Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen: Die Bedeutung von Familie, Schule und Peers für die Beschaffung und Nutzung von Lesestoffen 9783110430257, 9783110439168

This study explores reading behavior in children and young people from the perspective of reading socialization. For the

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German Pages 384 Year 2016

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Table of contents :
Dank
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Untersuchungsgegenstand
1.2 Aufbau der Arbeit
2 Forschungsstand
2.1 Forschung zur Lesestoffbeschaffung
2.2 Lesesozialisationsforschung
2.3 Lesemotivationsforschung
2.4 Relevanz der Studien
3 Theoretische Ansätze
3.1 Lesesozialisation als Ko-Konstruktion
3.2 Lesemodi nach Werner Graf
4 Methodik
Meso-Ebene
5 Buchbeschaffungsverhalten und Buchbesitz
5.1 Buchkauf
5.2 Leihe
5.3 Buchgeschenke
5.4 Buchbesitz
5.5 Fazit
6 Familie
6.1 Medienverhalten der Familie
6.2 Anschlusskommunikation
6.3 Familie und frühe Lesesozialisation
6.4 Leseklima
6.5 Fazit
7 Schule
7.1 Deutschunterricht
7.2 Auswirkungen auf die Freizeitlektüre
7.3 Leseklima
7.4 Fazit
8 Peers
8.1 Leseverhalten der Freunde
8.2 Anschlusskommunikation
8.3 Leseorientierung
8.4 Fazit
Mikro-Ebene
9 Individuum
9.1 Mediennutzung in der Freizeit
9.2 Leseverhalten
9.3 Lesemodi
9.4 Lesemotivation
9.5 Fazit
Übergeordnete Befunde zur Meso-Ebene
10 Zusammenhänge zwischen den Instanzen der Lesesozialisation
10.1 Familie und Schule
10.2 Familie und Peers
10.3 Schule und Peers
10.4 Fazit
11 Fazit
11.1 Hauptbefunde
11.2 Einordnung der Befunde
11.3 Grundlegende Erkenntnisse
11.4 Forschungsperspektiven
12 Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
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Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen: Die Bedeutung von Familie, Schule und Peers für die Beschaffung und Nutzung von Lesestoffen
 9783110430257, 9783110439168

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Marina Mahling Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen

Schriftmedien / Written Media

Kommunikations- und buchwissenschaftliche Perspektiven / Perspectives in Communication and Book Studies

Herausgegeben von Heinz Bonfadelli, Ursula Rautenberg und Ute Schneider

Band 3

Marina Mahling

Lesepraxis von Kindern und Jugendlichen

Die Bedeutung von Familie, Schule und Peers für die Beschaffung und Nutzung von Lesestoffen

Die Reihe In der Reihe werden Monographien und Sammelbände in deutscher und englischer Sprache publiziert, die sich aus buch-, kommunikations- und medienwissenschaftlicher Perspektive mit Schriftmedien und dem Lesen beschäftigen. Das Reihenprofil umfasst das spezifische Problemlösungspotential eines interdisziplinären Zugangs zur schriftbasierten Kommunikation in Geschichte und Gegenwart. Themenfelder sind die Herstellung und Verbreitung von Medien schriftbasierter Kommunikation in den Organisationen Verlag, Buchhandel und Bibliotheken, die soziale Funktionalität der Schriftmedienkommunikation und die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung des Lesens sowie nicht zuletzt die Herstellung, Typographie und Gestaltung von Lesemedien. Editorial Board Prof. Dr. Frédéric Barbier (Paris); Jun.-Prof. Dr. Daniel Bellingradt (Erlangen); Prof. Dr. Natalie Binczek (Bochum); Prof. Dr. Heiko Droste (Stockholm); Prof. Dr. Thomas Gergen (Luxemburg); Dr. Jonathan Green (USA); Prof. Dr. Svenja Hagenhoff (Erlangen); Dr. Axel Kuhn (Erlangen); Jun.-Prof. Dr. Patrick Merziger (Leipzig); Prof. Dr. István Monok (Szeged / Budapest); Prof. Dr. Martin Mulsow (Erfurt); Prof. Dr. Rudolf Stöber (Bamberg); Prof. Dr. Konrad Umlauf (Berlin). Dissertation Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2014 (ursprgl. Titel: Lesen bei Kindern und Jugendlichen. Lesestoffbeschaffung und -nutzung unter Berücksichtigung der Lesesozialisationsinstanzen.)

ISBN 978-3-11-043916-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043025-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043035-6 Set-ISBN 978-3-11-043026-4 ISSN 2364-9771 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: moodboard / iStock / thinkstock Satz: PTP Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Dank Mein Dank gilt allen Personen, die zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben. Besonders bedanken möchte ich mich bei – meiner Erstbetreuerin Prof. Dr. Ursula Rautenberg für ihre intensive Unterstützung während der letzten Jahre sowie ihre zahlreichen Anmerkungen und kritischen Nachfragen zu dieser Arbeit, – meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Volker Frederking für sein großes Interesse am Thema und seine Hinweise dazu, – meinen Kollegen der Erlanger Buchwissenschaft für viele interessante Diskussionen und hilfreiche Anmerkungen, insbesondere bei Dr. Volker Titel und Dr. Sandra Rühr, – dem Staatlichen Schulamt Ostthüringen sowie dem Hessischen Kultusministerium für die Genehmigung der Befragung, – den Schulleitern der teilnehmenden Schulen für ihre Genehmigung sowie den Lehrkräften für die Unterstützung bei der Durchführung der Befragung, – allen Schülern, die sich an der Umfrage beteiligt haben, – meinen Freunden für Ablenkung und ihr offenes Ohr, – meinen Eltern für ihre Unterstützung und ihr Verständnis in den vergangenen Jahren – und meiner Schwester Dr. Monia Grimm, die nicht nur bei statistischen Fragen eine große Hilfe war, sondern auch für Ablenkung und Aufmunterung gesorgt hat.

