich das Abendmahl bruchlos anschließen sollte: „Wenn aber Communion gehalten wird, so tritt der zur Administration des heiligen Abendmahls bestimmte Geistliche während des Gesanges wieder vor den Altar und spricht ..."86 Im Falle des unmittelbaren Anschlusses würde sich ein zusätzliches Lied erübrigt haben, der Geistliche hätte sogleich mit dem Gnadenspruch „Die Gnade unsres Herrn Jesu Christi sei mit uns Allen. Amen." fortfahren können. Fraglich ist auch der genaue liturgische Ort des nachweislich vom Chor gesungenen Heilig.87 Da es keine Präfation gab, die traditionell mit dem Sanctus abschließt, wäre es nach den Einsetzungsworten denkbar, wahrscheinlicher aber während der Austeilung.88 Beim abschließenden Dankgebet könnte sich Schleiermacher beider Alternativformulare bedient haben.89 85 86 87
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Das Kreuzschlagen (Kreuzzeichen aus der Agende) hat Schleiermacher allerdings abgelehnt, s. o. Exkurs III. 2.2. (unter VII.). Agende 1829,1. Teil, S. 12. In der reformierten Agende von 1717 fehlt das Sanctus völlig. In den preußischen Agenden von 1822 und 1829 schließt es mit der Präfation an den Glauben an. In der lutherischen Liturgie folgt das Sanctus auf die Präfation, vgl. etwa die Goltzsche Agende von 1614. Denkbar wäre aber auch eine Überbrückungsfunktion zwischen Wort- und Sakramentsteil des Gottesdienstes, wie es damals z. B. in der lutherischen Berliner Sophienkirche üblich war, zu deren Gottesdienstordnung mir eine handschriftliche Quelle vorliegt. Hier sieht die Agende 1829 das deutsche Agnus Dei vor. - Luther empfiehlt in der Deutschen Messe das deutsche Sanctus (Jesaja dem Propheten das geschah) zwischen der Austeilung von Brot und Wein. Vgl. Martin Luther, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts. 1526, WA 19, Weimar 1897, S. 100-102. Der Schleiermachersche Text von 1822, Unierte Dreifaltigkeitsagende, Form II., weist ei-
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3. D e r Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
2.4. Zum liturgischen Ablauf vor 1829 Die Entwicklung der Gottesdienstform in der Dreifaltigkeitskirche verlief in mehreren Etappen. Die reformierte Gemeinde bediente sich der alten, 1713 und 1717 eingeführten Agende. Die prinzipielle Schmucklosigkeit des reformierten Kultus gewährleistete eine relative Stabilität der Liturgie, während die Lutheraner 1774 eine rationalistische Gottesdienstform einführten, die offenbar dem gültigen reformierten Formular sehr ähnlich war. Erst im Jahr der preußischen Kirchenunion 1817 kamen wieder Veränderungen in Gang, die insbesondere den unierten Abendmahlsritus90 betrafen: Brotbrechen statt Hostien91, Herrengebet und Einsetzungsworte nach Luthers Übersetzung92 sowie den Gebrauch der referierenden Spendeformel.93 Während die reformierte Gemeinde den Unionsritus sofort und ohne Einschränkung übernahm, kommunizierte die lutherische Gemeinde alternierend nach dem lutherischem und uniertem Ritus. Das änderte sich erst nach Heckers Tod 1819, bei Amtsantritt des unionsbegeisterten Marheinecke. Die Vereinigung der beiden Gemeinden zu der e i n e n unierten Dreifaltigkeitsgemeinde am 31.3.1822 stellte das gewünschte Ziel, die Durchführung der Union auf Gemeindeebene, dar. Infolge der langfristigen und behutsamen Vorbereitung der Union sowie der theologisch großzügigen Unionsauffassung Schleiermachers und Marheineckes zog die Union offenbar kaum liturgische Veränderungen nach sich, so daß die Einführung der Union diesbezüglich ganz reibungslos verlief. In der schon mehrfach zitierten Schrift „An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinen. 1820" tut Schleierma-
90
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ne einfachere Struktur auf, indem er nur j e einen Dank und eine Bitte enthält, während der Text von 1829 mehrfach zwischen Dank und Bitte changiert. Theologische Differenzen bestehen nicht. Vgl. W. Wendland, Die Reformationsjubelfeiern in Berlin und Brandenburg, JbBKG 15 (1917), S. 76ff. Zum Abendmahlsritus vgl. J. Kampmann, Die Einfuhrung der Berliner Agende in Westfalen (1991), S. 124-154. Darin folgte man der reformierten Tradition, vgl. auch Kirchenbuch, S. 189. Im reformierten Raum pflegte man die verba institutionis nach IKor 11,23-28 zu sprechen, vgl. Kirchenbuch, S. 172 und Kirchen-Agenda (1717), S. 55-57; oft auch zu paraphrasieren, vgl. J. Kampmann, Die Einfuhrung der Berliner Agende (1991), S. 124. Zur unierten Form der Einsetzungsworte vgl. die Dom-Agende von 1822, S. 21 f. und s. o. Exkurs III. 2.3.3. - Zum unierten Wortlaut des Vaterunser, s. o. Exkurs III. 2.3.1. Die Lutheraner wurden damit zu trösten versucht, daß es sich bei der nunmehr unierten Lesart um die exakte Wiedergabe der Übersetzung Luthers von Mt 6,9-13 handelte. Die „referierende" Spendeformel: „Unser Herr Jesus Christus spricht" o.ä. in Verbindung mit Mt 26,26-28 bzw. Lk 22,19f. setzte sich im lutherischen Raum bereits im 18. Jhd. mehr und mehr durch, indem man sich zunehmend von der direkten Anrede („nimm" oder „nehmet hin") wie auch von dem biblischen Realismus der Worte Jesu (Leib und Blut) distanzierte und diese persönliche Distanz durch die Umformung der Bekenntnisformel zum Zitat ausdrückte. Mit der Rezitation der Herrenworte waren die Anstöße beseitigt, vgl. F. Krüger, Geschichte der Spendeformei bei der Feier des heiligen Abendmahls, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, 16. Jg. (1911), S. 198-205. - Dagegen teilten die Reformierten Brot und Wein traditionell mit den Worten aus IKor 10,16 aus. Zur Vielfalt der reformierten Spendenformel vgl. Kirchenbuch, S. 190f.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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eher kund, daß den Gottesdienst betreffend „... auch nach der Vereinigung ziemlich alles beim alten bleiben kann." 94 Im agendarischen Ablauf des Predigtgottesdienstes änderte sich - wie auch die Liederblätter bestätigen - gar nichts. Lediglich einige Gebetstexte und Kasualformulare wurden den neuen unierten Erfordernissen angepaßt. Für die von nun an e i n e unierte Gemeinde stellte Schleiermacher selbst eine Sammlung von Texten zusammen, in der ,jede Gemeinde in sämtlichen Formularen etwas von dem findet, woran sie gewöhnt ist." 95 Ausdrücklich wurde daraufhingewiesen, daß diese Dreifaltigkeitsagende nur interimistische Gültigkeit besaß. 96 Obwohl Schleiermacher der Interimscharakter seiner Gemeindeagende bewußt war, hat er sehr hartnäckig an ihr festgehalten und das Schicksal der Union mit der Agenden-Autonomie verknüpft. 97 Die Agende 1829 war für Schleiermacher erst durch ihre Provinzialbeigaben annehmbar geworden, mit denen er glaubte, seine liturgische Freiheit gewahrt und der Gemeinde ihre liturgische Tradition erhalten zu haben. Letztere war seit jeher von Schleiermacher gehütet worden, und er hatte bewußt dafür gesorgt, daß die liturgischen Abänderungen im Verlaufe seiner Amtszeit an der Dreifaltigkeitskirche minimal gehalten wurden. Darum ist es unnötig, die Gottesdienstformulare vor und nach 1817, sowie vor und nach 1822 en detail vorzustellen, vielmehr können die Abweichungen der früheren Formulare von dem 1829 eingeführten - so weit bekannt - für Predigtgottesdienst, Vorbereitung und Abendmahlsfeier pauschal skizziert werden. 2.4.1. Der
Predigtgottesdienst
Über Schleiermachers Formular vor Einführung der Agende von 1829 besonders hinsichtlich der Eröffnung des Gottesdienstes sind nur Vermutungen möglich. Doch legt die oben zitierte Briefstelle: „Ich halte mich an den Auszug, fange (mit Uebergehung des In nomine) w i e s o n s t a u c h mit dem adjutorium an." die Deutung nahe, daß die agendarische Eröffnung vor und seit 1829 gleich war. Noch vor dem ersten Gemeindelied dürfte es - zu allen Zeiten - ein Orgelvorspiel gegeben haben. 98 Dagegen läßt die mehrfache Bezeugung von Sündenbekenntnis und Kyrie in den Quellen darauf schließen, daß beide dem Liturgen Schleiermacher als eigene liturgische Stücke vor 1829 nicht gebräuchlich waren, so daß auf den Eingangsspruch sogleich das altvertraute reformierte Morgengebet gefolgt war, das
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98
SW 1/5, S. 458. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter II.). Wie Schleiermacher die Formulare „verschmolzen" hat, soll am Morgengebet exemplarisch gezeigt werden, s. u. Exkurs III. 2.4.1. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter II.). Am 2.6.1826 hatte Schleiermacher im Auftrage der „zwölf Protestirenden" eine Eingabe an den Minister der geistlichen Angelegenheiten von Altenstein gerichtet, in der im Falle der Zwangseinfuhrung der Agende mit Auflösung der Union gedroht wird, vgl. Briefe IV, S. 4 5 9 - 4 7 0 , besonders S. 468. Zum Problem, s. o. Exkurs III. 2 . 3 . 1 A n m . 47.
344
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
auch ein Confessio-Moment enthält", und für dessen wörtliche Beibehaltung sich Schleiermacher bereits in seiner Liturgieschrift 1816 eingesetzt hatte.100 Zur Demonstration der Quellenbehandlung und „Kompositionsweise" des Agendenkompilators Schleiermacher stelle ich auf den folgenden Doppelseiten verschiedene Fassungen des Morgengebets tabellarisch nebeneinander: die alte reformierte Fassung von 1713 (Spalte 1), eine rationalistisch-lutherische Fassung (Spalte 2)101 sowie die alternativen Textversionen der linierten Dreifaltigkeitsagende. Dabei fallt sogleich auf, daß es sich bei der ersten Form der Dreifaltigkeitsagende um die lutherische (Spalte 3), bei der zweiten um die reformierte Variante handelt (Spalte 4).102 Bei der Redaktion der reformierten Fassung bedient sich Schleiermacher des Gerüstes des reformierten Morgengebets, nimmt jedoch auch Elemente der anderen Tradition auf.103 Abgesehen von Abkürzungen, sprachlichen Modernisierungen, Glättungen sowie stilistischen und theologischen „Korrekturen" (Aberglauben und Unwissenheit statt Paptsttum104, Beseitigung der Wollust, christlicher Ruhetag statt Sabbat) zeigt Schleiermachers Text vor allem in der unteren Hälfte verstärkte Abweichungen und Erweiterungen. Dabei fällt auf, daß die inklusive Gebetssprache an d e r Stelle aufgegeben wird, wo sich die Bitte konkret auf den Gottesdienst richtet. Diener und Hörer werden nun getrennt. Die freimütige und lautere Verkündigung der Prediger sowie die Bereitschaft der Hörer mit Herz und Verstand werden gesonderte und ausdrückliche Gebetsanliegen. Der Liturg verläßt sich nicht mehr allein auf die objektive Macht des Wortes, er bittet um die rechte subjektive Disposition der am Gottesdienst Beteiligten. Zwar begegnet ein Gebet um rechtes Hören bereits in der von Calvin übernommenen Straßburger Ordnung von 1545, ist also altes reformiertes Erbe, doch zeigt sich in der Sonderung von „Dienern" und „Hörern" und in der ausdrücklichen Fürbitte für die Diener am Wort - das ist die Bitte um Predigtcharisma - deutlich Schleiermachers redigierende Hand wie auch der Einfluß der 99
Die Bitte um Sündenvergebung ist in dem Passus des Morgengebets: „so vergib uns alle Sünde und Uebertretung um deines Sohnes Jesu Christi willen, und heilige uns durch seinen Geist" allerdings sehr formelhaft und kurz. 100 Vgl. SW 1/5, S. 193. - Daß dieses Morgengebet nicht sakrosankt und konkurrenzlos war, zeigt Wendland mit Beispielen von Teller u. a., W. Wendland, Die praktische Wirksamkeit, JbBKG 11/12 (1914), S. 279f. ιοί In Ermangelung der lutherischen Kirchenagende von 1774 biete ich hier die Fassung eines Morgengebets der Berliner Kirchen, nach Ulrich, Bd. 2, S. 164ff., vgl. W. Wendland, JbBKG 11/12(1914), S. 279. 102 Vgl. auch das von Marheinecke gesprochene Morgengebet beim Unionsfest (s. o. 3.5.4.) mit Spalte 2 und 3. 103 Eine genaue redaktionsgeschichtliche Untersuchung der Textkompilation wäre nur möglich, wenn der lutherische Text genau bekannt wäre. Immerhin erweist sich der lutherische Typ als wesentlich kürzer. Dank und die Bitte um Sündenvergebung fehlen gänzlich. Das Gebet beinhaltet lediglich die Bitte um Segen fur den beginnenden Gottesdienst. 104 Bereits in der Liturgierezension 1816 schrieb Schleiermacher: „Ich gestehe zwar gern, daß auch ich an dieser Stelle das Wort Pabstthum vermeide ..." SW 1/5, S. 194.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
345
Unionspartnerschaft, der sich hier in einer Motivaneignung niedergeschlagen hat.105 Als neu gegenüber der Vorlage erweist sich der Ausblick auf den Gottesdienst des Lebens und der ausdrückliche Hinweis auf die Berufsarbeit, eine Hinzufugung, die sowohl dem bürgerlichen Selbstverständnis der Dreifaltigkeitsgemeinde als auch reformatorischem Denken durchaus entspricht.106 Getreu seiner Vorlage schloß Schleiermacher das Morgengebet mit dem Spruch aus IThess 5, 23f. ab. Das Vaterunser fehlt.107 Auffallig im Vergleich zum Quellentext sind die untergemischten impliziten Bibelzitate, ein genuines Kennzeichen der liturgischen Sprache Schleiermachers.108
105 Vgl. die lutherischen Formulare in Sp. 2 und 3. Zur Straßburger Ordnung vgl. Kirchenbuch, S. 35 und 71. 106 Erinnert sei an Luthers Weltfrömmigkeit und Ständelehre sowie an Calvins Erwählungslehre. Beide Reformatoren werteten Arbeit und Beruf auf, wenn auch aus unterschiedlichen theologischen Erwägungen. 107 In seiner Liturgierezension 1816 schrieb Schleiermacher: „Daß übrigens das Gebet des Herrn auf dieses Morgengebet folgt, ist auch der alten Agende gemäß. Viele Prediger lassen es jezt an dieser Stelle weg, wogegen auch nichts zu erinnern ist, da es bei der gewöhnlichen Weise im Hauptgottesdienst noch meist zweimal vorkommt, laut oder still nach dem Kanzelgesang, und dann nach den Fürbitten ..." SW1/5, S. 195. 108 Vgl. z.B. „So richte du selbst Herz und Sinnen auf das Eine nothwendige" (Lk 10,42) oder „Damit unser ganzes Leben ein rechter Gottesdienst sei" (Rom 12,1).
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Reformierte Agende 1713 (1741) Kirchen-Gebeth, an Sonn- und Fest-Tagen des Morgens vor der Predigt. Geliebte in dem Herrn Jesu Christo: Lasset uns für dem Angesichte Gottes uns demüthigen, und ihn aus Grund unserer Hertzen also anruffen: Barmhertziger, getreuer Gott, du ewiger Vater unsers Herrn Jesu Christi, der du mit deinem Sohne und Heiligen Geist regierest in Ewigkeit. Wir sagen dir Lob und Danck, für alle deine Wohlthaten, die wir ohn Unterlaß von deiner milden Güte empfangen: Daß du uns die gantze Zeit unsers Lebens, wie auch die vergangene Nacht, so gnädiglich behütet, und uns den heutigen Tag gesund hast lassen erleben. Insonderheit dancken wir dir, daß du bey uns die schreckliche Finsterniß des Pabstthums vertrieben, und das helle Licht des Evangelii hast lassen aufgehen, bey welchem wir dich und deinen Willen recht erkennen und lernen können, wie wir christlich leben und selig sterben sollen. Wir bitten dich gütiger Gott und Vater, du wollest solch Gnaden-Licht deines Evangelii uns und unsern Nachkommen erhalten; Und damit wir dein angenehmes Volck seyn und bleiben, so vergib uns alle unsere Sünde und Missethaten, umb deines lieben Sohnes, unsers Heylandes Jesu Christi willen, und heilige uns durch deinen Heiligen Geist, j e länger j e mehr, daß wir der Welt und allen weltlichen Wollüsten von Hertzen absagen, und unsere Freude und Wollust darinnen suchen, daß wir dir dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die dir gefallig ist.
Eine lutherische Fassung (um 1800?) Morgengebet der Berliner Kirchen, Vgl. JbBKG 1914, S. 279
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822 Morgen-Gebet. Vgl. Anhang 5) Geliebte in dem Herrn. Laßt uns unsere Herzen zu Gott erheben und mit einander also beten:
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Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822. Ein Anderes [Morgengebet]. Vgl. Anhang 5) Geliebte in dem Herrn! Lasset uns vor dem Angesichte Gottes uns demüthigen und ihn aus Grund unserer Herzen also mit einander anrufen: Barmherziger getreuer Gott und Vater, der du mit deinem Sohn und heiligen Geiste regierest in Ewigkeit! Wir sagen dir Lob und Dank für alle Wohlthaten die wir ohne Unterlaß von deiner milden Güte empfangen, welche mit weisem und mächtigem Schutz über uns Allen waltet.
Insonderheit danken wir dir, daß du auch unter uns die Finsterniß des Aberglaubens und der Unwissenheit vertrieben, und uns das helle Licht der christlichen Wahrheit hast lassen aufgehen, so daß wir deinen Willen recht erkennen und lernen können, wie wir christlich leben und seelig sterben sollen. Wir bitten dich gütiger Gott und Vater du wollest solch Gnadenlicht deines Evangelii uns und unsem Nachkommen erhalten; und damit wir auch wahrhaft zu deinem Volke gehören, so vergib uns alle Sünde und Uebertretung um deines Sohnes Jesu Christi willen, und heilige uns durch seinen Geist j e länger je mehr daß wir der Welt und aller weltlichen Lust von Herzen absagen und unsere Freude darin suchen dir zu dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Reformierte Agende 1713 (1741) Kirchen-Gebeth, an Sonn- und Fest-Tagen des Morgens vor der Predigt.
Eine lutherische Fassung (um 1800?) Morgengebet der Berliner Kirchen, Vgl. JbBKG 1914, S. 279
Und demnach wir auf deinen Befehl allhier bey einander seyn, den Sabbath zu feyren; NB. Hier wird des Fest- und Feyer-Tags gedacht, wann einer einfallt. So eröffne unsre Ohren und Hertzen, daß wir dein heiliges Wort mit Freuden hören, mit Fleiß erwegen, und in reinem Hertzen behalten, dich getrost anruffen, und nicht allein diesen Tag, sondern auch alle Übrige Tage unsers kurtzen Lebens, von allen bösen Wercken feyren, biß daß wir endlich zu dem ewigen Sabbath-Tag gelangen, da wir mit Englischen Zungen und Hertzen, deine grosse Thaten, mit allen Auserwehlten, Engeln und Menschen rühmen und preisen werden in alle Ewigkeit, Amen. Unser Vater etc.
Heiliger Gott und Vater! Wir sind hier vor Deinem Angesichte versammlet, dein göttliches Wort zum Heil unserer Seele zu betrachten. So wohne denn auch in dieser Stunde nach deiner Verheißung mitten unter uns und bereite selbst unsere Herzen, die von Natur zu allem wahren geistlichen Guten untüchtig sind, zu deinem Dienst und Lobe. Sammle unsere zerstreuten Gemüther in eine heilige Stille und laß uns in wahrer Andacht als vor deinem Angesicht hier versammlet sein. Wirke durch deinen Geist kräftig an unsern Seelen und tue unser aller Herzen auf, daß wir acht haben auf dein Wort, damit es als ein kräftiger und lebendiger Same in uns beleben und viele Früchte zum ewigen Leben schaffen möge. Erleuchte den Verstand, heilige unsern Willen und erwecke alle unsere Begierden, nach dir zu verlangen und dir als unserm Herrn beständig zu dienen. Erhöre unser Gebet und Fürbitte, so wir heute vor dich bringen, gieb deinen Dienern Mut und Weisheit, dein Wort mit aller Freudigkeit zu verkündigen, und segne alles Lehren und Zuhören, alles unser Beten und Singen, um deines lieben Sohnes Jesu Christi unsers Herrn willen, welchem samt dir und dem heiligen Geiste sei Lob und Preis gesagt in Ewigkeit. Amen."
Der Gott des Friedens heilige euch gantz und gar und euer gantzer Geist, Seel und Leib werde unsträflich, biß auf die Zukunfft unsers Herrn Jesu Christi behalten. Getreu ist der euch raffet, der wird auch thun, Amen.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822 Morgen-Gebet. Vgl. Anhang 5) Heiliger Gott, barmherziger Vater in Jesu Christo! Wir sind vor deinem heiligen Angesicht versammelt, um uns an unserm christlichen Ruhetage zum Heil unserer Seelen aus deinem göttlichen Worte zu erbauen. Wohne du darum nach deiner Verheißung auch in dieser Stunde unter uns! Segne Gesang und Gebet! Gieb deinen Dienern Muth und Weisheit um dein Wort in aller Freudigkeit zu verkünden und mit rechtem Verstand auszulegen! Sammle unser aller Gemüther zu einer heiligen Stille, und entferne alle störenden Gedanken, damit wir durch wahre Andacht einander erbauen! Sei du durch deinen Geist wirksam den Verstand zu erleuchten den Willen zu heiligen und alle Begierde auf dich zu richten; ja thue Aller Herzen auf, damit dein Wort in uns Wurzel fasse, und viele Früchte bringe zum ewigen Leben.
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Unierte Dreifaltigkeitsagende 1822. Ein Anderes [Morgengebet]. Vgl. Anhang 5) Und da wir nach deinem Befehl hier versammelt sind unsern christlichen Ruhetag in rechter Andacht zu feiern: so richte du selbst Herz und Sinnen auf das Eine nothwendige. Gieb deinen Dienern Gnade dein Wort freimüthig und lauter zu verkündigen! Oefne die Herzen der Hörer, und erleuchte ihren Verstand zu lebendiger Erkenntniß, daß wir Alle dein Wort zu unserm Heil annehmen und in reinem Herzen bewahren. Verleihe uns getroste Zuversicht dich anzurufen, und erhöre Gebet und Fürbitte! Mache uns aber auch treu, deinem Worte gehorsam zu folgen, und es auch mitten unter unserer Berufsarbeit fleißig zu erwägen und auszuüben! Damit unser ganzes Leben ein rechter Gottesdienst sei, und wir nicht allein diesen Tag sondern auch alle übrige unseres kurzen Lebens [...] von allen bösen Werken feiern, bis wir endlich in dein ewiges Reich eingehen, wo wir deine großen Thaten mit allen deinen Auserwählten rühmen und preisen werden immerdar. Amen.
Erhöre uns um Jesu Christi deines lieben Sohnes willen, welchem sammt dir und dem heiligen Geiste sei Lob und Ehre und Preis und Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar, daß euer Geist sammt Seele und Leib unsträflich behalten werde bis auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi. Getreu ist der euch ruft, der wird es auch thun. Amen.
Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar, daß euer Geist sammt Leib und Seele unsträflich behalten werde bis auf die Zukunft unsres Herrn Jesu Christi. Getreu ist, der euch rufet, der wird es auch thun. Amen!
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Bezüglich der Lesungen schlug das reformierte Freiheitspathos des Liturgikers Schleiermacher voll durch. Nicht nur bei der Wahl der Texte, sondern offenbar auch bei der Durchführung der Lektionen generell wollte Schleiermacher freie Hand haben. Einige Stellen lassen sich so lesen, als ob Schleiermacher die Lesung überhaupt abgelehnt hätte.109 Doch hat er in dieser Frage offenbar mehrere Wandlungen vollzogen. In einer Predigt von 1810 findet sich der Hinweis auf die soeben gehörte Epistel110, in der Liturgierezension von 1816 verteidigt er die Bibellesung vehement.111 In der Erklärung für das Konsistorium von 1829 beanstandet Schleiermacher vor allem die Verpflichtung auf eine doppelte Lektion, die in der Dreifaltigkeitskirche nicht üblich gewesen sei. 112 So bleibt insgesamt nur die Feststellung, daß Schleiermacher in dieser Frage jede buchstäbliche Regelung ablehnte, also weder der gesetzlichen Festlegung auf Zahl und Text der Lesungen noch ihrer generellen Beseitigung zustimmen konnte.113 Was den Gebrauch des sogenannten Kanzelverses betrifft, so dokumentieren die Liederblätter einen sukzessiven Wegfall in den Jahren nach 1819. 114 Unklar ist noch die Stellung von Segen und Lied am Ende des Wortgottesdienstes. Die Agenden des Königs piazieren den letzten Gesang nach dem Segen. Zwar wird diese Frage nirgends problematisiert, doch lassen Schleiermachers Gesamtkonzept des Gottesdienstes (Lied „nach der Predigt") wie auch einige schriftliche Äußerungen für seine eigene Praxis eher auf eine umgekehrte Reihenfolge schließen.115
109
l io
111
112 113
114 115
Vgl. ζ. B. im Manuskript der Liturgikvorlesung von 1815: „Unser sonntäglicher Cultus: Gesang, Gebet, Predigt. In der ersten Kirche noch Schriftlesung, Antiphonie u.s.w." PT, S. 842. Predigt am Sonntag Invocavit 1810, SWII/4, S. 428. Ich habe die Predigten diesbezüglich nicht systematisch durchgesehen, es fällt aber auf, daß sich Rückverweise auf die Lektionen in den Predigten der letzten Jahre häufen. „Ich wünsche die Bibel in den Gottesdienst eingeführt auch ohne unmittelbar von menschlicher Auslegung umgeben nur eine Grundlage menschlicher Belehrung zu sein. Und das kann durch Vorlesungen vor dem Altar erreicht werden." SW 1/5, S. 207. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter V.). Man muß hier unterscheiden zwischen dem Prediger und dem Professor Schleiermacher, zwischen dem Liturgen und dem Liturgiker. Als letzterer hat er insbesondere um der Förderung der Bibelkenntnis willen generell für die Lektion plädiert. Da diese aber in der Dreifaltigkeitskirche nicht üblich war und die Gemeinde der Bibellesung aus katechetischen Gründen womöglich nicht bedurfte, hat sich Schleiermacher als Gemeindepfarrer genauso energisch dagegen gewehrt. Vgl. die Übersicht bei I. Seibt, Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch, S. 44ff. Die Passage im Liturgikfragment von 1815: „Nach der Predigt ein Lied zur Verallgemeinerung des besonderen Resultates" könnte eine unmittelbare Folge des Liedes auf die Predigt nahelegen, wobei der Segen das allerletzte Stück des Gottesdienstes wäre, vgl. PT, S. 843. Auch in NL (1816) bezeichnet Schleiermacher den Segen als „eine Beendigungsformel", und daß „die Gemeinde mit demselben entlassen wird." SW 1/5, S. 204. - Zur generellen Begründung des Gesangs unmittelbar nach der Predigt vgl. Th. Harnack und L. Schoeberlein in: Rietschel/Graff, Lehrbuch der Liturgik (1951 2 ), S. 456f.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
351
2.4.2. Die Vorbereitung der Abendmahlsfeier Das 1822 ausgearbeitete und schriftlich fixierte Vorbereitungsformular war 1829 bestätigt worden. Da es sich bei dem Dokument um die Zusammenstellung und „Verschmelzung" der bis dato in beiden Gemeinden üblich gewesenen Formulare handeln soll, lohnt ein Vergleich des unierten mit dem alten reformierten Formular. Von den alternativen Ordnungen der unierten Dreifaltigkeitsagende kommt wiederum die zweite, „Vorbereitung zum heiligen Abendmahl II.", als die stärker reformiert geprägte für Schleiermacher in Betracht. 116 Hierbei handelt es sich um die aus der alten reformierten Agende stammende Vorbereitungsrede, die die Kommunikanten antwortend und bekennend einbezieht. Neben der katechetischen Form ist die inhaltliche Substanz und weitgehend auch die wörtliche Gestalt erhalten geblieben. Dennoch gibt es auch signifikante Abänderungen und zwar in drei Bereichen: Was die stilistische Gestalt angeht, so hat Schleiermacher zahlreiche Retouchen vorgenommen. Einmal modernisiert er Wortwahl, Schreibweise und Satzkonstruktion, vereinheitlicht die Anredeform 117 und lockert den aus dem Heidelberger Katechismus überlieferten Formalismus auf. Der auf Frage 2 des Heidelberger Katechismus Bezug nehmende Einleitungssatz: „Dieweil uns das Wort Gottes diese drey Stück fürhält: erstlich, unsere Sünde: Zum Andern, unsere Erlösung: Zum Dritten, unsere Danckbarkeit, so wir Gott dagegen schuldig seyn" 118 wird hier folgendermaßen aufgenommen: „Da wir in dem heiligen Abendmahl unseres Herrn zu dessen würdigen Genuß ihr eure Seelen bereiten wollt gedenken sollen, sowol unsrer Sünde und unserer Erlösung als auch der Dankbarkeit, die wir Gott dafür schuldig sind ..." Zur stilistischen Bearbeitung des Textes gehört auch die Abkürzung und Zusammenfassung von Beispielen, die Beseitigung von Pleonasmen sowie von Bildern, bei denen Schleiermacher Ablenkungsgefahr befürchtete. Bereits aus Schleiermachers hymnologischer Arbeit bekannt sind theologische Korrekturen, die die Eschatologie berühren, wenn ζ. B. der Satz: „Auf daß wir es mit hertzlicher Dancksagung und Freuden halten, bis daß Er in den Wolcken kommen wird, und uns von dem Creutz, das wir in diesem Jammerthal ihm gedultig nachtragen, vollkömmlich errette, und in das ewige Reich seines Vaters, mit Leib und Seel zu Ihm nehme" nun lautet: „Um dieses Trostes willen hat der Herr sein heiliges Abendmahl eingesetzt, daß wir es mit herzlicher 116
117
118
Vgl. Anhang 5). Einen synoptischen Textvergleich kann ich aufgrund der Länge des alten Vorbereitungsformulars nicht bringen, vgl. Kirchen-Agenda (1717), S. 25-53. Dieses Vorbereitungsformular ist abhängig von der Kurpfálzer Kirchenordnung von 1563, vgl. dazu Kirchenbuch, S. 197-201. - Zur Praxis der Vorbereitung im lutherischen Raum vgl. Rietschel/Graff, Lehrbuch der Liturgik (1951 2 ), S. 822ff. So bleibt Schleiermacher im ersten Absatz beim pluralischen „Ihr", statt zwischen der dritten Person Singular („ein jeglicher") und den pluralischen Formen (wir/ihr) zu wechseln. Vgl. Kirchen-Agenda (1717), S. 30. Vgl. dazu auch den Heidelberger Katechismus (1563), in: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, hrsg. von E. Sehling, Bd. 14 Kurpfalz (1969), S. 344.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Freude und Danksagung halten sollen bis er uns in das Reich seines Vaters zu sich nehmen wird." Schleiermacher hat die Bezeichnung des irdischen Lebens als „Jammertal" und das apokalyptische Bild „in den Wolken" gelöscht.119 Sind solche Korrekturen konfessionsneutral, so gibt es schließlich auch Zugeständnisse bzw. Annäherungen an das lutherische Formular und Abschwächungen dezidiert reformierter Stücke. So werden z.B. Reminiszenzen an den alten Abendmahlsstreit beseitigt, indem der Satz: „Ferner, gläubet ihr auch, daß Christus einem jeden unter euch, insonderheit diese Erlösung, so er ihm einmal in der heiligen Tauffe versprochen und geschencket hat, wiederum mit seinem heiligen Abendmahl, als mit gewissen Brieffen und Siegeln, durch die Wirkkung des Heiligen Geistes, in seinem Hertzen also bestätiget ..." folgendermaßen „gereinigt" wird: „Wie nun der Herr uns diese Erlösung einmmal in der h eiligen Taufe geschenkt hat, so will er sie uns in seinem heiligen Abendmahl durch Wirkung seines heiligen Geistes bestätigen ..."120 Der Text wird abgekürzt und die bildhafte Wendung „Briefe und Siegel" entfallt. Aber damit entfällt auch spezifisch reformiertes Traditionsgut, denn die „Briefe und Siegel" sind Metaphern des pneumatischen Sakramentsverständnisses und damit kontrovers! 121 Heißt es in der alten reformierten Agende im Zusammenhang der Selbsterkenntnis: „In dieser Summa wird uns der Wille Gottes furgehalten: dargegen auch, nachdem wir deren Stücke nie keines gehalten, wird uns unsere Sünd und Elend, endlich auch die ewige Verdammniß, als in einem Spiegel vorgestellet", so hat der unierte Text den Anklang an die doppelte Prädestination (ewige Verdammnis) ersatzlos gestrichen: „Und da wir diese Gebote nie vollkommen erfüllt haben, sondern uns nur darin unsere Sünde und Strafwürdigkeit vorgestellt wird..." 122 Die ausfuhrliche Beschreibung des Götzendienstes und die Übertretung des in reformierter Zählung selbständigen und liturgisch relevanten Bilderverbots: „Als da sind alle Abgöttische, alle, so verstorbene Heiligen, Engel, oder andere Creaturen anruffen, die Bilder verehren; alle Zauberer und Wahrsager, die Vieh und Leute, samt andern Dingen, seegnen, und die solchem Seegen Glauben ge119 120 121
122
Kirchen-Agenda, S. 37. Unierte Dreifaltigkeitsagende, s. u. Anhang 5). Kirchen-Agenda, S. 34f. Unierte Dreifaltigkeitsagende, s. u. Anhang 5). Vgl. Heidelberger Katechismus (HK) Frage 66: „Was seind die sacrament? Es seind sichtbare, heilige warzeichen und sigili, von Gott darzu eingesetzt...", Evangelische Kirchenordnungen, S. 355. - Auch an anderer Stelle hat sich der alte innerprotestantische Abendmahlsstreit reflexartig niedergeschlagen. Ist im alten Formular davon die Rede, „daß keine Sünden noch Schwachheit, [...], hindern kann, daß uns Gott nicht zu Gnaden annehme, und also dieser himmlischen Speise und Trancks, würdig und theilhafftig mache ...", so ist die hier anklingende pneumatische Abendmahlsvorstellung abgeschwächt in der Wendung: „... und uns aller Segnungen dieses heiligen Mahles theilhaftig macht." Kirchen-Agenda, S. 31. Unierte Dreifaltigkeitsagende, s. u. Anhang 5). - In HK 84 heißt es von den Ungläubigen und Heuchlern, „... daß der zorn Gottes und die ewige verdamnuß auf inen ligt, so lang sie sich nicht bekeren ..." Evangelische Kirchenordnungen, S. 359. Vgl. auch HK 52: „... daß er alle seine und meine feinde in die ewige verdamnuß werfe, mich aber sampt allen außerwehlten zu im in die himlische freud und herrligkeyt neme." Ebd., S. 353.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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ben; alle Verächter Gottes und seines Worts, und der heiligen Sacramente" entfallt zugunsten der blassen Formulierung: „Daher wir von dem Tisch des Herrn alle diejenigen abmahnen welche verderblichen und abgöttlichen Aberglauben der die Herzen von dem rechten Vertrauen in die allmächtige Barmherzigkeit unseres Gottes abwendet in sich selbst unterhalten und bei Andern auszubreiten suchen, alle diejenigen, welche das Wort Gottes und die Sakramente der christlichen Kirche geringschätzen und verspotten." 123 Das Formular enthält zwei alternative Sündenbekenntnisse, wovon das erste der lutherischen Tradition entstammt 124 , das zweite fast wörtlich der alten reformierten Agende entnommen ist, wogegen die - herkunftsmäßig mir unbekannte - Absolutionsformel in beiden unierten Formularen identisch, aber von dem alten reformierten Stück verschieden ist. Schleiermachers stilistische und theologische Retouchen haben zur Bereitstellung eines wenn auch nur interimistischen unierten Formulars von prinzipieller Geltung und repräsentativem Charakter geführt, wie seine offizielle Einfuhrung zeigt. Eine buchstäbliche Verbindlichkeit der Texte kann jedoch ausgeschlossen werden. 2.4.3. Die Abendmahlsfeier Vor der Union von 1822 verwendete Schleiermacher nach eigenen Angaben die alte reformierte Agende. 125 Dort beginnt das Abendmahl nach dem Lied „Allein Gott in der Höh sei Ehr" mit der Verlesung der Einsetzungsworte IKor 11,2329. Daran schließt eine ausfuhrliche Abendmahlsbetrachtung an, die in ihrem ersten Teil die Aufforderung zur Selbstprüfiing, in ihrem zweiten Teil eine Meditation über die Einsetzungsworte enthält. Dieser Meditation folgt ein knieend gesprochenes Gebet, das seinerseits in das Herrengebet und Apostolikum mündet. Nach einer kurzen Ermahnung zum würdigen Empfang 126 erfolgt die Austeilung mit der charakteristisch reformierten Spendeformel frei nach IKor 10,16: „Das Brodt, das wir brechen, ist die Gemeinschaft des Leibes Jesu Christi." „Der Kelch der Dancksagung, damit wir dancksagen, ist die Gemeinschafft des Bluts Jesu Christi, zur Vergebung unserer Sünden." Sub communione wird gesungen. 127 Mit einem Dankgebet, dem aaronitischen Segen und dem Lied „Gott sei gelobet und gebenedeiet" schließt die Sakramentsfeier. 123 124 125 126
127
Kirchen-Agenda, S. 39. Unierte Dreifaltigkeitsagende, s. u. Anhang 5). Dafür sind im unierten Text die Verächter der Heilsmittel plastischer geworden. Vgl. Luthers Betbüchlein, WA 10 II, S. 470f. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter III.). Das Abendmahlsformular befindet sich auf S. 53-92 der Kirchen-Agenda. „Auf daß wir nun mit dem wahren Himmel-Brod, Christo, gespeiset werden: So lasset uns mit unsern Hertzen nicht an dem äusserlichen Brod und Wein hafften; Sondern unsere Hertzen und Glauben gründen auf das Wort der Verheissung: Und nicht zweiffein, daß wir so wahrhafftig, durch die Wirckung des Heiligen Geistes, mit des Herrn Leib und Blut, an unsern Seelen gespeiset und geträncket werden, als wir das heilige Brod und Tranck, zu seiner Gedächtniß, empfahen." Kirchen-Agenda, S. 75f. Die Agende beinhaltet Lieder zu den Psalmen 103; 91; 111; 126 und 23 und gibt weitere Empfehlungen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Diese ausführliche Abendmahlszeremonie war auf ihre seltene Durchführung berechnet. Schleiermacher mag sich ihrer bis zur Union bei den etwa viermal jährlich stattfindenden Kommunionen als Gerüst bedient haben. Allerdings scheint die Abfolge Herrengebet - Einsetzungsworte, die er als „alte Ordnung meiner Gemeine" bezeichnet, schon vor der Union bestanden zu haben, was zur Folge hatte, daß die Abendmahlsbetrachtung nicht expressis verbis auf die Einsetzungsworte gerichtet sein konnte.128 Daraus ergab sich für Schleiermacher die Notwendigkeit, die Meditiation umzuformen und den Stoff neu zu ordnen.129 In der Postcommunio ist Schleiermacher dem alten reformierten Formular weitgehend gefolgt.130 Mit dem Segen und wahrscheinlich einem Gemeindelied schloß die Sakramentsfeier ab. Man darf annehmen, daß Schleiermacher anläßlich der Gemeindeunion 1822 mit der Form II. im wesentlichen seine eigene bisherige Praxis schriftlich fixiert hat. Theologisch manifestiert sich in dem von ihm verwendeten Abendmahlsformular ein auf johanneischer Theologie basierender deutlich reformierter Einschlag, geprägt durch ein pneumatisches Sakramentsverständnis und eine optimistische Anthropologie. So wird die Annahme des Unionsritus 1817 - mit der komprimierten, rein biblischen Form der Einsetzungsworte, mit der für die Reformierten ungewohnten Spendeformel und dem Kompromißtext des Herrengebets - im Laufe der 128 Das Muster einer Meditation vor den verba testamenti befindet sich in der Textsammlung, s. u. Anhang 5). Die Abfolge: Vaterunser - Einsetzungsworte sieht bereits Luthers Deutsche Messe vor, wobei dort das Vaterunser paraphrasiert wird, vgl. M. Luther, Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts. 1526, WA 19, S. 95ff. Dagegen hatte Luther in der „Formula Missae et Communionis. 1523" die umgekehrte Abfolge empfohlen, Vgl. WA 12, S. 212f. 129 Dies ist in der unierten Dreifaltigkeitsagende (1822) so geschehen, daß der Beginn nach dem Gnadenzuspruch die Gewissensprüfung (Kirchen-Agenda, S. 58-61) verdrängt und den Schlußabschnitt aus der Vermahnung der Kirchen-Agenda (zwischen Credo und Austeilung) aufgenommen hat: „Auf daß wir nun mit dem wahren Himmel-Brod, Christo, gespeiset werden: So lasset uns mit unsern Hertzen nicht an dem äusserlichen Brod und Wein hafften; Sondern unsere Hertzen und Glauben gründen auf das Wort der Verheissung: Und nicht zweiffein, daß wir so wahrhafftig, durch die Wirckung des Heiligen Geistes, mit des Herrn Leib und Blut, an unsern Seelen gespeiset und geträncket werden, als wir das heilige Brod und Tranck, zu seiner Gedächtniß, empfahen." Kirchen-Agenda, S. 75f. Der nächste Abschnitt in „Schleiermachers Text": „Demnächst aber bedenket ..." stammt aus der Eingangsvermahnung der Kirchen-Agenda, S. 56-64, wie auch der letzte Abschnitt („So oft wir nun von diesem Brodt essen ..."), vgl. Kirchen-Agenda, S. 66-70, der bei Auslassung der Einsetzungsworte sogleich anschließt. Darauf folgt wie auch in der Kirchen-Agenda, S. 70-73 ein Bittgebet und das Vaterunser. Typisch für Schleiermachers Selektion ist die Auslassung des Schreis Jesu nach Mt 27,46, vgl. Kirchen-Agenda, S. 64, wohingegen Jesu Wort nach Joh 19,30 natürlich aufgenommen ist. 130 Vgl. Kirchen-Agenda (1717), S. 88-90: „Nach verrichteter Communion" und s. u. Anhang 5): „Nach der Austheilung des heiligen Abendmahls II." Dagegen weist Form I. der unierten Dreifaltigkeitsagende Elemente der realistischen lutherischen Abendmahlstheologie auf: „Allmächtiger ewiger Gott wir sagen [...] Dank, daß du uns mit dem Leib und Blute deines Sohnes in seinem heiligen Abendmahl gespeiset und getränket hast." - Vgl. zu Form I. auch die lutherische Postcommunio der Goltzschen Agende von 1614.
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Zeit die einschneidendste Veränderung in der Abendmahlsliturgie gewesen sein.131 Seit 1822 häuften sich die Kommunionen und es kam als lutherische „Mitgift" ein vom Realschulchor im Hauptgottesdienst gesungenes Sanctus hinzu. Auch nach der pflichtmäßig eingeführten Agende achtete Schleiermacher auf Kontinuität und konnte seinem Freund Gaß 1829 vertraulich mitteilen: „und so hat bis jezt wirklich noch Niemand viel neues bemerkt."132 2.5. Zeichen und Gesten Wie gesehen sind die agendarischen Abläufe und liturgischen Texte im Laufe der bewegten Zeiten relativ stabil geblieben. Für die Gemeinden mögen sich die liturgischen Veränderungen vor allem in Zeichen, Symbolen und Gesten bemerkbar gemacht haben. Während der reformierten Gemeinde das Brotbrechen seit jeher vertraut war, mußte die lutherische Gemeinde sich an diesen Brauch erst gewöhnen und hatte ihn ab 1822 ausschließlich zu praktizieren. Im Gegenzug akzeptierte die reformierte Gemeinde den ehemals lutherischen Altarschmuck: Kerzen, Kreuz und Bibel.133 Während sich Schleiermacher beim Altarschmuck entgegenkommend zeigte, verweigerte er sich der Abwendung von der Gemeinde sowie der Signation bei den verba testamenti beharrlich: „Kreuz machen und der Gemeine den Rücken kehren habe ich mir ganz verbeten ..."134 Das erste, von der Agende bei den Einsetzungsworten und beim Segen verlangte Zeichen schien ihm ein Relikt katholischer Magie, das zweite - ebenfalls beim Sprechen der Einsetzungsworte - eine Unhöflichkeit gegen die Gemeinde. Schleiermacher wußte durchaus um die Bedeutung zeichenhaften liturgischen Handelns, nur stimmig sollte es sein. Darum verteidigte er die in der Dreifaltigkeitskirche übliche Stellung der Einsetungsworte unmittelbar vor der Austeilung wie auch das den Stiftungsworten Jesu entsprechende und diese veranschaulichende Brotbrechen. Den Kontakt zur Gemeinde beim Abendmahl hatten bereits die Unionsbestimmungen zu verbessern gesucht, indem die Vorbereitungsrede von der Kanzel zum Altar verlegt worden war, vor dem sich auch die Kommunikanten zu Confessio und Absolutio versammelten. Das Niederknien beim Sündenbekenntnis wie auch bei dem die Abendmahlsbetrachtung abschließenden Gebet und beim Dankgebet post communionem sah bereits die alte reformierte Agende vor.135
131 132 133 134 135
Zu Zeichen und Gesten, s. u. Exkurs III. 2.5. Zu den Einzelheiten des Unionsritus, s. o. Exkurs III. 2.4. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter VI.). Vgl. Schleiermachers Vereinigungsschrift von 1820: „An die Mitglieder ...", SW 1/5, S. 457. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter VII.). Vgl. Kirchen-Agenda (1717), S. 45; 70; 89.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis 3. Ein Fazit: Kontinuität und Variabilität. Die liturgischen Prinzipien Schleiermachers
Der Versuch, Schleiermachers Gottesdienst-Formulare zu rekonstruieren, hat zu der Erkenntnis gefuhrt, daß Schleiermacher sich von zwei Prinzipien leiten ließ. Einmal von dem Prinzip liturgischer Gestaltungsfreiheit. Gestaltungsfreiheit implizierte für Schleiermacher jederzeit einen improvisatorischen Spielraum zur situativen Verkürzung, Erweiterung bzw. Modifizierung formelhafter Stücke, ζ. B. des Morgengebets und des Kirchengebets. Auch für die agendarisch fixierten Abendmahlstexte ist mit situationsbedingten Abweichungen zu rechnen. Lediglich sakrosankte Texte (Vaterunser, Apostolikum, Einsetzungsworte) waren davon ausgenommen. Anlässe für den situativen Eingriff in Traditionsstükke boten besondere politische, kirchliche und persönliche Verhältnisse sowie das Kirchenjahr. 136 Über die konkrete Freiheit in der Textgestaltung hinaus reklamierte Schleiermacher die allgemeine Freiheit in der gottesdienstlichen Gesamtgestaltung, die er im Agendenstreit gegenüber dem König und seinen Behörden mit einem erheblichen persönlichen Risiko verteidigt hatte. So fragt sich: Wo hat Schleiermacher diese Gestaltungsfreiheit geltend gemacht? Aber auch: Wo hat er sich einsichtig oder widerwillig in geschichtliche Entwicklungen gefügt? Was also hat sich im Laufe der Jahre, bedingt durch Union und Agendenreform in Schleiermachers Gottesdiensten geändert? Ich fasse meine Beobachtungen, hier in chronologischer Reihenfolge, noch einmal zusammen: Ein Zugeständnis an die Union von 1817, das der reformierten Gemeinde schwer gefallen sein dürfte, war mit dem sogenannten Unionsritus die Annahme des lutherischen Altarschmuckes: Kreuz, Lichter und Bibel, die unierte Lesart des Herrengebets sowie beim Abendmahl die durch die Union festgelegten Einsetzungsworte und Spendeformeln. Der Kanzelvers, 1816 gegen seine Abschaffung noch vehement verteidigt, wird nach Ausweis der Liederblätter von Schleiermacher seit 1819 immer häufiger ausgelassen. Eine Einflußnahme von außen ist nicht zu erkennen. Das beim Abendmahl vom Chor gesungene Sanctus war ursprünglich eine lutherische Spezialität. Erst im Zuge der Union, als auch der Realschulchor „uniert" wurde, scheint dieses liturgisches Stück zu uniertem Gemeingut geworden zu sein. Während Schleiermacher in seiner Liturgieschrift (1816) noch ganz selbstverständlich vom Credo beim Abendmahl spricht, ist davon im Bericht an Pelkmann (1832) nicht mehr die Rede.137 Der mögliche Wegfall des Apostolikums 136 137
Ob Schleiermacher mit dem Kirchengebet an hohen Feiertagen wechselte, wie es z. B. die alte reformierte Agende vorsieht, ist unsicher, aber gut möglich. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter VIII.). - Vgl. Ueber die neue Liturgie (1816), SW 1/5, S. 202. Die Kirchen-Agenda (1717) folgte der Kurpfälzischen Agende (1563) und brachte das Apostolikum nach Vermahnung, Bitte und Vaterunser. Zum Gebrauch des Credo in der lutherischen Abendmahlsfeier vgl. Rietschel/Graff, Lehrbuch der Liturgik (1951 2 ), S. 369f.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
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innerhalb der Abendmahlsliturgie könnte ebenfalls mit der Gemeindeunion zusammenhängen. Ab 1822 wurde der Dreifaltigkeitsgemeinde das Abendmahl inklusive Frühgottesdienst sonntäglich angeboten. Vielleicht wollte Schleiermacher die Verwendung kanonischer Texte aus Pietät beschränken.138 Im Agendenstreit hatte Schleiermacher die Lektionen strikt abgelehnt mit der Begründung, seine Gemeinde sei sie nicht gewöhnt. Anscheinend gab es vor 1829 in der Dreifaltigkeitskirche keine regelmäßigen Lesungen.139 Auf Druck des Ministeriums praktizierte Schleiermacher 1829 für kurze Zeit beide Perikopen, ging aber bald auf eine zurück. Die Epistel ist durch viele späte Predigten bezeugt. Auch aus früheren Jahren gibt es Hinweise auf gelegentliche Epistellesungen; in seiner Liturgieschrift von 1816 sprach er sich nachdrücklich für „biblische Vorlesungen" aus, jedoch für ,jedesmal vom Liturgus auszuwählende Stellen"140. So scheint die Lesung schon immer eine Variable in Schleiermachers Gottesdienst gewesen zu sein. Sie manifestiert nicht nur die von Schleiermacher in liturgicis reklamierte Gestaltungsfreiheit, sondern zugleich auch die politische Brisanz des fast 20 Jahre währenden Agendenstreits. Der Eröffnungsteil des Gottesdienstes wurde nach 1829 wahrscheinlich geringfügig erweitert. Schleiermachers Entgegenkommen im Agendenstreit umfaßte die Hinzufügung eines kurzen Sündenbekenntnisses und des anschließenden Kyrie. Andererseits bestätigt sich, was schon die Liederblätter vermuten ließen141: Ablauf und Form der Schleiermacherschen Gottesdienste sind über die Jahrzehnte hinweg relativ stabil geblieben. Das hängt mit Schleiermachers Auffassung von der Liturgie als Repräsentantin der Kircheneinheit zusammen142 wie auch mit seiner Hochschätzung individueller Lokaltraditionen. Diese suchte er zu wahren, um seiner Gemeinde im Zuge der Auseinandersetzungen um Union und Agende kultische Kontinuität zu gewährleisten. Was also hat Schleiermacher über die Jahre beibehalten? Das Adjutorium als Eingangsspruch. Das reformierte Morgengebet. Schleiermachers Selbstzeugnisse beweisen, daß er diesem liturgischen Stück auch durch die turbulenten Jahre hindurch treu geblieben ist.143 138 139 140 141 142
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Vgl. die Warnung vor Abnutzung des Vaterunser in: Zwei unvorgreifliche Gutachten (1804) SW1/5, S. 120f. Das gilt auch fur den ehemals lutherischen Gottesdienst, s. o. Exkurs III. 2.2. (unter V.). SW 1/5, S. 207 und s. o. Exkurs III. 2 . 4 . 1 A n m . 111. Vgl. auch I. Seibt, F. Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch (1998), S. 34. Vgl. PT, S. 156f. S. o. Exkurs III. 2.2. (unter VI. und VII.). Bereits in der Liturgieschrift 1816 hatte er bekannt: „Das Morgengebet besonders, dessen man sich aber wol nur noch in den evangelisch-reformirten Kirchen allgemein bedient hat, ist mir immer ganz musterhaft vorgekommen seiner ganzen Abfassung nach, so daß ich mich in den 23 Jahren meines Predigtamtes nie darnach gesehnt habe mit andern Gebeten abwechseln zu können, mir auch, wie frei ich sonst mit dem Buchstaben zu schalten pflege, immer nur sehr geringe Abwei-
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Dem Perikopenzwang hat sich Schleiermacher nie unterworfen.144 Das Allgemeine Kirchengebet hat Schleiermacher sowohl dem liturgischen Ort (nach der Predigt) als auch der Struktur und dem wesentlichen Wortlaut nach stets beibehalten. Seine liturgische Handlungsfreiheit nahm er in Anspruch bei der Verknüpfung des Gebets mit der Predigt und bei Auswahl und Anordnung der Fürbitten. Die unmittelbare Abfolge von Herrengebet, Einsetzungsworten und Austeilung ist von Schleiermacher als eine „alte Ordnung" seiner Gemeinde in den Wirren von Union und Agende gegen alle Nivellierungsversuche hartnäckig verteidigt worden. Auch den Abendmahlstexten aus der alten reformierten Agende, der Anrede an die Kommunikanten und dem Gebet, hat Schleiermacher offenbar über Jahrzehnte hinweg - wenigstens als agendarisches Gerüst die Treue gehalten. Die Schleiermachers Gottesdienstgestaltung leitenden Prinzipien: Kontinuität und Variabilität entsprechen zum einen der gewachsenen Struktur des Gottesdienstes, zum andern den Rezeptionserwartungen der Gemeinde, und sie sind theologisch gut begründet. 1. Was die Liederblätter mit ihren um „Gebet" und „Predigt" herum angeordneten Liedern bereits vermuten ließen, bestätigt sich: In seiner Struktur erscheint Schleiermachers Gottesdienst als ein bipolares Kunstwerk. Dabei indizieren „Gebet" und „Predigt" die beiden Pole des Gottesdienstes: das liturgische Gebet als das symbolische Element und die Predigt als das individuelle Element, wobei das symbolische Element auf Beharrung, das individuelle Element auf Veränderung verweist.145 Schleiermacher hat mit dieser Polung an die alte chungen erlaubt." SW 1/5, S. 193. Im folgenden gibt Schleiermacher eine Probe davon, wie wörtlich er mit diesem Gebet umgeht. - Die im 18. Jhd. übliche Paraphrasierung überlieferter Texte, z.B. auch des Vaterunsers wird jederzeit von Schleiermacher abgelehnt. Vgl. das Glückwünschungsschreiben von 1814, SW 1/5, S. 174. 144 Vgl. An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinen. 1820, SW 1/5, S. 458. 145 Bereits 1814 hatte Schleiermacher die Idee von der Bipolarität des Gottesdienstes entwikkelt: Der Gottesdienst besteht aus zwei entgegengesetzten Elementen: „das eine wodurch er immer derselbe ist, und das andere wodurch er jedesmal ein besonderer wird. Zu dem lezten gehört die Predigt, das Gebet, sofern es sich an die Predigt anschließt oder auf die besonderen Umstände der Gemeine bezieht, und der Gesang in demselben Maaß. Zu dem ersten gehört der Gebrauch der Bibel und der allgemeinen kirchlichen Symbole." (Vaterunser, Credo, Segen). Natürlich gibt es auch Gebete mit dogmatischem Charakter, „eben daher kann es auch Gesang dieser Art geben, zumal als Einleitung des Gottesdienstes ehe das besondere entwikkelt wird und am Schluß; und bei der Austheilung der Sacramente ist natürlich wol das meiste von dieser Art, weil alle besonderen Umstände hier sehr zurükktreten." Doch Schleiermacher war zu sehr Künstler, um hier jeglichen Formalismus zu vermeiden. Auch die freien Elemente haben etwas feststehendes, die Predigt den Bibeltext, das Lied das Gesangbuch, umgekehrt müssen daher auch die liturgischen Formeln Abwechslung bieten. „Dann kann der amtirende Geistliche wählen in Uebereinstimmung mit der besonderen Richtung welcher er der Gemeinde gegeben hat oder geben will, und auch seine individuelle Freiheit und Eigenthümlichkeit behaupten, indem er sich über-
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
359
liturgische Unterscheidung von Ordinarium und Proprium angeknüpft, wobei er sich beim Proprium weitgehend von generellen Vorgaben freimachen wollte, was exemplarisch im Druck der Liederblätter und in den Auseinandersetzungen um die gottesdienstlichen Bibeltexte zum Ausdruck kommt. 2. Die Polarität von symbolischen und individuellen Elementen hat Anhalt an der Rezeptionserwartung der Gemeinde, deren Reflexion keineswegs Schleiermachers Erfindung war. Er ist darin ein Kind des 18. Jahrhunderts.146 Aber im Unterschied zur Aufklärung war er bemüht, objektive und subjektive, geschichtliche und zeitgenössische Ansprüche auszubalancieren. Zu der ganz konkreten Erwartung seiner Gemeinde gehörte einerseits das Erlebnis eines frei agierenden Geistlichen, der Schleiermacher durch seine berühmte Souveränität als Prediger und Liturg Rechnung trug, andererseits die Vergewisserung ihrer kollektiven Identität als Gemeinde. Schleiermacher hat dieses Bedürfnis nach liturgischer Gewohnheit ernst genommen, er wußte um den Wert wörtlicher Überlieferungen als Identität und Gemeinschaft stiftende und -vergewissernde Urkunden. Ein weiteres an der Rezeption - wie auch an seinem eigenen künstlerischen Anspruch - orientiertes Gestaltungsmoment war für Schleiermacher die logische Stringenz und Nachvollziehbarkeit agendarischer Abläufe. Eines muß zum anderen überleiten, gewaltsame Übergänge und Brüche werden sorgfältig vermieden, genauso Wiederholungen und Häufungen formal ähnlicher Stücke. Dieses Bemühen zeigte sich beispielhaft bei der Komposition des Eingangsteils seit 1829.147 3. Schleiermachers liturgische Gestaltungsmaxime in der Ambivalenz von Kontinuität und Variabilität war für ihn eine Konsequenz reformatorischer Theologie, und er hat sie selbst - bezeichnenderweise apologetisch - einmal so formuliert, daß „ich nicht in dem Fall bin von einer regellosen Willkühr des Gottesdienstes umkehren zu müssen indem ich mich, mit Einschluß der Freiheit im Einzelnen, deren sich kein evangelischer Prediger jemals begeben kann, an die bisher eingeführten Formen gehalten" habe.148 Das in dieser stolzen Äußerung sich bekundende Freiheits-Pathos ist als ein charakteristisch reformiertes Erbgut anzusehen. Allerdings fällt auf, daß die reformierte Prägung des Liturgen Schleiermacher sich stärker generell als speziell Geltung verschafft. In diesem Zusammenhang ist Schleiermacher von dem Vorwurf nicht ganz frei zu sprechen, daß er die „redaktionelle Feile" - wie auch bei seinen Liedbearbeitungen - gelegentlich zu unbekümmert und traditionsvergessen angesetzt hat. In
146 147 148
wiegend an diejenigen Formulare hält welche die Seite jedes Gegenstandes am meisten hervorheben, die ihm am meisten am Herzen liegt." Glükkwünschungsschreiben an die Hochwürdigen Mitglieder (1814), in SW1/5 (S. 157-187), S. 174f. Vgl. dazu Alfred Ehrensperger, Die Theorie des Gottesdienstes in der späten deutschen Aufklärung (1770-1815), Zürich 1971. S. o. Exkurs III. 2.3.1. Vgl. aber auch die Straffung der Vorbereitungs- und Abendmahlsformulare, s. o. Exkurs III. 2.4.2. und 2.4.3. Aus einem Schreiben Schleiermachers an den reformierten Superintendenten Marot bezüglich der Domagende vom 31.3.1822, vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 33, S. 489.
360
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Bezug auf die gottesdienstlichen Lesungen hat Schleiermacher gleichsam „das Kind mit dem Bade ausgeschüttet", indem er mit der Ablehnung des Perikopenzwangs und unter Berufung auf seine reformatorische Freiheit die Lektion ablehnte, und es ist kritisch anzumerken, daß er sich damit von der reformierten Gottesdiensttradition, in der die Bibellesung traditionell eine große Rolle spielt, weit entfernt hat.149 Die Sorge, daß die Lesung die Einheitlichkeit des Gottesdienstes stören könnte, scheint mir unbegründet und die Befürchtung, daß der Text ohne Auslegung unverständlich sei, wirft ein bezeichnendes Licht auf das Selbst- und Sendungsbewußtsein des Predigers, das dem Wort Gottes gegenüber fast arrogant wirkt. Der Widerspruch, der sich darin manifestiert, daß Schleiermacher dem König Eingriffe in die liturgische Tradition verwehrte, die er selbst vornahm, läßt sich nur so auflösen, daß Schleiermacher im Agendenstreit weniger um spezielle konfessionelle Traditionen und Lehrinhalte kämpfte als vielmehr für das ius liturgicum der Einzelgemeinde und seiner Prediger.150 Bei der brisanten Abendmahlstheologie hat Schleiermacher allerdings eindeutig reformierte Positionen bezogen, indem er in den Alternativformularen (II.) alle Anklänge an ein realistisches Abendmahlsverständnis eliminierte und in den Primärformularen (I.) eine vorsichtige Diktion durchsetzte, die auch für reformierte Ohren tolerabel war.151 Insgesamt trägt die unierte Dreifaltigkeitsagende deutlich Schleiermachers theologische und redaktorische Handschrift, die sich u. a. an dem durchgehend optimistischen Menschenbild zu erkennen gibt, dem zugunsten der Heiligung Sünde- und Reueformeln geopfert werden.152 Hinsichtlich der Forderung nach Variabilität fragt sich, ob die von Schleiermacher reklamierte liturgische Handlungsfreiheit und die damit verbundene Spontaneität und Beweglichkeit nicht zwangsläufig zu Anarchie oder zu Überlastung fuhren muß. Man wird annehmen dürfen, daß es Schleiermacher gelang, den beanspruchten Gestaltungsspielraum zu nutzen, aber eine Normierung dieses Konzepts würde die Geistlichen in den meisten Fällen doch wohl überfordern. Auch fur die Gemeinde setzt der Mitvollzug der je in Freiheit geschaffenen Form eine äußerste geistige Wachheit voraus, so daß man bei aller Anerkennung der formalen Meisterschaft und Spontaneität fragen muß, ob Schleiermacher wenn schon nicht seine, so doch jede andere Gemeinde geistig überfordert hätte. Das „Litaneiprinzip", nach dem formelhafte Texte im Vertrauen auf ihren Eingang ins Unterbewußtsein „geleiert" werden, war Schleiermacher von seinem rationalen Erbauungsbegriff her gänzlich fremd. 4. Mit der interimistischen linierten Dreifaltigkeitsagende ist eine Agende mit Parallelformularen entstanden, die ihre konfessionellen Herkünfte nicht ver149 150 151
152
Vgl. E. Wolf/M. Albertz (Hrsg.), Kirchenbuch, S. 34-38. Vgl. dazu die pseudonyme Schrift „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus. 1824." SW1/5, S. 477-535. Im Gegenzug hat er auch konfessionstypische reformierte Wendungen aufgegeben, wie die Tilgung der „Briefe und Siegel" im Vorbereitungsformular beweist. S. o. Exkurs III. 2.4.2. Vgl. etwa den Wortlaut der Absolutionsformel oder die getilgte Wendung der „angebornen Blindheit" in der Confessio, s. o. Exkurs III. 2.3.2.
Exkurs III: Schleiermachers agendarische Praxis
361
leugnen, aber auch nicht auf ihnen insistieren, die jegliche Konfessionspolemik vermeiden und dem Unionspartner den eigenen Text behutsam und friedfertig zumuten. Trotz gegenseitiger Motivaneignungen und Abschwächungen kontroverstheologischer Topoi ist es nicht zu einer generellen Verwischung der konfessionellen Identitäten gekommen.153 Schleiermachers Freude am Kompilieren, Komprimieren und Komponieren hat auch bei der Agendenarbeit Gestalt gewonnen. Die unierte Dreifaltigkeitsagende ist eine Interimsordnung und ein Werk der Praxis. Sie, deren Ethos mehr als ihr Ergebnis überzeugt, dokumentiert Schleiermachers Verdienst um die Union, und zwar um die Union vor Ort, die ganz praktische Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten in der Dreifaltigkeitskirche. Diese Leistung war nicht mit konfessionalistischer Sturheit, sondern nur mit Weitherzigkeit, Kompromißbereitschaft und geistiger Beweglichkeit zu erzielen.154
153
Interessant bezüglich des theologischen Konsenses der Union ist die Beobachtung, daß es trotz der Duplizität der Formulare nur eine Absolutionsformel gibt, s. u. Anhang 5). 154 Am 19.8.1818 hatte Schleiermacher an Blanc geschrieben: „Es sollte dann aus allen in einer Provinz offiziell gebräuchlichen Agenden eine gemeinschaftliche gebildet werden mit Hinweglassung alles dessen was polemisch an den Confessionsunterschied erinnern könnte, und daraus dann jeder Geistliche Freiheit haben zu gebrauchen was er wolle." Briefe IV, S. 238. - Wie schwer die Einigung in der Abendmahlsfrage vor Ort war, beschreibt J. Kampmann, Die Einführung der Berliner Agende in Westfalen (1991), S. 124-154.
3.6. Der Gottesdienst am zweiten Weihnachtstag 1823 3.6.1. Einleitung Friedrich Schleiermacher befand sich im Winter 1823/24 in einer schweren persönlichen Krise. Der Agendenstreit schien sich zu einer direkten Konfrontation mit dem König zuzuspitzen. Restriktionen und Spitzelei, die auch Schleiermachers Gottesdienste erfaßten, belasteten ihn. In einem Brief an Gaß vom 20.12.1823 schlägt er fast resignative Töne an: „... und ich fühle nur zu sehr, daß das drückende und widrige der amtlichen Verhältnisse ohne Ausnahme sehr nachtheilig auf meine Lebenskraft wirkt. Daher meine Sehnsucht mich von allem loszumachen, um noch einige Jahre recht in Ruhe und Stille zu leben, täglich größer wird; nur weiß ich es eben nicht anzufangen." 1
Man wird diese durch die allgemeine politische Misere verursachte persönliche Situation nicht vorschnell in den Gottesdienst hineininterpretieren dürfen, aber vielleicht lassen sich einige Besonderheiten des Gottesdienstes in diesen politischen und persönlichen Kontext einordnen. Es ist mit der üblichen Personalgemeinde Schleiermachers einschließlich der Sängerinnen und Sänger der Singakademie zu rechnen. Aus Schleiermachers Tagebuch wissen wir, daß sich an den Festgottesdienst Kommunion, Taufen und eine Trauung anschlossen.2 Über die Bearbeitung der Liedtexte sowie über die Quellen-Gesangbücher sind wir für diesen Weihnachtsgottesdienst ausgesprochen gut informiert. Schleiermacher hatte alle drei Lieder auch fur die GBC zu redigieren. 3.6.2. Das Eingangslied „Vor dem Gebet" Das Liedblatt teilt keine Quelle mit.3 Wir wissen jedoch aus den Protokollen der GBC, daß Schleiermacher dieses Lied aus dem Rigaer Gesangbuch am 19.6.1823 vorgeschlagen und am 11.12.1823 der GBC selbst auch vorgetragen hatte: „Hr. Sehl aus dem Rigaer WAS IN DER HEILGEN NACHT ERKLANG welches nach kurzer Prüfung angenommen ward."4 Die nur „kurze Prüfung" dürfte als Zeugnis für die erwiesene Druckreife der Bearbeitung gelten. Eine Woche später, am 18.12.1823, lieferte Schleiermacher das Lied ins Archiv ab. Das Liedblatt ist wahrscheinlich etwas früher, vielleicht im Oktober oder November 1823, entstanden. Aufgrund der zeitlichen Nähe muß auch für die Liedblattbe-
1 2
3 4
Briefe IV, S. 317. Vgl. Tagebuch vom 26.12.1823 (SN 444). - Schleiermacher war seit der Union von 1822 weit stärker mit Amtshandlungen beschäftigt als früher. Die Kasualien fanden im Anschluß an den Gottesdienst statt. Siehe Liedblatt L 184 in Anhang 11 ). GBC-Akten J.I.10, Bl. 43v, s. u. Anhang 9). Zum Rigaer Gesangbuch vgl. mein Gesangbuchverzeichnis.
364
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
arbeitung mit dem Rigaer als Quellen-Gesangbuch gerechnet werden. Der Autor des Liedes läßt sich nicht mehr ermitteln. Rigaer Gesangbuch (1810), Nr. 190
Liedblatt L 184, 26.12.1823
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 155
Mei. Lobt Gott ihr etc.
Mei. Lobt Gott ihr etc.
Mei. Lobt Gott, ihr Christen...
Was, in der heil'gen Nacht erklang aus sel'ger Geister Heer sey auch der Menschheit Lobgesang: „Gott in der Höh' sey Ehr'!"
Was in der heiigen Nacht erklang Von seiger Geister Heer, Das sei auch unser Lobgesang, Gott in der Höh sei Ehr'.
2. Und froh erschalle heute dir, o Jesu, Dank und Lob: Du warst es, der - so jauchzen wir uns aus dem Staube hob. 3. Du sprachst zur Finsterniß: „Entweich!" es floh' des Irrthums Nacht: Du hast der Tugend Gottes-Reich in Welt und Herz gebracht. 4. Zum Vater hebt sich nun das Herz
Von aller Welt erschalle dir O Jesu Dank und Lob, Dich, unsem Retter, preisen wir, Der uns vom Staub erhob. Du sprachst zur Finsterniß, entweich!
Gern und vertrauensvoll: es fühlt, daß Sorge selbst und Schmerz die Kindschañ bürgen soll. 5. Heil uns, daß du uns Bruder nennst, Heil uns in Ewigkeit! Heil dem, den du als Bruder kennst in Lieb' und Heiligkeit!
Da floh des Irrthums Nacht. Du hast das lichte Gottesreich In Herz und Welt gebracht. Nun bürgen Sorge selbst und Schmerz Für unsrer Kindheit Recht; Zum Vater hebt sich unser Herz, Wir sind j a sein Geschlecht. Dank dir, daß du uns Brüder nennst, Darauf ruht unser Heil; Wen du als Bruder anerkennst, Hat ewig an dir Theil.
Was in der heil'gen Nacht erklang aus sel'ger Geister Heer, das sey auch unser Lobgesang, Gott in der HOh' sey Ehr'! 2. Von aller Welt erschalle dir, o Jesu, Dank und Lob! dich, unsern Retter, preisen wir, der uns vom Staub' erhob. 3. Du sprachst zur Finsterniß: entweich! da floh des Irrthums Nacht. Du hast das lichte Gottesreich in Herz und Welt gebracht. 4. Nun bürgen Sorge selbst und Schmerz für uns'rer Kindschaft Recht. Zum Vater hebt sich unser Herz; wir sind ja sein Geschlecht. 5. Dank dir, daß du uns Brüder nennst: darauf ruht unser Heil; wen du als Bruder anerkennst, hat ewig an dir Theil.
In der ersten Strophe holt der Bearbeiter das Gloria sogleich vom Weihnachtshimmel in die Dreifaltigkeitskirche: „Das sei auch u n s e r Lobgesang". Erst die zweite Strophe bringt dann die globale Ausweitung des Weihnachtsjubels „Von aller Welt erschalle dir", mitsamt einer christologischen Präzisierung „Dich unsern Retter preisen wir". Schleiermacher korrigiert die theologisch unmögliche Genitiv-Konstruktion „Du hast der Tugend Gottes-Reich" zu „Du hast das lichte Gottesreich in Herz und Welt gebracht." (III/3-4) Bezeichnenderweise wird die Innerlichkeit (das Herz) der äußeren Mission (der Welt) vorangestellt. In Strophe 4 verstärkt der Bearbeiter das Motiv der Gotteskindschaft: Wer zu Gottes „Geschlecht" gehört5, darf gerade in Sorge und Schmerz sein Herz zu Gott erheben. Das akklamatorische „Heil uns" ( V / l - 3 ) wird von Schleiermacher korrigiert. Unser Heil ist extra nos, es besteht darin, daß Jesus uns als Brüder annimmt. Liturgisch artikuliert es sich als Dank an Christus.
5
Eine Anspielung auf Paulus' Areopag-Rede, Act 17,28. Diese Stelle zitiert übrigens auch Luther in seinem Weihnachtslied „Vom Himmel kam der Engel Schar": „Zuletzt müßt ihr doch haben recht, ihr seyd nun worden Gott's Geschlecht, deß danket Gott in Ewigkeit, geduldig, fröhlich allezeit." Vgl. z. B. Porst, Nr. 51,6; EG, Nr. 25,6.
3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823
365
Das Motiv des Lichtbringers (III) erinnert an das alte Morgengebet6 und qualifiziert das Lied als Morgen- und Eingangslied. 3.6.3. Lied und Kirchenmusik „Nach dem Gebet" Methodisch verfahre ich so, daß ich zunächst das fünfstrophige Weihnachtslied „Bringt frohen Dank" vorstelle, das den Komplex rahmt und gliedert (3.6.3.1.). In einem zweiten Schritt widme ich mich der quellenmäßigen Bestimmung der übrigen Stücke (3.6.3.2.) und zuletzt der theologischen Komposition im Ganzen (3.6.3.3.). 3.6.3.1. Das Hauptlied Auch für das Hauptlied nennt das Liedblatt keine Quelle. Mit Hilfe der GBCProtokolle kann jedoch auf das Jauersche Gesangbuch geschlossen werden. Bevor Schleiermacher das Lied am 20.3.1823 der GBC vortrug: „Derselbe das neue Lied: BRTNGT FROHEN D A N K U N D L O B G E S A N G " 7 , hatte er am 13.2.1823 Weihnachtslieder aus diesem Gesangbuch vorgeschlagen.8 Bei der Vorbereitung des Liedblattes im Herbst 1823 konnte Schleiermacher dann auf die eigene Lied-Bearbeitung zurückgreifen. Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 171 Met. Wir Christenleut etc. [Freudig] Der Lobgesang der Engel. Lk 2,14 Bringt frohen Dank und Lobgesang Dem Herrn, der uns zum Heile ward geboren! Sein Licht erhellt die dunkle Welt, Und Kinder seines Lichts gehn nicht verloren. 2. Welch eine Nacht! Der Sterne Pracht wich vor dem Glanz der hohen Himmelschöre. Die Höhe sang, die Tief erklang vom Jubel: Gott, Gott in der Höh' sei Ehre! 3. Es tonte laut: der Vater schaut versöhnt herab; auf Erden herrscht sein Friede. Wem schlägt das Herz nicht frei von Schmerz, nicht freudenvoll bei diesem Jubelliede? 4. Singt, Christen, singt es nach, und bringt Ihm Dank, von dessen Ruhm die Himmel hallen, im Lichte lebt hinfort, und strebt durch Heiligkeit nach seinem Wohlgefallen.
Liedblatt LI84,
26.12.1823
Mei. O Jesu Christ, dein etc.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 116 Mei Wir Christenleut ' etc.
Bringt frohen Dank und Lobgesang Dem Herrn, der uns zum Heile ward gebohren! Sein Licht erhellt die dunkle Welt; Des Lichtes Kinder gehen nicht verloren. 2. Welch eine Nacht! der Sterne Pracht Wich vor dem Glanz der frohen Himmelschöre, Die Erd' erklang vom Lobgesang, Der jauchzend rief: Gott in der Höh sei Ehre. 3. So tönt es laut! der Vater schaut Versöhnt herab; auf Erden herrscht sein Friede! Wem schlagt die Brust nicht jezt voll Lust, Voll Seligkeit bei diesem Segensliede! 4. So singt auch ihr und dankt dem hier,
Bringt frohen Dank und Lobgesang dem Herrn, der uns zum Heile ward geboren! Sein Licht erhellt die dunkle Welt; des Lichtes Kinder gehen nicht verloren. 2. Welch eine Nacht! Der Sterne Pracht wich vor dem Glanz der frohen Himmelschöre. Die Erd' erklang vom Lobgesang, der jauchzend rief: Gott in der Höh' sey Ehre! 3. So tönt es laut: der Vater schaut versöhnt herab, auf Erden herrscht sein Friede. Wem schlägt die Brust nicht jetzt voll Lust, voll Seligkeit bei diesem Segensliede? 4. So singt auch ihr und danket hier
Von dessen Ruhm die Himmel wiederhallen, Und lebt hinfort nach seinem Wort, Dann ruht auf euch sein gnädig Wohlgefallen.
dem, dessen Ruhm die Himmel wiederhallen, und lebt hinfort nach seinem Wort; Dann ruht auf euch sein gnädig Wohlgefallen.
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S . o . Exkurs III. 2.4.1. V g l . GBC-Protokolle J.I. 10, Bl. 3 5 v , s. u. A n h a n g 9).
8
V g l . GBC-Protokolle J.I.10, Bl. 3 3 - 3 3 v , s. u. A n h a n g 9).
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 171
Liedblatt L 184, 26.12.1823
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 116
5. Auch mein Gesang bringt, Herr dir Dank; denn mir auch bracht' dein Sohn des Himmels Segen. Nun lllrcht' ich nicht Tod und Gericht, Und geh' der Nacht der Zukunft froh entgegen. nach Fugger.
5. Auch mein Gesang bringt Herr, dir Dank, Denn mir auch bringt dein Sohn des Himmels Segen. Tod und Gericht erschreckt mich nicht, Der Zukunft Nacht geh' ich getrost entgegen.
5. Auch mein Gesang, Herr, bringt dir Dank, denn mir auch bringt dein Sohn des Himmels Segen. Tod und Gericht erschreckt mich nicht; der Zukunft Nacht geh' ich getrost entgegen.
Die Angabe „nach Fugger" ist irreführend. Es handelt sich um eine anonyme Neudichtung, die sich lediglich der Strophenform des alten Weihnachtsliedes „Wir Christenleut haben jetzund Freud" von Caspar Füger bedient.9 Schleiermacher hat die Text-Vorlage aus dem Jauerschen Gesangbuch nicht grundlegend verändert. Musikalisch entscheidet er sich für die etwas tonreichere Crügersche Melodie „O Jesu Christ, dein Kripplein ist".10 Einige Textänderungen sind als stilistische Korrekturen zu betrachten (1/4, II/4), die den Sprachfluß verbessern, wobei Schleiermacher sich durchweg bemüht hat, die syntaktische Gliederung innerhalb der ersten und dritten Zeile und den damit verbundenen charakteristischen Binnenreim, den die Fermaten verlangen, zu erhalten bzw. zu beachten. In III/3, IV/1 und IV/3 hat er sogar neue Reimpaare gebildet. Mit Hilfe der zweimaligen Konjunktion „so" (III/l, IV/1) gelingt eine bessere Verklammerung der Strophen untereinander. Im Zuge der stilistischen Korrekturen werden auch kleinere dogmatische Retouchen vorgenommen: In II/2 weichen die „hohen" den „frohen Himmelschören". Die kosmische Dimension des Weihnachtsjubels („Die Höhe sang, die Tief erklang") wird abgeschwächt und irdisch beschränkt: „Die Erd' erklang vom Lobgesang". Die beiden letzten Verse der dritten Strophe sind ins positive und jetztzeitige (,jezt") gewendet. Dafür nimmt Schleiermacher die Beschädigung des Bildes „Wem schlägt die Brust ..." in Kauf. Die letzte Zeile bringt eine theologische Verdichtung „voll Seligkeit bei diesem Segensliede" und leitet über aus der Geschichte in die unmittelbare gottesdienstliche Gegenwart. Noch einmal verknüpft Schleiermacher zwei Strophen mittels des adverbialen „So".11 Das Wörtchen „hier" dient nicht nur als Reimwort zu „ihr", sondern wiederum als Reverenz an die gottesdienstliche Situation, auf die auch die Wendung „nach seinem 9
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Vgl. Ph. Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied IV, Nr. 12, S. lOf. In Berlin war das Lied aus Porst, Nr. 53 bekannt. Vgl. auch EKG, Nr. 22. - An das Füger-Lied erinnern außer der Melodie und der Binnenreimstruktur der Verse 1 und 3 Motive der ersten sowie der Anfang der vierten Strophe: „Drum sag' ich Dank Mit dem Gesang". Als Dichter des Liedes BG, Nr. 116, kann aber Füger nicht mehr bezeichnet werden, gegen I. Seibt, Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch (1998), S. 253. Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. J. C. Kühnaus Choralbuch (1786), Nr. 133 und A. W. Bach, Choral-Buch (1830), Nr. 190. Zur Melodie „Wir Christenleut..." vgl. A. W. Bach, ebd. Nr. 241. Man kann sich vorstellen, daß die Wendung „und dankt d e m h i e r " als anstößig empfunden wurde, wie der BG-Text hier auch zum einzigen Mal abweicht.
3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823
367
Wort" hinweist. Diese Wendung ergab sich, als Schleiermacher in IV/3 eine syntaktisch korrekte Neuordnung der Wortfolge vornahm. Bei dieser Gelegenheit konnte er dann auch das katholische Streben nach „Heiligkeit" durch das protestantische Leben „nach seinem Wort" ersetzen. Noch einen Hinweis auf die gottesdienstliche Situation, die das Heil präsent werden läßt, gibt die veränderte Zeitform in V/2: „Denn mir auch b r i n g t ...", wodurch nebenbei auch ein Apostroph überflüssig wird. Das Gericht ist erstaunlicherweise von Schleiermacher beibehalten worden. Den Ernst des Gerichtes als die Nacht der Zukunft hat er nicht abgemildert. Das Lied schließt in einem für Weihnachten merkwürdig gedämpften und persönlichen Ton. Insgesamt war der Redaktor bemüht, das Lied gottesdiensttauglicher zu machen, indem er die Strophen miteinander verband, den Text der Melodie anpaßte und die singende Gemeinde in das Heilsgeschehen hineinstellte. 3.6.3.2. Die Figuralstücke Auf die erste Gemeindestrophe „Bringt frohen Dank" folgt ein Chorsatz mit dem Text: „Siehe Finsterniß bedecket das Erdreich, und Dunkel die Völker! Aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheinet über dir." Dieser Chor begegnet auf den Liederblättern insgesamt dreimal: am zweiten Weihnachtstag 1817 (L 29), am ersten Advent 1818 (H 193) und hier. Jedesmal ist das Stück ausdrücklich als Chor deklariert, so daß es sich dabei kaum um das textgleiche Accompagnato-Rezitativ aus Händeis Messias handeln kann.12 Der Text Jes 60,2 ist häufig vertont worden. Wenn Kantor Rex nicht selbst einen Chorsatz komponiert hat, wofür es bisher keine Indizien gibt, käme für unseren kulturellen Kontext etwa die Vertonung des Textes in der Weihnachtskantate von Johann Heinrich Rolle in Betracht.13 Die exakte Textübereinstimmung, die räumliche Nähe zu Magdeburg, der Überlieferungsstrang über Georg Poelchau14, die stilistische Nähe Rolles zu Graun und C. Ph. E. Bach wie auch die geistige Nähe Rolles zu Klopstock, führen zu dem Vorschlag - mehr kann es nicht sein - , bei dem Eingangschor an die Vertonung Rolles zu denken. Daß
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Vgl. G. F. Händel, Der Messias, hrsg. von John Tobin, Hallische Händelausgabe Bd. 17, Kassel u. a. 1965, Nr. 9. Gegen das Messias-Rezitativ spricht auch, daß dieses Jes 60,2-3 vertont, der Liedblatt-Text aber nur Jes 60,2. Vgl. die Abschrift in: Johann Heinrich Rolle-Kantaten (Ex bibliotheca poelchauiana), Nr. 6 Weihnachtskantate: „Siehe, Finsterniß bedecket das Erdreich. In 2 Theile getheilet. Potsdam 1789." (SBB: Mus.ms. 18725). Rolle (1716-1785) war seit 1752 städtischer Musikdirektor in Magedeburg, wo er jeden Sonntag fur eine der städtischen Kirchen eine Kirchenmusik zu schreiben hatte. Dort begründete er auch das „öffentliche Konzert" und schrieb 21 Oratorien unter dem Einfluß Klopstocks. Zuvor war er 1740-1746 in Berlin als Geiger und Bratscher Mitglied der Hofkapelle Friedrichs II. gewesen. In dieser Zeit nahm er auch bei Graun Kompositionsunterricht. Vgl. Brockhaus/Riemann Musiklexikon Bd. 2 (1979), S. 410 und S. Kümmerle, Encyklopädie der evangelischen Kirchenmusik III, Gütersloh 1894, S. 95ff. Zu G. Poelchau s. u. 3.8.3.2.2. Das Werk befand sich auch in Zelters Sammlung, vgl. Th. Richter, Bibliotheca Zelteriana (2000), Nr. 2035, S. 174.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
übrigens dieser Chor aus Rolles Weihnachtskantate in der Chorsammlung „Die Heilige Cäcilia" (1818/19) abgedruckt wurde, spricht zusätzlich für seine Popularität.15 Auf die Strophen zwei und drei des Liedes „Bringt frohen Dank" folgt das Duett: „Er weidet seine Heerde, ein guter Hirte, und sammelt seine Lämmer in seinen Arm. Er nimmt sie mit Erbarmen in seinen Schooß und suchet auf das verloren war. Kommt her zu ihm, die ihr mühselig seid! Kommt her zu ihm mit Traurigkeit Beladene; denn er verleiht euch Ruh. Nehmt auf euch sein Joch und lernet von ihm; denn er ist sanft und demuthsvoll; dann findet ihr Ruh für euer Herz." Es spricht viel dafür, daß es sich bei diesem Stück um das Duett für Sopranund Altsolo aus Händeis Messias handelt:16 Die Besetzungsangabe „Zwei Stimmen" und die wesentlichen textlichen Übereinstimmungen mit der von der Singakademie rezipierten Mozart-Ausgabe.17 Lediglich an einer Stelle weicht der Text ab: „Er nimmt sie mit Erbarmen in seinen Schooß und suchet auf das verloren war." Hier lautet der deutsche Text in Mozarts Ausgabe und in allen zum Klopstock-Ebelingschen Texttyp gehörigen Ausgaben: „Er nimmt sie mit Erbarmen in seinen Schooß und leitet sanft, die gebähren soll."18 Soweit ich sehe, ist diese - syllabisch irrelevante - Textabweichung in der Geschichte der deutschen Messias-Überlieferung singulär und muß, da sie sich auch nicht aus dem englischen Original ergibt, auf theologische Erwägungen Schleiermachers und Rex' zurückgeführt werden.19 Da auch die nachfolgenden Stücke (Rezitativ und Chor) wesentliche textliche Übereinstimmungen mit dem Messias aufweisen, und da der Messias sich generell großer Beliebtheit erfreute20, darf die Messias-These gewagt werden. Im Fortgang der Kirchenmusik schließt sich der Chor an mit einer Choralstrophe:
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„Die Heilige Cäcilia", Berlin o. J. (1818/19) Bd. III, Nr. 14 (SBB N. Mus. O. 2385-3). G. F. Händel, Der Messias, Hallische Händelausgabe Bd. 17 (1965), Nr. 17. G. F. Händel's Oratorium „Der Messias" nach W. A. Mozart's Bearbeitung, Leipzig 1803, Nr. 17. Vgl. den identischen Wortlaut in: „Der Messias im Clavierauszuge von C. F. G. Schwencke mit deutschem Texte von Klopstock und Ebeling, Hamburg 1809, Nr. 19. Dazu s. u. 3.6.3.3. - Der Klopstock-Ebelingschen Textübertragung bedienten sich fast alle Auffuhrungen zwischen 1787 und 1832, wie die Textbuchsammlung der Berliner Staatsbibliothek über Aufführungen in Berlin und Breslau (SBB: Mus. Th 48) zeigt. - Im englischen Original von Händel/Jennens heißt es: „He shall feed His flock like a shepherd, and He shall gather the lambs with His arm, and carry them in His bosom, and gently lead those that are with young ..." Vgl. G. F. Händel, Der Messias, Hallische Händelausgabe, Nr. 17. Vgl. die Kapitel 3.2., 3.3., 3.4., 3.7. und s. o. Exkurs I. 2.4.3.
3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823
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Gott erfüllt was er verspricht Länger säumt die Hilfe nicht. Freudig wie zum Sieg ein Held, Eilt der Sohn in seine Welt. Die Zugehörigkeit konnte ich bisher nicht feststellen. Die Verse passen auf die Melodie „Nun komm der Heiden Heiland" bzw. „Gott sei Dank durch alle Welt"21, Lieder, die nicht nur prosodisch, sondern auch motivisch bei dieser Strophe Pate gestanden haben.22 Vielleicht gibt es ein rationalistisches Weihnachtslied, dem die Strophe entstammt. Für wahrscheinlicher aber halte ich, daß Schleiermacher die Strophe selbst gemacht hat. Für diesen Fall allerdings müßte sich ihre theologische Funktion erklären lassen.23 Die Kirchenmusik wird fortgesetzt mit einem Solostück (Eine Stimme) und einem unmittelbar anschließenden Chor: Eine Stimme. „Es waren Hirten beisammen auf dem Felde, die hüteten ihre Heerden bei Nacht. Und siehe der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn umleuchtete sie, und sie furchten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, ich verkündige euch Freude, große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren dort in Davids Stadt, der Heiland, der Gesalbte, der Herr. Und alsbald war da bei den Engeln die Menge der himmlischen Heerschaaren, die lobten Gott und sprachen: Chor. Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen." Es handelt sich sehr wahrscheinlich um das Sopran-Rezitativ und -Accompagnato Nr. 13 und 1424, sowie um den Chor Nr. 15 aus dem Messias.25 Die Sopranistin war bereits in dem Duett mit „Kommt her zu ihm" in Erscheinung getreten. Die Texte folgen wiederum im wesentlichen Mozarts Messiasausgabe.26 21
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Beide Lieder wurden auf dieselbe, damals Ambrosius zugeschriebene, Melodie gesungen, vgl. A. W. Bach, Choral-Buch (1830), Nr. 175. Zur Melodie vgl. den Artikel im Handbuch zum EKG (1970), S. 118. Zum Lied „Gott sei Dank" (EG, Nr. 12) vgl. jetzt auch Eberhard Schmidt, in: Liederkunde zum EG, Heft 3, Göttingen 2001, S. 3-6. Vgl. Porst, Nr. 18 und 34. Die Strophen 1-3 von „Gott sei Dank" beinhalten die Motive der erfüllten Verheißung und der gottgewollten Sendung Jesu in die Welt. Das Motiv des eilenden Sohnes stammt aus Luthers Lied „Nun komm der Heiden Heiland", vgl. Porst, Nr. 18,4 und EG, Nr. 4,2. Zur theologischen Gesamtkomposition s. u. 3.6.3.3. G. F. Händel, Der Messias, Hallische Händelausgabe, Nr. 13 und 14. G. F. Händel, Der Messias, Hallische Händelausgabe, Nr. 15. Vgl. G. F. Händel's Oratorium „Der Messias" nach W. A. Mozart's Bearbeitung, Leipzig 1803, Recitativo und Nr. 14: Andante. Lediglich der Beginn „Es waren Hirten beisammen auf dem Felde" entspricht der Textfassung von Schwenckes Klavierauszug: „Der Messias im Clavierauszuge von C. F. G. Schwencke mit deutschem Texte von Klopstock und Ebeling." Hamburg 1809, Nr. 15. Doch dieser Befund sollte nicht problematisiert werden.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Die beiden Schlußstrophen des angefangenen Liedes rahmen die Figuralstücke ein und schließen die Kirchenmusik ab. Während die vierte Strophe „So singt auch ihr" im vierstimmigen Satz erklingt27, hat das letzte Wort wiederum die Gemeinde „Auch mein Gesang bringt, Herr, dir Dank." 3.6.3.3. Die Kirchenmusik als Ganzes Wie gesehen bildet die Kirchenmusik Weihnachten 1823 wiederum eine „Komposition" aus Werken verschiedener Provenienz. Diese uns befremdliche Patchwork-Technik war damals weit verbreitet und den Musikliebhabern durchaus vertraut.28 Hier aber stellt sich die Frage nach der inhaltlichen Einheit der vorliegenden „Komposition". Da die Einheit des Originalwerkes als Auswahlkriterium ausfallt, muß die einheitsstiftende Idee im Arrangement selbst liegen. Worin besteht die Idee oder der Zusammenhang der vorliegenden „Weihnachtskantate"? Der theo-logische Aufbau bzw. die Gedankfolge der „Komposition" lassen sich folgendermaßen beschreiben: Die Gemeinde eröffnet die Kirchenmusik mit der Aufforderung an den Chor, Christus für sein Kommen in die Welt zu lobsingen. Der Chor nimmt das Stichwort aus der dritten Zeile „Sein Licht erhellt die dunkle Welt" auf und singt den Satz „Siehe Finsterniß bedecket das Erdreich" (Jes 60,2). Dieses Stück rekapituliert zugleich die alttestamentlichen Verheißungen des Weihnachtsgeschehens. Die Gemeinde respondiert wiederum, indem sie das Motiv der hellwerdenden Welt sogleich von der visuellen auf die auditive Ebene hebt: „Die Erd' erklang vom Lobgesang". Die beiden Strophen lassen sich aufgrund des Rückverweises: „So tönt es laut!" nicht trennen. Relativ unvermittelt schließt sich das Duett „Er weidet seine Heerde, ein guter Hirte" (vgl. Jes 40,11) an. Schleiermacher könnte sich für dieses Duett entschieden haben, weil es das für seine Predigt konstitutive, vielleicht selbst eingetragene, Bild vom „Suchen des Verlorenen" enthält. Außerdem gibt es eine sachliche Berührung zwischen dem Hirtenbild und dem aus Mt ll,28f. entnommenen Motiv der Herzensruhe einerseits und der Friedensansage der dritten Choralstrophe, die dadurch ausgelegt und biblisch präzisiert wird, andererseits. Doch das Jesus-Logion darf nicht täuschen. Wir befinden uns - im theologischen Kontext dieser Kirchenmusik - noch im Modus der Verheißung.29 Erst der folgende Choral leitet in den Modus der Erfüllung über. Zugleich faßt er noch einmal zusammen: Gott erfüllt seine Verheißungen und sendet seinen Sohn zum Heil in die Welt. Und dann erzählt eine Sopranstimme aus der Heilsgeschichte nach Lukas (Lk 2,8-11.13-14): „Es waren Hirten beisammen". Der Engelschor „Ehre sei Gott in der Höhe" schließt sich bibelgetreu an.
27 28 29
Vielleicht gab Rex die Texte aus dem Kopf in den Druck. Vgl. etwa den Kühnauschen Satz, J. C. Kühnau, Choralbuch (1786), Nr. 133. Zu der sogenannten Pasticcio-Methode verweise ich auf Exkurs I. 3. Was auch dadurch deutlich wird, daß Schleiermacher das Stück vorzieht. Im Messias folgt es als Nr. 17 auf die Verkündigung an die Hirten Nr. 13/14.
3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823
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Im Zuge der „Entmythologisierung", die auch schon in den Liedbearbeitungen auffiel, holt Schleiermacher den Weihnachtsjubel vom Himmel auf die Erde. Der Chor fordert die Gemeinde auf: „So singt auch ihr und dankt dem hier", worauf die Gemeinde im persönlichen Ton antwortet: „Auch mein Gesang bringt, Herr, dir Dank." Schleiermacher und Kantor Rex haben mit diesem Arrangement versucht, die Weihnachtsgeschichte in ihrem biblischen und soteriologischen Kontext für die Gemeinde erlebbar und mitvollziehbar zu machen. Während die Prosastücke an die heilsgeschichtliche Verwurzelung erinnern und die biblische Verkündigung beinhalten, bieten die rahmenden und eingestreuten Choralstrophen die theologische Reflexion bzw. die doxologische Reaktion auf die biblische Verkündigung, sie transportieren die Botschaft in die Gegenwart der singenden Gemeinde und jedes Einzelnen hinein. Liturgisch gesehen stärkt die Kirchenmusik den de tempore-Charakter des Gottesdienstes. Weniger offensichtlich führt sie direkt auf die Predigt hin. Doch begegnen im Gesamtaufbau wie in einzelnen Choral- und Prosa-Texten auch theologische Motive, die unzweideutig auf die anschließende Predigt vorausweisen. 3.6.4. Predigt und Gebet 3.6.4.1. Die Quellen Die Predigt ist nicht gedruckt, liegt aber vor in einer kompletten Nachschrift von Andrae, einschließlich des Schlußgebets.30 Schleiermacher beabsichtigte offenbar, diese Predigt drucken zu lassen, da die Nachschrift im ersten Predigtteil Korrekturen von eigener Hand enthält.31 3.6.4.2. Aufbau und Inhalt der Predigt Der Kanzelauftritt beginnt mit einem kurzen liturgischen Gebet, frei nach Lk l,78f.: „Anbetung und Dank Dir, barmherziger Gott, durch welchen uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erschienen denen, die da saßen in Finsterniß und im Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Amen." Darauf folgt sogleich die Textverlesung Lk 19,9-10. Schleiermacher gelangt über eine Einführung in den theologischen - nicht den exegetischen -Kontext, nämlich die Sehnsucht der Welt nach der Erlösung, zur Exposition des Themas: „Christum darzustellen, wie er gekommen ist als ein Suchender" 32 und zur Gliederung: „Daß er aber so erscheinen mußte, das 30
31 32
Vgl. Andrae-Konvolut 1823 (AK 1823) im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter), alte Signatur E.b.15. - Auf diese Nachschrift beziehen sich die in den Text eingefügten Seitenzahlen. Ich beziehe mich im folgenden primär auf den Andrae-Text und nicht auf die sekundären Änderungen Schleiermachers. Bei der Durchsicht des Manuskripts hat Schleiermacher den formalen Titel Andraes „Hauptpredigt am 2. Weihnachtstage 1823" durchgestrichen und durch das Predigt-The-
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
hängt zusammen auf der einen Seite mit der eigenthümlichen Art und Weise seines Auftretens auf der Erde, auf der andern Seite aber auch eben so sehr mit dem Zustand derjenigen, um derentwillen er gekommen war." (3) Zuerst also ein christologisch akzentuierter Teil. Der Prediger beschreibt die Unscheinbarkeit des Erlösers als Voraussetzung seiner Menschensuche. Wurde er von Menschen gesucht aufgrund seiner Wunder, so waren doch diese Wunder nicht „sein eigentliches Werk, sondern nur etwas für die Sache selbst beinahe Zufalliges und nur zu seiner äußeren Ausstattung gehörig." (7) 33 Jesu Unscheinbarkeit erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Er hatte keine Amtsautorität und keine Wissenschaft. Er war weder Priester noch Professor. „Er war nicht die Schrift, sondern das Wort." (11) In Bezug auf die neutestamentliche Jesusüberlieferung erklärt Schleiermacher: „Also nur als den Wiederhall seines lebendigen Wortes ehren wir sie." (12) Und nun zeigt das NT, daß die meisten überlieferten Worte Jesu im kleinen, ganz persönlichen Kreis oder sogar im Zwiegespräch gesprochen wurden. Nur so konnten sie in die Seelen eindringen. Zwar sind auch in der Geschichte ganze Völker zum christlichen Glauben übergetreten, aber „die wahre Seligkeit des Khristenthums hat immer nur der kleine Theil erfahren. Denn wenn die Seele wahrhaft Gott und dem unvergänglichen soll gewonnen werden, so will sie einzeln gesucht sein." (16) Schleiermacher verbindet diesen kleinen kirchengeschichtlichen Exkurs mit einem Plädoyer für die Einzelseelsorge. 34 Die Taufe der Kinder allein reicht nicht aus, „wir suchen sie [die Kenntnis und Ehrfurcht Christi] doch noch einzeln und besonders so sehr als möglich in den jugendlichen Herzen zu beleben und zu stärken, die Rinde der Verstoktheit, wo sie wäre, zu durchbrechen, die Tiefe derselben zu erforschen, und wo sie verwundet sind, den Balsam des göttlichen Wortes und die Kraft der göttlichen Liebe hineinzugießen. So ist und bleibt der Herr seiner eigenthümlichen Art und Weise nach immer noch der, der umhergeht, und umhergehen läßt, um zu suchen, was verloren ist." (17f.) Beschreibt der erste Teil den Suchenden, so der zweite Teil die Gesuchten. Schleiermacher rekapituliert das „Große Abendmahl" Lk 14 zur Illustration der Kurzatmigkeit der Menschen. Die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen ist total. „Immer aufs neue müssen sie auf das Gefühl gewiesen werden von der Dürftigkeit und von der Mangelhaftigkeit ihres Zustandes, keine Gelegenheit darf vorübergelassen werden, wo man sie aufmerksam machen kann auf das, was ihnen fehlt, wo ihnen die Nichtigkeit und die Vergänglichkeit dessen, womit sie sich begnügen, vor Augen gestellt werden kann." (21 f.) 35 Auch die Frommen erwarten das Kommen des Reiches Gottes immer wieder von außen.
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ma „Daß der Erlöser gekommen ist als ein Suchender. Weihnachtspredigt" ersetzt. Wortlaut in der korrigierten Fassung. Vgl. D. Gerbracht, Die Gemeinde und der Einzelne. Das Verständnis der Seelsorge bei Friedrich D. E. Schleiermacher, Göttingen 1977. Die strengen Worte über das Elend des Menschen überraschen. Doch in einem Brief an Lücke vom 18.6.1823 hatte sich Schleiermacher zu Augustins Manichäismus ähnlich geäußert: „Wie denn auch meine Tendenz grade die ist, das schlimmste vom Bösen zu sagen, was man sagen kann ohne manichäisch zu werden." Briefe IV, S. 314.
3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823
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„Aber weil das Reich Gottes mit äußerlichen Gebehrden nicht kommt, so vermögen sie es auch nicht zu finden, und sie würden nicht hineinkommen, wenn es sie nicht immer und immer wieder suchte." (26) Schleiermacher fahrt mit biblischen Beispielen fort: Zachäus, die ersten Jünger nach Joh l,35ff., Nikodemus. (27) Alle diese Beispiele dienen dem Beweis seiner Predigtthese: „Nur die einzeln Gesuchten, die waren es, die dem Herrn anhingen. Und so, m. g. F.36, so ist der Mensch noch jetzt, wenn ihn der Erlöser nicht suchte, keiner würde durch ihn das Heil finden." (28) Die Erkenntnis des Übels in der Welt mag dem Menschen noch gelingen, aber den Weg zu dessen Beseitigung findet er nicht. „Die Quelle des Unglaubens ist in nichts anderem als darin, daß der Mensch sich mit zu Wenigem begnügt, daß er das Große und Herrliche nicht sucht, und eben deswegen muß er selbst von ihm gesucht sein." (30f.) Den Frieden und die Gemeinschaft mit Gott nennt Schleiermacher das Seligmachen, „welches der leistet, der freilich, aber um so selig zu machen, diejenigen suchen muß, die sich immer damit begnügen, wenn sie etwas anderes finden. Der Friede, den er giebt, [...], die Gemeinschaft mit Gott, in die er uns einführt, und die nicht eine äußere ist wie die, welche die Menschen allein suchen konnten, sondern eine innere, so daß er[,] der Sohn in uns lebt, und mit ihm der Vater kommt Wohnung zu machen in unseren Herzen, nicht ein äußeres Gesez Gottes hinstellend in Buchstaben, sondern die Kraft des göttlichen Gebotes durch den Geist lebendig machend in dem Innern des Menschen, das, m. g. F., ist ein Seligmachen, welches auf keinem andern Wege entstehen konnte." (32f.) Dieses Seligmachen fuhrt „zu der Seligkeit, welche die Menschen fähig macht, daß er sie seine Brüder nennt" (35) und sie macht uns ihm gleich, so daß wir „seiner göttlichen Vollkommenheit uns erfreuen als unserer eigenen." (34) Die Predigt schließt mit einer kurzen eindringlichen Mahnung zur Verbreitung der Seligkeit und zur Suche des Verlorenen: „O, m. g. Freunde, er sucht, lassen wir uns nur finden. Hat er uns aber gefunden, o so lasset uns auch das theure Wort nicht vergessen: ,Suchet so werdet ihr finden.' Wir, m. g. F. sollen auch suchen, für ihn sollen wir suchen das Verlorene, und nicht loslassen und nachlassen bis wir finden, für ihn sollen wir suchen, wo und wie wir seine Seligkeit verbreiten können, und nicht soll uns lieber sein als das Verlorene ihm zu suchen, daß wir es heilen und pflegen und beseligen." (35f.)
36
Meine geliebten Freunde.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
3.6.4.3. Das Gebet Das Kirchengebet schließt sich unmittelbar der Predigt an.37 Schleiermacher bedient sich des Gerüsts des Allgemeinen Kirchengebets38, flicht aber Bezug37
Ich gebe hier den ganzen Wortlaut nach Andrae-Nachschrift, Bl. 37-40: „Ja Preis und Dank sei Dir, barmherziger Vater, daß Du uns heimgesucht hast in Deinem Sohne, daß uns in ihm wieder erschienen ist Dein verlorenes Ebenbild, der Abglanz Deines Wesens und Deiner Herrlichkeit. Dank Dir, daß Du ihn gesandt hast so mild und wohlthätig, so erbarmend und liebevoll zu suchen das Verlorene. O segne dazu immerdar unter uns sein Wort und die Kraft seiner Gemeinschaft, daß das Häuflein der an ihn gläubigen Seelen nicht aufhören in seinem Namen mit ihm und für ihn zu suchen dies Verlorene, und daß aus dem unscheinbaren Anfang seines Reiches immer mehr sich erbaue der herrliche Tempel Gottes, in welchem er, der uns gesandte Sohn, als der Anfänger der Gläubigen, als der Herzog der Seligkeit verehrt werde und du angebetet im Geist und in der Wahrheit. Dazu, gütiger Gott, segne Du die heiligen geheimnißvollen Güter der khristlichen Kirche und laß sich immer fester schlingen das Band der Liebe und des Glaubens um alle, die den N a m e n deines Sohnes bekennen. Wir empfehlen Dir dazu in diesen Tagen allgemeiner Freude die ganze in freudiger Dankbarkeit vor Dir versammelte Khristenheit. Aber auch unter uns insbesondere und unter unserm Volke laß Dein Reich wachsen und gedeihen. Segne dazu den König, den Kronprinzen und seine Gemahlin und das ganze Königliche Haus, und laß es unter uns leuchten mit einem Beispiele khristlicher Gottseligkeit. Verleihe dazu dem Könige in der Regierung seines Volks den Geist der Weisheit und der Erkenntniß, umgieb ihn mit treuen und eifrigen Dienern, welche bereit sind zu thun was Recht ist vor Dir, und zu fordern das gemeinsame Wohl. Segne die Erziehung der Jugend in der Zucht und Vermahnung zum Herrn, und einem jeden in dem Kreise seines Berufs und seines stillen Lebens in dem Bestreben, mit Deinem Sohne und für ihn zu suchen, was noch verloren ist, und selig zu machen, was sich noch quält in den Dingen dieser Welt. Nimm Dich nach Deiner Gnade vorzüglich auch derer an, die unter den Widerwärtigkeiten dieses Lebens ihren Trost bei Dir suchen, und indem Deine Gnade mächtig ist in den Schwachen, so laß uns alle immer fester an dem Glauben halten, daß denen, die Dich lieben gelernt haben in Deinem Sohne, denen, die sich von ihm haben finden lassen, auch alles gereichen muß zur Erhöhung ihrer Seligkeit. Amen."
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Vgl. Exkurs III. 2.3.1. - Zum Grundbestand des allgemeinen Kirchengebets gehört die Fürbitte für die Obrigkeit, doch war es Schleiermacher hier auch Herzenssache, wie er im Brief an Gaß vom 20.12.1823 verrät: „Von des Kronprinzen Vermählung darf ich Dir wol nicht erst etwas sagen. Ich erfuhr die Sache gerade in München und es ging nicht ohne Freudenthränen bei mir ab. Ich bin nicht von denen, die von dieser Seite etwas fürchten für die Kirche. Da müßte unsre Sache auf schwachen Füßen stehen." Briefe IV, S. 320. (Der Kronprinz hatte eine katholische Prinzessin geheiratet!) - Die Fürbitte für den König und eine weise Regierung mag Schleiermacher gerade in dieser Zeit aus dem Herzen gekommen sein, vgl. sein Schreiben an den König, in dem er seine Loyalität verteidigt (ohne Datum, zwischen 1820 und 1823): „Und wenn wir in den Befreiungskriegen bei jeder bedeutenden Veranlassung in öffentlichen Abendgebeten Gott dankten für den Schuz den er der Person des Königs angedeihen lassen, und sie aufs neue der göttlichen Obhut empfahlen, waren meine Gebete gewiß nicht minder eifrig als die irgend eines Geistlichen in dieser Hauptstadt. Eben so in den gewöhnlichen Zeiten wird meine Gemeinde nie das Gefühl gehabt haben, als ob unsre sonntägliche Fürbitte für die Person des Königs mir weniger von Herzen ginge als irgend ein andrer Theil meiner Amtsverrichtungen und als ob sie leere und untheilnehmende ausgesprochene Worte oder geheucheltes Wesen wären. Nur daß ich es immer verschmäht habe, dieses Gefühl an heiliger Stätte mit schönen Redensarten auszupuzen." Briefe IV, S. 440.
3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823
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nahmen auf das Kirchenjahr und den speziellen Gegenstand der Predigt ein. Das Gebet macht noch einmal deutlich, worauf es dem Prediger ankam: In Jesu Suche nach den Verlorenen ereignet sich die Heim-Suchung Gottes, der durch seinen Sohn die Ebenbildlichkeit seiner Geschöpfe wiederherstellt. Interssant ist die konkrete Theologisierung des letzten Satzes. Schleiermacher schließt das Kirchengebet gern mit Zitat oder Paraphrase von Rom 8,28 ab. Hier deutet er das Gott-lieben im Sinne seiner Predigt als das ,νοη Christus finden lassen' und das von Paulus το άγατόν genannte wird paraphrasiert „zur Erhöhung ihrer Seligkeit". 3.6.4.4. Theologische Akzente Jesus wird vom Prediger dieser Weihnachtspredigt als Suchender geschildert. Weil er selbst der Suchende ist, darum muß er unscheinbare Züge tragen, ganz im Unterschied zu Johannes dem Täufer. Nicht die Suche der Menschen nach dem Erlöser führt zum Heil, sondern umgekehrt die Suche des Erlösers nach den Menschen. Schleiermacher interpretiert seine Predigtverse ausdrücklich mit Hilfe von Joh 15,16. Exegetisches Interesse an Zachäus und der Zachäusgeschichte zeigt Schleiermacher nicht. Sie dient ihm lediglich als Vehikel seiner These, daß Jesu Suche auf den Einzelnen zielt, und daß Jesu Macht im mündlichen Wort liegt.39 Zachäus figuriert hier weder als der notorische Sünder noch als der politische Opportunist oder Kollaborateur, sondern nur als ein typischer Einzelvertreter des Menschengeschlechts. Wie wir in Christus, einem Einzelnen, die „Fülle der Gottheit anschauen", so meint auch Christus mit dem Einzelnen das ganze menschliche Geschlecht: „wie er als Heil des ganzen menschlichen Geschlechts auch dem ganzen angehört." (34) Christus wird als Allversöhner gedacht. Die Suche des Erlösers zielt auf den Einzelnen, doch tendenziell auf alle, denn das Gefühl vom Zustand der Dürftigkeit und Mangelhaftigkeit ist universal. In dieser Ahnung sucht der Mensch nach innerweltlicher Erlösung. Doch seine Suche geht fehl, weil er das Heil in einem einzigen Menschen gar nicht denken kann, und weil die Fleischwerdung des Wortes außerhalb seines Vorstellungsvermögens liegt. Darum muß der Inkarnierte selbst sich auf die Suche begeben. Das Ergebnis des Suchens ist gemäß Lk 19,10 das Seligmachen. Schleiermacher faßt die Seligkeit immanent als den Frieden und die Gemeinschaft mit Gott. Die Seligkeit ist - entgegen den Erwartungen und Suchbemühungen der Menschen - keine äußere, etwa ein apokalyptisches Ereignis, sondern die Einwohnung des Sohnes Gottes in unseren Herzen. Diese Vorstellung trägt zweifellos mystische Züge, die übrigens auch durch die Skepsis gegen das geschriebene Wort bestätigt werden. Doch andererseits
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Trillhaas beobachtet generell eine „zeitlose, geschichtsfliichtige Weihnachtsbetrachtung Schleiermachers". Vgl. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 53.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
grenzt sich Schleiermacher mit der Betonung der einseitigen Suchrichtung (von Christus zum Menschen) entschieden von mystischen Selbsterlösungsversuchen ab. Die Aktivität liegt eindeutig auf Gottes bzw. Christi Seite. Schleiermacher hält fest am extra nos des Heils und löst das Kommen Christi nicht in einen religiösen Bewußtseinsinhalt auf. Der ethische Teil zu Ende der Predigt ist kurz. Aus dem Suchen Christi wird nicht etwa unser Gottsuchen abgeleitet. Die Antwort des Christen besteht schlicht im Sich-Finden-Lassen. Andererseits nehmen wir an Christi Suchen teil: „schlecht würden wir feiern das Fest seiner Erscheinung, und unvollkommen würde sein die Dankbarkeit, die wir Gott dem Herrn darbringen, wenn wir nicht auf der einen Seite fühlen, wie wir selbst haben müssen von ihm gesucht werden und gefunden, auf der andern Seite uns auch selbst und unser ganzes Leben ihm hingeben, und es als unsern höchsten Beruf ansehen, wenn wir die Menschenkinder erfüllen können mit der Seligkeit, die wir ihm verdanken." (36) So erscheint Christus als der initiale, der urbildliche Menschensucher, der die Verlorenen zu Gott zurückbringt und in dessen Nachfolge auch wir stehen. Dieses Suchen der Verlorenen in Jesu Nachfolge ist freilich kein im eigentlichen Sinne missionarisches Handeln, eher ein seelsorgerlich-diakonisches, ein „heilen und pflegen und beseligen." 3.6.5. Die Liedstrophe nach der Predigt Die Strophe „O du, durch den ich lebe" stammt aus dem Lied „Er kommt und Seraphinen". Schleiermacher hatte dieses Lied der GBC am 13.2.1823 aus dem Jauerschen Gesangbuch vorgeschlagen und selbst die Redaktion übernommen. Am 27.2.23 stellte er es der GBC vor. Wilmsen protokolliert: „Hr. Schleierm. trug vor: E R KOMMT UND SERAPHINEN von Reiber, welches bald vollendet wurde."40 Am 6.3.1823 lieferte er es in Reinschrift ab. Jauersches Gesangbuch (1813),
Liedblatt L 184,
Berliner Gesangbuch (1829),
Nr. 160
Zweiter Weihnachtstag 1823
Nr. 128
Mei. Nun lob mein Seel...
Mei. Nun lob ' mein Seel'...
Mei. Nun lob ' mein Seel ' etc. [Mit freudiger Rührung ] Lk 2,10 Er kommt und Seraphinen Bedecken ihm ihr Angesicht, Und eilen ihm zu dienen, und scheuen Bethlehms Armut nicht. Wie herrlich glänzt die Erde Aus ihrer Nacht hervor! Ihr Hirten dieser Heerde, hört ihr der Himmel Chor? O hin zu deiner Krippen Naht sich mein Geist entzückt.
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Er kommt und Seraphinen verhallen ihm ihr Angesicht; sie eilen, ihm zu dienen, und scheuen Bethlems Armuth nicht. Wie herrlich glänzt die Erde aus dunkler Nacht hervor! Ihr Hüter dieser Heerde, hört ihr der Engel Chor? Mit euch zu jener Krippen naht sich mein Geist entzückt;
GBC-Akte J.I.10, Bl. 34v, s. u. Anhang 9). - Reichart Gottlob Reiber (1744-1809) stammte aus Schlesien, gab drei Sammlungen mit eigenen, insgesamt ca. 200, Kirchenliedern heraus. Einige stehen im Jauerschen Gesangbuch, vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenliedes, Bd. 6 (1869), S. 377.
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3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823 Jauersches Gesangbuch (1813),
Liedblatt L 184,
Berliner Gesangbuch (1829),
Nr. 160
Zweiter Weihnachtstag 1823
Nr. 128 begeistert singt, ihr Lippen, dem Herrn, den ich erblickt! 2. Mit euch, ihr Engelchöre, vereint sich unser Lobgesang; ja, Erd' und Himmel höre und theile der Erlösten Dank. Anbetung sey auf Erden dem Sohn, der ewig war, den, unser Heil zu werden, ein sterblich Weib gebar. Hier fließen Freudenzähren, ein Zoll der Lieb' und Treu'; wir huldigen und schwören und weihn uns ihm a u f s Neu'.
Auf singt entflammte Lippen, den Gott, den ich erblickt! 2. Ihr holden Engelschore, nehmt eure neuen Freunde mit! Wir singen Preis und Ehre; Und alle Himmel singen mit: Anbetung, Preis und Ehre Dem, der da ist und war, und den, o Erde höre! ein sterblich Weib gebar! Hier stürzen Freudenthränen, hier weint die Liebe Dank. Wir huldgen ihm, wir schwören, Wir opfern Lobgesang. 3 . 0 du, durch den ich lebe! Was bring ich dir für Dank dafür? Nimm meinen Geist! ich gebe Den letzten Hauch noch freudig dir. Wie selig! ich kann sterben. Halt mich der Staub doch nicht. Ich weiß, was ich soll erben, Und fürchte kein Gericht. Seid selig, seine Engel! Seid selig! Gleicht ihr ihm? Ich kämpfe mich durch Mangel, und komme doch zu ihm.
O du, durch den ich lebe, Du öfnetest den Himmel mir! Nimm hin mein Herz! ich gebe Den lezten Hauch noch freudig dir. Anbetung sei auf Erden Dem Sohn, der ewig war, Den, unser Heil zu werden, Ein sterblich Weib gebar. Hier fließen Freudenthränen, Ein Zoll der Lieb' und Treu, Wir huldigen und schwüren Und weihn uns dir aufs neu.
3. O du, durch den ich lebe, du öffnetest den Himmel mir; nimm du mein Heiz, ich gebe den letzten Hauch noch freudig dir! Wie selig kann ich sterben, mich hält das Grab j a nicht! den Himmel soll ich erben und fürchten kein Gericht. Ihr seyd wohl heilig, Engel; doch ward er euch nicht gleich. Ich kämpfe mich durch Mängel, doch dring' ich in sein Reich.
Reiber.
Interessant ist die Strophe nach der Predigt, da sie zwei Strophen eines Liedes kombiniert (II und III), das Schleiermacher fur die GBC zu bearbeiten hatte. Man sieht, daß es keinen Automatismus gab, der von der GBC-Bearbeitung zum Liedblatt oder umgekehrt vom Liedblatt zur BG-Fassung führte. Schleiermacher hat die Lieder stets sorgfaltig für seine Gottesdienste ausgewählt und gelegentlich auch situativ bearbeitet. Die Strophe mußte geändert werden, weil das individuelle Todesmotiv im Weihnachtsgottesdienst keinen Platz hat. In der Liedblatt-Form ist die Strophe dreiteilig: Die ersten vier Verse sprechen im Gebetston von der totalen und sehr persönlichen Übergabe des Gläubigen an Christus. Die mittleren vier Zeilen begründen diese Übergabe christologisch: Die Anbetung - wiederum „auf Erden", vom Engelschor ist keine Rede! - gebührt dem Präexistenten, der durch die Inkarnation zum Heilsbringer wurde. Die letzten vier Zeilen dehnen die Antwort auf die Gemeinde aus: „Wir huldigen und schwören und weih'n uns dir aufs neu", wobei die Anredeform der Anfangszeilen wieder aufgenommen wird. 3.6.6. Das Ganze Die Liedbearbeitungen Schleiermachers für die GBC und die eigenen Gottesdienste hängen eng miteinander zusammen. Das machen die terminlichen Konstellationen wie auch der hohe Grad an Übereinstimmung zwischen den Liedblatt- und den BG-Texten wahrscheinlich.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Allerdings ist die Entstehung des Liedblatts nicht einfach so zu denken, daß Schleiermacher nur drei Weihnachtslieder aus dem GBC-Archiv gegriffen hätte. Vielmehr stellt sich die Vorbereitung des Liedblattes, also Liedauswahl und Arrangement der Kirchenmusik, als ein wohldurchdachter und schöpferischer Vorgang dar. Wenn man hier auch nicht primär mit situativen Liedbearbeitungen rechnen kann, will doch die Frage beantwortet sein, warum Schleiermacher gerade diese Lieder für den Weihnachtsgottesdienst 1823 ausgewählt hat. Und ob und wie er in seiner Predigt auf Lied und Kirchenmusik Bezug genommen hat. Welche thematischen und sprachlichen Berührungen, welche Anknüpfungen, gibt es? Zunächst zu den Lied- und Musiktexten vor der Predigt: Gleich zu Beginn seiner Predigt nimmt Schleiermacher auf die von Chor und Solisten gesungene Engelsbotschaft: „Es ist euch ein großes Heil widerfahren" und auf die in der einzelnen Choralstrophe proklamierte „Erfüllung aller Verheißungen Gottes" (2) Bezug und legt beide mittels der Zachäusgeschichte exemplarisch aus: Das zu Weihnachten erfüllte Heil der Welt erweist sich als Heil für den Einzelnen. Indem Christus Zachäus be-sucht, sucht er, die verloren waren. Daß der Be-such Christi die Suche der Verlorenen ist, gibt der Kanzelgruß programmatisch vor: „Anbetung und Dank Dir, barmherziger Gott, durch welchen uns b e s u c h t hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erschienen denen, die da saßen in Finsterniß und im Schatten des Todes ..." Die Voranstellung von Herz vor Welt im Eingangslied berührt sich sachlich mit der Charakterisierung des Gottesreiches als der Einwohnung Gottes in unseren Herzen durch den Prediger. Diese Zuwendung Gottes zum Einzelnen, dessen Typos Zachäus ist, geht der Verbreitung der Seligkeit sachlich voraus. Daß diese Seligkeit die Verwirklichung der Ebenbildlichkeit Gottes bzw. der „Bruderschaft" Christi bedeutet, bringen Predigt und Lied übereinstimmend zum Ausdruck: Die ausdrückliche Textänderung in der vierten Strophe des Eingangsliedes „Wir sind ja sein Geschlecht" findet ihre Entsprechung in der Predigt: Christi Seligmachen führt „zu der Seligkeit, welche die Menschen fähig macht, daß er sie seine Brüder nennt", daß wir „seiner göttlichen Vollkommenheit uns erfreuen als unserer eigenen." Die Bruderschaft der Gläubigen mit Christus verbalisiert auch die fünfte Strophe des Eingangsliedes: „Dank dir, daß du uns Brüder nennst, Darauf ruht unser Heil." Der für den zweiten Teil der Predigt tragende Begriff der Seligkeit, und zwar im Jetzt, findet sich bereits in der Bearbeitung der dritten Strophe des Hauptliedes: „Wem schlägt die Brust nicht j e z t voll Lust, Voll S e l i g k e i t bei diesem Segensliede!" Das die Predigt thematisch bestimmende Motiv vom „Suchen des Verlorenen" erscheint explizit in dem veränderten Text des Duetts (Er weidet seine Heerde): „und s u c h e t a u f das v e r l o r e n war." Auf die in Mt 11,28 verheißene Ruhe (vgl. Duett: Er weidet seine Heerde) nimmt Schleiermacher in seiner Predigt ausdrücklich Bezug, wenn er vom Umgang Jesu mit den Menschen sagt: „... lud er sie ein bei ihm Ruhe zu finden, und sich von ihm erquicken zu lassen." (8)
3.6. Der zweite Weihnachtstag 1823
379
Die zweite Strophe des Hauptliedes ortet den Weihnachtsjubel auf der Erde, alle kosmisch-apokalyptischen Vorstellungen werden vom Liedbearbeiter verworfen. Die Tendenz zur „Erdung" weisen alle Lieder dieses Liedblattes auf, und auch der Prediger macht schon durch die Wahl des Textes seine subjektivistische Erlösungsvorstellung geltend. Bei der Liedstrophe nach der Predigt stellt sich noch gezielter die Frage nach dem Verhältnis zur Predigt, da sie eigens für diesen Gottesdienst arrangiert wurde. Zunächst fallt der sehr persönliche Ton auf: ein Lied in der Ich-Form! Die Lied- und Strophenwahl hängt mit der Zuspitzung der Predigt auf den Einzelnen zusammen. Und dieser Einzelne antwortet nun auf die Aufforderung des Predigers „uns auch selbst und unser ganzes Leben ihm hin[z«]geben" (36) mit der feierlichen und fröhlichen Übergabe des ganzen Lebens: „Nimm hin mein Herz! ich gebe Den lezten Hauch noch freudig dir." Der „letzte Hauch" will hier diese Totalität ausdrücken, nicht Tod und Sterben thematisieren. Es folgt ein in der dritten Person gehaltener christologischer Mittelteil, der wiederum die Anbetung human „auf Erden" stattfinden läßt, der den für die Predigt zentralen Begriff „Heil" enthält sowie die Gott-Mensch-Einheit Christi. Die letzten Verse öffnen die Strophe auf die Gemeinde hin und kehren - im ausdrücklichen Gegensatz zur BG-Fassung - zum Gebetsduktus „Und weihn uns d i r aufs neu" zurück. Schleiermacher fand den Beginn der Strophe zu seiner Predigtidee passend, doch paßten weder das Sterbe- noch das Engelsmotiv an das Ende dieses Gottesdienstes. So tauschte er diese gegen den Schluß der zweiten Strophe aus, der die feierliche Selbstübergabe - nun im gemeindlichen Wir - doxologisch vollzieht. Damit erfüllt die Schlußstrophe ihren doppelten liturgischen Zweck, der in der Antwort der Hörer auf das Predigtwort und im Übergang vom Gottesdienst in den Alltag des Lebens besteht. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß alle Liedbearbeitungen einen erkennbaren Zug zum liturgischen Zweck aufweisen, eine zielgerichtete Anpassung der Texte an die gottesdienstliche Situation, in der das Heil präsent wird. Theologisch ist den Liedblatt-Texten und der Predigt gemeinsam eine spezifische Orientierung auf den Einzelnen, die nicht anders als durch die frühzeitige Wahl von Predigttext und -thema erklärt werden kann. Die schwierige persönliche Situation, in der sich Schleiermacher 1823/24 befand, und die ihn zu Spekulationen über eine innere oder äußere Emigration veranlaßte, könnte dafür mitverantwortlich gewesen sein.
3.7. Der Gottesdienst am Himmelfahrtstag 1825 (12.5.1825) 3.7.1. Einleitung Der Gottesdienst und seine Vorbereitung fallt in die Zeit des eskalierenden Agendenstreits. Schleiermacher schreibt an seinen geschaßten Kollegen und Freund de Wette: „Denn wie ich höre droht mir wieder ein neuer Sturm. Man thut mir nämlich die unverdiente Ehre an mich wie ehemals für den unsichtbaren Oberer der Demagogen, so jezt für das geheime Oberhaupt aller Opposition gegen die Liturgie anzusehen. [...] Doch sollen sie auf jeden Fall einen tapferen Widerstand finden und die Wahrheit hören."1 Trotz der seit 1822 merklich vermehrten Amtsgeschäfte arbeitete Schleiermacher an der zweiten Auflage der Glaubenslehre. In demselben Brief heißt es: „Dann [nach Ostern] werde ich an die zweite Ausgabe der Dogmatik gehen, wozu ich nun noch Studien oder wenigstens Lesereien genug machen muß. [...] Wie lange aber wird das Leben noch währen? Es ist wahr, daß seit der Union die kirchlichen Geschäfte sich sehr fur mich gemehrt haben und auch die der Akademie der Wissenschaften werden immer verwickelter und überall bin ich der welcher vor den Riß treten muß."2 Im Zusammenhang mit der Glaubenslehre standen Auseinandersetzungen um seine Christologie. In einem Brief an Κ. H. Sack vom 9.4.1825 schreibt er: „Aber die Affection ist ja eben die Wirkung des Göttlichen in Christo, und das ist ja das Objective. Das Wort Joh. 1,14: Wir sahen seine Herrlichkeit u.s.w. ist der Keim alles Dogma, und giebt sich selbst für nichts anderes, als für die in Rede übertragene Affection. Ja auch was Christus von sich selbst sagt, wäre keine christliche Wahrheit geworden, wenn es sich nicht sogleich durch diese Affection bewährt hätte. Diese ist also und bleibt mir das Ursprüngliche im Christenthum und alles andere ist nur von ihr abgeleitet. Die wirksame d. h. auf eine bestimmte Art afficirende Erscheinung Christi ist die wahre Offenbarung und das Objective. [...] Wer eben nicht glaubt, daß ich an dem historischen Christus festhalte, der hat auch kein Wort von meinem Buch und von meiner Methode verstanden. Sollte aber wol ein verständiger Mensch dadurch irre gefuhrt werden, daß in der Dogmatik selbst das Historische nur vorausgesezt wird und nicht vorgetragen?"3 In demselben Brief bringt Schleiermacher beiläufig seine Wertschätzung des Hebräerbriefes, dessen Christologie er rezipierte, zum Ausdruck: „In diesem nun [dem NT] stellen Sie mir den Brief an die Hebräer etwas zu niedrig." 4 Mit 1
2 3 4
Brief vom 2.2.1825, Briefe IV, S. 332. - Schleiermacher hatte sich 1824 exponiert mit der Schrift „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sinceras", SW1/5, S. 477-535. Briefe IV, S. 331. Briefe IV, S. 334f. Briefe IV, S. 334. Es geht hier um Schleiermachers anerkennende Beurteilung der Mono-
382
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
der Mittlerschaft und dem Hohepriestertum Christi sehen wir auch den Liturgen und Prediger dieses Himmelfahrtstages intensiv beschäftigt.5 3.7.2. Das Lied „Vor dem Gebet" Das Lied von Ernst Christoph Homburg (1605-1681) wurde der GBC am 19.2.1824 von Ritsehl referiert, eine Woche später ins Magazin abgeliefert. Schleiermacher hatte sich bereits 1819 mit dem Lied beschäftigt. In dem ersten uns erhaltenen Konferenzprotokoll vom 25.2.1819 heißt es: „In der heutigen Conferenz der Gesangbuchs-Commission legte der Hr. Dr. Schleiermacher die von ihm zur Aufnahme vorgeschlagenen und veränderten Lieder vor. Das eine der vorgeschlagenen ACH WUNDERGROSSER SIEGESHELD wurde von ihm aufgegeben, weil die Verbesserung uniibersteigliche Schwierigkeiten hat." 6 Schleiermacher ließ sich von den „unübersteiglichen Schwierigkeiten" nicht beirren und setzte Himmelfahrt 1819 eine Strophe des Liedes, gestützt auf die Fassung des Jauerschen Gesangbuchs (Nr. 304)7 sowie zwei Jahre später das ganze Lied in der fast unveränderten Fassung desselben Gesangbuchs an.8 Nachdem sich die GBC im Februar 1824 erneut mit dem Lied befaßt hatte, brachte auch Schleiermacher es bei nächster Gelegenheit (Himmelfahrt 18259) wieder, jedoch in einer - wahrscheinlich Ritschis Bearbeitung ähnlichen - gänzlich neuen Form. Aufgrund der terminlichen Konstellation erkläre ich die auffallige Übereinstimmung zwischen der Liedblatt- und der BG-Fassung anders als Ilsabe Seibt10: Schleiermacher hat sich der von Ritsehl besorgten Liedrevision bedient und diese als erster rezipiert. Auf die kleinen Abweichungen zwischen der Liedblatt- und der BG-Fassung wird allerdings zu achten sein." Leider wissen wir nicht, auf welche Vorlage sich Ritsehl stützte. Doch läßt seine Bearbeitung insgesamt erkennen, daß er sich wieder mehr dem Originaltext an-
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graphie „Vom Worte Gottes, eine christliche Verständigung. Bonn 1825" von Κ. H. Sack. Vgl. das Liedblatt H 116, s. u. Anhang 11). GBC-Akte J.I.13, Bl. 11, s. u. Anhang 9). Das zunächst zurückgelegte Lied war lt. Liste vom 17.12.1818 (GBC-Akte J.I.12, Bl. 44) aus dem Porst (Nr. 153) vorgeschlagen worden. Mit einer signifikanten Abänderung, statt: „Licht und Erkenntnis unsrer Pflicht" (Jauersches Gesangbuch Nr. 304,3): „Der Liebe Kraft, des Glaubens Licht" (Liedblatt L 45). Zu Himmelfahrt 1819, s. u. 3.7.6., Anm. 65. Himmelfahrt 1821 (L 107). Abgesehen von der gestrichenen Schlußstrophe hat Schleiermacher nur das Ende von Strophe 5 verändert und darin die Bitte um Erfahrung des Himmels schon jetzt eingetragen. Himmelfahrt 1824 hatte Schleiermacher den Frühgottesdienst zu halten, bei dem noch aus dem Porstschen Gesangbuch gesungen wurde. Die Predigtnachschriften im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter), E.b.20. (Andrae-Nachschrift), und E.a.7 (Andrae-Konvolut), enthalten auch die Liedertitel! I. Seibt, Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829 (1998), S. 48: „Für das BG 1829 läßt sich daraus schlußfolgern, daß die mit den Liederblättern übereinstimmenden Textfassungen tatsächlich von Schleiermachers Hand stammen." Zwar wurden die Himmelfahrtslieder am 19.3.1829 noch einmal revidiert, doch wird das besagte Lied nicht eigens erwähnt, vgl. J.I.9, Vol. II., Bl. 133v, s. u. Anhang 9).
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
383
nähern wollte. 12 Als moderne Quellensammlung, die sich aber um Wiederherstellung der alten Texte bemühte, kommt etwa die von Ritsehl viel benutzte Anthologie von August Jakob Rambach in Frage.13 Rambachs Anthologie Bd. 3 (¡819), S. 124f. Titel: „ Preis des erhöheten Heilandes " Ach wundergroßer Siegesheld, Du SUndenträger aller Welt, Heut hast du dich gesetzet Zur Rechten deines Vaters Kraft, Der Feinde Schaar gebracht zur Haft Bis auf den Tod verletzet; Mächtig, prächtig triumphirest, Jubiiirest; Tod und Leben, Dir ist alles untergeben. Dir dienen alle Cherubim; Viel tausend hohe Seraphin Dich großen Siegsmann loben, Weil du den Segen wiederbracht, Mit Majestät und großer Macht Zur Glori bist erhoben. Singet, klinget, Rühmt und ehret Den, so fähret Auf gen Himmel Mit Posaunen und Getümmel Du bist das Haupt, hingegen wir Sind Glieder; ja es kommt von dir Auf uns Licht, Trost und Leben; Heil, Fried und Freude, Stärk und Kraft, Erquickung, Labsal, Herzenssaft Wird uns von dir gegeben. Bringe, zwinge mein Gemüthe, Mein Gebluthe, Daß es preise, Dir als Siegsherm Ehr' erweise. Zeuch, Jesus, uns, zeuch uns nach dir; Hilf, daß wir forthin ftlr und für Nach deinem Reiche trachten; Laß unser Thun und Wandel seyn, Wo Zucht und Demuth tritt herein, All' Ueppigkeit verachten. Unart, Hoffart laß uns meiden, Christlich leiden, Wohl ergründen, Wo die Gnade sey zu finden. Sey, Jesus, unser Schutz und Schatz, Sey unser Ruhm und vester Platz, Darauf wir uns verlassen! Laß suchen uns, was droben ist; Auf Erden wohnet Trug und List,
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Liedblatt
H116,
Am Himmelfahrtstage
Berliner Gesangbuch (1829), 1825
Nr. 254
Mei Wie schön leuchtet etc. O wundergroßer Siegesheld, Wie herrlich, Heiland aller Welt, Hast du dein Werk vollendet! Nun reicht der Vater dir den Lohn; Du sizest bei ihm auf dem Thron, Von dem er dich gesendet. Ewig siegreich triumphirest Und regirest Du o König; Alles ist dir unterthänig.
Mei. Wie schön leucht V uns. O wundergroßer Siegesheld! wie herrlich, Heiland aller Welt, hast du dein Werk vollendet! Nun reicht der Vater dir den Lohn und du nimmst wieder ein den Thron, von dem er dich gesendet. Mächtig, prächtig triumphirest und regierest du, o Konig; Alles ist dir unterthänig. 2. Dich soll die Schaar der Cherubim und aller heil'gen Seraphim mit lauter Stimme loben; dich, der uns selig hat gemacht und nun mit Majestät und Pracht zum Himmel sich erhoben. Singet, bringet, Engelchöre, Ruhm und Ehre! ihm vor Allen lasset Dank und Preis erschallen. Du bist das Haupt, die Glieder wir; 3. Du bist das Haupt, die Glieder wir; Zu uns herab kommt nur von dir, zu uns herab kommt nur von dir Licht, Freude, Trost und Leben. Licht, Freude, Trost und Leben. Des heiigen Geistes Wunderkraft, Des heil'gen Geistes Wunderkraft, Die alles Gute wirkt und schafft, die alles Gute wirkt und schafft, Wird uns durch dich gegeben. wird uns durch dich gegeben. Darum regt sich mein GemUthe Dringe, zwinge mein GemUthe, Deine Gute deine Gute Hoch zu preisen, hoch zu preisen, Ehr' und Dank dir zu erweisen. Ehr' und Dank dir zu erweisen. Zeuch uns nun Jesu ganz zu dir, 4. Zeuch uns, o Jesu, ganz zu dir, Hilf daß wir Alle für und ftlr hilf, daß wir Alle ftlr und für Nach deinem Reiche trachten, nach deinem Reiche trachten. Das suchen nur, was dir gefällt, Laß suchen uns, was dir gefällt, Und daftlr gem die ganze Welt und gieb, daß wir die ganze Welt Mit ihrer Lust verachten. mit ihrer Lust verachten. Stärke, mehre, deiner Liebe Nähre, mehre deiner Liebe Heiige Triebe! heil'ge Triebe, Daß kein Leiden daß kein Leiden Je von dir uns könne scheiden. je uns könne von dir scheiden.
Man vergleiche etwa die rationalistische Bearbeitung des Liedes im Jauerschen Gesangbuch, Nr. 304. Vgl. A. J. Rambach, Anthologie christlicher Gesänge aus der neueren Zeit. Zweyter Theil (Bd. 3) Hamburg 1819. Unter den Liedern von Ernst Christoph Homburg steht das Lied auf S. 124f. unter der Überschrift „Preis des erhöheten Heilandes".
384
3. D e r Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Rambachs Anthologie Bd. 3
Liedblatt H116,
Berliner Gesangbuch (1829),
(1819), S. 124f.
Am Himmelfahrtstage 1825
Nr. 254
Es ist auf allen Straßen Lügen, Trügen, Angst und Plagen, Die da nagen, Die da quälen Stundlich arme Christenseelen. Herr Jesu, komm, du Gnadenthron, Du Siegesfürst, Held, Davids Sohn, Komm, stille das Verlangen! Du, du bist allen uns zu gut, O Jesu, durch dein theures Blut Ins Heiligthum gegangen. Komm schier, hilf mir! dann so sollen Dann so wollen Wir ohn* Ende Fröhlich klopfen in die Hände.
Was hat Schleiermacher geändert, vorausgesetzt, er hat die unter BG, Nr. 254 befindliche Liedfassung zugrunde gelegt? Folgende wesentliche Abweichungen fallen auf: Die Lesart in 1/5: „Du sitzest bei ihm auf dem Thron" statt: „und du nimmst wieder ein den Thron" hält durch die Präposition „bei" die Subordination des Sohnes fest und erschwert ein geschichtliches Verstehen der Himmelfahrt. Den von Ritsehl bewahrten Reim „mächtig prächtig" (1/7) hat Schleiermacher nicht übernommen, stattdessen das weniger klang- und gemütvolle, dafür aber theologisch gefüllte Adverb „Ewig siegreich" gebildet. Überhaupt fallt auf, daß Schleiermacher den originalen Binnenreim im siebenten Vers auch in den anderen Strophen eliminiert hat. Er fühlte sich durch dieses zwanghafte Reimschema eingeengt. Die mythische Engelsstrophe (BG, Nr. 254,2) fehlt. Schließlich war Schleiermacher die Vorstellung eines göttlichen Zwingens (III/7) fremd. Stattdessen ändert er in: „Darum regt sich mein Gemüthe". Die Modifikationen in der vierten Strophe können außer acht bleiben. 3.7.3. Lied und Kirchenmusik „Nach dem Gebet" 3.7.3.1. Das Hauptlied Im Verlaufe dieses Gottesdienstes werden vier Strophen des Liedes „Großer Mittler, der zur Rechten" gesungen: zu Beginn der Kirchenmusik zwei Strophen, zwischen Arie und Chor eine und schließlich nach der Predigt eine weitere Strophe. Wegen der Verteilung der Liedstrophen auf den ganzen Gottesdienst muß ich bei der Analyse auf spätere liturgische Orte vorgreifen. Das bis dahin in Berlin unbekannte Lied von Johann Jakob Rambach (1693— 1735) war für die GBC 1821 zunächst von Küster zu einem Himmelfahrtslied umgearbeitet worden.14 Leider fehlt es auf der Vorschlagsliste vom 11.5.1820, 14
Im alten Breslauer Gesangbuch z. B. steht das Lied noch unter den Adventsliedern (Nr. 341) und im Anhang des Stralsunder Gesangbuchs (1750/1804) Nr. 550 unter der
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
385
als die alten Lieder mit G verteilt wurden, so daß wir nicht wissen, wer und aus welchem Gesangbuch das Lied vorgeschlagen hatte.15 Jahre später brachte dann Schleiermacher noch eine veränderte Strophe des Liedes ein. Im Protokoll vom 11.1.1827 heißt es: „Hr. Schi, übernahm die Verbesserung eines Verses in dem Liede: GROSSER MITTLER, DER ZUR RECHTEN ρ welche für nöthig erachtet wurde."16 Hatte Schleiermacher aus dem Lied „Großer Mittler, der zur Rechten" vor 1821 nur die letzte Strophe in der Fassung des Jauerschen Gesangbuch singen lassen17, so taucht das Lied nach 1821 zweimal in mehrstrophigen Fassungen auf. Offenbar hat sich Schleiermacher zu Himmelfahrt 1822 von Küsters Bearbeitung inspirieren lassen.18 Allerdings kann die Liedblatt-Version von 1822 (L 136) nicht als die reine Küster-Bearbeitung angesehen werden. Der augenfälligste Unterschied der Liedfassungen von 1822 und 1825 besteht darin, daß das Lied 1822 (bis auf die letzte Strophe) in Erzählform erscheint, weshalb auch sogleich das Incipit „Wohl uns, daß zu Gottes Rechten" abweicht.19 So rechne ich hypothetisch mit folgendem Redaktionsprozeß: Küster legte der GBC 1821 eine Neubearbeitung des Liedes vor, die in BG, Nr. 252 im Kern vorliegt, wobei wir nicht wissen, welches Quellen-Gesangbuch er benutzte. Schleiermacher nahm Küsters Bearbeitung sofort auf, entwickelte sie weiter und probierte sie 1822 und 1825 auf den Liederblättern aus. Die definitive BGFassung schließlich wurde aufgrund der Küsterschen Bearbeitung und unter Berücksichtigung einer von Schleiermacher revidierten Strophe erstellt. Um die Eigentümlichkeit der Liedfassung von Himmelfahrt 1825 zu beurteilen, können wir - da wir Schleiermachers unmittelbare Vorlage nicht kennen nur die Fassung von Himmelfahrt 1822 und die literarisch spätere, redaktionsgeschichtlich aber wahrscheinlich frühere BG-Fassung vergleichen. Der Synopse auf den nächsten Doppelseiten beigegeben ist die Textversion aus dem alten Breslauer Gesangbuch als einer möglichen Quelle fur Küsters Bearbeitung sowie anmerkungsweise die Abweichungen im alten Stralsunder Gesangbuch von 1750 (1804)20:
15
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Überschrift „Von der Fürbitte Christi". Von den alten Gesangbüchern ist es enthalten u. a. im Breslauer, im Stralsunder und im Lüneburger Gesangbuch (Nr. 306). - Küster hatte neben Crügers Praxis Pietatis Melica (1647 2 ) aus einem Gesangbuch mit dem Titel „Stimmen aus Zion" (Stargard 1750) vorzuschlagen. Doch dort fehlt das Lied. J.I.12, Bl. 36, s. u. Anhang 9). - Um welche Strophe es sich handelt, ist nicht mehr zu ermitteln. An einem Himmelfahrtsfest vor 1817 (H 115) begegnet die neunte Strophe als Kanzelvers, Himmelfahrt 1819 (L 45) dieselbe als Liedvers nach der Predigt. S. u. die Synopse, vgl. besonders die Strophen 6 und 7. Die Fassung von 1822 (L 136) weist auch die übliche Strophenkürzung auf. Dabei sind die ersten beiden Originalstrophen zur ersten, die dritte und vierte zur zweiten „verschmolzen" worden, die achte ist ausgelassen. In A. Knapps „Evangelischer Liederschatz", Stuttgart 18914 (1837 1 ), Nr. 718, fehlt die achte Strophe ebenfalls. Offenbar war sie nicht in allen Gesangbüchern abgedruckt. Zur Bibliographie der Gesangbücher vgl. mein Gesangbuchverzeichnis.
386
3. D e r F e s t g o t t e s d i e n s t in d e r l i t u r g i s c h e n P r a x i s
Breslauer Gesangbuch
(1745), Nr. 341',21
Mei. Jesu, der du meine Seele'
Liedblatt L 136, Himmelfahrt
1822
Mei. Jesu der du meine etc.
Großer Mittler, der zur Rechten
Wohl uns, daß zu Gottes Rechten
seines großen Vaters sitzt,
Jesus unser Mittler sizt,
und die Schaar von seinen Knechten
Und die Schaar von seinen Knechten
in dem Reich der Gnaden schützt,
In dem Reich der Gnade schüzt!
den auf dem erhabnen Throne
Was vollendet sollte werden,
in der königlichen Krone,
Sein Geschäft auf dieser Erden
alles Heer der Ewigkeit23
Und sein Opfer ist vollbracht,
mit verhülltem Antlitz scheut.
Wie es Gottes Rath bedacht.
2. Dein Geschäft auf dieser Erden, und dein Opfer ist vollbracht, was vollendet sollen werden, das ist gäntzlich ausgemacht: Da du bist für uns gestorben, Ist uns Gnad und Heil erworben, und dein siegreich Auferstehn läßt uns in die Freyheit gehn.24 3. Nun ist dieses dein Geschäfte
Nun ist droben sein Geschäfte,
in dem obern Heiligthum,
Aus des Himmels Heiligthum
die erworbnen Segens-Kräfte,
Zu verbreiten Lebenskräfte
durch dein Evangelium,
Durch das Evangelium
allen denen mitzutheilen,
Er vertritt die an ihn gläuben,
die zum Thron der Gnade eilen;
Daß sie ihm vereinigt bleiben;
nun wird uns durch deine Hand
Und theilt in des Vaters Haus
Heil und Segen zugewandt.
Jedem seine Wohnung aus.
4. Deines Volckes werthe Namen trägest du auf deiner Brust, und an den gerechten Saamen denckest du mit vieler Lust, Du vertritt'st die an dich gläuben, daß sie dir vereinigt bleiben, und bitt'st in des Vaters Haus ihnen eine Wohnung aus. 5. Doch vergißt du auch der Armen,
Doch vergißt er auch die Armen,
die der Welt noch dienen, nicht,
Die der Welt noch dienen, nicht,
weil dein Herz dir vor Erbarmen,
Weil sein Herz ihm aus Erbarmen
über ihrem Elend bricht;
Ueber ihrem Elend bricht.
21 22 23 24
Das Lied steht im alten Stralsunder Gesangbuch, Nr. 5 5 0 ( 1 7 5 0 / 1 8 0 4 ) unter der Rubrik Adventslieder unter der Überschrift: V o n der hohenpriesterlichen Fürbitte Jesu Christi. Melodie im Stralsunder Gesangbuch: Alle Menschen müssen sterben. Im Stralsunder Gb, Vers 7 - 8 : „auch des Himmels großes Heer bringt in Demuth, Preis und Ehr." Im Stralsunder Gb, „Läßt uns in die Freude gehn."
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
Liedblatt H116, Himmelfahrt 1825 Mei. Jesu, der du meine etc. Großer Mittler, der zur Rechten
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 252 Mei. Alle Menschen müssen etc. Großer Mittler, der zur Rechten
Unsers ewgen Vaters sizt,
seines großen Vaters sitzt
Und die Schaar von seinen Knechten
und die Schaar von seinen Knechten
In dem Reich der Gnade schtlzt;
in dem Reich der Gnaden schützt,
Dir auf dem erhabnen Throne,
dir auf dem erhabnen Throne
Gottes eingeboraem Sohne
in der königlichen Krone
Bringet der Erlösten Heer
bringet aller Engel Heer
Tief anbetend Preis und Ehr.
tief anbetend Preis und Ehr'.
Was vollendet sollte werden,
2. Was vollendet sollte werden,
Wie es Gottes Rath bedacht,
wie es Gottes Rath bedacht,
Dein Geschäft auf dieser Erden
dein Geschäft auf dieser Erden
Ist, o Heiland, nun vollbracht.
und dein Opfer ist vollbracht.
Da du bist am Kreuz gestorben,
Da du bist am Kreuz gestorben,
Ist uns Gnad und Heil erworben;
ist uns Gnad' und Heil erworben,
Und dein siegreich Auferstehn
und dein siegreich Auferstehn
Läßt uns in die Freiheit gehn.
läßt auch unsern Sieg uns sehn.
Ja nun ist, Herr, dein Geschäfte
3. Nun, o Herr, ist dein Geschäfte
In des Himmels Heiligthum,
in des Himmels Heiligthum,
Zu verbreiten Lebenskräfte
zu verbreiten Lebenskräfte
Durch dein Evangelium.
durch dein Evangelium.
Du vertrittst, die an dich gläuben,
Allen willst du Gnad' ertheilen,
Daß sie dir vereinigt bleiben;
die zu dir im Glauben eilen,
In des Vaters Haus theilst du
und dein Geist macht Allen kund
Jedem seine Wohnung zu.
deinen hohen Gnadenbund. 4. Deines Volkes theure Namen trägst du stets in deiner Brust; welche jemals zu dir kamen, sind und bleiben deine Lust. Du vertrittst, die an dich gläuben, daß sie dir vereinigt bleiben; in des Vaters Haus theilst du Jedem seine Wohnung zu. 5. Doch vergißt du auch der Armen, die der Welt noch dienen, nicht, weil dein Herz dir aus Erbarmen Uber all' ihr Elend bricht.
3. D e r F e s t g o t t e s d i e n s t in d e r l i t u r g i s c h e n P r a x i s
388
Breslauer
Gesangbuch
(1745) Nr. 341
Mei. Jesu, der du meine Daß dein Vater ihrer schone,
Seele
Liedblatt L ¡36, Himmelfahrt
Mei Jesu der du meine etc. Daß der Vater sie verschone,
daß er nicht nach Werken lohne,
Ihnen nicht nach Werken lohne,
daß er ändre ihren Sinn,
Daß er ändre ihren Sinn,
ach! da zielt dein Bitten hin.
Darauf geht sein Bitten hin.
6. Zwar in deinen Fleisches Tagen,
Zwar schon in des Fleisches Tagen,
da die Sünden aller Welt
Da die Sünden aller Welt
dir auf deinen Schultern lagen,
schwer auf seinen Schultern lagen,
hast du dich vor Gott gestellt,
Hat er sich vor Gott gestellt;
Bald mit Seufzen, bald mit Weinen,
Hat geweinet und gerungen,
für die Sünder zu erscheinen,
Bis sein Flehn zu Gott gedrungen;
O! mit welcher Niedrigkeit
So bat er zu jener Zeit
batest du zur selben Zeit.
Aus der Erde Niedrigkeit.
7. Aber nun wird deine Bitte25
1822
Aber jezo wird sein Flehen
Von der Allmacht unterstützt,
Von der Allmacht unterstüzt,
da in der vollkommnen Hütte
Da verklärt in jenen Höhen
die verklärte Menschheit sitzt;
Seine Menschheit thronend sizt.
Nun kannst du des Satans Klagen
Majestätisch niederschlagen
majestätisch niederschlagen,
Kann er nun des Feindes Klagen,
und nun macht dein redend Blut
Und es redet uns zu gut
unsre böse Sache gut.
Kräftig sein vergoßnes Blut.
8. Die Verdienste deiner Leiden26 stellest du dem Vater dar, Und machst liebreich und bescheiden Dein Verlangen offenbar, Daß er wolle Kraft und Leben deinem Volck auf Erden geben, Und die Seelen zu dir ziehn, die noch deine Freundschaft iliehn. 9. Großer Mittler! sey gepriesen, Daß du in dem Heiligthum
Großer Mittler sei gepriesen! Dir sei Ehre, Dank und Ruhm,
so viel Treu an uns bewiesen,
Für die Treu, die du bewiesen
dir sey Ehre, Danck und Ruhm,
Hier und dort im Heiligthum!
laß uns dein Verdienst vertreten,
Wenn wir zu dem Vater beten,
wenn wir zu dem Vater bethen,
Wird uns dein Verdienst vertreten:
sprich für uns in letzter Noth,
Wenn der Tod die Lipp' uns schließt,
wenn den Mund verschließt der Tod.
Dann sprichst du Herr Jesu Christ.
D. J. J. Rambach
25 26
Rambach
Im Stralsunder Gb, Strophe 7, Verse 1 - 4 : „Aber jetzo wird dein Flehen v o n der Allmacht unterstützt; da in jenen Himmelshöhen die verklärte Menschheit sitzt." Stralsunder Gb, Strophe 8: „Die Verdienste deiner Leiden stellst du deinem Vater dar, und vertrittst nunmehr mit Freuden deine theur erlös'te Schaar; bittest, daß er Kraft und Leben woll' dem Volk auf Erden geben, auch die alle zu dir ziehn, die noch deine Freundschaft fliehn."
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
Liedblatt H116, Himmelfahrt 1825 Mei. Jesu, der du meine etc.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 252 Mei. Alle Menschen müssen etc. Daß dein Vater ihrer schone, daß er nicht nach Werken lohne, daß er ändre ihren Sinn, darauf geht dein Bitten hin. 6. Einst in deines Fleisches Tagen hast du dich vor Gott gestellt, als auf dir, Versöhner lagen schwer die Sünden aller Welt. Wie hast du geweint, gerungen, bis dein Flehn zu Gott gedrungen; wie batst du zu jener Zeit, Herr, in deiner Niedrigkeit. 7. Jetzt ist kräftiger dein Flehen, seit du Sieger wardtst im Streit und verklärt in jenen Höhen thronst in voller Herrlichkeit. Nun kannst du des Feindes Klagen majestätisch niederschlagen und es redet uns zu gut kräftig dein vergossnes Blut.
Großer Mittler sei gepriesen,
8. Großer Mittler, sey gepriesen;
Dir sei Ehre, Dank und Ruhm
dir sey Ehre, Dank und Ruhm,
Für die Treu, die du bewiesen,
für die Treu', die du bewiesen,
Hier und dort im Heiligthum.
hier und dort im Heiligthum!
Dein Verdienst wird uns vertreten,
Dein Verdienst wird uns vertreten,
Wenn wir zu dem Vater beten;
wenn wir zu dem Vater beten;
Wenn der Tod den Mund uns schließt,
wenn der Tod den Mund uns schließt,
Sprich für uns Herr Jesu Christ.
sprich für uns, Herr Jesu Christ.
390
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Wo liegen die Unterschiede zwischen „Schleiermachers Himmelfahrtslied" 1825 und den anderen Textversionen? Von der Wiederherstellung der Anredeform war bereits die Rede. Der Vater Jesu Christi wird als „unser ewger Vater" (1/2) bezeichnet. Damit ist nicht allein die Ewigkeit Gottes, sondern auch die durch Christus besorgte und den Gläubigen zu Gute kommende Wegbereitung zum Vater konnotiert. Die 1822 verschmolzenen Eingangsstrophen hat Schleiermacher wieder getrennt.27 Die „königliche Krone" wird zugunsten von „Gottes eingebornem Sohne" gestrichen. Ob es sich dabei schlicht um „Bildersturm" handelt oder um eine dogmatische Komplettierung, oder ob die Ersetzung durch „Gottes eingebornem Sohne" mit Schleiermachers subordinatianischer Christologie zusammenhängt, die schon im Eingangslied zu beobachten war? Den Lobpreis bringen die Erlösten dar, nicht das Heer der Engel. (1/7-8) In II/4 ist der Terminus des Opfers für Christi irdisches Lebenswerk ausdrücklich beseitigt, und in II/8 heißt es von der Gabe durch Jesu Auferstehung ausdrücklich: „läßt uns in die Freiheit gehn." Hat Schleiermacher diese Lesart auch nicht selbst geschaffen, so hat er sich doch bewußt für diese und gegen andere mögliche Lesarten entschieden.28 In Strophe 3 wurde die räumliche Himmelsvorstellung abgemildert: „Ja nun ist, Herr dein Geschäfte in des Himmels Heiligthum" (III/1-2), und die Schlußstrophe hat - von Versumstellungen abgesehen - die originale Bitte um Fürsprache in der Todesstunde wiederhergestellt.29 Trotz der unsicheren Quellenlage kann konstatiert werden, daß Schleiermacher am Nutzen (pro nobis) und an den Folgen der Erhöhung Christi stärker interessiert ist als an der Erhöhung selbst, wie er auch an der mythologischen Vorstellung des Himmelsstaates wenig Interesse zeigt und diese verkürzt. Der zum Vater zurückgekehrte Sohn wird als Vertreter und Fürsprecher seiner Gläubigen angebetet. Die Wahl dieses Liedes geschah nicht zufallig. Bereits in Rambachs „Geistreichem Hausgesangbuch" 1735 stand es in der Rubrik „Vom hohepriesterlichen Amt Christi" und führte den Untertitel „Die hohepriesterliche Vorbitte Jesu Christi".30 3.7.3.2. Die Figuralmusik Bei der Figuralmusik handelt es sich um drei Prosastücke, davon zwei Chöre und eine Arie. Nach zwei von der Gemeinde gesungenen Strophen des Liedes 27 28 29
30
Das BG ist darin noch weiter gegangen und hat auch die originale vierte Strophe wiederhergestellt, vielleicht auf Schleiermachers Intervention vom 11.1.1827 hin. Vgl. Stralsunder Gesangbuch (Nr. 550,2) und die BG-Fassung. Der Liedautor J. J. Rambach war für seine Gebetskraft bekannt. Ein Freund berichtet: „Groß war seine Kraft im Beten ..." In der Fürbitte für die öffentlichen Angelegenheiten „war er nicht anders anzusehen, als der Hohepriester des Alten Testaments." Ε. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds Bd. 4 (1868), S. 525f. Vgl. Ε. E. Koch, ebd., Bd. 4, S. 534. So auch im Anhang des Stralsunder Gesangbuchs (1804), Nr. 550.
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
391
„Großer Mittler, der zur Rechten" läßt sich der Chor vernehmen mit dem Chorsatz: Wir haben einen solchen Hohenpriester, der da sizet zur Rechten auf dem Stuhl der Majestät im Himmel. Und ist ein Pfleger der heiligen Güter und der wahrhaftigen Hütte, welche Gott aufgerichtet hat und kein Mensch. Über den Komponisten des Stückes, das Hebr 8,1 f. vertont, kann vorläufig nichts gesagt werden. Immerhin scheint es keine Gelegenheitskomposition gewesen zu sein, denn derselbe Text begegnete in wörtlicher Übereinstimmung bereits auf dem Liedblatt L 45 (Himmelfahrt 1819), d. h. Kantor Rex besaß in seinem Notenarchiv einen Chorsatz auf Worte aus Hebr 8,1 f. zur Verwendung am Himmelfahrtstag.31 Es folgt ein als Solo deklariertes Stück mit dem Text: Du fuhrest in die Höh, nahmst das Gefangniß gefangen, und empfingst Gaben für die Menschen, ja selbst für deine Feinde, daß Gott der Herr stets wohne bei ihnen. Bei diesem Satz, der auf Eph 4,8 und Ps 68,19 zurückgeht32, bewegen wir uns auf festerem Boden. Es dürfte sich um die Altarie Nr. 32 aus Händeis Messias handeln33, aus folgenden Gründen: Zum einen stimmt der Liedblatt-Text genau mit dem Wortlaut der Hamburger Messiasausgabe von 1809 überein.34 Zum andern fallt auf, daß die Wendung 31
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33
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RISM, Musikhandschriften nach 1600. Thematischer Katalog auf CD-Rom, Frankfurt am Main 1998, nennt für den Text einen Beleg, eine Kantate des unbekannten Georg Eberhard Duntz. Freilich ist der deutsche Text nur e i n Anhaltspunkt. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß es sich um italienische oder lateinische Kirchenmusik handelt, der ein deutscher geistlicher Text unterlegt wurde. Ich verweise auf eine Anmerkung Thomaskantors J. A. Hiller zu einem Liedblatt für die Leipziger Kirchenmusik am Feste der Verkündigung Mariä von 1791 (SBB: Mus Τ 143): „Wegen der Arien, die jetzt immer unter der Communion gesungen werden, scheint eine Anmerkung nöthig zu seyn. Es sind alles italiänische Arien von Hasse, mit deutschen geistlichen Texten unterlegt, im ächten Kirchenstyl geschrieben ... Um nicht immer Arien zu haben, deren Vorrath allerdings der stärkste ist, werden künftig Duette, Terzette und Chöre öfters eine Abwechslung machen. Die Musik zum Sonntage Sexagesimä ist, bis auf den Choralvers, ganz aus zwey Hassischen Oratorien genommen." Zu Technik und Praxis der Parodie vgl. auch Exkurs I. 2.4.2.3. Zum theologischen und traditionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. H. J. Kraus, Psalmen Bd. 2 (1980 ), S. 63 5f. und R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser (EKK X 1982), S. 179f. G. F. Händel, Der Messias, hrsg. von John Tobin, Hallische Händelausgabe Bd. 17 (1965), Nr. 32. Von diesem Stück gibt es zwei Varianten, als Baß- und Sopranarie, vgl. Nr. 32 a und 32 b, ebd., S. 297ff. Der Messias im Clavierauszuge von C. F. G. Schwencke mit deutschem Texte von Klopstock und Ebeling, Hamburg 1809. - In der äußerst populären und sonst auch an der Drei-
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
„daß Gott der Herr stets wohne bei ihnen" nicht aus der Lutherübersetzung stammt, sondern aus der englischen King James-Bibel: „... that the LORD God might dwell among them."35 Schließlich wissen wir, daß sich Kantor Rex auch als Herausgeber von Kirchenmusik für den Hausgebrauch betätigte. Unter den von ihm im Klavierauszug herausgegebenen vier Alt-Arien aus Händeis Messias befindet sich auch diese Himmelfahrts-Arie.36 Daß Händeis Messias auch in Schleiermachers Gottesdiensten gern und oft rezipiert wurde, hat sich inzwischen herausgestellt.37 In seiner theologischen Motivile knüpft der Text mit der „Gefangennahme des Gefängnisses" an den Schluß der zweiten Liedstrophe „... läßt uns in die Freiheit gehen" an. Nach der Gemeindestrophe „Ja nun ist, Herr, dein Geschäfte" aus dem Lied „Großer Mittler, der zur Rechten" folgt ein Chor mit dem Text: „Du sizest zu der Rechten bei Gott in der Herrlichkeit des Vaters. Und einst kommst du, glauben wir, hernieder zum Gericht." Umfangreiche Textrecherchen blieben erfolglos, bis mir durch die Beschäftigung mit den Liedbearbeitungen das Bemühen Schleiermachers und seiner Zeitgenossen auffiel, fremdsprachige Texte, Formeln und Ausdrücke zu er- oder übersetzen. Auf eine Bibelstelle läßt sich der Text nicht zurückfuhren, auch nicht auf die altkirchlichen Symbole. So stieß ich auf das lateinische Te Deum: „Tu ad dexteram Dei sedes in gloria patris iudex crederis esse venturus."38 Es gab einige beliebte Vertonungen des Te Deum, besonders die von Händel und Graun.39
35 36
37 38 39
faltigkeitskirche rezipierten Messiasbearbeitung von Mozart fehlt dieses Stück, vgl. G. F. Händel's Oratorium „Der Messias" nach W. A. Mozart's Bearbeitung. Bei Breitkopf und Härtel in Leipzig 1803. Vgl. Ps 68,18 in: The Holy Bible New York o. J. - Diesen Hinweis verdanke ich meinem Lehrer Jürgen Henkys. Vgl. Vier Alt-Arien aus Haendels Messias nach der Londoner Partitur für das Pianoforte eingerichtet von C. F. Rex, Berlin o. J. (ca. 1827), SBB: N. Mus. 6954. Darin die Nr. III., S. 11-13: „Thou art gone up on high, thou hast led captivity captive ..." Die offenbar von Rex stammende deutsche Übersetzung lautet: „Du fuhrest in die Höh', hast gefangen das Gefängniß, du erhieltest Gaben für die Menschen, ja selbst für deine Feinde, daß Gott der Herr stets wohne bei ihnen." Auf insgesamt 13 Liederblättern finden sich evidente Übereinstimmungen mit Messiastexten. Zur allgemeinen Beliebtheit des Messias vgl. auch Exkurs I. 2.4.3. In den drei altkirchlichen Symbolen lautet die entsprechende Stelle jeweils „... iudicare vivos et mortuos", vgl. BSLK Bd. 1, Berlin 19787. Das bekannte Utrechter Te Deum von Händel kommt allerdings kaum in Frage, denn hier wird der zweite Satz „We believe that Thou ..." textlich und musikalisch (mitten im Takt) unmittelbar fortgesetzt mit: „therefore pray Thee: help Thy servants ..." Vgl. Chrysanders Händel-Ausgabe „The Works of George Frederic Handel" Bd. 31, Leipzig 1869 (Reprint 1966), S. 26-28. - Grauns Tedeum von 1757 käme in Frage. Hier bildet das Stück den vierstimmigen Chor Nr. 6. Der deutsche Text ließe sich unterlegen, doch üblich waren anscheinend „klassische" Textübertragungen. Vgl. den Text in: „Te Deum laudamus. Herr
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3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
Von Händeis Dettinger Te Deum wissen wir, daß es die Singakademie am 23.6.1821 in einem öffentlichen Benefizkonzert in der Berliner Garnisonkirche aufgeführt hatte.40 Für dieses Werk, das Händel 1743 anläßlich des Sieges der Engländer über die Franzosen bei Dettingen komponiert hatte, spricht, daß der besagte Abschnitt dort genauso abgegrenzt ist.41 Das Stück endet mit einem 8-taktigen codaartigen Adagio, das die Herabkunft Christi zum Gericht im homophonen Satz verkündet und dabei durch Modulation von g-moll nach D-Dur die Trompeten des Jüngsten Gerichts vorbereitet.42 Doch weicht die von Zelter für seine Auffuhrungen mit der Singakademie geschaffene eigene Text-Fassung bei dem betreffenden Chor vom Liedblatt-Text ab.43 Zufallig stieß ich auf einen Klavierauszug zu Händeis Dettinger Te Deum, angefertigt von dem Kantor und Musikdirektor an der Dreifaltigkeitskirche, J. F. C. Rex44, der mit dem Liedblatt textlich exakt übereinstimmt. Zum Vergleich der englische „Originaltext" und die deutsche Textunterlegung in Rex' Klavierauszug sowie der Liedblatt-Text von Himmelfahrt 1825 und darunter ein Notenbeispiel, das die Schlüssigkeit und „Erhabenheit" der Händeischen Tonsprache sichtbar und hörbar macht. Te Deum composed in the
Te Deum componirt zur Feier des
Liedblatt H116,
Year 1743for the victory
Sieges bei Dettingen im Jahr 1743.