Inhaltsverzeichnis Dank | V 1 1.1 1.2

Einleitung | 1 Untersuchungsgegenstand | 1 Aufbau der Arbeit | 5

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Forschungsstand | 9 Forschung zur Lesestoffbeschaffung | 9 Lesesozialisationsforschung | 13 Lesemotivationsforschung | 20 Relevanz der Studien | 22

3 3.1 3.2

Theoretische Ansätze | 25 Lesesozialisation als Ko-Konstruktion | 25 Lesemodi nach Werner Graf | 33

4

Methodik | 41

Meso-Ebene 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Buchbeschaffungsverhalten und Buchbesitz | 49 Buchkauf | 49 Leihe | 58 Buchgeschenke | 75 Buchbesitz | 81 Fazit | 89

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5

Familie | 97 Medienverhalten der Familie | 97 Anschlusskommunikation | 108 Familie und frühe Lesesozialisation | 117 Leseklima | 125 Fazit | 132

7 7.1 7.2 7.3 7.4

Schule | 139 Deutschunterricht | 139 Auswirkungen auf die Freizeitlektüre | 151 Leseklima | 156 Fazit | 160

VIII   

8 8.1 8.2 8.3 8.4

   Inhaltsverzeichnis

Peers | 169 Leseverhalten der Freunde | 170 Anschlusskommunikation | 176 Leseorientierung | 182 Fazit | 187

Mikro-Ebene 9 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Individuum | 197 Mediennutzung in der Freizeit | 197 Leseverhalten | 210 Lesemodi | 238 Lesemotivation | 255 Fazit | 273

Übergeordnete Befunde zur Meso-Ebene 10 10.1 10.2 10.3 10.4

Zusammenhänge zwischen den Instanzen der Lesesozialisation | 285 Familie und Schule | 285 Familie und Peers | 293 Schule und Peers | 300 Fazit | 305

11 11.1 11.2 11.3 11.4

Fazit | 311 Hauptbefunde | 311 Einordnung der Befunde | 322 Grundlegende Erkenntnisse | 328 Forschungsperspektiven | 330

12

Zusammenfassung | 333

Literaturverzeichnis | 337 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis | 349 Abkürzungsverzeichnis | 355 Anhang | 357

1 Einleitung 1.1 Untersuchungsgegenstand „Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.“ Wenn man diesem Zitat, das dem britischen Schriftsteller Aldous Huxley zugeschrieben wird, zustimmt, hat die Lesekompetenz eine wichtige Funktion als Schlüsselqualifikation. Die Lesekompetenz steht in engem Zusammenhang mit dem Leseverhalten, dieses wiederum wird durch die Lesesozialisation beeinflusst: [Bei der Lesesozialisation handelt es sich] um den Prozess der Aneignung der Kompetenz zum Umgang mit Schriftlichkeit in Medienangeboten unterschiedlicher technischer Provenienz (Printmedien, audiovisuelle Medien, Computermedien) und unterschiedlicher Modalität (fiktionalästhetische und pragmatische Texte). Dabei geht es nicht nur um den Erwerb der Fähigkeit zur Dekodierung schriftlicher Texte, sondern zugleich um den Erwerb von Kommunikationsinteressen und kulturellen Haltungen […].¹

Wie die Lesesozialisation verläuft, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Familie, die Schule und die Peers² als Instanzen der Lesesozialisation, die einen positiven, aber auch einen negativen Einfluss ausüben können. In dieser Arbeit werden zum ersten Mal alle drei Lesesozialisationsinstanzen differenziert betrachtet und in Beziehung zueinander gesetzt. Bisherige Untersuchungen haben meist den Schwerpunkt auf eine Instanz gelegt, weshalb es normalerweise nicht möglich war Vergleiche zwischen den verschiedenen Instanzen zu ziehen. Groeben et al. hielten beispielsweise für den Zusammenhang zwischen Familie und Schule fest: „Über das Zusammenwirken von Schule und Familie in der Lesesozialisation gibt es bisher wenig Forschung, gleichwohl verbindet sich mit dem schulischen Lese- und Literaturunterricht die Hoffnung auf einen Ausgleich ungünstiger familialer Bedingungen.“³ Weiter konstatierten sie für die Peers: Es ist bekannt und wurde oft bestätigt, da[ss] z. B. Leseempfehlungen häufig bei Freunden eingeholt werden. Ob allerdings lese-unterstützende Einflüsse aus der peergroup ungünstige familiale Sozialisationsbedingungen ausgleichen können, ist empirisch bisher nicht untersucht […].⁴

Ein Ziel dieser Arbeit ist es, herauszuarbeiten, wie die verschiedenen Aspekte der Lesesozialisation in der Familie, der Schule und bei den Peers zusammenhängen. Dabei wird auch analysiert, ob ein negatives Leseklima bei einer Instanz üblicherweise durch die Einflüsse anderer Instanzen ausgeglichen wird. 1 Hurrelmann 1999, S. 111 f. 2 Mit Peers sind im Folgenden die Freunde bzw. Cliquenangehörigen der Heranwachsenden gemeint. 3 Groeben et al. 1999, S. 6. 4 Groeben et al. 1999, S. 8.

2   

   1 Einleitung

Graf geht davon aus, dass für Kinder die Familie die größte Bedeutung im Hinblick auf die Lesesozialisation hat. Seiner Meinung nach verliert die Familie in der Jugend an Relevanz, während der Einfluss der Peers und auch der der Schule größer wird.⁵ Im Rahmen dieser Arbeit wird die Bedeutung der Anschlusskommunikation für die verschiedenen Instanzen bei den unterschiedlichen Altersgruppen verglichen und so überprüft, ob Grafs Annahme dafür zutrifft. Darüber hinaus wird die Familie differenziert betrachtet. Philipp hielt 2011 dazu fest: „Obwohl viele Studien zur Familie durchgeführt wurden, ist unser Kenntnisstand zur Rolle der Familie für die Lesemotivation jenseits der Jahre der mittleren und frühen Kindheit faktisch sehr gering […].“⁶ Bisherige Untersuchungen beschränkten sich außerdem meist auf die Rolle der Eltern und vernachlässigten die Geschwister. Dabei ist davon auszugehen, dass die Geschwister eine ähnliche Bedeutung wie die Peers haben, da zwischen den Geschwistern normalerweise keine große Altersdifferenz besteht und ältere Schwestern und Brüder beispielsweise als Lesevorbilder dienen können. Neben der Familie wird auch die Rolle der Schule ausführlicher als in den meisten bisher durchgeführten Untersuchungen betrachtet: Es wird z. B. analysiert, ob sich das Leseklima in formal hohen Schulen von dem in formal niedrigen Schulen unterscheidet. Auch Veränderungen mit zunehmendem Alter werden berücksichtigt: Die Lesebiographieforschung geht davon aus, dass die Kindheit mit der Lesekrise abschließt: Die Jugendlektüre schließt sich nicht problemlos an die Kinderlektüre an, typisch für diesen Übergang sind Krisensymptome. Oft beginnt die Jugendphase unter Ausschluss der Jugendlektüre. Die literarische Sozialisation bleibt dann in der Entwicklung hinter der allgemeinen Entwicklung zurück, das Lesen erscheint vorübergehend als Aktionsform der Kindheit.⁷

Dazu muss allerdings einschränkend festgehalten werden, dass diese Erkenntnisse überwiegend aus Selbstauskünften von Lehramtsstudierenden des Fachs Deutsch gewonnen wurden.⁸ Die Hypothese wurde außerdem bisher noch nicht quantitativ für eine breite Altersgruppe überprüft. Bisherige Studien haben lediglich die Bedeutung des Lesens bei Schülergruppen unterschiedlichen Alters abgefragt – beispielsweise bei 12- und 15-Jährigen im Vergleich – was allerdings keine Rückschlüsse darauf zulässt, ob Differenzen tatsächlich durch eine Lesekrise hervorgerufen werden oder ob die Relevanz der Lektüre in den nicht berücksichtigten Lebensjahren stetig sinkt.

5 Vgl. Graf 2007, S. 82. 6 Philipp 2011, S. 92. 7 Graf 2007, S. 77. 8 Vgl. Philipp 2011, S. 20.

1.1 Untersuchungsgegenstand   

   3

Anhand der Daten von Schülern⁹ der 5. bis 9. Jahrgangsstufe¹⁰ soll daher in dieser Arbeit für den Zeitraum beginnend vor dem Einsetzen der Pubertät über die Lesekrise hinaus die Bedeutung des Lesens analysiert werden. Entsprechend der Definition von Oerter und Dreher werden demnach sowohl Kinder als auch Jugendliche berücksichtigt. Die beiden Wissenschaftler grenzen Kindheit und Jugend mit dem Eintritt der Pubertät ab. Für das Jugendalter unterscheiden sie die Phasen frühe Adoleszenz (11 bis 14 Jahre), mittlere Adoleszenz (15 bis 17 Jahre) und späte Adoleszenz (18 bis 21 Jahre).¹¹ Auch wenn zahlreiche andere Definitionen existieren, die teilweise divergierende Altersspannen nennen, geben doch die meisten als Beginn der Jugend die Pubertät an.¹² Dadurch, dass diese Arbeit eine relativ große Altersspanne einbezieht, kann der Einfluss der Instanzen Familie, Schule und Peers auf die verschiedenen Altersstufen nachvollzogen werden. Neben diesen äußeren Faktoren spielen aber auch innere Einflussfaktoren eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür sind die von Graf entwickelten Lesemodi, die hier zum ersten Mal in einer quantitativ orientierten Studie abgefragt werden. Außerdem wird analysiert, welche Bedeutung intrinsische und extrinsische Aspekte der Lesemotivation spielen. Die Ergebnisse dazu sowie zu weiteren Faktoren werden in Beziehung zu den Lesesozialisationsinstanzen gesetzt. Dass dies sinnvoll ist, erklärte Rosebrock für die Peers folgendermaßen: Im Verlauf des Heranwachsens bildet die peer group entsprechend eine informelle Lesesozialisationsinstanz insoweit, wie sich in ihr Situationen der Anschlusskommunikation oder Anschlussinteraktion an Lektüren herstellen, sei es vor- oder nachgängig. Damit haben peer groups direkt Einfluss auf die Lesemotivation der Einzelnen, auf deren Auswahl und Beschaffung von Texten […].¹³

Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Verlauf der Lesesozialisation bei Schülern ab der 5. Jahrgangsstufe verschiedener Schularten. Es wird untersucht, wie die Kinder und Jugendlichen an die Lesestoffe gelangen und welche sie nutzen. Auch für die Beschaffung soll die Bedeutung der Instanzen der Lesesozialisation beleuchtet werden. Der Fokus liegt bei allen Analysen auf dem Lesen von Büchern bzw. E-Books in der Freizeit. Besonders zwei Entwicklungsphasen sind nach Graf für den Verlauf der Lesekarriere als kritisch einzustufen, er bezeichnet sie als primäre und sekundäre litera9 Wegen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sofern nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich die Personenbezeichnungen dennoch stets auf beide Geschlechter. 10 Für Hauptschüler liegen Daten von der 5. bis 9. Klasse, für Regel- und Realschüler Ergebnisse von der 5. bis 10. Jahrgangsstufe und für Gymnasiasten Daten von der 5. bis 12. Klasse vor. Wegen der Vergleichbarkeit werden Auswertungen nach dem Alter und der besuchten Schulart nur bis zur 9. Jahrgangsstufe vorgenommen. 11 Vgl. Oerter / Dreher 2002, S. 259. 12 Vgl. beispielsweise Hurrelmann / Quenzel 2013, S. 26 f. 13 Rosebrock 2004, S. 252.