Am Himmelfahrtstage 1825
at Dettingen.'15 Chor 9. Trio. Thou sittest at the right
9. Du sitzest zu der Rechten bei
Du sizest zu der Rechten bei Gott in
hand of God in the Glory of thy
Gott, in der Herrlichkeit des Va-
der Herrlichkeit des Vaters. Und einst
Father. We believe that Thou
ters. Und einst kommst du, glauben kommst du, glauben wir, hernieder
shalt come to be our judge.
wir, hernieder zum Gericht.
10. Flourish.
10. (Trompeten)
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42 43
44
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zum Gericht.
Gott! dich loben wir. nach der Composition des Königlich Preußischen Capellmeisters Herrn Carl Heinrich Graun in dem Liebhaberconcerte zu Berlin aufgeftihret." Latein/deutsch, mit Luthers Übersetzung, Berlin o. J. (SBB: Tg 885). Oder „Te Deum laudamus. Nach der Komposition des verstorbenen Herrn Kapellmeisters Graun, nebst einer wörtlichen Übersetzung vom Herrn Professor Ramler. Aufgeführt in der musikalischen Ressource." Berlin 1796. (SBB: Tg 885/4). Vgl. G. Schünemann, Die Singakademie zu Berlin (1941), S. 210. Allerdings handelt es sich dort um ein Terzett (ohne Sopran), vgl. Friedrich Chrysanders Händel-Ausgabe „The Works of George Frederic Handel" Bd. 25, Leipzig 1866 (Reprint 1965), S. 70-74. Vgl. das folgende Notenbeispiel. „Du sitzest zu der Rechten bei Gott In der Herrlichkeit des Vaters, Von wannen du kommen wirst, Zu richten die Welt." Das Dettingensche Tedeum von Georg Friedrich Händel [...] Berlin 1831 (mit einem Vorwort Zelters, SBB: Th 61). Deutlich sind die Anklänge an Luthers Übersetzung des zweiten Glaubensartikels „von dannen er kommen wird ..." Te Deum zur Feier des Sieges bei Dettingen im Jahre 1743 von G. F. Haendel, im Klavierauszuge von C. F. Rex, Berlin bei Trautwein o. J., in: Bibliothek der Berliner Hochschule der Künste, Fasanenstraße. Sign: RA 6575. (Auf Seite 1 ist der Text in englisch und deutsch abgedruckt.). Te Deum zur Feier des Sieges bei Dettingen im Jahre 1743 von G. F. Haendel, im Klavierauszuge von C. F. Rex, Berlin bei Trautwein o. J. Die Besetzungsangabe Trio bedeutet hier, daß Sopran und Alt unisono gehen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
So ist aufgrund der Textübereinstimmung der deutschen Übersetzung mit dem Liedblatt - man vergleiche die charakteristische Parenthese „glauben wir" - , aufgrund der Herausgeberschaft des Dettinger Te Deums durch den Dreifaltigkeitskantor Rex und aufgrund der Händelrezeption an der Berliner Dreifaltigkeitskirche, die dieses und andere Liederblätter breit bezeugen46, davon auszugehen, daß am Himmelfahrtstag 1825 in Schleiermachers Gottesdienst ein Satz (Nr. 9) aus Händeis Dettinger Te Deum aufgeführt wurde. Von wem die deutsche Textfassung stammt, ist unbekannt, vielleicht von Rex selbst. Ob das von Händel geforderte Trompetensignal hier erfolgte, ist fraglich. 47 Jedenfalls schließt die folgende Choralstrophe mit der Melodie „O Ewigkeit, du Donnerwort" sehr suggestiv an den von Händel vertonten Text an. 3.7.3.3. Die Liedstrophe vor der Predigt „Du rufst uns einst vor deinen Thron" Die Strophe stammt aus dem Lied „Erhöhter Jesu, Gottes Sohn". Die GBC beschäftigte sich Anfang 1825 mit dem Lied. Wilmsen protokolliert am 6.1.1825: „Hr. Theremin: ERHÖHTER JESU GOTTES SOHN von Ulber. Im Bremer Gesangbuch N° 204. auch im Neuen Berliner Gesangbuch."48 Theremin hat seine Bearbeitung des Liedes also mit Hilfe des Bremer und des Mylius'schen Gesangbuches erstellt. Als Schleiermacher das Liedblatt für Himmelfahrt im Februar/März 1825 vorbereitete, konnte er auf Theremins Bearbeitung zurückgreifen. Da weder das
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48
Wohl dasselbe Stück begegnet wieder auf dem Liedblatt Himmelfahrt 1827 (H 117). Immerhin waren Posaunen und Trompeten beim Te Deum die einzig zulässigen Instrumente in der Dreifaltigkeitskirche, wie aus dem Antwortschreiben des Kirchenvorstandcollegiums auf eine Anfrage des Konsistoriums vom 30.11.1827 hervorgeht, doch ist mit dem Te Deum in diesem Zusammenhang wohl das alte Luthersche Te Deum gemeint, das gern am Neujahrstag oder zu vaterländischen Festen aufgeführt wurde, vgl. VorstandCollegium der Dreifaltigkeits-Kirche. Acta betreffend die Einrichtung des Singe-Chors 1772-1829, Abth. VII Nr. 2, Bl. 25, s. u. Anhang 7). J. I. 10, Bl. 55v, s. u. Anhang 9). Mit dem „Neuen Berliner Gesangbuch" ist der Mylius gemeint, vgl. Mylius, Nr. 384. Die Verfasserangabe deutet auf das Bremer Gesangbuch als Primär-Quelle hin. Der Schlesier Christian Samuel Ulber (1714-1776) war von 1757 an als Nachfolger Erdmann Neumeisters Hauptpastor an St. Jakob zu Hamburg. Vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds Bd. 6 (1869), S. 393.
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
395
Lied als ganzes noch einzelne Strophen daraus sonst auf den Liederblättern erscheinen, muß mit der Verwendung der Thereminschen Version gerechnet werden. Schleiermacher hat sich Theremins Vorarbeit für die Erstellung dieser Einzelstrophe zu Nutze gemacht. Am zweiten und dritten Vers ist das deutlich abzulesen. Die folgende doppelseitige Tabelle zeigt, daß Schleiermacher seine Strophe durch Verschachtelung von Versen aus der vierten und fünften Quellenstrophe bildet, wobei die aus der fünften Liedstrophe stammenden Motive der persönlichen Verantwortung „Gieb daß ich froh dann vor dir steh" und der Hoffnung auf die Freundlichkeit des Richters „Sei mir nicht Richter, sondern Freund" die Drohungen (Theremin: „Dann trifft den Bösen Schmach und Pein") verdrängt haben. Schleiermacher hat die Strophe verpersönlicht auch dadurch, daß er die dritte durch die erste Person ersetzt hat (Verse 1,6). Diese Verpersönlichung von Liedtexten zum Zweck des liturgischen Gebrauchs war schon des öfteren aufgefallen. Seltener dagegen begegnet die Thematisierung des Weltgerichts und noch seltener an diesem liturgischen Ort. Diese Besonderheit läßt sich nur so erklären, daß die Strophe thematisch an die vorausgehenden Sätze der Kirchenmusik - gleichwohl korrigierend - anschließt und diese abschließt. Auffallig, doch nicht überraschend, ist Schleiermachers große Heilshoffnung: „Sei mir nicht Richter, sondern Freund."
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Mylius 'sches Gesanbuch (1780), Nr. 384
Bremer Gesangbuch (1812), Nr. 204
Mei. Mein Glaub ist meines Lebens Ruh
Mei. O Ewigkeit, du etc.
Erhöhter Jesu, Gottes Sohn! der du schon längst der Himmel Thron als Herrscher eingenommen, du wirst gewiß zur rechten Zeit, in großer Kraft und Herrlichkeit, Vom Himmel wiederkommen. Gieb, daß dann froh und mit Vertraun Dich Jesu, meine Augen schaun. 2. Hier faßt kein Sterblicher die Pracht, die deinen Tag einst herrlich macht; Wie groß wirst du dich zeigen! wenn du auflichten Wolken einst mit deiner Engel Heer erscheinst, und sie vor dir sich beugen. Dann sieht die Welt die Majestät, dazu dich Gott, dein Gott, erhöht. 3. Laut tönet dann in jedes Grab Dein allmachtsvoller Ruf hinab, und schafft ein neues Leben. Auf deinen Wink muß Erd und Meer Das unzählbare große Heer der Todten wiedergeben; durch deine Stimme neu beseelt, gehn sie hervor und keiner fehlt. 4. Da stehen sie vor deinem Thron, erwarten den bestimmten Lohn mit Freuden und mit Beben. Die Sünder trifft nun Schmach und Pein; die Frommen aber führst du ein in das verheißne Leben. Nun zeigt die That, Herr Jesu Christ, daß du der Erde Richter bist. 5. O Herr, wenn dieser Tag erscheint, erscheine mir dann, als mein Freund, mit deinen Gnadenblicken, daß unbeschämt ich vor dir steh, verklärt in deinen Himmel geh, zum ewigen Entzücken; Und dazu mache mich bereit durch Glauben und durch Frömmigkeit. 6. Dein Name sey mir ewig werth; und was dein Wort von mir begehrt, Das laß mich treulich üben. Dich, den der ganze Himmel preist, Dich müsse hier auch schon mein Geist aus allen Kräften lieben; so schreckt mich deine Zukunft nicht, so hab ich Muth auch im Gericht.
Erhöhter Jesus, Gottes Sohn, der du schon längst der Himmel Thron als Herrscher eingenommen, du wirst dereinst zu rechter Zeit, in großer Kraft und Herrlichkeit vom Himmel wiederkommen. Gieb, daß getrost und mit Vertraun dich, Herr, dann meine Augen schaun! 2. Wer faßt, o Heiland, jetzt die Pracht, die deinen Tag einst herrlich macht? Wie groß wirst du dich zeigen! Wann du auflichten Wolken einst mit deiner Engel Heer erscheinst, und sie vor dir sich beugen, dann sieht die Welt die Majestät, zu der dich Gott, dein Gott, erhöht. 3. Dann tönt dein Ruf in jedes Grab mit allmachtsvoller Kraft hinab, und schafft ein neues Leben. Auf deinen Wink muß Erd' und Meer das große unzählbare Heer der Todten wiedergeben. Durch deine Stimme neu beseelt, gehn sie hervor, und keiner fehlt. 4. Da stehen sie vor deinem Thron, erwarten den bestimmten Lohn mit Freuden und mit Beben. Die Bösen trifft nun Schmach und Pein; die Frommen aber fuhrst du ein in das verheißne Leben. Nun zeigt die That, Herr, Jesus Christ, daß du der Erde Richter bist. 5. Ach gieb, wann nun dein Tag erscheint, daß ich noch dann in dir den Freund und Heiland wiederfinde, daß ich mit Freuden vor dir steh, und mit dir in den Himmel geh, befreyt von Fluch und Sünde! Laß mich im Glauben standhaft seyn; dann kann ich deines Tags mich freun! 6. Dein Name sey mein Stolz und Ruhm, dein Wort mein ewig Eigenthum; dein Wille sey mein Wille! und wird dein Leiden mir zu Theil: schau' ich vollendend hier mein Heil, auf dich, und bleibe stille. Auch deine Zukunft schreckt mich nicht, ich habe Muth auch im Gericht.
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
Liedblatt H116, Himmelfahrt 1825
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 766
Mei. O Ewigkeit, du etc.
Mei. O Ewigkeit, du etc.
Du rufst uns einst vor deinen Thron, Daß Alle den gerechten Lohn Nach ihrem Werth empfangen. Gieb daß ich froh dann vor dir steh, Und ein zu jenem Leben geh, Das wir durch dich erlangen; Und wenn dein großer Tag erscheint, Sei mir nicht Richter, sondern Freund.
Erhöhter Jesu, Gottes Sohn, der du schon längst des Himmels Thron als Herrscher eingenommen; du wirst dereinst zur rechten Zeit, in großer Kraft und Herrlichkeit, vom Himmel wieder kommen. Gieb, daß mit freudigem Vertrau'n dich dann auch meine Augen schau'n 2. Ist hier ein Geist, der fassen mag die Hoheit, die an jenem Tag du wirst dem Blick entfalten? wann auf des Himmels Wolken einst du mit der Engel Heer erscheinst, um das Gericht zu halten? Dann sieht die Welt die Majestät, wozu dich Gott, dein Gott, erhöht. 3. Dann tönt dein Ruf in jedes Grab mit göttlicher Gewalt hinab und schafft ein neues Leben; auf deinen Wink muß Erd' und Meer der Todten unzählbares Heer dem Lichte wieder geben; was die Verwesung hier gesehn, muß aus den Gräften auferstehn. 4. Du sammelst sie vor deinen Thron, daß Alle den gerechten Lohn nach ihrer That empfangen. Dann trifft den Bösen Schmach und Pein, die Frommen gehn zum Leben ein, das sie durch dich erlangen. So zeigest du, Herr Jesu Christ, daß du der Menschen Richter bist. 5. Gieb, wenn dein großer Tag erscheint, daß ich im Richter auch den Freund, den Heiland wiederfinde; daß ich mit Freuden vor dir steh' und ein zu deinem Himmel geh', befreit vom Fluch der Sünde. Hilf daß ich nutze diese Zeit, zu schaffen meine Seligkeit. 6. Dein Name sey mir ewig werth, und was dein Wort von mir begehrt, das laß mich treulich üben. Dich, den der ganze Himmel preist, dich muß im Glauben auch mein Geist aus allen Kräften lieben; dann kann mit freudigem Vertrau'n ich dich an jenem Tage schau'n.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis 3.7.3.4. Die Kirchenmusik im Ganzen
Die Kirchenmusik, eingerahmt und unterbrochen von Choralstrophen der Gemeinde, besteht aus einem bisher nicht identifizierten Chor, einer Arie aus Händeis Messias und einem Satz aus dem Dettinger Te Deum von Händel. Das wiederum eigentümliche Arrangement der so ganz unterschiedlichen, wenn auch stilistisch verwandten, Teile läßt eine theologische Konzeption erwarten. Die klassische Rollenverteilung auf Evangelist und gläubige Seele, die der Differenz von Explikation und Applikation Rechnung trägt, tritt hier zurück. Lediglich der unbekannte Chor „Wir haben einen solchen Hohenpriester" benutzt die Erzählform, die anderen Stücke stehen in der Anredeform. Die Kirchenmusik zieht eine durchgehende heilsgeschichtliche Linie, wobei die Liedstrophen die einzelnen Zeitmodi angeben. Nachdem die erste Liedstrophe gleichsam einen Preisgesang für den zur Rechten Gottes erhöhten Herrn angestimmt hat, schaut die zweite auf das in Gottes Rat beschlossene und nun vollendete Geschäft Christi „auf dieser Erden" bis zu seiner Auferstehung, die „uns in die Freiheit gehn" läßt, zurück. Der anschließende Chor lenkt den Blick auf die himmlische Gegenwart: Christus, der Hohepriester, sitzend zur Rechten Gottes. Doch das eigentliche Interesse Schleiermachers richtet sich auf die Präsenz Christi unter den Gläubigen, mit Joh 14,23 gesprochen: auf Gottes Wohnung bei dem Menschen. Dieses Motiv verbindet die drei Stücke Chor - Solo Lied. Das folgende Solo zu Ps 68,19/Eph 4,8 greift noch einmal zurück auf den letzten Liedvers: Christi Auferstehung und Auffahrt ist die Gefangennahme des Gefängnisses und damit die Freiheit kat exochen. Schleiermacher nimmt das apokalyptische Bild gern in Kauf, nicht nur wegen dieser Motivanknüpfung und seiner generellen Wertschätzung für Händeis Messias, sondern auch um der soteriologischen Aussage willen, die das durch Christus erworbene Heil auch auf die Feinde erstreckt: „und empfingst Gaben für die Menschen, ja selbst für deine Feinde, daß Gott der Herr stets wohne bei ihnen." An den letzten auf Joh 14,23 Bezug nehmenden Passus kann die nun folgende Gemeindestrophe vor allem mit ihrem Schluß anknüpfen: „In des Vaters Haus theilst du Jedem seine Wohnung zu." Der zweite Chorsatz nimmt das Bild vom Sitzen zur Rechten Gottes auf und führt es weiter in die eschatologische Zukunft: „Und einst kommst du, glauben wir, hernieder zum Gericht." Doch dieses Gericht hat für die Gemeinde seinen Schrecken verloren, wie die abschließende Strophe heilsgewiß mitteilt. Der einzelne Gläubige hofft und bittet um ein frohes Erscheinen vor dem freundlichen Richter: „Und wenn dein großer Tag erscheint, Sei mir nicht Richter, sondern Freund." Die häufig beobachtete Dramaturgie der Schleiermacherschen Kirchenmusiken: die Wendung vom objektiven Geschehen zur subjektiven Aneignung des Heils geschieht auch hier und zwar dergestalt, daß ein Bogen geschlagen wird von der Vollendung Christi - in Form seiner Rückkehr zum himmlischen Vater - hin zur Vollendung des einzelnen Gläubigen im Eschaton. Das Schicksal der Feinde des Glaubens wird nicht definitiv entschieden, sondern bleibt offen.
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
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3.7.4. Die Predigt 3.7.4.1. Die Quelle Die Himmelfahrtspredigt 1825 ist in einer im Verlagsarchiv Walter de Gruyter Berlin befindlichen Nachschrift von Andrae erhalten. Die ausführliche, 53 Seiten lange, Nachschrift enthält außer dem Text und der Auslegung den Kanzelgruß und ein abschließendes kurzes Gebet.49 3.7.4.2. Aufbau und Inhalt Schleiermacher beginnt mit einem doxologischen Gebet: „Der Herr, den Gott erhöht hat, und hat ihn gekrönt mit Preis und Ehre, dem sei auch von uns Preis und Ehre jezt und in Ewigkeit. Amen" und der Verlesung des Predigttextes Hebr 5,9f. (1) Nach einer kurzen kirchenjahreszeitlichen Besinnung und Rückbesinnung auf die voraufgehenden Christusfeste wird zunächst die Beziehung des Textes Hebr 5,9f. auf das Himmelfahrtsfest erläutert. Himmelfahrt darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur im Zusammenhang des ganzen Heilswerkes Christi wie auch im Zusammenhang mit Christi eigenen Worten. Aus dieser Prämisse entsteht die Disposition: „Und so laßt uns auch unsre heutige Betrachtung so einrichten, daß indem wir über diesen Gegenstand nachdenken wir zuerst uns erinnern was der Erlöser selbst darüber sagt; und dann zweitens in Beziehung darauf die Worte unsers Textes näher in Betrachtung ziehen." (9) Im ersten Teil begründet Schleiermacher die in Hebr 5,9 aufgestellte These, daß die Erhöhung Christi die Ursache unserer ewigen Seligkeit sei. Zunächst erläutert Schleiermacher seine Auffassung von Seligkeit, bei der - unter Berufung auf Joh 3,36 - die gegenwärtige von der zukünftigen nicht getrennt werden dürfe. „So auch der Verfasser unsers Textes, wenn er redet von der Erhöhung des Herrn als einer Ursache unsrer ewigen Seligkeit, so versteht er unter dieser ewigen Seligkeit nicht die künftige allein und abgesondert sondern auch die gegenwärtige mit einbegriffen, beide als Eine und dieselbige." (12) Die Seligkeit ist abhängig von der Erhöhung Christi, nicht weil diese Seligkeit im Himmel erst hergestellt werden müßte, sondern weil mit der Erhöhung Christi die Sendung des Geistes verbunden ist, die unseren Glauben von der sinnlichen auf die geistige Ebene hebt und ihn damit allgemein macht. „Aber die Fülle des Geistes konnte nicht eher kommen als bis diese Abhängigkeit von der leiblichen Erscheinung des Erlösers gelöset war. So lange der Herr auf Erden lebte, so war auch seine leibliche Gegenwart und seine unmittelbare Nähe das höchste Gut für alle welche ihm anhingen." (25) Schleiermacher geht sogar so weit zu sagen, das Wesen Christi mußte in die an ihn Glaubenden eingehen, „sie sollten gelöset werden von der Anhänglichkeit an die einzelne persönliche Erschei-
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Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter). Predigt am Himmelfahrtstage 1825. Andraekonvolut (AK) 1825, frühere Signatur: E.b.26. Auf diese Nachschrift beziehen sich die in den Text eingefugten Seitenzahlen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
nung, sein Wesen sollte in sie selbst übergehen und dort in ihnen wie in ihm die Quelle des ewigen Lebens werden." (23f.)50 Zwar hat der Geist die Jünger auch schon zu Jesu Lebzeiten sporadisch ergriffen, aber eben nur sie. So wird die Notwendigkeit der Erhöhung Christi und die damit verbundene Sendung des Geistes dargelegt als die Aufhebung der Ungleichheit zwischen den Gläubigen. Mit dem Abschied Jesu von der Erde entfällt die apostolische Hierarchie und jede menschliche Mittlerschaft. Es entsteht der freie Zutritt aller Gläubigen. „Wie in ihm die ganze Fülle der göttlichen Gaben wohnte, so sollten auch alle aus derselben Einen Fülle nehmen, und keiner mehr ein Mittler sein für die übrigen, sondern wie er erhöht ist über alle, so sollten auch alle den freien gleichen Zutritt zu ihm haben. Darum ist er aufgefahren gen Himmel und hat Gaben empfangen, Gaben welche er ausschüttet über alle die an ihn glauben, und sie alle begabt zu Einer und derselben brüderlichen Gleichheit und Liebe." (28f.) Unter den ausgeschütteten Gaben versteht Schleiermacher näher, daß durch den Geist das Gedächtnis Christi lebendig erhalten werde, und daß sich seine Worte zu Geist und Leben in den Gläubigen verwandeln. Der zweite Teil ordnet den Predigttext in diese theologische Voraussetzung ein. Schleiermacher rekapituliert zunächst den traditions- und motivgeschichtlichen Kontext: das Amt des Hohenpriesters und die Figur Melchisedeks. Dabei problematisiert er die Fürbitte, das eigentliche Amt des Hohenpriesters, als eine theologische Unmöglichkeit, die sowohl durch das Ein für allemal des Christusopfers, als auch durch die Ewigkeit Gottes und durch das Einssein des Vaters mit dem Sohn ausgeschlossen wird. So erscheint Christus als Antitypus des alttestamentlichen Hohenpriesters. Aber mit einem Rekurs auf Gen 14 gelingt Schleiermacher dann doch die positive Rezeption Melchisedeks. Bereits Abraham hatte die ewige Seligkeit erworben, nachdem er von Melchisedek mit Frieden und Gerechtigkeit gesegnet worden war. „Wenn der Mensch gesegnet ist mit Gerechtigkeit, so daß er nicht weicht von dem ebenen Wege, den ihm der Geist Gottes zeigt, daß ihn nichts in seinem Innern mehr ablenkt weder zur Rechten noch zur Linken, sondern alles was er denkt und thut besteht mit dem ewigen göttlichen Maaße der Gerechtigkeit; wenn der Mensch gesegnet ist mit Frieden, mit Eintracht in seinem Innern, bei welcher dann auch keine Zwietracht mit irgend etwas Äußerlichem bestehen kann: was fehlt ihm dann noch? hat er dann nicht wirklich die Seligkeit, ja die einzige welche ewig währt und über welche hinaus es keine andre giebt für das Geschöpf, hat er die dann nicht in sich?" (36f.) Doch wie kann der Segen die Seligkeit vermitteln? Schleiermacher unterscheidet den bloß rhetorischen Wunsch vom effektiven Segen. Bei letzterem strömt die Gerechtigkeit des Segnenden auf den Gesegneten über. Auf den Segensspender kommt es an. „Wenn aber der Herr segnet [...], so wünscht er nicht nur sondern giebt auch zugleich. Wer also gesegnet wird von unserm Hohenpriester der da segnet mit Gerechtigkeit und mit Frieden: was heißt das anderes 50
Vgl. noch einmal die Passage im Brief an Κ. H. Sack über die Affektion Christi, s. 0.3.7.1.
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
401
als daß dieser alle seine Gaben ausschüttet über die welche ihm gehorsam sind?" (40f.) Die Segensgaben Melchisedeks: Gerechtigkeit und Friede sind mit Paulus (Gal 5) „die edelsten und reichsten unter den Früchten des Geistes." (41) Indem Christus seinen Geist ausgießt, bringt er Gerechtigkeit und Friede hervor. Sofern Melchisedek ein Priester ohne Geschlecht war, d. h. ohne Vorgänger und ohne Nachfolger, ist er nun doch der Typus Christi, charakterisiert durch seine Absolutheit. Auch unter uns hat Christus keinen Nachfolger, „sondern alle sind in Beziehung auf ihn gleich, denn sie empfangen nur von ihm." (46f.) In dem Bewußtsein, nur Empfänger zu sein, geben die Gläubigen die Gaben weiter und verkündigen den „von dem alles was sie empfangen haben seinen Ursprung hat." (47) Der Gehorsam (Hebr 5,9) besteht im Annehmen der Seligkeit, d. h. im Annehmen der Freiheit der Kinder Gottes. Die Predigt schließt mit einer kurzen Paränese: Abraham opferte Melchisedek den Zehnten, doch wir können Christus nichts geben. „Weil wir ihm aber alles verdanken, so sind wir ihm auch alles schuldig. Zu seiner Ehre, zum besten seines Reiches sollen wir alles verwenden und gebrauchen; als treue Haushalter sollen wir erfunden werden, und mehr ist von keinem unter uns zu fordern." (50) Unter Anspielung auf Mt 25,23 schließt Schleiermacher mit der Verheißung der Mehrung der Geistesgaben. Das abschließende Gebet (52f.) richtet an Gott Vater die Bitte um die immer festere Bindung an Christus, die Quelle von Heil, Seligkeit und Freiheit. Es ist die Bitte um Mehrung des Segens, den Christus erworben hat, um das hellere Leuchten des göttlichen Wortes und um die Reinigung der Herzen, „auf daß das Bild deines Sohnes hell und unverfälscht leuchte aus der Gemeinde, die seinen Namen bekennt. Amen." (53) 3.7.4.3. Theologische Akzente Im Predigttext steckt das Thema: Die Erhöhung Christi als die Ursache unserer ewigen Seligkeit. Ohne die zukünftige Seligkeit zu leugnen, behauptet Schleiermacher die qualitative Gleichwertigkeit der gegenwärtigen und der zukünftigen Seligkeit und bekräftigt damit seine präsentische Eschatologie. Bereits Abraham und die Jünger Jesu haben die Seligkeit genossen. Die Melchisedek-Christus-Typologie wirft die Frage auf, ob nicht durch diese Präexistenztheologie die Heilsgeschichte mit ihren verschiedenen Stationen entwertet wird. Schleiermacher selbst spürt diese Diskrepanz zum geschichtlichen Christus, doch er will Christi Heilswerk von der Erscheinung bis zur Vollendung als Einheit verstanden wissen, es ist „ein untheilbarer Rath Gottes zu unsrer Seligkeit" (6). Die Frage nach dem „historischen Christus" wurde Schleiermacher m. E. zu Recht gestellt.51 Zwar kann mit Rom 4,25 zwischen dem Zweck des Todes Christi einerseits und seiner Auferweckung andererseits unterschieden werden (6f.), doch faßt Paulus in Rom 8,34 beides wieder zusammen, für Schleiermacher Beleg dafür,
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Vgl. den Brief an K. H. Sack, s. o. 3.7.1.
402
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
daß es sich um „Ein großes Werk Gottes" (5) handelt. Mit dieser Relativierung der Heilsgeschichte hilft sich Schleiermacher über die Verstandeszweifel an Auferstehung und Himmelfahrt hinweg. Gleichwohl würdigt der Prediger die Himmelfahrt Christi als „Vollendung" in Bezug auf die Seligkeit der Gläubigen. Das christologische Problem wird soteriologisch aufgelöst. Allerdings sieht Schleiermacher in der Vollendung Christi nicht die Vorbereitung des Himmels für die Gläubigen, sondern die Sendung des Geistes (Joh 16,7). Mit der Erhöhung Christi wird das sinnliche Gottesverhältnis durch ein geistiges abgelöst.52 Ekklesiologisch gesehen ermöglicht erst sie die unbeschränkte und unmittelbare Verbreitung des Glaubens, die Bildung einer universalen Kirche und die Überwindung der Ungleichheit im Verhältnis der Gläubigen zu Gott.53 Das Hohepriesteramt Christi wird in der theologischen Tradition als ein Fürbittamt verstanden. Doch Schleiermacher problematisiert die Fürbitte, weil sie eine Offenheit suggeriert sowohl in Gott als auch in einer bereits als vollendet gedachten Geschichte. Hier zeigt sich Schleiermachers fehlender Sinn für die Geschichtlichkeit und Personalität Gottes. Eine Differenz zwischen Bittsteller und Geber, zwischen Bitte und Gewährung kann er nicht denken. Bezeichnenderweise ist das Schlußgebet auch nicht an Christus gerichtet. Darum deutet er das Hohepriesteramt Christi um in das Amt des Segensspenders54 und unterscheidet dabei den effektiven vom bloß rhetorischen Segen durch die Wirksamkeit, die vom Spender abhängt. Christus als Segensspender und als Quelle des Lebens ist so verstanden, daß er sich selbst in den Glauben der Gläubigen hineingibt. Dieser Gedanke geht direkt aus der Predigtperikope und ihrem Kontext hervor: Bezugnehmend auf Hebr 7,2 werden die Gaben Melchisedeks, des Königs von Salem, abgeleitet aus seinem Namen und Amt: als Gerechtigkeit (hebr. pis) und Friede (oftw) betrachtet. Wie Melchisedek dem Abram Gerechtigkeit und Friede gab, weil er Gerechtigkeit und Friede war, so ist es auch bei Christus. Schleiermacher deutet Gerechtigkeit und Friede mit Hilfe von Gal 5,22 als die Früchte des Geistes. Diese theologische Konstruktion birgt freilich die Gefahr, daß die Persönlichkeit Christi aufgelöst wird.55 52
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55
Trillhaas konstatiert für die späteren Himmelfahrtspredigten: „So beginnt der Prediger jetzt häufig damit, das sinnliche Verständnis der Geschichte auszuschalten und ausschließlich das geistige Verständnis zuzulassen." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 73. Das ist ein Motiv, das bereits in frühen Himmelfahrtspredigten Schleiermachers begegnet. In einem Entwurf von 1795 über Joh 16,5-7 erläutert Schleiermacher die Notwendigkeit von Jesu Hingang zum Vater für die Ausbreitung der Religion Jesu. Vgl. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 71. Auch in seiner Glaubenslehre „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche" (CG 1821/22 1 ), § 125,5 schreibt Schleiermacher über das hohepriesterliche Amt Christi: „Christus bleibt also vermöge seines ganzen Daseins der Vertreter des ganzen menschlichen Geschlechts, um dessentwillen allein es von Gott gesegnet wird." KGA 1/7,2, S. 96. Diese Tendenz bemerkt auch Trillhaas, wenn er zu Schleiermachers Predigt über Hebr 8,1-2 schreibt: „Die Herrlichkeit Christi [...] besteht nicht an sich, sondern nur in uns."
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
403
Schleiermacher hat die wesentlichen Wörter des Textes sorgfaltig exegesiert, wobei traditionelle Himmelfahrtsmetaphern wie „Erhöhung zur Rechten Gottes" (3) oder das Eingehen „in das rechte Heiligtum, nämlich in den Himmel" (4f.) unbefangen verwendet werden. Das Mißtrauen gegenüber den alttestamentlichen Motiven des Textes überwindet Schleiermacher, indem er vom Hebräerbrief aus gleichsam deren theologische Legitimation aufweist. Bei seiner Melchisedek-Exegese ist Schleiermacher wohl nicht auf Gen 14 zurückgegangen, sondern hat den Genesis-Midrasch aus Hebr 7 zugrunde gelegt. Der Predigtintention: die Erhöhung Christi bedeutet seine Vergeistigung in den Gläubigen, entsprechend ist auch der Text gewählt, der das Eingehen Christi in das Heiligtum Gottes thematisiert. Schleiermachers Himmelfahrtspredigten überblickend stellt Trillhaas fest, daß „nicht der Vorgang, wie offenbar in der Glaubenslehre, sondern der Ertrag der Himmelfahrt ins Auge gefaßt ist."56 Bei Schleiermachers auf die Sendung des Geistes gerichteten Himmelfahrtsdeutung macht sich das Desinteresse an der Geschichte bemerkbar und es bleibt unklar, wie er Himmelfahrt von Pfingsten absetzt. 3.7.5. Das Lied „Nach der Predigt" Die letzte Strophe aus dem Lied von Rambach „Großer Mittler, der zur Rechten" folgt auf Predigt und Gebet: „Großer Mittler sei gepriesen". Der Text ist mit BG, Nr. 252,8 identisch.57 Dem Duktus des Liedes entsprechend ist die Anrede an Christus beibehalten, obwohl die Bitte um Fürsprache beim Vater der Predigt widerspricht und den Gottesdienst zu seinem Ende in das Gleis der biblischen und dogmatischen Tradition zurückfuhrt. Dennoch empfehlen der doxologische Beginn sowie der eschatologische Schluß die Strophe für diesen liturgischen Ort. 3.7.6. Das Ganze Schleiermacher hat über 40 Jahre lang Himmelfahrtsgottesdienste gehalten und dabei eine eigene Himmelfahrtstheologie entwickelt. In dieser Entwicklung steht auch der Gottesdienst am 12.5.1825 mit Lied, Kirchenmusik, Predigt und
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57
W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 73. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 76. - Daß Schleiermacher den Vorgang der Himmelfahrt in der Glaubenslehre „ins Auge gefaßt" habe, ist mißverständlich. Im Zusammenhang des Ersten Lehrstückes „Von der Person Christi" befaßt er sich in dem Zusatzparagraphen § 120 mit Auferstehung, Himmelfahrt und Parusie als Glaubenstatsachen ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Lehre von Christus. Die Himmelfahrt als äußere Tatsache sei zweifelhaft, „weil wir nicht hinreichende Ursache haben zu behaupten, daß uns von derselben als einer äußeren Thatsache ein unmittelbarer Bericht eines Augenzeugen, und am wenigsten eines apostolischen vorliege." CG (1821/22 1 ), § 120, KG A 1/7,2, S. S. 66. - Der Ertrag der Himmelfahrt wird im Zweiten Lehrstück „Von dem Geschäft Christi" behandelt. Dort geht es um das hohepriesterliche Amt Christi, vgl. CG (1821/22 1 ), § 125, KGA 1/7,2, S. 86-98. Zum Textvergleich s. o. 3.7.3.1.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Gebet. Wolfgang Trillhaas hat die Theologie der Schleiermacherschen Himmelfahrtspredigten untersucht, definiert und folgendermaßen kritisiert: „Das Verständnis des Ertrags [der Himmelfahrt], die immanent gedachte ewige Gegenwart Christi in seinem lebendigen Wort, in seinem Liebesgesetz, in seiner Erkenntnis verbauen es ihm aber, zwei wesentliche Seiten der christlichen Himmelfahrtsverkündigung zu erfassen: den Missionsbefehl und die Zukunftsverheißung der Wiederkehr. Hieran bricht der Schaden des Schleiermacherschen Christusverständnisses noch einmal auf: das autoritative Wort und die Begrenzung der Geschichte durch das Gericht haben in seiner Theologie keine Stätte."58 Nur wenn man die Predigten abstrakt zur Kenntnis nimmt, kann man zu dieser Einschätzung gelangen. Trillhaas übersieht den liturgischen Kontext der Predigten, der sie rahmte, richtete und deutete. In diesem Kontext fallt den Lied- und Musiktexten ζ. B. die Aufgabe zu, die kirchliche Tradition wachzuhalten, im Himmelfahrtsgottesdienst 1825 etwa die kirchliche Gerichtstradition. Eingekleidet in biblische Zitate werden die neutestamentlichen Bilder vom himmlischen Hohepriestertum Christi, von seiner Höllen- und Himmelfahrt 59 und von seiner Wiederkehr zum Gericht weitergegeben. So bringt Schleiermacher eine Tradition zur Sprache und zum Klingen, die ihm wichtig ist, die er aber im Bild stehen läßt, weil sie sich seinem eigenen theologischen Ansatz widersetzt. Daß sie ihm wichtig ist, zeigt sich daran, daß er sie aufgreift und bearbeitet (ζ. B. die Strophe „Du rufst uns einst vor deinen Thron"). Die Liedblatt-Texte beinhalten dieselben Himmelfahrtsmotive und -metaphern wie der Predigttext mit seinem literarischen und traditionsgeschichtlichen Kontext: die Vollendung (Eingangs- und Hauptlied), das Hohepriestertum Jesu mit seinem Amt der Vertretung und Fürsprache (Hauptlied, erster Chor). Der Prediger nimmt die Tradition bewußt auf, aber deutet sie neu, ζ. B. das Fürbittamt des Hohenpriesters Jesus als Segensamt durch die Spende des Heiligen Geistes und seiner Güter.60 Wie verhalten sich Liedblatt und Predigt zueinander? Zunächst zeigt das Liedblatt eine schöne theologische Geschlossenheit. Das dreistrophige Eingangslied fuhrt in die Himmelfahrtsthematik ein, wobei die erste Strophe christologisch, die zweite soteriologisch, die dritte ethisch akzentuiert ist. Der Fortgang des Gottesdienstes wird bestimmt durch vier - an drei Stellen positionierte - Strophen des Liedes „Großer Mittler, der zur Rechten", einem Lied, das ex-
58
59 60
W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 76f. Trillhaas übertreibt allerdings, wenn er schreibt, daß „in den späteren Himmelfahrtspredigten jede Erinnerung an den Missionsbefehl, der doch auf Christi Himmelfahrt zurückgeht, vollkommen fehlt." Ebd., S. 72. Als Dogmatiker war Schleiermacher gegen das Lehrstück von der Höllenfahrt Christi reserviert. Vgl. CG (1821/22 1 ), § 125, KGA 1/7,2, S. 96f. Daß Schleiermacher die Topoi und Metaphern der klassischen Eschatologie - hier in den Lied- und Musiktexten - beibehält, geschieht nach Martin Weeber aus „kommunikationspragmatischen Gründen", vgl. ders., Schleiermachers Eschatologie (2000), S. 170.
3.7. Der Himmelfahrtstag 1825
405
plizit dem Hohepriestertum Christi gewidmet ist.61 Damit stellt das Lied ein Paradebeispiel für eine predigtbezogene Liedwahl dar. Schleiermacher hat durch Strophenauswahl und Textredaktion die Mittlerschafts- und HohepriesterChristologie hervorgehoben.62 Zum Hohepriesterverständnis des Liedblattes gehört auch die Anwaltschaft Christi in Tod und Gericht. So erklären sich die beiden letzten auf dem Liedblatt stehenden Strophen mit ihrer für Schleiermachers Verhältnisse überraschenden Gerichts- bzw. Todesthematik. Das in Schleiermachers Gottesdiensten häufig beobachtete Gefalle von der objektiven zur subjektiven Seite des Glaubens schlägt sich hier so nieder, daß ein Bogen geschlagen wird von der Vollendung Christi hinüber zur Vollendung der Gläubigen in Tod und Gericht. Schleiermacher tut damit kund, daß er trotz seiner auch in dieser Predigt vertretenen - immanenten Eschatologie die transzendente Zukunft ernst nimmt. Die Kirchenmusik vor der Predigt unternimmt - wie gesehen - einen heilsgeschichtlichen Exkurs vom Rückblick auf Gottes ewigen Ratschluß bis zum Ausblick auf Christi Wiederkehr zum Gericht. Daran knüpft auch der Prediger an, indem er auf die vergangenen Christusfeste und damit auf die verschiedenen Stationen der Heilsgeschichte hinweist und das Proprium der Erhöhung begründet. Auch auf andere Textmotive des Liedblattes wie ζ. B. auf die Passage aus der Messias-Arie „und empfiengst Gaben für die Menschen" nimmt der Prediger mehrmals explizit Bezug, wenn er von Christus sagt: „der da auffahren mußte, nachdem er von oben gekommen war, um uns von dort aus zu segnen mit den Gaben, die er empfangen hat für das ganze Geschlecht der Menschen." (45f.)63 Unter diesen Gaben versteht Schleiermacher die Früchte des Geistes und hier vorzüglich die Freiheit, wie es Predigt und Liedbearbeitung ebenfalls übereinstimmend bezeugen.64 Predigttext und Auslegung bestätigen: der Himmelfahrtsgottesdienst 1825 steht ganz im Zeichen des Hohepriesteramtes Christi. Daß Schleiermacher bei der Vorbereitung des Liedblattes den Predigttext bereits festgelegt hatte, ist angesichts der Liedwahl und Textbearbeitung sehr wahrscheinlich. Umgekehrt konnte der Prediger bei Vorbereitung und Vortrag der Predigt an Bibelverse, Motive und Ideengänge aus den Lied- und Prosatexten des Liedblattes anknüpfen. In der Auseinandersetzung mit dem Hohepriestertum Christi zeigen die verschiedenen Zeugnisse dieses Gottesdienstes wiederum eine „Arbeitsteilung" 61 62 63
64
Vgl. noch einmal die Einordnung des Liedes in Rambachs Hausgesangbuch, s. o. 3.7.3.1. Vgl. die Schlußstrophe und die Zusammensetzung der Strophe „Ja nun ist, Herr, dein Geschäfte". In beiden Strophen begegnet das Amt der Vertretung. Vgl. auch Predigtnachschrift, Bl. 29: „Darum ist er aufgefahren gen Himmel und hat Gaben empfangen, Gaben welche er ausschüttet über alle die an ihn glauben, und sie alle begabt zu Einer und derselben brüderlichen Gleichheit und Liebe." Vgl. noch einmal Predigtnachschrift, Bl. 48f. „... wo der Geist des Herrn ist da ist Freiheit, und wo Freiheit ist da ist Friede, da ist Gerechtigkeit, da sind alle Segnungen des göttlichen Reiches." und Hauptlied II/7-8: „Und dein siegreich Auferstehn Läßt uns in die Freiheit gehn."
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
z w i s c h e n Liturgie und Predigt. Während den Liedern und Figuralstücken die Wahrung der kirchlichen Tradition und der V o l l z u g des Lobpreises obliegt, versucht der Prediger, seinen aufgeklärten Zuhörern Text und Tradition im Horizont moderner Hermeneutik zu vermitteln. M a n könnte auch sagen: D i e M u siktexte leisten die biblisch-dogmatische Grundlegung, die Predigt die erfahrungsbezogene Auslegung. 6 5
65
Einen anderen Schwerpunkt hatte Schleiermacher ζ. B. im Himmelfahrtsgottesdienst am 20.5.1819 gesetzt. Die zur Auswertung vorhandenen Texte - vgl. das Liedblatt L 45 und die Kurznachschrift der Predigt über Mk 16,14-20 von August Gemberg (GembergKonvolut 1818-24), in Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter), frühere Sign.: E.c.4. - deuten daraufhin, daß dieser Gottesdienst insgesamt stärker auf die Anfechtungen im irdischen Leben (Nacht und Tod, Kampf und Leiden, Tränen) und ihre innerweltliche Überwindung bezogen war. Dabei spielt der Glaube in Predigt und Lied die entscheidende Rolle. Auf den Liedblatt-Texten kommt das Wort Glaube mit seinen Derivaten insgesamt ftinfmal vor - auf dem Liedblatt H 116 von 1825 nur zweimal. Und der entscheidende Satz in der Predigt lautet: „Das also ist unser Leben, welches uns Niemand nehmen kann, wenn wir den wahren Glauben haben."
3.8. Der Gottesdienst am Sonntag Invocavit 1826 (12.2.1826) 3.8.1. Einleitung Im Herbst und Winter 1825/26 näherte sich der Agendenstreit seinem Höhepunkt. Schleiermacher hatte mit der Pseudonymen Schrift „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten ..." bereits zwei Jahre zuvor eindeutig Position - und zwar die Position des reformierten Kirchenrechts - bezogen.1 Dagegen vertrat sein Universitätskollege und Amtsbruder Marheinecke auch öffentlich die Auffassung des Königs.2 Die Meinungsverschiedenheit der beiden Dreifaltigkeitsprediger war um so brisanter, als der König als Patron der Kirche die Genehmigung von Baukostenzuschüssen mit der Botmäßigkeit der Gemeinde in Verbindung brachte.3 Der Agendenstreit kulminierte schließlich in der Eingabe der zwölf protestierenden Prediger im Herbst 1825.4 Es kam zu polizeilichen Maßnahmen, in deren Rahmen am 21.12.1825 auch Schleiermacher verhört wurde. Auf den Rat des königlichen Vertrauten, des Generaladjutanten von Witzleben, richtete Schleiermacher am 1.3.1826 im Namen der Zwölf eine Immediateingabe an den König, in der er liturgische Parallelformulare und Provinzialanhänge forderte.5 Der reformierte Superintendent Marot sprang den zwölf Protestierenden bei und bestätigte die ernsthafte Gefahrdung des Unionswerkes bei zwangsmäßiger Einführung der lutherisch geprägten Agende. Mit Marot und Wilmsen - letzterer gehörte zu den zwölf Unterzeichnern saßen Gesinnungsgenossen Schleiermachers in der Gesangbuch-Commission, doch mit Ribbeck, Ritsehl und Neander auch Vertreter der Kirchenleitung. Von lebhaften Auseinandersetzungen, die sicherlich ins Grundsätzliche hinüberspielten, berichtet das Protokoll vom 26.1.1826.6 Die Kirche beschäftigte auch den Universitätsprofessor Schleiermacher. Im Wintersemester 1825/26 las er jeweils fünfmal wöchentlich „Einen kurzen Inbegriff der Kirchengeschichte" und „Die Apostelgeschichte".7 In die Zeit des Nachdenkens über die Kirche und über ein selbstverantwortetes stellvertreten1 2
3 4 5 6
7
S . o . 3.7.1. Vgl. die Schrift „Ueber die wahre Stelle des liturgischen Rechts im evangelischen Kirchenregiment. Prüfung der Schrift über das liturgische Recht der evangelischen Landesfürsten von Pacificus Sinceras. 1825." Zur Geschichte des Agendenstreits vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer (1992), S. 171-219. Vgl. Schleiermachers Brief an Lücke vom 30.8.1825, Briefe IV, S. 337. Vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, S. 196ff. Vgl. die Denkschrift in Briefe IV, S. 45ÍM58. Vgl. GBC-Akte J.I.12, Bl. 24, s. u. Anhang 9). Zu Ritschis opportunistischer Haltung im Agendenstreit vgl. Schleiermachers Brief an Gaß vom 19.11.1825, Briefe IV, S. 339 und den folgenden Brief, ebd., S. 340ff. Vgl. Brief an Gaß vom 19.11.1825, Briefe IV, S. 340. - Schleiermacher las Kirchengeschichte vom 25.10.1825 bis 17.3.1826 morgens von 8 bis 9 Uhr und Apostelgeschichte vom 25.10.1825 bis 10.3.1826 morgens von 9 bis 10 Uhr, vgl. W. Virmond, Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge, in New Athenaeum Vol. III 1992, S. 143,149.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
des Handeln in und zugunsten der Kirche fallen die Vorbereitung und Durchführung dieses Passionsgottesdienstes.8 3.8.2. Das Eingangslied „Vor dem Gebet" Wie meist in der späten Phase der Liedblatt-Praxis werden die Quellengesangbücher nicht mehr mitgeteilt. Es gibt aber gute Gründe, auch hier wieder mit dem Jauerschen Gesangbuch zu rechnen: Einmal stehen alle Lieder bzw. Liedstrophen dieses Liedblattes auch in der Jauerschen Sammlung. Zum andern hatte wahrscheinlich Schleiermacher selbst der GBC das Passionslied aus dem Jauerschen Gesangbuch vorgeschlagen, das dann von Wilmsen am 27.11.1823 vorgetragen und am 4.12.1823 abgeliefert worden war (BG, Nr. 180).9 Auf den Liederblättern ist dies der erste und einzige Beleg des Liedes. Jauersches Gesangbuch (¡813) Nr. 259
Liedblatt L 250, Am Sonntage Invocavit 1826
Mei Es ist genug, nun etc. Epheser 1,7 (Freudig) Ich bin erlest! Es flöß des Mittlers Blut; er starb den Kreuzestod. Mit Gott versöhnt, empfind' ich Glaubensmuth; ich fürchte keine Noth. Die Weisheit hat mein Heil erfunden; die Liebe glorreich Uberwunden. Ich bin erlöst! 2. Ich bin erlöst: Es trifft des Donners Spruch vom Sinai mich nicht. Mein Heiland nahm von mir den schweren Fluch; ich komm' nicht ins Gericht. Drum quält mich nicht bereute Sunden; der Vater läßt mich Gnade finden. Ich bin erlöst! 3. Ich bin erlöst! Der Held zerriß das Band der Feinde meiner Ruh'. Zur Hölle hat die Schlüssel seine Hand; er Schloß die Pforte zu. Nun können Feinde frommer Seelen itiich nicht mit Furcht und Schrecken quälen. Ich bin erlöst!
Mei. Es ist genug etc. Ich bin erlöst durch meines Mittlers Blut, Durch seinen Kreuzestod Mit Gott versöhnt fühl ich nun Trost und Muth Und fürchte keine Noth. Die Weisheit hat mein Heil erfunden; Die Liebe glorreich Uberwunden. Ich bin erlöst. Ich bin erlöst! Mich trifft des Donners Spruch Vom Sinai nun nicht, Mein Heiland nahm von mir den schweren Fluch, Befreit mich vom Gericht. Mich schrecken nicht mehr meine Sünden; Der Vater läßt mich Gnade finden, Ich bin erlöst.
4. Ich bin erlöst! Was ist noch, was mich schreckt? Licht wird die Todesnacht, aus der mich bald der Herr des Lebens weckt, in neuer SchApfungspracht Ich ruh', werd' ich ins Grab getragen, nur von den schwulen PrUfungstagen. Ich bin erlöst!
Ich bin erlöst! Was ist noch das mich schreckt? Licht wird des Todes Nacht, Aus der mich bald der Herr des Lebens weckt Zu der Verklarung Pracht. Mein Retter wird zum bessern Leben Dann den befreiten Geist erheben, Ich bin erlöst.
5. Ich bin erlöst! In Friede fahr' ich hin, ist meine Stunde da. Der Tod wird mir zum seligsten Gewinn; mein Retter ist mir nah, den Geist, beim Abschied von dem Leben, ins Land der Engel zu erheben. Ich bin erlöst!
8 9
Vgl. das Liedblatt L 250, s. u. Anhang 11 ). Die Liste der wahrscheinlich von Schleiermacher am 23.10.1823 aus aus dem Jauerschen Gesangbuch vorgetragenen Passionslieder befindet sich in GBC-Akte J.I.12, Bl. 43ν (nicht im Anhang).
409
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
Der Text des Passionsliedes stammt von dem kurz zuvor verstorbenen Hildburghäuser Konsistorial- und Regierungsrat Johann Christian Wagner (1747— 1825), dem Herausgeber des neuen Hildburghäuser Gesangbuchs von 180710, die Weise von Johann Rudolf Ahle (1625-1673). Es ist allerdings zweifelhaft, ob das Lied in der Originalmelodie mit der bestürzenden Ganztonfolge zu Beginn (f - g - a - h) gesungen wurde.11
Ich
bin
er
¥
wm durch
löst
mei - nes
ψ
Mitt - lers
Blut,
durch
Im Choralbuch zum BG von August Wilhelm Bach (1830, Nr. 116) ist die Melodie bis zur Unkenntlichkeit verharmlost: Ts ^
Φ
Ich
hab'
ge - nug!
Mein
Herr
ist
Je - sus
Christ
Textlich zeigt der Vergleich der Fassung im BG (Nr. 180) eine enge Verwandtschaft mit der vorliegenden Liedblatt-Version. Wie ist diese Verwandtschaft zu erklären? Hat Schleiermacher auf die bereits vorliegende Textfassung Wilmsens, oder hat die GBC bei der Revision 1829 auf Schleiermachers LiedblattText zurückgegriffen? Die Frage ist in diesem Fall nicht zu entscheiden. Doch die Tatsache, daß die BG-Fassung vier, die Liedblatt-Fassung nur drei Strophen hat, weist eher auf die erste Option. Schleiermacher hat das fünfstrophige Lied auf drei Strophen reduziert, wobei die dritte Strophe ausgelassen und die Quellenstrophen 4 und 5 „verschmolzen" sind. Damit verschwinden die dämonischen Feinde und die Hölle. Die beiden Jauerschen Schluß-Strophen handeln von Tod und leiblicher Auferstehung des Gläubigen. Schleiermacher hat diesen Schluß durch die Kombination der vierten und fünften Strophe seines Naturalismus entkleidet und ihn - in der Diktion der GBC gesprochen - „veredelt". Die letzten drei Verse der letzten LiedblattStrophe werden vom Wort- und Reimmaterial der fünften Quellen-Strophe gespeist. Diese Technik der „Kom-position" durch Komprimierung war schon des öfteren aufgefallen.
io
u
Vgl. Hildburghäusisches Gesangbuch für die kirchliche und häusliche Andacht, Hildburghausen 18082, Nr. 231. Aus diesem vom Autor selbst herausgegebenen Gesangbuch, in dem Wagner mit 74 eigenen Liedern vertreten ist, gelangte das Lied in mehrere rationalistische Gesangbücher. Das Jauersche Gesangbuch führt 15 Wagner-Lieder, vgl. E. E. Koch, Geschichte des Kirchenlieds, Bd. 6 (1869), S. 260. - Die Texte im Hildburghäuser und im Jauerschen Gesangbuch stimmen wortgenau überein. Vgl. die Melodie in EG, Nr. 375. Das Lied „Es ist genug" fehlt im Kühnauschen Choralbuch von 1786.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
In Strophe 1 werden die drei Hauptsätze mit Hilfe des zweimaligen Gebrauchs der theologisch gewichtigen Präposition „durch" adverbial zu einem Satz verknüpft (1/1,2).12 Der Bearbeiter nimmt damit dem Eingang des Liedes seinen erzählenden Charakter und „existentialisiert" ihn durch eine soteriologische Intensivierung, die durch das Possessivum „ m e i n e s Mittlers Blut" noch einmal unterstrichen wird. Das Verbum „fühlen" ist eine für Schleiermachers Theologie zentrale Kategorie und darf im Kontext seiner Auffassung der Religion als „Anschauung und Gefühl" nicht sentimental mißverstanden werden. Neben dem einsilbigen „fühl" bekommt auch das Wörtchen „nun" Platz (1/3), das die Gegenwärtigkeit des Geschehens vermittelt. In Strophe 2 hat der Bearbeiter zunächst das Akkusativobjekt „mich" vorgezogen. Damit macht er wiederum Platz für die theologisch bedeutsame Adverbialbestimmung „nun" (II/2). Das befreiende Handeln Christi wird explizit genannt. Und die dramatische Anrede der Sünden wird in eine schlichte berichtende Form gebracht. Die dritte Schleiermachersche Strophe durchzieht der Wille zur Spiritualisierung. Aus der „neuen Schöpfungspracht" wird „der Verklärung Pracht" (III/4), der „Abschied von dem Leben" wird zum „bessern Leben" (III/5) und der Vers „ins Land der Engel zu erheben" wird transformiert zu: „den befreiten Geist erheben" (III/6). An all diesen Stellen bringt der Bearbeiter seine DiesseitsEschatologie zur Geltung: Durch den Glauben und Anschluß an den Erlöser wird das irdische Leben verklärt und der Geist befreit! Die Todesnacht meint nicht das individuelle Sterben, sondern das physische Leben unterhalb der geistlichen Möglichkeiten. Dennoch bleibt die Strophe schillernd, der Zukunftsaspekt der Erlösung ist nicht gänzlich eliminiert worden. Die Temporaladverbien „bald" (III/3) und „dann" (III/6) sind stehengeblieben, und man kann nicht eindeutig erkennen, ob die Erlösung aus dem irdischen Jammertal oder ob eine innerweltliche Erlösung, Befreiung und Verklärung zum „bessern Leben" gemeint ist. Bei dem Lied handelt es sich um ein Passionslied mit einem stark soteriologischen Akzent, der durch die Bearbeitung zusätzlich verstärkt worden ist, und der dem Lied einen persönlichen Ton verleiht, wodurch es als Eingangs- oder Morgenlied im Sinne der Schleiermacherschen Liturgik eigentlich ungeeignet ist. Ein „symbolischer" Charakter läßt sich jedenfalls schwer ausmachen. 3.8.3. Hauptlied und Kirchenmusik „Nach dem Gebet" 3.8.3.1. Das Hauptlied Gellerts „Passionslied" - so der Originaltitel13 - begegnet hier zum einzigen Male auf den Liederblättern. Für die Gesangbuch-Commission hatte Wilmsen
12 13
Die Ziffern beziehen sich nur auf Strophe und Vers der Liedblatt-Fassung. C. F. Geliert, Geistliche Oden und Lieder, Leipzig 1757, Passionslied.
411
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
das Lied im Oktober 1823 bearbeitet.14 Einer Liederliste zufolge stützte sich Wilmsen dabei auf das Kopenhagener deutsche Gesangbuch.15 Annehmend, daß BG, Nr. 170 auf Wilmsens Bearbeitung zurückgeht, gebe ich die Texte des Kopenhagener Gesangbuchs, des BG und die Liedblatt-Strophen zum Vergleich: Allgemeines Gesangbuch [...] der Deutschen, Kopenhagen 1784, Nr. 184
Erforsche mich, erfahr mein herz, Und sieh, Herr, wie ichs meyne. Ich denk an deines leidens schmerz, An deine lieb, und weine. Dein kreuz sey mir gebenedeyt! Welch wunder der barmherzigkeit Hast du der weit erwiesen! Wenn hab ich dieß genug bedacht, Und dich aus aller meiner macht Genug dafllr gepriesen?
2. Rath, kraft, und friedefllrst und held! In fleisch und blut gekleidet, Wirst du das opfer für die weit, Und deine seele leidet. Dein freund, der dich verräth, ist nah. Des zomes Gottes stund ist da, Und schrecken strömen über. Du zagst, und fUhlst der hüllen weh: „Ists möglich, vater, o so geh Der kelch vor mir vorüber!" 3. Dein schweiß wird blut: du ringst und zagst Und fällst zur erde nieder; Du, söhn des höchsten, kämpfst und wagst Die erste bitte wieder. Du fühlst, von Gott gestärkt im streit, Die schrecken einer ewigkeit, Und strafen sondern ende. Auf dich nimmst du der menschen schuld, Und giebst mit göttlicher geduld Dich in der Sünder hände. 4. Du trägst der missethäter lohn, Und hattest nie gesündigt; Du, der gerechte Gottes söhn! So wars vorher verkündigt. Der frechen Schaar begehrt dein blut,
14 15
Liedblatt L 250, Invocavit 1826.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 170
Mei. Ein Lämmlein geht.
Mei. Ein Lämmlein geht etc.
Erforsche mich, erfahr mein Herz, Und sieh, HerT wie ichs meine; Ich denk' an deines Leidens Schmerz An deine Lieb* und weine. Dein Kreuz sei mir gebenedeit! Welch Wunder der Barmherzigkeit Hast du der Welt erwiesen! Hab ich dies wol genug bedacht, Und dich aus aller meiner Macht, Genug dafür gepriesen? Chor. Kommt lasset uns anbeten und knien... Choral. Rath, Kraft und Friedefllrst und Held! In Fleisch und Blut gekleidet, Wirst du das Opfer für die Welt, Und deine Seele leidet. Du ringst mit Angst und Todesnoth; doch willig gehst du in den Tod, Ο Liebe sonder Ende! Du nimmst auf dich der Menschen Schuld Und giebst mit göttlicher Geduld Dich in der Sünder Hände.
Erforsche mich, erfahr' mein Herz und sieh', Herr, wie ich's meine; ich denk' an deines Leidens Schmerz, an deine Lieb', und weine. Dein Kreuz sey mir gebenedeit. Welch Wunder der Barmherzigkeit hast du der Welt erwiesen! Hab' ich dies wohl genug bedacht und dich aus aller meiner Macht genug dafür gepriesen?
2. Rath, Kraft und Friedefllrst und Held in Fleisch und Blut gekleidet, wirst du das Opfer fllr die Welt und deine Seele leidet. Du zagest in Gethsemane, fühlst unsrer Sünden schrecklich Weh die Strafen sonder Ende; auf dich nimmst du der Menschen Schuld und giebst mit göttlicher Geduld, dich in der Sünder Hände.
Vgl. GBC-Akte vom 18./25.9.1823, J.I.10, Bl. 40-40v, Anhang 9). Die Protokolle teilen mit, daß Schleiermacher damals verreist war. GBC-Akte J.I.12, Bl. 42-42v (nicht im Anhang). Vgl. Allgemeines Gesangbuch [...] der Deutschen in Kopenhagen, Kopenhagen 1784.
412
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Allgemeines Gesangbuch [...] der Deutschen, Kopenhagen 1784, Nr. 184
Liedblatt L 250, Invocavi11826.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 170
Mei. Ein Lämmlein geht.
Mei. Ein Lämmlein geht etc.
Du duldest, göttlich groß, die wut, Um seelen zu erretten. Dein mörder, Jesus, war auch ich; Dein Gott wurf aller sttnd auf dich, Damit wir friede hatten.
Gemeinde. 5. Erniedrigt bis zur Knechtsgestalt, Und doch der größt im heizen, Erträgst du spott, Schmach und gewalt,
Erniedrigt bis zur Knechtsgestalt, Voll Klagen und voll Schmerzen, Ertrugst du Spott, Schmach und
3. Erniedrigt bis zur Knechtsgestalt, voll Krankheit und voll Schmerzen, ertrugst du Spott, Schmach und Gewalt
Voll krankheit und voll schmerzen. Wir sahn dich, der verheissung ziel; Doch da war nichts, das uns gefiel, Und nicht gestalt noch schöne. Vor dir, herr, unsre Zuversicht, Verbarg man selbst das angesicht, Dich schmähn des bundes söhne.
Gewalt Mit Gott ergebnem Herzen. Wir sahn dich, der Verheißung Ziel, Doch da war nichts was uns gefiel, Und nicht Gestalt noch Schone. Vor dir Herr unsre Zuversicht, Verbarg sich jedes Angesicht, Dich schmähn des Bundes Söhne.
mit gottergeb'nem Herzen. Wir sah'n dich, der Verheißung Ziel, doch da war nichts, was uns gefiel, und nicht Gestalt und Schöne. Vor dir, Herr, unsre Zuversicht, verbarg man selbst das Angesicht; dich schmähn des Bundes Söhne.
6. Ein opfer, nach dem ewgen Rath, Belegt mit unsem plagen, Um deines Volkes missethat Gemartert und zerschlagen. Gehst du den weg zum kreuzesstamm, In unschuld stumm gleich als ein lamm, Das man zur Schlachtbank führet. Freywillig, als der helden held, Trägst du, aus liebe fllr die weit, Den tod, der uns gebühret.
4. Ein Opfer nach dem ew'gen Rath, beschwert mit unsem Plagen und deines Volkes Missethat, gemartert und zerschlagen, still und geduldig wie ein Lamm, gehst du den Weg zum Kreuzesstamm, um Seelen zu erretten. Dein Leben gabst du auch für mich, denn Gott warf Aller Sund' auf dich, damit wir Friede hatten.
7. „Sie haben meine Hände mir, Die ftisse mir durchgraben, Und große farren* sinds, die hier Mich, Gott, umringet haben. Ich heul, und meine hülf ist fem. Sie spotten mein: er klags dem Herrn, Ob dieser ihn befreyte! Du legst mich in des todes staub. Ich bin kein mensch, ein wurm, ein raub Der wut, ein spott der leute." 8. „Ich ruf, und du antwortest nie, Und mich verlassen alle. In meinem durste reichen sie Mir eßig dar mit galle. Wie wachs zerschmilzt in mir mein herz, Sie sehn mit freuden meinen schmerz, Die arbeit meiner seelen. Warum verlaßt du deinen knecht? Mein Gott, mein Gott! ich leid und möcht All mein gebeine zählen." 9. Du neigst dein haupt, es ist vollbracht; Du stirbst! Die erd erschüttert. Die arbeit hab ich dir gemacht. Herr, meine seele zittert. Was ist der mensch, den du befreyt? O war ich doch ganz dankbarkeit! Herr, laß mich gnade finden. Und deine liebe dringe mich, Daß ich dich wieder lieb, und dich Nie kreuzige mit sUnden.
5. Du neigst dein Haupt, es ist vollbracht; du stirbst, die Erd' erschüttert. Die Arbeit hab' ich dir gemacht; Herr, meine Seele zittert. Was ist der Mensch, den du befreit! o laß in heißer Dankbarkeit mich deine Gnad' empfinden, und deine Liebe dringe mich zur Gegenliebe, daß ich dich nie kreuzige mit Sünden.
413
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826 Allgemeines Gesangbuch [...] der Deutschen, Kopenhagen 1784, Nr. 184
Liedblatt L 250, Invocavit 1826.
Mei Ein Lämmlein geht. 10. Welch warten einer ewgen pein Für die, die dich verachten; Die, solcher gnade werth zu seyn, Nach keinem glauben trachten! FUr die, die dein verdienst gestehn, Und dich durch ihre laster schmähn, Als einen sUndendiener! Wer dich nicht liebt, kömmt ins Gericht Wer nicht dein wort halt liebt dich nicht; Ihm bist du kein versUhner. 11. Du hasts gesagt. Du wirst die kraft Zur heiligung mir schenken. Dein blut ists, das mir trost verschafft, Wenn mich die stlnden kranken. Laß mich in eifer des gebets, LaO mich in lieb und demuth stets Vor dir erfunden werden. Dein heil sey mir der schirm in noth, Mein stab im gluck, mein schild im tod, Mein letzter trost auf erden!
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 170
Mei. Ein Lämmlein geht etc. 6. Welch Warten einer ew'gen Pein fllr den, der dich verachtet, nicht, solcher Gnade werth zu seyn, im wahren Glauben trachtet! der dein Verdienst zwar eingesteht, dich aber durch sein Leben schmäht, durch seine Laster höhnet. Wer dich nicht liebt, kommt in's Gericht; wer nicht dein Wort halt, liebt dich nicht, ihn hast du nicht versöhnet. 7. Du hast gesagt, du wirst die Kraft zur Heiligung mir schenken; dein Blut ist's, das mir Trost verschafft, wenn mich die Stlnden kranken. Laß mich im Eifer des Gebets, laß mich in Lieb' und Demuth stets vor dir erfunden werden. Dein Heil sey mir ein Schirm in Noth, mein Stab im Glück, mein Schild im Tod, mein letzter Trost auf Erden.
Die Melodie „Ein Lämmlein geht" gehört zu den häufigeren Melodien auf den Liederblättern, auf denen sie insgesamt 16mal vorkommt, dabei neunmal in der Passionszeit. Meist wurde die sehr innerliche, elegische Weise mit dem Lied „Nach dem Gebet" verbunden (siebenmal).16 Wilmsens Bearbeitung weist die bekannten GBC-Redaktionsprinzipien aus: Stilistische Glättung durch Beseitigung von Enjambements und Neuanordnung der Verse. Inhaltliche Straffung durch Auslassung erzählender, sogenannter historischer Strophen.17 Aufgrund der überwiegenden Übereinstimmung des BG- und des LiedblattTextes gegen den Quellentext gehe ich davon aus, daß sich Schleiermacher bei Vorbereitung des Liedblattes die Wilmsensche Vorarbeit zunutze machte. Schleiermacher nimmt also die ersten drei Strophen des von Wilmsen bearbeiteten Liedes auf. Die Strophenauswahl ist hauptsächlich durch die Einfügung in den Kontext der Kirchenmusik bedingt, wofür sich besonders die - freilich bereits von Geliert geschaffenen - alttestamentlichen Zitate (Ps 139,23; Jes 9,5 und Jes 53,3) eigneten, mittels derer das Geschehen in einen heilsgeschichtlichen Rahmen eingespannt wird. Außerdem werden dem AT Sprache und Deutekategorien entliehen. Wesentliche Textänderungen nahm Schleiermacher in der zweiten Strophe vor: Die noch übriggebliebenen historischen Reminiszenzen (Gethsemane) fallen einer verallgemeinernden Deutung zum Opfer. Für Schleiermacher typisch ist auch die positive Pointe: „O Liebe sonder Ende" statt: „O Strafen sonder Ende".18 16 17 18
Zur zeitgenössischen Melodiegestalt vgl. J. C. Kühnaus Choralbuch (1786), Nr. 11. Zu den Redaktionsprinzipien der GBC s. o. Exkurs II. 2.6. Vgl. seine Ablehnung der Anselmischen Versöhnungslehre, CG 1821/22 1 , § 106, KGA 1/7,1, S. 348ff. und § 125,4, KGA 1/7,2, S. 92ff.
414
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
3.8.3.2. Die Kirchenmusik 3.8.3.2.1. Eine methodische Vorbemerkung Wie so oft, so sind wir auch bei der Identifizierung dieser Kirchenmusik auf Vermutungen angewiesen. Da die Liederblätter Autor und Herkunft der Figuralstücke nicht nennen und es auch keine Sekundärquellen gibt, kann nur hypothetisch argumentiert werden. Dabei verfahre ich methodisch folgendermaßen: Wenn mehrere Stücke eines Liedblatts wesentliche Textübereinstimmungen mit Sätzen e i n e s Werkes der Literatur aufweisen, gehe ich bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, daß die Stücke diesem Opus entstammen (Kohärenzkriterium). Die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese erhöht sich, wenn die Besetzungsangaben übereinstimmen und wenn nachweisbar ist, daß das entsprechende Werk ein Repertoirestück der Berliner Singakademie war. Dagegen ist eine buchstäbliche Übereinstimmung der Texte zur Begründung einer Hypothese nicht erforderlich, weil auch die Musiktexte gegen sekundäre Eingriffe nicht geschützt waren.19 Nun sind aber die einzelnen Sätze einer Kirchenmusik häufig nach dem Pasticcioprinzip zusammengesetzt worden, wodurch das Kohärenzkriterium zwar relativiert, aber keineswegs diskreditiert wird.20 Das Auftauchen opusfremder Stücke innerhalb einer Kirchenmusik spricht also nicht gegen die hypothetische Zuordnung, weil die Kirchenmusiken jeweils aktuell nach theologischen und personellen (sprich: Besetzungs-) Kriterien „eingerichtet" wurden. Diese Einrichtung nahm Kantor Rex selbst vor.21 Von seiner diesbezüglichen Tätigkeit zeugt die Skizze „Am Sonntage Invocavit 1826".22 Die Einrichtung war im mehrfachen Sinne ein Kom-ponieren: sofern es mehrere Akteure gab, sofern Werke verschiedener Meister und sofern Kunstmusik und Gemeindegesang zusammengesetzt wurden. Diese kom-positorische Praxis war damals en vogue und ist ζ. B. durch das Graunsche Passionspasticcio als prominentes Beispiel exemplarisch belegt.23 Daß Kantor Rex selbst Texte vertont hat, kann ebenfalls nicht ausgeschlossen, bisher aber auch nicht bewiesen werden. 3.8.3.2.2. Die Figuralstücke Die Figuralmusik für den Sonntag Invocavit 1826 - bestehend aus zwei Chören und einem Duett - ist wiederum in den Gemeindegesang eingeschlossen und wird durch denselben unterbrochen.
19 20 21 22 23
Vgl. die Textänderung im Messias-Duett Nr. 17 am 2. Weihnachtstag 1823, s. o. 3.6.3.2. Zur Methode der Verifizierung der Kirchenmusiken vgl. generell Exkurs I. 2.4.2.3. Zum Pasticcioprinzip s. o. Exkurs I. 3. Vgl. Rex, Promemoria vom 14.12.1817, Bl. 8v, s. u. Anhang 4). S. u. Anhang 11). S. o. Exkurs I. 3.
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
415
Die Texte der beiden Chöre sind oft vertont worden.24 Dagegen begegnet der Liedtext „Ja ich will auf Jesum sehen" nur in der Passionskantate „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld" des Berliner Hofkapellmeisters Carl Heinrich Graun (1704-59). 25 Diese Kantate, auch „Kleine Passion" genannt, enthält ebenfalls einen Chor auf den Text „Er ist um unsrer Missethat willen verwundet..." Obwohl die „Kleine Passion" nicht die Popularität des Passionsoratoriums „Der Tod Jesu" erreichte, das bis ins späte 19. Jahrhundert die „offizielle" Berliner Karfreitagsmusik blieb, galt Graun eben durch den „Tod Jesu" in Berlin als Meister der Kirchenmusik und geriet nie in Vergessenheit. Immerhin bezeichnet J. W. Grubbs Grauns „Kleine Passion" neben dem „Tod Jesu" als „his most popular and well-known sacred vocal work." 26 Natürlich gehörte die „Kleine Passion" auch zum Handschriftenbestand der Berliner Singakademie.27 Die Popularität des Werkes wird auch dadurch bestätigt, daß es als Grundgerüst des oben erwähnten Passions-Pasticcios „Wer ist der, so von Edom kömmt" diente. Darin enthalten sind auch die hier rezipierten Sätze in exakter Textüberemstimmung. Bei dem Satz „Sollt ich nicht auf Jesum sehn?" handelt es sich um ein Duett für Sopran und Alt mit Da capo im wiegenden Siziliano-Rhythmus (6/8 Takt).29 Der Chor auf Worte von Jes 53,5: „Er ist um unsrer Missethat willen verwundet..."30 ist offenbar ein zweiteiliges Stück. Während der erste Teil „Er ist um unserer Missethat [...] auf daß wir Friede hätten" vor den kanonisch einsetzenden Chorstimmen mit staccatierten Viertelnoten, die die Messerstiche imaginieren, beginnt, bringt der zweite Teil „und durch seine Wunden sind wir geheilet" die Freude darüber mit sequenzartigen Koloraturen auf „heil-,, zum Ausdruck. Das Textbuch einer Potsdamer Aufführung von 1768 bezeugt einen mit dem Liedblatt identischen Text.31
24 25
26 27
28
29 30 31
Der Schlußchor u. a. in Händeis Messias, Hallische Händel-Ausgabe, Nr. 21/22. Zum Chor „Kommt, lasset uns anbeten" s. u. GSV (Graun Sacred Vocal) 40. Vgl. die Manuskripte in der Berliner Staatsbibliothek (SBB: Mus .ms. 8156 und Mus.ms 8156/1). Das Werk entstand um 1730 in Braunschweig, vgl. John Whitfield Grubbs, The sacred vocal music of the Graun brothers: a biographical study, Los Angeles 1972, S. 770. Eine Photokopie der Monographie von Grubbs befindet sich in der SBB: Mus LS Tgr 1350. J. W. Grubbs, The sacred vocal music of the Graun brothers, S. 770. Vgl. F. Welter, Die Musikbibliothek der Berliner Sing-Akademie, in: Sing-Akademie zu Berlin, Festschrift zum 175jährigen Bestehen, hrsg. von W. Bollert (1966), S. 39. - Daß das Werk nie ganz gedruckt und darum auch seltener aufgeführt wurde, hing offenbar damit zusammen, daß man zunehmend Anstoß an den z. T. „unedlen" Texten nahm, vgl. etwa das Vorwort zum Textbuch der Breslauer Aufführung von 1832 (SBB: Mus Tg 881/1). Die Autorschaft des Textes ist nach wie vor ungeklärt. GSV 41:11 („Er ist um unserer Missethat"), GSV 41:21 („Sollt ich nicht..."), vgl. J. W. Grubbs, The sacred vocal music, S. 770ff. Zum Passions-Pasticcio vgl. noch einmal Exkurs I. 3. GSV 40:18, vgl. das Thema bei J. W. Grubbs, The sacred vocal music, S. 781. GSV 40:10, vgl. das Thema bei J. W. Grubbs, The sacred vocal music, S. 777. Vgl. SBB: Mus Tg 881/3.
416
3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Für die Abstammung der beiden Figuralstücke von der Graunschen „Kleinen Passion" spricht schließlich, daß mit dem Eingangschoral „Ein Lämmlein geht" aus der gleichnamigen Passionskantate für die Choralstrophe „Rath, Kraft und Friedefürst und Held" ein stiladäquater Chorsatz vom gleichen Komponisten aus dem gleichen Werk zur Verfügung stand.32 Falls also Choralsatz, Duett und Schlußchor aus der „Kleinen Passion" von C. H. Graun stammen, so bleibt noch die Autorschaft des Eingangschors „Kommt lasset uns anbeten und knien und niederfallen" auf Texte aus Ps 95,6 und IPetr 3,18 fraglich. Die Handschriftenabteilung von RISM hat bisher dreizehn Manuskripte mit diesem Textincipit erfaßt, die sich auf fünf Kompositionen beziehen, unter ihnen ist auch die in Herrnhut aufbewahrte Handschrift einer gleichnamigen Graun-Kantate.33 Deren Kopfsatz „Kommt lasset uns anbeten" wurde auch als Eingangschor der Passionskantate „Du Hoffnung aller Väter" des Magdeburger Komponisten Johann Heinrich Rolle (1716-1785) überliefert.34 Kompilator war möglicherweise der Potsdamer Kantor C. F. Kolbe, der dieses Mischwerk zwischen 1786 und 1792 dreimal zur Aufführung gebracht und den Graun-Chor auch kopiert hatte.35 Durch den Hamburger Musiksammler Georg Poelchau, der 1814 der Berliner Singakademie beigetreten war, könnte das Material Kantor Rex bekannt geworden sein.36 Grauns Autorschaft für den Eingangschor ist unbewiesen und unbeweisbar, aber aufgrund des musikalischen Kontextes und aufgrund der Textübereinstimmung sowie der Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte im Berlin-Potsdamer Raum gut möglich. Schließlich war Carl Heinrich Graun durch seinen „Tod Jesu" der „offizielle" Berliner Passionskomponist.37 Für die Kirchenmusik dieses ersten Fastensonntags sind wir in der glücklichen Lage, eine Textskizze Rex' zu besitzen, die zwar fragmentarisch und musikalisch irrelevant ist, die aber immerhin die beiden ersten Kirchenmusik-Texte (Eingangschor und Duett) bestätigt und die Kooperation zwischen Liturg und Kirchenmusiker andeutet.38 32 33
34
35 36 37 38
Zu GSV 40:1 vgl. Grubbs, The sacred vocal music, S. 772. Diese einzusehen, hatte ich leider keine Gelegenheit. Die anderen Kompositionen stammen von G. A. Homilius, J. G. Naumann, J. G. Vierling und J. G. Weber. Ich beziehe mich auf: RISM Musikhandschriften nach 1600. Thematischer Katalog auf CD-ROM, Frankfurt a. M. 1998. Vgl. SBB: Mus. Ms. 18727. Den Hinweis auf die Rolle-Kantate verdanke ich Tobias Schwinger, vgl. seine Magisterarbeit „Die Kirchenkantaten der Brüder Graun in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz". Vgl. ebd. in Anhang D, S. 13lf. weitere Informationen zu musikalischer Eigenart und Überlieferung. Computerausdruck in SBB: Mus LS Tgr 1352. Vgl. T. Schwinger, Kirchenkantaten der Brüder Graun, Anhang D, S. 131. Zu G. Poelchau vgl. MGG1 Bd. 10, Kassel u. a. 1962, Sp. 1365f. Vom wiederentdeckten Archiv der Singakademie sind hinsichtlich der musikalischen Identifizierung der Texte neue Aufschlüsse zu erhoffen. Vgl. das Dokument im Schleiermacher-Nachlaß (SN 66) der BBAW, hier faksimiliert, s. u. Anhang 11). Dieses Dokument fand sich auf der Rückseite einer kirchengeschichtli-
417
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
Ungeachtet dieser Bestätigung registriere ich bei dem Satz „Denn aus seinem Leiden fließet" im Vergleich mit dem Potsdamer Textbuch 39 Textabweichungen, die theologische Gestaltung erkennen lassen:
1.