4   

   1 Einleitung

rische Initiation. Die primäre literarische Initiation findet in der frühen Kindheit und dem Vorschulalter statt. Während dieser Zeit vor dem Schuleintritt kann insbesondere die Familie Interesse für das Lesen wecken  – beispielsweise durch Vorlesen. Durch Hörspiele, Fernsehen und Vorlesen erlangen die Kinder Rezeptionskompetenzen, die sie zu Beginn des Schriftspracherwerbs in der Schule noch nicht einsetzen können. Statt sich mit verhältnismäßig komplexen Geschichten auseinanderzusetzen, müssen die Schüler nun mühevoll einfache Worte und Sätze lesen. Ein erster Leseknick setzt nach der 2. Klasse ein, wenn es im Deutschunterricht nicht gelingt, neben der Lesekompetenz auch die Lesemotivation zu fördern. Dies ist besonders oft bei Jungen der Fall, die in dieser Phase häufig zu anderen Medien abwandern. Wenn die primäre literarische Initiation dagegen positiv verläuft, setzt bei den 8- bis 9-Jährigen meist eine Phase der lustvollen Kinderlektüre ein, die ungefähr bis zum Alter von 12 Jahren andauert. Während dieser Zeit sind für die Kinder weniger pädagogische Maßnahmen von Bedeutung, vielmehr ist es wichtig dafür zu sorgen, dass sie ausreichend Zugang zu Lesestoffen erhalten – sei es durch die Familie, die Schule oder mithilfe von Büchereien.¹⁴ Diese Phase wird nach aktuellem Forschungsstand am Ende der Kindheit meist von der Lesekrise abgelöst (siehe auch Kapitel 3.2). Für die Heranwachsenden werden mit Beginn der Pubertät andere Interessen wichtiger als das Lesen, außerdem verlieren die bisher rezipierten Lesestoffe oft ihren Reiz. Der Teil der Schüler, der im Zusammenhang mit der Lesekrise seine bisherige Leseentwicklung abbricht, wird zum Nicht- oder Wenigleser, der Rest transformiert seine bisherige Leseweise. Diese Transformation kann unterschiedliche Ergebnisse hervorrufen: Ein Teil der Jugendlichen – vor allem der männlichen  – bricht das Lesen fiktionaler Texte ab und beschränkt sich auf das Lesen von Zeitungen, Zeitschriften, Sach- und Fachbüchern. Daneben sind vor allem drei Ausprägungen der Belletristiklektüre von Bedeutung: Der häufig männliche Konzeptleser entwickelt zwar die Lesekompetenz weiter, hat aber die kindliche Lesemotivation verloren. Einerseits gibt er die Schuld am Verlust der Motivation oft der Schule, andererseits übernimmt er deren Normen und liest nur noch Bücher mit Anspruch, wie beispielsweise klassische Literatur. Die Gefühlsleserin – eine Ausprägung, die vor allem für weibliche Leser charakteristisch ist – ist bei der Lektüre dagegen weiterhin lustorientiert, wobei die Lesekompetenz stagniert: Der Schulunterricht bewirkt nicht, dass sie anspruchsvolle Literatur konsumiert, stattdessen beschränkt sie sich auf relativ triviale Unterhaltungsliteratur. Im Gegensatz dazu schafft es der ästhetische Leser, die lustvolle Lektüre aus der Kindheit in eine Leseweise zu transformieren, die zwar distanzierter als früher, aber immer noch durch Identifikation geprägt ist. Dies gelingt nur dadurch, dass auch die Lesekompetenz weiterentwickelt wird. In dieser Phase – der sekundären literarischen Initiation – hat außer-familiale Unterstützung eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung des Lese-

14 Vgl. Garbe 2005, S. 28–32.

1.2 Aufbau der Arbeit   

   5

verhaltens. Anregungen für das Lesen geben nach bisherigem Forschungsstand nun vor allem die Freunde und die Schule – wobei in der Schule neben dem Deutschunterricht auch die Person des Deutschlehrers und die Schulbücherei eine Rolle spielen.¹⁵ Ob der Verlauf der Lesesozialisation bei den Schülern weiterführender Schulen üblicherweise tatsächlich so stattfindet, wie gerade beschrieben, wird in dieser Arbeit untersucht. Neben den genannten Aspekten, die die Lesestoffnutzung betreffen, wird außerdem die Lesestoffbeschaffung einbezogen. Bisherige Untersuchungen haben diese entweder gänzlich vernachlässigt oder nur einen Beschaffungsweg – beispielsweise Leihe in Büchereien  – berücksichtigt. In dieser Arbeit wird stattdessen neben dem Kauf auch die Rolle der Geschenke und der Leihe analysiert. Zum ersten Mal wird somit für Schüler einer großen Altersspanne sowohl die Beschaffung von Lesestoffen als auch deren Nutzung differenziert betrachtet. Außerdem werden in dieser Arbeit erstmals die verschiedenen Instanzen der Lesesozialisation gleichzeitig analysiert und miteinander sowie zu individuellen Faktoren in Beziehung gesetzt.

1.2 Aufbau der Arbeit Kapitel 2 arbeitet den Forschungsstand auf, Kapitel 3 beschäftigt sich mit den theoretischen Ansätzen, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Von Bedeutung ist in erster Linie der Ansatz von Groeben, der Lesesozialisation als Ko-Konstruktion beschreibt. Darüber hinaus geht das Kapitel auf die Beschreibung der Lesemodi ein, die für die Befragung mittels Fragebogen aus den sieben von Graf entwickelten Lesemodi erarbeitet wurden. Das 4. Kapitel erklärt die methodische Herangehensweise. Kapitel 5 befasst sich mit Fragestellungen des Buchbeschaffungsverhaltens und des Buchbesitzes. Es wird untersucht, ob die Häufigkeit des Buchkaufs mit dem Alter zunimmt, während die Bedeutung der Leihe und der Buchgeschenke abnimmt. Außerdem werden die verschiedenen Orte, die bei der Buchbeschaffung eine Rolle spielen, genauer behandelt: Es wird analysiert, ob die Buchhandlung noch der beliebteste Ort für Kinder und Jugendliche ist, um an Lesestoffe zu gelangen oder ob sie – vor allem mit zunehmendem Alter – das Internet präferieren. Außerdem wird untersucht, welche Bedeutung Familienmitglieder und Freunde bei der Buchleihe haben und wer die Schulbücherei und öffentliche Büchereien nutzt, um Bücher zu leihen. Darüber hinaus wird betrachtet, von wem die Schüler Bücher geschenkt bekommen.¹⁶ Das 6. Kapitel beschäftigt sich mit der Bedeutung der Familie für die Lesesozialisation. Hier wird überprüft, ob die Hypothese zutreffend ist, dass der Einfluss der Eltern mit zunehmendem Alter abnimmt, während der Einfluss der Geschwister  – besonders gleichgeschlechtlicher  – zunimmt. Darüber hinaus wird das Medi15 Vgl. Garbe 2005, S. 33 f.; Graf 2007, S. 82. 16 Im Fragebogen stehen für Kapitel 5 die Fragenblöcke III, IV und VI sowie die Fragen 2 bis 4 aus Fragenblock V.

6   

   1 Einleitung

enverhalten der Familie, die Bedeutung der Anschlusskommunikation über Bücher, die frühkindliche Lesesozialisation in der Familie und das Leseklima in der Familie untersucht. Es wird geprüft, ob die Lesequantität der Töchter der der Mütter und die der Söhne der der Väter ähnelt oder ob sie unabhängig vom Geschlecht ist. Außerdem wird analysiert, ob Anschlusskommunikation mit beiden Elternteilen gleichermaßen stattfindet und ob die frühkindliche Lesesozialisation Auswirkungen auf das aktuelle Leseverhalten hat.¹⁷ Kapitel 7 befasst sich mit der Rolle der Schule für das Lesen. Es wird untersucht, ob die Hypothese zutrifft, dass die Bedeutung des Deutschunterrichts für das private Leseverhalten bei den Befragten bis ungefähr zur 10. Jahrgangsstufe abnimmt und danach wieder ansteigt. Des Weiteren wird beispielsweise analysiert, ob der Einfluss der Schule von der Schulart und dem Geschlecht abhängt. Darüber hinaus werden die Fragen beantwortet, ob die Schüler das schulische und das private Lesen als Gegensatz wahrnehmen und ob der Deutschunterricht die Lesefreude verdirbt. Außerdem wird betrachtet, ob Jungen aller Altersstufen dem Lesen in der Schule kritischer gegenüberstehen als Mädchen.¹⁸ In Kapitel 8 stehen Fragestellungen im Fokus, die sich mit den Zusammenhängen zwischen dem Lesen und den Peers beschäftigen. Es wird analysiert, welche Bedeutung die Lektüre im Freundeskreis hat. Außerdem wird geprüft, ob die Hypothese zutrifft, dass der Einfluss der Peers auf das Lesen mit dem Alter zunimmt. Des Weiteren wird untersucht, welche Rolle Anschlusskommunikation spielt. Darüber hinaus wird die Frage beantwortet, ob die Tatsache, dass das Lesen in der Gruppe positiv oder negativ konnotiert ist, mit dem Geschlecht, dem Alter und dem angestrebten Bildungsgrad zusammenhängt.¹⁹ Kapitel 9 beschäftigt sich mit Fragestellungen zum Individuum  – also mit den inneren Einflussfaktoren auf das Leseverhalten. Hier wird überprüft, ob die Hypothese zutreffend ist, dass sich die Lesemodi von Jungen und Mädchen unterscheiden. Darüber hinaus wird unter anderem untersucht, welche Lesestrategien von Bedeutung sind, welche Lesemedien die Schüler in ihrer Freizeit nutzen, welche Textarten sie präferieren und wie die Lesemotivation ausgeprägt ist. Es wird die Hypothese überprüft, dass die intrinsische Lesemotivation bei den Mädchen höher ist als bei den Jungen. Außerdem wird betrachtet, ob Kinder und Jugendliche, die in ihrer Freizeit viel lesen, andere Medien weniger nutzen als Schüler, die wenig lesen. In Bezug auf die verschiedenen Lesemedien wird getestet, welche Bedeutung E-Books im Vergleich zu gedruckten Büchern haben. Eine Analyse der Rezeptionshäufigkeit verschiedener Textarten soll zeigen, wie sich die Lektürepräferenzen mit dem Alter verändern. Außerdem wird untersucht, ob die Lesemodi mit der Vorliebe für bestimmte Textarten zusammenhängen. Es wird erfragt, welche Lesestrategien die Heranwachsenden 17 Im Fragebogen steht für Kapitel 6 der Fragenblock VIII. 18 Im Fragebogen steht für Kapitel 7 der Fragenblock VII. 19 Im Fragebogen steht für Kapitel 8 der Fragenblock IX.