Textbuch, Potsdam 1768
Textfragment Rex (SN 66)
Liedblatt L 250, Invocavit 1826
5. Arie von zwey Stimmen
Zwei Stimmen
Zwei Stimmen
Sollt ich nicht auf Jesum sehn, und ihm treu zur Seiten stehn? 2. Ja ich will auf Jesum sehn, Und ihm treu zur Seiten stehn; 1.2. Da sein Blut vom Haupte fliesset, Und sich auf mein Herz ergießet 1. Ich will an sein Antlitz denken: 2. Ich will an sein Leiden denken: 1.2. Wenn mich Tod und Teufel kränken, Wenn mein Leben sich beschliesset
1. Sollt ich nicht auf Jesum sehn? 2. Ja ich will auf Jesum sehn, 1.2. Und ihm treu zur Seite stehn, denn aus seinem Leiden
fliesset
Ja ich will auf Jesum sehn, Und ihm treu zur Seite stehn. Denn aus seinem Leiden fließet Kraft die sich ins Heiz ergießet. Ich will an sein Leiden denken, Wenn mich Feind und Sünde kranken, Bis mein Leben sich beschließet.
Die abweichende graphische Darstellung der dialogischen Struktur ist ohne Bedeutung. Die Liederblätter verzeichnen Wiederholungen grundsätzlich nicht, vielleicht aus Gründen der Platzersparnis. Außerdem waren die Texte der Figuralmusik nur zum Mitlesen und Meditieren bestimmt. So wird nicht die Frage „Sollt ich nicht auf Jesum sehn?", sondern nur die Antwort „Ja ich will auf Jesum sehn" abgedruckt. Sicherlich wurde auch Zeile fünf „Ich will an sein Leiden denken" gleichlautend von der zweiten Stimme wiederholt. Als eine textliche Spezialität der vorliegenden Fassung stellt sich der Wortlaut der dritten und vierten Zeile dar: „denn aus seinem Leiden fließet Kraft, die sich ins Herz ergießet". Das als ästhetisch und theologisch unangemessen empfundene Bild vom bluttriefenden Haupte Christi wird durch den Bearbeiter verbegrifflicht: Aus dem Leiden Christi strömt Kraft in das Herz des Betrachters. Denselben Bedenken dürfte das „Antlitz" Christi zugunsten des Leidens in Zeile fünf geopfert worden sein. Die Bearbeitung weist insgesamt die Tendenz auf, die sehr naturalistische Leidensschau ästhetisch zu veredeln und theologisch zu vergeistigen.40 Als typisch für Schleiermacher erweisen sich auch die Textänderungen der beiden letzten Zeilen, die den Willen bekunden, bereits in diesem und für dieses Leben den Blick auf das Leiden Christi zu richten: „B i s mein Leben sich be-
39
40
chen Studie Schleiermachers. (Schleiermacher las im Wintersemester 1825/26 Kirchengeschichte.) Die Autorschaft von Carl Friedrich Rex ist durch die charakteristische Handschrift gesichert. - Zur Entstehung der Kirchenmusiken, s. o. Exkurs I. 2.5.; zur Gottesdienstvorbereitung Schleiermachers s. u. Exkurs IV. 1.2. „Der sterbende Jesus. Ein Oratorium wurde am Palm-Sonntage [...] und am Charfreitage [...] in der Nikolaikirche hieselbst musikalisch aufgefiihret. Potsdam 1768." Vgl. SBB: Mus Tg 881/3. Das Breslauer Libretto von 1832, vgl. SBB: Mus Tg 881/1, zeigt, daß andere Rezipienten den Originaltext trotz seiner Anstößigkeit beibehielten.
418
3. D e r Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
schließet", nicht erst im Angesicht des Todes. Und wieder einmal müssen „Tod und Teufel" dem Paar „Feind und Sünde" weichen. 3.8.3.3. Die Liedstrophe vor der Predigt Die Gemeinde kommt noch einmal mit einer Liedstrophe zu Wort. Da zwei weitere Strophen desselben Liedes nach der Predigt gesungen werden, erfolgt der Textvergleich dort.41 Schleiermacher hatte das Lied von Balthasar Münter (1735-1793) der Gesangbuch-Commission vorgeschlagen und selbst zur Bearbeitung übernommen. Am 27.11.1823 trug er es der GBC vor: „Hr. Sehl aus dem Jauerschen Gesangbuche Die Sonne stand verfinstert p. ein Müntersches Lied." 42 An dieser Stelle interessiert zunächst nur die folgende Strophe: K e i n Opfer darf mehr bluten, D e r Friede ist gemacht, U n d aller Welt Erlösung, Durch Christi Tod vollbracht.
Die Strophenauswahl hängt hier engstens mit der vorausgegangenen Kirchenmusik zusammen, der die vorliegende Liedstrophe noch zugehört. Schleiermacher hat aus einem erzählenden Passionslied diejenige Strophe ausgesucht, die die Suffizienz des Opfers Christi hinsichtlich ihrer universalen Geltung explizit zur Sprache bringt. Dabei erinnert der Topos des Opfers an den Choralsatz „Rath, Kraft und Friedefurst und Held", und der Begriff des Friedens knüpft an den unmittelbar vorausgegangenen Jes 53,5 vertonenden Chorsatz an. Relevante Textänderungen gegenüber der vermutlich früher entstandenen BG-Fassung hat es nicht gegeben.43 3.8.3.4. Der Gesamtkomplex „Nach dem Gebet" Da Rex' Textskizze nur die Kunstmusik-Stücke enthält, ist mit der Komposition bzw. dem Arrangement des Musikkomplexes durch Schleiermacher zu rechnen. Dieser Komplex besteht aus sieben kunstvoll angeordneten Teilen, wobei die Anordnung der einzelnen Sätze offenbar nach zwei Prinzipien geschieht: Einmal nach Schleiermachers „Kantatenprinzip", d.h. dem Wechsel von Soli, Chor und Gemeinde: Choral (Gemeinde) - Chorsatz - Choral (Chor) - Choral (Gemeinde) - Solo (Duett) - Chorsatz - Choral (Gemeinde). Dieses Ordnungsprinzip folgt Schleiermachers Anliegen, die Gemeinde am Gottesdienst stärker zu beteiligen. Hier wird sie aktiv in die Kirchenmusik einbezogen. Zum andern nach dem Prinzip der Stichwort- bzw. Motivanknüpfung: Auf die Frage der Gemeinde: „Hab ich dies wol genug bedacht, Und dich aus aller meiner Macht, Genug dafür gepriesen?" antwortet der Chor: „Kommt lasset uns 41 42 43
S.u. 3.8.5. J.I.10, Bl. 42v, s. u. Anhang 9). Vgl. die „Zwote Sammlung Geistlicher Lieder von Balthasar Münter", Leipzig 1774, Nr. 7. Zur theologischen Gesamtkomposition s. u. 3.8.3.4.
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
419
anbeten und knien und niederfallen vor dem Herrn." Dann nennt der Chor den Grund für den Lobpreis: nämlich das Selbstopfer Christi und gibt das Stichwort „opfern", das wiederum von der nächsten Choralstrophe aufgegriffen wird: „Wirst du das Opfer für die Welt". Die Aussage der Schlußverse „Und giebst mit göttlicher Geduld Dich in der Sünder Hände" wird in der folgenden Gemeindestrophe - Jes 53 paraphrasierend - ausgemalt: „Erniedrigt bis zur Knechtsgestalt voll Klagen und voll Schmerzen ..." Das folgende Duett kontrastiert das Jes 53,3 zitierende sich verbergende Gesicht mit der rhetorischen Frage: „Sollt ich nicht auf Jesum sehn?" Der anschließende Chor knüpft mit Benennung unserer Sünde als der Ursache von Christi Leiden an die vorletzte Zeile des Duetts an und gibt der Musik zugleich einen biblisch fundierten Abschluß. Schließlich antwortet die Gemeinde mit einer kurzen Strophe, die zugleich das Stichwort des vollbrachten Friedens aufnimmt sowie die Endgültigkeit und Einmaligkeit des Opfers Christi betont: „Kein Opfer darf mehr bluten, Der Frieden ist gemacht". Die mögliche Provenienz aller drei Figuralstücke von Carl Heinrich Graun würde auch in musikalischer Hinsicht stilistische Einheitlichkeit gewährleisten. 3.8.4. Die Predigt 3.8.4.1. Die Quellen Es gibt von Schleiermachers Predigt am Sonntag Invocavit 1826 drei bisher nicht gedruckte Nachschriften von Sethe, Sobbe und Woltersdorff. Alle drei befinden sich im Verlagsarchiv Walter de Gruyter Berlin. Sie haben einen ähnlichen Seitenumfang. Ich lege die Nachschrift Sobbe der Analyse zugrunde, weil sie die ausführlichste ist.44 3.8.4.2. Aufbau und Inhalt Nach der Textverlesung Joh 18,8f. und einem Rückverweis auf das gemeinsame Singen (1), aber ohne die für Schleiermacher sonst typische allgemeine Einstimmung in die mit dem Sonntag Invocavit beginnende Passionszeit, führt Schleiermacher in den Kontext des Bibelwortes ein, wobei er auch die Stelle aus dem hohepriesterlichen Gebet rekapituliert, auf die Joh 18,9 sich bezieht. Der johanneische Rückverweis legitimiert den Prediger, Joh 17,12 als Hintergrundtext zum Predigttext hinzuziehen. Gleichsam als Motto stellt Schleiermacher Joh 18,8 voran: „Suchet ihr mich, so lasset diese gehen." (1) Damit ist auch das Thema der Predigt benannt: das vertretende Wort Christi für seine Jünger. Eine explizite Disposition enthält die Nachschrift nicht. Die Predigt besteht aus zwei Teilen.
44
Vgl. Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter). Predigtnachschriften Friedrich Schleiermacher. Nachschrift Sobbe 1826, frühere Sign. E.C.5. Auf diese beziehen sich auch die dem Text beigegebenen Seitenzahlen.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Der erste Teil behandelt die Stell-Vertretung Christi. Diese hat ihren Grund in der „Schwäche" der Jünger, die mit johanneischen Textstellen belegt wird. Die Teilnahme an Christi Leiden hätte die Jünger überfordert. Indem er sich selbst darbot und an ihre Stelle trat, gab er seine Jünger frei: „Gern wollte er auf sich allein die Last wälzen, um die schwächeren Brüder davon zu befreien." (2) Die erneute Anrede „m. g. F." (meine geliebten Freunde) fuhrt den Gedanken weiter. Die Stellvertretung Christi für seine Jünger ist einzigartig und nicht übertragbar auf das Verhältnis der Christen untereinander, denn „wir [...] sind einander alle gleich und auch Brüder in der Schwachheit." (2) Die Schwachheit kommt zum Ausdruck in der Destabilität, „daß keiner unter uns zu jeder Zeit ganz sich selbst gleich ist. Wollte ich also aus diesen Worten des Erlösers eine Ermahnung hernehmen, daß überall der Stärkere sich soll schützend verhalten und abwehrend gegen den Schwächeren, so müßte freilich etwas vorhergegangen seyn was nicht vorhergehen kann." (2) Unsere Stärke oder Schwäche ist nicht konstant und daher nicht prognostizierbar. Darum besteht die Anwendung der erzählten Begebenheit aus der Passionsgeschichte im Nachvollzug des Gemeinschaftsbewußtseins, das Jesus herstellt. „Das aber wollen wir uns daraus nehmen, wie überhaupt unser Leben in dem Herrn ein gemeinsames seyn soll, wie er uns alle verbunden hat zu einem Ganzen und jeder vielmehr sich bewußt seyn soll des Zustandes, in welchem das Ganze sich befindet, als seines persönlichen Antheils daran." (3) Schleiermacher ruft dazu auf, konkret und situativ Verantwortung zu übernehmen im Vertrauen auf den Geist des Herrn, der den Schwachen stark und den Starken demütig machen kann „nur für diesen Augenblik." Wenn in diesem Sinne jeder Verantwortung übernimmt zu seiner Zeit, „dann wird auch der Bund der Christen so fest stehen bleiben, daß die Pforten der Hölle ihn nicht überwältigen können, dann wird das Band der Liebe so einen jeden Einzelnen umschlingen, daß auch wir werden auf unseren gemeinsamen Bund das Wort des Herrn anwenden können: Keiner gehet aus demselben verloren, weil alle stehen auf einem und demselben Grunde, der Treue und der Liebe." (3) Konstitutiv für die christliche Gemeinde ist ihre Vollständigkeit, die aus Joh 17,12 abgeleitet wird. Der zweite Teil beginnt bei der Rücksicht Christi. Wieder bildet Joh 18,8 das Leitmotiv: „Suchet ihr mich, so lasset diese gehen." (4) Jesus wußte, daß die Jünger seinen Auftrag erfüllen mußten, darum sollten sie nicht in Leiden und Tod verwickelt werden. Man könnte meinen, Jesus hätte nicht genug Gottvertrauen gehabt, als er ausgerechnet seine Feinde um Verschonung der Jünger bat. Doch Jesus wollte nur ein Beispiel dafür geben, daß das Vertrauen auf Gott und die eigene Tat untrennbar zusammengehören. Dies wird am Beispiel eines Haushalters erläutert, der jeweils nur das Eine hat, entweder den Fleiß ohne Gottvertrauen oder (ein nur scheinbares) Gottvertrauen ohne Fleiß, und Schleiermacher stellt die rhetorische Frage: „Gibt es eine wahre Frömmigkeit des Herzens, die nicht von selbst in That ausginge?" Resümmee: Nein, sondern das Vertrauen auf Gott hat seinen Grund darin, „daß Gott sein Gesetz in dem neuen
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
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Bunde, dem wir angehören, in das Herz derer geschrieben hat, welche Mitglieder dieses Bundes sind. Das Leben des göttlichen Gesetzes in unserem Herzen und das Vertrauen auf Gott als auf den, der es gegeben hat und auch wird zu erfüllen wissen, das beides ist eins und dasselbe. [...] Vertrauen auf Gott ist Vertrauen auf das, was der Geist Gottes in uns schafft und wirkt, und kein anderes Thun gibt es im Hause Gottes, als was aus diesem Vertrauen hervorgeht und nichts ist als die äußere Erscheinung desselben in der leiblichen Welt. Wohl so laßt uns auch darin dem Erlöser folgen." (5) Die Vorbildlichkeit des Verhaltens Christi besteht in seiner Einheit von Glauben und Tat. Doch das Wort Jesu „Suchet ihr mich, so lasset diese gehen" gilt nicht nur im Augenblick seiner Gefangennahme, es hat nicht nur eine situationsbezogene Relevanz. Schleiermacher zitiert Jesusworte, die Jesu Kampf mit dem „Fürsten dieser Welt" betreffen: Joh 14,30; 12,31; 16,11. (6) Jesus gibt sich hin, weil nur er - aufgrund seiner Vollkommenheit - den Kampf mit dem Fürsten der Welt bestehen konnte. Mit seinem Sieg über den Fürsten der Welt hat Christus die Freiheit gebracht für alle, die sich ihm anschließen. Poetisch ausgedrückt: „Ja m. g. F., so ist es, unsere Freiheit ruht auf der Hingebung des Herrn. Indem sich an ihm brachen die Kräfte aller der dunklen Gewalten, die das Licht bestürmten, so ist der Sieg des Lichtes gegründet worden. Indem· sie den suchten gefangen zu nehmen, an dem sie nichts haben konnten, so sind alle andere losgelassen worden aus ihren gefahrlichen Banden. Frei ist nun jeder, der es seyn will, d. h. jeder, der sich im Glauben anschließt an die göttliche Kraft des einen, der überall unschuldig war und rein, aber auch nur deswegen so erfunden werden konnte, weil die Fülle der Gottheit in ihm wohnte." (6) Die durch Christus errungene Freiheit gibt Anlaß zum Lobpreis, aber auch zur Nachfolge kraft des Lebens Christi in seinen Gläubigen: „Wohlan lebt er in uns, so ist auch das in uns, wodurch die Seligkeit der Welt gegründet worden ist, so ist er in uns als die lebendige und erregende Kraft selbst." (6) Damit wird angespielt auf die Liebe Christi, die dieser - besonders nach den johanneischen Schriften - an seine Jünger weitergab. Schleiermacher predigt eine Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden durch Verdichtung des Lebens Christi in der Gemeinschaft der Gläubigen. Je mehr im Bunde der Christen die Schwächen und das selbstverschuldete Leiden verschwinden, desto mehr wird sich die Herrschaft und das vertretende Leiden Christi in uns durchsetzen, „desto mehr wird es sich beweisen, daß die seligmachende Kraft aus dem Erlöser in die Gemeinde seiner Gläubigen übergegangen ist [...] Der Fürst dieser Welt ist und bleibt ausgestoßen und gerichtet und in der Kraft des Leidens und des Todes Christi wächst überall die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, das Reich des Glaubens, der Liebe und des Friedens. Amen." (6f.) 3.8.4.3. Theologische Schwerpunkte Schleiermacher predigt über das dem Text entnommene Motto: „Suchet ihr mich, so lasset diese gehen" (Joh 18,8) und über das daraus gewonnene Thema Stellvertretung. Seine Themenschwerpunkte gewinnt er aus der Textexegese:
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
die aus der einzigartigen Stellvertretung Christi folgende Suffizienz seines Opfers, die aus Jesu Stellvertretung resultierende Frei-lassung der Jünger und die schrittweise Befähigung zu Vertrauen, Lieben und Leiden.45 Zunächst zur Suffizienz des Opfers Christi. Jesus bittet für seine Jünger, denn seine Feinde suchen nur ihn: „Gern wollte er auf sich allein die Last wälzen, um die schwächeren Brüder davon zu befreien" (2), denn er wußte, „daß er gesandt sey zum Heil der Welt und daß dieses durch keinen anderen könnte herbeigeführt werden, als durch ihn." (4) Die soteriologische Aussage lautet: Die Selbsthingabe des Erlösers war notwendig und hinreichend zur Erlösung. Die Suffizienz des Opfers Christi korrespondiert der Unzulänglichkeit der Jünger, die signifikanterweise nicht als Sünde, sondern als „Schwäche" (1) bezeichnet wird. Das Mitleiden und Mitsterben an seiner Seite hätte sie überfordert, darum bittet Jesus um ihre Frei-lassung. In dieser durch Jesu Fürsprache erwirkten Freigabe drückt sich soteriologisch die Erlösung und Befreiung aus, sie geschieht im Augenblick seiner Hingabe. „Ja m. g. F., so ist es, unsere Freiheit ruht auf der Hingebung des Herrn. [...] Indem sie den suchten gefangen zu nehmen, an dem sie nichts haben konnten, so sind alle andere losgelassen worden aus ihren gefahrlichen Banden. Frei ist nun jeder, der es seyn will." (6) Die christologische Frage wird nur gestreift, nicht ausgeführt. Entscheidend ist die freie Hingabe Christi, die nicht erst am Kreuz geschieht. Mit johanneischen Zitaten zum Sieg Christi über den „Fürsten dieser Welt" (6) wird die unblutige Erlösung bewiesen und damit die anstößige Satisfaktionslehre überwunden. 46 Jesu Stellvertretung ist heilschaffend, sein Verhalten im Augenblick seiner Festnahme ist als erlösendes und befreiendes Wirken unnachahmlich. Trotzdem trägt es auch paradigmatische Züge, wie Schleiermacher programmatisch kundtut: „Von allem, m. g. F., in dem Leben des Erlösers sollen wir die Anwendung machen auf uns selbst, immer anerkennend den großen Unterschied zwischen ihm und uns, aber auf der anderen Seite auch in dem freudigen Glauben, daß die Kraft seines Geistes mächtig ist in den Schwachen." (2)47 Doch Text und Thema von der Stellvertretung bergen laut Schleiermacher zwei Gefahren in sich: Einmal das quietistische Mißverstehen der Stellvertretung Christi. Dieses wird ausgeschlossen durch die vorbildliche Einheit von Gottvertrauen und Selbsttun Jesu. Seine Anrede an die Soldaten wird zur paradigmatischen Aufforderung zur christlichen Tat. Schleiermacher begründet die Notwendigkeit des Handelns der Christen mit Jer 31,33: Gott handelt durch uns, und das Vertrauen auf Gott ist identisch mit dem Vertrauen auf den Geist Gottes in uns. 45
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Die hier genannten Schwerpunkte sind nicht mit Schleiermachers Predigtgliederung identisch. Die ethischen Konsequenzen aus dem vorbildlichen Handeln Christi werden mit ihren dogmatischen Prämissen verwoben und nicht als eigener Predigtteil isoliert. Texterklärung und Anwendung geschehen im ständigen Wechsel. Vgl. CG (1821/22 1 ), § 125,4, KGA 1/7,2, S. 92ff. Trillhaas sieht darin die vorrangige Intention der Passionspredigten. „Leiden und Tod des Erlösers hat also für den Christen zuerst und zuletzt praktisch-sittlichen Wert, weil es uns zur Heiligung hilft." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 58.
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
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Zum anderen liegt im Nachfolgegebot die Gefahr der ethischen Überforderung. Dieser will Schleiermacher einerseits dadurch begegnen, daß er den einzelnen Nachfolgenden immer als Teil der ganzen Gemeinde ansieht. Aus der Stellvertretung Christi für seine Jünger folgt keine Hierarchisierung innerhalb der Gemeinde. Gott sucht sich die Menschen, die Verantwortung übernehmen, je selbst aus. Niemand kann in jeder Situation Gottes Werkzeug sein, so wie Christus es war, „weil die Gebrechlichkeit ein allgemeines Loos aller Menschen ist." (2) „So können wir freilich nicht wissen, [...] welche der Herr sich auswählen wird zu Werkzeugen seiner Verherrlichung."(3)48 Andererseits predigt Schleiermacher eine gleichsam paulinische Christusmystik gemäß Gal 2,20. Christus lebt und leidet in seinen Gläubigen. Die Liebe, mit der sich Christus hingab, lebt mit ihm in uns und bildet sich immer weiter und reiner aus. Die Betrachtung des Beispiels Christi geht nicht auf moralische Anwendungen aus, sondern auf ein Vertrauen und Sich offen halten für das Wirken des Geistes Gottes im Einzelnen und in seiner Gemeinde. Dabei rechnet Schleiermacher mit einer prozessualen Entfaltung des Reiches Gottes auf Erden. 49 Die von Trillhaas besorgte „Kontinuität unseres Leidens mit dem des Erlösers" 50 kann ich hier nicht entdecken. Vielmehr nimmt Schleiermacher die Befreiung der Gläubigen durch Christus radikal ernst, so ernst, daß die Möglichkeit der Leidensnachfolge völlig verblaßt. Schleiermacher bietet eine doppelte Deutung der Freigabe-Bitte Christi: Christologisch bringt sie die Einzigartigkeit des Erlösers zur Geltung, ekklesiologisch bietet sie die Möglichkeit der traditio, des Gemeindeaufbaus und der Mission. In dieser Deutung liegt allerdings die Gefahr einer Banalisierung der Sünde, die sich auch dadurch kundtut, daß Schleiermacher nicht von „Sünde", sondern von „Schwäche" bzw. von „Schwachheit" redet. Seine Terminologie verrät seine Theologie. 3.8.5. Das Lied „Nach der Predigt" Auf die Predigt folgen zwei weitere Strophen aus dem bereits angefangenen Lied „Die Sonne stand verfinstert" von Balthasar Münter.51 Schleiermacher hatte das Lied der GBC aus dem Jauerschen Gesangbuch vorgeschlagen und eine eigene Bearbeitung am 27.11.1823 vorgetragen. Diese Bearbeitungsstufe liegt
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49
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Trillhaas' Urteil über Schleiermachers Passionspredigten: „Der Tod Christi erscheint bereits als Aufhebung seiner Vereinzelung. [...] Mit Christi Vereinzelung ist auch unsere Vereinsamung aufgehoben", vgl. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 63, ist auch von dieser Predigt her zuzustimmen. Die Passionspredigten überblickend unterscheidet Trillhaas in diesem „christlichen Prozeß" eine Innen- und eine Außenseite: „Seitdem aber in Leiden und Tod Christi diese Sündenmacht prinzipiell gebrochen ist, hat der christliche Prozeß, intensiv in der Heiligung und extensiv in der Mission, begonnen." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 65. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 67. S . o . 3.8.3.3.
424
3. D e r Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
in BG, Nr. 165 vor, ist redaktionsgeschichtlich also vermutlich älter als die Liedblattfassung. Jauersches Gesangbuch (1813),
Liedblatt L 250,
Berliner Gesangbuch (1829),
Nr. 245
Am Sonntage Invocavit 1826
Nr. 165
Mei. Christus, der ist mein etc.
Mei. Christus der ist mein etc.
Mei. Christus, der ist mein etc.
Die Sonne stand verfinstert, der Mittag ward zur Nacht; nun hatt' er überwunden und rief: Es ist vollbracht!
Die Sonne stand verfinstert, der Mittag ward zur Nacht; nun hat er Uberwunden und spricht: es ist vollbracht.
2. Der Erde furchtbar Beben hob das Gebirg' empor; und Gottes Todte gingen aus ihrem Grab hervor. 2. Des Tempels Gründe wankten, der Vorhang riß entzwei; so wird der Welt verkündet, der Zugang sey nun frei.
3. Des Tempels Gründe wankten; der Vorhang riß entzwei, der Gottes Wohnung deckte; der Eingang ist nun irei. 4. Den Todesüberwinder Umgab des Grabes Nacht; und Gottes Engel jauchzten: Er hats, er hats vollbracht! 5. Er ist nun eingegangen ins Allerheiligste, des neuen Bundes Priester, der Mittler aus der Höh'. 6. Nun wird kein Opfer wieder in Ewigkeit gebracht; der den sein Volk erwürgte, hat Alles ganz vollbracht.
Kein Opfer darf mehr bluten, Der Frieden ist gemacht, Und aller Welt Erlösung, Durch Christi Tod vollbracht.
7. Ο du, der mich versöhnte dem Richter aller Welt, du hast das Heil der Erde allmachtig hergestellt. 8. Nun wohnt in ewgem Frieden das menschliche Geschlecht, und du regierst die Völker mit Wahrheit und mit Recht. 9. Du kommst und fìihrst die Deinen In deines Vaters Reich; du machst an Heil und Wurde sie deinen Engeln gleich.
Nun wohnt in sichrer Ruhe Das menschliche Geschlecht, Dein Volk regierst du herrlich, Nach deinem heiigen Recht. Einst fìlhrest du die Deinen In deines Vaters Reich Und machst an Ehr und Wurde, Sie seinen Engeln gleich.
3. Denn er ist durchgedrungen für uns zu Gottes Thron, der ew'ge Hohepriester, des Allerhöchsten Sohn. 4. Kein Opfer mehr darf bluten, der Fried' ist nun gemacht und aller Welt Erlösung durch seinen Tod vollbracht. 5. O du, der mich versöhnte dem Richter aller Welt, du hast das Heil der Sünder auf ewig hergestellt. 6. Nun wohnt in sich'rer Ruhe das menschliche Gechlecht: dein Volk regierst du herrlich nach deinem heil'gen Recht. 7. Einst führest du die Deinen in deines Vaters Reich und machst an Ehr' und Würde sie seinen Engeln gleich.
Schleiermacher hat die beiden Schlußstrophen des selbstredigierten Liedes unverändert abgedruckt. Die Bearbeitung hat dem Lied das theologische Pathos genommen. Aus dem „ewgen Frieden" wird die „sichre Ruhe", aus „Heil und Würde" wird „Ehr und Würde". Christus wird Gottvater subordiniert, nur der Vater hat Engel. Schleiermacher schwächt Münters Universalismus ab und statuiert einen eschatologischen Vorbehalt: statt „du regierst die Völker" heißt es nur: „dein Volk regierst du herrlich". Dieser Vorbehalt erklärt vielleicht die auf den ersten Blick überraschende eschatologische Akzentsetzung in der letzten Strophe: „ E i n s t führest du die Deinen ..." Entsprechend der Pointe des Liedes und mit der Tradition verlegt Schleiermacher das Reich des Vaters in die Zu-
3.8. Der Sonntag Invocavit 1826
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kunft. Indem er aber das Motiv der Parousie Christi „Du kommst und fuhrst..." tilgt, insinuiert er eine immanent-geschichtliche Deutung. Generell erscheint auch nach Schleiermachers liturgischen Grundsätzen der eschatologische Ausblick am Ende des Gottesdienstes sinnvoll und vertretbar. 3.8.6. Der Gottesdienst als Ganzes Der ganze Gottesdienst steht im Zeichen der beginnenden Passionszeit. Ein allgemein gehaltenes Morgen- oder Glaubenslied zu Beginn des Gottesdienstes fehlt. Schleiermacher geht sogleich in medias res. Und res ist hier die Bedeutung des Leidens und Sterbens Christi für den Gläubigen, mit einem Satz: „Ich bin erlöst!" Für den Prediger hat die durch Christi Stellvertretung bewirkte Erlösung drei Implikationen, die durch die Lied- und Kirchenmusiktexte vorbereitet bzw. verstärkt werden: Zuerst die Suffizienz, das εφάπαξ, des Opfers Christi, ausgesprochen schon im Eingangschor der Kirchenmusik: „Denn es hat e i n m a l gelitten der Gerechte für die Ungerechten ..." Dieser reformatorische Grundsatz wird in der Liedstrophe vor der Predigt - quasi als das theologische Fazit der Kirchenmusik der Gemeinde in den Mund gelegt: „Kein Opfer darf mehr bluten", worauf Schleiermacher gleich zu Beginn seiner Predigt Bezug nimmt.52 Gerade weil der Liedvers vor der Predigt Christi Passion mit einer dogmatisch korrekten, ultimativen Deutung versieht, muß zwischen ihr und dem episodenhaft wirkenden Predigttext eine Brücke gebaut werden. Zum zweiten der soteriologische Charakter dieses Opfers (pro nobis), der bereits zu Beginn des Eingangsliedes eingeschärft wird, und vor allem in der Wahl der Stücke zum Ausdruck kommt (Chor: „Er ist um unsrer Missethat willen ..." Choral: „Du nimmst auf dich der Menschen Schuld ...") Zum dritten die Frei-lassung der Gläubigen durch Christus, die bereits die Textrevision des Eingangsliedes mitbestimmte und schließlich die ekklesiologische Konsequenz dieser Frei-lassung: die Frei-stellung der Jünger zum Aufbau des Gottesreiches, ein Gedanke, der im Lied nach der Predigt widerhallt. Der letzte Gedanke führt freilich über die theologische Aussage der Musiktexte weit hinaus. Der Prediger entwickelt ihn aus der ethischen Konsequenz des stellvertretenden Leidens Christi, die in der Heiligung und in einer gemeinsamen Nachfolge im Vertrauen auf Gottes Berufung liegt. Ja, Schleiermacher geht noch weiter und spricht am Ende der Predigt sogar vom gemeinschaftlichen Erbe der „seligmachenden Kraft des Erlösers". Damit bringt der Prediger den ekklesiologischen Aspekt zur Geltung, der in den durchweg jüngernen -
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Der Rilckverweis auf das „was wir miteinander gesungen haben", bezieht sich genau auf diese Liedstrophe. Der explizite Hinweis auf das Lied zeugt allerdings weniger davon, daß Schleiermacher dergleichen Direktheit liebte - seinem Stilempfinden lag der indirekte Hinweis näher - , als davon, daß er die einzelnen liturgischen Teile stets im Zusammenhang sah. Zu Schleiermachers Predigtstil s. u. Exkurs IV. 2.2.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
meistens durch die Ich-Form geprägten - Liedtexten aus dem 18. und 19. Jahrhundert völlig fehlt. Die sehr ichbezogene Perspektive wird vom Prediger ausdrücklich beanstandet und in eine Wir-Perspektive korrigiert: „Wenn wir so gemeinsam einer den andern vertreten, auf daß immer mehr aus dem Bunde der Christen alle Schwächen verschwinden, wenn wir uns immer inniger in Wahrheit und Liebe vereinigen, um das Werk des Herrn zu fordern, o dann werden wir auch immer mehr des Bewußtseyns voll werden, daß wir mit ihm auferstehen, desto mehr wird es sich beweisen, daß die Seligmachende Kraft aus dem Erlöser in die Gemeinde seiner Gläubigen übergegangen ist und seine Kirche auf Erden." (6f.) In diesem vorletzten Satz der Predigt drückt sich der Schleiermachersche Geschichtsoptimismus aus, den die beiden Strophen nach der Predigt aufnehmen und bestätigen werden. Was Schleiermacher selbst unter dem Reich Gottes versteht, das hat er zu Ende seiner Predigt gesagt: nämlich „die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, das Reich des Glaubens, der Liebe und des Friedens." In Strophenform heißt das: „Nun wohnt in sich'rer Ruhe Das menschliche Geschlecht, Dein Volk regierst du herrlich Nach deinem heil'gen Recht." So greifen die beiden Schlußstrophen die ekklesiologische Pointe der Predigt auf: die Freigabe der Jünger durch Christi Stellvertretung war die Bedingung ihrer Freistellung zum Aufbau des Reiches Gottes auf Erden. Der eingangs geworfene Blick auf die Lebensumstände Schleiermachers und seine führende Rolle im Agendenstreit lassen die Vermutung zu, daß das Thema der Stellvertretung und der Verantwortungsübernahme Schleiermacher damals auch persönlich bewegte.
Exkurs IV: Zu Gottesdienstvorbereitung und Gottesdienstvollzug Schleiermachers Der bisherige Gang der Untersuchung hat die formale und inhaltliche Konsistenz des Gottesdienstes in Schleiermachers Theorie der Praxis konstituiert und in seiner eigenen Amtspraxis bestätigt gefunden. Doch handelt es sich bei den Vorlesungen zur PT um Lehrvorträge, die aufgrund ihres normativen Anspruchs nicht ohne weiteres auf Schleiermachers eigene Praxis rückschließen lassen, und bei den rekonstruierten Gottesdiensten um fertige Produkte der liturgischen Kunstfertigkeit Schleiermachers. Darum soll hier noch der Versuch gemacht werden, die hypothetisch vorausgesetzte Methode von Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung durch biographisches „Beweismaterial" zu bestätigen. Von der Kooperation mit dem Kantor und den Kollegen in der GesangbuchCommission war bereits die Rede. Aber wie koordinierte er seine komplexen Vorbereitungen und wann setzte er sie um? Wie also kamen Schleiermachers Gottesdienste, seine liturgischen „Kunstwerke" zustande? Wie wurden sie vorbereitet? Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist, einen eigenen Exkurs zu Schleiermachers Theorie und Praxis der Predigt zu liefern, müssen einige Beobachtungen zu seinem Predigtstil, der unmittelbar und prägend zu dem hier verhandelten Gottesdienstvollzug Schleiermachers dazugehört, genügen. Doch zunächst sollen die - leider nur spärlich vorhandenen - Selbstzeugnisse zu Schleiermachers Praxis vorgestellt, und diese dann z.T. durch Zeugnisse von Zeitgenossen ergänzt und schließlich durch seine eigene Theorie untermauert werden. 1. Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung. Zeugnisse aus Briefen und Amtspraxis 1.1. Selbstzeugnisse zum Akt der Vorbereitung Die unten zusammengestellten Gelegenheitsäußerungen des Predigers Schleiermacher aus seinem Briefwechsel erlauben einen Blick in die Werkstatt seiner Gottesdienstvorbereitung und weihen in seine Auffassung vom Geschäft des Predigens ein. Zwar haben wir nur wenige Zeugnisse dieser Art. Doch der Tatbestand ist erklärlich und schmälert die Grundthese nicht: Die Gottesdienst- und Predigtvorbereitung war für Schleiermacher eine regelmäßige Aufgabe, die organisch in seinen Wochen- und Lebensrhythmus eingepaßt war, so daß er sie der ausdrücklichen Erwähnung nicht wert achtete. Gegenüber seinen männlichen Briefpartnern hat er überhaupt nicht davon gesprochen, obwohl er Gaß und Blanc gelegentlich Details zur Liturgie- und Agendenangelegenheit mitteilte. Dagegen thematisierte Schleiermacher seinen Tagesablauf und solche mit seiner Amtstätigkeit verbundene momentane Befindlichkeiten gern in Briefen an seine Frau. Solche Briefe sind aber nur aus der Zeit der Verlobung (18071809), der Evakuierung 1813 und aus den letzten Jahren erhalten, wenn Frau
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Schleiermacher allein verreiste. So erklärt sich der bedauerliche Mangel biographisch und aus einer gewissen Intimität der Angelegenheit. 1 a) Schleiermacher an seine spätere Ehefrau Henriette von Willich auf die Nachricht vom Tode ihres Ehemannes Ehrenfried von Willich. Halle, den 25.3.1807. 2 „Uebermorgen ist der Todestag Christi; ich werde predigen über den Spruch: ,Es sei denn, daß das Waizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein, wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte.' - Ich werde davon reden, wie der Tod erst jede Liebe heiligt, wie mit dem Tode erst die schönsten Wirkungen des Menschen angehn, und wie das von uns Allen eben so gilt, wie von Christo. Liebe Jette, ich werde voll sein von unserm theuren Entschlafenen und von Dir, ich werde mit wehmüthig bewegtem Herzen reden." b) Schleiermacher an seine Verlobte Henriette von Willich. Berlin, Dienstag, den 28.3.1809. 3 „Noch ganz spät komme ich auf einige Augenblicke zu Dir, liebe Jette, beim Thee habe ich Nanni eine Tragödie von Sophokles vorgelesen, und die Zeit hernach habe ich zugebracht meine Gedanken fur meine Osterpredigt zurecht zu bringen, damit ich morgen beim Frühstück die Lieder suchen kann, die immer schon am Mittwoch abgeholt werden für den Sonntag. Nun bin ich so weit, daß ich nur erst wieder Sonnabend Abend daran zu denken brauche. Liebe, wie freut mich das, daß Du Dich auf meine Predigten freust!" c) Schleiermacher an seine Frau während der Evakuierung. Berlin, Samstag, den 22.5.1813. 4 „Nun habe ich noch an meine Predigt zu denken, die keineswegs in Ordnung ist und keine sonderliche Stimmung wird sein, weder heute daran zu denken, noch morgen sie zu halten [...] So, nun bin ich unterdeß in Ordnung gekommen mit der Predigt und will Dir gute Nacht sagen." d) Schleiermacher an seine Frau während der Evakuierung. Berlin, Donnerstag, den 3.6.1813. 5 „Ich aß bei Schedes zuguterletzt in der Stadt, denn sie ziehen heute ganz hinaus in den Garten. Beim Hinausgehn machte ich einen kleinen Spaziergang durch den Thiergarten, [...] dachte zwischen durch an meine Pfingstpredigt und war mit heißen Wünschen und inbrünstigem Gebet bei unserm Herrn."
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Die schlechte Quellenlage wird allerdings durch Beobachtungen von Zeitgenossen etwas aufgebessert, vgl. die Äußerungen A. Schweizers und F. Lückes, s. u. Exkurs IV, 1.2. Briefe II, S. 90. Briefe II, S. 234f. Briefe II, S. 278. Schleiermacher als Mensch. Familien und Freundesbriefe, hrsg. von H. Meisner, S. 183.
Exkurs IV: Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung und -Vollzug
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e) Schleiermacher an seine auf Kur befindliche Frau. Berlin, Sonnabend den 18.8.1832. 6 „Nur ein paar Worte, mein liebes Herz, damit Du nicht ungeduldig wirst, nicht eben in einer brillanten Stimmung, ohne daß eigentlich etwas geschehen wäre, als daß ich nicht recht ein und aus weiß, und daß es schon Abend ist und ich im geringsten noch nicht mit meiner Predigt in Ordnung bin." f) Vgl. noch einmal Rex' Fragment zur Kirchenmusik, Invocavit 1826. 7 1.2. Die drei Phasen der Gottesdienstvorbereitung Diesen zufalligen, doch - weil aus der mittleren und späteren Lebensperiode stammenden - verallgemeinerungsfahigen Mitteilungen ist zu entnehmen, daß Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung gewöhnlich drei Stadien durchlief: Im ersten, leider nicht durchgängig belegbaren Stadium plante Schleiermacher den Gesamtgottesdienst, d. h., er bestimmte das Thema und stimmte Lieder und Predigt darauf ab. Dies geschah früher oder später, je nachdem, wann die Liednummern benannt bzw. die Liedtexte bearbeitet werden mußten. Im Frühjahr 1809, als Schleiermacher an der Dreifaltigkeitskirche noch gastweise die Osterpredigt zu halten hatte, waren die Lieder - aus dem Porstschen Gesangbuch - am Mittwoch vorher dem Kantor bzw. Organisten zu übergeben. In der Liedblattperiode 1812/13-1828, aus der leider keine diesbezüglichen Zeugnisse vorliegen, dürfte dieser Vorbereitungsgang entsprechend eher stattgefunden haben. Wolfgang Virmond, der Wiederentdecker der Liederblätter, weist darauf hin, daß die kleinformatigen Liederblätter nicht einzeln, sondern daß „mehrere Nummern gleichzeitig gedruckt wurden: daß also Schleiermacher sein Manuskript oft mehrere Wochen, wenn nicht Monate vor dem entsprechenden Gottesdienst abliefern mußte." 8 Daraus schließt Virmond zu Recht: „Das heißt aber, daß Schleiermacher auch für seine (Haupt-) Predigten lange im Voraus ein Konzept haben mußte: sei's im Kopf, sei's auf dem Papier. Und dies widerspricht gar nicht der Überlieferung, daß er seine Predigten extemporiert habe Thema, Bibelstelle, Schwerpunkte, wohl auch die Hauptgliederung wurden bereits Wochen oder Monate zuvor festgelegt: die Untergliederung und die besondere Ausprägung der einzelnen Teile mochten dann kurz vor dem Gottesdienst im Kopf (und Herzen) zurechtgelegt werden: die Worte und Sätze jedenfalls entstanden erst auf der Kanzel."9
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Briefe II, S. 467. S. o. 3.8.3.2. und s. u. Anhang 11). W. Virmond, Liederblätter - ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers, in: Schleiermacher in context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher (ed. Ruth Drucilla Richardson) Lewiston 1991, S. 282. Virmond stützt diese These auf die Beobachtung, daß die Liederblätter auch für die Reisemonate Schleiermachers vorliegen, vgl. seine Beispiele ebd. - Zu einem Druckbogen wurden jeweils acht oder sechszehn Liederblätter zusammengefaßt und nach dem Druck wieder zerschnitten. W. Virmond, Liederblätter, S. 282f. Schleiermacher selbst hat die von ihm meisterhaft beherrschte Rede allerdings nicht als Extemporieren verstanden, dazu s. u. Exkurs IV. 2.1.
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3. D e r F e s t g o t t e s d i e n s t in d e r l i t u r g i s c h e n P r a x i s
Ich kann mich Virmonds These im wesentlichen anschließen. Lediglich seine Vermutung, daß Schleiermacher bei Auswahl und Redaktion der Lieder bereits eine Predigtdisposition erarbeitete, erscheint mir fraglich, weil die Predigt damit einen Teil der ihr eigenen Individualität und Spontaneität hätte einbüßen müssen. Eine langfristige Themenwahl aber war unvermeidlich. Nun kann man fragen: Mußte die langfristige Vorbereitung nicht auf Kosten von Aktualität und Konkretheit gehen? Schleiermachers Gemeinde hat dies nicht so empfunden. Es ging in dieser Phase auch nur um die Festlegung eines Predigt und Lied übergreifenden Gottesdienst-Themas. Möglicherweise entschied Schleiermacher auch bereits über den Predigttext. An den großen Christusfesten stehen die Themen natürlicherweise fest („bedingte Darstellung") und die Gefahr der Wiederholung liegt nahe.10 Hier muß der Prediger Schwerpunkte setzen. Da Schleiermacher auch die „gewöhnlichen" Sonntage der festlichen Kirchenjahreshälfte entweder voraus oder rückwärts auf die großen Feste bezogen sieht, sind auch sie thematisch vorgeprägt." In der festlosen Trinitatiszeit predigte Schleiermacher gern Themen- und Textzyklen, wobei es überhaupt sein Ziel war, den einzelnen Gottesdienst, die einzelne Predigt in einen größeren Zusammenhang zu stellen, wie er es in seinen Frühgottesdiensten gern oder etwa bei den Hausstandspredigten (1818) und den Augustanapredigten (1830) auch praktizierte.12 Auch Schleiermachers Schüler Alexander Schweizer hat beobachtet, daß „Schleiermacher gewöhnlich ganze Reihen von Betrachtungen zum Voraus sich im Allgemeinen festsetzte."13 So wird nachvollziehbar, daß
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Schleiermacher über das Problem der Festpredigt in einem Brief an Gaß vom 24.7.1826: „Es ist so natürlich, so sehr ich auch bei der Wahl auf Abwechselung Bedacht g e n o m m e n habe, daß doch lauter Christologie darin ist, und so treten die Gedanken zu nahe und wiederholen sich zu sehr." Briefe IV, S. 351. Zur theoretischen Unterscheidung von „bedingter" und „unbedingter" Darstellung s. o. 2.1.2. Schleiermacher stellt fest, „daß die christlichen Feste selbst in dieser Beziehung nicht ein bestimmt begrenztes sind, sondern eine gewisse Atmosphäre haben die das ganze aufhebt. Je näher der Zeitpunkt eines solchen Moments im Jahrescyklus kommt, desto mehr entsteht die Erregung des Bewußtseins, und darauf entsteht eine Vorbereitung auf die Zeit; und weil das bestimmte ein vorzüglich ergreifendes ist, werden wir nicht sagen können, daß so wie der Tag vorbei ist, der Einfluß des Gegenstandes eo ipso verschwindet; das ist die Zeit der Nachwirkung." PT, S. 129. Zur Sogwirkung des Festes s. o. 2.1.2. Vgl. die „Predigten über den christlichen Hausstand" in S W II/l (4. Sammlung), S. 5 4 9 672 und die zehn Predigten zur Erinnerung an die Confessio Augustana („Augustanapredigten" 1830) in S W II/2, S. 6 1 3 - 7 5 8 . A. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger (1834), S. 70f. - K. W. Rhenius hat bei Schleiermacher eine strikte Trennung zwischen der festlichen und der festlosen Hälfte des Kirchenjahres beobachtet: „Die wichtigsten Ereignisse im Leben des Erlösers sind durch die Hauptfeste, die einzelnen Abschnitte desselben durch die zwischen jenen liegenden Zeiträume abgebildet, so daß durch das Anschließen des Predigtstoffes an die Bedeutung dieser festlichen Zeit jedesmal ein zusammenhängendes Bild der irdischen Erscheinung Christi in bestimmten Rücksichten aufgestellt werden kann. - Wie nun das Leben Christi selbst der Grund ist für die Entstehung seiner Kirche, so soll die erbauliche Betrachtung desselben der Grund sein, auf welchem sich das Geistesleben der Gemeinde immer reiner und vollkommener erbaut. Deßhalb beschäftigt sich der Inhalt derjenigen
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eine Predigtidee schon Wochen oder Monate vorher gefunden sein konnte, weil einerseits der Druck der Liederblätter eine rechtzeitige Vorbereitung erforderte, und weil andererseits die langfristige Vorausplanung Schleiermachers Streben nach Zyklenbildung durchaus entgegenkam, ohne daß dies der Aktualität der Predigt im Empfinden der Hörer schadete.14 Noch langfristiger mußten die Kirchenmusiken geplant werden. Schleiermacher bat dann den Kantor, eine entsprechende „Kantate" musikalisch einzurichten und ihm die Texte vorzulegen.15 Nach Absprache mit Rex dürfte Schleiermacher dann die Kirchenmusik im Sinne seiner theologischen und liturgischen Prinzipien bearbeitet, also Gemeindelieder hinzugefugt und die Texte in Bezug auf die Gesamtidee des Gottesdienstes redigiert, und schließlich die Liederblätter dann zum Druck gegeben haben. In den letzten Jahren - seit Einführung des Berliner Gesangbuchs (1830) wird Schleiermacher zu der früheren Planung, wie sie Beispiel a) demonstriert, zurückgekehrt sein. Die zweite Phase der Gottesdienstvorbereitung fand gewöhnlich Samstags statt. Wir sahen aber in Beispiel a) und d), daß Schleiermacher seine Predigt gelegentlich auch schon einige Tage früher konzipieren konnte. F. Lücke behauptet in seinem Nachruf auf Schleiermacher sogar, dies wäre die Regel gewesen: „Die Predigt entstand in sofern nicht erst auf der Kanzel, als er sie mehrere Tage vorher im Geiste bereits empfangen und bis zum Augenblicke, w o er sie hielt, gleichsam völlig ausgetragen hatte." 16
Wann auch immer die Konzeption der Predigt entstand, Schleiermacher nennt diesen - vielleicht noch einmal zu unterteilenden - zweiten Schritt in seiner Privatkorrespondenz häufig „an meine Predigt denken", was auf eine außerordentliche Konzentrationsfähigkeit schließen läßt, die es ihm erlaubte, Vorbereitung, Gliederung und Formulierung ohne alle Hilfsmittel, rein gedanklich vornehmen zu können. Alexander Schweizer berichtet: „Er dachte nicht mit der Feder in der Hand, sondern pflegte sich einige Stunden lang ans Fenster zu lehnen und sich so rein im Geiste die Predigt zu entwerfen und die Ausfüllung durchzuführen." 17
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Schleiermacher'schen Predigten, welche in der festlosen Hälfte des Kirchenjahres gehalten sind, mit der Anwendung der Thaten und besonders der Worte Christi als Norm für die Gestaltung unseres Lebens." K. W. Rhenius, Friedrich Schleiermachers Predigtweise für Theologen und Nicht-Theologen (1837), S. 14f. Wir wissen leider nicht, wie Schleiermacher mit unvorhergesehenen predigtrelevanten Ereignissen umging, ob er in diesem Fall Thema und Text neu bestimmte und evtl. auch andere Lieder singen ließ. S. o. Exkurs I. 2.5. Friedrich Lücke, Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S. 734-813, S. 788f. Eine längerfristige Meditation von Thema und Text empfiehlt Schleiermacher dem Prediger auch in der PT, s. u. Exkurs IV. 2.1. A. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit, S. 90.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Auch Schleiermachers eigene Briefe liefern den Beweis dafür, daß er sich nicht aufs „Extemporieren" verließ, und daß ihm die gedankliche Vorbereitung ein regulärer Tagesordnungspunkt war, daß er also bis ins Alter seine Predigtaufgabe sehr ernst nahm, und daß er sich durchaus unwohl fühlte, wenn er am Samstag abend - wie Beispiel e) veranschaulicht - die Predigt noch nicht im Kopf hatte. Demgegenüber wird immer wieder die Meinung verbreitet, Schleiermacher hätte sich nur äußerst kurz und kurzfristig auf seine Predigten vorbereitet, und seine Predigten wären mehr oder weniger die spektakulären Improvisationen eines „Kanzelvirtuosen" gewesen. So schreibt noch Wolfgang Trillhaas: „Mit diesem .Enthusiasmus für die Kanzel' (Briefe III, 376) scheint nun sein persönliches Verhalten, besonders in der Vorbereitung, wenig zusammenzustimmen. Von Anfang an verschob er alle Vorbereitung auf den letzten Augenblick, schrieb schon in Schlobitten seine Predigten vorher nicht mehr regelmäßig, seit Ende 1792 überhaupt nicht mehr auf. Einige Stunden konzentrierten Nachdenkens - ans Fenster gelehnt - genügten nachmals vollauf zur Vorbereitung und auch der Besuch einer - meist theologischen - Gesellschaft am Samstagabend konnte ihn hierin nicht stören. Er pflegte sich alsdann für eine Viertelstunde schweigend an den Ofen zu stellen, was von den Kundigen um ihn her respektiert wurde."1
Diese Darstellung ist zu korrigieren. Zum ersten widerspricht weder das Nichtaufschreiben noch die kurzfristige Vorbereitung dem „Enthusiasmus für die Kanzel", im Gegenteil: Schleiermacher nutzte die beste Zeit der Woche, den vorlesungsfreien Samstag, für den Hauptteil der Predigtvorbereitung. Dieser Termin hatte außerdem den Vorzug größtmöglicher Aktualität, auf die Schleiermacher höchsten Wert legte. Wenn Lücke recht hat, dann begann die Konzeption sogar noch zeitiger. Zum zweiten bezeugt Trillhaas mit seiner Bezugnahme auf Alexander Schweizer selbst, daß Schleiermacher der Predigtvorbereitung am Samstag „einige Stunden" widmete. Der anekdotisch klingende viertelstündige Rückzug an den Ofen, der aber keine Konzeption, sondern höchstens eine Rekapitulation bezweckte, ist freilich legendär geworden. Daß Schleiermacher die Fähigkeit zur Predigtimprovisation potentiell besaß, ist bezeugt, besagt aber nicht, daß er dieser Versuchung auch wirklich erlag.19 Die kurzfristig oder unvorbereitete Predigt hatte bei Schleiermacher keineswegs Methode. Stattdessen entwarf Schleiermacher in dieser zweiten Phase der Predigtvorbereitung die Disposition bis in die kleinsten Verästelungen hinein, die Improvisation auf der
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Vgl. die Literatur zusammenfassend W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S.19f. Die anekdotische Mitteilung ab „Einige Stunden ..." hat Trillhaas bei Schweizer abgeschrieben, bei dem allerdings von dem viertelstündigen Rückzug an den Ofen nichts verlautet, vgl. A. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit, S. 90. Nur wenn er ungenügend vorbereitet, aber nachher mit seiner Predigt zufrieden war, teilte er seine Zufriedenheit brieflich mit, vgl. etwa den Brief an H. v. Willich vom 27.11.1808: „Gepredigt hatte ich über den Lobgesang der Maria, recht zu meiner Zufriedenheit, wiewohl ich fast nur die Morgenstunde zur Vorbereitung gehabt hatte. Oft geht es dann am besten, wenn nur nichts vorhanden ist was mich stört..." Briefe II, S. 173.
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Kanzel hielt er für unschicklich. 2 0 Ich zitiere noch einmal die ζ. T. bereits bekannte Passage aus Friedrich Lückes persönlichen Erinnerungen: „Die Predigt entstand in sofern nicht erst auf der Kanzel, als er sie mehrere Tage vorher im Geiste bereits empfangen und bis zum Augenblicke, wo er sie hielt, gleichsam völlig ausgetragen hatte. Aber er schrieb nichts auf, als damals, wo ich mit ihm lebte, Sonnabend Abend Text und Thema, und höchstens noch die einzelnen Theile des letzteren, kurz angedeutet." 21 Zur zweiten Phase der Gottesdienstvorbereitung gehörte wahrscheinlich die Vorbereitung der beweglichen liturgischen Teile, w i e ζ. B. der Gebete, hinzu. D a s dritte Stadium der Predigtpraxis ist schließlich der lebendige Vortrag. M ö g licherweise ging diesem noch ein stilles Meditieren oder in Stimmung versetzen voran, w i e auch Schweizers Mitteilung vermuten läßt, daß Schleiermacher die Samstagsgesellschaft nur versammelte, w e n n er am nächsten Morgen nicht den Frühgottesdienst (7 Uhr), sondern den Hauptgottesdienst (9 Uhr) zu halten und also in den Morgenstunden noch Zeit zum Meditieren hatte. 22 D a s Meditieren beinhaltete wahrscheinlich ein Rekapitulieren der Disposition, w i e Schleiermacher in einem frühen Brief v o m 10.2.1793 an den Vater verrät: „... memorirte auch das ganze Skelett ..." 23 Das morgendliche Memorieren bezeugt er indirekt auch in einem Brief an seine Frau v o m August 1816: „Am Sonntag war ich noch bei der Fischer vor meiner Predigt. Sie schlief gleich wieder ein, aber ich habe nichts mit ihr gesprochen, was nicht wachend auch hätte geschehn können, ich wollte mich nicht zu sehr benehmen fur die Predigt." 24 Schleiermacher gesteht den hohen Konzentrationsaufwand, den das Predigen ihm abverlangte, noch deutlicher z u m Ausdruck gebracht in einem Brief an seine Frau v o m 30.5.1813: „Schreiben konnte ich da nicht mehr an Dich, weil ich doch an meine Predigt denken mußte; aus der ist nicht viel geworden; theils war ich überhaupt zerstreut, theils begegnete mir noch etwas sonderbares in der Sakristei, das ich Dir doch erzählen muß. Ich bekam auf einmal, ich weiß auch nicht durch welche Gedankenverbindung, eine schreckliche Angst davor, daß ich nicht ohne Todesfurcht sterben würde, daß es ordentlich in Beklemmung ausartete und gewiß einen schwächenden Einfluß auf meine Predigt gehabt hat." 25
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S. u. Exkurs IV. 2.1. - In einem Brief an Brinkmann vom 31.5.1805 verrät er den Unterschied von Kanzel und Katheder: „Dieses Vorarbeitens ohnerachtet lasse ich dann auf dem Katheder meinen Gedanken weit freieren Lauf als auf der Kanzel, und so kommt mir manches dort durch Inspiration ..." Briefe IV, S. 113. F. Lücke, Erinnerungen, Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S. 734-813, S. 788f. Lücke lernte Schleiermacher im Jahre 1816 kennen, vgl. ebd., S. 804. Vgl. A. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit, S. 90. Briefe I, S. 105. Schleiermacher als Mensch (hrsg. von H. Meisner), S. 235. Luise Fischer war eine enge Freundin Henriette Schleiermachers. Briefe II, S. 286. Vgl. auch den Brief an seine Frau vom 26.7.1824, vgl. Briefe II, S. 388.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Die hier von Schleiermacher beklagte Zerstreutheit war freilich eine situationsbedingte Ausnahme, denn von der unmittelbaren Wirkung seiner Predigt wurde immer wieder die Klarheit der Gedanken, die auf der fur sein Prosa- und Predigtverständnis wesentlichen Periodenbildung beruhte, gerühmt. Man nehme jede gedruckte Predigt Schleiermachers; ich verweise aus Platzgründen auf den Eingang der Predigt am 18.10.1818 und auf die kunstvolle Verschachtelung der Nebensätze. 26 Schleiermachers Kunst der freien Rede pries eine seiner zahllosen „Anbeterinnen", Lilly Parthey, hier indirekt und etwas wehmütig in einem zeitgeschichtlich interessanten Reisebericht aus Rom, Weihnachten 1824: „Heute war ich zum ersten Mal [...] in unsrer protestantischen Bothschaftskirche auf dem Kapitol [...] Der Gesang ging vorzüglich gut, rein und voll für so wenig Stimmen. Der Prediger Rothe sagte mir weniger zu, so sehr er auch gelobt wird. Er spricht ex tempore und wenn man da nicht ein Schleiermacher ist, läuft es doch selten so ohne Stockungen und Versprechungen ab, und das stört freilich. Es soll ein großer Pietist sein - sie dringen also schon bis Rom!"27 Schleiermachers rhetorische Meisterschaft ging einher mit einer „phrasen- und gebärdenlose[n] Art zu predigen". „Kein äußerer Zauber ging von dem unbewegten, fast kühlen Prediger aus", überliefert Wolfgang Trillhaas. 28 Doch Schleiermacher richtete, wie Alexander Schweizer noch erlebte, die Wahl der Tonart und des Redetempos je nach Situation ein. 29 In den letzten Jahren, insbesondere seit Nathaneis Tod (1829), soll seine Predigt gefühlsbetonter geworden sein. So schreibt etwa Frau Schleiermacher an ihren Sohn Ehrenfried im Juni 1832: „Hegewald's Begräbniß ist so schön gewesen, daß kein Auge trocken geblieben ist. Vater hat so bewegt unter rinnenden Thränen gesprochen, dazu so verklärt ausgesehen, Gesang von jungen Männern aus der Singakademie ausgefuhrtf,] hat die feierliche Handlung begleitet."30
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S. u. Exkurs IV. 1.3. - Rückblickend urteilt sein Schwiegersohn Siegfried Lommatzsch: „Und so umfassend und mannichfaltig sich die Gedankengänge von ihrem Grunde aus in seiner Rede in mächtigen, doch immer durchsichtigem Periodenbau entwickelten, selbst einfache Leute, auf welche das Bild sonst eine größere Wirkung zu üben pflegt, als der Gedanke, wurden von der Kraft seiner Lehre ergriffen." S. Lommatzsch, Festschrift zum 150jährigen Jubiläum der Dreifaltigkeits-Kirche (1889), S. 76f. L. Parthey, Tagebücher aus der Berliner Biedermeierzeit, S. 363. Es handelte sich um den nachmals bekannten Heidelberger Theologen Richard Rothe (1799-1865). - Auch Lücke hat bei Schleiermacher nie erlebt, „daß er sich versprochen oder corrigirt hätte." Ders., Erinnerungen, Theologische Studien und Kritiken 7, S. 789. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 21. Vgl. A. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit, S. 83. Briefe II, S. 461. Es wird auch kolportiert, daß nach Nathaneis Tod „Schleiermacher die Kanzel nie mehr ohne Thränen verließ." F. Lücke, Erinnerungen, Theologische Studien und Kritiken 7, S. 809. Lücke weist diese Beobachtungen als „Unsinn" scharf zurück. Auf Schleiermachers homiletische „Theorie des Ausdrucks" und auf seine Anweisungen zur Mimik kann ich hier nur hinweisen, vgl. PT, S. 286ff., besonders S. 309ff.
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Doch entscheidend für die Anziehungskraft des Predigers Schleiermacher - und darin sind sich auch alle Hörer einig - war die Lebendigkeit und Echtheit des Vortrags, modern ausgedrückt: seine Glaubwürdigkeit. Seinen Studenten gab er lakonisch mit auf den Weg: „Die religiöse Rede muß sich aus der Fülle des religiösen Lebens und Denkens entwikkeln. Wo dieses fehlt, ist die ganze Amtsführung eine Komödie, die ganz anderen Regeln folgen müßte als gegeben worden." 31
In Bezug auf seine eigene Art hatte Schleiermacher Friedrich Lücke anvertraut, daß es „das höchste sey, vor der Gemeinde die Predigt nicht erst durch das Gedächtniß wieder zu erzeugen, wobei von der ursprünglichen Lebendigkeit immer etwas verloren gehe, sondern frisch und neu aus der jedesmaligen Kraft und Fülle des Gemüthes zu sprechen." 32
Daß Schleiermacher aus der Fülle des religiösen Gemütes schöpfen konnte, das bezeugen seine Briefe ebenso wie alle Zeitgenossen, und am deutlichsten spürten es die Gottesdienstbesucher. Man genoß die Beredsamkeit, weil sie nicht Selbstzweck war, sondern Mittel zum Zweck der Erbauung.33 1.3. Rückverweise des Predigers auf gesungene Lieder Die Reaktionen auf Schleiermachers Gottesdienste betreffen in den meisten Fällen seine Predigtkunst. Immerhin erinnerte sich Friedrich Lücke auch an Schleiermachers Liederblätter und erklärte sie wie folgt: „Da er Gesang und Predigt als ein lebendiges Ganzes betrachtete, das damals eingeführte Gesangbuch aber der Anordnung eines solchen Ganzen zum Theil hinderlich war, traf er die Einrichtung, wenigstens für jeden Morgengottesdienst besondere Gesänge drucken zu lassen ,.." 34
Um der Gemeinde sein liturgisches Ideal: der Gottesdienst als lebendiges Ganzes, immer wieder bewußt zu machen, hat Schleiermacher auch explizit auf den Zusammenhang zwischen Predigt und Lied aufmerksam gemacht, gemäß seiner Warnung: „Wenn der Geistliche gar nicht in der Rede auf den Gesang hinweisen könnte, steht es sehr übel."35 Darum verweise ich noch einmal auf den Ein-
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PT(B, 1828), S. 812. Friedrich Lücke, Erinnerungen, Theologische Studien und Kritiken 7, S. 790. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 22, zitiert einen Zeitzeugen, der Schleiermacher mit Hofprediger Theremin verglich: „Wenn er (Theremin) predigte, so sprach er sich gewissermaßen aus. Schleiermacher aber hatte sich, wenn er predigte; er war ein größerer Mensch und darum auch ein größerer Prediger." F. Lücke, Erinnerungen, Theologische Studien und Kritiken 7 (1834), S. 791. Vgl. andere Zeitzeugen dazu bei W. Virmond, Liederblätter, S. 276f., I. Seibt, F. Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch (1998), S. 32f. und vgl. den Erlebnisbericht von Moritz August von Bethmann Hollweg, s. o. Exkurs I., 4. PT(C, 1833), S. 829.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
gang der Predigt am Sonntag Invocavit 1826 36 und führe hier noch zwei weitere Stellen beispielhaft an: Im Frühgottesdienst am Sonntag Invocavit 1823 (16.2.1823) predigte Schleiermacher über Phil 4,4-5. Schleiermacher erklärt die nochmalige Textwahl und fährt fort: „Wenn wir nun, um die verlesenen Worte zu verstehen, nur einen flüchtigen Blikk auf dieselben werfen wollten, so würde es uns vielleicht zunächst scheinen, als ob sie in keiner Verbindung ständen mit dem Inhalt des Gesanges, den wir vorher gesungen haben; denn er handelt von dem Kreuz der Christen in diesem Leben, hier aber in unserm Texte werden wir besonders dazu ermuntert, uns allewege in dem Herrn zu freuen und unsere Lindigkeit kund sein zu lassen allen Menschen, und dies beides scheint eben nicht zusammen zu stimmen. Allein eine nähere Betrachtung ergiebt doch, daß der Apostel bei diesen Worten ganz vorzüglich die Leiden im Sinne gehabt hat." - „Das Zweite aber, was die Freude unsers Herzens an dem Herrn vermindern und vielleicht auf kurze Zeit auslöschen könnte, sind eben die Leiden dieser Zeit, wenn sie unser Gemüth überwältigen. Und wenn wir diese Beziehung festhaltend uns nun den Sinn der folgenden Vorschrift vergegenwärtigen, daß wir unsere Lindigkeit sollen kund sein lassen allen Menschen, so sehen wir, wie die verlesenen Worte wol zusammenstimmen mit dem, woran wir uns in unserm Gesang erbaut haben."37 Am 18. Weinmond (Oktober) 1818, dem fünften Jahrestag der Völkerschlacht zu Leipzig, predigte Schleiermacher über Ps 68,3f. und begann: „Wer mit der Veranlassung unsrer heutigen Feier unbekannt, unseren lezten Gesang gehört hätte, könnte meinen, wir wollten uns mehr anschicken heute einen Tag der Fürbitte zu feiern für eine Zukunft, die uns noch bevorsteht, als, wie es doch wirklich ist, einen Tag dankbarer Erinnerung an jene große göttliche Errettung in der uns nächsten Vergangenheit. Aber, m. Geliebten, können und dürfen wir beides von einander trennen? Jede Fürbitte zu Gott um Segen und Gedeihen für die Zukunft, was sie auch würdiges betreffen möge, sie kann, weil Gottes Wohlthat und Gnade immer früher ist als unser Willen und Entschluß, nur ruhen auf dem innigen Gefühl der Dankbarkeit für das, was wir schon von Ihm empfangen haben."38 Leider wissen wir nicht, welches Lied jeweils vor der Predigt gesungen wurde. Schleiermacher weist beidemale auf den Kontrast zwischen Lied und Predigtthema bzw. -text hin. Bei der Frühpredigt 1823 fallt der Bezug des Liedes auf das Proprium des Sonntags ins Auge, den Beginn der Leidenszeit. „Freud und Leid" werden von Schleiermacher absichtlich konfrontiert; bei den Frühpredigten gab es ja keine langfristig vorbereiteten Liederblätter, so daß die scheinbare Diskrepanz zwischen Lied und Predigt nicht als Panne aufgefaßt werden darf. 36
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S. o. 3.8.4.2. Vgl. auch den Eingang der zweiten Hausstandspredigt über die Ehe (1818), SW II/l, S. 567 und den Eingang der zweiten Hausstandspredigt über die christliche Kinderzucht (1818), ebd. S. 593. Vgl. SW 11/10, S. 737-753, Predigt Nr. XXVI. Die Zitate stehen auf S. 737 und 738, zur Datierung der Predigt vgl. Wichmann von Meding, Schleiermacher-Bibliographie (1992), S. 317. Vgl. SWII/4, Nr. 10,S. 110-119.
Exkurs IV: Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung und -Vollzug
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Der Prediger fühlt und äußert das Bedürfnis, die Beziehung von Text und Thema zum vorher gesungenen Lied bewußt zu machen.39 Beide Zitate demonstrieren, wie selbstverständlich Schleiermacher und seiner Gemeinde der offensichtliche Bezug des Liedes auf die Predigt war, so daß die ausdrückliche Erwähnung nur dann geschah, wenn der Bezug dem Predigthörer dunkel sein mußte und Schleiermacher ein zusammenhangsuchendes Grübeln verhindern wollte. Wenn es sich anbot, konnte Schleiermacher in der Predigt auch vorausweisen auf das heilige Abendmahl.40 Hin- und Rückverweis geschehen in derselben Absicht: der Gemeinde die „Einheit des Cultus", den Zusammenhang alles liturgischen Geschehens bewußt zu machen. 2. Zur Selbstreflexion von Gottesdienstvorbereitung und Predigtstil 2.1. Schleiermachers Anweisungen zur Gottesdienstvorbereitung in der Praktischen Theologie Die hier vorgenommene Voranstellung der Zeugnisse aus Schleiermachers Praxis soll das Eigengewicht der Praxis unterstreichen. Dennoch bleibt die Befragung der Theorie notwendig, um den Reflexionsgehalt der Praxis zu ermitteln. Wenn nun die praktisch-theologische Theorie und Praxis nicht detailliert übereinstimmen, so hängt dies zunächst mit der Eigenständigkeit beider zusammen. Doch die Diskrepanz ist auch theoretisch begründet: In den Vorlesungen zur Praktischen Theologie setzt Schleiermacher Eckpunkte für Vorbereitung und Gestaltung des evangelischen Gottesdienstes, wobei er eine spekulativ-empirische Mischmethode anwendet, d.h. er begründet den evangelischen Gottesdienst zugleich aus seinem Wesen wie aus der historisch gewordenen faktischen Erscheinung. Mit Hilfe dieser Methode zieht er Grenzen und eröffnet dadurch einen Handlungsspielraum, der theologisch in dem paulinisch-reformatorischen Gedanken der Freiheit vom Buchstaben begründet liegt. Dagegen ist die konkrete Praxis stets durch die Entscheidung für einen der vielen theoretisch möglichen Fälle gekennzeichnet. So kann die Erwartung an die Theorie nicht die sein, daß die jeweils ort-, zeit- und personenbedingte Praxis sich in ihr spiegelt, sondern lediglich, daß sie diese Praxis nicht ausschließt, sondern zuläßt. Daß andererseits Schleiermachers Theoriebildung von seiner eigenen Praxis nicht unberührt bleibt, deutet er selbst stichwortartig an: „Schwierig für den Selbstausübenden[,] seine Manier und Methode nicht unvermerkt dem allgemeingültigen unterzuschieben."41 Von daher sei es erlaubt, Schleiermachers Praxis mit seiner Theorie zu konfrontieren und einige Schleiermachers Amtsführung bestätigende Regeln aus seiner liturgischhomiletischen Theorie anzuführen: 39
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Die Überleitung von der „allgemein religiösen Stimmung zu dem besonderen Gegenstande" PT (A), S. 770, ist auch die Funktion des sogenannten Predigteingangs in Schleiermachers Homiletik. Vgl. den Schluß der letztgenannten Predigt, SWII/4, Nr. 10, S. 119. P T ( A ) , S . 761.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Den für meine Hauptthese grundlegenden Zusammenhang von Predigt und Lied für die Vorbereitung des Gottesdienstes hat Schleiermacher programmatisch - und vielleicht auch im Rückblick auf die eigene Verfahrensweise - in einer Vorlesung 1828 ausgesprochen: „Berükksichtigen wir die Composition unseres Cultus in den beiden Hauptbestandteilen des Gesanges und der religiösen Rede. Den Gesang hat der Geistliche zu wählen. Das Ganze soll ein Ganzes sein, ein gewisser Zusammenhang zwischen Gesang und Rede; und soll dieser sein: so muß auch schon bei der Auswahl des Gesanges etwas von der Rede vorschweben, und dieses überlegend müssen wir sagen: Vorausbedenken der Rede schon etwas unvermeidliches."42 Obwohl also die PT-Vorlesungen zur Erklärung der Schleiermacherschen Amtsführung heuristisch unbrauchbar sind, da sie einen lehrhaft-normativen Charakter tragen, zeigte sich, daß Schleiermacher diese Maxime selbst befolgte, indem er die Entscheidung für die zu singenden Lieder frühzeitig traf. Der immer wiederkehrende Grundgedanke dabei ist der Vorrang des Ganzen vor dem Einzelnen. 43 Immer geht die Einheit der Einzelheit voraus, das Ganze den Teilen. Diese Maxime leitet die empirische Gestaltung des Gottesdienstes ebenso wie seine spekulative Begründung: „Indem wir unsere organische Betrachtung des Cultus anstellen, müssen wir ihn als ein Ganzes betrachten in welchem alle Theile nach einer inneren Nothwendigkeit, die hier freilich nur die der Freiheit sein kann zusammengehören. Ein solches ganzes ist ein Organismus, wo die Selbständigkeit des einzelnen und die Einheit des ganzen in solchem Wechselverhältniß stehen daß jedes das andere bedingt und vor,,ΛΛ aussezt. Der landläufigen Meinung, daß Schleiermacher als Prediger völlig spontan gesprochen hätte, zum Trotz und in Übereinstimmung mit der eigenen gewöhnlichen Praxis gebietet er in der PT streng: „Hiemit erscheint es als ganz abgeschmakkt, daß die Rede in Beziehung auf die ganze Folge der Gedanken und in Beziehung auf die Sprachbearbeitung erst im Moment entstehen kann wo sie vorgetragen werden soll, und ist das Extemporiren in diesem Sinn fur etwas ganz unstatthaftes zu erklären." Dementsprechend stellt er über die Predigtvorbereitung folgende Regel auf: „Die Hauptregel ist hier, daß man so zeitig als möglich mit der Conception ins reine komme und die Idee fortwirken lasse."45 Damit konstituiert Schleiermacher verschiedene Stadien der Vorbereitung bzw. eine praktische Schrittfolge der Predigtgestaltung, die in Übereinstimmung steht mit dem Aufriß seiner Predigtlehre in derPT 4 6 : 42 43 44 45
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PT (B, 1828), S. 795f. S.o., 2.2.1. PT, S. 126. PT, S. 274. Vgl. Schleiermachers Theorie der religiösen Rede, PT, S. 201-321 mit den Abschnitten:
Exkurs IV: Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung und -Vollzug
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Die Themen- und Textfindung steht am Anfang der Predigtvorbereitung, wobei Schleiermacher selbst wohl gewöhnlich den Text nach dem Thema auswählte.47 Das Thema eines Gottesdienstes ergibt sich bei den großen Festen von selbst, in festlosen Zeiten aus dem religiösen Leben, das der Prediger im Kreise seiner Gemeinde führt. Schleiermacher spricht sinngemäß vom „Lebensverkehr" des Predigers. Eine geeignete Textwahl wird möglich durch den kontinuierlichen „Schriftverkehr" des Geistlichen.48 Das Thema oder der Gegenstand der Predigt wird auch als die objektive Einheit der Predigt, der Text als deren subjektive Seite, bezeichnet.49 Hat der Prediger sein Thema gefunden, so taucht er damit in den Alltag ein und läßt „die Idee fortwirken", so daß „alles was ihn afficirt ihn religiös afficirt."50 Schleiermacher gibt der unwillkürlichen vor der absichtlichen Meditation den Vorzug51, d. h. das Leben und Erleben des Predigers geht unmittelbar in seine Predigtvorbereitung ein. Die Meditation führt zur Disposition, die als Leitfaden dient, und aus der die einzelnen Einfalle und Gedanken entspringen.52 Im letzten Vorbereitungsstadium wird für die Gedanken Sprache gesucht, und der Prediger bereitet „den musikalischen und mimischen" Vortrag der Predigt vor.53 Die genannten Vorbereitungsstadien entsprechen - cum grano salis - dem von Schleiermacher selbst praktizierten Verfahren und den Produktionsphasen eines Kunstwerkes.54 2.2. Zur Eigentümlichkeit von Schleiermachers Predigtstil Es ist noch kurz auf einen möglichen Einwand des modernen Lesers der Schleiermacherschen Predigten einzugehen: Heute gelesen wirken viele Predigten abstrakt, trocken, lebensfern. Wie ist Schleiermachers Erfolg als Prediger, und wie ist sein eigentümlicher Predigtstil zu erklären? Zunächst verstand Schleiermacher seine Predigten ausdrücklich nicht als Lesepredigten.55 Die dem Leser
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so 51
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Einleitung - Von der Einheit der religiösen Rede - Theorie der Disposition - Von der Erfindung oder der Production der einzelnen Gedanken, die zusammen die Rede bilden Theorie des Ausdrukkes. Zum Verhältnis von Text und Thema als Ellipse, vgl. PT, S. 233. Vgl. PT, S. 240f. Vgl. PT, S. 235. Die Kategorie der „Einheit" erlaubt es dem Prediger, frühzeitig ein Lied auszuwählen, bevor die Ausarbeitung der Predigt stattfindet. Zum Beispiel eines Themas, vgl. PT (B, 1828), S. 806. PT, S. 205. PT, S. 278. Die Abfolge kann auch umgekehrt sein. Jedenfalls gehören Disposition und Erfindung zum Akt der Meditation, vgl. PT (A), S. 768. Vgl. PT, S. 309-321. S . o . 2.3.1.1. Schleiermacher hat dem Druck seiner Predigten nur widerwillig und wegen der großen Nachfrage zugestimmt. An seine Schwägerin Charlotte von Kathen schreibt er am 9.8.1824, nachdem sie ihm geistliche Gedichte zugeschickt hatte: „Eigentlich bin ich immer gegen das Drucken von Predigten, weil sie eben überhaupt - und von den meinigen
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
bemerkliche Trockenheit wurde offensichtlich durch den oben angedeuteten lebendigen Vortrag, von dessen Erlebnis der Leser ausgeschlossen ist56 und durch die Bewunderung für die Redekunst Schleiermachers ausgeglichen. Selbst Friedrich Lücke gesteht in seinem sonst fast hymnischen Epilog: „Wurde man nicht durch die Gedanken übermäßig gefesselt, so hatte man oft Gelegenheit zu bewundem, wie er, bei seinem eigenthümlichen Style zu verwickelten Perioden geneigt, auch in den verwickeltsten in jedem Augenblicke das rechte Wort fand und den Faden nie verlor, der ihn sicher zum Ausgange führte."57 Die Bewunderung muß um so größer sein, als sich Schleiermachers Rede einer „klassischen" und sehr abstrakten Sprache bediente, wenn gleich sich darin stets die konkrete Erfahrung andeutete. Diese andeutungsweise Rede entsprach dem ästhetischen Geschmack der Zeit. Es ist ein bewußt verhüllendes Sprechen, das die Konkretion scheut, sie jedenfalls nicht expliziert und sie dem Hörer überläßt. Schleiermacher begründet diese verhüllende Rede u. a. mit der Phantasie des Hörers: „Die wahre Exemplification ist also im Zuhörer."58 So sehr die Predigthörer intellektuell als Zuhörer gefordert waren, so sehr wurde doch auch ihr konkretisierendes Mitdenken erwartet. Daneben mag es auch einen willkommenen Unterhaltungseffekt gehabt haben, Andeutungen zu erraten.59 Die Predigt stellt sich dar als ein rhetorisches Kunstwerk. Der Kunst aber eignet - Schleiermachers Kunsttheorie zufolge - Gemessenheit, alle unkontrollierte Leidenschaftlichkeit ist ihr fremd.60 Zumal da es sich um ein religiöses
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gilt das noch ganz besonders - nur zum Hören eingerichtet sind ..." Briefe II, S. 399. Vgl. auch die Vorrede zur dritten Sammlung (1814) in SW II/l, S. 373. - Daß dennoch das Lesen Schleiermacherscher Predigten gleichsam ein Akt häuslicher Religiosität und familiärer Geselligkeit war, bezeugt Lilly Parthey in ihrem Tagebuch vom 8.2.1824: „8.2. Sonntag. Als Klein kam, etablirten wir uns hinten bei mir, was sehr hübsch war, und lasen die erste Predigt von Schleiermacher über die Ehe, was noch hübscher war." L. Parthey, Tagebücher, S. 327. Schweizer zitiert aus Schleiermachers PT-Vorlesung: „Denn der Gedanke drückt sich aus in der Rede, die Gemüthsstimmung aber in der Bewegung, sowohl der körperlichen Gestalt als der Stimme; sofern also das religiöse Bewußtseyn Gedanke ist, theilt es sich mit durch die Rede, sofern es aber Gemüthsbewegung ist, durch Gebehrden und Betonung." A. Schweizer, Schleiermachers Wirksamkeit (1834), S. 65. F. Lücke, Erinnerungen, Theologische Studien und Kritiken 7, S. 789. PT, S. 772. Beilage A. Zu Begriff und Kategorie des „Klassischen" im Gottesdienst, vgl. PT, S. 166. So berichtet Schleiermacher in einem Brief an seine Schwägerin Charlotte von Kathen vom 27.12.1810 über die Geburt seiner ersten Tochter und über seinen Gottesdienst am ersten Weihnachtstag: „Liebste Schwester, das langersehnte schöne Glück ist nun da, und wie herrlich ist es gekommen! [...] Ich hatte am ersten Feiertag Vormittag zu predigen. Mir war immer bange gewesen, ich könnte durch diese Begebenheit gestört werden - mit wie frischem, frohem, von der Sache tiefdurchdrungenem Herzen konnte ich nun reden, und nach der Predigt für die Entbindung danken. Letzteres ist eigentlich bei uns nicht gewöhnlich; aber ich konnte mich nicht enthalten; ich hatte das Bedürfniß um Weisheit und Verstand zu bitten, und andre dazu mit mir zu vereinigen. Viele riethen auch aus der Art, wie ich es that, das müßte wohl meine Frau sein." Briefe II, S. 249. Die von Schleiermacher meisterhaft beherrschte Periodenbildung begünstigt den ruhigen
Exkurs IV: Schleiermachers Gottesdienstvorbereitung und -Vollzug
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Kunstwerk handelt, gilt das Postulat der Keuschheit im Stil, das Schmuckelemente weitgehend ausschließt. Lediglich Fragesätze lockern die Strenge der Satzkonstruktionen gelegentlich auf.61 Schleiermacher spricht keine eigentlich biblische Sprache, auch Trillhaas registriert eine „Neigung zur schönen Form". 62 Orientalische Redundanz und Bildhaftigkeit ist seiner gleichsam klassizistischen Sprachbehandlung fremd. Er selbst bezeichnet seinen Predigtstil als eine „gewissenhafte antike Bibelbenuzungsweise".63 Schleiermacher versteht darunter eine integrative Schriftverwendung, die das explizite Zitat meidet und dadurch eine - wie oben schon bemerkt - assoziative Wirkung auslöst.64 Schleiermachers Sparsamkeit mit Schriftzitaten, Bildern und Beispielen war schon zu seinen Lebzeiten aufgefallen.65 Der Schmucklosigkeit der Predigt liegt neben der ästhetischen und theologischen auch eine psychologische Überlegung zu Grunde. Es geht Schleiermacher um die Ermöglichung und Förderung der Konzentration der Hörer auf den Inhalt der Rede. Schleiermacher wußte, daß das konzentrierte Zuhören eine Kunst ist, die geübt werden muß.66 Mit Hilfe großer Allgemeinheit glaubte er eine heterogen zusammengesetzte Gemeinde kon-zentrieren, um ein Zentrum sammeln zu können, während Beispiele und Bilder doch immer nur einige ansprechen würden und einen Zerstreuungseffekt hätten. Bei aller Verschiedenheit war den unter Schleiermachers Kanzel Versammelten doch eines gemeinsam: sie fühlten sich als Gebildete und waren es wohl auch. In einer Beurteilung aus dem Jahre 1813 weist der Superintendent Gillet hin auf Schleiermachers „ganz eigenes Publikum, [...] aus Gebildeten und Gelehrten oder solchen Zuhörern bestehend, die keine andere Kirche besuchen."67 Diese auserlesene Gemeinde war Schlei-
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Vortrag, da sie eine ganz bewußte Atmung erfordert, vgl. Schleiermacher, Ueber homiletische Kritik, SW1/5, S. 472. Vgl. zum Stil der Schleiermacherschen Predigten auch K. W. Rhenius, Schleiermachers Predigtweise, S. 68. W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 26. Brief an Gaß vom 29.10.1814, Briefwechsel mit Gaß, S. 119. Vgl. PT (A), S. 773: „Es kann eine Rede sehr biblisch sein ohne eine einzige Anführung, aber so daß dem Hörer selbst Stellen einfallen." Vgl. auch PT, S. 807f.; 830 u. ö. Vgl. Sacks Kritik, der in Schleiermachers Predigt die „biblische Sprachbildung" vermißt und eine „Vernachlässigung des Alten Testaments" dafür verantwortlich macht, vgl. F. Lücke, Erinnerungen, Theologische Studien und Kritiken 7, S. 788. - Zur Schmucklosigkeit vgl. S. Lommatzsch, Festschrift, S. 76f.: „Man hat sich wohl nicht selten verwundert darüber ausgesprochen, daß seine Rede einen so mächtigen Eindruck machte, da sie doch im Grunde jedes rhetorischen Schmucks entbehrt habe. Selten führte er Liederverse oder Sprichwörter an, und äußerst sparsam war er in der Anwendung von Bildern. Aber gerade die großartige Einfachheit der Form trug zur Wirkung seiner Predigt wesentlich bei. Schleiermacher war, wie er selbst wußte, kein Dichter, sondern ein Denker. Solche Produkte der Phantasie hätte er nur wie ein fremdes Eigentum verwenden können." So bemerkt Schleiermacher schon im Gutachten von 1804: „Das verständige Anhören eines zusammenhängenden Vortrags aber, so daß das ganze richtig aufgefaßt und das einzelne in Beziehung auf jenes richtig verstanden wird, ist wahrlich keine kleine Kunst und erfordert nicht wenig Uebung." SW 1/5, S. 111. Geheimes Staatsarchiv (GStA) Provinz Brandenburg, Rep. 40, Nr. 887, zitiert nach
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ermacher bestrebt, in ihrer eigenen Sprache anzusprechen, in der das Bild lediglich als Verstehensstütze für die Unverständigen galt. Zwar dürfe es - Schleiermacher zufolge - als Darstellungsmittel in keiner Predigt fehlen, aber es bliebe doch Mittel und könne niemals Zweck werden, eine Auffassung, die mit seiner idealistischen Philosophie und einem platonischen Spiritualismus zusammenhängt, nach der sich das Wahre nur im Allgemeinen zeigt. Dieser Platonismus ist von der Predigt Jesu her theologisch zu hinterfragen: Muß das Wahre allgemein sein? Sind Jesu Predigten begrifflich und allgemein? Sind sie nicht anschaulich und konkret? Schleiermacher verfolgt schließlich eine pädagogische Absicht, die mit seinem Erbauungsbegriff zusammenhängt. Der Prediger hat die Aufgabe, die Gemeinde abzuholen, zu sammeln und zu erheben, d. h. für Schleiermacher: in die Welt der Gedanken. „Wir muthen der religiösen Mittheilung zu, daß sie dazu beitragen soll das Volk auf jenes allgemeinere Gebiet zu versezen; wir haben eine zwiefache Function, welche sich in der Thätigkeit des Religionslehrers findet: die eine, daß er sich herabläßt; die andere, daß er die Masse seiner Zuhörer erhebt; beide repräsentirt in der Mittheilung."68 Zu der dem Prediger kraft seiner wissenschaftlichen Bildung eigenen Fertigkeit, einem Zusammenhang folgen zu können, „hat er seine Zuhörer zu erheben."69 Das stilistische Mittel der prosaischen Sprache, mit dem der Zusammenhang zwischen Gedanken und Sätzen hergestellt wird, ist die Periode. Und Schleiermacher warnt vor „unvorbereiteten Uebergängen und Wendungen welche die Möglichkeit des Zusammenhanges stören, vor allzugroßen Ungleichheiten des Tons und Styls in der Rede, welche zwar einen bunten Schmukk bilden, wodurch aber die edle Haltung und Ruhe die unsern Reden wesentlich ist[J verloren geht."70
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A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer (1992), S. 138. - Bekannt ist auch Schleiermachers Bild aus dem Brief an Brinkmann vom 29.3.1808: „Bunter ist überhaupt kein Fischzug als mein kirchliches Auditorium: Herrnhuter, Juden, getaufte und ungetaufte, junge Philosophen und Philologen, elegante Damen, und das schöne Bild des heiligen Antonius muß mir immer vorschweben; indeß hoffe ich etwas muß doch hie und da angeregt werden." Briefe IV, S. 156. Und in einem Brief an Henriette von Willich vom 12.3.1809 heißt es: „Du und die Herz schreibt mir Beide, daß die Predigt aber die Ungebildeten nicht würden verstanden haben. Glaubt Ihr denn, daß die Ungebildeten die anderen Predigten, die gedruckt sind, würden verstehen? Du wirst aber auch fast gar keine Ungebildete in meiner Kirche sehn, sondern immer eine kleine aber erlesene Versammlung. Auf der anderen Seite aber weiß ich auch, daß einige ganz einfache Bürger, die sehr fleißig kommen, mich sehr gut verstehen, und die haben gewiß auch diese verstanden." Briefe II, S. 232. PT, S. 121f. PT, S. 123. Ueber homiletische Kritik (1821), SW1/5, S. 474. Schleiermachers Versuch über homiletische Kritik ist interessant, weil er nicht Kriterien aufstellt, sondern die Individualität des Predigers in den Mittelpunkt stellt. Predigenlernen könne man besser von den Meistern als von den Lehrern!