1.2 Aufbau der Arbeit   

   7

nutzen und weshalb sie Bücher bzw. E-Books, die sie besitzen, nicht lesen. Des Weiteren wird überprüft, in welchen Aspekten sich die Lesemotivation von Kindern und Jugendlichen unterscheidet.²⁰ Kapitel 10 befasst sich mit Fragen zu den Zusammenhängen zwischen den Instanzen der Lesesozialisation. Es wird die Hypothese getestet, dass die Schüler in der Familie, in der Schule und bei den Peers jeweils ein ähnlich positives bzw. negatives Leseklima vorfinden. Im Zusammenhang damit wird unter verschiedenen Aspekten erforscht, ob ein positives Leseklima in der Familie mit einem lesefreundlichen Klima bei den Peers einhergeht. Außerdem wird die Rolle des Leseklimas in der Schule für die Instanzen Familie und Peers untersucht. Insgesamt werden somit zunächst das Buchbeschaffungsverhalten und der Buchbesitz analysiert, im Anschluss der Einfluss von Familie, Schule und Peers auf das Lesen sowie die individuellen Rahmenbedingungen des Leseverhaltens dargestellt und am Schluss Zusammenhänge zwischen allen relevanten Instanzen aufgezeigt, um zu einem ganzheitlichen Bild zu gelangen. Im Fokus stehen Bücher bzw. E-Books. Andere Lesemedien wie Zeitungen, Zeitschriften, Comics und Manga können nur am Rande behandelt werden. Außerdem soll der Vergleich mit anderen Studien zu den verschiedenen Instanzen der Lesesozialisation bzw. Fragestellungen helfen die Ergebnisse einzuordnen. Im nächsten Kapitel folgt daher ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Lesestoffbeschaffung, zur Lesesozialisationsforschung und zur Lesemotivationsforschung sowie eine kurze Vorstellung der Studien, auf die sich diese Arbeit bezieht.

20 Im Fragebogen stehen für Kapitel 9 die Fragenblöcke I, II und X sowie die Fragen 1 und 5 bis 15 aus Fragenblock V.

2 Forschungsstand „Den allgemeinen Stand der theoretischen Lese- und Leserforschung zu beschreiben, ist aufgrund der Vielzahl der sich damit beschäftigenden Disziplinen kaum möglich“.¹ Jede Disziplin, die sich mit Lese- und Leserforschung befasst, setzt andere Schwerpunkte. In der vorliegenden Arbeit steht insbesondere die Lesesozialisation und zum Teil auch die Lesemotivation im Mittelpunkt. Von Bedeutung sind daher neben dem buch- bzw. medienwissenschaftlichen Blickwinkel in erster Linie die Forschungsperspektiven der Pädagogik und der Psychologie.

2.1 Forschung zur Lesestoffbeschaffung 2.1.1 Buchmarkt Studien zum Buchmarkt beschäftigen sich damit, wer warum welche Lesemedien kauft. Dabei werden allerdings nie ausschließlich Kinder und Jugendliche berücksichtigt, vielmehr interessiert es, wie sich die Käuferschaft beispielsweise für Bücher oder E-Books zusammensetzt. Zum Buchkauf wurden Studien vom „Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V.“ in Auftrag gegeben. Die Untersuchungen Buchkäufer und Leser 2005² bzw. Buchkäufer und Leser 2008³ befassten sich mit dem Kauf- und Leseverhalten der Deutschen ab 10 Jahren, wobei Kinder und Jugendliche als Kunden in den Studien nicht immer separat aufgeführt wurden. In den beiden Studien wurden jeweils die Ergebnisse von kontinuierlich mittels Tagebuch erhobenen Kaufdaten und Ad-hoc-Befragungen der Panelteilnehmer zum Thema Bücher dargestellt.⁴ Neben der Kaufintensität wurde unter anderem nach den bevorzugten Einkaufsstätten, den Kaufkriterien und dem Leseverhalten gefragt. Die Teilnehmer wurden verschiedenen Sinus-Milieus zugeordnet, was es ermöglichte relevante Milieus für Buchkäufe zu ermitteln. Die Studie ergab, dass Konservative und Postmaterielle die Kernzielgruppen für den Buchmarkt darstellen, da diese besonders viele Bücher kaufen.⁵

1 Kuhn / Rühr 2010, S. 537. 2 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2005. 3 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2008. 4 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2005, S. 7; Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2008, S. 9. 5 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2005, S. 17, 34; Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2008, S. 34. Zur Beschreibung der Gesellschaft in Sinus-Milieus vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2005, S. 9–12 sowie Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hrsg.) 2008, S. 11–14.

10   

   2 Forschungsstand

Auch bei Kinder- und Jugendbücher 2010⁶ standen nicht die Kinder und Jugendlichen im Fokus, vielmehr wurden allgemein die Käufer von Kinder- und Jugendbüchern analysiert: Aus der Studie wird hauptsächlich ersichtlich, welchen Anteil die Kinder und Jugendlichen am Kauf von Kinder- und Jugendbüchern hatten. Bei einem Teil der Auswertungen wurden aber die Ergebnisse für die Heranwachsenden nicht im Vergleich zu den Erwachsenen dargestellt, sondern nur das Gesamtergebnis präsentiert. Das trifft ebenfalls auf Kinder- und Jugendbücher 2013⁷ zu, da auch hierfür nur teilweise separate Ergebnisse für die Kinder und Jugendlichen vorliegen. Es wurden aber z. B. Vergleiche zur Vorgängerstudie von 2010 gezogen, außerdem wurde die Bedeutung von E-Books im Kinder- und Jugendbuchmarkt analysiert und die Relevanz der verschiedenen Einkaufsstätten für Kinder- und Jugendbücher beschrieben. Die Studie zeigt, dass digitale Formate 2013 nur einen äußerst geringen Anteil am Gesamtabsatz im Kinder- und Jugendbuchmarkt ausmachten. Die Einkaufsstätten, die für den Kauf von Kinder- und Jugendbücher am häufigsten genutzt wurden, waren sowohl 2010 als auch 2013 stationäre Buchhandlungen.⁸ Aktuell liegt keine Studie zum Buchmarkt vor, die sich speziell mit der Kundengruppe der Kinder und Jugendlichen beschäftigt. In einigen Untersuchungen sind die Kinder und Jugendlichen zwar ein Teil der befragten Kundengruppe zum Buchkaufverhalten, werden aber nur bei einigen der Auswertungen als Vergleich zu anderen Altersgruppen aufgeführt. Auch bei den Befragungen, bei denen sie die Zielgruppe als Leser sind – wie bei den Kinder- und Jugendbüchern – interessiert sich der Buchmarkt in erster Linie für die Käufer der Bücher. Daher werden bei diesen Studien Kinder und Jugendliche ebenfalls nur als eine Kundengruppe unter vielen betrachtet.

2.1.2 Bibliotheken Der Einfluss von Bibliotheken auf das Leseverhalten von Heranwachsenden ist nur selten Gegenstand von Untersuchungen. Friederike Harmgarth untersuchte im Zusammenhang mit den Lesegewohnheiten von Kindern und Jugendlichen den Einfluss von Bibliothek und Schule. Sie führte 1995/96 eine Befragung bei Schülern der 1. bis 10. Jahrgangsstufe zu ihren Lesegewohnheiten und der Nutzung der öffentlichen Bibliotheken durch. Außerdem untersuchte sie das Lesen und die Leseförderung in der Schule. Harmgarth setzte die Ergebnisse in Beziehung zu anderen Freizeitaktivi-

6 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (Hrsg.) 2010. 7 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (Hrsg.) 2013. 8 Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (Hrsg.) 2010, S. 58; Börsenverein des Deutschen Buchhandels / Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (Hrsg.) 2013, S. 41, 71.

2.1 Forschung zur Lesestoffbeschaffung   

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täten bzw. zur Mediennutzung. Sie erfragte unter anderem, wie die Heranwachsenden an ihre Lesestoffe gelangten, ob sie öffentliche Büchereien nutzten und wie sie das Lesen in der Schule bewerteten. Sie kam zu dem Ergebnis, dass Kinder der 3. bis 6. Klasse ihre Bücher in erster Linie von ihren Eltern erhielten – entweder nach einem Buchwunsch oder als unaufgefordertes Geschenk. Für die Schüler der 7. bis 10. Klasse spielte dagegen neben Buchwünschen auch die eigenständige Beschaffung durch Bibliotheken und Buchhandlungen eine wichtige Rolle. Außerdem erhielten sie auch oft Bücher von Freunden.⁹ Allerdings fasste Harmgarth die Ergebnisse für die Klassenstufen 1 und 2, 3 bis 6 und 7 bis 10 jeweils zusammen, weshalb Vergleiche mit Schülern einzelner Jahrgangsstufen – wie beispielsweise in der vorliegenden Studie – wegen der unterschiedlichen Altersstruktur nur bedingt möglich sind. Außerdem berücksichtigte sie in den meisten Fällen keine Unterschiede nach Geschlecht und differenzierte nicht zwischen den verschiedenen Schularten. Theoretisch setzte sich Kerstin Keller-Loibl in Handbuch Kinder- und Jugendbibliotheksarbeit mit den Bibliotheken auseinander.¹⁰ Darüber hinaus befragte sie in Das Image von Bibliotheken bei Jugendlichen Jugendliche zwischen 12 und 19 Jahren. Neben dem Mediennutzungsverhalten erfragte sie beispielsweise, welche Meinungen und Einstellungen die Heranwachsenden in Bezug auf Bibliotheken hatten und warum sie diese nutzten bzw. nicht nutzten. Sie fand heraus, dass die Jugendlichen Bibliotheken vor allem als Ausleihorte für das Medium Buch sahen. Außerdem stellte sie fest, dass leseaffine Personen und Bibliotheksnutzer das Image von Bibliotheken besser bewerteten als Befragte, die keine Nutzer waren und selten bzw. wenig lasen. Ihre Ergebnisse differenzierte Keller-Loibl leider nur teilweise nach Alter, Geschlecht oder Bildungshintergrund der Befragten, was Vergleiche erschwert. An der quantitativen Online-Befragung von Keller-Loibl nahmen mit 57 % außerdem überdurchschnittlich viele Personen teil, die das Abitur anstrebten. Daher und wegen der Auswahl der Befragten über ein Online-Netzwerk können die Ergebnisse nicht als repräsentativ bezeichnet werden.¹¹ Die Untersuchung Lust auf Lesen – Wie viele Bürger kennen ihre Bibliothek? fasst zusammen, wie viele Bürger 2004 die öffentlichen Bibliotheken in ihrer Nähe kannten und nutzten, wozu die Bibliothek genutzt und wie sie bewertet wurde. Außerdem wurde analysiert, wie zusätzliche Nutzer gewonnen werden könnten. Ein Ergebnis war, dass Bibliotheken in erster Linie genutzt wurden, um Fachliteratur, Romane und Kinderbücher zu entleihen. Andere Mediengruppen wie CDs, DVDs oder Spiele wurden seltener entliehen. Außerdem wurde festgestellt, dass zur Gewinnung neuer Nutzer ein aktuelleres Angebot, längere Öffnungszeiten und niedrigere Nutzungsgebühren notwendig wären.¹² Da nicht angegeben wurde, wie alt die jüngsten Teil9 Vgl. Harmgarth 1997, S. 11, 39–41, 47, 64 f. 10 Vgl. Keller-Loibl 2009. 11 Vgl. Keller-Loibl 2012, S. 19, 23 f., 33, 40–44, 55–59, 79–82, 89–92, 160 f. 12 Vgl. infas 2004, S. 2–4.