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Die Akzentuierung des sprachlichen Zusammenhangs durch Periodenbildung hat schließlich zu tun mit Schleiermachers Liturgik, die Poesie und Prosa, Bildund Begriffssprache zuordnet und verteilt auf Lied und Predigt: „nun bewegt sich der Gesang ja eben in Bildern, die Rede weit mehr in Formeln." 71 Darum empfiehlt Schleiermacher, das jeweilige Sprachniveau der konkreten Gemeinde anzupassen. Je nach Zusammensetzung der Gemeinde soll sowohl das Verhältnis der verschiedenen Sprachelemente zueinander bestimmt werden - j e „ungebildeter" eine Gemeinde, um so mehr Gesang hat sie nötig! - als auch die Sprachform selbst: „Die ganze Masse ist es an welche der Cultus sich richtet und von welcher die Composition aufgenommen werden soll; in dem Gebiet welches schon Eigenthum der Masse ist muß der Kern liegen, und das ist das vollständige, so daß die Masse mit Leichtigkeit aufnehmen kann."72 Diese Passage bezieht sich zuallererst auf die Predigt. „So ist das religiöse Sprachgebiet zu organisiren, daß es immer localgerecht sei und daß bei allen Localdifferenzen die Beziehung auf das gemeinsame Fundament die Hauptsache sei. Der Geistliche repräsentirt zugleich das Gebiet der Kunst und der Wissenschaft [...] Im wissenschaftlichen liegt zugleich die Fertigkeit[,] einem jeden gegebenen Zusammenhang einer Rede zu folgen; dies können wir auch bei der gebildeten Klasse nicht annehmen. Der Geistliche ist sich bestimmt seiner Fertigkeit bewußt, zu dieser hat er seine Zuhörer zu erheben."73 Schleiermacher konnte seiner Dreifaltigkeitsgemeinde eine stärker abstrakte Sprache zumuten, und er wollte diese Fähigkeit weiter ausbilden, seine Sprache war also das „localgerechte" Idiom. Daneben äußerte sich gerade darin die ganz außerordentliche persönliche „Fertigkeit" des Predigers, denn mittels des Sprachcharakters in der „religiösen Rede" „soll das unmittelbar religiöse Bewußtsein des redenden zur Anschauung gebracht werden." 74 Indem Schleiermachers Predigtstil den Ansprüchen seiner Hörer entsprach, da der Prediger einen hohen Grad an intellektuellem Auffassungsvermögen voraussetzen konnte, wählte er eine betont prosaische Sprache und kam damit zugleich seinem ästhetischem Ideal des Gottesdienstes nahe, demzufolge sich die verschiedenen Teile tendenziell auf die beiden Sprachformen der Poesie und Prosa verteilen, wobei das Lied als Repräsentant der poetischen und die Predigt als Repräsentantin der prosaischen Sprache erscheint.
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PT, S. 215. PT, S. 120. PT, S. 122f. - Die Reflexion der Erwartungen wie der Verstehenskapazitäten der Hörer wurde zuerst von der Aufklärungsliturgik geleistet, in deren Tradition Schleiermacher steht, vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes, S. 29Iff. Die Neigung zu abstraktem Argumentieren und das gänzliche Fehlen anschaulicher Beispiele charakterisierte auch die Predigten des berühmten Aufklärungsprediger, des Dresdner Oberhofpredigers Franz Volkmar Reinhard (1753-1812), vgl. E. Winkler, in: Handbuch der Predigt, S. 596ff. PT, S. 124f.
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3. Der Festgottesdienst in der liturgischen Praxis
Dieses lokalgerechte Idiom wirkt unanschaulich. Zwar lag Schleiermacher an Aktualität und engagierter Zeitgenossenschaft, doch wollte seine Predigt kein publizistischer Beitrag aus religiöser Sicht sein, sondern ein Beitrag zur Erbauung der Gläubigen.75 Wir sehen wiederum, wie der Inhalt die Form prägt. Das religiöse Bewußtsein soll auferbaut und den alltäglichen Stimmungsschwankungen enthoben werden. Dabei wollte Schleiermacher seine Gemeinde nicht in eine religiöse Überwelt entfuhren, sondern sie in die jedem zugängliche geistige Sphäre fuhren, von der aus sie für das Alltagsleben gestärkt und bereichert würde.
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Zur „Anwendung der Politik auf der Kanzel", vgl. PT, S. 209-212. „Das politische ist etwas fremdartiges und muß eine untergeordnete Stelle in der Rede einnehmen und kann als Veranlassung zu einer anderweitigen Betrachtung angesehen werden." PT, S. 209. - Trotzdem wurden Schleiermachers eigene Predigten, zumal in politisch bewegten Zeiten, als außerordentlich brisant empfunden, vgl. seinen Brief an De Wette vom Sommer 1823, Briefe IV, S. 309 und die Vorrede zur zweiten Auflage der dritten Predigtsammlung (1821), SW II/l, S. 374. Auch Trillhaas sieht die politische Brisanz von Schleiermachers Predigt: „Von da ab [seit den patriotischen Predigten, also ca. seit 1810] reißt die Bezugnahme auf die äußeren Lebensverhältnisse in Schleiermachers Predigten nicht mehr ab." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 26.
3.9. Der Gottesdienst am zweiten Pfingsttag 1826 (15.5.1826) 3.9.1. Einleitung Der Agendenstreit verschärfte sich im Frühjahr 1826 weiter. König Friedrich Wilhelm III. stilisierte die Angelegenheit gleichsam zur Gretchenfrage hoch, so daß sich Schleiermacher bei seinem Schwager Ernst Moritz Arndt darüber beschwerte, daß „die Königliche Gnade ein für alle Mal an die Annahme der Liturgie gebunden ist."1 Schleiermacher war entschlossen zu kämpfen und sogar seine berufliche Stellung zu riskieren. So schreibt er an seinen Stiefsohn Ehrenfried von Willich im Frühsommer 1826: „Von mir selbst weiß ich Dir nur zu sagen, was Du schon weißt. Es fehlt nicht an Verdrießlichkeiten, j a an bedenklichen Krisen, in den kirchlichen und UniversitätsVerhältnissen, und Du mußt immer an die Möglichkeit denken, daß ich meine dermalige Stellung nicht so lange, bis Du auf der gewöhnlichen juristischen Laufbahn versorgt bist, festhalten kann. Ich wünschte dies sehr, aber es können Umstände kommen, wo dergleichen Rücksichten nicht genommen werden dürfen." 2
Für Schleiermacher stand mit der Agendenfreiheit auch die Union auf dem Spiel. Am 1.4.1826 schreibt er an Arndt: „In den kirchlichen Dingen weiß man zwar nicht recht, was ihnen und was dem König zuzuschreiben ist, indeß ist in diesem Fall die Servilität ungeheuer. Jetzt ist wieder eine Verordnung unterweges in Sachen der Liturgie, wodurch, wenn die vorläufigen Nachrichten nicht ganz falsch sind, die Union eigentlich indirect wieder aufgehoben wird. Könnt' ich irgend mir verdienen mich von diesem Volk zu trennen, das mir lange Weile macht! 3 Gegen mich ist nach der Anfrage, ob ich wirklich Verfasser des Pacificus Sincerus sei, und meiner unbefangenen Antwort nichts weiter erfolgt." 4
Offenbar griff der Agendenstreit auch auf die Gesangbuch-Commission über, so daß Schleiermacher im Brief an Gaß vom 18.6.1826 klagt: „Die faulste Stelle in meinem Leben ist jezt die Gesangbuchscommission. — und sind mir nachgerade so, daß ich mich schäme mit ihnen zusammen zu sein und ein Stück Brod mit ihnen zu essen." 5
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Vgl. den undatierten Brief in: Briefe II, S. 405. Zum Agendenstreit vgl. auch 3.8.1. Briefe II, S. 412. In einem Brief an Gaß vom Frühjahr 1826 berichtet Schleiermacher von Repressalien durch den Bischof Eylert und Polizeipräsident Kampz. Inzwischen war Schleiermacher als Pacificus Sincerus enttarnt worden. Vgl. Briefe IV, S. 34Iff. Zu diesem Goethewort, das Schleiermacher gern zitierte, vgl. Brief an Lücke vom 30.8.1825, Briefe IV, S. 336. Schleiermacher als Mensch, hrsg. von H. Meisner (1923), S. 340. Ähnlich im Brief an Gaß vom 18.6.1826, Briefe IV, S. 346. Zum Verlauf des Agendenstreits und zum Protest der zwölf Berliner Geistlichen vgl. A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer (1992), S. 171-219. Briefe IV, S. 347. Im Briefmanuskript stehen die Namen: Ribbeck, Ritsehl und Küster,
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Über die Pfingsttage 1826 berichtet Schleiermachers Frau in einem Brief vom 23.5.1826 an Sohn Ehrenfried: „Laß Dir nun erzählen, wie es uns ergangen ist. Nachdem der liebe Vater den Sonnabend vor Pfingsten einige 50 Kinder eingesegnet, mit der Herzensbewegung, die Du dabei an ihm kennst, beide Festtage außerordentlich starke Communion gehabt, so daß er sehr angegriffen war und einer kleinen Stärkung durchaus bedurfte, wanderte er den zweiten Feiertag Nachmittags mit Forstner."6 Insgesamt zeugen die Briefe aus dieser Zeit von vielfältigen beruflichen und persönlichen Aufgaben und Belastungen7, die Schleiermacher aber mit Frische und Streitlust anging. 3.9.2. Das Lied „Vor dem Gebet" Das Lied „Es jauchzet froh die Christenheit" stammt von Karl August Döring (1783-1844) und steht in seinem „Christlichen Haus-Gesangbuch" von 1821 unter der Nr. 132.8 Für die GBC war es von Wilmsen im März 1824 bearbeitet worden.9 Nachdem dieser das Lied unter dem Incipit „Dir jauchzet froh die
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vgl. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 121. - Außerdem stritt man über die Rubrizierung, wozu Schleiermacher im Herbst 1826 einen Traktat verfassen würde. Vgl. GBC-Akten J.I.12., Bl. l-2v, s. u. Anhang 8). Der Traktat ist undatiert, aber aus dem Kontext geht eine Entstehungszeit im Herbst 1826 hervor. Am 4. August 1826 schrieb Schleiermacher an Groos: „Mit unserm Gesangbuch das ist leider eine noch ziemlich weit aussehende Geschichte, vielleicht werden wir nächstes Frühjahr mit der wirklichen Bearbeitung sämmtlicher ausgewählter Lieder fertig, aber dann soll noch eine lezte Revision vorgenommen werden und dann die Anordnung festgestellt. Das erstere ist wol nöthig zumal wir Anfangs in manchen Punkten nicht so streng waren als späterhin. Das andere wird sehr schwierig sein; mir wenigstens ist noch kein Schema bekannt, das nicht große Unbequemlichkeiten darböte ..." Briefe IV, S. 355. Briefe II, S. 406. Die Einsegnung fand am Samstag vor Exaudí, am 6.5.1826, statt. - Im Brief vom 6.6.1826 erfahren wir, daß Frau Schleiermacher den Pfingstmontagsgottesdienst nicht besucht hat: „Von unsrem Pfingstfest kann ich Dir nicht viel erhebliches sagen. Vater hat recht schön und erquicklich gepredigt den ersten Tag. Abends waren wir bei Reimer's, wo ich mir viel vom alten Göthe erzählen ließ durch Herrn Frommann aus Jena. Den zweiten Feiertag hörte ich Goßner im Brüdersaal, der mit einem hinreißenden Feuer sprach. Der Mann übt eine große Gewalt über mein Herz." Ebd., S. 410. Im Sommersemester 1826 las Schleiermacher Pädagogik, Praktische Theologie und im Neuen Testament Paulusbriefe (Thessalonicher und Galater), jeweils fUnfmal wöchentlich, vgl. W. Virmond, Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge, in: New Athenaeum, Vol. III, 1992. Karl August Döring, Christliches Hausgesangbuch, Elberfeld 1821. Ein hinter dem Text stehendes „+" weist lt. Vorwort daraufhin, daß es sich um eines der „gänzlich umgearbeiteten - in welchen vielleicht kaum noch ein Gedanke oder Ausdruck beibehalten worden" - Lieder handelt. Die Vorlage des Liedes habe ich noch nicht ermitteln können. In der zweiten Auflage dieses Gesangbuchs von 1825 erscheint das Lied unter dem Incipit „Dank, Dank für so viel göttlich Licht" (Nr. 111) in einer stark veränderten 3-strophigen Fassung, die sich auf die hier verhandelten Bearbeitungen nicht ausgewirkt hat. - Vgl. das Liedblatt L 260 für den zweiten Pfingsttag 1826, s. u. Anhang 11). Vgl. Protokoll vom 25.3.1824, J.I.10, Bl. 47, s. u. Anhang 9).
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
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Christenheit" am 21.10.1824 ins Magazin abgeliefert hatte10, übernahm es Schleiermacher sogleich auf sein Liedblatt am Pfingstsonntag 1825. Im BG steht es unter Nr. 261. Schleiermacher muß die Lieder Dörings geschätzt haben. Die GBC nahm acht seiner Lieder auf, von denen Schleiermacher eines selbst bearbeitete.11 Döring hat im Vorwort zur zweiten Auflage des christlichen Hausgesangbuches Schleiermacher für dessen Wohlwollen ausdrücklich gedankt: „Die gütige Aufnahme, welche das christliche Hausgesangbuch in seiner ersten, so unvollkommenen Gestalt gefunden, hat den Verfasser angenehm überrascht. Mehrere Lieder sind bereits in andere Sammlungen übergegangen, in Kirchen, Bildungsanstalten, Privat-Versammlungen und häuslichen Kreisen gesungen, von kindlichfrommen Seelen, so wie von Männern, wie Schleiermacher und Dräseke, mit Wohlwollen und Wohlgefallen aufgenommen, und von vielen Andern mit Nutzen gebraucht." 12
Die oben beschriebene Terminkonstellation läßt vermuten, daß Schleiermacher Pfingsten auf die von Wilmsen besorgte und von der GBC autorisierte Textversion zurückgriff, als er das Lied 1825 und 1826 auf die Liederblätter setzte. Die Tabelle auf der nächsten Doppelseite beinhaltet neben dem Quellen- und dem BG-Text die Liedblattfassungen von Pfingsten 1825 und 1826.
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GBC-Protokolle J.I.10, Bl. 52v, s. u. Anhang 9). BG, Nr. 231 : „Jesus lebt, Jesus lebt." Aus dem Vorwort vom 16.5.1825, in: Karl August Döring, Christliches Hausgesangbuch, zweite ganz umgearbeitete Auflage, Elberfeld 1825.
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
Κ. A. Döring, Christliches HausGesangbuch (1821), Nr. 132
Liedblatt L 230, Am ersten Pfingsttage 1825
Mei. Wie schön leuchtet etc. 1. Es jauchzet froh die Christenheit Dein Lob, du Geist der Herrlichkeit, Du Leben aller Geister! Den uns der Sohn von Gott gesandt, Hier in des Todes Vaterland, Zum Tröster, Führer, Meister; Der sich herrlich frommen Seelen Will vermählen, reich an Gnade: Herr, erleucht' auch unsre Pfade!
Nach dem Gebet Mei. Wie schön leuchtet etc. Heut jauchzet froh die Christenheit Dem Geist der Kraft und Herrlichkeit, Der Geister wahrem Leben, Der uns vom Vater ist gesandt Als unsers Erbes Unterpfand, Zum Tröster uns gegeben. Jesu Glieder soll er führen Und regieren; Seine Gnade Leit auch uns auf rechtem Pfade.
2. Im Sturmwind brauste deine Macht; Da hast du göttlich angefacht Die Schaar, die an dich glaubte. O welch ein Himmelstag war da, An dem man deine Flammen sah Hell Uber jedem Haupte! Heil uns! Heil uns! du im Feuer Warst Erfreuer, aller Sprachen Predigten vom Seligmachen.
O welch ein großer Tag erschien, Als man die Flammen sah erglühn Hell Uber jedem Haupte! Im Sturmwind that der Geist sich kund, Sein Zeugniß heiligte den Bund Der Schaar, die freudig glaubte. Mächtig kam er um die Schwachen Stark zu machen; Und erklungen Ist das Heil in allen Zungen.
3. O Dank fllr so viel göttlich Licht, Das jede Finsterniß durchbricht, Für himmlische Belebung! Den Menschenherzen, alt und jung Schaffst Kräfte du zur Heiligung, Zu stiller Gottergebung. Preis dir, dank dir, daß du kräftig Und geschäftig, Uns belehrest, Jesum Christum uns verklärest!
Dank sei dir Gott filr so viel Licht, Das jede Finsterniß durchbricht Mit himmlischer Belebung. In gläub'gen Herzen alt und jung Wohnt rege Kraft zur Heiligung Und rechter Gottergebung. Preis dir, daß dein Geist so kräftig Und geschäftig Uns belehret, Jesum Christum uns verkläret.
4. Wir sind mit dir getauft; o bleib Bei Christi Volk! und mächtig treib Zum Guten Gottes Kinder! O wirk' in Allen Kraft und Zucht! O wirke tausendfache Frucht! Gieb Kraft der Ueberwinder! Zur Ruh hilf du einst im Sterben Gottes Erben, daß sie droben Ewig dich, den Tröster, loben.
Auch wir, die Christus sich erkauft, Sind mit des Geistes Kraft getauft Die Welt zu überwinden. Er wirk' in Allen Lieb' und Zucht, Daß sich des Glaubens schöne Frucht In Allen möge finden, Gnädig helf er Gottes Erben Auch im Sterben, Daß sie droben Ewig Gottes Wunder loben.
5. O strahlt' erst rings der Erde Kreis Im Licht! O brächten Ruhm und Preis Dir alle Nationen! Wir beugen unsern Geist vor dir, Geist Gottes, Alle flehen wir: Komm, Licht, bei uns zu wohnen! Wahrheit, Klarheit allem Volke! Jede Wolke sey zertheilet! Jede Seele sey geheilet!
Wir beugen, Vater, uns vor dir; Laß deinen Geist, so flehen wir, Beständig bei uns bleiben! Stets geh er aus in alle Welt, Damit von deinem Licht erhellt Die Völker alle gläuben. Führe gnädig sie zur Wahrheit Und zur Klarheit, Daß die Erde Ganz dein heiiger Tempel werde.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
Liedblatt L 260, Am zweiten Pfingsttage 1826 Vor dem Gebet Mei. Wie schön leucht 7 uns etc. Dir jauchzet froh die Christenheit, Du Geist voll Kraft und Herrlichkeit, Du aller Geister Leben! Als unsers Heiles Unterpfand Bist du vom Vater uns gesandt, Zum Tröster uns gegeben. Jesu Glieder willst du führen Und regieren; Deine Gnade Leit auch uns auf unserm Pfade.
Berliner Gesangbuch (1829) Nr. 261
Mei Wie schön leucht Ί uns etc. Dir jauchzet froh die Christenheit, du, Geist der Kraft und Herrlichkeit, du aller Geister Leben. Als unsers Erbes Unterpfand bist du vom Vater ausgesandt, zum Tröster uns gegeben. Jesu Glieder wirst du führen und regieren; deine Gnade leit' auch uns auf unserm Pfade. 2 . 0 welch ein großer Tag erschien, als man die Flammen sah erglühn hell Uber jedem Haupte! Im Sturmwind thatest du dich kund; dein Zeugniß heiligte den Bund der Schaar, die freudig glaubte. Mächtig kamst du, um die Schwachen stark zu machen und erklungen ist das Heil in allen Zungen.
O Dank dir für dein göttlich Licht, Das jede Finsterniß durchbricht, Für himmlische Belebung! Den Menschenherzen kommt von dir Zur Heiligung Kraft und Begier, Und wahre Gottergebung. Preis dir, Dank dir, daß du kräftig Und geschäftig Uns belehrest, Jesum Christum uns verklärest.
3. O Dank fllr so viel göttlich Licht, das jede Finsterniß durchbricht, für himmlische Belebung! Den Menschenherzen, alt und jung, schaffst Kräfte du zur Heiligung, zu stiller Gottergebung. Preis dir, Dank dir, daß du kräftig und geschäftig uns belehrest, Jesum Christum uns verklärest!
Auch wir, die Christus sich erkauft, Sind ja mit deiner Kraft getauft, Die Welt zu überwinden. Wirk in uns allen Lieb und Zucht, Und laß in uns des Glaubens Frucht Sich hundertfältig finden! Führ du alle bald zur Wahrheit Und zur Klarheit, Daß die Erde, Geist des Herrn, dein Tempel werde!
4. Auch wir, die Christus sich erkauft, wir sind mit deiner Kraft getauft, die Welt zu überwinden. Wirk' in uns Allen Lieb' und Zucht und laß in uns des Glaubens Frucht sich hundertfältig finden. Gnädig hilf du Gottes Erben einst im Sterben, daß sie droben ewig deine Wunder loben. 5. Wir beugen unsern Geist vor dir, Geist Gottes, Alle flehen wir; du wollest bei uns bleiben. Geh' ferner aus in alle Welt, damit, von deinem Licht erhellt, die Völker alle gläuben. Führe gnädig sie zur Wahrheit und zur Klarheit, daß die Erde, Geist des Herrn, dein Tempel werde.
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
Wie ist die Verschiedenheit der drei Bearbeitungsfassungen zu erklären? Die wesentlichste Abweichung weist die Textversion von 1825 auf, in der die Anrede des Geistes durchgängig beseitigt worden ist.13 Dagegen sind die Differenzen zwischen der Liedblatt-Fassung von 1826 und der BG-Fassung geringfügiger 14 : In der Kopfstrophe wird der Geist „als unser Heiles Unterpfand" bei Schleiermacher konkreter. Die Erzählstrophe „Im Sturmwind brauste deine Macht" fehlt. Die dritte Strophe (zweite Liedblatt-Strophe) konkretisiert das Thema der Heiligung: Der Geist wirkt „Kraft u n d B e g i e r " zur Heiligung; damit wird ein magisches Verständnis ausgeschlossen. Aus der stillen bzw. rechten wird die „wahre Gottergebung". Schließlich sind die beiden letzten zu einer Strophe verschmolzen, wodurch Schleiermacher das Sterbethema eliminiert und den pfingstlich-„gnostischen" Abschluß: „Führ du alle bald zur Wahrheit und zur Klarheit" wie auch die paulinische Metapher aus IKor 6,19 des Liedes beibehalten hat. Die universalistische Bitte „Führ du a l l e bald zur Wahrheit" ist sinngemäß dem Original entlehnt: „Jede Seele sei geheilet!" Resultat ist ein dreistrophiges Preislied auf den Heiligen Geist von dogmatischer Fülle, ohne ausdrückliche Gliederung. Doch betont die Kopfstrophe die schöpfungstheologische („Du aller Geister Leben") und soteriologische (des „Heiles Unterpfand"), Strophe 2 die ethische, schließlich die Schlußstrophe die sakramentarische und eschatologische Dimension des Geistes. Die Beziehung des Geistes auf Christus wird in allen drei Strophen thematisiert. Neben seiner Wertschätzung für Versmaß und Melodie von „Wie schön leuchtet der Morgenstern" dürfte Schleiermacher das Interesse an der zeitgenössischen Kirchenlieddichtung bewogen haben, den Festgottesdienst mit diesem Lied zu eröffnen, das er durch die GBC kennengelernt hatte. Seine Mitarbeit in diesem Gremium erweiterte seine Liedkenntnisse und die seiner Gemeinde beträchtlich.
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Wilmsen lieferte das Lied unter dem Incipit „Dir jauchzet froh die Christenheit" ab, so kann diese Änderung nicht von ihm stammen. Sie geht auf Schleiermachers eigene Redaktionstätigkeit zurück. Da Schleiermacher ein Jahr später keine Bedenken trug, im gleichen Lied den Geist anzusprechen, kann er keine grundsätzlichen dogmatischen Einwände gehabt haben. Man muß den Sachverhalt also liturgisch erklären. Im Pfingstgottesdienst 1825 gibt es keine Kirchenmusik. Durch Schleiermachers Ablehnung der Lektion fällt dem Hauptlied die Funktion zu, die Pfingstgeschichte zu rekapitulieren, was besonders die beiden Anfangsstrophen tun. Zugleich fuhrt das Lied zur Predigt über Rom 8, Μ Ι 6 hin und Schleiermacher nimmt in der letzten Strophe das Thema der Kindschaft auf und vorweg: „Wir beugen, Vater, uns vor dir". Nachschriften der Pfingstpredigt von 1825 befinden sich im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter). In der GBC-Sitzung am 26.3.1829 wurden die Pfingstlieder revidiert. Das Döringsche Lied ist nicht erwähnt. Vgl. GBC-Protokolle J.I.9 Vol. II, Bl. 134, s. u. Anhang 9). So darf man vorsichtig annehmen, daß BG, Nr. 261 die Wilmsensche Bearbeitung bewahrt.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
451
3.9.3. Lied und Musik „Nach dem Gebet" 3.9.3.1. Die Strophe „Ihr Christen rühmt, erhebt und preiset" Die Kirchenmusik wird eröffnet mit der ersten Strophe des Liedes „Ihr Christen rühmt, erhebt und preiset" (in der folgenden doppelseitigen Tabelle steht die Liedblattstrophe in Spalte 3). Der Verfasser war damals unbekannt.15 In der GBC war das Lied 1820 verhandelt worden. Am 29.6.1820 protokolliert Wilmsen: „Hr. Spilleke trug vor IHR CHRISTEN RÜHMT ERHEBT UND PREISET welches nur im Frankfurt am Mainschen Gesangbuch steht. (Mei. die Tugend wird durchs Kreuz p. oder: Wie groß ist des Allmächtgen) Nach zweistündiger Berathung und Beurtheilung mit mehreren Veränderungen angenommen."16 Nachdem Spilleke das Lied erst am 14.2.1822 abgeliefert hatte, brachte Schleiermacher es sogleich Pfingstsonntag 1822 als Eingangslied in einer vierstrophigen Version, Pfingstmontag 1824 als Hauptlied und gleichsam als Gerüst für die Kirchenmusik (Spalte 2) und schließlich am ersten Pfingsttag 1825 die fünfte Strophe des Liedes als Schlußvers. Unter der Nr. 272 kam das Lied ins BG 1829 (Spalte 4).
15 16
Inzwischen hat I. Seibt, Schleiermacher und das BG, S. 264, den Autor ermittelt: J. C. Ziegier (1692-1731). GBC-Protokolle J.I.13, Bl. 39v, s. u. Anhang 9). Die möglichen Melodien werden eigens erwähnt, weil das Lied im Quellengesangbuch auf die Melodie des 66. Psalms des Lobwasserpsalters gesungen werden sollte. Das ist die Melodie von „Jauchzt alle Lande Gott zu Ehren", die in Berlin offenbar unbekannt war. Dagegen kennt Porst die Melodie „Die Tugend wird durchs Kreuz" (Nr. 467) und Mylius die Melodie „Wie groß ist des Allmächt'gen Güte" (Nr 293). Das Frankfurter Gesangbuch konnte ich noch nicht sicher identifizieren, vielleicht ist gemeint: Neu-vollständiges Evangelisch-Reformirtes KirchenGesangbuch, Frankfurt 1744, Nr. 224, vorhanden in der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Sign.: Gü 6668. - Unten zitiere ich das Lied nach: Neu verbessertes Kirchen-Gesang-Buch, in sich haltend die Psalmen Davids, nach D. Ambras. Lobwassers Übersetzung, Frankfurt am Mayn 1753, Nr. 135.
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
Neu verbessertes Kirchen-Gesang-Buch Frankfurt a. M. 1753, Nr. 135 Lobpreisung der herrlichen Wiirckungen des Geistes. Mei. des 66. Psalms Ihr Christen! Rühmt, erhebt und preiset Mit hertz und geist, mit seel und mund, Die gnade, die der Herr erweiset In seinem neu und ew'gen bund. Er gibt und theilt bey vollen strömen Den Geist der krafft und kindschaft aus, Die menschen wieder zu bequemen Zu seinem heiigen tempel-haus. 2. Der Heyland gießt auf seine glieder Das salbungs-öl, die feuertauff; Bringt die zerstreuten seelen wieder Aus der verwirrungswelt zu häuf: VerknUpfft sie in sein liebes-netze, Mit und in ihm ein geist zu seyn, Und schreibt die himmelreichs-gesetze Mit krafft und brunst in sie hinein. 3. Auf! Auf, ihr hertzen, auf, ihr zungen! Verkündigt Gottes hohen rühm; Sein name wird allstets besungen Von seinem heiigen eigenthum: O daß ein Geist des lebens wehe! Und was nur athem hat erfüll; Daß alle weit die wunder sehe, Die Gott in Christo schaffen will. 4. So laßt uns doch die pfingsten halten Im Geist und nicht im fleisches-sinn! Verbleiben wir allzeit im alten, Wo bleibt dann unser heyls-gewinn? Wir müssen neu gebohren werden, Daß Christi Geist auch in uns leb, Und unser sinn schon hier auf erden Durch himmlisch thun im himmel schweb. 5. Ach Jesu! Schenck uns armen Sündern Des Geistes gnad und lebens-krafft; Mach uns zu Gottes wahren kindern, Theilhaftig deiner eigenschafft! Ach! zünde deine reine liebe In unser aller seelen an; Und schaffe, daß mit heiigem triebe, Was lebt dich ewig loben kann.
Liedblatt L 201 Am zweiten Pfmgsttag 1824 Mei. Die Tugend wird etc. Ihr Christen rühmt, erhebt und preiset Aus Einem Herzen, einem Mund, Die Gnade, die der Herr erweiset In seinem neuen ewgen Bund. Er tränkt mit Himmelskraft die Seelen, Und gießt den Geist der Kindschaft aus; Zum Tempel will er sie erwählen, Und weihet sie zum Gotteshaus. Der Heiland strömt auf seine Glieder Das Salbungsöl, die Feuertauf, Bringt die zerstreuten Seelen wieder Aus der verworrnen Welt zu Häuf. Er schreibt des Himmelreichs Geseze Mit Gotteskraft den Seelen ein, Und schlingt um sie der Liebe Neze, Mit ihm Ein Geist und Leib zu sein. Auf, auf ihr Herzen und ihr Zungen, Verkündigt Gottes hohen Ruhm! Sein Name werde stets besungen, In seinem heiigen Eigenthum. O daß ein Geist des Lebens wehe, Und was nur Athem hat erfüll'; Daß alle Welt die Wunder sehe, Die Gott in Christo schaffen will! Im Geiste laßt uns Pfingsten halten, Geheiligt werde unser Sinn! Denn ließen wir die Sünde walten, Wo bliebe dann des Heils Gewinn? Wir müssen neu geboren werden, Daß Christi Geist auch in uns leb', Und unser Sinn schon hier auf Erden Durch himmlisch Thun zum Himmel schweb. Laß, Jesu nichts in uns vermindern Des Glaubens hohe Zuversicht; O mach uns ganz zu Gottes Kindern Durch deines Geistes Kraft und Licht! O zünde deine reine Liebe In unser aller Seelen an, Und schaffe, daß mit heiigem Triebe, Was lebt, dich ewig lieben kann.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
453
Liedblatt L 260 Am zweiten Pfingsttag 1826
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 212
Mei. Die Tugend wird etc.
Mei. Die Tugend wird durch 's etc.
Ihr Christen rühmt, erhebt und preiset Aus Einem Herzen Einem Mund Die Gnade, die der Herr erweiset, In seinem neuen ewgen Bund. Er tränkt mit Himmelskraft die Seelen, Und gießt den Geist der Kindschaft aus; Zum Tempel will er sie erwählen, Und weihet sie zu Gottes Haus.
Ihr Christen, rühmt, erhebt und preiset aus einem Herzen, einem Mund, die Gnade, die der Herr erweiset in seinem neuen ew'gen Bund. Er tränkt mit Himmelskraft die Seelen, und gießt den Geist der Kindschaft aus; zum Tempel will er sie erwählen, und weihen sie zum Gotteshaus. 2. Der Heiland strömt auf seine Glieder das Salbungsöl, die Feuertauf, bringt die zerstreuten Seelen wieder aus der verworrnen Welt zu Häuf; schlingt um sie seiner Liebe Netze, mit ihm ein Geist und Leib zu seyn, und schreibt des Himmelreichs Gesetze mit Gottes Kraft in sie hinein. 3. Auf, auf, ihr Herzen und ihr Zungen, verkündigt Gottes hohen Ruhm! sein Name werde stets besungen, von seinem heil'gen Eigenthum. O daß ein Geist des Lebens wehe, und, was nur Athem hat, erfUll'; daß alle Welt die Wunder sehe, die Gott in Christo schaffen will! 4. Im Geiste laßt uns Pfingsten halten, geheiligt werde unser Sinn. Denn ließ't ihr noch die Sünde walten, wo bliebe dann des Heils Gewinn? Nur das heißt neu geboren werden, wenn Christi Geist auch in uns lebt und unser Sinn, schon hier auf Erden, durch himmlisch Thun zum Himmel schwebt. 5. Laß, Jesu, nichts in uns vermindern des Glaubens hohe Zuversicht; o mach' uns ganz zu Gottes Kindern durch deines Geistes Kraft und Licht. Ach zUnde deine reine Liebe in unser Aller Herzen an, und schaffe, daß mit heil'gem Triebe, was lebt, dich ewig lieben kann!
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
Dem Protokoll ist über die Redaktion des Liedes im Detail zwar nichts zu entnehmen, aber interessant scheint mir folgendes: Die häufige Wahl des Liedes (Pfingsten 1822, 1824, 1825, 1826) läßt auf Schleiermachers Wertschätzung für Lied und Bearbeitung schließen. Nun zeigen aber die Daten an, daß Schleiermacher das Lied auf den Liederblättern erst brachte, nachdem es der zuständige GBC-Redakteur, Spilleke, in Reinschrift abgeliefert hatte. Da das Lied nur im reformierten Frankfurter Gesangbuch stand, aus dem Spilleke vorzuschlagen hatte, war Schleiermacher auf dessen Bearbeitung regelrecht angewiesen. So deutet der Redaktionsprozeß dieses Liedes darauf hin, daß sich Schleiermacher die Arbeiten seiner Kollegen bzw. die Ergebnisse der gemeinschaftlichen Redaktion nutzbar machte. Im vorliegenden Fall hat er kaum in den von der GBC bestätigten Wortlaut der ersten Strophe (vgl. BG, Nr. 272) eingegriffen. Die Textänderungen Spillekes gegenüber der Originalfassung im Frankfurter Gesangbuch sind in der ersten Strophenhälfte rein stilistischer Natur (Beseitigung der Pleonasmen), die zweite Strophenhälfte bringt eine paulinische Verdichtung des Gedankens. Die Übereinstimmung zwischen der Liedblattfassung von 1824 und der BG-Version erkläre ich so, daß im BG die von Spilleke im Februar 1822 abgelieferte Textfassung vorliegt, auf die Schleiermacher seit 1822 regelmäßig zurückgreifen konnte. Kleine Abweichungen wie z.B. in der vierten Strophe sind auf den spezifischen liturgischen Ort zurückzuführen. 17 Diese Abänderungen beweisen zugleich, daß Schleiermacher ein Lied nie mechanisch übernahm, sondern stets den liturgischen Kontext beachtete, in den eine Liedstrophe zu stehen kam. Das Lied fordert die Christen zu Lob und Preis auf, und zwar gut uniert „aus Einem Herzen, Einem Mund". Die termini „Bund" und „erwählen" bezeichnen in der reformierten Tradition zentrale dogmatische Topoi.18 Die zweite Strophenhälfte spielt auf die Geistverleihung in der Taufe an. Für Schleiermachers Liedwahl dürfte der in Vers 6 enthaltene paulinische Gedanke vom Geist der Gotteskindschaft ausschlaggebend gewesen sein, der von der nachfolgenden Motette aufgenommen wird. 3.9.3.2. Die Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit a u f Beim Lesen des Musiktextes wird man unwillkürlich an die Bach-Motette „Der Geist hilft unsrer Schwachheit a u f (BWV 226) erinnert.19 Die Werke Johann Sebastian Bachs wurden, seitdem Zelter das Direktorat der Singakademie 1800 übernommen hatte, fleißig geprobt. Im Jahre 1803 erschienen die Bachmotetten 17
18
19
Nach der Aufforderung des Chores: „Wandelt wie die Kinder des Lichts" muß die anschließende Gemeindestrophe in der inklusiven Wir-Form (IV,3: „Denn l i e ß e n w i r die Sünde walten") bleiben. Zu der von Zwingli und Bullinger entwickelten und von Calvin und Coccejus weiterentwickelten Bundestheologie vgl. J. F. Gerhard Goeters, Art. Föderaltheologie, in TRE Bd. 11 (1983), S. 246-252. Zu Calvins Prädestinationslehre vgl. R. Seeberg, Lehrbuch der Dogmengeschichte Bd. IV/2, S. 578ff. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke (NBA), Motetten, Serie III, Band 1, Hrsg. K. Ameln, Leipzig 1965, S. 39ff.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
455
bei Breitkopf & Härtel erstmals im Druck, herausgegeben vom damaligen Leipziger Thomaskantor Johann Gottfried Schicht. Hier im Textvergleich diese damals gebräuchliche Ausgabe mit dem Liedblatt-Text: Joh. Seb. Bach 's Motetten in Partitur, Hrsg. Jo-
Liedblatt L 260, Am zweiten Pfingsttage 1826
hann Gottfried Schicht, Leipzig 1803. Motetto VI.
Kirchenmusik „Nach dem Gebet"
Andante con moto. 3/8. 8 Stimmen Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sichs gebühret. Fuge. Allegro non tanto. 4/4. 8 Stimmen Sondern der Geist veitritt uns aufs beste mit unaussprechlichen Seufzen. Allabreve. 4 Stimmen Der aber die Herzen erforschet weiss, was des Geistes Sinn sey, denn er vertritt die Heiligen nach dem es Gott gefället. Corale. 4 Stimmen Lass freudiger Geist, voll Vertraun in Noth auf deine Hulf uns schaun, lehr uns, wenn wir zum Vater treten, mit ganzer Zuversicht beten! Mach uns durch deine Kraft bereit, zum Sterben und zur Ewigkeit! dass wir, als deine Streiter ringen, zu dir durch Tod und Leben dringen. Halleluja! Halleluja! 20
Chor Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf; denn wir wissen nicht, was wir beten sollen wie sichs gebühret. Zwei Stimmen Der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen. Chor Der aber die Herzen erforschet, der weiß, was des Geistes Sinn sei; denn er vertritt die Heiligen, nach dem es Gott gefällt. Choral Ο send auch uns ihn, diesen Geist, Der uns den Weg der Wahrheit weist. Verdunkelt ist des Lebens Pfad, Er mach ihn hell durch seine Gnad; Er lehr uns Gottes Heil verstehn, Er leit uns, wenn wir irre gehn. Und wenn wir straucheln [un] d ermüden, Dann stärk er uns mit Kraft hienieden. Hallelujah, Hallelujah.
Kann es sich hier um die Bach-Motette handeln? Ich will Pro- und KontraArgumente kurz gegenüberstellen. Zunächst die Einwände21: - Bei Bach heißt der zweite Satz „ S o n d e r n der Geist selbst ..." Auf dem Liedblatt fehlt die Konjunktion „sondern". - Der zweite Satz ist bei Bach kein Duett („Zwei Stimmen"), sondern eine doppelchörige, überwiegend fünfstimmige Fuge. - Der Chor „Der aber die Herzen er-forschet" heißt im Urtext nur: „Der aber die Herzen forschet". - Die Choralstrophe heißt bei Bach: „Du heilige Brunst, süßer Trost" und bei Schicht: „Laß freudiger Geist voll Vertraun". - Wir haben keine Sekundärzeugnisse zur Kirchenmusik in diesem Gottesdienst. Aber dafür - und damit gegen die Einwände - spricht: - Druckfehler und Auslassungen begegnen häufig auf den Liederblättern.22 - Besetzungsangabe und Text könnten korrekt sein und ein umgearbeitetes 20 21 22
Bei Bach lautet der Schlußchoral „Du heilige Brunst, süßer Trost...", die dritte Strophe aus Luthers Pfingstlied „Komm, heiliger Geist, Herr Gott", vgl. N B A 111,1, S. 74. Auf einige der nachfolgenden Indizien wies mich freundlicherweise der Bachforscher Alfred Dürr hin. Z. B. im folgenden Choral das fehlende -un- in Vers 7. Auf dem Liedblatt L 19, 14. Sonntag nach Trinitatis 1817 fehlt in Strophe 2 des Liedes „Zeuch ein zu meinen Thoren" sogar ein ganzer Vers, s. u. 3.9.3.3.
456
3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
oder gänzlich fremdes Stück bezeichnen, das als Mittelteil in die Bachmotette eingeschoben wurde.23 - Die Erweiterung „Der aber die Herzen er-forschet" findet sich bereits in der von Schicht 1803 herausgegebenen und auch in Berlin rezipierten Druckausgabe der Bachmotetten.24 - Die Choralstrophe „O send auch uns ihn diesen Geist" steht im Versmaß von Luthers „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott". Die Ausgabe von Schicht zeigt, daß der Choraltext variabel war. - Die Bachmotetten gehörten in der Zelter-Ära zum ständigen Repertoire der Singakademie.25
23
24 25
Von der J. S. Bach zugeschriebenen - tatsächlich aber von Graun stammenden - Weihnachtsmotette „Kündlich groß ist das gottselige Geheimnis" (BWV Anh. III 161) wissen wir, daß Zelter sie umarbeitete und fremde Stücke einfügte. Vgl. W. Schmieder (Hrsg.), Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von J. S. Bach (1990 2 ), S. 877. Vgl. die übernächste Anmerkung. Das Präfix er- ließ sich auf dem vierten Viertel im dritten Takt des Themas anstelle der Ligatur Her-zen problemlos unterbringen, vgl. Johann Sebastian Bach, NBA 111,1, S. 60. Über die Bachpflege der Singakademie unter Carl Friedrich Zelter berichtet Georg Schünemann, Die Singakademie zu Berlin. 1791-1941 : „Zunächst nahm er die Motetten Bachs wieder auf, ,Singet dem Herrn' (1804, 1805) und .Fürchte dich nicht' (1806). Hinzu kamen die Bach zugeschriebene Weihnachtsmotette .Kündlich groß', die er für Doppelchor unter Einschaltung anderer Stücke eingerichtet hatte, und ,Jesu meine Freude'." (S. 27). „Die Motetten wurden unermüdlich weiter studiert: [...] ,Der Geist hilft' in den Jahren 1810, 1811, 1812, 1816, [...] die bearbeitete Motette .Kündlich groß' kam in jedem Jahre heran." (S. 43). „Für die Gesamtproben liegen die Anwesenheitslisten geschlossen vor. Aus ihnen sieht man, wie die Motetten Bachs Jahr für Jahr, und nicht nur in Proben, sondern auch öffentlich in der Marien-Kirche gesungen wurden." (S. 49). Über Zelters Texteingriffe in Bachs Werke erfahren wir: „Sein Bleistift und seine rote Tinte setzen erst in den Kirchenstücken ein, in den Kantaten und Passionen. Hier rauft er sich um jedes Wort, jede Zeile und versucht der Zeit anzugleichen, was ihm wunderlich, fremd, altvaterisch dünkt. Er schreckt nicht davor zurück, seine Eintragungen unmittelbar in Bachs Handschriften einzuzeichnen." (S. 48). Auf Zelters Eingriffe in Musik und Text der Bachschen Kirchenmusik geht Schünemann ausfuhrlicher ein in seinem Aufsatz „Die Bachpflege der Berliner Singakademie", Bach-Jahrbuch 25/1928, S. 138-171. Schünemann, dem für seine Recherchen noch das im Krieg verlorene und jetzt wiederentdeckte Archiv der Singakademie zu Verfugung stand, weist die Probentermine der Motette BWV 226 seit 1817 (Bis 1816 reichen Zelters Tagebücher) nach: 14.1.1817, 22.11.1818, 30.10.1821, 4.12. 1821, 9.7.1822, Jan. 1823, ebd. S. 151f. Und Schünemann fährt fort: „Sonst wurden die Motetten zur Freude aller Mitglieder weiter studiert. Es würde zu weit führen, die Daten auch weiterhin aufzuzählen, denn Jahr fur Jahr kamen die genannten Motetten heran, einige, wie ,Ich lasse dich nicht', nicht weniger als 19mal in den Jahren 1824-28 [...] Den Geburtstag Bachs feierte Zelter auf seine Art: er ließ die Motetten ,Der Geist hilft', .Singet dem Herrn' und .Fürchte dich nicht' ,zu Ehren des heutigen Tages 21. Merz' 1825 auffuhren", ebd. S. 152. Auf S. 154ff. bringt Schünemann zahlreiche Beispiele für Zelters „Korrekturen" in Bachs Kantaten und Passionen. So hat Zelter ζ. B. in der Johannespassion die als anstößig empfundenen Koloraturen in der Arie „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten" gestrichen, was in der Konsequenz auch zu folgender Textänderung führte: „Ich folge dir Jesu, mein Heiland mit Freude", ebd., S. 154.
3.9. Der zweite Pfmgsttag 1826
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Zugunsten der Bachmotette spricht schließlich die blockartige Geschlossenheit der vorliegenden Kirchenmusik, die in dieser Form ganz selten begegnet, und die auf ein besonders kompaktes Werk hinweist. Die Erfahrungen mit den Schleiermacher-Rex'sehen Kirchenmusiken warnen davor, unsere modernen Maßstäbe der Werktreue an die damalige Aufführungspraxis anzulegen und so die Möglichkeit einer Aufführung der Bachmotette generell auszuschließen. Falls wir es mit diesem Werk zu tun haben - denn was sollte es sonst sein? gibt es für den fraglichen Mittelteil zwei Möglichkeiten: Entweder es handelt sich bei dem Duett um die Herausdestillation des musikalischen Extrakts der Bachschen Musik und seine Verteilung auf zwei Stimmen. Oder es handelt sich um den Einschub eines fremden Stücks - was wahrscheinlicher ist, wenn das „sondern" wirklich fehlt.26 Der affektvolle Mittelteil könnte etwa als zu naturalistisch empfunden worden sein. Daß man solche Eingriffe ohne schlechtes Gewissen vornahm, zeigen viele Beispiele aus dem kulturellen Kontext. Ja, vorausgesetzt es liegt im Kern Bachs Motette BWV 226 vor - Schleiermacher, Rex und die ausführenden Sänger werden stolz der Meinung gewesen sein, den „alten Bach" zeitgemäß aufgeführt zu haben.27 Die die Motette abschließende Choralstrophe „O send auch uns ihn diesen Geist" auf die Melodie von Luthers „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott" stammt aus dem Pfingstlied von C. C. Sturm (1740-1786) „Sei Welterlöser, sei gepreist". Schleiermacher wird es dem Jauerschen Gesangbuch entnommen haben. Bereits auf Liederblättern früherer Jahre taucht das Lied auf: Pfingstsonntag o. J. (vor 1817, Liedblatt H 118), Pfingstsonntag 1819 (H 119) und Pfingstmontag 1820 (H 125). Für die GBC hatte Ritsehl das Lied bearbeitet, am 20.5.1824 trug er es vor, eine Woche später wurde es abgeliefert.28 Auf der folgenden Synopse sind die Textfassungen des Jauerschen Gesangbuchs, des Liedblattes L 260 (15.5.1826) und des BG verglichen:
26 27
28
Beide Möglichkeiten wurden mir ausdrücklich auch von dem Bachforscher Christoph Wolff bestätigt. Vgl. die vorvorige Anmerkung. - Vgl. auch Zelters Brief an Goethe vom 5.4.-14.4.1827. „Der alte Bach ist mit aller Originalität ein Sohn seines Landes und seiner Zeit und hat dem Einflüsse der Franzosen, namentlich des Couperin nicht entgehn können. Man will sich auch wohl gefällig erweisen, und so entsteht - was nicht besteht. Dies Fremde kann man ihm aber abnehmen wie einen dünnen Schaum und der lichte Gehalt liegt unmittelbar darunter. So habe ich mir fur mich allein, manche seiner Kirchenstücke zugerichtet und das Herz sagt mir, der alte Bach nickt mir zu, wie der gute Haydn: Ja, ja so hab' ichs gewollt!" J. W. Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, Bd. 20.1. (1799-1827), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm u. a., München 1991, S. 992. Vgl. GBC-Akte J.I.10., Bl. 49, s. u. Anhang 9).
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
Jauersches Gesangbuch (1813), Nr. 317
Liedblatt L 260, Am 2. Pfingsttag 1826
Rom 8,26.27 [Dankend und dann bittend] Mei. Komm heiliger Geist etc.
Ach! dunkel sind des Lebens Pfade: erleuchte sie durch deine Gnade! Er lehr' uns Gottes Heil verstehn, er leit' uns, wenn wir irre gehn; und wenn wir straucheln und ermüden, dann stärk' er uns mit Kraft hienieden. Halleluja! Halleluja! 4. Hier, in dem Heiligthum des Herrn, hier warten deiner, Geist des Herrn, wir Christen, unsers Hauptes Glieder, komm segensvoll auf uns hernieder! Hilf uns, gib dem Verstände Licht, dem Herzen Muth und Zuversicht, daß uns von ihm, den wir bekennen, hier weder Glück noch Leiden trennen! Halleluja! Halleluja! 5. O leit' uns Herr, an deiner Hand hinauf ins wahre Vaterland! Entreiß uns mächtig dem Verderben: erhalt' uns gläubig, bis wir sterben! Dann stärke in des Todes Schmerz das schwache freudenleere Herz, daß wir voll Muth zum Himmel dringen, und so den letzten Sieg erringen! Halleluja! Halleluja! Sturm
(1829),
Mel Komm, heiliger Geist etc. O Welterlöser, sey gepreist, du sandtest uns den heil'gen Geist, der uns in alle Wahrheit leite und uns zum Himmel zubereite. Er schenket uns zum Guten Kraft, stärkt uns auf unsrer Pilgerschaft, hilft uns den Lauf zum Ziel vollbringen und einst des Lebens Krön' erTingen. Hallelujah, Hallelujah! 2. Die Schaar der Boten wagt den Streit, durch deines Geistes Kraft erneut, kämpft gegen falscher Götter Heere, siegt durch die Wahrheit deiner Lehre. Gewaltig geht des Lebens Wort bis an der Erde Grenzen fort, erleuchtet alle Nationen, dringt von den Hütten zu den Thronen. Hallelujah, Hallelujah!
Sei, Welterlöser, sei gepreist! Du sandtest uns den theuren Geist, der uns in alle Wahrheit leite, und uns zum Himmel zubereite. Er schenket uns zum Guten Kraft, stärkt uns, in dieser Pilgerschaft den Lauf zum Ziele zu vollbringen, und einst die Krone zu erringen. Halleluja! Halleluja! 2. Durch deines Geistes Kraft erfreut, wagt deiner Boten Schaar den Streit, kämpft gegen falscher Götter Heere, siegt durch die Wahrheit deiner Lehre. Voll innrer Stärke ging ihr Wort Bis an der Erde Gränzen fort, erleuchtete die Nationen, und drang von Hutten zu den Thronen. Halleluja! Halleluja! 3. 0 ! send' ihn auch zu uns den Geist, der uns den Weg der Wahrheit weist!
Berliner Gesangbuch Nr. 284
Choral. 0 send auch uns ihn, diesen Geist, Der uns den Weg der Wahrheit weist. Verdunkelt ist des Lebens Pfad, Er mach ihn hell durch seine Gnad; Er lehr uns Gottes Heil verstehn, Er leit uns, wenn wir irre gehn. Und wenn wir straucheln und ermüden, Dann stärk er uns mit Kraft hienieden. Hallelujah, Hallelujah.
3. Zu uns auch send' ihn, deinen Geist, der uns den Weg der Wahrheit weist; sind dunkel unsers Lebens Pfade, erleucht' er sie durch deine Gnade. Er lehr' uns Gottes Heil verstehn; Er leit' uns, wenn wir itTe gehn, und sind wir in Gefahr, zu fallen, lehr' er uns festen Schrittes wallen. Hallelujah, Hallelujah! 4. Wo wir vereint sind vor dem Herrn, Geist Gottes, sey von uns nicht fern! Auf uns, die wir sind Christi Glieder, komm deine SegensfUll' hernieder. Gieb dem Verstände helles Licht, dem Herzen feste Zuversicht, daß uns von dem, den wir bekennen, nie weder Glück noch Leiden trennen. Hallelujah, Hallelujah! 5. Geöffnet ist dir unser Herz, zeuch ein und lenk' es himmelwärts. Wir wollen nimmer widerstreben, regiere unser ganzes Leben; und endet sich einst unsre Bahn, dann nimm dich unsrer Schwachheit an, daß wir in Christo freudig sterben, mit ihm das Himmelreich ererben. Hallelujah, Hallelujah!
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
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In der hier interessierenden dritten Strophe des Liedes fallt nur eine scheinbar belanglose Änderung auf: Sie betrifft die Verse drei und vier: „Verdunkelt ist des Lebens Pfad, Er mach ihn hell durch seine Gnad." Durch den Ausdruck „Er mach ihn hell durch seine Gnad" statt „Erleuchte sie" bzw. „Erleucht' er sie durch deine Gnade" bleibt der Geist alleiniges Subjekt und damit auch Gnadenspender („seine Gnad"). Im Vergleich wirkt Schleiermachers Version thetischer, Ritschis dagegen flüssiger durch die Voranstellung des Nebensatzes „sind dunkel..." Die Apostrophierung von Gnade (Vers 4) hat noch einen weiteren Grund: Die männlichen Endungen „Pfad-Gnad" lassen sich besser singen und entsprechen dem Strophenschema der „Urstrophe" „Komm, heiliger Geist, Herre Gott", die in den Versen drei und vier ebenfalls männliche Endungen („Sinn-ihn") hat, die sich dem melodischen Verlauf besser fugen als die weiblichen Endungen in den Lutherstrophen. In den Versen 7 und 8 ist Schleiermacher Sturm gefolgt, während Ritsehl ein neues Reimpaar bildet: fallen-wallen. Stofflich beinhaltet die Strophe die an den Vater gerichtete Bitte um den Geist, seine Wegweisung und Stärkung. 3.9.3.3. Das Lied „Der Geist, der uns belehret" Auf die Motette folgen zwei Strophen des Liedes „Zeuch ein zu deinen Thoren" von Paul Gerhardt. Für die GBC hatte sich Marot im August 1822 mit dem Lied befaßt. 29 Schleiermacher hatte aus dem Lied bereits an einem Pfingstsonntag vor 1817 (H 118)30 und am 14. Sonntag nach Trinitatis 1817 (L 19) singen lassen. Diese Textfassung gebe ich dem Textvergleich auf den folgenden Doppelseiten neben der Version des alten Breslauer Gesangbuchs als eines möglichen Quellen-Gesangbuchs bei:
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Vgl. GBC-Akte J.I.10, BI. 27 und 27v, s. u. Anhang 9). Welche Quelle Marot benutzt hat, ist unbekannt, mit Sicherheit ein „altes Gesangbuch", ζ. B. Porst (Nr. 186) oder das Breslauer Gesangbuch (1773, Nr. 713). Der Schlußvers „Zeuch ein zu deinen Thoren Bei deiner Christenheit" scheint lediglich von dem Paul Gerhardt-Lied inspiriert. Er erweist sich als Kombination der ersten und der vierten Strophe des Liedes nach dem Jauerschen Gesangbuch, Nr. 331.
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
Breslauer Gesangbuch (1745/73), Nr. 713 Mei. Von Gott will ich nicht lassen. Oder: Was willt du dich betr. Zeuch ein zu deinen Thoren, sey meines Herzens Gast, der du, da ich gebohren, mich neu gebohren hast, o hochgelobter Geist Des Vaters und des Sohnes, Mit beyden gleichen Thrones, mit beyden gleich gepreist! 2. Zeuch ein, laß mich empfinden Und schmecken deine Kraft, die Kraft, die uns von Sünden Hiilf und Errettung schafft. Entsünd'ge meinen Sinn, Daß ich mit reinem Geiste Dir Ehr und Dienste leiste, die ich dir schuldig bin. 3. Ich war ein wilder Reben, du hast mich gut gemacht; Der Tod durchdrang mein Leben, du hast ihn umgebracht Und in der Tauf erstickt, als wie in einer Fluthe, Mit dessen Tod und Bluthe, Der uns im Tod erquickt. 4. Du bist das heiige Oele, Damit gesalbet ist Mein Geist und meine Seele Dem Herren Jesu Christ Zum wahren Eigenthum, Zum Priester und Propheten, Zum König, den in Nöthen Gott schützt im Heiligthum. 5. Du bist ein Geist, der lehret, Wie man recht bethen soll, Dein Bethen wird erhöret, Dein Singen klinget wohl; Es steigt zum Himmel an, Es steigt und läßt nicht abe, Bis der geholfen habe, Der allen helfen kann. 6. Du bist ein Geist der Freuden, Vom Trauren hältst du nicht; erleuchtest uns im Leiden Mit deines Trostes Licht. Ach! ja, wie manchesmal Hast du mit süßen Worten Mir aufgethan die Pforten Zum güldnen Freuden-Saal!
Liedblatt L 19, 14. Sonntag nach Trinitatis 1817 Mei. Von Gott will ich nicht lassen Zeuch ein zu meinen Thoren, Sei meines Herzens Gast, Der du, da ich geboren, Mich neu geboren hast, Du hochgeliebter Geist Des Vaters und des Sohnes Mit beiden gleichen Thrones, Mit beiden gleich gepreist. Zieh ein, laß mich empfinden Und schmecken deine Kraft, Die Kraft, die uns von Sünden Hülf und Errettung schafft. [Vers fehlt] Daß ich mit reinem Geiste Dir Ehr' und Dienste leiste, Die ich dir schuldig bin.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
Liedblatt L 260, Am zweiten Pßngsttage 1826 Mei. Von Gott will ich nicht etc.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 286 Mei. Von Gott will ich nicht etc. Zeuch ein zu deinen Thoren, mein Herz steht dir bereit, der du mich neu geboren, und meinem Gott geweiht. Du hochgelobter Geist vom Vater und vom Sohne, o komm und in mir wohne, wie Christi Wort verheißt! 2. Zeuch ein, laß mich empfinden und schmecken deine Kraft, die Kraft, die uns von Sünden Hülf und Errettung schafft. Entsilnd'ge meinen Sinn, daß ich mit reinem Geiste dir den Gehorsam leiste, den ich dir schuldig bin. 3. Ich glich den dürren Reben, war todt und ohne Kraft; du hast das neue Leben, in Christo mir verschafft; du wirkest mehr und mehr, daß ich stets an ihm bleibe und edle Früchte treibe, zu Gottes Ruhm und Ehr.
Der Geist, der uns belehret, Wie man recht beten soll, Daß Beten werd' erhöret, Macht reicher Gaben voll. Er lenke Himmelan Mein Flehn voll Glaubensstärke, Bis ich die Hülfe merke, Von dem, der helfen kann.
4. Du bist ein Geist, der lehret, wie man recht beten soll, solch Beten wird erhöret, macht reicher Gaben voll; o lenke himmelan, mein Flehn voll Glaubensstärke, bis ich die Hülfe merke, von dem, der helfen kann. 5. Du bist ein Geist der Freuden, das Trauern liebst du nicht, erleuchtest uns in Leiden mit deines Trostes Licht; nimm ferner mein dich an, wie du im heil'gen Worte mir oft schon hast die Pforte des Himmels aufgethan.
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3. D e r F e s t g o t t e s d i e n s t in d e r l i t u r i g s c h e n P r a x i s
Breslauer
Gesangbuch
(1745/73),
Nr.
713
Liedblatt
L 19, 14. Sonntag
nach
Trinitatis
1817 7. Du bist ein Geist der Liebe, Ein Freund der Freundlichkeit, willt nicht, daß uns betrübe Zorn, Zank, Haß, Neid und Streit. Der Feindschaft bist du feind, willt, daß durch Liebes-Flammen Sich wieder thun zusammen, Die voller Zwietracht seynd. 8. Du, Herr! hast selbst in Händen Die ganze weite Welt; kannst Menschen-Hertzen wenden, Wie dir es wohlgefällt; So gib doch deine Gnad Zum Fried und Liebes-Banden, verknüpf in allen Landen, Was sich getrennet hat. 9. Erhebe dich, und steure Dem Hertzleid auf der Erd, bring wieder und erneure Die Wohlfahrt deiner Heerd; Laß blühen, wie zuvor, Die Länder, so verheeret, Die Kirchen, so zerstöhret Durch Krieg und Feuers-Zom. 10. Beschirm die Policeyen, Bau unsrer Obern Thron, Daß sie und wir gedeihen; schmück als mit einer Krön Die Alten mit Verstand, Mit Frömmigkeit die Jugend, Mit Gottesfurcht und Tugend Das Volck im ganzen Land. 11. Erfülle dieGemüther Mit reiner Glaubens-Zier; die Häuser und die Güter Mit Segen für und für; Vertreib den bösen Geist, der sich dir widersetzet, Und was dein Herz ergötzet, Aus unsem Hertzen reißt.31 12. Rieht, unser gantzes Leben Allzeit nach deinem Sinn; Und wenn wirs sollen geben Ins Todes Rachen hin, Wenns mit uns hier wird aus; so hilf uns fröhlich sterben, Und nach dem Tod ererben Des ewgen Lebens Haus. Paul Gerhard
31
Erfülle die Gemüther Mit reiner Glaubenszier, Die Häuser und die Güter Mit Segen für und für Vertreib den bösen Geist, Der dir sich widersetzet, Was uns in dir ergötzet Aus unsem Herzen reißt. Rieht unser ganzes Leben Allzeit nach deinem Sinn, Und wenn wir's sollen geben In's Todes Hände hin, Wenn's hier mit uns wird aus, so hilf uns fröhlich sterben, Und nach dem Tod ererben Des ew'gen Lebens Haus. Paul Gerhard
Hier folgt bei Paul Gerhardt die vorletzte Strophe, vgl. etwa Porst, Nr. 186,12: „Gieb Freudigkeit und Stärke zu stehen in dem Streit, den Satans Reich und Werke uns täglich anerbeut; hilf kämpfen ritterlich, damit wir überwinden und j a zum Dienst der Sünden kein Christ ergebe sich."
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
Liedblatt L 260, Am zweiten Pfingsttage 1826
Er komm herab zu steuern Auf Erden allem Leid, Und kräftig zu erneuern Das Heil der Christenheit. So steige neu empor, Was blinder Wahn verheeret, Was Zweifelsucht zerstöret, Und blühe wie zuvor.
Berliner Gesangbuch (1829), Nr. 286 6. Du bist ein Geist der Liebe, ein Freund der Freundlichkeit, willst nicht, daß uns betrübe Zorn, Zwietracht, Haß und Neid: o mach mich sanft und mild, daß ungefärbte Liebe ich an den Brüdern übe, verklärt in Christi Bild. 7. Du, Herr! hast selbst in Händen die ganze weite Welt, kannst Menschenherzen wenden, wie dir es wohlgefällt: leit' uns den Friedenspfad, verknüpf in allen Landen, durch sanfte Liebesbanden, was sich getrennet hat. 8. Erhebe dich und steure auf Erden allem Leid, bring' wieder und erneure das Heil der Christenheit. Laß steigen neu empor, was blinder Wahn verheeret, was Zweifelsucht zerstöret, es blühe, wie zuvor. 9. Regier' in allen Reichen, bau' unsers Königs Thron, und laß nie von ihm weichen der Weisheit Ruhm und Lohn. Dem Alter gieb Verstand, gieb Frömmigkeit der Jugend; durch Gottesftircht und Tugend besel'ge jeden Stand. 10. Erfülle die Gemüther mit reiner Glaubenszier, mach' uns der ew'gen Güter theilhaftig für und für; vertreib' den bösen Geist, der sich dir widersetzet und, was dein Herz ergötzet, aus unserm Herzen reißt. 11. Rieht' unser ganzes Leben allein nach deinem Sinn und laß nach dem uns streben, was ewig bringt Gewinn; und kommt einst unsre Zeit, so hilf uns fröhlich sterben und nach dem Tod ererben des Himmels Herrlichkeit.
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
Die vierstrophige Fassung von 1817 gibt im wesentlichen den Originaltext wieder.32 Erst 1826 hat sich Schleiermacher „kreativ" mit dem Lied auseinandergesetzt, offenbar unter dem Einfluß der Marotschen Bearbeitung. Die rezipierten Strophen fünf und neun weisen deutliche Übereinstimmungen mit der BGFassung auf, so daß wiederum davon auszugehen ist, daß BG, Nr. 286 die Marotsche Version bewahrt, und daß Schleiermachers Text unter deren Verwendung entstanden ist. Rechnet man mit der von Marot erstellten BG-Fassung als der unmittelbaren Quelle, dann interessiert auch hier die Frage, was Schleiermacher aus seiner Vorlage gemacht hat. Am auffalligsten ist die durchgehende Umstellung von der Anrede auf die dritte Person, die offenbar mit dem sprachlichen Duktus der vorausliegenden Kirchenmusikstücke zusammenhängt. Eine bemerkenswerte Modifikation stellt die damit zusammenhängende Beseitigung der „Wiederbringung" in der zweiten Liedblattstrophe dar. Immer noch ist der Geist Subjekt: „Er komm herab zu steuern". Sollte diese Tätigkeit von ihm nicht ausgesagt werden, sondern lediglich die Kraft der Erneuerung? Aber wahrscheinlich geht die Änderung nur auf das Konto der grammatischen Transformation. Der Neueinsatz in Vers 5 „So steige neu empor" korrespondiert der Eingangswendung „Er komm herab" und ist ebenfalls optativisch zu verstehen. Sicherlich stammt die Anspielung auf den glücklich überwundenen Rationalismus (Zweifelsucht) in der zweiten Strophenhälfte bereits von Marot. Sie aktualisiert damit Paul Gerhardts Bitte um Neuanfang nach dem 30-jährigen Krieg. Mit der vorigen Blüte dürfte schon Gerhardt das Zeitalter der Reformation gemeint haben. 3.9.3.4. Zur theologischen Komposition der Kirchenmusik Die Gemeinde eröffnet die Kirchenmusik mit dem Lied „Ihr Christen rühmt", der Selbstaufforderung zum einigen Lobpreis. Mit Vers 6 „Und gießt den Geist der Kindschaft aus" gibt sie dem Chor das Stichwort „Geist" mit der paulinischen Konnotation, die der Chor in der Motette auf Rom 8,26f. sogleich aufgreift. Wieder einmal leistet die Figuralmusik Bibeltextvertonung. Auf diese explikatorische Verkündigung folgt der vom Chor gesungene Choral „O send auch uns ihn, diesen Geist". Die Bitten um den Geist und seine Gaben sind sämtlich an den Vater (oder den Sohn) gerichtet. Die dritte Person der Trinität bleibt auch grammatisch in der dritten Person. Die sich anschließenden zwei Gemeindestrophen des Paul Gerhardt-Liedes behalten diese Form bei, wobei die erste Strophe ganz individualistisch („Bis ich die Hülfe merke") auf das Thema Beten nach Rom 8,26 (Chor) zurücksieht, während die zweite Strophe den Blick auf die ganze Christenheit lenkt und die ekklesiologischen Implikationen des Pfingstfestes zur Sprache bringt. Die beiden Strophen sind mit Bedacht gewählt, indem der Einzelne und die Kirche als Bittsteller vor Gott treten.
32
In der zweiten Liedblatt-Strophe fehlt Vers 5, wahrscheinlich ein Auslassungsfehler des Druckers.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
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Im Vergleich mit dem Eingangs- und dem Schlußlied fällt die distanzierte Rede über den Geist auf, die konsequent durchgehalten bzw. hergestellt wird. Der Geist wird weniger als Person, denn als Gabe Gottes angesehen. Die Christusbindung des Geistes fehlt völlig. 3.9.4. Die Predigt 3.9.4.1. Die Quellen Es liegen vor: eine Predigtnachschrift von Sobbe33 und der Erstdruck in der Siebenten Sammlung der Predigten. Dieser wurde aufgenommen in den zweiten Band der gesammelten Predigten. Ich beziehe mich - nach Prüfung wesentlicher Übereinstimmung der handschriftlichen und der gedruckten Quelle - aus Gründen der besseren Kommunizierbarkeit überwiegend auf die Druckfassung.34 3.9.4.2. Aufbau und Inhalt Schleiermacher gab die Predigt zum Druck unter der Überschrift „Das Ende der wunderbaren Aeußerungen des göttlichen Geistes in der christlichen Kirche". Die Predigt begann offenbar mit der Verlesung des Textes IKor 12,31: „Strebet aber nach den besten Gaben; und ich will euch noch einen köstlicheren Weg zeigen."35 In einer langen Einleitung, die die Textwahl begründet und zur Predigtdisposition hinfuhrt, erläutert Schleiermacher den Unterschied zwischen dem apostolischen und dem nachapostolischen Zeitalter, der darin besteht, daß die Wirkungen des Geistes heute nicht mehr die Schranken der Natur sprengen. Der Prediger „beruhigt" seine Gemeinde über diesen Zustand und erweist mit Paulus die Qualität des status quo. Dann kündigt er folgende Einteilung an: „Laßt uns zuerst mit einander auf die Ursachen dieser Veränderung Achtung geben, ob nicht auch in ihnen schon etwas beruhigendes liegt; dann aber zweitens vorzüglich aus den Worten des Apostels lernen, daß das köstlichere uns geblieben ist, und auch seiner Gemeine immer bleiben wird, bis an das Ende der Tage." (534) Der erste Hauptteil beginnt mit der Verteidigung der Fragestellung nach dem Warum. Doch „wenn das Herz beunruhigt ist und bekümmert, dann sucht es eben nach Ruhe und Trost auf allen Seiten." (534) Die Gleichnisse Christi erteilen gleichsam die Erlaubnis, das Reich der Natur mit dem Reich der Gnade zu vergleichen. „Kurz und mit einem Wort, die Zeit der Schöpfung, das ist genau genommen die Zeit der Wunder." (535) Auf die Zeit der Schöpfung folgt die Zeit der Erhaltung, „wo das Wunder sich stillt und verliert, und wo die regel33 34
35
Im Verlagsarchiv Walter de Gruyter, jetzt SBB (Handschriftenabteilung), Dep. 42 (De Gruyter), frühere Signatur E.c.5. Christliche Festpredigten von Dr. Friedrich Schleiermacher. Zweiter Band, Berlin 1833, S. 439-466. Vgl. SW II/2, Berlin 1834, S. 532-548. Auf diese Ausgabe beziehen sich die in den Text eingefügten Seitenzahlen. Ein Kanzelgebet oder -grüß ist nicht überliefert.
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
mäßige Ordnung der gesezmäßige Gang der Natur eintritt." (535) Schleiermacher weist auf den Anfang neuen Lebens, auch in der Natur, hin, wo Schöpfung erlebt werden kann. Und nun werden diese Beobachtungen im Reich der Natur auf das Reich der Gnade, die Kirche, übertragen: „Es ist kein geringeres als eine neue Schöpfung. Da sollte werden, was noch nicht gewesen war, das ewige Leben sollte an die Stelle treten des vergänglichen und alles der Sinnlichkeit unterordnenden; eine Lebensgemeinschaft mit Gott sollte entstehen, die sich doch aus der bisherigen Furcht und dem Zittern des Menschen vor einem unbekannten Wesen nicht entwikkeln konnte." (536) Pfingsten als die Schöpfung der Kirche war eine Zeit der Wunder, doch wir leben in der Zeit der Entwicklung, der Behütung und Erhaltung. Nach dieser Deduktion wirkt die folgende Frage nur noch als rhetorisches Stilmittel: „Sollen wir also glauben, daß wir etwas verloren haben, indem unser Dasein in diese Zeit fallt, wo von jenen wunderbaren Aeußerungen des Geistes keine Spur mehr übrig ist? Nein, m. g. F.!36 Aus dem Anfang sind wir weiter vorgerükkt in die regelmäßige Fortsezung des göttlichen Werkes; und das ist kein Uebel." (536) „Diese naturgemäß fortschreitende Kirche des Herrn, in welcher nichts mehr wunderbar erscheint, ist dieselbe und keine andre, in welcher früher jene wunderbaren Kräfte gewaltet haben. Jenes war ihre Geburt und Kindheit; dieses ist ihr kräftiges, selbstbewußtes und selbständiges Leben." (537) Aber hatten die Wunder nicht auch eine stärkende Kraft, derer auch wir noch bedürfen? Schleiermacher weicht aus und unterscheidet zwischen dem Bedürfnis der einzelnen Seele und dem der noch Fernstehenden. Die Beantwortung der ersten Frage wirkt thetisch: „... wenn der müde und beladene Mensch zu dem seine Zuflucht nimmt, der sich als HeHand den Verirrten und als Arzt den Kranken anbietet, er dann auch den Trost der göttlichen Gnade schon wirklich erfährt, und das wunderbarste sich in dem Innern seiner Seele bereitet ohne irgend ein äußerliches Zeichen und Wunder." (538) Die noch Fernstehenden werden an die geschichtliche Tatsache der geschehenen Wunder gewiesen und an die Verheißung aus Mk 16,17f., „so daß auch die noch fern sind keines andern Zeichens bedürfen als dieses Zeugnisses der Geschichte, welches immer heller vor ihnen sich entfaltet; und wir erfahren auch, es wirkt auf sie wie ein Wunder, und in nicht geringerem Maaß als damals." (539) Die Zusammenfassung des ersten Teils bringt noch einen Seitengedanken: Sogar das Wunder der Bekehrung - die Kreuzigung des alten und die Auferstehung des neuen Menschen mit Christus - findet nicht mehr spektakulär statt, so daß kaum jemand sich an Tag oder Stunde erinnern könne, sondern es ist „ein immer weiteres Fortschreiten auf diesem Wege einer regelmäßigen und sich natürlich entwikkelnden Ordnung in der Verbreitung und Fruchtbarkeit der göttlichen Gaben." (540)
36
Meine geliebten Freunde.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
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Im zweiten Teil schreitet Schleiermacher zur eigentlichen Auslegung des Bibelverses. Zuerst rekapituliert er den Kontext von IKor 12 und bemerkt, daß die natürlichen und wunderbaren Geistgaben ungesondert nebeneinander stehen. Am höchsten schätze Paulus die Gabe der Lehre. „Ja, m. g. Fr., wir dürfen es getrost rühmen, wir Genossen der evangelischen Kirche, wir sind vorzüglich die Wächter dieser köstlichen Gabe der Lehre." (542) „Wie könnten wir also versucht sein, unsere Blikke sehnsuchtsvoll nach dem geringeren zu richten, da das, was von dem Apostel selbst als das größere anerkannt ist, uns nicht nur bleibt, sondern wir auch vor Andern zu Hütern desselben bestellt sind. [...] Immer bleibe uns die Erbauung aus dem göttlichen Wort das wichtigste Geschäft unsers kirchlichen Gemeindelebens." (542) Dem Einspruch, daß die protestantische Beschäftigung mit dem Wort Gottes immer wieder Streit auslöse, begegnet Schleiermacher mit dem Argument, daß der Streit um die Wahrheit kein Übel sei. Diese These wird theologisch begründet, indem Schleiermacher die Auslegung fortsetzt mit IKor 12,31b, der geheimnisvollen Ankündigung des Hohen Liedes der Liebe. „Die Liebe also zu erwekken ist das eigentliche Ziel alles Predigens; und in ihrem Reiche uns bewegen, so daß ihr Gesez über uns waltet, und wir sie überall in unserm Leben darzustellen suchen, das ist der köstlichere Weg." (543) Mit Liebe wird alles mögliche bezeichnet, aber Schleiermacher weigert sich, der klassischen Beschreibung in IKor 13 eine eigene hinzuzufügen. Und emphatisch ruft er seiner Gemeinde zu: „Gehet zu diesem Kapitel hin, wenn Ihr lernen wollt was Liebe sei, und Ihr bedürft keines anderen Lehrers." (544) Die Liebe gönnt dem Anderen die Wahrheit, darum kann auch Streit in der Liebe geschehen. Schleiermacher stimmt nicht ein in den landläufigen Geschichtspessimismus, als wäre nur die Märtyrerkirche der ersten Jahrhunderte wahre Kirche gewesen. Auch die Erfahrung zeugt vom Vorhandensein der Liebe unter uns. „Aber wer wollte behaupten, daß alle Treue die in diesen Verhältnissen bewiesen wird, alle Dienste, welche wir mit Eifer ja bis zur Hingebung leisten, als Werke der wahren christlichen Liebe gelten können, und gleichsam das Zeichen des Kreuzes als des Ursprungs derselben an sich tragen!" (544f.) Schleiermacher löst diese Schwierigkeit so auf, daß auch die wahre christliche Liebe tätige Gelegenheiten braucht, wo sie sich beweisen kann. „Aber, m. g. Fr., laßt uns auch dem Geiste Gottes, der unter uns waltet, nicht unrecht thun durch strenge Scheidung eines geistlichen und eines weltlichen Gebietes!" Der Geist Gottes waltet im „ganzen Leben". Jede Liebestat zeugt „von einem auf Gott und den Erlöser gerichteten Sinn". (545) Auch geschichtlich betrachtet zeuge die christliche Kultur von ihrer Überlegenheit durch die „Geschäftigkeit des göttlichen Geistes" (546). Der Vergleich mit heidnischen Kulturen fuhrt den Prediger zur Mission, die auch ein Werk des Geistes und der Liebe sei. Nicht nur über die Reinheit der Lehre, auch über die Reinheit der Liebe ist die evangelische Kirche als Wächter gesetzt, denn nur sie weiß um die Zweideutigkeit der guten Werke. Die wahre Liebe aber ist „ein freies Werk des eigenen göttlichen Triebes [...] und der eigenen Einsicht. [...] Darüber laßt uns hai-
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
ten, daß die Wirksamkeit der Liebe frei bleibe von gesezlichem Wahn und blinder Nachahmung und so gedeihe als die freie und lebendige und je reifer desto gewürzreichere Frucht des Geistes." (547) So sind die Kraft der Lehre und das Walten der Liebe die köstlichsten Geistesgaben „und keiner darf sich Sorge machen, daß es nichts äußerlich wunderbares mehr giebt in der Gemeinschaft der Christen." (547) Der Prediger schließt mit einem Gebet, in dem er mit Joh 16,13 und Rom 8,15 dankt für den Geist, „der uns in alle Wahrheit leitet, den Geist der in uns ruft Abba lieber Vater" (547f.), und in dem er bittet um den vollständigen „Sieg des Geistes über das Fleisch". (548)37 3.9.4.3. Theologische Akzente Die Predigt befaßt sich nicht mit der Pfingstgeschichte und dem Geist als Person, sondern mit den Wirkungen des Geistes und deren Erfahrbarkeit.38 Der erste Predigtteil setzt sich grundsätzlich mit der Frage auseinander: Wie ist Glauben möglich im Zeitalter der wissenschaftlichen Erklärbarkeit der Welt, ohne daß sich die Religion in eine supranaturalistische Nische zurückzieht? Die homiletische Intention des Predigers besteht in der Consolatio über die Kälte der entzauberten Welt und über das Ausbleiben der Wunder in der Gegenwart. Um diesen Trost zu spenden, wird die Schöpfungstheologie als Paradigma bemüht: Auf das Wunder der Schöpfung folgt die Erhaltung als die Zeit der Ordnungen.39 Analog war Pfingsten eine Zeit der Neuschöpfung, die Kirchengeschichte dagegen ist die Zeit der Ordnungen, des Wachstums und der Ausbreitung des Christentums. Schleiermacher spricht sogar von einer „naturgemäß fortschreitende[n] Kirche". Die Phasen der Schöpfung und Erhaltung der Kirche verlaufen nicht synchron. Schleiermacher selbst ist Zeitgenosse eines neuen missionarischen Aufbruchs. Daher gilt: Wenn Menschen zum christlichen Glauben kommen, können sie prinzipiell auch Wunder erleben. Doch dieser gleichsam rückwärts gerichtete Blick in die Genese des Christentums geschieht eher um der Vollständigkeit willen. Das eigentliche Interesse des Predigers gilt dem aufgeklärten modernen Menschen, dessen Weltgefuhl Schleiermacher sich mit aller Vorbehaltlosigkeit 37 38
39
Die Sobbe-Nachschrift hat das Gebet nicht überliefert. Anscheinend typisch, wie Trillhaas summiert: „Keine der Pfingstpredigten Schleiermachers verweilt bei der Pfingstgeschichte selbst, sondern alle nehmen die Geschichte zum Anlaß, um von der Gegenwart zu sprechen." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt (1975 2 ), S. 81. Oder anders formuliert: „Es ist [...] auch nicht unbedingtes Predigtinteresse, hinter die gelebte Wirklichkeit zurückzugehen, also über das Wesen des Heiligen Geistes abgesehen von seinen Wirkungen nachzusinnnen." Ebd., S. 84. Vgl. zu Schleiermachers Verständnis der Schöpfiingslehre CG (1821/22 1 ), §§ 46-47, KGA 1/7,1, S. 138f. Schleiermacher würdigt vor allem die erhaltende Tätigkeit Gottes, weil nur diese Inhalt unseres Bewußtseins sein könne. Dagegen sei die „Frage nach dem Entstehen der Welt [...] nicht unmittelbar von der Frömmigkeit ausgehend, sondern von der Wißbegierde." Ebd., S. 139.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
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stellt. Die Tatsache, daß die Natur durch die neuzeitliche Wissenschaft erforscht und entzaubert wird, führt bei ihm nicht zum Agnostizismus, sondern im Gegenteil zu einem selbstbewußten Christenglauben. Auch der moderne Mensch kann glauben und „der Knoten der Geschichte" muß nicht so auseinander gehen: „das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben." 40 Der mündig gewordene Mensch ist auch mündiger Christ, der Wunder zur Stabilisierung seines Glaubens nicht mehr nötig hat, im Gegenteil, auch der christliche Glaube partizipiert am geschichtlichen Fortschritt! Die wissenschaftliche Erforschung der Welt macht Platz für die wahren Gaben des Geistes. Als Geistesgaben im Zeitalter der mündigen Christenheit proklamiert Schleiermacher die Kraft der Lehre und das Walten der Liebe, wobei er die Liebe mit IKor 13 als den unüberbietbaren Triumph des Geistes darstellt. Unter Lehre versteht der Prediger die theologische Wissenschaft, die er ohne konfessionelle Arroganz in der evangelischen Kirche vorzüglich beheimatet sieht. Die Freiheit der Lehre in Liebe zum Anderen bringt den Streit um die Wahrheit mit sich, der nicht als Übel, sondern geradezu als konstitutiv für die evangelische Kirche gelten darf. Die Wahrheit muß aus Liebe kommuniziert werden: „Liebe und Wahrheit stehen in so genauer Verbindung, daß die Wahrheit das höchste ist, was die Liebe dem Anderen gönnt, und daß keiner kann die Wahrheit für sich allein suchen, sondern immer auch für die Andern aus Liebe." (544) Schleiermacher nimmt den Text fast raffiniert für die Überbietung der Wundergaben (IKor 12) durch Lehre und Liebe in Anspruch, wobei er die Liebe nicht als christlichen Altruismus predigt. Vielmehr proklamiert er die streithafte Liebe zur Wahrheit, indem er den paulinischen Begriff der άγάπη mit dem johanneischen Begriff der αλήθεια virtuos verknüpft. Und auch das natürliche Leben trägt Spuren wahrer christlicher Liebe.41 In der Liebe, die unter uns waltet, wird der Geist Gottes erkannt und verherrlicht. (546) Dieser waltet also nicht nur im religiösen Lebensbereich, sondern im ganzen Leben. Der Prediger bestärkt seine Gemeinde in ihrem weltlichen Leben und ihrem evangelischen Glauben. Dieser ist durch eine staatskirchlich verordnete Werkgerechtigkeit herausgefordert und zum Bekenntnis aufgerufen. Weil die evangelische Kirche um die Zweideutigkeit aller menschlichen Werke weiß, ist sie besonders zum Wächter über die Reinheit der Liebe gesetzt. „Denn weil die Erkenntniß unter uns vorzüglich feststeht, [...] daß eben so wenig durch äußerliche Werke, [...] als durch Vollziehung äußerlicher gottesdienstlicher Gebräuche, in welchem Gesez sie auch vorgeschrieben seien, irgend ein Mensch gerecht werden kann vor Gott [...] Dabei laßt uns bleiben und darüber halten, daß es nur der Glaube ist, [...] das lebendige Bewußtsein von der segensreichen Gemeinschaft 40 41
Vgl. das berühmte Dictum in: Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre an Dr. Lücke. Zweites Sendschreiben, in KGA 1/10, S. 347. Vgl. Sobbe-Nachschrift, Bl. 6: „Wie? giebt es unter uns Liebe zwischen Eltern und Kindern, die nicht ein Werk des Geistes wäre? giebt es unter uns ein gesellschaftliches Verkehr, von welchem wir sagen müßten, es sei darin keine Spur des Glaubens und des höheren dem Himmel zugewendeten Lebens? Dieser Unglaube sei fern von uns."
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
des Herzens mit dem Erlöser und durch ihn mit Gott, wodurch der Mensch gerecht wird vor diesem, und daß alles gute ein freies Werk des eigenen göttlichen Triebes sei, und der eigenen Einsicht überlassen bleiben muß, wo und wie es zu schaffen ist, ohne daß wir dabei irgend ein menschliches Ansehn anerkennen oder einem menschlichen Buchstaben etwas einräumen." (546f.) Die zeitgeschichtlichen Bezüge, Schleiermachers Kritik am Agendenzwang, sind unüberhörbar: Durch Gesetzeszwang wird das Gebot der Liebe übertreten. Die Früchte des Geistes sind an Freiheit, Freiwilligkeit und eigene Einsicht gebunden. Der Geist der Freiheit durchweht diese Predigt. Nur der Glaube befreit, der in der Gemeinschaft des Herzens mit dem Erlöser besteht. Selbst die Liebe wird zum Vehikel der Freiheit. Nicht Duldsamkeit und Konfliktscheu fordert die Liebe, sondern die Mit-Teilung der Wahrheit! Indem Schleiermacher mit Paulus Lehre und Liebe als die höchsten Geistesgaben preist, werden sie aus ihrer dogmatischen bzw. diakonischen Engfuhrung gelöst und der alleinigen Norm evangelischer Freiheit unterstellt. Dabei garantiert die evangelische Lehre die richtigen dogmatischen Prämissen und die evangelische Liebe deren mutige Realisation. An Pfingsten über die Theologie zu predigen heißt für die Freiheit von Lehre, Forschung und Kultus einzutreten! Schleiermachers Bemühen um Tröstung und Erbauung seiner Gemeinde ist zumal an Pfingsten - legitim und sein Mut ist zu bewundern. Aber man muß fragen: Wird die irdische Realität nicht verklärt? Und ist Schleiermachers Geschichtsoptimismus, daß nämlich die Geschichte mit der Ausbreitung des Christentums identisch sei, historisch und theologisch vertretbar?42 3.9.5. Das Lied „Nach der Predigt" Die Strophe „Hör unser Gebet, Gottes Geist" ist auf den uns überlieferten Liederblättern singular. Für die GBC hat sich Ritsehl im Februar 1824 mit einem gleichnamigen Lied beschäftigt.43 Als Verfasser dieses Liedes nennt Küster G. B. Funk.44 Doch die Liedblattstrophe zeigt bis auf das Initium kaum Übereinstimmungen mit der Kopfstrophe des genannten Liedes. Stattdessen stimmt es fast wörtlich mit der ersten Strophe des gleichnamigen Liedes im Jauerschen Gesangbuch Nr. 323 Β überein, das Klopstock als Verfasser nennt. Darum konfrontiere ich in der folgenden Tabelle (s. nächste Doppelseite) den LiedblattText mit Klopstocks Bearbeitung des alten Pfingstliedes „Komm, Heiliger
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44
Ich kann mich Trillhaas' Frage durchaus anschließen: „So bedeutet seine Pfingstpredigt für den Hörer eine - gewiß unendlich beglückende - Vertiefung und Verinnerlichung des Kulturbewußtseins, aber kein Wort aus einer anderen Welt, keine Anrede an Einsame, keinen Trost." W. Trillhaas, Schleiermachers Predigt, S. 86. Am 12.2.1824 wurde es vorgeschlagen, am 26.2. trug es Ritsehl vor, am 4.3.1824 lieferte er es ins Archiv, vgl. GBC-Protokolle J.I.10, Bl. 45v-46v, s. u. Anhang 9). Das Herkunfts-Gesangbuch ist unbekannt. Vgl. S. C. G. Küster, Kurze lebensgeschichtliche Nachrichten von den Verfassern der Lieder des neuen Berliner Gesangbuches (1831), S. 67.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
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Geist, Herre Gott"45 und ihrer Rezeption im Jauerschen Gesangbuch sowie dem völlig abweichenden BG-Text. Die einzige Abweichung der Liedblatt-Strophe vom mutmaßlichen Quellentext im Jauerschen Gesangbuch verzeichne ich im vorletzten Vers: „Singt Christen ihm im Heiligthume", eine Konzession an die liturgische Situation. Allerdings ist der universalistische Anspruch damit keineswegs aufgegeben. Im Heiligtum angelangt (Vers 5f.) sind die Völker zu Christen geworden.
45
Vgl. Klopstocks sämmtliche Werke. 5. Band, Leipzig 1854, Veränderte Lieder, S. 184f.
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
F. G. Klopstock, Veränderte Lieder
Jauersches Gesangbuch (1813) Nr. 323 Β
Mei. Komm ', heiliger Geist, Herre Gott
Mel. Komm ' heiliger Geist, Herre Gott
Komm', heiliger Geist, Tröster, Gott Erfülle, Geist der Salbung, Gott, Mit deiner Liebe Seligkeiten, Die Jesu Christo sich weihten! Die Völker aller Welt fuhrst du Ins Heiligthum, zu Gottes Ruh'. Es schall' Anbetung dir zum Ruhme! Singt, Völker, ihm im Heiligthume! Halleluja, Halleluja!
Hör' unser Gebet, Gottes Geist, den Jesus Christus uns verheißt! Erfüll' mit deinen Seligkeiten uns, die sich Christo weihten Die Völker aller Welt führst du ins Heiligthum zu Gottes Ruh. Es schall' Anbetung dir zum Ruhme! Singt, Völker, ihm im Heiligthume! Halleluja! Halleluja!
Du heiliges Licht, starker Hort, Durch dich leucht uns des Lebens Wort! Den Ewigen lehr' uns erkennen, Von Herzen Vater ihn nennen! Ein neuer Irrthum ist erwacht. Durchstrahle du des Irrthums Nacht! Sie wollen, Herr, uns unsern Glauben, Den Mittler, Jesum Christum, rauben. Bekehre sie, bekehre sie!
2. Du heiiges Licht, starker Hort! Durch dich leucht' uns des Lebens Wort! Den Ewigen lehr' uns erkennen, von Herzen Vater ihn nennen! Treib fern von uns des Irrthums Nacht, laß siegen deiner Wahrheit Macht, daß Jesus Christ der ganzen Erde bekannt, und angebetet werde. Halleluja! Halleluja!
Du heilige Ruh, süßer Trost, 3. Du heiige Ruh! Süßer Trost! Hilf, daß wir freudig und getrost Hilf, daß wir freudig und getrost In unsers Gottes Dienste siegen In unsers Gottes Dienste siegen, Und keiner Trübsal erliegen! und keiner Trübsal erliegen! Dieß Leben ist der Prüfung Zeit; Dies Leben ist der Prüfung Zeit: Wir überwinden durch dich weit: wir überwinden durch dich weit! Du hilfst, o Geist, mit Muth uns ringen, Du hilfst, o Geist, mit Muth uns ringen, Zu dir durch Tod und Leben dringen. zu dir durch Tod und Leben dringen! Halleluja, Halleluja! Halleluja! Halleluja! Nach Klopstock
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
Liedblatt L 260 Am 2. Pfingsttage 1826
Berliner Gesangbuch (1829) Nr. 271
Mei. Komm heiliger Geist etc.
Mei. Komm heiliger Geist etc.
Hör unser Gebet, Gottes Geist, Den Jesus Christus uns verheißt, Erfüll mit deinen Seligkeiten Uns, die sich Christo weihten. Die Völker aller Welt fuhrst du Ins Heiligthum zu Gottes Ruh; Es schall Anbetung dir zum Ruhme, Singt Christen ihm im Heiligthume Hallelujah, Hallelujah.
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Hör' unser Gebet, Geist des Herrn. Du hörst der Gläub'gen Bitten gern. Wir wollen unser Herz dir geben, o lehre heilig uns leben! Der alles Gute in uns schafft, rüst' uns mit Stärke, Muth und Kraft, daß nicht die List und Macht der Sünde Uns, Christi Jünger, überwinde. Wir flehn zu dir, wir flehn zu dir! 2. Du, heiliges Licht, starker Hort, erleucht' uns durch der Wahrheit Wort. Du wollest immerdar uns leiten, Daß unsre Füße nicht gleiten: treib' fern von uns des Irrthums Nacht, Laß siegen deiner Wahrheit macht, Daß Jesus auf der ganzen Erde bekannt und angebetet werde. O hilf dazu, o hilf dazu! 3. Laß, freudiger Geist, voll Vertraun in Noth auf deine Hülf uns schaun. Lehr' uns, wenn wir zum Vater treten, Mit froher Zuversicht beten. Mach' uns durch deine Kraft bereit zum Sterben und zur Ewigkeit, Daß wir mit frohem Muthe ringen, durch Tod und Leben zu dir dringen. Erhöre uns, erhöre uns!
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3. Der Festgottesdienst in der liturigschen Praxis
3.9.6. Das Ganze Das Liedblatt für sich wirkt geschlossen. Der Pfingstgottesdienst wird wörtlich und tätig mit dem Lobpreis des Geistes durch die Christenheit eröffnet und beschlossen. Die Kirchenmusik bildet einen theologisch und formal homogenen Block, und die Liedstrophe nach der Predigt knüpft theologisch (Gebet) und musikalisch (Komm, Heiliger Geist, Herre Gott) an die Liedstrophen vor der Predigt an. Die Liedblatt-Texte überliefern die traditionelle Kirchenlehre, die in Übereinstimmung mit Johannes und Paulus den Heiligen Geist als Gabe Gottes, als Hinterlassenschaft Jesu, aber eben auch als Person, die direkt angeredet und angebetet werden kann, betrachtet. Auch die traditionellen dogmatischen Implikationen der Pneumatologie fehlen nicht: Taufe, Heiligung, Mission. Zur Einheitlichkeit tragen ebenso die auf dem Liedblatt zu Tage tretenden Binnenbezüge bei: das Motiv der Bitte um die Gnade des Geistes bei der Leitung auf dem Lebenspfad begegnet im Eingangslied (1/9-10) und im Choral der Motette (Verse 3-4). Ebenso wird die am Ende des Eingangsliedes befindliche Metapher für die Kirche aus IKor 6,19 (Tempel) im vorletzten Vers des Hauptliedes wieder aufgegriffen. Die Liedwahl zeugt von hymnologischer Vielfalt. Unter den Chorälen, aus denen gesungen wird, befinden sich einer aus dem 17. Jahrhundert, zwei aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ein zeitgenössisches Lied. Das Lied „Ihr Christen rühmt, erhebt und preiset" stammt aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ist nur im reformierten Frankfurter Gesangbuch überliefert. Luther als Verfasser des Pfingstliedes „Komm, heiliger Geist, Herre Gott", dessen alte „ökumenische" Melodie zweimal erklingt, ist im Hintergrund präsent. Die beiden - verschiedenen Liedern entstammenden - Umdichtungen des alten Pfingstliedes „Komm, heiliger Geist, Herre Gott" durch Sturm und Klopstock mögen unterstreichen, was Schleiermacher unter evangelischer Freiheit in der Spannung von Bewahrung und Erneuerung verstanden hat. Schleiermacher predigt über das Wirken des Geistes in der Gegenwart: die Kraft der Lehre und das Walten der Liebe. Mit IKor 12,31 hat er einen Text gewählt, der seine Intention, die Überbietung des Wunderbaren und Charismatischen durch das Regelmäßige darzutun, gut trägt. Die Berührungen zwischen Predigt und Liedblatt liegen nicht an der Oberfläche. Zwar geht der Prediger in einem Seitengedanken auf den angefochtenen Christen ein und knüpft damit vielleicht an die Motette an. Zwar kommt das predigtbestimmende Motiv der Lehre als Geistwirkung auch in der Motette und in den Liedern vor. Zwar weist der Kirchenmusikkomplex durch die letzte Liedstrophe eine gleichsam kirchenpolitische Klimax auf, die durchaus als aktuell und als zur Predigt hinführend empfunden werden könnte. Und schließlich kehrt auch der zentrale pneumatologische Begriff der Wahrheit, der auch im Choral der Motette begegnete und schon Textänderungen im Eingangslied (II/6; III/7) verursacht hatte, als Attribut des Geistes sowie als Konsequenz und Mitgift der Liebe in Predigt und Schlußgebet wieder.
3.9. Der zweite Pfingsttag 1826
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Doch diese Beobachtungen sind noch nicht zwingend. Die Berührungen zwischen Predigt und Liedblatt finden auf einer subtileren Ebene statt. Besonders der Komplex „Nach dem Gebet" scheint ein Gefalle zur Predigt hin aufzuweisen, indem die Texte den Geist konsequent als Gabe Gottes verstehen und die direkte Anrede meiden. Zwar differieren die konkreten Geistwirkungen zwischen Lied und Predigt, so daß der Eindruck entsteht, als hätte Schleiermacher vielleicht unter dem Druck der politischen Entwicklungen - einen anderen Text gewählt und seine Predigtdisposition zumindest modifiziert. Ob er ursprünglich über das eher intime Thema „Beten in der Kraft des Geistes" sprechen wollte? Die Lieder vor und nach der Predigt legen diese Vermutung nahe. Tatsächlich hat Schleiermacher dann mit seiner unorthodoxen Auslegung der Geistesgaben Lehre und Liebe im Horizont der evangelischen Freiheit eine aktuelle Erfahrung im Agendenstreit thematisiert, in dem es ihm ums Ganze ging, um den Erhalt der Union und um die Identität der evangelischen Kirche. Während die Predigt den Geist in der Geschichte auflöst und diese als einen stringenten Prozeß charakterisiert, wissen die Liedtexte um die Bindung des Geistes an Christus.46 Und sie bringen stärker als die Predigt - und wohltuend realistisch - Negativerfahrungen zur Sprache, kraft derer das charismatische Wirken des Geistes erfleht wird. So bietet das Liedblatt zur Predigt zwar keinen Kommentar, aber einerseits den korrektiven Kon-Text für die hochaktuelle Auslegung des Pfingstgeschehens, in der es auch um die kirchliche Lehre als Geistgabe geht, andererseits die christologische und ekklesiologische Rahmung und die Anwaltschaft realer irdischer Erfahrung.
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Vgl. Eingangslied (II/7-10), Schlußlied Vers 4.
4. SCHLUSS
Wir haben Schleiermachers Tätigkeit als Liturg und Prediger während seiner Berliner Zeit bis zum Erscheinen des Berliner Gesangbuchs von 1829, also über fast 20 Jahre, beobachtet. Trotz mancher Unklarheit im einzelnen sind Schleiermachers Festgottesdienste relativ gut dokumentierbar, so daß ein klares Bild entsteht, das auch Überraschungen bereithält: 1. Schleiermacher hat auf die Vorbereitung und Gestaltung insbesondere der Festgottesdienste große Sorgfalt verwendet. Allein durch die Liederblätter war er zu einer langfristigen Vorbereitung genötigt. Frühzeitig mußte er mit der Lied- und Strophenwahl sowie mit der Textredaktion über die spezielle Thematik eines Gottesdienstes entscheiden. Trotz dieser frühzeitigen Festlegung entsteht nicht der Eindruck, als ob Schleiermacher dadurch in seiner liturgischen Freiheit eingeengt oder eingezwängt gewesen wäre. Er konnte sich aus gegebenem Anlaß mit der ihm eigenen Spontaneität und Souveränität auch über die eigene frühere Themenwahl hinwegsetzen. Doch in vielen Fällen korrespondieren Liedblatt-Texte und Predigt, wobei die Art und Dichte der Korrespondenz variiert. Zu unterscheiden sind explizite und implizite Anknüpfungen des Predigers an die Liedtexte bzw. thematische oder motivische Vorwegnahmen eines Predigtgedankens durch die Lied- bzw. Musiktexte. Die Beziehungen zwischen Lied und Predigt sind oft subtil und liegen nicht immer an der Oberfläche. Man muß zwischen hervorgehobenen Festgottesdiensten, jährlichen Festgottesdiensten und gewöhnlichen Sonntagsgottesdiensten unterscheiden: Bei hervorgehobenen außerordentlichen Festgottesdiensten (ζ. B. Reformationsfest 1817, Unionsfest 1822) scheint die Beziehung von Liedblatt und Predigt am engsten zu sein, was auch damit zusammenhängt, daß dort Extra-Liederblätter kurzfristiger gedruckt werden konnten. Hier sind die Liedtexte als theologische Zeugnisse ersten Ranges zu betrachten. Bei den jährlichen Festgottesdiensten liegen die Vorbereitungen des Liedblattes einerseits und der Predigt andererseits weiter auseinander. Doch aufgrund der häufig beobachteten Konsistenz der Liedblätter darf mit einer vorgängigen theologischen Schwerpunktsetzung gerechnet werden, der auch der Prediger folgte, wenn es die Situation zuließ. Die Untersuchungen ergaben, daß Schleiermacher nicht nur die Lied-, sondern auch die Kirchenmusiktexte zuweilen der speziellen Gottesdienst-Thematik akkomodiert hat, wobei der Nachweis wegen der prekären Quellenlage hier schwieriger zu führen ist. Auf jeden Fall zeigt die Auswahl und Anordnung der Stücke - für sich genommen - stets eine durchdachte theologische Konzeption. Die gewöhnlichen Sonntagsgottesdienste habe ich nicht explizit untersucht. Zwar zeigen Stichproben, daß hier prozentual weniger Textänderungen durchgeführt wurden, doch andererseits erleichterten Themen- und Textreihen, die
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4. Schluß
Schleiermacher nicht nur in seinen Frühgottesdiensten praktizierte, die frühzeitige Abstimmung der Lieder auf die Predigt. Auf den Liederblättern zeichnet sich ein - auch theoretisch postulierter Spannungsbogen innerhalb des Gottesdienstes ab, in dessen Konsequenz das Hauptlied („Nach dem Gebet") meist die engere Beziehung zur Predigt aufweist, doch finden sich häufig auch schon im Eingangslied („Vor dem Gebet") thematische Indizien. Die Schlußstrophe, der eine explizite Rückbindung an die Predigt meist fehlt, blickt gern in die Woche oder ins Eschaton voraus. Damit läßt Schleiermachers Gottesdienst einen linearen, die Gemeinde aktivierenden, liturgischen Handlungsablauf erkennen. 2. Schleiermachers Gottesdienstgestaltung in der Liedblatt-Ära geschieht ab 1818/19 im engen Kontakt zur Arbeit der Gesangbuch-Commission (GBC). Bei vielen Liederblättern lassen sich Querverbindungen zu Eigen- oder Fremdredaktionen innerhalb der GBC nachweisen. Die These von Ilsabe Seibt, daß die sowohl auf den Liederblättern als auch im BG vorhandenen Lieder von Schleiermacher selbst bearbeitet wurden, ist pauschal nicht zu halten und kann in vielen Fällen widerlegt werden. Schleiermacher hat das sogenannte „Archiv" der GBC wie ein Gesangbuch benutzt. Da er die Redaktionsprinzipien der GBC maßgeblich mitbestimmt hatte, konnte er auch Liedbearbeitungen seiner Kollegen unbefangen verwenden. Daß aber die GBC zunehmend unter den Einfluß des Theologen und Hymnologen Schleiermacher geriet, ist nicht zu leugnen. Trotz der Wechselbeziehung von Liederblättern und GBC gibt es keinen Automatismus. Auch Lieder, die bereits abgehandelt und „abgeliefert" waren, ja selbst eigene Textbearbeitungen, konnte Schleiermacher fur die Liederblätter immer wieder neu „aktualisieren". Neben dem stilistischen Perfektionismus Schleiermachers kommt als theologischer Bezugsrahmen dieser Maßnahmen die jeweilige Idee eines Gottesdienstes, der konkrete liturgische Kontext, in Betracht. Ich bestätige die Feststellung von Ilsabe Seibt, daß Schleiermacher die Texte theologisch nur bearbeitete, wenn es aus stilistischen Gründen - und ich fuge hinzu: aus liturgischen Gründen - ohnehin etwas zu ändern gab.1 Die Textänderungen dienen hauptsächlich der logischen Verständlichkeit und liturgischen Brauchbarkeit der Texte. Dogmatisch bedingte Abänderungen sind seltener; sie begegnen vor allem in mythologischen, dämonologischen und eschatologischen Zusammenhängen. Häufig haftet den Liedbearbeitungen ein Zug zur soteriologischen Zuspitzung an. I. Seibt hat die Liederblätter „als jahrelange intensive Vorarbeit zum Gesangbuch" verstanden.2 Dies ist zweifellos ein wichtiger Aspekt. Doch gab es die Liederblätter schon, als an eine Gesangbuch-Commission noch nicht zu denken war. Auch hat sich ihre partielle Unabhängigkeit von der Arbeit und den Ergebnissen der GBC gezeigt. Ihr Sinn kann sich daher in ihrer Vorbereitungs1 2
Vgl. I. Seibt, Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829 (1998), S. 140. I. Seibt, Schleiermacher und das BG (1998), S. 216.
4. Schluß
479
und Probefiinktion nicht erschöpfen. Über diese hinaus erweisen sich Schleiermachers Liederblätter als ein Instrument zur einheitlichen und organischen Gestaltung des Gottesdienstes, die Schleiermacher auch in der PT forderte. Mit dem Liedblatt gibt Schleiermacher der Gemeinde ein Medium in die Hand, das die Einmaligkeit jedes einzelnen Gottesdienstes insinuiert und dem Gottesdienst damit einen gleichsam charismatischen Zug verleiht. So kommt der Gottesdienst in der Liedblatt-Ära (1812/13-1828/29) Schleiermachers Gottesdienstideal am nächsten. Unter der Norm einer situativen Textgestaltung mußte Schleiermacher die wörtliche Fixierung von Texten im Gesangbuch eigentlich als Zwangshandlung erscheinen. Schließlich erinnert die Ähnlichkeit mit dem Theaterzettel an die kulturelle Dimension des Gottesdienstes, zumal des Schleiermacherschen, im bildungsbürgerlichen Berlin zu Anfang des 19. Jahrhunderts. 3. Mit der thematischen Durchdringung und Vereinheitlichung des Gottesdienstes geht eine stilistische Durchgestaltung des Gottesdienstes einher. Bestimmend sind die bereits aus der PT bekannten ästhetischen Kanones „Simplizität" und „Keuschheit", die mit ihrer asketischen Strenge den Stil des Gottesdienstes prägen. Während das Ideal der Einheit des Gottesdienstes aus dem Kanon der „Simplizität" zu fließen scheint, wirkt sich der Kanon der „Keuschheit" aus auf die Textgestalt der Lieder, auf die Aufführungspraxis der Kirchenmusik und auf die dem Prediger Schleiermacher eigentümliche Predigt- und Gebetssprache, die durch Bildabstinenz und Sprödigkeit auffallt. Der Zug zur Entmaterialisierung und zur Vergeistigung entspringt freilich auch Schleiermachers an Piatons Philosophie geschulter Theologie und einem zeitbedingten romantischen Heiligkeitsideal. 4. Schleiermachers engagierte Mitgliedschaft in der GBC macht seine gute Kooperationsfahigkeit sichtbar, die auch bei der musikalischen Gestaltung seiner Festgottesdienste zum Tragen kommt. Hatte Schleiermacher zunächst versucht, den mehrstimmigen Gesang charismatisch hervorzubringen, so mußte er sich von diesem Ideal bald lösen und die Kirchenmusik einer geregelten Organisation anheimgeben. Dabei arbeitete er mit Kantor Rex Hand in Hand.3 Rex bestimmte die Chor- und Solostücke, Schleiermacher brachte sie mittels rahmender und unterbrechender Liedstrophen und gelegentlich eingefugter Rezitative in eine theologische Ordnung. Für diese erwiesen sich die alttestamentlichen Verheißungstexte als unverzichtbar. Schleiermachers Kooperation mit Kantor Rex sowie seine persönliche Vorliebe für Händeis Oratorium „Der Messias" hatten zur Folge, daß in den Festgottesdiensten häufig alttestamentliche Texte 3
Daß diese scheinbar selbstverständliche Kooperation auch 160 Jahre später noch nicht selbstverständlich ist, macht J. Henkys deutlich, wenn er fordert: „Die Verantwortung für den gottesdienstlichen Liedgesang ist grundsätzlich kooperativ wahrzunehmen. Pastor und Kantor haben zusammenzuarbeiten." J. Henkys, Lieder im Gottesdienst, in: Handbuch der PT, hrsg. von P. C. Bloth u. a., Bd. 3, Gütersloh 1983, S. 98-111, S. 106.
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4. Schluß
zu Gehör kamen, die von Schleiermacher sonst bekanntlich gemieden wurden. So übernehmen die Kirchenmusiktexte unter anderem die Funktion eines Platzhalters der biblischen und dogmatischen Tradition, die Schleiermacher mit eigenen Worten nicht vertreten konnte. Die Kooperationsfahigkeit Schleiermachers weist auf eine weitere Eigenart des großen Theologen hin, die in seiner Gottesdienstpraxis wirksam wurde: seine Kombinationsfreudigkeit. Im Jahre 1822 stellte Schleiermacher anläßlich der Gemeindeunion mit dem Einverständnis seines lutherischen Amtskollegen Marheinecke eine spezielle Dreifaltigkeits-Agende aus Elementen der geltenden lutherischen und reformierten Formulare zusammen. Eine genaue Analyse dieses Kompositums ist bisher nicht möglich, da mit der lutherischen Agende einer der Grundbausteine fehlt. Doch unbeschadet der Informationslücken im einzelnen tritt die bereits von den Liedbearbeitungen und Kirchenmusiken bekannte „Bastelfreude" Schleiermachers zu Tage. Schleiermacher schafft - unter Inanspruchnahme der ihm nach seinem Rechtsverständnis obliegenden Amtskompetenz - ein variantenreiches Interimsformular, bei dem er bekannte und wesentliche Grundelemente neu zusammensetzt und ihnen dadurch eine neue, eine unierte Identität verleiht. Seine Fähigkeit zur Kooperation, zur Kombination und Integration stellt Schleiermacher dem großen Projekt der protestantischen Union auf landeskirchlicher und auf gemeindlicher Ebene zur Verfügung. 5. Christoph Albrecht hat nach dem geistesgeschichtlichen Hintergrund der Schleiermacherschen Liturgik gefragt, und er hat dabei vor allem die liturgische Theorie, wie sie Schleiermacher in der PT darlegt, in Augenschein genommen. 4 Schleiermachers Gottesdienstpraxis sehe ich mit Albrecht und ihn ergänzend aus vier Wurzeln, die sich vielfach verschlingen und hier nur künstlich gesondert werden können, erwachsen: a) Zuerst sei die - weil biographisch am weitesten zurückreichende - herrnhutische Prägung genannt. Sie hat sich vor allem in Schleiermachers Engagement für einen abwechslungsreichen Gemeindegesang niedergeschlagen. Der Wechselgesang von Gemeinde und Chor und die Kombination von Liedern verschiedener Strophenform ist primär als ein Erbe herrnhutischer Gottesdiensttradition zu registrieren.5 Wir sahen auch, daß Schleiermacher bei der Auswahl der Lieder und Gesangbücher dem Herrnhuter Liedgut oft auch in seiner umstrittenen Eigenart treu blieb. Hier zeigt sich abermals, daß der Kirchengesang dasjenige liturgische Element mit der größten Beharrungs- und Prägekraft ist6, Quel4 5
6
Vgl. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik ( 1962), S. 66-116. Bestimmte Singformen, die auch in der Aufklärung begegnen, haben in der Brüdergemeine ihren Ursprung, vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes in der Aufklärung, S. 210. Dort berichtet Salzmann über den Gottesdienst im Dessauer Philanthropin: „Unser Vortrag ist nie ununterbrochen lang, sondern welchselt immer mit Musik und Gesang ab. Dies ist nicht meine Erfindung. Unser Stifter Basedow hat diese Methode von der Brüdergemeinde entlehnt." (Salzmann, Gottesverehrungen, 1781, Vorrede). Diese Erfahrung machten auch die Aufklärungsliturgiker: „Eine von Spazier erwähnte Beobachtung machte den Aufklärungsliturgikern zu schaffen: Nämlich daß sich die Men-
4. Schluß
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le und Speicher kindlicher und jugendlicher Religiosität. Obwohl Schleiermacher sich dieser Tatsache bewußt war, und obwohl er mit seiner Option für das pietistische Lied Zeuge seiner eigenen religiösen Biographie wurde, hat er Lieder nach eigenem Gutdünken manipuliert, eine bezeichnende Inkonsequenz, die verschiedene Ursachen hat und u. a. auf einen zweiten Traditionsstrom aufmerksam macht. b) Die gebrauchsorientierte, aber häufig traditionsvergessene Behandlung der Überlieferung ist vor allem ein Kennzeichen der Theorie und Praxis der Aufklärungsliturgik, mittels derer versucht worden war, den Veränderungen im Weltbild und Lebensgefühl der Menschen des 18. Jahrhunderts Rechnung zu tragen. Korrektheit, Modernität, Aktualität und Rationalität, das sind einige der Ansprüche, die die Aufklärung an den Gottesdienst richtet. Auch Schleiermacher hat sich ihnen gestellt. Seine zahlreichen Liedbearbeitungen auf den Liederblättern und fur die GBC zeugen von dieser Art der Traditionsaneignung. Aus der aufklärerischen Forderung nach Vernünftigkeit und Verständlichkeit folgt das Bemühen um intentionale Einheit und thematische Durchdringung des Gottesdienstes, die auffallendste und am Vorhandensein der Liederblätter symptomatisch ablesbare Eigenart des Schleiermacherschen Gottesdienstes. Eine der gravierendsten Folgen der thematischen Konzentration und zugleich eines der hervorstechendsten Merkmale der Schleiermacherschen Gottesdienstpraxis ist die vielfach beobachtete „Patchwork-Technik", die Schleiermacher bei der Kom-position der Kirchenmusiken, bei der Zusammensetzung der Unionsagende, aber auch in seiner hymnologischen Praxis anwendete. Diese heute stark angefragte „Rezeptionsmethode" hat im einzelnen verschiedene historische Anknüpfungspunkte. Ich nenne nur die durch Klopstock sanktionierte und seither übliche Art der „Liedverbesserung", die charismatische Brüderliturgik, das musikgeschichtliche Phänomen des Pasticcios, die Erfordernisse der Union; dazu kommen die genannte Kombinationsfähigkeit und der künstlerische Gestaltungswille Schleiermachers. Doch zuerst scheint sie eine Frucht und Erscheinung der rigorosen und traditionsfeindlichen Experimentierfreude der Aufklärungsliturgik zu sein, die noch zu Schleiermachers Lebzeiten vom aufkeimenden Historismus abgelehnt wurde.7 c) Eine dritte prägende Kraft war die reformierte Herkunft Schleiermachers. Diese Tradition ist wohl weniger in Kindheits- und Jugenderfahrungen verwurzelt8, doch spätestens im Zusammenhang mit der Union mußte sich Schleiermacher mit dieser Seite seiner biographischen und theologischen Identität auseinandersetzen, als er ausdrücklich als reformierter Theologe in verschiedene
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sehen weit ruhiger veränderte Predigten, Religionsvorträge und neue Lehren gefallen ließen, als neue Gesänge. Denn in diesen wurden die heiligen Güter, die Jugenderinnerungen und das einst auswendig Gelernte angetastet." A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes, S. 282. Zur Aufnahme des BG vgl. etwa I. Seiht, Schleiermacher und das BG, S. 195-207. Schleiermachers Vater war reformierter Feldprediger. Inwiefern Schleiermacher durch das Elternhaus spezifisch reformiert erzogen und geprägt wurde, ist m. W. noch nicht untersucht worden. Auch Ch. Albrecht hat diese Wurzel erstaunlicherweise ignoriert.
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4. Schluß
kirchliche Ämter gerufen und damit zum Repräsentanten dieser kirchlichen und theologischen Tradition bestellt wurde. Sein reformiertes Erbe macht Schleiermacher vor allem geltend in seinem Stolz auf das reformierte Kirchenrecht, auf das er sich in Verfassungs- und Liturgiefragen gern berief.9 Im Agendenstreit hat er prinzipiell aus seinem reformierten Selbstbewußtsein heraus argumentiert, und in seiner souveränen Gottesdienstgestaltung hat er faktisch daraus agiert. Die Korrekturen der Preußischen Agende von 1829 gegenüber der Hofund Dom-Agende von 1822, die Schleiermacher versöhnlich stimmten: nämlich die größere Vielfalt, erweiterten den Handlungsspielraum für den Liturgen. Diese Zugeständnisse des Königs sind u. a. dem aus dem Geiste des reformierten Kirchenverständnisses stammenden Protest Schleiermachers zu verdanken. Und noch ein anderer Impuls scheint aus reformierter Quelle zu stammen: Es ist das bereits oben erwähnte konsequent befolgte Stilgebot der „Keuschheit", das Schleiermacher in der PT stets zusammen mit dem Gebot der „Simplizität" nennt. Zwar läßt sich die „Keuschheit" aus Schleiermachers System der Ästhetik erklären, indem der „Simplizität" der Erfindung die „Keuschheit" der Darbietung entsprechen muß, doch während die erstgenannte zum Grundbestand der klassizistischen Ästhetik („edle Einfalt, stille Größe") und Aufklärungsliturgik („Simplizität und Würde") gehörte, scheint die „Keuschheit" ein genuin Schleiermacherscher Beitrag zu sein, der m. E. in der konfessionstypischen liturgischen Askese der reformierten Theologie seine Wurzeln hat.10 Auch in seiner reservierten Haltung gegenüber Sakramenten und Zeichenhandlungen wird deutlich: Schleiermachers reformierte Identität hat seine liturgische Ästhetik beeinflußt. d) Schließlich ist als vierter Traditionsstrom die Romantik zu nennen, auf den bereits Christoph Albrecht hinwies. Albrecht macht den Einfluß der Romantik auf Schleiermachers Liturgik vor allem an der Kategorie des Erlebnisses fest: „Daß das subjektive Erleben im Kultus von Schleiermacher so stark betont wird, ist in erster Linie als Einwirkung der Romantik auf ihn zu verstehen. Auch die Warnung vor einem kahlen und nüchternen Gottesdienst ist bei Schleiermacher als gemeinsame Frucht von Brüdergemeine und Romantik zu erkennen." 11
Diese These ist zu differenzieren. Wir sahen, daß der Erlebnisgehalt des Schleiermacherschen Gottesdienstes durch sein betont reformiertes Profil eingeschränkt war. Dennoch hat die deutsche Romantik, zu deren Exponenten der junge Schleiermacher selbst gehörte, seine Liturgik wesentlich beeinflußt, wobei es schwer fallt, die prägenden Einzeleinflüsse aus dem biographisch und geistesgeschichtlich bedingten Gesamtmilieu herauszufiltern.12 9 10
u 12
Vgl. den Brief vom 31.1.1819 an den Grafen Alexander von Dohna, s. o. 3.3.1. Schleiermacher hat den konfessionellen Gegensatz in liturgischen Gestaltungsfragen reflektiert in seiner Schrift „Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen ..." (1827), SW 1/5, S. 537-625. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 107. Ich gebrauche den Begriff der Romantik und des Romantischen nur als künstlerischen,
4. Schluß
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Schleiermachers Bemühen um die einheitliche Gestaltung des Kultus war oben bereits als das Hauptmerkmal seiner Gottesdienstgestaltung von der um Rationalität besorgten Aufklärungsliturgik hergeleitet worden. Die Romantik hat gleichfalls ihr Interesse an „Einheit" artikuliert, freilich in einem viel umfassenderen Sinne und resultierend aus dem typisch romantischen Streben nach einer Zusammenfuhrung und Wiedervereinigung des Getrennten.13 Nach der Wiederentdeckung der Religion durch die Romantik, an der Schleiermacher mit den „Reden" (1799) maßgeblich beteiligt war, hat Schleiermacher in seiner kirchlichen Praxis versucht, Religion und Kunst im Gottesdienst wieder zusammenzufuhren. 14 Wir sahen, daß Schleiermacher sich dabei weniger als kreativer Künstler denn als Regisseur betätigt hat. Trotzdem weisen ihn sein liturgisches Sendungsbewußtsein und seine souveräne Gottesdienstgestaltung als eine typisch romantische Künstlerpersönlichkeit aus, der in genialer Willkür frei schaltet.15 Es kann kein Zweifel bestehen, daß Schleiermacher die in den Reden geforderte Rolle eines „Virtuosen der Religion"16 vor allem als Prediger, aber auch als Liturg später selbst gespielt hat. Dabei kompensierte er das eigene Kreativitätsdefizit - Schleiermacher hat keine eigenen Kirchenlieder gedichtet durch die genannte Patchwork-Technik, die uns in den verschiedenen Zusammenhängen der Gottesdienstvorbereitung begegnete. Im Jonglieren mit - und im Kombinieren von liturgischen Einzelteilen besteht Schleiermachers Kunsttätigkeit. Dabei entsteht im Zusammenspiel der Elemente Liturgie, Lied und Musik, Predigt und Gebet der Gottesdienst als ein Gesamtkunstwerk, der durch eine thematische Leitidee konstituiert und strukturiert ist. Auch andere Besonderheiten Schleiermacherscher Liturgik in Theorie und Praxis lassen sich u. a. auf romantische Einflüsse zurückfuhren: Schleiermachers konsequente Abweisung des im pädagogischen und moralischen Sinne verstandenen Lehrcharakters des Gottesdienstes ist sicherlich auch eine Frucht der Auseinandersetzung mit der romantischen Kunsttheorie, derzufolge der
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14 15 16
nicht als kirchengeschichtlichen Epochenbegriff, da die Romantik anders als die Aufklärung keine eigene kirchengeschichtliche Epoche bildet, vgl. dazu K. Scholder, Art. Romantik (III.), in: RGG Bd. 5 (1961/1986), Sp. 1177. Es entspricht dem Wesen der Romantik, daß diese Vereinigung nur als durch und in der Kunst vollzogen gedacht werden konnte. Schleiermachers Freund Friedrich Schlegel legte 1798 eine Definition der progressiven Universalpoesie vor, die alle Gattungen der Literatur und des Wissens vereinigen sollte, vgl. W. Frühwald, Art. Romantik, in Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 3 (1992), Sp. 1668. - Daß Schleiermachers Denken und Wirken sich aus verschiedenen Wurzeln speist, hat sicherlich mit seiner epochalen Größe zu tun. Doch die Beziehung von Aufklärung und Romantik wird heute auch differenzierter betrachtet, indem beide Geistesströmungen epochengeschichtlich nicht mehr so streng getrennt werden. So bezeichnet etwa der Germanist Wolfgang Frühwald die ganze Epoche als einen „europäischen Modernisierungsprozeß", ebd. Vgl. das Zitat aus der dritten Rede „Über die Bildung zur Religion" (1799), KGA 1/2, S. 263, s. o. 2.3.2. Zu dem aus Goethes Wilhelm Meister sich entwickelnden romantischen Künstlerbegriff vgl. R. Samuel, Art. Romantik (II.), in: RGG Bd. 5 (1961/1986), Sp. 1170f. Vgl. vierte Rede, KGA 1/2, S. 279 und 282.
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4. Schluß
schönen Kunst die absolute „Nutzlosigkeit" eigne.17 Und in Schleiermachers Präferenz für die Personalgemeinde mischen sich ebenfalls romantische Ideale mit der reformierten Ablehnung des Parochialprinzips.18 6. Wie ist Schleiermachers Gottesdienstpraxis heute zu beurteilen? Zuerst: Schleiermachers kontinuierliches Bemühen um die theologische Durchdringung und die ästhetische Gestaltung des Gesamtgottesdienstes sowie die psychologische Reflexion der Gemeindesituation, kurz: seine Leidenschaft für den Gottesdienst, kann nur als vorbildlich bezeichnet werden. Schleiermacher hat den individualistischen Erbauungsbegriff der Aufklärung überwunden, es war sein ehrliches Anliegen, durch den Gottesdienst die Einzelnen zu sammeln und als Gemeinde zu erbauen, d. h. im Glauben zu stärken. Sein apriorisches Verständnis von Religiosität leuchtet ein, doch ist der Traditionsschwund, dem sich schon Schleiermacher entgegenstemmte, heute, 180 Jahre später, so weit fortgeschritten, daß wir um die Frage nach der katechetischen Funktion des Gottesdienstes nicht herumkommen. Schleiermachers Mitarbeit in der Gesangbuch-Commission und seine Kooperation mit Kantor Rex zeugt von seiner Teamfahigkeit, sein Engagement zugunsten des Gemeindegesangs von seinem durch die Brüdergemeine imprägnierten Gottesdienstideal. Angesichts seines Eintretens für eine reformierte Synodalverfassung mit einem starken Laienelement würde es in der Konsequenz seines theologischen Denkens liegen, die Laien noch stärker, als er selbst es tat, am gottesdienstlichen Geschehen zu beteiligen.19 Schleiermacher hat auf hymnologische Vielfalt bei der Liedauswahl geachtet, er hat sich für den mehrstimmigen Gemeindegesang, für die seinerzeit neuere Kirchenmusik und vor allem für das neue Lied eingesetzt. Diesem Vorbild ist unbedingt zu folgen. Sein hymnologisches Traditionsverständnis dagegen ist nicht unproblematisch. In seiner Liedbehandlung fallt eine störende Inkonsequenz auf: Nur bei umstrittenen Liedern, die in seiner eigenen religiösen Biographie eine Rolle gespielt haben, hat er dem Urtext seine liturgische Rezeptionsberechtigung zugestanden. Bezüglich der Liedbearbeitungen muß man allerdings unterscheiden: Die Liederblätter sind ein Dokument des Schleiermacherschen Gottesdienstideals. Im Horizont der nur einmaligen Verwendung stellt sich die Praxis der Liedveränderung - ungeachtet der Beurteilung im einzelnen - grundsätzlich 17
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Vgl. W. Frühwald über den neuen romantischen Typ des Professors, Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Art. Romantik, Sp. 1672. In der übereinstimmenden Verwerfung des Zweckrationalismus sah auch Ch. Albrecht eine Frucht der Romantik; leider hat er diesen Gedanken nicht weiter verfolgt, vgl. Ch. Albrecht, Schleiermachers Liturgik, S. 106. Schon die vielfache, oben beschriebene, Traditionsmischung indiziert, daß Schleiermacher als Prediger und Liturg, als Kirchenmann und Professor kein purer Romantiker gewesen ist. Vgl. das erste der maßgeblichen Kriterien des neuen Gottesdienstbuches: „1. Der Gottesdienst wird unter Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert." Evangelisches Gottesdienstbuch, Berlin 1999, Vorwort, S. 15.
4. Schluß
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anders dar als im BG, mit dem Berliner Gemeinden manipulierte Liedtexte für mehrere Jahrzehnte unausweichlich zugemutet wurden. Hier zeigt sich bei Schleiermacher eine noch ungenügende Beachtung des Unterschiedes zwischen liturgischer und homiletischer Sprache, den erst sein Schüler Alexander Schweizer reflektiert hat.20 Trotz dieser mangelnden Unterscheidung ist Schleiermachers Beharren auf dem Wort grundsätzlich zu begrüßen.21 Allerdings birgt Schleiermachers „Verbalismus" die Gefahr des „Rationalismus" in sich, der Schleiermacher trotz seiner Bemühung um musikalische Festlichkeit fesselte, und der als eines der Hauptmotive seines teilweise problematischen Lied-Revisionismus anzusehen ist. Im rationalen Verstehen von Texten sah Schleiermacher den einzigen Zugang zu ihrer Rezeption. Doch die im Interesse der verbalen und logischen Korrektheit vorgenommenen Korrekturen hindern oft die Selbstentfaltung der Lieder als poetische Zeugnisse alter Frömmigkeitstraditionen. Dieses mangelnde Vertrauen zur Selbstentfaltung von Textzeugnissen der Tradition manifestiert sich auch in seiner Ablehnung der gottesdienstlichen Lektion. Den im Kontrast zur Predigt stehenden Psalmen und Lesungen wird gleichsam ihre Selbstverständlichkeit abgesprochen. Schleiermacher war der Meinung, daß das Bibelwort nur ausgelegt verträglich und verständlich sei. Diese Unterschätzung des tradierten Wortes kann leicht zu einem theologischen Eklektizismus führen. Daß Schleiermacher dieser Gefahr ausgesetzt war, indem er das NT dem AT und das Evangelium dem Gesetz radikal vorzog, ist bekannt. Sicher hängt Schleiermachers Streben nach Verständlichkeit und Rationalität mit seinem anthropozentrischen Ansatz zusammen, daß das Wort letztlich aus dem Inneren des Menschen kommt, daher mitteilbar ist und verständlich sein muß. Dagegen ist von Joh 1,14 aus nichts einzuwenden, doch gerade die johanneischen Schriften kennen und thematisieren das produktive Mißverständnis, das zur Erkenntnis strebt (vgl. Joh 3; lJoh 3,2). Schleiermacher aber erkennt den produktiven Stachel, der im rational Widerständigen steckt, nicht.22 Ihm fehlt das Vertrauen in die Selbstauslegungs- und Selbstentfaltungskraft des Wortes. Diese „Gottesunterschätzung" geht einher mit der Selbstüberschätzung der eigenen hermeneutischen Fähigkeiten, die zwar ungewöhnlich groß gewesen sein mögen, doch
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In seiner Schrift „Wiefern die liturgischen Gebete bindend sein sollen?" plädierte Alexander Schweizer 1836 für die „Ermittlung des Gegensatzes liturgischer und homiletischer Rede im Kultus" (S. 19), vgl. A. Ehrensperger, Theorie des Gottesdienstes (1971), S. 264. Nonverbale Religionsübungen und Zeichenhandlungen verschiedenster Art haben zwar ihre, ζ. T. sogar biblische, Legitimation, doch können sie den Auftrag zur Verkündigung und Auslegung des Wortes Gottes nicht ersetzen. Dabei hatte A. W. Schlegel in seinem Athenaeum-Fragment „Ueber die Unverständlichkeit" (1800) gefragt: „Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes?" Athenaeum III/2, Berlin 1800, S. 350. Die Spannung zwischen Unverständlichkeit und Trivialität ist auch heute aktuell. Jürgen Henkys hat die „Widerstandsfähigkeit" bzw. die „Resistenz gegen Abnutzungsgefahren" als eine Qualitätskategorie des Kirchenliedes bestimmt, J. Henkys, Lieder im Gottesdienst, in: Handbuch der PT, hrsg. von P. C. Bloth u. a„ Bd. 3, Gütersloh 1983, S. 98-111, S. 102.
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ist das an das eigene Charisma gebundene Exempel kein eigentliches zur Nachbildung geeignetes Vor-bild. Die elitäre Gottesdienstgestaltung Schleiermachers ist wesentlich an seine Person gebunden. Schleiermacher hat versucht, den grassierenden Plausibilitätsverlust des Wortes Gottes und der christlichen Botschaft durch ästhetische Qualitätssteigerung und erhöhte subjektive Anstrengungen zu kompensieren. Die von Schleiermacher praktizierte theologische Reflexion ästhetischer Fragen ist notwendig und nachahmenswert, aber Schleiermachers Ergebnisse sind z.T. zeitbedingt und zu überwinden. Vor allem seine unbiblische bilderfeindliche Rhetorik, der rigorose Ausschluß der Instrumente und das Verdikt über die spielerische Seite der Kunst im Gottesdienst sind heute nicht nachvollziehbar.23 Grundsätzlich lauert hinter der liturgischen Ästhetik und perfekten Stilistik latent die Gefahr einer Ästhetisierung der Religion, der Schleiermacher im Gegensatz zu den romantischen Dichtern24 mit seinem betont kirchlichen Gottesdienst bewußt begegnen wollte, die aber immer virulent ist, wenn die Erbauung ins Zentrum rückt, und man muß fragen: Kann ein Gottesdienst, bei dem das Wort vom Kreuz verkündigt wird, überhaupt glatt und einheitlich sein? Kann das zu verkündigende σκάνδαλο ν (lKor 1,23) nicht auch formale Konsequenzen haben? Darum ist die Sperrigkeit des Wortes, auch des nicht ausgelegten Wortes und des mitunter fremdgewordenen Liedtextes gegen Schleiermacher zu verteidigen. Das Problem seiner am alleinigen Maß der Erbauung orientierten Gottesdienstkonzeption („Gottesdienst als Unterbrechung des Alltags") resultiert auch aus seiner immanenten Eschatologie: In Schleiermachers Festgottesdiensten sollen gleichsam himmlische Freuden durch eine ästhetische Durchbildung, elitäre Ausführung und einen teilweise charismatischen Charakter erfahrbar werden. Eine Theologie, der die Transzendenz abhanden gekommen ist, muß Kompensation anbieten, und diese findet im Gottesdienst, insbesondere im Festgottesdienst, statt. Wer aber noch mit einem himmlischen Gottesdienst rechnet, muß vom irdischen Gottesdienst nicht alles erwarten.
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Ähnlich resümiert auch Ralf Stroh, Schleiermachers Gottesdiensttheorie (1998), S. 352: „Schleiermacher war in seiner liturgischen Praxis ein Kind seiner Zeit. Aber er war es in reflektierter Weise. Und der Nachvollzug dieser Reflektiertheit, dieses Problembewußtseins, mag uns dabei helfen, in ebenso reflektierter Weise in unserer heutigen liturgischen Praxis Kinder und nicht Sklaven unserer Zeit zu sein." Vgl. etwa die Künstlernovelle „Das merkwürdige Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger" von W. H. Wackenroder, in: W. H. Wackenroder/L. Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), Leipzig (Reclam) 1981, S. 93-108.
DOKUMENTEN- UND MATERIALANHANG Es folgt ein umfangreicher Anhang von Dokumenten und Materialien. Er umfaßt hauptsächlich bisher ungedruckte Dokumente - vgl. die Anhänge 1) bis 5) und 7) bis 9) - , auf die ich bei meinen Recherchen stieß, die meinen Untersuchungen zu Grunde liegen, und auf die im Text häufig Bezug genommen wird. Anhang 10) beinhaltet eine Liste derjenigen Lieder, die Schleiermacher nach Auskunft der Akten für die Gesangbuch-Commission (GBC) redigiert hat. In Anhang 11) finden sich Abbildungen der analysierten Liederblätter und andere Faksimiles aus handschriftlichen Quellen, die Inhaltsübersicht siehe dort. Bei den hier angewendeten Editionsprinzipien habe ich mich an der neuen Schleiermacher-KGA orientiert: - Heute nicht mehr gebräuchliche Abkürzungen und offensichtliche Schreibfehler werden kursiv ergänzt bzw. korrigiert. - Unsichere Lesarten, d. h. unleserliche bzw. sinnentstellte Passagen werden mit einem Asterix (*) gekennzeichnet, Auslassungen mangels Lesbarkeit werden durch Unterstrich ( _ ) indiziert. - Die Seitenzählung - in geschweiften Klammern: {...} - folgt meist der Foliierung, d. h. die Rückseite eines Blattes wird ζ. B. als lv (verso) gezählt. - Die originale Wortgestalt und Schreibweise wird - Inkonsequenzen ungeachtet - so weit wie möglich beibehalten. Gleiches gilt für die Originalabsätze. - Unterstreichungen im Manuskript werden adäquat wiedergegeben oder gesperrt dargestellt. - Zur Edition der Gesangbuchakten s. u., Einleitung zu Anhang 9).
1) Die Bestallung und Instruktion des Kantors und Musikdirektors Carl Friedrich Rex (1813) In: Vorstand-Collegium der Dreifaltigkeits-Kirche. Acta betreffend die Einrichtung des Singe-Chors 1772-1829 Abth. VII Nr. 2, Blatt 45-47.' {45}Bestallung für den Lehrer Rex, als Cantor bei der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin und Lehrer bei der 1. Parochial-Schule. Wir bestellen hiermit den zeitigen Lehrer Rex beim Friedrich Wilhelms Gymnasium zum Cantor bei der Dreifaltigkeits-Kirche und Schullehrer bei der ersten Parochial-Schule dergestalt und also: daß derselbe den Pflichten eines treuen und gewissenhaften Schullehrers überall eifrigst nachlebe, wie solche die bestehenden oder noch zu erlassenden Gesetze und Verordnungen vorschreiben, mit deren Inhalte er daher, so weit sie ihn angehen, sich gehörig bekannt machen muß; wogegen wir ihm die sämmtlichen Rechte und Einkünfte beider Stellen hierdurch zusichern und ihn dabei, solange er seinem Amte untadelhaft vorstehen wird, kräftig schützen und aufrecht erhalten wollen. [...] So geschehen zu Potsdam den 19. August 1813. Geistliche und Schul-Deputation der Kurmärk. Regierung {46} Instruction für den Musikdirector, Vorsteher des Singechors des Königl. Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums, Cantor und Lehrer der ersten ParochialSchule der hiesigen Dreifaltigkeits-Kirche, Herrn Johann Carl Friedrich Rex. 1. Als Musikdirector fuhrt derselbe an den 3 hohen Festtagen, am Ernte- und Reformations-Feste und bei andern gottesdienstlichen Feierlichkeiten in der Dreifaltigkeits-Kirche beim Evangelisch-Lutherischen Gottesdienste eine zweckmäßige Vocalmusik auf, von welcher er den Text allemahl dem Pastor der Kirche vorher zur Beurtheilung vorlegt. Die Kosten des Drucks des Textes und der Auffuhrung trägt er selbst, wofür er aber auch berechtiget ist, die Texte vor den Kirchthüren durch einige dazu von ihm ausgewählte Chorschüler für den von ihm zu bestimmenden Preis verkaufen zu lassen. 2. Als Vorsteher und Lehrer des Singechors des Friedrich-WilhelmsGymnasiums ist er der nächste Vorgesetzte desselben, und hat das Recht in Ansehung desselben diejenige Einrichtungen zu treffen, die zu dessen Verbesserung ihm zweckmäßig zu sein scheinen, in welchem Falle diese von der Direction der Anstalt unbedenklich werden genehmiget werden.
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Neue Paginierung von A. Reich.
Bestallung und Instruktion des Kantors Rex (1813)
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Die sämmtlichen Mitglieder des Chors sind ihm Achtung und Gehorsam schuldig, wie ihnen solches in den beiliegenden gedruckten Gesetzen für das Singechor, auf deren Befolgung er mit seinem ganzen Ansehen zu halten hat, und wobei er von der Direction mit Nachdruck unterstützt werden wird, vorgeschrieben worden. Wöchentlich dreimahl - in der Stunde von 12 3/4 bis 1 3/4 Uhr, nämlich Dienstags, Donnerstags und Freitags, ertheilt er den Choristen in einem Lehrzimmer des Gebäudes der Real-Schule Unterricht. Diejenigen Seminaristen und Schüler der Real-Schule, welche an diesem Singeunterricht Theil nehmen wollen, und unter die Mitglieder des Chors aufgenommen zu werden wünschen, melden sich zuerst {46v} bei ihm, und wenn sie, seines Erachtens, dieses Unterrichts fähig sind, und dem Chore nützlich werden können, so präsentirt er sie dem Director der Realschule zur Bewilligung des unentgeldlichen Unterrichts. Kann er es bewirken, daß auch im Gymnasium ein Sängerverein zu Stande komme, so ertheilt er auch diesem wöchentlich zweimal in einem Lehrzimmer des Gymnasiums Unterricht, in Einer Stunde, die nicht mit einer öffentlichen Lection besetzt ist, und erhält dafür von jedem Mitgliede dieses Vereins wöchentlich ein Honorar von 2 Groschen Courût. 3. Als Cantor dirigirt er den Gesang in der Kirche bei dem EvangelischLutherischen Gottesdienste an den Sonn- und Festtagen, wie auch in den Wochentagen in allen Predigten - die Beichtvorbereitungs-Predigt am Sonnabend ausgenommen, bei welcher der Küster den Gesang verrichtet. Wenn Gesänge, deren Melodie der Gemeinde nicht bekannt genug sind, gesungen werden sollen, so unterstützt ihn dabei das Singechor; indessen muß ihm solches spätestens am Mittwoch vor dem Sonntage angezeigt werden, damit die Mitglieder des Chors dazu von ihm gehörig vorbereitet werden können. Wenn das Chor bei Beerdigungen vor den Häusern oder auf dem Kirchhofe singen soll, so ist er gleichfalls dabei zugegen, um den Gesang zu leiten, und die erforderliche Aufsicht über das Chor zu führen. Auch bei den vierteljährigen Umgängen des Chors in der Parochie der Dreifaltigkeitskirche zu Ostern, Johann und Michael führt er das Chor gemeinschaftlich mit dem reformirten Cantor, und theilt mit diesem die Einnahme, von welcher aber auch die Choristen einen bestimmten Antheil erhalten. Bei den Umgängen vor und in dem Weihnachtsfeste, welche nach einer neuern Vorschrift des Königl.Departements nicht mehr des Abends sondern bei {47} Tage geschehen sollen, kann er - ohne an der ihm zukommenden Einnahme etwas zu verlieren - die Führung des Chors zwar dem Präfectus überlassen, muß aber für alle dabei vorfallenden Unordnungen verantwortlich sein. 4. Als Lehrer der ersten Parochial-Schule der Dreifaltigkeitskirche, welche eine niedere Bürgerschule ist, und die Schüler zum Unterricht in der Realschule vorbereitet, ertheilt er in der ersten Klasse den Unterricht selbst, für die zweite oder Elementar-Klasse aber ist es ihm erlaubt einen Gehülfen anzunehmen, den er sich von dem Herrn Inspector Herzberg aus dem Seminar erbitten kann. Daß
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er letzteren selbst besolden muß darf nicht erst gesagt werden. Uebrigens kommt ihm die unbeschränkte Aufsicht über die Schule und die Bestimmung des Schulgeldes zu; doch ist er verpflichtet, wenigstens einigen Kindern, die ihm von der Direction der Real-Schule zugewiesen werden, den unentgeldlichen Unterricht ertheilen zu lassen. An die allgemeinen Pflichten, welchen der Herr Musikdirector Rex zu genügen hat, denselben zu erinnern halte ich fur überflüssig, da ich schon zum voraus davon versichert sein zu können glaube, daß derselbe den ihm vorgesetzten Behörden die ihnen gebührende Achtung und Subordination leisten, in den sämtlichen Geschäften seines Amtes die erforderliche Pünktlichkeit und Treue beweisen, und sich überhaupt so betragen werde, wie man es von einem rechtschaffenen Kirchenoffizianten, Schulvorsteher und Lehrer mit Zuversicht erwarten kann. Die mit den vorher bezeichneten Aemtern verbundenen Einnahmen sind nachstehende. {47v} A. Fixirte.2 1. Aus der Realschulkasse das jährliche Cantorgehalt und Holzgeld 2. Aus der Chorkasse, monatlich 5 rth 16 gr 1/24 gr macht jährlich Courant, etwa 3. Aus der königl. Accisekasse an Brauund Bonifikations-Geldern 4. Eine miethsfreie Schulstube á B. Accidentelle, nach sechsjährigem Durchschnitt, 1. Das Recordations- und Leichengeld 2. Die Leichengebühren, welche der Küster monatlich auszahlt 3. Die Einnahme als Leichenbegleiter 4. Der reine Ertrag der Parochialschule Summa.
50 - | 71740 — | — 47 - 8 12 - | -
30 70 24 120 401 -
1 -
gez. A. J. Hecker Königl. Ober-Consistorial-Rath, Pastor bei der Dreifaltigkeits Kirche und Director des Friedrich Wilhelms Gymnasiums und der Real-Schule.
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Feste Einnahmen. In der linken Spalte die rth (Reichstaler), in der rechten die gr (Groschen).
2) Antrag Schleiermachers an die Königlich-Kurmärkische Geistliche- und Schuldeputation vom 1.2.1815 Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Hauptabteilung X (II. Abteilung), Rep. 2 B, Nr.3532. Acta betreffend die Verbesserung des Kirchengesanges und die Remunerierung des lutherischen Kantors für Leitung der Kirchenmusik bei der reformirten Dreifaltigkeitskriche 1815, Blatt 2-3. {2} Gehorsamster Antrag wegen Verbesserung des Kirchengesanges bei der reformirten Gemeine an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin. An Eine Hochlöb liehe YJoräglich Churmärkische Regierungs Geistliehe und Schul Deputation. Seitdem ich das Predigtamt an der Dreifaltigkeitskirche bekleide habe ich es mir besonders sehr angelegen sein lassen, dem, wie bei kleinen Gemeinen nur zu leicht geschieht, sehr verfallenen Kirchengesang wieder aufzuhelfen. Ich suchte bei festlichen Gelegenheiten möglich zu machen, daß abwechselnd einzelne Stophen vierstimmig oder auch figurirt gesungen wurden, theils kleine Motetten und Chöre von guten Meistern den Gesang der Gemeine unterbrachen. Beim gewöhnlichen Gottesdienst dachte ich darauf einen größeren Reichthum von Melodien wieder in Gang zu bringen, denn man war bis auf sehr wenige zurückgekommen. Da es mir an einem Chor gänzlich fehlte, so konnte ich das lezte nur in der Voraussezung wagen, daß unter meinen Zuhörern immer eine Anzahl fester Stimmen vorhanden sind; allein dies bleibt immer eine unsichere, und da diese in der Kirche zerstreut sind, bei einer ansehnlicheren Zuhörerschaft unzureichende Hülfe. Auch für die festlichen, von musikalischen Exhibitionen fehlte es mir nicht an Bereitwilligen geübten Sängern, besonders unter den Mitgliedern der hiesigen Singakademie. Allein die Sache ist dennoch je länger desto schwieriger geworden, weil sich selbst unter denen welchen sie sehr am Herzen liegt niemand auf die Länge der Direction unterziehen will, in{2v}dem mancherlei Zeitaufwand und Kosten damit verbunden sind die Sänger zusammenzubringen, die Stimmen abzuschreiben und die Proben zu veranstalten. Ich muß also besorgen, daß der Kirchengesang bald wieder in den vorigen Zustand zurücksinkt wenn nicht ein Musiker von Profession durch eine angemessene Remuneration kann verpflichtet werden, sich dieser Sache anzunehmen. Der reformirte Cantor Grahl hat hiezu weder Kenntniß und Geschick, noch es kann ihm zur Pflicht gemacht werden, da er nur zum gewöhnlichen Vorsingen, keinesweges aber zu irgend einer Art von Musik Direction berufen ist. Hingegen wäre der lutherische Cantor Rex dazu sehr tüchtig; er ist ein guter Tonkunstverständiger, es würde ihm da er selbst Mitglied der Singakademie ist nicht schwer werden jedesmal die nöthige Anzahl guter Stimmen zusammenzubringen und er könnte auch mit dem ihm untergebenen Chor zu Hülfe kommen.
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Es würde daher nur noch darauf ankommen ihn, da der reformirte Gottesdienst außer seinem Beruf liegt, durch eine Remuneration zu binden. Da nun was beim Gottesdienst gesammelt wird sich wol vorzüglich dazu eignet zum Theil zur Verbesserung des Gottesdienstes angewendet zu werden: so wollte ich hiedurch bei Einer Hochlöbl/cAe« Königliehen Churmärkischen Regierungs Geistlichen und Schul Deputation gehorsamst darauf antragen Dem zeitigen lutherischen Cantor an der DreifaltigkeitsKirche {3} Rex auf den Ertrag des Klingebeutels beim reformirten Gottesdienst eine jährliche Remuneration von 30 Thaler anzuweisen, wofür er sich, so oft es erfordert wird der Musikdirection beim reformirten Gottesdienst zu unterziehen habe, und diese Bewilligung vom 1 Januar dieses Jahres ab laufen zu lassen. Ich würde jedoch bitten um seinen Eifer desto sicherer zu unterhalten ihm dieses nicht als ein Fixum anzuweisen noch weniger als eine feste Zulage mit seiner Stelle zu verbinden sondern nur als Remuneration und so daß es möglich bleibe in Zukunft ohne Schwierigkeit einen Andern an seine Stelle zu sezen. Da dieser Antrag wesentlich nur die Verbesserung des Gottesdienstes betrifft: so habe ich ihn nicht durch das gemischte Kirchen Vorstands Collegium an Eine Hochlöbl/cAe ρ Deputation gebracht, und stelle nun gehorsamst anheim jenes Collegium wegen der pecuniären Seite der Sache zu befragen. Es geht indeß aus den vorgelegten Rechnungen hervor daß die Klingebeutel und Bekkengelder auch diejenigen Ausgaben decken helfen, welche ursprünglich auf die Zinsen reducirt* sind und daß wenn jezt wo diese sparsam eingehen Ueberschüsse bleiben, an der Zulänglichkeit jenes Fonds wenn die Kapitalien erst alle wieder {3v} Zinsen tragen um so weniger zu zweifeln ist; wobei sich von selbst versteht daß die Remuneration nur auf so lange zu bewilligen ist als der Fonds es tragen kann. Berlinde« 1 Febr. 1815
Der Prediger D. Schleiermacher
3) Promemoria des Musikdirektors C. F. Rex (September 1817), gerichtet an die zweite Abteilung des Ministeriums des Innern (Nicolovius) Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Consistorium der Provinz Brandenburg. Hauptabteilung X. Pr. Br. Rep. 40 Nr. 35. Acta Generalia betr. Die Einrichtung der Singe Chöre in den Kirchen der Stadt Berlin. 1818-1837, Blatt 2-8. 1 {1} Dem Königlichen Consistorio wird ein Promemoria des Musik-Directors Rex, einen bey der hiesigen Dreyfaltigkeits-Kirche zu errichtenden Singe-Chor betreffend, urschriftlich, zur Begutachtung und zweckdienlichen weiteren Veranlassung hierneben mitgetheilt. Berlin den 7ten Oktober 1817. Ministerium des Innern, zweyte Abtheilung. Nicolovius An das hiesige Königliche Consistorium. {2} Daß der Gesang in unsern gottesdienstlichen Versammlungen ein äußerst wirksames Beförderungsmittel der christlichen Erbauung und Gemüthserhebung sei, daß er einen bedeutenden und nothwendigen Theil des kirchlichen Ritus ausmache, und daher auf stetes Verbessern desselben Bedacht zu nehmen die Pflicht eines Jeden, der darauf Einfluß haben, und dafür wirksam sein kann, sei, ist wohl eine so allgemein für wahr gehaltene Behauptung, daß sie schlechthin als Grundsatz aufgestellt werden kann. Die Zeitperiode, die den Kirchengesang der Gemeinden verschlechterte, und die Institute für Kirchenmusik eingehn oder zum Erbärmlichen herabsinken ließ, indem sie mit Afterweisheit den Satz aufstellte, die Religion sei Sache der Vernunft, und brauche keiner sinnlichen Mittel zu ihrer Unterstützung, diese Periode trägt schon dadurch die Spuren einer völlig irreligiösen, und wir können dankbar und freudig aussprechen, daß sie selbst vorüber ist, wenn auch ihre unseligen Folgen noch nicht vertilgt, das Gute, das sie zerstörte noch nicht völlig erneuert ist. Was die altchristliche Zeit so herrlich schuf, und in den kirchlichen Ritus verwebte, was die Reformatoren großentheils noch der neuern Kirche ließen oder wieder aneigneten, die frommen und kunstvollen Gesänge, die sonst einen erfreuenden Gegensatz zu dem einfachem Gesang der Gemeinde bildeten, sie verschwanden in jener unglückseligen Periode, weil sie gering geachtet wurden wie alles Wort Gottes. Daher kam es denn, daß die kirchlichen Institute theils aufgelöst wurden, weil die Kosten derselben für andre Zwecke besser dienen zu können schienen (wie z.B. die sonst zum besten der Kirchen besoldeten Instrumentalisten und Stadtmusiker), theils aus Mangel an Achtung und an Unterstützung durch die Gemeinden, nach und nach den ursprünglichen Zweck ihres Daseins
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Dokument nicht paginiert. Auf Blatt 1 befindet sich das Anschreiben des Ministeriums an das Konsistorium.
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ganz aus den Augen verloren, und sich, indem sie gemeinen lucrativen Absichten {2v} preis gegeben waren, sosehr verschlechterten, daß an die Zurückführung derselben zu ihrer ehemaligen edlen Bestimmung jetzt gar nicht mehr zu denken ist. Dies ist die Geschichte der Singechöre, und nicht blos der berlinischen, sondern mehr oder weniger der meisten Chöre des nördlichen Deutschlandes, wie der Verfaßer dieses Aufsatzes seit mehrern Jahren aus mannigfachen eigenen Erfahrungen dreist behaupten kann. Daß diese Chöre dennoch fortvegetiren, liegt darin, daß durch sie noch immer einer kleinen Zahl der ärmsten Stadtkinder einiger Erwerb (wenn auch oft auf Kosten ihrer leiblichen und geistigen Gesundheit) dargereicht wird, und daß die größtentheils so kümmerlichen Gehalte der Lehrer an Schulen und Gymnasien, der Cantoren und Chordirigenten zum Theil dadurch nur herbeigeschafft werden, daß diese Männer mit ihren Chören zu gewissen Zeiten von Haus zu Haus ziehen, und durch Absingen geistlicher oder ungeistlicher Lieder (nach dem Geschmack des Publicums) anfragen, ob man ihnen fur ihre übrigen dem Staat und der Kirche gewidmeten Anstrengungen einigen Lohn zuwerfen wolle. Diese Institute haben bereits dem Zeitgeist unterlegen, und werden durch ihn gewiß über kurz oder lang in Trümmer zerfallen; denn, wenn in ältern Zeiten es anständig gewesen, daß Lehrer der Jugend auf diese Weise ihr Brod bettelten, so ist es doch nach eines jeden Gebildeten Gefühl heut zu Tage höchst entehrend und demüthigend für sie: und was die Knaben selbst betrifft, so zeigt eine lange Reihe von Jahren schon die Abneigung der Einwohner Berlins ihre Kinder dazu herzugeben so sehr, daß nur die allerärmsten gewöhnlich ganz talentlosen Kinder des geringen Erwerbs und der Freischule wegen das Chor besuchen. Von solchen Instituten war also auch nichts zu erwarten, als die neue Zeit begann, die sich vor zehn bis zwölf Jahren der traurigen Periode der Irreligiosität, wo Kirchenthum und geistlicher Gesang ein Gespött und eine Thorheit geworden war, entgegen stellte, und mit Schnelligkeit und Gewalt eine neue {3} Erregung der Gemüther, eine Richtung derselben auf das Göttliche hervorbrachte, die begierig alles verlorene Gute der bessern Vorzeit sich wieder anzueignen wünschte. Frommer und religiöser Gesang trat wieder in sein Recht, und von der allgemeinern Schätzung dieser Kunstgattung zeugen die vielen größern und kleinern Vereine deren sich Berlin jetzt erfreut. Aus ihnen ging zuerst wieder etwas dem Alten ähnliches, wenigstens daran Erinnerndes für die Kirchen hervor: Einzelne Kunstfreunde, die auch zugleich die heißeste Liebe für Kirchenthum beseelte, versammelten sich zu gewissen Zeiten aus eigenem Antrieb, um einen dem Tage angemeßnen feierlichen Chor mit dem Gemeindegesang wechseln zu laßen. Der Verfasser dieses, der gleich anfangs an dergleichen Vereinigungen theil genommen, voll Freude, daß d i e Gattung der Kunst wieder zu Ehren komme, an der er unter treuer Leitung seines Vaters seine frühste Jugend genährt und gestärkt hatte, - sah dennoch ein, daß von diesen Vereinigungen sich erst etwas bleibendes und bedeutsames erwarten lasse, wenn die Leitung ihrer Unternehmungen von einem Kirchlich-Beamteten, der gerade von solcher Gesinnung durchdrungen sei, besorgt werde. Diese Gesinnung
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glaubte er sich zutrauen zu können, und da er die größte Neigung und einigen Beruf zu solchem Geschäft in sich spürte, bewarb er sich im Jahre 1813 um das vacante Cantorat der DreifaltigkeitsKirche, welches er auch so glücklich war zu erhalten. Er entsagte seinem aus Neigung gewählten und mit Freude geführtem Lehramt am Friedrich Wilhelms Gymnasium, um sich nun ganz der Sorge für Kirchenmusik zu widmen. Die Versuche, die er im ersten Jahre seines Dienstes machte, den ihm untergebenen Chor der Realschule, der zum Dienst in der DreifaltigkeitsKirche gestiftet war, wenigstens so weit wieder zu verbessern, daß derselbe kleinere kirchliche Gesänge bei einzelnen Veranlaßungen und bei den heiligen Handlungen in der Kirche würdig ausführen könne, waren fast fruchtlos, theils wegen der oben angeführten Hinderniße, die sich durch den Zeit{3v}geist selbst, a l l e n Chören in den Weg gestellt haben, theils, weil die kriegerische Zeit auch sogar die wenigen Menschen, die früherhin aus dem Seminar für Landschulen zur Besetzung der männlichen Stimmen d i e s e s Chors hinzugezogen worden waren, hinweggerufen hatte. Der Chor, angeschlossen an eine Bürgerschule, aus der die Knaben mit der Periode der Confirmation ins bürgerliche Leben über zu gehn pflegen, kann sich nie, wie andre mit Gymnasien verbundene Chöre Berlins aus sich selbst ergänzen, und die wenigen Seminaristen und andre Gehülfen, die ab und zu während der Dienstzeit des Verfassers Lust hatten als Choristen zu dienen, brachten fast nie die geringste Fähigkeit oder Lernbegierde mit, sondern hatten nur den Erwerb im Auge, und verließen den Chor gewöhnlich sehr bald wieder, da dieser Erwerb freilich jetzt kaum nennenswerth ist. So fehlt dem Chore fast beständig der Tenor, und der Präfektus ist der einzige Bassist. Im Lauf seines zweiten Dienstjahres entwarf daher der Verfasser einen Plan zu Stiftung eines neuen Instituts, das ausschließlich dem Dienst der DreifaltigkeitsKirche gewidmet sein, aus gebildeten jungen Leuten, die vorzüglich durch Lernbegierde herangezogen würden, bestehen, und von allen lucrativen Zwekken ganz entfernt sein sollte. Er ging von der Idee aus, daß gewiß eine große Menge von Knaben und Jünglingen, die ihrer Vermögensumstände halber den theuren Privatunterricht im Gesänge sich versagen müssten, bereit sein würden für einen gründlichen 4 - 6 stündigen wöchentlichen Unterricht, die einzige Verpflichtung gern zu übernehmen, Sonntags Vormittags in einer bestimmten Kirche anwesend zu sein, um den Gemeindegesang zu unterstützen, und die erforderlichen Gesänge, Responsorien pp abzusingen. Beneficien andrer Art, z.B. freier Schulunterricht, Geldunterstützungen, so wie die Aussicht auf Versorgung durch musicalische Aemter Hessen sich mit der Zeit vielleicht hinzufügen, und so könnte jede Gemeinde Berlins leicht ihre Kirchen, oder wenigstens ihre Hauptkirche mit einem solchen blos {4} dem kirchlichen Zweck dienenden, und zu diesem Zweck sorgfaltig unterrichteten Kirchenchor zieren. Es gehörte dazu nichts weiter, als 1) einige Beiträge der wohlhabendem Gemeindeglieder zur Bestreitung der unvermeidlichsten Kosten, und 2) eine Anzahl von Kindern aus den Gemeinden selbst, denen ihre Aeltern den Besuch d e r Kirche in der sie getauft sind und confirmirt werden sollen, vorzugsweise ans Herz legen. Das
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letztre kann und darf zwar nicht erzwungen, oder durch Ueberredung herbeigeführt werden; es bedarf aber auch nur einer kleinen Anzahl von Kindern, um der Sache Eingang und Nachahmung zu verschaffen, und eine Gemeinde aus der jährlich nur hundert Kinder confirmirt werden, wird leicht eine Anzahl von zehn bis zwölf enthalten, die sich aus eigner Wahl unter den obigen Bedingungen ihrer PfarrKirche anschliessen. Was aber die Kostenbestreitung betrifft, so müßte eine Gemeinde sehr engherzig und gegen ihre Kirche sehr gleichgültig sein, ihre Prediger und Aeltesten müßten sich eines sehr geringen Einflusses und weniger Liebe rühmen können, wenn sie nicht wenigstens einige hundert Mitglieder zählte, die durch einen jährlichen Beitrag von einigen Thalern ein solches Werk zu ihrer eignen Ehre, Freude und Erbauung und zum Besten ihrer eigenen Kinder zu Stande bringen möchten. Der Verfasser arbeitete diesen Plan weiter aus in einem Aufsatze „vom Bedürfniß der Kirchen in Hinsicht auf Gesang" und übergab denselben dem Herrn O. C. R. Hecker, damit derselbe entweder als Mitglied der damals bestehenden Commission zur Verbesserung der Liturgie davon Gebrauch machen, oder auch als Pastor der DreifaltigkeitsKirche dasjenige was darin zu billigen wäre, unmittelbar für diese Kirche in Anwendung bringen möchte. Herr O. C. R. Hecker ging so sehr auf diese Ideen und Vorschläge ein, daß er nicht allein den erwähnten Aufsatz mehrern hohen Staatsbeamten mittheilte, sondern auch in seinem Schulprogramm (Michaelis 1815) die ganze Sache einem größeren Publicum vortrug, und den Entwurf der Statuten solches Kirchenchors, der jenem Aufsatze angehängt war im erwähn{4v}ten Programm abdrucken ließ.2 Von verschiedenen Mitgliedern der Dreifaltigkeitsgemeinde, von mehreren Freunden des kirchlichen Gesanges, und Verehrern des Kirchenthums überhaupt sind darauf billigende und beifallige Urtheile geäussert, ja auch schon liberale Anerbietungen zu Bestreitung der Kosten von einigen Personen geschehn, daß indessen innerhalb der seitdem verflossenen zwei Jahre noch nicht zur wirklichen Ausführung dieses Plans hat geschritten werden können, daran sind Localverhältnisse schuld, und vor allem die Schwürigkeit solchen Chor in Verbindung mit einer Schulanstalt zu setzen, in der die jüngern Mitglieder des Chors den wissenschaftlichen Unterricht empfangen können, ohne in Hinsicht des musicalischen Unterrichts, der bei ihnen nicht einen pädagogischen Zweck (wie in den Gesangklassen der Gymnasien) sondern einen artistischen haben muß, zu sehr in Absicht der Zeit beschränkt zu sein. Indeßen wird darüber schon in den verfloßnen Jahren manches gedacht, und in Vorschlag gebracht worden sein, und die Gymnasien werden auf manche Weise zur Ausführung jenes Plans, wenn er sonst gut und annehmlich ist, die Hand bieten können. Zudem ist bei einer so wichtigen und für eine längere Zeit zu unternehmenden Sache jeder Aufschub förderlich, damit die Idee selbst immer reifer werde, und so wie auf der einen Seite das Publicum, sobald nun die Sache wieder angeregt wird, einsehn muß, daß innerhalb dieser Zeit manches hat gedacht, geprüft und vorgearbeitet wer2
Vgl. Andreas Jakob Hecker, Ueber den Gesang in Schulen und Kirchen. Eine EinladungsSchrift, Berlin 1815.
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den können, und daß man seine Beihülfe jetzt zu einer wohlerwogenen Sache in Anspruch nehme, so kann auch andrerseits der Verfasser von sich behaupten in diesen zwei Jahren selbst durch ununterbrochnes Nachdenken über seine Idee sich dieselbe klarer gemacht, und immer mehr die Schwürigkeiten der Unternehmung, aber auch die Mittel zu ihrer Besiegung überdacht zu haben. Er hat noch in diesem Sommer Zeit und Geld aufgewendet um sich an Ort und Stelle eine genaue Kenntniß und Anschauung der beiden herrlichen Institute, die bei jeder neuem Stiftung dieser Art Vorbild und Ideal sein können zu ver{5}schaffen, nemlich der Kreuzschule in Dresden, und des berühmten in seiner Art einzigen Thomaschors in Leipzig: er hat die Bekanntschaft der Direktoren beider Chöre (des Herrn Cantor Weinlich, und des Herrn Musikdirektor Schicht) gemacht, um fortwährend auch ihres Raths bei der Gründung eines hiesigen Instituts theilhaftig zu werden, und sei hier der Anfang auch noch so klein, die Mittel noch so beschränkt, so kommt ja doch alles nur auf den Geist und die Gesinnung an aus der ein solches Institut begonnen wird, um von der Folgezeit sein Gedeihen, und den Wetteifer mit dem was frühere Jahrhunderte schufen, zu erwarten. Es gehört nicht weiter hieher zu erwähnen, daß während seiner vierjährigen Dienstzeit der Verfasser dieses ununterbrochen bemüht gewesen ist, den Mangel eines verpflichteten Sängerchors dadurch zu ersetzen, daß er den einmal erweckten Sinn verschiedner Kunstfreunde weiter angeregt und bei allen feierlichen Gelegenheiten, und an Festtagen einen Kreis dieser Art in seiner Kirche versammelt hat. Es ist ihm gelungen dadurch zuerst wieder die Bekanntschaft mit Meisterwerken des kirchlichen Stils, die schon sehr untergegangen war, unter Sängern und Hörern zu erneuern, und dazu beizutragen, daß beim Volke wieder Liebe und Achtung gegen religiöse Musik entstehe; er erfreut sich des Beifalls der Gemeinden und Kirchengänger, und der unterstützenden Theilnahme der würdigen Seelsorger beider Gemeinden der DreifaltigkeitsKirche. Er würde diese seine aus reiner Liebe zur Sache unternommnen Bemühungen durchaus hier nicht erwähnen, da er fühlt und weiß, wie gering seine Kräfte, und wie wenig das Geleistete gegen das zu Leistende immer nur ist, wenn er nicht zugleich darauf aufmerksam machen müßte, wie unsicher und ohne gehörigen Stützpunkt diese ganze Thätigkeit bleibt, sobald alles auf die Gefälligkeit und Bereitwilligkeit einzeln zusammengeführter Kunstfreunde allein ankommt. Die Vereinigung von eben so viel gutem Willen als bedeutender Wirksamkeit ist nicht allzugroß, der Verlust einzelner in beider Rücksicht ausgezeichne{5v}ter Subjekte ist schwer und oft lange nicht zu ersetzen, und der rühmliche Wetteifer mehrerer Kirchen, der seitdem für denselben Zweck entstanden ist, entzieht jetzt oft Kräfte, die nicht fehlen dürfen, wenn das ganze Unternehmen nicht scheitern oder wirklich etwas würdiges und erbauliches daraus hervorgehn soll. Die Hauptsache aber ist, daß dem Volke selbst die einzelnen musicalischen Erscheinungen an einzelnen festlichen Tagen doch nicht auf rechte Art in Sinn und Herz gehn können, und daß mancher Kirchenbesuchende lieber am Festtage eben so gut, wie an jedem andern Sonntage, sein Lied selbst singen
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möchte, als passiv da sitzen und ein ihm unverständliches Tonstück, sei es auch noch so religiös, noch so kurz, noch so gelungen ausgeführt, anhören. Erst dadurch, daß der figurirten Musik eine bestimmte Stelle im Ritus jedes Sonn- und Festtags angewiesen wird, daß jedesmal zu derselben Zeit ein einfacher herzlicher Gesang vom Chore herab, mit öftrer Wiederholung derselben Tonstücke (damit sie dem Laien nach und nach bekannt und gemüthlich werden), mit dem Gemeindegesang wechselt, oder in die Worte des functionirenden Geistlichen als Responsorium eintritt, so daß er sich mit seinem Inhalt (ζ. B. Amen, Ehre sei Gott, Vater Unser, Glaube, heilig, O Lamm Gottes pp) ganz an den vom Geistlichen vollzognen Act des Ritus ankettet, erst dadurch wird der Figural-Gesang bei dem Volke eingänglich werden, und solche Leute, die keine Tonkunst verstehn, kein Concert besuchen, die aber ihre Graunsche Passion auswendig wissen, und nie versäumen, werden auch in solchen musicalischen Darstellungen Freude und Gemüthserhebung finden, statt jetzt vielleicht durch das ihnen äusserlich und innerlich fremde der Festtagsaufführungen in ihrer Andacht und Gemüthsstille gestört zu werden. Neben dem, was sonntäglich in kleinerm Maaße von einem eigenen Kirchenchor ausgeführt worden, behält denn die Leistung eines gewähltem Personals an feierlichen Tagen recht gut eine Stelle, und wenn sie in Hinsicht des künstlerischen Werths, und der Dauer etwas mehreres leistet, so sieht der Laie doch in ihr immer noch das Gewohnte. {6} Ist nun irgend ein Zeitmoment vorzüglich geeignet, ein Institut dieser Art zu Stande zu bringen, die Gemeinden zur thätig unterstützenden Theilnahme zu veranlassen, und eine neue Epoche für kirchliche Musik zu beginnen, so ist es das herannahende Jubelfest der R e f o r m a t i o n . Ist es nicht die würdigste Feier desselben, im Geiste der Reformatoren der Kirchen ein Institut zu errichten, das, zur Ehre der Religion und zur Erbauung der Gemeinden wirksam, auch zugleich an die Verdienste erinnert, die namentlich D. Luther um den religiösen Gesang hatte? wollte er selbst nicht den nur für den Augenblick abgeschafften Meßgesang auf eine dem Protestantismus gemäße Weise wieder herstellen, wie sich das aus seiner Schrift „von der deutschen Meß" darthun läßt? Des kalten Lobpreisens und der Dankworte bedarf er und sein Werk, das sich durch die Dauer selbst lobt, in unsrer Zeit nicht mehr: nur durch Thätigkeit die kein Hinderniß scheut, durch Beförderung guter Einrichtungen, durch Weiterschreiten auf dem von ihm zuerst gebahnten Wege können wir, und alle spätem Generationen ihm danken, ihn loben und verherrlichen, und würdig sein des großen Werks der Reformatoren zu gedenken. Dies fühlt und hat kräftig ausgesprochen unser verehrter König, und in seine Gesinnung gehn ein die höchsten Staatsmänner, die obersten geistlichen Behörden und so viele religiöse Männer unsrer Stadt aus dem geistlichen und weltlichen Stande: auch unter dem Volke wird und muß es gelingen, wenn nur keine Mühe gespaart, kein günstiger Moment versäumt wird, diese Gesinnung zu verbreiten, und die neu erwachte Liebe zum Kirchenthum in demselben zu stärken und zu thätigen Äusserungen zu bringen. Wer wollte da nicht mit Muth und Beharrlichkeit einmal und öfter versuchen auch dem Gesänge neues Leben und kräftige veredelte Form in unsem Kirchen
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zu schaffen, da er ja so segensreichen Einfluß auf die Erbauung, wie auf das ganze Sittliche im Menschen jederzeit gehabt hat. Mit wie wenig Mitteln der Anfang solcher Unternehmung schon gemacht werden könne, wenn nur Be{6v}günstigung und Beifall der Obern, und Eifer der Unternehmer vorhanden sind, davon zeigen das Inn- und Ausland die herrlichsten Beispiele. Vor wenig Monathen ist hier in Berlin ein kirchliches Institut entstanden, ganz nach den oben angegebenen Ideen und Zwecken eines Kirchenchors: es ist zusammengesetzt aus einer Anzahl Kinder mehrerer Erziehungshäuser, und Waisenanstalten, und wird zum Gebrauch in der Garnisonkirche zu gezogen. Mit Verwundrung hat der Verfasser sich von den Fortschritten die in dieser kurzen Zeit diese vorher ganz in musicalischer Hinsicht ungebildeten Kinder gemacht haben überzeugt, und dies hat seine Idee aufs neue bestärkt, daß eben so aus den übrigen Schulanstalten Berlins kleine Chöre für andre Kirchen Berlins herausgefunden und gebildet werden könnten, die, vielleicht mit mehr Talent ausgerüstet, durch häusliche Erziehung schon weiter gebildet noch mehr Sinn mitbringen, und das Gelingen nicht weniger möglich machen würden, als jene. - Eine Notiz von einem ausländischen Institute, die dem Plan eines Kirchenchors sehr interessante Ideen suppeditirt, möge gleichfalls hier ihre Stelle finden, wie sie in öffentlichen Blättern vor einiger Zeit gegeben wurde. „Die Musik-Gesellschaft des österreichischen Staats, welche ein vaterländisches Conservatorium der Musik gründen will, hat beschlossen den Grund zu dieser Anstalt durch Errichtung einer S i n g s c h u l e zu legen, unter Leitung des Capellmeisters Salieri. Es werden im ersten Jahre 12 Knaben, und 12 Mädchen (jedes Geschlecht besonders) wöchentlich 4mal im Gesang unentgeldlich unterrichtet werden. Diese Zahl von 24 Zöglingen soll jährlich mit 12 neuen vermehrt werden, so daß am Ende des vierjährigen Lehrcoursus 60 Zöglinge vorhanden sein werden. - Die Mitglieder der Gesellschaft, sowohl die ausübenden, als die Unterstützenden haben das Recht, solche Knaben und Mädchen zwischen 8 und 12 Jahren vorzuschlagen." Siehe Spenersche Ztg. 26t. Juni 1817. So strebt alles danach, Sinn für Gesang, und mit ihm eine mildere Sitte, eine bessere Generation zu bilden: sollten da die Kirchen zurückbleiben müssen? Sollten die Einwohner Berlins nicht angeregt werden können, das Ihrige zu Beförderung des religiösen Sinnes auf mancherlei Weise beizutragen? {7} Es bedarf zunächst nun nur einer doppelten öffentlichen Auffordrung, zu der jede Kirche, die das Gute will, sich die Erlaubniß der obersten Behörden einzuholen hat, und der Verfasser berücksichtigt nunmehr, wiewohl er glaubt, daß seine Ideen allgemein genug sind, um überall Eingang zu finden, nur die speciellen Verhältnisse seiner Diöces. 1. Möge an die Einwohner und Gemeindemitglieder der Dreifaltigkeits-Diöcese eine gedrukte Auffordrung erlassen werden, sich zu erklären, welchen pecuniären Beitrag sie (vierteljährig, oder jährlich) zum Besten eines Kirchenchors für die DreifaltigkeitsKirche zu geben im Stande, und geneigt sind. Es müsse ihnen darin die Wichtigkeit der Sache ans Herz gelegt, und der Plan des Instituts, sowie seine Einwirkung auf Erbauung der Gemüther, Verbesserung
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des Gemeindegesangs, und BefÖrdrung der Jugendbildung der Zöglinge selbst auseinander gesetzt werden. Die kleinsten Beiträge mögen nicht verschmäht werden: wer aber im Stande ist eine grössre Summe auf einmal (die als Capitalbestand dienen könnte) zu zusteuern, könnte als stiftendes Mitglied angesehn, und zu der allgemeinen Leitung und Direktion dieses Kirchenchors hinzugelassen werden. Der Sinn für die kirchlichen Einrichtungen, und namentlich für religiösen Gesang hat sich in dieser Gemeinde vorzugsweise gut erhalten, und es ist zu hoffen, daß die Liebe zu ihrer Kirche und ihren würdigen Seelsorgern sich hierbei so thätig beweisen werde, als es irgend wo nur gehofft werden kann. Uebrigens wird, wenn auch nur ein kleiner Anfang gemacht ist, ein günstiger Erfolg und das Erblicken einiger Frucht der Bemühungen dem Werke von Jahr zu Jahr mehr Unterstützung bewirken. 2. die zweite Auffordrung (allenfalls durch die öffentlichen Blätter) ist die an Zöglinge des zu bildenden Instituts. Alle diejenigen Knaben, (ja auch Töchter aus der Gemeinde) die sich verpflichten wollen wenigstens einige Jahre den unentgeldlichen Unterricht treu zu benutzen, und sonntäglich in der Kirche anwesend zu sein (worüber ihnen die genauem Bestimmungen mitzutheilen sein würden) mögen sich an einem zu bestimmenden Orte melden, und in Absicht auf Gesangfahigkeit geprüft werden. In Hinsicht ihres sittlichen Lebenswandels hätten sie glaubwürdige und vollgültige Zeugnisse bei{7v}zubringen. - Von jetzt an werden zwölf Freistellen entweder im Friedrich Wilhelms-Gymnasium, oder in den andern Parochie-Schulen gestiftet (und die Entschädigung an Schulgeld den Schulanstalten aus dem Fond des Instituts ersetzt) und ein jeder, der um freie Schule ansucht, wird erst in Hinsicht seiner Gesangfähigkeit geprüft, der Taugliche ist zum Kirchendienst verpflichtet, und hat vorzugsweise auf Freistellen in den Schulen Anspruch. Was nun die Besetzung der männlichen Stimmen des Kirchenchors betrifft, so müßte gleichfalls eine Auffordrung an solche junge Männer, die Talent zur Musik und wo möglich schon vorher Unterricht im Gesänge gehabt haben, ergehn, sich für den Dienst in der Kirche zu melden, um dadurch Gelegenheit zum weitern Fortschreiten in der Kunst durch Theilnahme an den Singstunden zu bekommen. Bis nach einigen Jahren die jetzt hinzutretenden Knaben ins männliche Alter übergegangen sind, und der Chor seine Stimmen aus sich selbst ergänzt, muß man mit einem schwachen und kleinen Anfang in dieser Hinsicht zufrieden sein, und mancherlei Mittel versuchen, Erwachsene dazu zu vermögen, ζ. B. Beschränkung ihrer Verpflichtung in der Kirche gegenwärtig zu sein auf e i n e n Sonntag im Monath, wenn irgend die Anzahl der sich Meldenden eine Theilung dieser Art zuläßt. - Wenn die ganze Sache als eine Ehre erscheint, wenn von den obersten Behörden einiges Gewicht auf solches Institut gelegt, wenn es durch die Gemeinden geehrt und unterstützt wird, so wird es nicht an Motiven fehlen, die diesen und jenen jungen Mann, der am Sonntag keine Geschäfte, und in der Woche nur einige Stunden Musse hat, wenigstens auf einige Zeit zu einem solchen Versuch veranlassen. Schullehrer, junge Mu-
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sikstudirende, zumal solche, die sich kirchlichen Diensten widmen wollten, würden am leichtesten dazu zu gewinnen sein: und wenn es erst der Fond des Institut erlaubt, würde eine anständige Remuneration derer, die etwas bedeutendes leisteten, nicht weniger ehrenvoll für diesen als für jeden andern Staats- und Kirchendienst erscheinen. {8} Der Verfasser behält sich vor dasjenige, was er in Hinsicht der Organisation des Kirchenchors, der Anordnung seiner Uebungs- und Unterrichtsstunden, des Kostenbetrags (soweit sich dieser vorausbestimmen läßt) und der Theilnahme des Organisten der Dreifaltigkeitskirche an den wöchentlichen Proben in der Kirche selbst, überlegt und entworfen hat, in einem besondern Aufsatze, sobald es verlangt wird, gehorsamst zu submittiren. Jetzt war ihm nur darum zu thun, die ganze Sache im Allgemeinen wieder anzuregen, mehr noch, als es ihm in seinem frühern Aufsatze gelungen ist, das Bedürfniß der Kirche, aber auch die Möglichkeit der Ausführung zu zeigen, und seine eigene Gesinnung, seinen Eifer für die Sache des Kirchengesanges, und seinen heissen Wunsch, alle seine Kräfte in d i e s e m Felde der Thätigkeit verwenden zu können, zu documentiren. Möge er die Freude haben, seinen Eifer anerkannt, seine Pläne gebilligt, und durch die kräftige Unterstützung seiner verehrungswürdigen Obern recht bald ins Werk gerichtet zu sehn; mögen recht bald durch kräftige Auffordrungen der erwähnten Art die Gemeinden auf die es ihm im Einzelnen ankommt, angeregt werden auf würdige Weise das Secularfest der Reformation zu begehn, und dem vierten Jahrhundert der evangelischen Kirche eine Stiftung zu erschaffen, die den frommen Sinn der ersten Jahrhunderte und der Stifter der evangelischen Gemeinde Christi wieder mehr und mehr auszubreiten behülflich werden kann. Geschrieben, Berlin im September 1817. C. F. Rex, Chordirektor und Cantor an St. Dreifaltigkeit.
4) Promemoria des Musikdirektors C. F. Rex vom 14.12.1817, gerichtet an das Kirchenvorstands-Collegium der Dreifaltigkeitskirche Vorstands-Collegium der Dreifaltigkeits-Kirche. Acta betreffend die Einrichtung des Singe-Chors 1772-1829, Abth. VII Nr. 2, Blatt 8-11. {8} Promemoria Im Jahre 1813 hatte ich mich um das vakante Cantorat an der Dreifaltigkeitskirche beworben, in der Absicht meine Kräfte und Thätigkeit der kirchlichen Musik und dem weitern Verbreiten derselben vorzüglich widmen zu können. Das wenige was in den letzten zwei Decennien unter dem Namen Kirchenmusik in unsrer Stadt existirt hatte, war nicht des Namens werth (einzelne lucrative Ausfuhrungen ausser der Zeit des Gottesdienstes abgerechnet) und erinnerte kaum an die eigentliche den Cultus unterstützende und erhebende Musik, wie sie vor Zeiten bei uns gewesen war, und auch jetzt noch in benachbarten Ländern fortdauert. Nur erst in den neusten Zeiten bildete sich eine neue, in ihrer Organisation ganz von dem früheren verschiedne religiös-musicalische Feier dadurch daß einzelne Gesangkundige und Kirchenverehrer zu Ausführung religiöser Gesänge an festlichen Tagen versammelt wurden. Doch war dies nur ein Keim, aus dem nicht eher wirklich Frucht für kirchliche Erbauung entstehen zu können schien, bis diese einzelnen Versuche theils häufiger, theils durch kirchlich Beamtete geregelt und mit Sorgfalt eingerichtet würden. Dies war um so nöthiger, da der Geist der Zeit, wie großentheils auf alle religiösen Verhältniße, so auch besonders auf die von alten Zeiten her vorhandnen verpflichteten kirchlichen Musikinstitute so sehr nachtheilig gewirkt hatte, daß von ihnen her kein den neu erwachten religiösen Sinn des Volks entsprechendes Einwirken mehr zu erwarten stand. Zu meiner Freude ward ich durch das mir zutheil gewordene kirchliche Amt {8v} in den Stand gesetzt auf dem angegebnen neuen Wege etwas zur Beförderung der guten Sache beizutragen, und durch öftere Veranstaltung musicalischer Aufführungen den Sinn dafür unter Hörern und Ausübenden zu befördern. Im Jahre 1815 ward ich von des Herrn Doktor Schleiermacher Hochwürden befragt, ob ich mich der musicalischen Feierlichkeiten auch bei seinen Predigten annehmen wolle. Ich fand in dieser Auffordrung nicht allein eine Gelegenheit gegeben meiner Neigung für die Sache selbst immer mehr zu genügen, sondern auch zugleich dem genannten Manne, in dem ich einen meiner t e u e r sten academischen Lehrer verehre, einen Beweis meiner Achtung und Dankbarkeit zu geben, und so versprach ich ihm, auf gleiche Weise wie es schon seit mehreren Jahren bei seinen Predigten durch andre geschehen war, für Einrichtung und Leitung kirchlicher Musikaufführungen zu sorgen, und aus seinen Zuhörern die mir bekannten Gesangfreunde bisweilen zu versammeln. Dies sah ich aber an als eine Privatsache, nicht als Dienst, und als eine Gefälligkeit gegen
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den Herrn D. Schleiermacher, nicht als eine Verpflichtung gegen die reformierte Gemeine der Dreifaltigkeitskirche: ja ich würde seinem Wunsch (sobald es meine Dienstgeschäfte zuliessen) auch eben so gern entgegen gekommen sein, wenn er bei einer andern Kirche, als bei der, wo ich mein kirchliches Amt führe, stände. Sehr überraschend war mir daher eine Notification des Vorstandscollegiums der Dreifaltigkeitskirche de dato 26. Juli 1815 des Inhalts, daß von Seiten einer hochlöbl.geistlichen und Schul-deputation der köHzg/j'cAkurmärkischen Regierung der Antrag genehmigt sei, mir für Leitung der Kirchenmusik beim Gottesdienst der reformierten Gemeine der Dreifaltigkeitskirche eine Entschädi{9}gung von jährlich dreissig Thalern aus der reformierten Kirchenkasse zu zahlen. Dies machte mich bedenklich, und setzte mich in ein Verhältniß zu der Kirche selbst, an das ich bis dahin nicht gedacht hatte: ja es schien aus den Musikaufführungen eine Verpflichtung zu machen, da doch eine solche ohne ein wirklich pflichtmäßig vorhandenes Personale gar nicht denkbar war. Ich äusserte diese wichtigen Bedenklichkeiten dem Herrn D. Schleiermacher, ward aber von ihm deshalb beruhigt, indem er sich auf die limitirende Clausel in jener Notification „so lange ich mich der Leitung dieser Kirchenmusiken unterziehen würde" berief, und darin lag freilich ein augenblickliches Aufhören jenes Verhältnisses, sobald äussere Gründe, besonders der Mangel an brauchbaren und bereitwilligen Gesangfreunden eintreten mögten. Nun wäre es eine zu weit getriebne Aengstlichkeit, oder undankbares Verschmähen so zuvorkommender Güte des Vorstandscollegiums gewesen, wenn ich mich geweigert hätte jene Entschädigung anzunehmen, wenigstens für die erste Zeit: ein Berechnen des Verhältnisses jener Summe zu meinen Verwendungen an Zeit und Mühe fiel mir gar nicht ein: ich nahm sie als Geschenk, und keinesweges als Gehalt, beschloss auch sogleich fernerhin die nothwendigen Auslagen für Notenschreiben, Wagen (um entfernte Sängerinnen bei schlechtem Wetter zur Kirche zu führen) und dgl. nicht mehr, wie vorher geschehn, mir aus der reformierten Kirchencasse ersetzen zu lassen. So richtete ich während des Jahrs 1815 beim reformierten Gottesdienst Musicalische Aufführungen ein am 1. Ostertage, 2. Pfingsttage, 1. Advent, und 2. Weihnachtstage: daneben beim lutherischen Gottesdienst am 5. März (Passionsmusik), 2. Ostertag, 1. Pfingsttag, am 29. October (Reformationsfest), am 26. November (Todtengedächtnißfest), und 1. Weihnachtstage. {9v} Nebst diesen zehn Musikaufführungen hatte ich auch noch zwei, die eigentlich keine von beiden Confessionen betrafen, nemlich die Musik beim ersten Bibelfeste (den 2. August) und die beim Gottesdienst an des Königs Geburtstage einzurichten: und zu diesen zwölf Aufführungen, und eben so vielen Proben in der Kirche selbst waren fast jedesmal zwischen dreissig und fünfzig Personen, meistentheils immer dieselben, aus allen Gegenden der Stadt - selbst aus den entferntesten Strassen des Königsstädtschen Viertels - bereitwillig erschienen. - Daneben waren indeßen auch einzelne üble Erfahrungen nicht ausgeblieben: manche früher (für 2-3mal) bereitwillig Erschienene fingen an abzuschlagen, unbestimmt zuzusagen, oder wol gar ohne Anzeige wegzubleiben: und mit jedem neuen
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Versuche fehlten mehrere, auf die sonst in jeder Hinsicht zu rechnen war. Dazu kam noch theils der allmählige Verlust trefflicher und eifriger Sänger und Sängerinnen, die unsre Stadt verliessen (ich könnte davon mehr als zwölf namhaft machen) und die weder für die Kirche noch in vielen andern musicalischen Kreisen sobald ersetzt werden können: theils der immer mehr zunehmende Wetteifer andrer Kirchen, die beständig ihre Zuflucht zu derselben Quelle - den auf der Singakademie versammelten Sängern - nahmen. So fingen nach und nach Herr Prediger Grell, Herr Musikdirektor Hellwig (für den Dom) Herr Organist Grell (für die Parochialkirche) an Musikaufführungen zu veranstalten, da früher ausser Herrn ConsistorialRat Ritsehl und mir niemand daran gedacht hatte. (Ja einzelne male, z.B. beim diesjährigen Reformationsjubiläum wurden durch eine französische Kirche, sowie durch die Feierlichkeiten in Neuhardenberg, und die Reise mehrerer Beamten nach Wittenberg uns sehr viele bedeutende Sänger entzogen.) - Wenn nun an einzelnen Fest{10}tagen sich die Sache noch durchführen Hess, troz der Collisionen, und der Häufung der Einladungen, und der Verminderung brauchbarer Sänger und Sängerinnen, so ward doch die Ausführung von Musiken an Doppelfesttagen immer schwerer, und ich sah mich genöthigt im Jahre 1816, nachdem ich nocheinmal im Osterfeste an b e i d e n Tagen eine Musik eingerichtet hatte, mich für das Pfingst- und Weihnachtsfest desselben Jahres auf jedesmal e i n e n Festtag zu beschränken, und sorgfaltig alle Collisionen zu berechnen, um derer gewiß zu sein, die nicht entbehrlich sind, und die, auch früher eingeladen, doch m i r ausbleiben würden, wenn sie eine andre Auffordrung von einer Kirche, der sie angehören, oder nahe wohnen, oder von einem näher mit ihnen Befreundeten erhalten. Die Beschränkung auf e i n e n Tag in den Doppelfesten ward von mir den beiden verehrten Seelsorgern unsrer Dreifaltigkeitskirche als nothwendig dargethan, und von ihnen als in der Regel unvermeidlich erkannt: und so wurde auch im laufenden Jahre 1817 im Osterfest nur bei dem Gottesdienst der lutherischen Gemeinde, in Pfingsten nur bei der reformierten Predigt eine Musik aufgeführt. - Die Festlichkeit des diesjährigen Reformationsfestes trieb mich an, an beiden Festtagen einen Sängerchor einzuladen, und ich habe für die mannigfaltigen Arbeiten zu diesem und ähnlichen Festlichkeiten jener Tage die Satisfaction der Zufriedenheit meiner hohen Vorgesetzten und der Zuhörer gehabt. - Aber die oben angeführten Gründe beweisen genugsam, daß dennoch in den gewöhnlichen Doppelfesten nicht möglich ist für mehr als einen Tag ein Personal auf daß man in Hinsicht der Pünktlichkeit, und in Hinsicht der Tauglichkeit rechnen kann zusammen zu bringen. Dagegen habe ich in den beiden Jahren 1816 und 1817 gern manchen einzelnen Festtag benutzt, um die Zahl kirchlicher Aufführungen nicht zu sehr zu vermindern. So wurde {10v} im Jahre 1816 ausser dem Friedensfest (18. Janwar) und dem Gedächtnißfest für die Gefallnen Krieger (4. Juli) (welche die Confession nicht angingen) noch am 24. November am Gedächtnißfeste der Verstorbenen der Choral: o wie seelig pp mit der Antwort von 16 ausgewählten Sängern ausgeführt: im Jahre 1817. waren am Neu-
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jahrstage und am ersten Fastensonntage bei der ref. Predigt Musikaufführungen, weil weder am Weihnachtsfest 1816 noch am Osterfest 1817 in der reformierten Gemeinde solche statt haben konnten. Eben so ward - weil am 1. Pfingsttage keine Musik bei der lutherischen Gemeinde war, dagegen am Himmelfahrtstage eine Musikauffuhrung eingerichtet. Auf diese Weise hoffe ich, wenn mir Gott die Kräfte gibt, und wenn die Bereitwilligkeit der Einzuladenden meinen Wünschen entspricht, auch im künftigen Jahre fortzufahren. Doch scheint es mir nothwendig, daß diese von mir bisher befolgte, und durch die Umstände, und die Lage der Dinge gebotne Ordnung von Seiten der beiden Ministerien unsrer Kirche genehmigt und feierlich gebilligt werde. Ich hätte schon längst über die Wahl des e i n e n von beiden Festtagen eine bestimmte Norm gewünscht, wenn nicht eine solche wegen der vielen Zufälligkeiten denen das ganze Musikwesen noch unterworfen ist fast unmöglich wäre. Denn ausser den Schwürigkeiten, die aus dem Personal entstehen, bieten sich noch viele andre dar: z.B. die Abwechselung mit den Gesangstücken, die Möglichkeit für einen bestimmten Gesang gerade d e n Sänger, der es mit Sicherheit auszufuhren vermag, zu bekommen und der gleichen. Wenigstens läßt sich nicht auf lange Zeit vorausbestimmen, (was freilich in Hinsicht der Vorarbeiten mir selbst sehr wünschenswerth wäre) ob jedesmal der erste, oder der zweite von Doppelfesttagen zur Musikauffuhrung gewählt werden solle. Leichter möchte es unter übrigens gleichgünstigen Umständen sein zu bestimmen, daß wenn in einem Jahre eine Musik {11} bei der einen Gemeine aufgeführt wäre, im andern, bei demselben Feste die Musik der andern zufiele. Aus diesem Gesichtspunkte hatte ich auch schon bei mir beschlossen für das bevorstehende Weihnachtsfest die Musik am zweiten Festtage einzurichten, da drei Jahre hintereinander die Musik auf den ersten Festtag gefallen war, und also immer bei der lutherischen Gemeine, und da mein Vorrath an passenden Stücken für diesen Augenblick fast erschöpft ist, das alte aber besser nach längerer Zeit erst wiederkehren kann. - Aber ausser diesen Privatgründen kamen auch aus der mir schon bekannt gewordnen Collision mit einer andern Kirche Gründe hinzu, die mich für den Wechsel in diesem Jahre bestimmen müßten, und dieselben Schwürigkeiten würden statt finden für den e r s t e n Festtag, wenn auch am z w e i t e n keine Musik eingerichtet würde. Daß ich gern meine ganze Zeit und alle Kräfte der Kirche widmen möchte, kann ich betheuren, und seit Jahren habe ich den Wunsch zu erkennen gegeben, daß der Staat, oder die Gemeinden doch etwas weniges thun möchten um einen sichern und wohlbegründeten Stützpunkt meiner Thätigkeit, und der musicalischen Verschönerung des Cultus zu geben. Vielleicht wird auf eine oder die andre Weise bald einmal so für die innre Verschönerung der Kirchen gesorgt, wie unser Monarch jetzt die äussre berücksichtigt. - Jetzt müßen, um wenigstens das zu erhalten, was da ist, die mannigfaltigsten Motive bei den verschiednen Individuen, die mit Bereitwilligkeit und ohne die Mühe zu scheuen, den Kirchen ihre Hülfe schenken, benutzt werden. Aber erst, wenn taugliche Sängerchöre und eine Anzahl braver Instrumentisten für den Dienst in der Kirche verpflichtet sind, und sonntäglich erscheinen, werden wir uns in Hinsicht
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des musicalischen Glanzes dem Auslande und unsrer Vorzeit wieder nähern können, und nicht den guten Willen, die Gefälligkeit {1 lv} ja oft sogar nur die Eitelkeit der Dilettanten in Anspruch nehmen müssen, damit sie nur nicht ermüden. Sehr dringend wünsche ich die genauere Bestimmung in Hinsicht der oben erwähnten O r d n u n g in sofern überhaupt eine Musikauffuhrung statt haben kann: und es kommt also darauf an zu entscheiden: ob 1) entweder von jedem Doppelfest der e r s t e oder z w e i t e Tag zur Musikaufführung einmal für immer entschieden bleiben solle, oder ob 2) der Tag selbst nach verschiednen Jahren verschieden bestimmt werden könne, so daß in einem Jahr die ersten - im andern die zweiten Festtage gewählt werden: oder 3) ob die Musikaufführungen in der Art wechseln sollen, daß in einem Jahr die Musik in einem und demselben Feste der einen, im andern Jahre der andern Confession zufalle. Da weder die Gemeinden noch die Kirche unmittelbar einigen [besser: eigenen] Antheil an diesen jetzt bestehenden Musikaufführungen haben, so steht nach meinem Erachten die Entscheidung darüber lediglich und als Resultat collegialischer Berathung dem Herrn Oberconsistorialrath Hecker Hochwürden und dem Herrn Doktor und Professor Schleiermacher Hochwürde« zu, und was von diesen verehrungswürdigen Männern in dieser Hinsicht beschlossen werden wird, soll mir in Rücksicht meiner Person und meiner einzelnen Thätigkeit für die Kirche, Gesetz sein. Berlin, den 14. December 1817
C. F. Rex.
5) Aus der Textsammlung zur Unionsagende der Dreifaltigkeitskirche vom Februar 1822 Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Consistorium der Provinz Brandenburg. Friedrichswerder Dreifaltigkeitskirche. Acta betr.: Vereinigung der beiden Gemeinden der Dreifaltigkeits Kirche 1820-22. Hauptabteilung X. Provinz Brandenburg, Rep. 40 Nr. 876.1 Anschreiben der Superintendenten Küster und Marot an das Konsistorium „Berlin den 23.Februar 1822. Die Unterschriebenen überreichen die für die hiesige DreifaltigkeitsKirche bestimmte und entworfene Agende. Einem Hochwürdigen Consistorium der Provinz Brandenburg überreichen wir ehrfurchtsvoll zur hochgeneigten Prüfung und Genehmigung diverse Formulare zu den geistlichen Amtshandlungen, wie sie in der Dreifaltigkeitskirche nach vollendeter Union der darin eingepfarrten beiden evangelischen Gemeinden gebraucht werden sollen. Der Pastor D. Schleiermacher hat sie aus den bisher bei diesen Gemeinden gebrauchten, sowohl lutherischen als reformirten Agenden so zusammengesetzt, daß jede Gemeinde in sämtlichen Formularen etwas von dem findet, woran sie gewöhnt ist. Zugleich müssen wir aber noch bemerken, daß diese unierte Agende nur interimistisch und so lange gebraucht werden soll, bis die allgemeine, woran jetzt eine besondere Commission im Auftrag der Provincialsynode des Berlinischen und Potsdamischen Regierungsbezirks arbeitet, erschienen sein wird. Küster
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Die gesamte Agendenabschrift hat 42 Seiten. Die hier vorliegende Seitenzählung ist nicht original und nicht durchlaufend. Die Agende besteht aus folgenden Stücken: S. 1: Morgen-Gebet S. 2: Ein Anderes S. 5: Handlung der Kindertaufe I. S. 8: [Handlung der Kindertaufe] II. S. 13: Ermahnung an die Gevattern. S. 14: Vorbereitung zum heiligen Abendmahl I. [Abendmahlsvermahnung I.] S. 16: Oder [alternative Abendmahlsvermahnung I.] S. 17: Absolution S: 18: II. [Vorbereitung zum heiligen Abendmahl II., Abendmahlsvermahnung II.] S. 23: Oder [alternative Abendmahlsvermahnung II.] S. 24: Absolution S. 25: Vor der Austheilung des heiligen Abendmahls I. S. 28: II. [Vor der Austheilung des heiligen Abendmahls II.] S. 32: Nach der Austheilung des heiligen Abendmahls I. S. 33: II. [Nach der Austheilung des heiligen Abendmahls II.] S. 34: Form der ehelichen Vertrauung I. S. 37: II. [Form der ehelichen Vertrauung II.]
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Morgen-Gebet. Geliebte in dem Herrn. Laßt uns unsere Herzen zu Gott erheben und mit einander also beten: Heiliger Gott, barmherziger Vater in Jesu Christo! Wir sind vor deinem heiligen Angesicht versammelt, um uns an unserm christlichen Ruhetage zum Heil unserer Seelen aus deinem göttlichen Worte zu erbauen. Wohne du darum nach deiner Verheißung auch in dieser Stunde unter uns! Segne Gesang und Gebet! Gieb deinen Dienern Muth und Weisheit um dein Wort in aller Freudigkeit zu verkünden und mit rechtem Verstand auszulegen! Sammle unser aller Gemüther zu einer heiligen Stille, und entferne alle störenden Gedanken, damit wir durch wahre Andacht einander erbauen! Sei du durch deinen Geist wirksam den Verstand zu erleuchten den Willen zu heiligen und alle Begierde auf dich zu richten; ja thue Aller Herzen auf, damit dein Wort in uns Wurzel fasse, und viele Früchte bringe zum ewigen Leben. Erhöre {lv} uns um Jesu Christi deines lieben Sohnes willen, welchem sammt dir und dem heiligen Geiste sei Lob und Ehre und Preis und Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar, daß euer Geist sammt Seele und Leib unsträflich behalten werde bis auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi. Getreu ist der euch ruft, der wird es auch thun. Amen. Ein Anderes. Geliebte in dem Herrn! Lasset uns vor dem Angesichte Gottes uns demüthigen und ihn aus Grund unserer Herzen also mit einander anrufen: Barmherziger getreuer Gott und Vater, der du mit deinem Sohn und heiligen Geiste regierest in Ewigkeit! Wir sagen dir Lob und Dank für alle Wohlthaten die wir ohne Unterlaß von deiner milden Güte empfangen, welche mit {2} weisem und mächtigem Schutz über uns Allen waltet. Insonderheit danken wir dir, daß du auch unter uns die Finstemiß des Aberglaubens und der Unwissenheit vertrieben, aus uns das helle Licht der christlichen Wahrheit hast lassen aufgehen, so daß wir deinen Willen recht erkennen und lernen können, wie wir christlich leben und seelig sterben sollen. Wir bitten dich gütiger Gott und Vater du wollest solch Gnadenlicht deines Evangelii uns und unsem Nachkommen erhalten; und damit wir auch wahrhaft zu deinem Volke gehören, so vergib uns alle Sünde und Uebertretung um deines Sohnes Jesu Christi willen, und heilige uns durch seinen Geist je länger je mehr daß wir der Welt und aller weltlichen Lust von Herzen absagen und unsere Freude darin suchen dir zu dienen in Heiligkeit und Gerechtigkeit. Und da wir nach deinem Befehl hier versammelt sind unsern christlichen Ruhetag in rechter Andacht zu feiern: so richte du selbst Herz und Sinnen auf das Eine nothwendige. Gieb deinen Dienern Gnade dein Wort freimüthig und lauter {2v} zu verkündigen! Oefiie die Herzen der Hörer, und erleuchte ihren Verstand zu lebendiger Erkenntniß, daß wir Alle dein Wort zu unserm Heil annehmen und in reinem Herzen bewahren. Verleihe uns getroste Zuversicht dich
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anzurufen, und erhöre Gebet und Fürbitte! Mache uns aber auch treu, deinem Worte gehorsam zu folgen, und es auch mitten unter unserer Berufsarbeit fleißig zu erwägen und auszuüben! Damit unser ganzes Leben ein rechter Gottesdienst sei, und wir nicht allein diesen Tag sondern auch alle übrige unseres kurzen Lebens von allen bösen Werken freien*, bis wir endlich in dein ewiges Reich eingehen, wo wir deine großen Thaten mit allen deinen Auserwählten rühmen und preisen werden immerdar. Amen. Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar, daß euer Geist sammt Leib und Seele unsträflich behalten werde bis auf die Zukunft unsres Herrn Jesu Christi. Getreu ist, der euch rufet, der wird es auch thun. Amen! Es folgt „Handlung der Kindertaufe." I und II und „Ermahnung an die Gevattern." Vorbereitung zum heiligen Abendmahl. I. Geliebte in dem Herrn! Dieweil ihr euch bereiten wollt das Abendmahl unseres Herrn Jesu Christi würdig zu begehen: so bedenket daß niemand zu diesem heiligen Mahle gehen soll, als wer ein wahrer Jünger Jesu Christi ist; und hütet euch, daß keiner unter euch wie ein Gottloser oder Heuchler oder mit einem unbekehrten und unversöhnlichen Herzen sich zum Tisch des Herrn nahe, sondern nur mit einem wohlgeprüften Gemüth. Denn nur ein solcher wird hier wahrhaft erfreut und erquicket und an dem geistigen Menschen im wahren Glauben und ungefärbter Liebe kräftig gestärkt werden. Nehmet daher zu Herzen die Summa der Gebote Gottes, wie sie unser Herr Jesus Christus selbst uns vorhält, nämlich: {lv} Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen von ganzer Seele von ganzem Gemüth und aus allen Kräften und deinen Nächsten als dich selbst. Bekennt ihr nun mit mir, daß ihr diese Gebote Gottes niemals im Stande gewesen seid vollkommen zu erfüllen, sondern euch darin nur eure Sünde und Strafwürdigkeit vorgehalten wird; daß euch aber alles, was ihr gegen Gottes heiligen Willen gesündigt habt, von ganzem Herzen leid ist, und daß euch dürstet nach der Gerechtigkeit und Gnade, die da ist in Christo Jesu, endlich daß ihr auch ernstlich gesonnen seid euer sündliches Leben zu bessern und euch dem Herrn Christo mit eurem ganzen Leben dankbar zu erzeigen, und in rechtem Glauben vor ihm zu wandeln: ist das euer aufrichtiges Bekenntniß und christlicher Vorsatz: so antwortet Ja. So (kniet nun nieder und) bekennet Gott eure Sünde mit mir also: Allmächtiger Gott und Vater unsres Herrn und Heilandes Jesu Christi! ich bekenne, daß ich durch vielfältige schwere Versündigungen dich höchlich beleidiget {2} und zeitliche sowohl als ewige Strafe verdienet habe. Es thut mir aber solches alles von Grund meines Herzens leid, und reuet mich sehr, und bitte durch deine grundlose Barmherzigkeit und durch das heilige unschuldige Leiden und Sterben deines lieben Sohnes Jesu Christi, du wollest mir alle meine
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Sünde verzeihen mir gnädig und barmherzig sein und mir den Beistand deines Geistes verleihen zu meiner Heiligung. Amen. Oder: Ich armer Sünder bekenne vor dir meinem Gott und Schöpfer, daß ich leider schwer und mannigfaltig wider dich gesündiget habe, nicht allein mit äußerlichen groben Vergehungen, sondern noch viel mehr mit innerlicher Blindheit und Unglauben, Zweifel und Kleinmüthigkeit, Ungeduld und Hoffahrt, Anhänglichkeit an den Dingen dieser Welt und Mangel an Liebe gegen meinen Nächsten, und was du sonst mein Herr und Gott dir mißfälliges an mir erkennest und {2v} ich leider nicht genugsam erkennen kann. Das reut mich und ist mir leid und begehre von Herzen Gnade durch deinen lieben Sohn Jesum Christum. Amen. Absolution. Auf solch euer Bekenntniß verkündige ich euch allen, dieweil ihr euch des Verdienstes Jesu Christi im wahren Glauben tröstet, auch euer Leben zu bessern gedenkt, kraft meines Amtes als ein berufener und verordneter Diener des Wortes die Gnade Gottes und Vergebung der Sünden im Namen Gottes des Vaters des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Sollte jemand noch ein besonderes Anliegen haben, weshalb er sich zu besprechen wünschte, der komme in Gottes Namen: es soll ihm unverweigert sein. Der Herr segne: pp. {3} II. Geliebte in dem Herrn! Da wir in dem heiligen Abendmahl unseres Herrn zu dessen würdigen Genuß ihr eure Seelen bereiten wollt gedenken sollen, sowol unsrer Sünde und unserer Erlösung als auch der Dankbarkeit, die wir Gott dafür schuldig sind: so stellet euch nur zuerst vor Augen die Summa der Gebote Gottes, du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen von ganzer Seele von ganzem Gemüth und aus allen Kräften und deinen Nächsten als dich selbst. Und da wir diese Gebote nie vollkommen erfüllt haben, sondern uns nur darin unsere Sünde und Strafwürdigkeit vorgestellt wird: so frage ich euch fürs erste, ob ihr dieses mit mir vor dem Angesicht Gottes bekennet, und ob euch auch verlange nach der Gerechtigkeit und Gnade, die da ist in Christo Jesu, so antwortet Ja. Zum Andern wissen wir, daß der gerechte Gott die Sünde nicht konnte ungestört herrschen lassen, und daß der einige Sohn Gottes in die Welt gesandt worden, damit durch seine vollkommene Erlösung einem jeden, der sie mit herzlichen Vertrauen annimmt, Vergebung seiner Sün{3v}den zu eigen geschenkt sei, und wir nun vor Gott um der Gerechtigkeit willen, die Jesus Christus für uns geleistet hat für gerecht und heilig gehalten werden, ohnerachtet noch viele Schwachheiten in uns sind, indem auch diese mit dem Leiden und Gehorsam Christi bedeckt sind, bis sie ganz und gar hinweggenommen werden. Wie nun der Herr uns diese Erlösung einmmal in der heiligen Taufe geschenkt hat, so
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will er sie uns in seinem heiligen Abendmahl durch Wirkung seines Geistes bestätigen, indem sein Leib so gewiß für uns am Kreuz geopfert und sein Blut vergossen ist, als das Brodt, welches der Herr seinen Leib nennt uns gebrochen und der Kelch der Danksagung uns dargereicht wird, und er will uns so gewiß mit seinem gekreuzigten Leibe und vergossenem Blute zum ewigen Leben speisen und tränken, als jeder aus der Hand des Dieners empfangt von dem gesegneten Brodt und Kelch des Herrn. Um dieses Trostes willen hat der Herr sein heiliges Abendmahl eingesetzt, daß wir es mit herzlicher Freude und Danksagung halten {4} sollen bis er uns in das Reich seines Vaters zu sich nehmen wird. Ist das euer Glaube: so antwortet Ja. Zum dritten soll ein jeder bedenken, daß er nicht als ein Unwürdiger zum Mahl des Herrn kommen dürfe, sondern mit einem christlichen Vorsatz sich in einem gottseligen Leben Gott dem Herrn dankbar zu erzeigen. Daher wir von dem Tisch des Herrn alle diejenigen abmahnen welche verderblichen und abgöttlichen Aberglauben der die Herzen von dem rechten Vertrauen in die allmächtige Barmherzigkeit unseres Gottes abwendet in sich selbst unterhalten und bei Andern auszubreiten suchen, alle diejenigen, welche das Wort Gottes und die Sakramente der christlichen Kirche geringschätzen und verspotten, alle diejenigen welche Spaltung und Zwietracht in der Kirche oder dem weltlichen Regiment anzurichten suchen, alle welche ihren Eltern und Obrigkeiten ungehorsam sind, oder dem Neid und Haß wider ihren Nächsten Raum geben, alle welche die eheliche Treue nicht bewahren, oder die irdischen Gaben Gottes seinem heiligen Willen entgegen zu sündlicher {4v} Lust mißbrauchen. Kurz alle diejenigen, so ein unchristliches ärgerliches Leben führen, und noch keinen ernsten Vorsatz haben von demselben abzustehen, mögen sich dieses heiligen Mahles enthalten, auf daß nicht ihr Gericht desto schwerer werde. Diese Vorhaltung soll aber nicht die zerknirschten Herzen der Gläubigen kleinmüthig machen, als ob niemand das Mahl des Herrn genießen dürfte, denn wer sich frei wüßte von Sünden. Denn wir kommen ja nicht zu diesem Mahl als solche, welche vollkommen und gerecht sind in sich selbst; sondern indem wir unser Leben in Christo suchen, bezeugen wir, daß wir ohne ihn noch im Tode liegen würden. Deshalb, wiewol wir noch nicht vollkommen sind im wahren Glauben und im rechten Eifer Gott zu dienen, sondern noch täglich mit der Schwachheit unseres Glaubens und den Lüsten unseres Fleisches zu streiten haben; nicht destoweniger, weil solche Gebrechen uns durch die Gnade des heiligen Geistes von Herzen leid sind, und wir aufrichtig begehren unserm Aberglauben Widerstand zu thun und nach allen Geboten Gottes zu leben, dürfen wir ge{5}wiß und sicher sein, daß Gott uns zu Gnaden annimmt, und uns aller Segnungen dieses heiligen Mahles theilhaftig macht. Sondern nur die rohen und sichern Gemüther werden hier erinnert, wenn sie in ihrer Unbußfertigkeit verharren wollen, daß sie sich dieser himmlischen Speise enthalten. Darum nun erforsche ein jeder sein Herz, ob er gesonnen sei, sich dem Herrn Christo dankbar zu erzeigen, ob er seinem Nächsten von Herzen vergeben wol-
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le, wie Gott uns um Christi willen viel tausendmal mehr vergeben hat, ob er allen ungöttlichen Worten und Werken hier vor dem Angesicht Gottes aufs neue von Herzen absage? Ist das euer christlicher Vorsatz, so antwortet Ja. So kniet nun nieder, und bekennet Gott eure Sünden also: Allmächtiger Gott und Vater unsres Herrn und Heilandes Jesu Christi! ich bekenne daß ich durch mannigfaltige schwere Versündigungen dich höchlich beleidiget und zeitliche sowol als ewige Strafe wohl verdient habe. Es ist mir aber solches alles von Grund meines Herzens leid und reut mich sehr, und bitte durch deine grundlose Barmherzigkeit und durch das heilige unschuldige Leiden und Sterben {5v} deines lieben Sohnes Jesu Christi, du wollest mir armen Sünder alle meine Sünde verzeihen, mir gnädig und barmherzig sein und mir den Beistand deines Geistes verleihen zur Bessserung meines Lebens. Amen. Oder. Ich armer Sünder bekenne vor dir meinem Gott und Schöpfer, daß ich leider schwer und mannigfaltig wider dich gesündiget habe, nicht allein mit äußerlichen groben Vergehungen sondern auch viel mehr mit innerlicher Blindheit und Unglauben, Zweifel und Kleinmüthigkeit, Ungeduld und Hoffahrt, Anhänglichkeit an den Dingen dieser Welt und Mangel an Liebe gegen meinen Nächsten, und was du sonst mein Herr und Gott dir mißfalliges an mir erkennst, und ich leider nicht genugsam erkennen kann. Das reut mich und ist mir leid, und begehre von Herzen Gnade durch unsern Herrn Jesum Christum. Amen. Absolution. Auf solch euer Bekenntniß verkündige ich euch allen, dieweil ihr euch des Verdienstes Jesu Christi in wahrem Glauben tröstet, auch euer Leben zu bessern gedenkt, kraft meines Amtes als ein berufener und verordneter Diener des Wortes die Gnade Gottes und Vergebung der Sünden im Namen Gottes des Vaters des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Unser Vater pp. Sollte jemand ein besonderes Anliegen haben, weshalb er wünschte sich einzeln zu besprechen, der komme in Gottes Namen es soll ihm unverwehrt sein. Der Herr segne pp. Von der Austheilung des heiligen Abendmahls. I. Die Gnade unsres Herrn Jesu Christi sei mit uns Allen. Amen. Geliebte in dem Herrn! Nachdem ihr euch vor dem allgegenwärtigen Gotte geprüft und von dem Kündiger der Herzen die Vergebung eurer Sünden um Christi willen erbeten habt, jezt aber gesonnen seid im Namen unsres Herrn Jesu die Handlung seines heiligen Abendmahles vorzunehmen: so bedenket zuförderst in heiliger Furcht, daß ihr hier nicht nur irdisches und sichtbares empfangen wollt, welches ist das gesegnete Brodt und der gesegnete Kelch des Herrn, sondern auch himmlisches und unsichtbares, nämlich den Leib und das Blut unsres Herrn Jesu Christi, wie die Worte des Apostels bezeugen: das Brodt
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das wir brechen ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi, und {1 v} der Kelch welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Demnächst aber bedenket auch, wozu uns der Herr dieses heilige Mahl habe eingesezt, daß wir es nämlich halten zu seinem Gedächtniß. Also aber sollen wir seiner dabei gedenken, daß wir in unsern Herzen gänzlich vertrauen, daß unser Herr Jesus Christus laut der Verheißung des Vaters in diese Welt gesandt sei, von Anfang seiner Menschwerdung an bis ans Ende seines Lebens alle göttliche Gerechtigkeit erfüllet, und zulezt mit seinem Tode und Blutvergießen das neue Testament der Gnade und Versöhnung beschlossen als er ausrief: es ist vollbracht. In diesem seinen Versöhnungstode wird er uns hier vor Augen gestellt und ins Herz gedrückt und versichert uns Alle, daß wir an seinen verdienstlichen Leiden und Sterben Theil haben sollen, und daß er auch unsre Seelen mit seinem Fleisch und Blut zum ewigen Leben speisen und tränken will. Dann aber sollen wir als Glieder Eines Leibes, indem wir mit Christo als unserm hochgelobten Haupt auf das genaueste vereint worden, auch unter {2} einander in brüderlicher Liebe Eines sein, und solches nicht allein mit Worten sondern auch mit der That gegen einander beweisen. Dazu helfe Gott uns Allen, und segne uns nach seinem heiligen Wohlgefallen. Kniet nun nieder und laßt uns beten. Barmherziger Gott und Vater! ich bitte dich du wollest in diesem Abendmahle durch deinen heiligen Geist in meinem Herzen wirksam sein, daß ich mich im rechten Glauben dir und meinem Herrn Jesu Christo je länger je mehr ergebe, so daß ich nicht mehr in meinen Sünden, sondern er in mir und ich in ihm lebe, und wahrhaftig des neuen und ewigen Bundes der Gnade theilhaftig sei, nicht zweifelnd, du wollest ewiglich mein gnädiger Vater sein, mir meine Sünden nimmermehr zurechnen sondern mich in allem an Leib und Seele versorgen um Jesu Christi meines Herrn willen. Amen. Unser Vater pp. Unser Herr Jesus Christus pp. Des Herrn Gnade und Friede sei mit euch zum würdigen und seligen Genuß des heiligen Abendmahls. Amen. Austheilung. {2v} II. Die Gnade unsres Herrn Jesu Christi sei mit uns Allen. Amen. Geliebte in Christo! Bei gegenwärtiger Handlung des heiligen Abendmahls zu welcher ihr versammelt seid bleibet mit eurem Herzen nicht an dem äußerlichen Brodt und Wein haften: sondern gründet Herz und Glauben auf das Wort der Verheißung, und zweifelt nicht daß ihr so wahrhaftig auch an euren Seelen mit des Herrn Leib und Blut durch die Wirkung des heiligen Geistes sollet gespeiset und getränket werden, als ihr das irdische und sichtbare nämlich das gesegnete Brodt und den gesegneten Kelch des Herrn empfanget. Demnächst aber bedenket auch, wozu uns der Herr dieses heilige Sakrament seines Leibes und Blutes habe eingesetzet, nämlich daß wir es halten sollen zu seinem Gedächtniß. Also aber sollen wir seiner dabei gedenken, daß er uns in
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seinem heiligen Versöhnungstode fest ins Herz gedrückt werde, und wir nicht zweifeln, daß unser Herr Jesus {3} Christus vom Vater in diese Welt gesandt sei, Fleisch und Blut an sich genommen, und von Anfang seiner Menschwerdung an alle Gerechtigkeit erfüllet hat, bis er endlich mit seinem Tod und Blutvergießen das neue und ewige Testament, den Bund der Gnade und Versöhnung beschloß als er ausrief: Es ist vollbracht. So oft wir nun von diesem Brodt essen und von diesem Kelch trinken, sollen wir dadurch erinnert und versichert werden seiner herzlichen Liebe und Treue gegen uns, daß er für uns, damit wir nicht des ewigen Todes sterben müßten, seinen Leib am Stamme des Kreuzes in den Tod gegeben und sein Blut vergossen hat. Und er weiset in der Einsetzung dieses heiligen Mahles ganz besonders unsern Glauben auf sein vollkommenes Opfer einmal am Kreuz geschehen als auf den einigen Grund unserer Seligkeit. Denn durch seinen Tod hat er die Ursache unseres Elendes nämlich die Sünde und ihre Herrschaft hinweggenommen und uns den lebendig machenden Geist erworben, daß wir durch denselben Geist, der in ihm als dem Haupt und in uns {3v} als seinen Gliedern wohnet, aller seiner Gerechtigkeit und Herrlichkeit in der wahren Gemeinschaft mit ihm teilhaftig würden. Wir sollen aber auch als Glieder Eines Leibes durch dieses heilige Abendmahl in wahrer brüderlicher Liebe unter einander verbunden werden. Wie der Apostel spricht: Ein Brodt ist es so sind wir viele Ein Leib, und dieses sollen wir um deswillen, dem wir einverleibt sind, und der uns zuvor so hoch geliebet hat, nicht nur mit Worten sondern auch mit der That gegen einander beweisen. Kniet nun nieder und bete ein jeder mit mir also: Barmherziger Gott und Vater! ich bitte dich du wollest in diesem Abendmahl durch deinen heiligen Geist in meinem Herzen wirksam sein, daß ich mich in rechtem Glauben dir und unserm Herrn Jesu Christo je länger je mehr ergebe, so daß ich nicht mehr in meinen Sünden, sondern er in mir und ich in ihm lebe und wahrhaftig des neuen und ewigen Bundes der Gnade theilhaftig sei, nicht zweifelnd du wollest ewiglich mein gnädiger Vater sein, mir {4} meine Sünde nimmermehr zurechnen, sondern mich in allem an Leib und Seele versorgen als dein liebes Kind um Jesu Christi deines Sohnes willen. Amen. Unser Vater pp. Unser Herr Jesus Christus pp. Des Herrn Gnade und Friede sei mit euch zum würdigen und seligen Genuß des heiligen Abendmahls. Amen Austheilung. Nach der Austheilung des heiligen Abendmahls. I. Allmächtiger ewiger Gott wir sagen deiner göttlichen Barmherzigkeit Lob und Dank, daß du uns mit dem Leib und Blute deines Sohnes in seinem heiligen Abendmahl gespeiset und getränket hast, und bitten dich du wollest durch deinen heiligen Geist bewirken, daß wir deine göttliche Gnade und die heilsame Vereinigung mit Christo, die uns darin zugesaget ist, auch mit wahrem Glauben
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ewiglich festhalten mögen. Laß es uns gedeihen zum täglichen Zunehmen im wahren Glauben und in der seligen Gemeinschaft Christi; und verleihe uns, daß wir auch getrost unser Kreuz auf uns nehmen, uns selbst verläugnen und in aller Trübsal unsers Heilandes warten bis er uns zu sich nehmen wird in Ewigkeit. Amen. Der Herr segne pp. {1 ν} II. Allmächtiger, barmherziger Gott und Vater! wir danken dir von ganzer Seele daß du uns deinen eingebornen Sohn zum Mittler und zum Opfer für unsere Sünde geschenkt hast, und uns wahren Glauben gegeben, durch den wir solcher Wohlthat theilhafl werden. Wie nun zu Stärkung dieses Glaubens in uns unser Herr und Heiland sein heiliges Abendmahl eingesezt hat: so bitten wir dich getreuer Gott und Vater, du wollest auch die heutige Feier desselben uns gesegnet sein lassen zur kräftigen Verkündigung seines Todes, zum starken Glauben an dich und zur inbrünstigen Liebe unter einander durch unsern Herrn Jesum Christum deinen Sohn, der mit dir und dem heiligen Geiste lebet und regieret in Ewigkeit. Amen. Es folgt die „Form der ehelichen Vertrauung" I und II
6) Schleiermachers Konzept für einen Bericht des VorstandsCollegiums der Dreifaltigkeitskirche an das Konsistorium vom 26.9.1825, den Kirchenchor betreffend Vorstands-Collegium der Dreifaltigkeits-Kirche. Acta betreffend die Einrichtung des Singe-Chors 1772-1829, Abth. VII Nr. 2, Blatt 22.' Berlin den 26. September 1825 Das Vorstands Collegium der DreiMtigkeits Kirche berichtet wegen des Singechores. Auf die verehrte Verfugung vom 2. Aug«st et praesentatum den 12t beriethen wir gehorsamst daß in der bei unserer Gemeine eingeführten Form des Gottesdienstes keine Responsorien vorkommen, und nur bei den Communionen nach den Hauptpredigten ein Heilig vom Chor gesungen wird. Dieses hat bisher der Singechor der Realschule immer verrichtet, anderweite Verpflichtungen desselben gegen die Dreifaltigkeitskirche möchten sehr strittig sein. Seine Qualification aber zu kirchlichen Leistungen haben wir nicht Ursache in Zweifel zu ziehen. Uebrigens bedarf die Gemeine einer Unterstüzung des Choralgesanges vielleicht weniger als manche andere, und zu gelegentlichen Figuralmusiken hat es dem Cantor Rex bisher an freundlicher Hilfe von Gesang Dilettanten noch nicht gefehlt. Unter diesen Umständen, und da der gegenwärtig ganz erschöpfte Zustand unserer KirchenCasse nicht gestattet eine Fundation zu machen weder um einen neuen Chor zu errichten, noch um den bestehenden an die Kirche zu binden und vollkommner auszubilden: so bitten wir um geneigte Erlaubniß das weitere in dieser Angelegenheit bis aufbessere Zeiten aussezen zu dürfen. Berlin das VorstandsColleg/ww ρ An Ein Hochwürdiges Consistorium ρ
ι
Das Aktenstück ist bereits abgedruckt bei A. Reich, Schleiermacher als Pfarrer, Anhang Nr. 62, S. 526f.
7) Antwortschreiben des Vorstands-Collegiums der Dreifaltigkeitskirche an das Konsistorium vom 30.11.1827, betreffend den Einsatz und die Bezahlung von Stadtpfeifern im Gottesdienst In: Vorstands-Collegium der Dreifaltigkeits-Kirche. Acta betreffend die Einrichtung des Singe-Chors 1772-1829, Abt. VII Nr. 2, Blatt 25.' Berlin den 30. November 18272 Die InstrumentalMusiken in der Dreifaltigkeitskirche betreffend An Ein Konsistorium Auf die verehrliche Verfügung Eines pp vom 28.vorigen Monats ermangeln wir nicht, Nachstehendes gehorsamst anzuzeigen: Zu a. die Frage, ob und zu welchen Leistungen der hiesigen Stadtmusiker unsre Kirche, Hinsichts der Kirchenmusiken, vormals und vor Einführung der Gewerbefreiheit berechtigt gewesen sei? können wir nur dahin beantworten, daß eine Berechtigung unsrer Kirche, Leistungen der Stadtmusiker für den Gottesdienst fordern zu dürfen, uns nicht bekannt ist. Die ältern, sehr unvollständigen Papiere unsrer Kirche ergeben hierüber nichts. Zu b. Es ist in der Dreifaltigkeitskirche keine andere Instrumentalmusik üblich als bisweilen zumal wenn ein Te Deum gesungen wird Begleitung von Posaunen. Wenn an hohen Festen oder bei anderen besonderen Veranlassungen Gesangstücke vom Chor vorgetragen werden: so geschieht solches nur mit Begleitung der Orgel. Die Prediger unserer Gemeine wünschen auch hierin keine Abänderung. 3 Zu c. Da uns keine Verpflichtung der Stadtmusiker zur Mitwirkung bei Kirchenmusiken bekannt war, so hat dieselbe, wenigstens seit dem Bestehen unsres Kollegii, immer bezahlt werden müssen. Selten sind mehr als vier, selten auch mehrere Posaunen, angewendet worden, und zwar gewöhnlich nur ein- bis zweimal des Jahres, ohne ein Binden an bestimmte Feste. Der Kostenaufwand dafür hat daher, á Irth pro Posaune, gewöhnlich nur 4 bis 8 rth jährlich betragen, und es sind im Etat für diesen Zweck unter dem Titel: für Kirchenbedürfnisse, nur lOrth ausgesetzt. Vorstandskollegium
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Sehl
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Es handelt sich um das Konzept des Schreibens mit Schleiermachers Korrekturen. Ausgangsvermerk: „ab 12/12." Der Absatz b. ist von Schleiermacher in den hier mitgeteilten Wortlaut eigenhändig korrigiert worden.
8) Schleiermachers Konzept zur Rubrizierung des Berliner Gesangbuchs, ohne Datum (Ende 1826). In: Archiv der Parochialgemeinde, Akten der Gesangbuchskommission J.I.12, Bl. l-2v. Wenn man voraussezen dürfte, daß diejenigen, welche das Gesangbuch gebrauchen werden, die darin enthaltenen Lieder kennen: so wäre alle Rubricirung derselben überflüßig; wir dürften sie vielmehr nur streng alphabethisch ordnen, und höchstens ein Supplementes Register über die Lieder hinzufugen deren Anfange wir geändert haben. Die Rubricirung beruht also auf der entgegengesezten Voraussezung; und da wir auf die Privaterbauung eigentlich keine Rüksicht nehmen, zunächst darauf, daß wir voraussezen die Prediger suchen für einen bestimmten Gottesdienst Lieder auf. Wie haben wir zu diesem Zweck zu verfahren? Die Kirchenlieder theilen sich in dieser Hinsicht in solche, welche sich näher auf den Inhalt der Predigt beziehen und in solche die mehr durch die Stelle bestimmt sind, welche sie im öffentlichen Gottesdienst einnehmen. Die lezteren bieten keine Schwierigkeit dar. Es sind Anfangslieder Kanzelverse Schlußlieder. Nach der gewöhnlichen Praxis zerfallen die ersten ihrem Inhalte nach in Morgenlieder, allgemeine Lobgesänge, Symbolische Lieder, und Lieder von der öffentlichen Andacht selbst. Kanzelverse, wo dergleichen üblich sind, werden fast immer unter die lezte Unterabtheilung {lv} gehören, und daher keine besondere Rubrik bilden dürfen. Schlußlieder werden ebenfalls aus allen jenen Gattungen genommen werden nur daß statt Morgenliedern für den NachMittagsGottesdienst Abendlieder hinzu kommen. Die Schwierigkeit liegt in den Liedern welche dem Inhalt der Predigt verwandt sein sollen; und zwar darin daß das dichterische Thema ein anderes ist als das rednerische, beide aber eine wahre Unendlichkeit darbieten. Indeß verschwindet diese Schwierigkeit für diejenigen Gottesdienste welche den festlichen Zeiten angehören oder sich auf bestimmte Handlungen und Vorfälle beziehen. Für jene wie für diese haben wir einen großen Schaz von Liedern, und wenn freilich auch jedes Fest dem Redner sowol als dem Dichter eine unendliche Menge von Thematen darbietet: so kann doch kein Prediger mit Billigkeit eine höhere Foderung machen, als daß wir ihm die Lieder für jedes Fest und jede solche Handlung zusammenstellen, und dadurch sein Suchen auf diesen bestimmten Raum beschränken. Hieraus ergaben sich also die Rubriken Advents und Weihnachtslieder, Passions und Charfreitagslieder, Oster und Himmelfahrtslieder, Pfingstlieder. Ferner Tauf und Confirmationslieder, Beicht und Abendmahlslieder. Für Trauungen und Begräbnisse Jahresanfang und Ende, Erndtefest, Casuallieder. Was nun die übrigen betrifft so scheint mir
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1) daß, je mehr Rubriken wir machen, um desto öfter wird der Fall vorkommen, daß ein Lied in mehreren mit gleichem Rechte stehen könnte, 2) daß wir an die einzelnen Artikel des Systems der Dogmatik und Moral um so weniger denken dürfen da auch schon die Predigt beides nicht sondern darf, noch weniger aber das Lied sich in so bestimmten Schranken {2} hält. 3) Eine vollkommen befriedigende Rubricirung würde eine eben solche Theorie des Kirchenliedes voraussezen und diese fehlt uns noch. Daher auch die große Verschiedenheit welche sich in unsern Gesangbüchern findet und zwar so daß in verschiedenen Büchern dasselbe Lied oft unter ganz verschiedenen Rubriken steht. Wenn wir aber doch an den christlichen Festen bestimmte Rubriken haben: so scheint mir in dieser Rathlosigkeit das beste zuerst wenigstens zu untersuchen was sich an jene zunächst anschließt. Advent und Weihnachten natürliches Verderben Weihnachten und Passion Vom Leben Christi auf Erden Ostern und Himmelfahrt Von Unsterblichkeit und lezten Dingen An Pfingsten aber schließt sich mit der christlichen Kirche alles übrige an. Denn alles, was im Kirchenliede dargestellt wird, ist doch etwas der christlichen Kirche und ihrem Leben angehöriges. Nur weil diese Masse zu groß wäre, sind hier Unterabtheilungen nöthig, wenn der Zweck soll erreicht werden. Ist nun aber dieser Standpunkt einmal genommen: so scheint mir auch die einfachste Unterabtheilung diese zu sein. Ein Kirchenlied entsteht aus einer erhöhten Aufregung des christlichen Sinnes und Bewußtseins und diese kann hervorgerufen sein theils mehr durch das was in der christlichen Kirche ist, theils mehr durch die Betrachtung der göttlichen Ursächlichkeit aus welcher es hervorgeht. Nur wenn ein Lied sich ganz im Allgemeinen hält wird ein solches Uebergewicht nicht stattfinden, und solche allgemeinen Lieder kommen auch unter die allgemeine Rubrik Von der christlichen Kirche überhaupt. Das besondere in der christlichen Kirche aber was Inhalt der Gesänge sein kann, scheint mir nur dreierlei zu sein. Darstellung der noch immer vorhandenen Unvollkommenheit. Das sind die Bußlieder, welche sich freilich an die Beicht{2v}lieder anschließen; allein die Beziehung der lezteren auf das Sacrament giebt doch eine bestimmte Unterscheidung. Darstellung des christlichen Wandels, und das sind die so oder von der Nachfolge Christi überschriebenen Lieder und endlich Darstellung der Seligkeit des Christen. Die göttliche Wirksamkeit aber welche das Lied betrachten kann scheint mir nur eine zwiefache sein zu können Die göttliche Ursächlichkeit in Beziehung auf die Idee der christlichen Kirche und das sind die Lieder Vom göttlichen Wort und von der Gnade Gottes in Christo, welche lezteren sich freilich der Sache nach den Advents und Weihnachtsliedern anschließen aber sich doch durch den Mangel der Beziehung auf das Fest davon unterscheiden. Zweitens die göttliche Wirksamkeit in Beziehung auf die Entwiklung der Christlichen Kirche, und das sind die Lieder vom göttlichen Schuz und Regiment.
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Es frägt sich nun nur noch, Ist eine solche Rubricirung für unsern Liedervorrath erschöpfend? und wird sie uns in Verlegenheit bringen daß Lieder eben so gut für die eine als für die andere passen? Endlich, wird sie zu große Massen hervorbringen und also dem Suchenden nicht Bequemlichkeit genug gewähren? Die erste Frage möchte ich kühn bejahen sofern nemlich die Lieder christlich sind. Die Lieder von göttlichen Eigenschaften in welchen das Christliche nicht hervortritt fallen sämtlich unter die allgemeinen Lobgesänge, die vom Vertrauen auf Gott sämmtlich unter die Rubrik vom göttlichen Schuz und Regiment. Die zweite Frage ist die schwierigste. Man muß in dieser Hinsicht nicht zu viel verlangen und sich in zweifelhaften Fällen (ζ. E. zwischen Seligkeit des Christen und Gnade Gottes in Christo) durch den TotalEindruck bestimmen lassen. - Was die dritte betrifft: so würde diese Klage höchstens nur den Titel V. göttlichen Schuz ρ treffen, wo dann vielleicht noch mit einer Unterabtheilung geholfen werden könnte. Bei der vielleicht auch großen Anzahl Passionslieder ist zu bemerken daß eine große Anzahl gottesdienstlicher Tage hinter einander an dies rubrum gewiesen ist und deshalb auch die Bekanntschaft mit demselben entsteht. Die Anordnung der Rubrik würde wol am fuglichsten die sein, daß die durch Zeiten bestimmten Lieder voranstehen dann die Festlieder mit Ausnahme der nicht kirchlichen und Casuallieder welche Anhangsartig an den Schluß zu verweisen wären. Dann die übrigen Rubriken nach der Ordnung wie sie sich an die Feste anschließen ausgenommen etwa daß die Lieder von den lezten Dingen an die Lieder vom Tode besser angeschlossen werden so wie die Lieder über die Sacramente wol am besten ihren Plaz finden nicht in Verbindung mit den eigentlichen Festen, sondern bei den Liedern von der christlichen Kirche überhaupt oder Vom göttlichen Wort. Uebersicht I. Lieder beim Anfang und Schluß der Versammlungen 1. Vom christlichen Gottesdienst überhaupt 2. Allgemeine Lob und Danklieder und Fürbitten 3. Darstellungen des christlichen Glaubensbekenntnisses 4. Morgenlieder 5. Abendlieder II. Lieder für die christlichen Feste 1. Advents und Weihnachtslieder 2. In der Passionszeit und am Charfreitag 3. Ostern und Himmelfahrt 4. Pfingstlieder III. Von der menschlichen Natur 1. Von ihrer Bestimmung und Würde 2. Von ihrem Verderben IV. Lieder zur Verherrlichung des Erlösers in seinem irdischen Leben
Schleiermacher zur Rubrizierung des Berliner Gesangbuchs (1826) V. Von der Offenbarung der göttlichen Gnade 1. Von der Gnade Gottes in Christo überhaupt 2. Vom göttlichen Wort 3. Von den Sacramenten 4. Vom göttlichen Schuz und Regiment VI. Von der christlichen Kirche auf Erden 1. Vom Wesen der christlichen Kirche und ihrer Verbreitung 2. Von der Gemeinschaft des Christen mit Gott im Gebet 3. Von der fortgehenden Buße des Christen 4. Vom Wandel in der Nachfolge Christi 5. Von der Seligkeit des Christen VII. Von den Verheißungen nach diesem Leben 1. Vom hofnungsvollen Tode des Christen 2. Vom ewigen Leben und den lezten Dingen VIII. Lieder für besondere Zeiten und Gelegenheiten 1. Anfang und Schluß des Jahres 2. Vom Einfluß der Jahreszeiten 3. Von Saat und Erndte 4. Von weltlicher Obrigkeit 5. Von Krieg und Frieden 6. Vom Ehestand und häuslichen Leben
9) Einladungen und Protokolle aus den Akten der GesangbuchCommission (GBC) 1818-1829 1. Einleitung des Herausgebers 1 1.1. Auswahl und Anordnung Die Akte befindet sich im Kirchenarchiv der Georgen-Parochialgemeinde, Waisenstraße 28, 10179 Berlin. Sie kann dort im Original, sowie als Kopie im Evangelischen Zentralarchiv Berlin bzw. in der Schleiermacherforschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) eingesehen werden. Aus der Fülle des Aktenmaterials (428 meist doppelseitig beschriebene Blätter) galt es, eine sinnvoll knappe Auswahl zu treffen. Da die Einteilung in 7 bzw. 8 Einzelakten (J.I.9 Vol.I/II bis J.1.15) willkürlich erfolgt zu sein scheint, war eine chronologisch angeordnete Auswahl ratsam. In dieser Auswahl bilden die Arbeitsprotokolle der GBC den Kern der Edition. Dazu kommen aus der Anfangs- und Endphase der Kommissionsarbeit (1818/19 und 1827-1829) förmliche Einladungen zu den noch nicht oder nicht mehr turnusmäßig stattfindenden Sitzungen. Die wenigen vorhandenen Liedabschriften habe ich jeweils dort angeordnet, wo diese Lieder nachweislich oder mutmaßlich referiert bzw. abgegeben wurden. Durch das Bemühen um eine chronologische Anordnung ist das Hin und Herspringen zwischen den Einzelakten bedingt. Ausgelassen sind sämtliche - nicht innerhalb der Protokolle befindlichen - Liederlisten, der amtliche Schriftwechsel mit den Behörden, die Wahlunterlagen sowie die in verschiedenen Akten befindlichen Probedrucke. Diese Auslassung geschah einzig aus platzökonomischen Überlegungen und ist insofern problematisch, als auf einige dieser Dokumente im Text häufig Bezug genommen wird. Die meisten Akten waren unpaginiert, die Seitenzählung wurde von mir vorgenommen. 1.2. Das Zeichensystem und seine Wiedergabe Da es sich bei den Gesangbuchakten um Dokumente von informellem oder privatem Charakter handelt, herrscht ein sehr individueller Aufzeichnungsstil vor. Die GBC hat sich gleichsam ein eigenes semantisches System erarbeitet, das mit zahlreichen Kürzeln und Verweisen operiert. Ich habe versucht, Abkürzungen nach Möglichkeit aufzulösen; hymnologische Termini, Namen, Titel, Monats· und Ortsnamen sind meist ausgenommen. Die ergänzten Wortbestandteile habe ich kursiviert; ebenso redaktionelle Überschriften, die außerdem in eckigen Klammern stehen. Unsichere Passagen sind mit Asterix (*) versehen, Unl
Ausgewählt, chronologisch geordnet und herausgegeben von Bernhard Schmidt.
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lesbares ist durch Unterstrich ( ) bezeichnet. Die - zumeist von mir stammenden - Seitenzahlen befinden sich in geschweiften Klammern, wobei die Vorderseite die einfache arabische Ziffer trägt und die Rückseite zusätzlich mit einem „v" (verso) gekennzeichnet ist, z.B. {1} und {lv}. Im Verlaufe einer elf Jahre währenden Protokollpraxis wurde das Darstellungssystem zunehmend formalisiert. Die Formalisierung betrifft den Aufbau der Protokolle, Absätze, Unterstreichungen u. a. Das Standardprotokoll hat folgenden Aufbau: Datum - Anwesenheit - Abschriften - Vorträge (häufig unterstrichen) - Vorschläge. Ich habe diese Form übernommen und sie - gelegentlich auch gegen das Manuskript - konsequent angewendet. Unterstreichungen in Briefen oder Traktaten werden hier gesperrt wiedergegeben. Dagegen habe ich die von Wilmsen praktizierte Unterstreichung der vorgetragenen Lieder nicht sichtbar gemacht, dafür sind die Incipits - um sie graphisch hervorzuheben - sämtlich in Kapitälchen gesetzt. Hinter den Incipits steht in eckigen Klammern die jeweilige BG-Nummer. Weicht ein Incipit von dem desselben Liedes im BG ab, so ist diese Abweichung durch einen Asterix gekennzeichnet, z. B. [BG 774*]. Während im Manuskript die Liedvorträge häufig im ganzen Satz mitgeteilt werden, stehen Abgaben zum Archiv (Reinschriften) und Vorschläge oft tabellarisch untereinander. Ich nehme dieses Prinzip auf, indem jedes Lied um der Übersichtlichkeit willen eine ganze Zeile erhält. Der Authentizität wegen habe ich die uneinheitliche Praxis der Nominierung nicht standardisiert. Häufig stehen die Namenskürzel der Bearbeiter vor den vorgeschlagenen bzw. abgelieferten Liedern, doch nicht immer. Bei den Vorschlagslisten bedeutet: kein Name = keine Bearbeitung, bei den Archivlisten hingegen: derselbe. So teilt etwa das Protokoll vom 15.2.1827 mit, daß die ersten vier Lieder von W. (Wilmsen), das letzte von Schi. (Schleiermacher) abgeliefert wurde. In eckigen Klammern die Liednummern im Berliner Gesangbuch: „Den 15 Febr. 1827. Bei Hrn. Dr. Schleiermacher. [Archiv]
W.
W o UNTER ALLEM VOLK HERR FÜHRE MICH AUF GUTER [ 4 7 3 ] DIE RÄCH O HERR IST DEIN [ 6 7 0 ] D u , DER DAS LALLEN NICHT [ 8 6 5 ]
Schi.
GOTT ALL WEISER WER BIN ICH
[58]..."
Dagegen ist dem Protokoll vom 6.5.1824 zu entnehmen ist, daß die ersten vier Liedvorschläge Schleiermachers keinen Bearbeiter fanden, daß das fünfte von M. (Marot) übernommen, das nächste wiederum verworfen, das übernächste von K. (Küster) übernommen wurde u.s.w.: „Hr. Sehl schlug aus dem Jauerschen Gb. vor: E s BLEIBE DIR GEWEIHET p . FEST STEHT DEIN BUND WIE FELSEN p . HEIL EUCH UND GOTTES HOHER LOHN. SEID UNS GEGRÜSST IM ERDENTHALE.
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Dokumenten- und Materialanhang WELCH HOHES AMT, BETRUG p . (DEIN IST DAS LICHT, DAS UNS [ 2 9 0 ] ) LOBT GOTT IN SEINEM HEILIGTHUM.
Κ.
O VATER, SEND' UNS DEINEN GEIST p . [ 3 8 ] "
Die Namen der GBC-Mitglieder und ihre Titel werden oft abgekürzt wiedergegeben. Folgende Kürzel sind gebräuchlich: C. R. (in Verbindung mit Ritsehl oder Brescius): Konsistorial-Rat D. bzw. Dr. (in Verbindung mit Schleiermacher): Doktor Dir. bzw. Direct, (in Verbindung mit Spilleke): Direktor H. in Verbindung mit allen Namen: Herr H. und Hanst.: Hanstein K. und Küst.: Küster M. und Mar.: Marot O. C. R. (in Verbindung mit Hanstein oder Ribbeck): Oberkonsistorialrat P. bzw. Pr. (in Verbindung mit Hanstein, Ribbeck oder Neander): Propst Pred. (in Verbindung mit Spilleke und Willmsen): Prediger R.: wohl Ritsehl Rit.: Ritsehl R. (in Verbindung mit Ritsehl): Rat Ribb.: Ribbeck S. bzw. Sup. (in Verbindung mit Küster oder Marot): Superintendent S., Sch., Schi.: Schleiermacher Sp. und Spill.: Spilleke T., Th., Ther. und Therem.: Theremin W. und Wn.: Wilmsen 1.3. Anmerkungen und Nachweise Es dient zugleich der Würdigung der immensen Fleißarbeit der GBC wie auch der zu erhoffenden hymnologischen Weiterarbeit an und mit dem Berliner Gesangbuch, daß ich versucht habe, sämtliche Hinweise auf benutzte Gesangbücher aufzugreifen und - wenn möglich - die entsprechenden Lieder aus den genannten Gesangbüchern in den Anmerkungen nachzuweisen. In vielen Fällen konnte dies dank der korrekten Protokollführung Wilmsens auch geschehen. Der Leser wird aber Geduld brauchen, um die differenzierten Hinweise auf die mannigfachen Quellengesangbücher richtig einzuordnen, da diese zwar meistens die Herkunft eines Liedes bezeichnen wollen, oft aber auch auf neuere Bearbeitungen eines alten Liedes verweisen. Die Sichtung des umfangreichen Listenmaterials - das aus Platzgründen nicht mitveröffentlicht werden kann - habe ich dazu benutzt, alle möglichen Quellenhinweise aufzunehmen und anzumerken. Bei der Lektüre ist freilich immer mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ein Lied in verschiedenen Gesangbüchern steht und daher auch auf verschiedenen Listen stehen kann; somit sind diese Quellenhinweise nur von sekundärem Rang.
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Bloß bei Schleiermacher habe ich versucht, alle Liedvorschläge wie auch bearbeitungen quellenmäßig nachzuweisen, wobei häufig nur gemutmaßt werden kann. Auf die wiederentdeckte Akte des Konsistoriums über die Gesangbuchsache2 wird hier ebenfalls Bezug genommen, ohne daß einzelne Aktenstücke veröffentlicht werden, da der im engeren Sinne hymnologische Wert gering ist. Dagegen verdient die Akte im Blick auf die Rekonstruktion der Entstehungs- und Druckgeschichte des Berliner Gesangbuchs große Aufmerksamkeit. Schließlich habe ich mich beim Versuch der Quellennachweise der „Kurzen lebensgeschichtlichen Nachrichten ..." von S. C. G. Küster bedient, die - wenn auch nicht ohne Fehler - das Aktenmaterial erfreulich ergänzen und in vielen Fällen bestätigen. Die Protokolle entwickeln sich im Laufe der Zeit immer mehr zu rein formalen Ergebnisprotokollen. Verlaufsprotokolle begegnen - gemessen an Zahl der Sitzungen und Fülle der diskutierten Lieder - selten, Problembeschreibungen sind oft nur angedeutet. Ich habe versucht, die Diskussionsinhalte nach Möglichkeit in den Anmerkungen zu belegen, lediglich in der Absicht, die Passagen zu verifizieren. Eine hymnologische Analyse steht noch aus. Trotz der erstaunlich sauberen äußeren Form befinden sich in den Akten Entwürfe und Protokolle, die notwendigerweise umfangreiche Streichungen und Korrekturen aufweisen. Gerade bei den Liedabschriften sind diese Korrekturen äußerst aufschlußreich, weil sie vom Diskussionsprozeß und von der Redaktionsgeschichte einzelner Lieder Zeugnis ablegen. Soweit die verschiedenen Stadien lesbar und rekonstruierbar sind, habe ich sie bei der Transkription berücksichtigt und zwar so, daß jeweils die Finalgestalt im Haupttext stehen, dagegen die gestrichenen Vorstufen oder Varianten in Klammern gesetzt sind.
2
Evangelisches Zentralarchiv Bestand 14, Akte 878: Königliches Consistorium der Provinz Brandenburg. Acta betr. Die Einführung eines neuen allgemeinen Gesangbuchs und die Revision der Kirchen Agende Vol. 2 (23.2.1825 bis 3.9.1836).
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2. Die Texte [AusJ.I.U.] [Schreiben Hansteins an die Kommissionsmitglieder vom 15.7.1818 und Einladung für den 24.7.1818. ] {1} Da Ein hochwürdiges Consistorium der Provinz Brandenburg den Antrag der Berlinischen Synode: „daß aus ihrer Mitte eine Anzahl von 6 Geistlichen sich zusammenthue, um die künftige Herausgabe eines neuen evangelischen Gesangbuchs vorzubereiten." unterm 2ten May dieses Jahres genehmigt; zu dieser Commission aber, laut Synodalprotocolls vom 10. December vorigen Jahres, außer dem Unterzeichneten die Herren: Küster, Ribbeck, Ritsehl, Schleiermacher u Wilmsen durch Stimmenmehrheit gewählt worden, und es der Abrede gemäß ist, daß wir, vor Eröffnung der diesjährigen KreisSynode, dem Protocollbeschluß zufolge ü b e r d i e , in A n s e h u n g e i n e s n e u e n e v a n g e l i s c h e n G e s a n g buchs aufzustellenden Grundsätze3 uns vereinigen, um dieselben, als das Resultat unserer vorläufigen Berathungen der Synode demnächst vorlegen zu können: so ersuche ich meine hochzuehrenden Herren Mitcommissarien, zu einer, s. pl.4, auf künftigen Freytag über 8 Tage, also am 24 Jul zu haltenden Conferenz, Nachm/togi um fünf Uhr, gefalligst sich bey mir einzufinden, und, damit die mündlichen Unterhaltungen um so leichter geführt, und um so zeitiger beendiget werden mögen, über die Hauptpunkte und Fragen, auf welche es bey Feststellung solcher Grundsätze ankommen dürfte, im Voraus mit sich selbst zu ratschlagen und einig zu werden. Ich wage, als Hauptfragepunkte die folgenden unmaßgeblich aufzustellen: 1. Über den G e i s t , der in solch einem Gesangbuch herrschen müsse? Ob das kirchliche Dogma vorwalten, oder vor allem auf praktische Religiosität, fromme Salbung ρ geachtet werden solle, u was in Ansehung der U n i o n dabey ins Auge zu fassen sey? 2. Über A r t und T o n der Lieder. Gebetlieder - Lehrlieder - Psalmgesänge? Erhabne Dichtung oder versifi{lv}cirte Prosa? 3. Über Melodienwahl u Wechsel? Auch n e u e Melodien? 4. Über Ordnung u Folge. Überschriften. Übersicht. Register. 5. Über Benutzung des vorhandenen Alten u Neuen. Beydes? Beydes durch einander oder getrennt? Verfahren in Ansehung des Urtextes, der Varianten, Lesearten, Abänderungen? 6. Über den Bezirk eines neuen G.b. Ob für dai ganze Land oder für einzelne Provinzen? u, wenn das letzte, wie es zu halten mit den neuen, zum Theil treflichen welche einzelne Städte u Gegenden bereits besitzen? ζ. E. Magdeburg, Halle, Halberstadt, Danzig p.p. 3 4
Im Manuskript unterstrichen, s. o. Einleitung des Herausgebers, 1.2. Wohl: si placet.
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7. Über die Organisation des Geschäfts der Sammlung und Auswahl? Ich bitte um möglichste Beförderung dieses Umlaufs, damit er zu rechter Zeit wieder an mich komme, u gebe noch ganz ergebenst anheim, ob ein Vorsitzender in diesem Rath v o r oder in der ersten Conferenz gewählt werden solle? Die Herren Ribbeck u Ritsehl sind verreiset. Herrn Ribbecks Ideen sind mir nicht fremd. Herrn Ritsehl könnten wir, nach seiner Heimkehr unser Resultat zur Erklärung über seine Meinung vorlegen. Berlin den 15 Juli 7518. Hanstein
[Aus J.I.13.] Protokolle der Gesangbuchs-Commission. 1818,1819 u 1820.5 {1} Berlin den 24. Julius 1818. Heute versammelten sich die drei allein anwesenden Mitglieder der, zur Berathung über ein neues Gesangbuch erwählten Commission der Berlinischen Synode, u wurden über folgende Punkte eins: 1. Es soll ein vollständiges Gesangbuch gesammelt werden. 2. Dieses Gesangbuch soll zunächst nur für Berlin bestimmt seyn, weil sonst der Rücksichten zu viele, u unvereinbare eintreten. 3. Kein Lied würde bei der Auswahl a priori als unverbesserlich anzuerkennen seyn, doch würde bei der Verbesserung mit der größten Bescheidenheit u Schonung verfahren, u dieselbe nur in der Veränderung obsoleter, u dem geläuterten Geschmack anstößigen Ausdrücke, u in der Weglassung solcher Verse, welche keiner Verbesserung fähig sind, bestehen. Die Verfasser werden genannt, u verbesserte Lieder durch die {lv} Bezeichnung: „nachN." angedeutet. 4. Nur solche Lieder, welche schon in irgend einem Kirchen-Gesangbuche stehen, sind der Aufnahme fähig, andere würden in einen Anhang zu verweisen seyn. 5. Die Form der Lieder kann kein Grund seyn, sie umzuändern, auch würde keine Form, selbst die Gebetsform nicht, vorzüglich zu begünstigen seyn, sondern vielmehr hiebei die bestehende Mannigfaltigkeit, als angemessen u natürlich, unangetastet bleiben. 6. Da der Rhythmus der meisten Lieder eine vier- ja sechs- u achtfache Anpassung von gangbaren Melodien zuläßt, so würde aus diesen die passendste auszuwählen u auf diese Art der musikalische Theil der Verbesserung zu bewirken seyn. Außerdem wären besonders gute alte, verschollene Melodien wieder herzustellen, u in Gang zu bringen, u also kein Lied deswegen zu verwerfen, weil es nur nach einer unsern Gemeinden unbe{2}kannten Melodie gesungen werden kann. 5
Die ersten drei Blätter enthalten eine alphabetische Liederliste (bis M, ohne Quellen oder Bearbeiter, Reihenfolge allerdings gestört.) Mit Blatt 5, hier: {1} beginnen die numerierten Protokolle vom 24.7.1818 bis 21.12.1820.
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7. Alle diejenigen Lieder, welche keinen poetischen Schwung haben, viel mehr ganz im Ton der Prosa gehalten sind, würden auszuschließen seyn. 8. Bei der Sammlung der Lieder würde es am wenigsten darauf anzulegen seyn, einen möglichst reichen Vorrath von Liedern, welche die Pflichten darstellen, zusammen zu bringen, besonders aber alles zu specielle zu vermeiden seyn. 9. Eben so auch alle die Lieder, welche solche dogmatische Vorstellungen enthalten, von welchen anzunehmen ist, daß sie einem bedeutenden, oder wohl dem größten Theil der Gemeinde anstößig seyn dürften. 10. Jedem Mitgliede der zur Abfassung des G.b. von der Synode niederzusetzenden Commission, welche fuglich nur aus 8 Mitgliedern bestehen dürfte, steht es zu, die aufzunehmenden Lieder, jedoch nur in ihrer ursprünglichen Gestalt, zur Wahl in Vorschlag zu bringen. 11. Dieß geschieht nach der in der Anlage unmaßgeblich vor{2v}geschlagenen Anordnung, wenn sie von der Synode gebilligt wird. 12. Die Stimmenmehrheit würde über die Aufnahme eines Liedes entscheiden, u zwei Drittheile der Stimmen zur Aufnahme erforderlich seyn. 13. Bis auf eine zu bestimmende Zahl, wobei jedoch die kleineren Zwischengesänge nicht mitzuzählen seyn würden, werden die durch Abstimmung zur Aufnahme designirten Lieder reducirt. 14. Jedes Mitglied übernimmt fur eine Abtheilung des G.b. oder für selbstgewählte einzelne Lieder das Geschäft der Verbesserung, wobei nur das allernothwendigste in Rücksicht auf die Darstellung zu verändern seyn würde. Hernach werden diese Veränderungen mündlich geprüft u berathen, u dieselben durch Abstimmung festgesetzt. {3} Herrn Consistorialrath Ritsehl u Herrn Superinte«¿fe«f Küster übergebe ich anliegend das Resultat der Beratschlagung über die bei der Sammlung eines Gesangbuchs festzustellenden Grundsätze zur gefalligen Beurtheilung u Beisezung Ihrer Bemerkungen, damit die Sache der Synode vorgelegt werden könne. Herr Propst Hanstein kommt morgen Abend zurück, daher ich Herrn Superintendent Küster ersuche, demselben dieses Protokoll gefalligst zuzuschicken. Berlin den 10 Aug.1818. Wilmsen. [Küsters Anmerkungen zum Protokoll vom 24.7.1818] {4} Ueber das Protcoll vom 24t. Juli 1818, in Betreff des zu veranstaltenden neuen Gesangbuches, erbitte ich mir die Erlaubniß, unmaßgeblich Folgendes bemerken zu dürfen. ad 2. Sollte es nicht das Ansehen gewinnen, als wolle Berlin sich erhebend auszeichnen, wenn nur für diese Stadt ein Gesangbuch veranstaltet wird? Sollte nicht ein Gesangbuch, das für Berlin paßt, auch für unsere ganze Provinz brauchbar sein? Für die ganze Monarchie können wir freilich keins entwerfen, weil dabei der Rücksichten zu viele u unvereinbare uns entgegenstehen würden, aber wohl - sollte ich meinen - fur unsere Provinz. ad 3. Daß die Verfasser angeführt werden sollen, scheint mir nicht rathsam zu sein, denn es kann sogar Abneigung gegen dieses, oder jenes Lied
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bewirken. Ich kenne einige Menschen, die selbst gegen den frommen Geliert eingenommen sind. Die Gemeinden müssen singen, was die Kirche ihnen giebt und sie haben auch im Allgemeinen kein Interesse, die Liedverfasser kennenzulernen. ad 4. Für einen* Anhang kann ich nicht stimmen, aber eben so wenig auch dafür, daß nur aus schon vorhandenen Gesangbüchern gesammelt werde. Warum sollen nicht einzelne der Aufnahme würdige Lieder, wenn sie auch noch gar nicht gedruckt sind, aufgenommen werden? Es scheinet mir durchaus gar nichts darauf anzukommen, woher wir ein Lied nehmen, wenn es nur zweckmäßig und der Aufnahme werth ist. ad 5. Mir scheinet es doch, als wenn die Form eines Liedes allerdings ein Grund sein könnte, es umzuändern. So spricht ζ. B. in dem bekannten alten Liede: Mir nach spricht Christus p. unser Herr selbst durch das ganze Lied mit: Ich, und daß die Gemeinde eine solche Stimme vom Himmel wörtlich nachsingt, ist gewiß unpassend. Der selige Dietrich hat es daher sehr richtig u zugleich sehr zart in eine Anrede an Christum umgeändert. ad 7. Diese Regel scheinet mir etwas unbestimmt zu sein. Es kommt bei einem Kirchenliede allerdings auf den dichterischen Schwung vieles, aber doch {4v} nicht alles an. Manche Lieder lassen schon ihrem Inhalte nach keinen eigentlichen Schwung zu, wie ζ. B. die welche eine stille gelassene Ergebung oder ruhiges frommes Erwarten aussprechen. Auf den frommen Geist, der in einem Liede wehet, kommt mehr an, als auf den Schwung. Im Porst stehen einige Lieder ohne allen Schwung, die ich aber nicht gern missen mögte. ad 8. Diesem stimme ich ganz bei. Es wäre aber gut ehe man zur Sammlung schreitet, ungefähr die Zahl der Lieder zu bestimmen, damit einige Rubriken nicht zu reich u andere zu dürftig ausfallen mögen. Mit dem Gesangbuche sollen die Mitglieder der Kirche recht vertraut sein; dieses wird aber erschwert, wenn es eine zu große Anzahl Lieder enthält. Das Porstsche ist schon zu zahlreich u das Freilinghausensche, das an 1600 enthält, überschreitet vollends alle Grenzen. Fünfhundert Lieder - dies scheinet mir ungefähr die rechte Zahl zu sein. ad 10. Ich wünschte, daß es bei der aus 6 Mitgliedern bestehenden Commission bleibe, denn zu viele Arbeiter erschweren die Sache. Ein Jeder kann in dem ihm übertragenen Antheil an der Arbeit einige seiner Freunde privatim zu Rathe ziehen, u wir könnten uns allenfalls von der Synode authorisieren lassen, noch einige Amtsbrüder, wenn die Nothwendigkeit es erforderte, nach eigener Wahl zu Hülfe zu nehmen. ad 11. Gegen die Anordnung des Ganzen muß ich mir manche Bemerkungen erlauben.6 a. Ich sehe keinen Grund ein, warum man die Rubrik: I Öffentlicher Gottesdienst zu einer Hauptrubrik gemacht hat, da die Lieder derselben doch auch zum Theil für den Privat Gottesdienst bestimmt sind.
6
Der Rubrizierungsentwurf ist leider nicht überliefert.
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b. Die Lieder von Gottes Wesen, Eigenschaften u Werken kommen erst II/3, also sehr spät vor, da doch Gott vorher, schon in so vielen Beziehungen ist gepriesen worden. {5} c. Die Zwischen- u Schlußgesänge machen eine eigene Rubrik aus, da sie doch sub i, γ zu gehören scheinen. d. Die Rubrik II/l ist zu sehr gespalten, denn wo wahre Demüthigung vor Gott Statt findet, da ist Gefühl des eigenen Verderbens u dieses fällt zusammen mit Reue u Buße. e. Die Morgen u Abendlieder sind zerstreut, denn sie kommen 2 u 3 mal vor, nemlich bei 1/1., bei III/l. u bei III/3. f. Die Kreuz- u Trostlieder, daß ich sie kurz so nenne, kommen auch zweimal vor, nemlich bei II/2/2 u bei III/5. g. Die Lieder bei der Arbeit sind theils eine zu specielle, theils eine zu allgemeine u nach meinem Dafürhalten ganz unnöthige Rubrik. Wer bei der Arbeit singt, wählet nach seinen individuellen Bedürfnissen ein besonderes Lied, ζ. B. In allen meinen Thaten, oder: Befiehl du deine Wege. Ich bin so frei aus diesen Gründen einen unmaßgeblichen Versuch einer andern Anordnung der verehrten Commission zur Prüfung vorzulegen, u ich wünsche nicht so wohl, daß er angenommen würde, als daß er vielmehr Anlaß gebe, die vorliegende Anordnung umzuarbeiten. Die Hauptsache kommt weniger auf die Synode als auf die Commission an, denn in der Synode ist nicht Zeit genug, alles genau zu prüfen u etwas Neues zu machen. Sua Manu Berlin den 12. August 1818 Küster [Ritschis Anmerkungen zum Protokoll vom 24.7.1818] {6} Über die im Protokoll vom 24. Jul. currentis aufgestellten Grundsätze bei Verfertigung eines Gesangbuchs erlaube ich mir folgende Bemerkungen: ad 4. Sind gewisse Lieder, wo man sie auch finden mag, an sich gut, so dächte ich, man nähme sie unbedingt auf, ohne sie in einen Anhang zu verweisen, der doch eigentlich nichts anders sagt, als daß man entweder etwas vergessen oder bei einer spätem Ausgabe manche Gesänge hinzugefügt habe. Daß ein Lied durch seine bereits geschehene Aufnahme in ein Kirchengesangbuch nichts gewinnen, u durch sein Auslassen nichts verlieren könne, geht gar deutlich aus mehrern der neuesten u gepriesensten Gesangbücher hervor. ad 6. Die Mannigfaltigkeit von Melodieen, die zu Einem Rhytmus passen, muß nicht gemindert, vielmehr bis zu einem bestimmten Punkte bewahrt werden, weil selten einmal ein späteres Lied zu dem Charakter der alten Melodie stimmt. So ist ζ. B. hier in Berlin nichts Unangenehmeres, als freudige Lieder nach dem Versmaß „Herzliebster Jesu pp" auf die alte elegische Melodie dieses Liedes singen zu hören. Es müssen also nach dem Bedarf des zu verfassenden Gesangbuchs mehrere neue schon vorhandene Melodieen eingeführt, in das Choralbuch aufgenommen, u. in dem Gesangbuche selbst auf eine deutliche Weise bezeichnet werden.
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Die andere Hälfte dieses § unterschreibe ich ganz, ja ich muß den dringenden Wunsch hinzufügen, {6v} daß bei der neuen Sammlung der Vorrath unserer anerkannt besten Melodieen zum Grund gelegt werde, damit eine jede auch gewiß ihr Lied finde. Bios um der Melodie willen u damit sie nicht untergehe, würde ich selbst ein mittelmäßiges Lied aufnehmen, oder auf Verfertigung eines ganz neuen antragen. Das sogenannte neue Berliner Gesangbuch, so wie viele andere neuere, ist in dieser Hinsicht höchst mangelhaft u. verwerflich. ad 10. Die Synode hat 6 Mitglieder ernannt. Wenn nicht besondere Rücksichten ein Andres nothwendig machen, wünschte ich die Anzahl nicht vermehrt, da die Erfahrung bei ähnlichen Angelegenheiten es nicht gut heißt. ad 13. Ich fürchte zwar nicht, daß bei strenger Wahl die Sammlung allzu groß werden wird, möchte aber dennoch keine zu enge Gränze gesetzt sehen. Es wird sich bald zeigen, wie reich der Vorrath von guten Liedern sei. ad 14. Nächst der Rücksicht auf die Darstellung scheint mir nicht weniger nothwendig die Rücksicht auf das Verhältniß des Liedes zur Melodie u deren Fermaten. Die meisten neuen oder veränderten alten Lieder leiden gar sehr an Verabsäumung dieser Regel. Was endlich die Anordnung der Lieder betrifft, so erlaube ich mir noch folgende Fragen: Sollten wohl (cf. I.)7 allgemeine Morgenlieder nöthig seyn, da unten die verschiedenen Tageszeiten noch einmal vorkommen? {7} Wäre es nicht gut, bei der Rubrik „Hoffnung u. Vertrauen auf Gott in Hinsicht des Seelenzustandes" eben so wie bei andern Rubriken den Inhalt noch näher zu bezeichnen? Sind unter II/3, die eigentlichen u. allgemeinen Danklieder mit begriffen? Sollte noch besonders des Verlustes geliebter Angehörigen erwähnt werden dürfen, nachdem theils beim Todtenfeste, theils unter den Sterbeliedern das Nöthige beigebracht worden? Sollten nicht Lieder „ bei der Arbeit" eine zu spezielle Rubrik seyn? Sind nicht „Lieder in Krankheit u. Noth" unter den Kreuz- u. Trostliedern mit begriffen? Ritschi. 11. Aug. 18. [AusJ.1.9. Vol.IL] [.Protokoll Wilmsen vom 24.7.1818 mit dem Entwurf zu obiger Grundsatzerklärung, mit Korrekturen Hansteins, die ζ. T. auf die Synodalbeschlüsse Bezug nehmen.] {143} Actum Berlin den 24. July. Heute versammelten sich die drey allein anwesenden Mitglieder der zur Berathung über ein neues Gesangbuch erwählten Commißion der Berlinischen Synode, und wurden über folgende Punkte eins:
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Confer 1. (Vergleiche 1.) Bezieht sich wohl auf den genannten Rubrizierungsentwurf.
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1) Es soll ein vollständiges Gesangbuch gesammelt werden. 2) Dieses Gesangbuch soll zunächst nur für Berlin bestimmt seyn, weil sonst der Rücksichten zu viele, und unvereinbare eintreten. 3 a) Kein Lied würde bey der Auswahl a priori als unverbeßerlich anzuerkennen seyn; doch würde bey der Verbesserung mit der größten Bescheidenheit und Schonung verfahren und dieselbe nur in der Veränderung obsoleter, und dem geläuterten Geschmack anstößiger Ausdrücke, und in der Weglassung solcher Verse, welche keiner Verbesserung fähig sind, bestehen. b) Die Verfasser werden genannt, und [Zusatz Hanstein: wesentlich veränderte] verbesserte Lieder durch die Bezeich{ 143v}nung: nach N. angedeutet. [zu 3 b) und 4) Zusatz Hansteins:] S y n o d a l b e s c h l u ß Die Verfasser werden in einem besonderen alphabetischen Namensregister genannt, einige wesentliche historische Nachrichten von ihren Amtsund Lebensverhältnissen hinzugefügt, u die Nummern der von ihnen gedichteten Lieder beygefügt. Sollte Eines {143v} oder das andere wesentlich verändert seyn, so wird dieses, neben der Nummer, durch ein eingeklammertes (v) bemerklich gemacht. 4. Fällt weg, indem keinem, auch nicht dem neuesten und unbekanntesten Liede die Aufnahme versagt werden darf, wenn es anders für würdig erklärt wird und die Probe hält. 4) Nur solche Lieder, welche schon in irgend einem KirchenGesangbuche stehen, sind der Aufnahme fähig, andere würden in einen Anhang zu verweisen seyn. 5) Die Form der Lieder kann kein Grund seyn, sie umzuändern, auch würde keine Form, selbst die Gebethsform nicht, vorzüglich zu begünstigen seyn, sondern vielmehr hiebey die bestehende Mannigfaltigkeit als angemeßen und natürlich, unangetastet bleiben. 6) Da der Rhythmus der meisten Lieder eine vier- ja sechs- und achtfache Anpassung von gangbaren Melodien zuläßt, so würde aus dieser die passendste auszuwählen und auf diese Art der musikalische Theil der Verbeßerung zu bewirken seyn. Außerdem wären besonders gute alte, ver {144} Schollene Melodien wieder herzustellen und in Gang zu bringen, und also kein Lied deswegen zu verwerfen, weil es nur nach einer unseren Gemeinden unbekannten Melodie gesungen werden kann. 7) Alle diejenigen Lieder, welche keinen poetischen Schwung haben, viel mehr ganz im Ton der [Zusatz Hanstein: gereimten] Prosa gehalten sind, würden auszuschließen seyn. 8) Bey der Sammlung der Lieder würde es am wenigsten darauf anzulegen seyn, einen möglichst reichen Vorrath von Liedern, welche die Pflichten darstellen, zusammen zu bringen; besonders aber würde alles zu Specielle zu vermeiden seyn. 9) Eben so auch alle die Lieder, welche solche dogmatische Vorstellungen enthalten, von welchen anzunehmen ist, daß sie einem bedeutenden, oder wohl
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dem größten Theil
[Hanstein: Der Beysatz: „Dogmatische" bleibe weg, da jeder auch anderweitige Anstoß zu vermeiden ist.] {144v} der Gemeinde anstößig sein dürften. 10) Jedem Mitgliede der zur Abfassung des Gesangbuchs von der Synode niederzusetzenden Commission, welche füglich nur aus 8 Mitgliedern bestehen dürfte, [Hanstein: „niedergesetzten" Commission, welcher noch 2 andere Mitglieder beygesellt werden sollen.] steht es zu, die aufzunehmenden Lieder, jedoch nur in ihrer ursprünglichen Gestalt, zur Wahl in Vorschlag zu bringen. 11) Dies geschieht nach der in der Anlage unmaßgeblich vorgeschlagenen Anordnung, wenn sie von der Synode gebilligt wird. [Hanstein? oder Synodalbeschluß?: Die Anordnung wird der Commission überlassen.] 12) Die Stimmenmehrheit würde über die Aufnahme eines Liedes entscheiden und Zweydrittheile der Stimmen zur Aufnahme erforderlich seyn. 13) Bis auf eine zu bestimmende Zahl [Hanstein: zwischen 800 u 1000 anzunehmende], wobey jedoch die kleineren Zwischengesänge nicht mitzuzählen {145} sein würden, werden die durch Abstimmung zur Aufnahme designirten Lieder reduicrt. 14) Jedes Mitglied übernimmt für eine Abtheilung des Gesangbuchs oder für selbstgewählte einzelne Lieder das Geschäft der Verbesserung, wobey nur das allernothwendigste in Rücksicht auf die Darstellung zu verändern seyn würde. Hiernach werden diese Veränderungen mündlich geprüft und berathen, und dieselben durch Abstimmung festgesetzt. Wilmsen. Hanstein. Schleiermacher. [.4usJJ.ll.] [Einladung Hansteins vom 19.10.1818 zum 22.10.1818. Mit Gegenzeichnung] {7} Um an die, commissarisch uns übertragene Ausarbeitung eines, zur Prüfung der Synode vorzulegenden Gesangbuchs zu gehen, ist vor allen Dingen eine mündliche Berathung u Übereinkunft nöthig, wie wir, den angenommenen Grundsätzen gemäß, das Geschäft beginnen u etwa unter uns vertheilen möchten. Zu der ersten dieserhalb zu haltenden Conferenz bring' ich die, wahrscheinlich uns allen bequeme, abendliche Zeit von 6 Uhr an, auf nächsten Donnerstag, den 22ten Oct., ganz ergebenst in Vorschlag, u bitte um schleunigen Umlauf dieses Blattes. Berlin den 19 October 1818 Hanstein Es wird mir Vergnügen machen Sie in meiner Wohnung zu erwarten.
Hanst.
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Dokumenten- und Materialanhang
An die Herren Commissarien Küster, Ribbeck, Ritsehl, Schleiermacher, Spilleke, Theremin, Wilmsen8
[Weiter aus J.1.13.} [Protokoll Wilmsen vom 22.10.1818] {8} Berlin den 22 Octbr. 1818. Heute versammelte sich die zur Sammlung eines vollständigen Gesangbuches für die Evangelischen Gemeinden unsrer Stadt von der Berlinischen Synode niedergesetzte Commission u es wurde folgendes beschlossen: 1. Jedes Mitglied wählte aus den besten alten Gesangbüchern zwei oder drei aus, u verpflichtete sich, diese zur Vorbereitung der eigentlichen Arbeit genau durchzusehen u zu untersuchen, u daraus bis zur 2ten Adventswoche eine Auswahl der besten Lieder alphabethisch zu veranstalten, zugleich dabei zu bemerken, welche Strophen gänzlich wegzulassen seyn würden.9 2. Es soll hiebei für jetzt noch kein Schema bei der Auswahl zum Grunde gelegt, sondern nur aus dem ganzen Vorrathe der alten Lieder, wie sie ursprünglich verfaßt sind, das Beste er{8v}wählt werden, damit sich hernach aus dem Inhalte der Lieder selbst die zweckmäßigste Anordnung ergebe. 3. Die Vertheilung geschähe auf folgende Art: 1. Herr Propst Ribbeck: das alte Magdeburgische u das Freilingshausensche Gesangbuch.10 2. Herr Propst Hanstein: das Brieg'sche G.b. das Breslauer G.b. das Züllichauer G.b.11 3. Herr D. Schleiermacher: Gesangb. der Brüdergemeinde, das Stettinsche u Stralsundische.12 4. Herr Hofprediger Theremin: das Porst'sche G.b.13 5. Herr Superinte«dent Küster: das Krügersche. Stimmen aus Zion.14 8 9 10
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Gegenzeichnung von Küster, Ribbeck, Spilleke und Schleiermacher. Siehe Liederliste vom 17.12.1818, J.I.12, Bl. 44 (nicht im Anhang). Vollständiges Gesangbuch in sich haltend 1000 geistreiche und auserlesene Lieder [...] der Stadt Magdeburg (1738 1 ); Johann Anastasii Freylinghausens Geistreiches Gesangbuch, hrsg. von Gotthilf August Francke, Halle 1741. Vgl. mein Gesangbuchverzeichnis. Da das Brieger und das Züllichauer Gb im folgenden nicht mehr erwähnt werden, lassen sich diese Gesangbücher nicht identifizieren, vgl. den Katalog der Wernigeröder Gesangbuchsammlung in der Berliner Staatsbibliothek (SBB). - Allgemeines und vollständiges Evangelisches Gesang-Buch für die Königl. Preuß. Schlesischen Lande, hrsg. von Johann Friedrich Burg, Breslau 1773 (1745 1 ). Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778; Heiliges Lippen- und Herzens-Opfer einer gläubigen Seele oder vollständiges Gesang-Buch, hrsg. von L. D. Bollhagen, Alt-Stettin 1844 (1724 1 ); Vermehrtes Kirchen- und Haus-Gesangbuch, für das Königlich-Schwedische Herzogthum Pommern und Fürstenthum Rügen [...] Stralsund 1804 (Vorrede von J. H. v. Balthasar 1750). Geistliche und liebliche Lieder [...] nebst [...] einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 17281.
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6. Herr Pred iger Spilleke: das Frankfiirtsche G.b. das Clevische G.b. das Marburger G.b. 1 5 { 9 } 7. Pred. Wilmsen: das Altmärkische u das Bremer G.b. 1 6 8. Herr Cons. R. Ritsehl war abwesend. Ihm würde bleiben: das Königsberger. das Brandenburger. 17 Wilmsen. [Nachtrag Ritsehl] D a durch ein Versehen mir die Einladung zur Konferenz nicht z u g e k o m m e n war, so habe ich dies Protokoll nachträg/i'cA gelesen, u. dessen Inhalt genehmigt. Ritschi. Berlin 16. N o v . 18. {10} Theremin Eilmsen 'Wilmsen Küster Ribbeck Spilleke 14
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Porst' sches Gesangbuch. 2. Altmärkisches 3. Königsberger 4. Bremisches (altes) 5. Stimmen aus Zion. 6. Freilinghausensches 7. F r a n k f u r t ' s c h e s -
Gemeint ist wohl Johann Crügers Praxis Pietatis Melica. Das ist: Übung der Gottseligkeit in christlichen und trostreichen Gesängen [...] Berlin 166612 (16472); Stimmen aus Zion, oder Erbauliche Lieder, zur Verherrlichung Gottes und Erbauung vieler Seelen, Stargard 1750. Das Gesangbuch beinhaltet eine Vorrede von 1740, in der auf Sammlungen gleichen Titels in Berlin und Potsdam sowie auf die Verwandtschaft mit dem Porstschen Gesangbuch ausdrücklich aufmerksam gemacht wird. Auch z. B. in Minden ist ein Liederbuch dieses Titels erschienen: Stimmen aus Zion, oder Erbauliche Lieder, Minden 1775. Vielleicht: Neu-vollständiges Evangelisch-Reformirtes Kirchen-Gesang-Buch, worinnen so wol die verbesserten Psalmen Davids nach D. Ambrosii Lobwassers Reim-Weise, als auch der Kern sämtlicher alter und neuer Kirchen-Gesänge, nach der Ordnung des Heidelbergischen Catechismi, nebst Herrn Joachim Neandri Geistreichen Bundes-Liedern und der Heidelbergische Catechismus, enthalten sind [...] Franckfurt am Mayn, bey Heinrich Ludwig Brönnern, 1744. (Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, Sign.: Gü 6668.) Die Wernigeröder Gesangbuchsammlung (SBB) besitzt kein Frankfurter Gesangbuch von 1744 (s. Protokoll 11.5.1820.) - Das Clevische und das Marburger Gesangbuch sind nicht zu bestimmen, da sie in den Akten sonst nicht erwähnt werden, vielleicht: Das Neu-verbesserte Kirchen-Gesangbuch [...] durch den christlichen Synodum Generalem der Reformirten Kirchen in den vereinigten Ländern Cleve, Gülich, Berg und Mark, Mühlheim 1793. Und: Vollständiges Marburger Gesang-Buch [...] Marburg. Dieses lutherische Gesangbuch mit 615 Liedern erschien wohl erstmals 1743. (Auskunft Dr. Bill, Leiter der Musikabteilung der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt); Oder das reformierte Gesangbuch: Neu-vermehrt- und vollständiges Gesangbuch [...], Marburg 1752, vgl. das Gesangbuchverzeichnis. Altmärkisch- und Prignitzsches Neu-eingerichtetes Gesang-Buch (Vorrede von J. C. Meurers 1734), Salzwedel 1764. Auch für das Bremer Gesangbuch gilt das oben gesagte (vgl. den Katalog der Wernigeröder Gesangbuchsammlung der SBB). Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder die in denen Preußischen Kirchen gesungen werden, Königsberg 176515 (Hrsg. von Johann Jacob Quandt). Brandenburgisches Gesangbuch (hrsg. von Friedrich Conrad Darnmann), Brandenburg 1763.
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Dokumenten- und Materialanhang
Canstein Schleiermacher Küster Spilleke Schleiermacher Ribbeck Hanstein Spilleke
8. Züllichauer9. Stettinsches u Stralsundisches 10. Brandenburgisches 11. Krüger' sches 12. Clevisches13. Gesangbuch der Brüdergemeinde. 14. Das alte Magdeburger 15. Brieg'sches - Breslauer u Liegnitzer18 16. Marburger -
[Aus J. 1.9. Vol.II.] [Einladung Hansteins vom 14.12.1818] {64} Da die Gesangbuchs Commission bey der ersten Versammlung beschlossen, am bevorstehenden 17t. dieses Monats, also nächsten Donnerstag, spätestens Ab ends um 6 Uhr, wieder zusammen zu kommen u die Auswahl der Gesänge aus den vorgeschlagenen alten Gesangbücher zur Stelle zu bringen: so wollte ich meine Hoch Geehrten Mitcommissarien hieran ganz ergebenst erinnern, und nur hinzufugen, daß ich zur bestimmten Zeit die Versammlung mit Vergnügen in meiner Wohnung erwarte. Ich bitte um Beschleunigung dieses Umschreibens u daß es erst zuletzt wieder an mich gelange. Β erlin den 14 December 1818. [Gegengezeichnet von:] Küster, Ribbeck, Ritsehl, Schleiermacher, Spilleke, Theremin, Wilmsen [EinladungHansteins vom 4.2.1819für den 11.2.1819] {65} Es ist nun wohl Zeit, daß unsre G e s a n g b u c h s A r b e i t e n 1 9 einen bestimmten u regelmäßigen Gang annehmen. Ich schlage daher vor, daß wir n ä c h s t e n D o n n e r s t a g d e n 1 1 t . d e s M o n a t s , Punkt 6 Uhr, zum ersten Mal u von da an regelmäßig alle 14 Tage zusammen kommen. Damit wir den Schlag der neunten Stunde nicht mehr zu fürchten haben, so ersuche ich so gleich meine hochzuehrenden Herren MitCommissarien, ein schlichtes Butterbrot sich, zwischen den Arbeiten, bey mir gefallen zu lassen. Dann können wir bey einander bleiben so lange wir Lust haben. Berlin den 4 Februar 1819. Hanstein. [Darunter die Namen mit eigenhändiger Bestätigung:] Küster, Marot, Ribbeck, Ritsehl, Schleiermacher, Spilleke, Theremin [ohne Bestätigung], Wilmsen. 18
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Privilegirtes Allgemeines und Vollständiges Gesang-Buch, für die evangelischen Gemeinden des Fürstenthums Liegnitz, Liegnitz 1745. Möglicherweise handelt es sich hierbei um ein Versehen, da oben das Bunzlauer Gesangbuch genannt ist, das auch in den Akten des öfteren begegnet. Alles gesperrt Gedruckte ist im Manuskript unterstrichen.
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[Fortsetzung von J.1.13. ] {11} Berlin de« 25 Febr. 1819. In der heutigen Conferenz der Gesangbuchs-Commission legte der Hr. Dr. Schleiermacher die von ihm zur Aufnahme vorgeschlagenen u veränderten Lieder vor. Das eine der vorgeschlagenen ACH WUNDERGROSSER SIEGESHELD
[254]20 wurde von ihm aufgegeben, weil die Verbesserung unübersteigliche Schwierigkeiten hat. Die übrigen verbesserten Lieder wurden sorgfaltig geprüft, u die Verbesserungen des Hrn. Doctors größtentheils angenommen. Die Lieder, worüber die Versammlung einig wurde, sind folgende: 1. AUF AUF AN DIESEM MORGEN [386] aus dem Stettiner Gb. u Altenb. Gb. 21 2. 3. 4. 5. 6. 7.
ACH GOTT, GIEB DU UNS DEINE GNAD [2] 2 2 ACH WAS SIND WIR OHNE JESU [ 1 0 4 * ] a u s d e m B r ü d e r G b . 2 3 AUF, AUF, IHR MEINE LIEDER [21] 2 4 ACH MEIN JESU SIEH ICH TRETE [ 8 0 8 ] 2 5 AUF LEIDEN FOLGT DIE HERRLICHKEIT [ 2 8 8 ] 2 6 ACH HERR, DIR IST BEWUSST [ 3 8 1 ] 2 7
Als Hr. D. Schleiermacher gegen 9 Uhr die Versammlung verlassen muß{llv}te, beschäftigte sich dieselbe noch mit der Auswahl einiger Lieder aus dem Freilingshausenschen Gesangbuche. Als einige specielle Lieder für die häusliche Erbauung in Vorschlag gebracht wurden, trug Hr. Hofpreiftger Theremin darauf an, daß für den Fall, daß auch solche Lieder aufgenommen würden, auch das ACH GOTT, ICH MUSS IN TRAURIGKEIT aus dem Porst'schen Gesangbuch aufgenommen werden möchte.28 Es wurden hierauf noch einige Lieder aus dem Buchstaben D ausgewählet, u der Herr Superintendent Küster erklärte sich bereit, mit einigen eine Verbesserung zu versuchen. Wilmsen.
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Die Liedanfange sind in Kapitälchen gesetzt, dahinter die Nummer im Berliner Gesangbuch (1829). Die Nr. ist mit * gekennzeichnet, wenn das Incipit im Protokoll von dem im BG abweicht. - Das zunächst zurückgelegte Lied war lt. Liste vom 17.12.1818 aus dem Porst (Nr. 153) vorgeschlagen worden, vgl. J.I.12, Bl. 44. Stettiner Gesangbuch, Nr. 46, Altenburger Gesangbuch, (1746), Nr. 1135. Die Quellengesangbücher der folgenden Lieder sind zum größten Teil zu entnehmen den Vorschlagslisten vom 17.12.1818 und vom 11.2.1819, vgl. J.I. 12, Bl. 44-49v. Aus dem Stettiner Gb, Nr. 1106 und dem Porstschen Gb, Nr. 779. Brüder Gb, Nr. 733. Aus dem Stettiner Gb, Nr. 2. Aus Porst, Nr. 650, auch im Brüder Gb, Nr. 1581 und Stettiner Gb, Nr. 579. Aus dem Brüder Gb, Nr. 1013. Aus dem Stralsunder Gb, Nr. 571. In Liederliste J.I.12, Bl. 44, Hinweis auf die Fassung im Mylius'schen Gb (1780), Nr. 272. Porst, Nr. 843.
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Dokumenten- und Materialanhang
Β erlin den 1 lten März 7819. In der heutigen vierten Conferenz der Gesangbuchs-Commission las zuerst Hr. Superintencfe/tf Küster eine neue Recens ion des anfangs verworfenen Liedes: A U F AUF MEIN GEIST ZU LOBEN Ρ welche er selbst besorgt hatte; Sie wurde mit einigen Rectrictionen gebilligt; auch der veränderte Anfang: AUF AUF, DEN HERRN ZU LOBEN [ 7 8 8 ] .
Herr Propst Hanstein trug eine von ihm versuchte Bearbeitung des Liedes vor: welche nach mehreren { 1 2 } Modificationen beliebt ward.29 Derselbe hatte bearbeitet: ACH WENN ICH DICH MEIN GOTT NUR HABE [ 5 1 3 ] , welches, bis auf den letzten Vers, angenommen ward. Diesen will Hr. Hanstein selbst noch einmal bearbeiten.30 Ferner derselbe: ALLE WELT, WAS LEBT UND WEBET drei Verse. Gleichfalls angenommen.31 Ferner derselbe: ALLES IST AN GOTTES SEGEN [566] mit wenigen Veränderungen angenommen.32 Ferner derselbe: A U F CHRISTI HIMMELFAHRT ALLEIN [246] gleichfalls mit Veränderung angenommen.33 Die Bearbeitung des Liedes: A N GOTT WILL ICH GEDENKEN (von Schmolke) [515*] wurde verworfen, weil die Form des Selbstgesprächs dem Liede bleiben soll.34 Ferner wurde bearbeitet: A U F MEINEN LIEBEN GOTT TRAU ICH [ 5 7 0 ] 3 5 Bei der Bearbeitung des Liedes von Luther Aus TIEFER NOTH SCHREI ICH ZU DIR [388*] konnte die Versammli/wg über die Veränderung des ersten Verses nach langer Berathung nicht einig werden.36 A C H BLEIB MIT DEINER GNADE [1]
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30 31 32 33 34 35 36
Aus dem Breslauer Gb, Nr. 715. Hanstein schöpfte vor allem aus dem Breslauer Gb, vgl. seine 163 Lieder umfassende Vorschlagsliste J.I.10, Β1. 74-76v. - Vgl. Hansteins Liedbearbeitung des Stegmannschen „Ach bleib mit deiner Gnade" und der folgenden 7 Titel im Anschluß an dieses Protokoll. Aus dem Breslauer Gb, Nr. 102. Aus dem Breslauer Gb, Nr. 1174. Lt. Vorschlagsliste vom 17.12.1818, J.I.12, Bl. 44, aus dem Königsberger Gb (J. J. Quandt, Königsberg 176515, Nr. 595) und Porst (Nr. 515). Lt. Vorschlagsliste vom 17.12.1818, J.I.12, Bl. 44, aus dem Königsberger Gb (J. J. Quandt, Königsberg 1765 15 ,Nr. 147). Aus dem Altmärkischen Gb, Nr. 903. Aus dem Breslauer Gb, Nr. 113 und Mylius, Nr. 301. Bearbeitet von Hanstein, s. u. J.I.10, Bl. 70. Aus dem Porstschen Gb, Nr. 250.
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[Aus J.I.10. Liedbearbeitungen von Hanstein] { 6 4 } 1. A C H BLEIB MIT DEINER GNADE [ 1 ]
[Schreiber unbekannt, Korrekturen von Hanstein] In eigener Mei. 1. Ach bleib mit deiner Gnade Bey uns Herr Jesu Christ! Daß uns hinfort nicht schade Des Bösen Macht und List. 2. Ach bleib mit deinem Worte [gestr: Wahrheit] Bey uns Erlöser werth! Daß uns in diesem Horte [gestr: 1) daß uns so hier als dorte 2) daß bis zur Himmels/Grabes Pforte 3) daß uns in deiner Klarheit.] Sey Trost und Heil beschert. 3. Ach bleib mit deinem Glänze Bey uns du himmlisch [gestr: werthes] Licht! Den Glauben in uns pflanze [gestr: dein Wahrheit uns umschanze], Damit wir irren nicht. 4. Ach bleib mit deinem Seegen Bey uns, du reicher Herr! Gieb Wollen und Vermögen [gestr: Dein Gnad und all' Vermögen] Zu Deines Namens Ehr. [gestr: 1) in uns reichlich vermehr 2) uns täglich mehr und mehr] 5. Ach bleib mit deinem Schutze Bey uns du starker Held! Daß wir dem Feind [gestr: daß Sünd und Welt] zum Trutze Besiegen Sünd und Welt. [gestr: dein Wort den Sieg behält] 6. Ach bleib mit deiner Treue Bey uns, Herr, unser Gott! Beständigkeit verleihe, Hilf uns aus aller Noth. D. Josua Stegmann { 6 6 } 3. ACH, WENN ICH DICH, MEIN GOTT NUR HABE [ 5 1 3 ]
[Korrekturen von Hanstein]31 1. Ach, wenn ich dich, mein Gott nur habe, Nach Erd' und Himmel frag' ich nicht. Nichts ist, das meine Seele labe, Als du mein Gott, mein Trost und Licht. 37
Lt. Hansteins Liederliste aus dem Breslauer Gb, Nr. 102, vgl. J.I.10, Β1. 74, unter Nr. 6 und doppelt unterstrichen, was auf die Zuweisung eines Liedes an Hanstein hinweist.
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Dokumenten- und Materialanhang
Rühmt sich die Welt mit ihrer Lust: Mir ist ohn' dich kein Heil bewußt. 2. Soll Leib und Seele mir verschmachten, Ich hoffe doch getrost auf dich. Nichts will ich Schmerz und Plagen achten; Dein tröstet meine Seele sich, \gestr: An dir allein erquick ich mich] Und stünd auch alles wider mich, Hab ich Allmächtiger! doch dich! [gestr: Hab' ich doch, o Allmächt'ger, dich!] 3. Dich haben Gott, heißt Alles haben, Was nur die Seele wünschen kann. An dir will ich mich ewig laben [gestr: Du bist die Gabe aller Gaben] Nimm dich nur meiner Seele an. Dann Sprech' ich: du bist, Herr, mein Theil Und meines Herzens Trost und Heil. Benjamin Schmolke {69} 5. Alle Welt, was lebt und webet [Mit Korrekturen von Hanstein]3* Mei. Gott des Himmels und der Erden p. 1. Alle Welt, was lebt und webet, Und in Feld und Häusern ist, Was nur Stimm' und Zung' erhebet, Jauchze Gott zu jeder Frist. Dienet ihm, wer dienen kann! [gestr: Preiset ihn, wer preisen kann] Kommt mit Lust und Freud' heran [wohl geändert in: Freud' und Lust] 2. Sprecht ihr Hier ist unser Meister; Er hat uns aus nichts gemacht; Wunderbarlich* [gestr: Er hat mächtig] Leib und Geister An das Licht der Welt [gestr: hervor] gebracht. Wir sind seiner Allmacht Ruhm Sind sein Volk [gestr: 1) Seine Heerd' 2) Seine Schaf] und Eigenthum. 3. Gehet ein zu seinen Pforten, Geht durch seines Vorhofs Gang; Lobet ihn mit heiigen [gestr: schönen] Worten; Singt ihm .. [gestr: Saget ihm Lob,] Preis und Dank Denn der Herr ist jederzeit Voller Gnad' und Gütigkeit. [Vierte Strophe ganz gestrichen.] 4. Gott! des Himmels und der Erde! Vater, Sohn und Heil'ger Geist! Daß dein Ruhm stets größer werde, 38
Lt. Hansteins Liederliste aus dem Breslauer Gb, Nr. 1174, vgl. J.I.10, Bl. 74 Nr. 8 und doppelt unterstrichen.
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Beystand selbst und Hülf uns leist: Gieb uns Kräfte und Begier, Dich zu preisen für und für. Joh. Francke. { 6 8 } 7. ALLES IST AN GOTTES SEEGEN [ 5 6 6 ]
[mit Hansteins Korrekturen^
In eigener Melodie 1. Alles ist an Gottes Seegen Und an seiner Huld gelegen. Gott ist unser höchstes Guth Wer [gestr: Der] auf ihn [gestr: dich] die Hoffnung setzet Dem bleibt ewig unverletzet Ein getroster Heldenmuth. 2. Du der mich bisher ernähret Viel der Freuden mir gewähret Bist und bleibest ewig mein. Du, der meinen Lauf regieret, Und mich wunderbar geführet Wirst mein Schutz auch ferner [gestr: Helfer ewig] seyn. 3. Soll ich ängstlich seyn [gestr: mich] um Sachen Die nur Sorg und Unruh machen Und vergebliches Bemühn? Nein, ich will nach Gütern streben, Die dem Herzen Frieden geben Und im Tode nicht entfliehn. 4. Hoffnung kann das Herz erquicken [gestr: Auch die Hoffnung kann erquicken] Was mir gut ist, wirst du schicken, Wenn es deinem Rath gefallt. Dir will ich mich ganz ergeben Leid und Freude [gestr: Glück und Unglück], Tod und Leben Alles sey [gestr: Sey allein] dir heimgestellt. 5. Ist mein Wunsch nach deinem Willen O so wirst du ihn erfüllen, Und gewiß zu seiner [gestr: zur rechten] Zeit. Dir hab ich nichts vorzuschreiben; Wie du willst so muß es bleiben; Wann du willst - ich bin bereit! [gestr: Was du willst ist Seeligkeit] {68v} 6. Soll ich hier noch länger leben, Wollst du Kraft und Trost mir geben, Und zum Himmel mich erziehn. 39
Lt. Hansteins Liederliste aus dem Breslauer Gb, Nr. 111, vgl. J.I.10, Bl. 74, Nr. 10 und doppelt unterstrichen.
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Dokumenten- und Materialanhang
Nur, was himmlisch ist, bestehet; Alles Irdische vergehet. Fährt gleich wie ein Strom dahin! [gestr: Wie ein Strohm fahrt es dahin] 8. A U F CHRISTI HIMMELFAHRT ALLEIN [ 2 4 6 ]
[mit zahlreichen Korrekturen Hansteins]40 1. Auf Christi Himmelfahrt allein Ich meine Nachfahrt gründe Und hiemit [gestr: allen] Zweifel, Angst und Pein Im Glauben [gestr: Hiemit stets] überwinde Denn, weil das Haupt im Himmel ist, Wird seine Glieder Jesus Christ Aus Gnaden nach sich ziehen [gestr: Zur rechten Zeit nachholen] 2. Gen Himmel fuhr mein Heyland auf, Um Gaben zu empfangen. Zu ihm blickt nun mein Geist hinauf Mit sehnendem Verlangen. Denn wo [gestr: Da nun] mein Schatz ist [ergänze: auch] mein Herz Es schwingt zu ihm sich himmelwärts Vom Staube dieser Erde [gestr: Von dieser eitlen* Erde] 3. Du Herr der Gutes [gestr: Alles] in uns schafft [gestr: Ach Herr verleihe du uns Kraft,] Hilf uns den Lauf vollbringen [gestr: Nach deinem Reich zu ringen,] Und stark in deines Geistes Kraft [gestr: 1) Und in des Glaubens sel'ger Kraft 2) Dein Geist, der Gutes in uns schafft,] Dir nach zum Himmel dringen [gestr: Helf uns den Kampf vollbringen.] Dann scheiden wir, wann dirs gefallt [gestr: Und einst am Ende dieser Zeit] Mit Freuden einst von dieser Welt [gestr:.. zum Licht der Ewigkeit,] Erhöre, was wir flehen! [gestr: Zu jenen Lebens Freuden.] {67}
40
Vgl. Königsberger Gb, Nr. 147 und Breslauer Gb, Nr. 634. Auf Hansteins Liederliste, J.I.10, Bl. 74 Nr. 14 unterstrichen.
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9. A N DICH MEIN GOTT ZU DENKEN [ 5 1 5 * ]
soll alt bleiben [VermerkHansteins]41 Mei. Helft mir Gott's Güte preisen p. 1. An dich mein Gott zu denken Ist Pflicht und Trost für mich Wenn Gram und Angst mich kränken So blickt mein Aug' auf dich Dann mindert sich der Schmerz; Dann fliehn die bangen Sorgen, Wie Nebel vor dem Morgen Und leichter wird mein Herz. 2. Denk ich an deine Liebe: Wie werd ich hoch erfreut! Mit dankbar frohem Triebe Fühl' ich mich dann* bereit Dir ganz mein Herz zu weihn, Dich kindlich zu erheben, Zur Ehre dir zu leben, Vor Sünden mich zu scheun. 3. Denk ich an deine Güte Die alle Morgen neu, So freut sich mein Gemüthe, bey solcher Vatertreu' Werf ich die Last auf dich, So wird die Arbeit süße In der ich Schweis vergieße; Du unterstützest mich. 4. Du gabst mir aus Erbarmen Den Sohn, der für mich starb, Und gnadenvoll mir Armen Auf ewig Trost erwarb Du bist in Christo mein! Nun kann ich Hoffnung fassen. Du kannst dein Kind nicht lassen; Würdst stets mein Helfer seyn. {67v} 5. Wie gut ists dein gedenken! Die Welt mag immerhin Ihr Herz aufs Eitle lenken, Hier ist ein andrer Sinn 41
Lt. Hansteins Liederliste aus dem Breslauer Gb, Nr. 112, vgl. J.I.10, Bl. 74 Nr. 11 doppelt unterstrichen. Die Bearbeitung stammt wahrscheinlich von Hanstein. Anmerkung im Protokoll vom 2.12.1824: „An dich mein Gott gedenken p. (schon bearbeitet)" Im Mai 1829 wurde das Lied nach Schleiermachers Vorschlägen revidiert.
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Dokumenten- und Materialanhang
Ich halte mich an dich! Dies giebt auch wenn ich leide Dem Herzen Trost und Freude; Dies stärkt im Tode mich. 6. Drum will ich an dich denken So lang ich denken kann Mag man ins Grab mich senken; Der Geist geht Himmel an Vergesse mein die Welt! Gedenkt der Herr doch meiner Wenn auch auf Erden Keiner Mich im Gedächtniß hält. Schmolke {70} 10. A U F MEINEN LIEBEN GOTT [ 5 7 0 ]
[mit Korrekturen von Hansteinf1
1. Auf meinen lieben Gott Trau' ich in Angst und Noth, Er kann mich allzeit retten Aus Trübsal Angst und Nöthen. Mein Unglück kann er wenden; Es steht [gestr: Steht all's] in seinen Händen. 2. Ob mich die Sünd anficht [gestr: Auch beym* Gewissens Schmerz] Verzagt mein Herz doch nicht [gestr: Verzaget nicht mein Herz] Auf Christum will ich bauen Und ihm allein [gestr: Und fest auf ihn] vertrauen; In ihm ist Kraft und Leben [gestr: 1) Ich will mich ihm ergeben 2) Ihm will ich mich ergeben] Ihm will ich mich ergeben, [gestr: Im Tode, wie im Leben] 3. Ob mich der Tod nimmt hin: Ist Sterben mein Gewinn [gestr: Sterben ist mein Gewinn] Und Christus ist mein Leben; Er wird sein Reich mir geben [gestr: Dem will ich mich ergeben] Ich sterb' heut' oder morgen Dafür laß ich Gott sorgen [gestr: Die Seel' wird Gott versorgen.] 4. Du mein Herr Jesu Christ Der du aus Liebe bist Am Creuz für mich gestorben Du hast [gestr: Hast mir] das Heil erworben Und schaffst nach kurzen [gestr: auf kurze] Leiden Den Deinen ew'ge Freuden. 5. Amen aus Herzens Grund 42
Nach Hansteins Liederliste (J.I.10, Bl. 74 Nr. 15) und der GBC-Vorschlagsliste vom 17.12.1818, J.I. 12, Bl. 44 aus dem Breslauer Gb, Nr. 113 und Mylius, Nr. 301.
Einladungen und Protokolle der Gesangbuchkommission 1818-1829
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Sprech ich zu aller Stund'. Du wollst, Herr Christ, uns leiten Uns stärken, vollbereiten [gestr: Zum Licht der Ewigkeiten] Auf daß wir deinen Namen Ohn' Ende preisen. Amen! Siegmund Weingärtner. {70v} 11. A u s TIEFER NOTH RUF' ICH ZU DIR [ 3 8 8 ]
[Mit Korrekturen Hansteins]43 In eigner Melodie. 1. Aus tiefer Noth ruf ich zu dir. Herr Gott! erhör' mein Flehen Nicht ins Gericht wollst du mit mir [gestr: Dein gnädig Ohr neig' her zu mir,] Der Gnade suchet gehen, [gestr: Und laß mich Hülfe sehen] Denn wolltest du das sehen an [gestr: Ach! siehest du als Richter an,] Was Sünd und Unrecht ist [gestr: Was wir nicht recht vor dir] gethan, Wer könnte vor dir bleiben! [gestr: Wer kann vor dir bestehen!] 2. Bey [gestr: Vor] dir gilt nichts denn Gnad' und Gunst [gestr: allein] Die Sünde zu vergeben. Es ist doch unser Thun umsonst [gestr: Nie ist der Mensch von Fehlern rein] Auch in dem besten Leben. Vor dir sich Niemand [gestr: niemand sich] rühmen kann. Es muß dich furchten [gestr: Deß muß sich furchten] jedermann Und deiner Gnade leben. 3. Darum auf Gott will hoffen ich [gestr: Drum will ich nur allein auf dich,] Auf mein Verdienst nicht bauen. Auf dich verlassen will ich mich [Variante: An ihn mein Herz soll halten sich] Und deiner Güte (Gnade) trauen [gestr: Nur seiner Gnade trauen] Die mir verheißt (zusagt) dein werthes Wort [gestr: Du bist mein Trost, o treuer Hort!] Das ist mein Trost und treuer Hort [gestr: Das sagt mir zu dein werthes Wort.] Deß will ich allzeit harren* [gestr: Des will ich mir getrösten] 4. Und ob es währt ist [lies: bis] an die Nacht Und wieder an den Morgen: Doch soll mein Herz an Gottes Macht Verzweifeln nicht noch sorgen. So ist des rechten Christen Art [gestr: Stets will ich als ein wahrer Christ] Der aus dem Geist geboren ward [gestr: Der aus dem Geist gebohren ist,] Und seines Glaubens lebet, [gestr: Auf Gottes Gnade hoffen.] 5. O bey uns ist der Sünden viel Bey Gott [gestr: dir] ist viel mehr Gnade. 43
Nach Hansteins Liederliste (J.I.10, Bl. 74 Nr. 16) und der GBC-Vorschlagsliste vom 17.12.1818, J.I.12, Bl. 44 aus dem Breslauer Gb, Nr. 1560 und Porst, Nr. 250.
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Dokumenten- und Materialanhang
Sein [gestr: Dein] Macht, zu helfen, hat kein Ziel, Wie groß auch sey der Schade. Er ist [gestr: Du bist] allein der gute Hirt Der einst sein Volk erlösen wird Von allen Sünden. Amen! \gestr: Von allen seinen Sünden] Luther.
[ Weiter aus J.1.13.] {12v} 5te Conferenz. Berlin den 25 März 1819. Hr. Hofpred/ger Theremin u Hr. Prediger Spilleke fehlten. Hr. ConúsXorialRath Ritsehl trug eine Bearbeitung des Liedes vor: AUF AUF MEIN GEIST BETRACHTE welche geprüft u mit einigen Änderungen angenommen ward.44 Derselbe eine Bearbeitung des Liedes: ACH HERR LEHRE MICH BEDENKEN [716] der letzte Vers wurde gestrichen.45 Derselbe einen Versuch, wie das Lied: ALLEIN GOTT IN DER HÖH SEI EHR [43] bearbeitet werden könnte, ohne seine Eigenthümlichkeit zu verlieren, von Prof. Giesebrecht, der diesen Versuch noch einmal revidiren will.46 Derselbe: Du SOLLST IN ALLEN SACHEN [458] Der 5te Vers wurde gestrichen.47 Derselbe: DER HERR, DER ALLER ENDEN von P . Gerhard. V. 9 ist noch einmal zu bearbeiten.48 Hierauf wurden noch einige Lieder in Vorschlag gebracht, welche zum Buchstab D gehörn, aufs neue DER TOD IST TODT, DAS LEBEN LEBET [217] von dem Hrn. Dr. Schleiermacher. FünfStimmen dafür, zwei dagegen.49
44 45
46 47
48 49
Lt. Vorschlagsliste vom 17.12.1818 (J.I.12, Bl. 44) aus dem Königsberger Gb (J. J. Quandt, Königsberg 176515), Nr. 712. Lt. J.I.12, Bl. 44 aus dem Königsberger Gb (J. J. Quandt, Königsberg 176515, Nr. 615, Mei. Freu dich sehr, 8 Strophen, Vf. Benjamin Schmolck). BG, Nr. 716 mit 6 Strophen (Mel. Zion klagt mit etc.). Ritschls Bearbeitung s. u. Der mir nicht näher bekannte Professor Giesebrecht war offenbar ein externer Bearbeiter, vgl. auch das Protokoll vom 7.12.1819. Lt. J.I.12, Bl. 44v aus dem Königsberger Gb (J. J. Quandt, Königsberg 1765 15 , Nr. 596: Du solt in allen sachen, Mel. In allen meinen Thaten, 5 Strophen, Vf. Andreas Tzerning). BG, Nr. 4 5 8 , 4 Strophen, Mei. Nun ruhen alle Wälder. Nach Hansteins Liederliste aus dem Breslauer Gb, Nr. 170, vgl. J.I.10, Bl. 74 Nr. 27. Das Lied war zuvor bereits abgelehnt worden, vgl. Hansteins Liederliste J.I.10, Bl. 74 Nr. 29, dort durchgestrichen.
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[AusJ.1.10. Liedbearbeitungen von Ritsehl und Hanstein(?)] {71} ACH HERR! LEHRE MICH BEDENKEN [716] [Handschrift
Ritsehl]50
Mei. Freu dich sehr, o meine Seele p. Ach Herr! lehre mich bedenken, Daß ich endlich sterben muß, Oft laß meinen Sinn sich lenken Auf des Lebens ernsten Schluß. Stell' ihn meinen Augen für Und erwecke die Begier, Mich nach deinem Wort in [gestr: Mich schon bei gesunden] Zeiten Auf den Abschied zu bereiten. Endlich muß ein Licht verbrennen; Endlich läuft die Sanduhr ab. Also muß auch ich bekennen: Staub vom Staube sinkt ins Grab! Fest besteht der ew'ge Schluß, Daß, was lebet, sterben muß. Menschen, als der Sünde Erben, Bleibt der Sünden Sold: sie sterben, [gestr: Müssen auch des Todes sterben.] Wenn wir kaum geboren werden, Ist vom ersten Lebens-Tritt Bis ins kühle Grab der Erden Nur ein kurzgemeß'ner Schritt. Ach mit jedem Stundenschlag [gestr: Ach ein jeder Augenblick] Nähert sich der letzte Tag [gestr: Führt uns von der Welt zurück] Und in jedem Lebensjahre [gestr: Und so rollen* unsre Jahre] Sind wir Alle reif zur Bahre, [gestr: Täglich hin zur Todten Bahre] {71v} Predigen nicht meine Glieder51 Täglich von der Sterblichkeit? Leg' ich mich zur Ruhe [gestr: zum Abend] nieder, Seh ich mich im Leichenkleid, [gestr: So ist Nacht des Todes Kleid] Ja der Schlaf stellt treu und wahr Seinen Bruder Tod mir dar. Und das Bette will mir sagen: [gestr: Und wer heut sich legt mit Lachen] So wirst du ins Grab getragen, [gestr: Kann wol morgen nicht erwachen] Ach wer weiß, in welcher Stunde Uns die lezte Stimme weckt! Denn Gott hat die dunkle Kunde 50
51
Dieses Manuskript Ritschis findet sich in Hansteins Sammlung, allerdings ohne Nummer. Vgl. Königsberger Gb (J. J. Quandt, Königsberg 176515), Nr. 615. In J.I.10, Bl. 64v, s. u. eine andere Bearbeitung. Die folgenden beiden Strophen standen ursprünglich in umgekehrter Reihenfolge.
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Keinem Menschen noch entdeckt. Wer sein Haus hat wohl [gestr: stets] bestellt, Geht getrost [gestr: mit Ruh'] aus dieser Welt. Aber Sicherheit [gestr: Fleischlich Sicherseyn] im Leben Kann nur Furcht im Tode geben, [gestr: 1) Kann den ew'gen Tod uns geben 2) Kann uns Quaal im Tod nur geben] Drum auch in gesunden Jahren [gestr: Drum, mein Gott, in jungen Jahren] Will ich [gestr: Laß mich] niemals sicher seyn; Will die Buße [gestr: Laß mich Beßrung] nicht versparen, Bis die [gestr: erst] Krankheit bricht herein. Täglich will ich [gestr: laß mich] Buße thun, Und dann froh im [gestr: 1) im festen 2) in Gnade* freudig] Glauben ruhn, Daß der Tod mich frei von Sünde Und mit dir versöhnet finde. {72} Nun [gestr: Ja] mein Gott, du wirst es geben [gestr: machen]52 Daß ich selig [gestr: frölich] sterben kann; Dir befehl ich meine [gestr: alle] Sachen, Nimm dich meiner Seelen an Deines Sohnes theures Blut Komme zeitig mir zu gut, Daß mein leztes Wort auf Erden Einst kann [gestr: Könne] Jesus! Jesus! werden. {64v} 2. ACH HERR LEHRE MICH BEDENKEN [ 7 1 6 ] [Zum Vergleich eine andere Bearbeitung, ohne Korrekturen, komplett gestrichen^ 1. Ach Herr lehre mich bedenken, daß ich einmal sterben muß. Lehre mich die Sinne lenken Auf den lezten Lebensschluß. Stelle mir mein Ende für, Und erwecke die Begierd', Mich noch bey gesunden Zeiten Auf das Grab wohl zu bereiten. 2. Wenn wir kaum gebohren werden, Ist vom ersten Lebenstritt Bis ins kühle Grab der Erden Nur ein kurz gemessner Schritt. Ach, ein jeder Augenblick 52 53
Ganze Strophe gestrichen, entsprechend Protokoll vom 25.3.1819, vgl. auch BG, Nr. 716. Die wahrscheinlich von Hanstein stammende Bearbeitung kam wohl nicht zum Vortrag. Der GBC wurde das Lied am 25.3.1819 auftragsgemäß von Ritsehl vorgetragen, s. Blatt 71 f. Auf Hansteins Liederliste, J.I. 10, Bl. 74, steht das Lied unter Nr. 4 (Breslauer Gb, Nr. 944) und doppelt unterstrichen.
Einladungen und Protokolle der Gesangbuchkommission 1818-1829
3.
4.
5.
6.
7.
Geht mit unsrer Kraft zurück, Und wir sind in jedem Jahre Alle reif zur Todesbahre! Und wer weiß in welcher Stunde Uns die lezte Stimme weckt! Denn noch ward aus Gottes Munde Keinem Sterblichen entdeckt. Wer sein Haus nun wohl bestellt, Geht mit Freuden aus der Welt. Aber sicherm Sündenschlafe Folgt auf ewig Reu' und Strafe. Predigen doch meine Glieder Täglich von der Sterblichkeit. Leg' ich mich zur Ruhe nieder, Zeigt sich mir das Leichenkleid, Und der Schlaf stellt immerdar Seinen Bruder Tod mir dar. *Ja das Bette zu sagen: So wird man ins Grab getragen. Drum, Gott, lehre mich bedenken Daß ich niemals sicher bin. Will die Welt mich anders lenken, O so schreib in meinen Sinn: Wie das Grab mir offen steh! Daß der Leichtsinn mir vergeh, Der mir sonst durch Spott und Lachen Will den Tod gleichgültig machen. Laß mich nicht die Buße sparen, Bis die Krankheit mich ergreift, Sondern bei gesunden Jahren Ehe Schuld auf Schuld sich häuft, Laß mich täglich Buße thun, Daß ich bey dem lezten Nun* Mich befreyt von aller Sünde Und mit dir versöhnet finde. Nun, mein Gott, du wirst es machen daß ich seelig sterben kann. Dir befehl ich meine Sachen. Nimm dich meiner Seele an. Deines Sohnes theures Blut Komm alsdann auch mir zu gut, Daß mein Abschied von der Erde Mir ein Gang zum Himmel werde. Benjamin Schmolke.
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[.Es folgen aus Hansteins Sammlung die Nr. 14 bis 17, die chronologisch nicht genau zugeordnet -werden können, aber möglicherweise am 25.3.1819 verhandelt wurden.] { 6 5 } 14. CHRIST FUHR GEN HIMMEL [ 2 4 8 ]
1.
2.
Christ fuhr gen Himmel Was sandt' er uns hernieder? Den Tröster, den Heiligen Geist, Zum Trost der armen Christenheit. Gelobt sey Gott! Halleluja! Halleluja! Halleluja! Deß solin wir alle froh seyn, Christus will unser Trost seyn. Gelobt sey Gott! Luther
15. CHRIST IST ERSTANDEN [216] [Ohne
1.
2.
3.
54
55
[Ohne Korrekturen]54
Korrekturen]55
Christ ist erstanden Von der Marter alle. Deß solln wir alle froh seyn. Christus will unser Trost seyn. Gelobt sey Gott! Wär' er nicht erstanden, So wär' die Welt vergangen. Seit daß er erstanden ist Lob'n wir den Herren Jesum Christ. Gelobt sey Gott! Halleluja! Halleluja! Halleluja! Deß solln wir alle froh seyn. Christus will unser Trost seyn. Luther
Vgl. Breslauer Gb, Nr. 637. In den Protokollen taucht das Lied nicht noch einmal auf. BG, Nr. 248 stimmt mit dem Manuskript wörtlich überein. Auf Hansteins Liederliste unterstrichen, vgl. J.I.10, Bl. 74 Nr. 20. Vgl. Breslauer Gb, Nr. 580. Auf Hansteins Liederliste unterstrichen (J.I.10, Bl. 74 Nr. 21). In den Protokollen taucht das Lied nicht noch einmal auf, aber vgl. Probedruck Hayn, Nr. 78 (EZA Akte 14/878), dort wörtliche Übereinstimmung mit diesem Manuskript, einschließlich des vergessenen Kehrverses in Strophe 3.
Einladungen und Protokolle der Gesangbuchkommission 1818-1829 16. CHRISTE, DU LAMM GOTTES [163] [Ohne
1.
2.
3.
Korrekturen]56
Christe, du Lamm Gottes, Der du trägst die Sünde der Welt, Erbarm' dich unser! Christe, du Lamm Gottes, Der du trägst die Sünde der Welt, Erbarm' dich unser! {65v} Christe, du Lamm Gottes, Der du trägst die Sünde der Welt, Gieb uns deinen Frieden. Amen! Luther
17. CHRISTUS, DER IST MEIN LEBEN [719] [Mit Korrekturen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
56 57
551
von
Hanstein]57
In eigener Melodie Christus der ist mein Leben Und sterben mein Gewinn. Dem will ich mich ergeben, Mit Freud' fahr ich dahin. Mit Freud' fahr ich von hinnen [gestr: dannen] Zu Christ dem Bruder mein Den Himmel zu gewinnen [gestr: daß ich mag zu ihm kommen] Und dort bey ihm zu seyn [und ewig bey ihm seyn]. Nun hab' ich überwunden Kreuz, Leiden, Angst und Noth Durch seine heil'gen Wunden Bin ich versöhnt mit Gott. Wenn meine Kräfte brechen Mein Athem geht schwer aus*, Und kann kein Wort mehr sprechen: Herr nimm mein Seufzen auf*. Wenn mir Sinn und Gedanken Vergehen wie ein Licht, Das hin und her muß [gestr: thut] wanken Wenn ihm die Flamm' gebricht. Alsdann fein sanft und stille Laß, Herr, mich schlafen ein Nach deinem Rath und Willen [Variante: So wie's dein Rath und Wille] Wenn kommt mein Stündelein.
Vgl. Breslauer Gb, Nr. 465. Auf Hansteins Liederliste unterstrichen, J.1.10, Bl. 74 Nr. 22. In den Protokollen taucht das Lied nicht noch einmal auf. Vgl. Breslauer Gb, Nr. 963. Auf Hansteins Liederliste unterstrichen (J.I.10, Bl. 74 Nr. 23), am 16.7.1829 revidiert.
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7. Dann wollst du bey mir bleiben, Wenns Abend worden ist, Und alle Furcht vertreiben Bis sich mein Auge schließt. Simon Graff 58 [Weiter aus J.1.13.]
{13} 6te Conferenz. am 1 April 1819. Hr. Prediger Spilleke fehlte. Hr. Superintendent Küster las eine sehr gelungene Bearbeitung des Liedes: Du WEINEST VOR JERUSALEM [ 1 0 6 * ] vor, welche mit einigen Veränderungen, u mit Weglassung des 6ten Verses angenommen wurde. [Nachtrag]: Auch der 6te Vers wurde hernach beibehalten. Das Lied DURCH TRAUREN UND DURCH PLAGEN soll nach der Bearbeitung im Bremischen Gesangbuche, mit einigen Änderungen, aufgenommen werden.59 Du GEHST IM GARTEN, UM ZU BETEN Ρ [ 1 6 8 * ] aus dem Stralsunder Gb. von einem Ungenannten, wurde von Hr. Dr. Schi, in Vorschlag gebracht, u zur Bearbeitung als vorzüglich angenommen.60 Du SAGST, ICH BIN GERECHT aus dem Stralsunder Gb.61, welchem das: Du SAGST: ICH BIN EIN CHRIST nachgebildet zu seyn scheint, als viel vorzüglicher, mit Ausnahme einiger Verse aufzunehmen. DER GLAUB ISTS, DER DIE WELTLUST TÖDTET mit geringen Veränderungen aus dem Brüder-Gesangbuche aufzunehmen.62 63 DER GLAUBE BRICHT DURCH STAHL UND STEIN [430*] aus demselben. {13v} Der Melodie u einiger schönen Verse wegen das Paul Gerhardsche: DAS IST MIR LIEB, DASS GOTT MEIN HORT 6 4 DIE CHRISTEN GEHN VON ORT ZU ORT [ 7 2 2 * ] 6 5
Du LEBENSFÜRST, der Gb.66
DEIN SIEG GIEBT UNS VERTRAUEN
[725] beide aus dem Brü-
Conïerenz am 16tenApr. 7819. Hr. Superintewrfewi Küster las eine Bearbeitung des Liedes: DER AM KREUZ IST MEINE LIEBE [ 1 6 4 ] welche im Ganzen fur sehr gelungen erklärt ward, aber doch im Einzelnen so viel Ausstellungen veranlaßte, daß die Confierenz erst nach 58 59 60 61 62 63 64 65 66
Das Lied stammt von Melchior Vulpius. Bremer Gb (1812), Nr. 715: Durch kummervolle Tage, vgl. Protokoll vom 16.9.1824, schließlich BG, Nr. 824: Bis hieher ist's gelungen, von Ritsehl übernommen. Stralsunder Gb, Nr. 603. Stralsunder Gb, Nr. 555 (11 Strophen). Brüder Gb, Nr. 510. Brüder Gb, Nr. 920. Aus dem Altmärkischen Gb, Nr. 572 (Mei. Ein feste Burg). Brüder Gb, Nr. 1709. Brüder Gb, Nr. 1708.
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dreistündiger Emendation über dieselbe ganz einig wurde. Hr. Dr. Schleiermacher trug eine Bearbeitung des Liedes vor: DER TOD IST TODT, DAS LEBEN LEBET [217] welche mit Veränderung von nur zwei Ausdrükken einstimmig angenommen ward. Derselbe aus dem Brüder-Gesangbuche DIE CHRISTEN GEHN VON ORT ZU ORT
[722] eine, bis auf den Ausdruck: „das Weizenkorn wird in sein Beet" und dem: „der Liebe stiller Schatten zu", einstimmig angenommene Bearbeitung.67 D e r s e l b e a u s d e m s e l b e n G b . D u { 1 4 } LEBENSFÜRST, DEIN DURCHBRUCH etc.
[725] einstimmig angenommen. Derselbe das im Altmärkwc/ze« Gb. N° 961 befindliche: AUF MEIN HERZ DES HERREN TAG [214] mit zarter Hand verändert, einstimmig angenommen, mit alleiniger Umänderung des 6ten Verses.68 Achte Conferenz. Conferenz am 22ten April 1819. [Handschrift Küster] Zuerst las Superinte«fife«f Küster zwei Zeilen des letzten Verses von dem Liede: Du WEINEST UM JERUSALEM [106*] die er nochmals verändert hatte, vor u diese wurden genehmigt. Darauf las Herr Superintert • „ ·" ; I · _ I I Ï . ε «¿Ξ ¿ IΕS .¿λ l Sœ é— ^ s - è I s Î s I i ffÄ-
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