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   2 Forschungsstand

nehmer waren und die jüngste Altersgruppe mit „unter 20 Jahren“ Personen mit vermutlich sehr unterschiedlicher Nutzungsfrequenz zusammenfasst, werden die Daten nicht mit denen der vorliegenden Studie verglichen. Darüber hinaus war der Anteil der Jugendlichen unter 20 Jahren unter den Befragten mit 219 Teilnehmern relativ gering. Die Studie Ursachen und Gründe für die Nichtnutzung von Bibliotheken in Deutschland beschäftigte sich 2011 damit, warum Personen öffentliche Stadtbibliotheken und Gemeindebüchereien nicht bzw. nicht mehr nutzten. Dafür wurden Personen im Alter von 14 bis 75 Jahren telefonisch befragt. Neben der Häufigkeit der (früheren) Nutzung von Bibliotheken wurden unter anderem die Einflussfaktoren der (Nicht-) Nutzung, die Erinnerung an Bibliotheksbesuche in der Kindheit und das Image von Bibliotheken erfragt, um daraus Maßnahmen zu entwickeln, die Nichtnutzer und die ehemaligen Nutzer für den Bibliotheksbesuch (zurück) zu gewinnen. Es zeigte sich, dass die Bibliothekssozialisation eine wichtige Rolle spielte: Personen, die bereits in ihrer Kindheit Bibliotheken besuchten, waren auch zum Zeitpunkt der Befragung zu einem größeren Anteil Bibliotheksnutzer. Gründe für die Nichtnutzung standen eher mit den persönlichen Präferenzen in Zusammenhang: Ein Teil der Befragten kaufte die Medien lieber oder tauschte sie beispielsweise mit Freunden. Darüber hinaus gab es aber auch Faktoren, die die Bibliotheken beeinflussen können: Es bestand nämlich teilweise der Wunsch nach einer elektronischen Ausleihe, benutzerfreundlicheren Öffnungszeiten, schöneren Räumlichkeiten und einem attraktiveren Medienangebot.¹³ Da die jüngsten Befragten hier in die Gruppe der 14- bis 19-Jährigen zusammengefasst wurden, sind wegen der abweichenden Altersstruktur keine Vergleiche mit der vorliegenden Untersuchung möglich. Es kann festgehalten werden, dass aktuelle repräsentative Studien, die sich mit der Bibliotheksnutzung befassen, nur selten Kinder und Jugendliche differenziert betrachten: Obwohl die Bibliotheksnutzung in diesem Alter vermutlich eine große Veränderung in der Nutzungsfrequenz erfährt  – in dem Sinne, dass Bibliotheken für die Jüngeren eine größere Rolle spielen als für die Älteren – wurden oft erst Heranwachsende ab 14 Jahren befragt und alle Personen bis 19 Jahre in einer Gruppe zusammengefasst. Bislang existiert keine Studie, die alle Formen der Buchbeschaffung bei Kindern und Jugendlichen berücksichtigt: Neben dem Buchkauf und der Leihe aus Bibliotheken ist für eine umfassende Betrachtung der relativen Bedeutung der unterschiedlichen Beschaffungswege auch die Leihe innerhalb der Familie oder von Freunden und die Rolle von Buchgeschenken einzubeziehen. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, sollte darüber hinaus auch stärker differenziert werden: Zum Beispiel nach Geschlecht, Alter und besuchter Schulart.

13 Vgl. Deutscher Bibliotheksverband e. V./Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen 2012, Folie 62.

2.2 Lesesozialisationsforschung   

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2.2 Lesesozialisationsforschung Theoretisch baut die vorliegende Arbeit auf dem Modell der Ko-Konstruktion von Norbert Groeben auf, weshalb den Instanzen der Lesesozialisation besondere Bedeutung zukommt. Die Stärke dieses Modells besteht darin, dass alle bedeutsamen Ebenen in ihren Zusammenhängen betrachtet werden können. So beschrieb Bettina Hurrelmann die familialen Bedingungen der Lesesozialisation in Lesesozialisation in der Mediengesellschaft¹⁴ auch unter dem Blickwinkel der Lesesozialisation als KoKonstruktion. Sie stellte in dem Beitrag unter anderem die Frage, wie sich die Rolle der Familie im Jugendalter im Vergleich zur Bedeutung der Peers verändert.¹⁵ Hurrelmann hielt dazu fest: Verlässliche Antworten sind derzeit nicht möglich, weil entsprechend komplexe Untersuchungen über das erweiterte Wirkungsgeflecht der Lesesozialisation im Jugendalter fehlen. Zwar zeigen quantitative Untersuchungen, dass bei der Auswahl von Büchern nun eher die Freunde als die Eltern wegweisend sind. Das sagt aber fast nichts über das prinzipielle Verhältnis der Sozialisationsinstanzen zueinander und ignoriert auch die im Jugendalter unter Umständen veränderte Dimensionierung familialer Einflüsse.¹⁶

Um die Relevanz der einzelnen Lesesozialisationsinstanzen im Altersverlauf verstehen zu können, ist es daher notwendig alle bedeutenden Instanzen einzubeziehen. Nur so können Veränderungen und Zusammenhänge zwischen den Instanzen – also der Familie, der Schule und den Peers  – nachvollzogen werden. Bisher liegt keine Studie vor, die differenziert alle Instanzen der Lesesozialisation betrachtet und diese zueinander in Beziehung setzt.

2.2.1 Familie Bereits Anfang der 1990er Jahre beschäftigte sich die Studie Leseklima in der Familie mit der Lesesozialisationsinstanz Familie. Untersucht wurde neben der Medienumwelt der Kinder auch die Leseförderung und die Leseerziehung in der Familie sowie die familiale Interaktion und Kommunikation. Außerdem wurden die schulischen Bedingungen und Wirkungen der Lesesozialisation analysiert. In die Fragebogenbefragung wurden 200 Familien mit Kindern zwischen 9 und 11 Jahren einbezogen, wobei das Kind, die Mutter und teilweise auch der Vater befragt wurden. Die Studie zeigte unter anderem, dass die Lesehäufigkeit der Kinder eng mit dem Bildungsgrad der Eltern zusammenhing. Mütter lasen häufiger als Väter, außerdem präferierten die Väter sachorientierte Themen, während die Mütter sich für ein breiteres Spektrum an 14 Vgl. Groeben / Hurrelmann (Hrsg.) 2004. 15 Vgl. Hurrelmann 2004. S. 169–201. 16 Hurrelmann 2004, S. 186.

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Genres interessierten, wobei für sie vor allem psycho-soziale Themen eine wichtige Rolle spielten. Des Weiteren hatte die Mutter eine wichtigere Bedeutung als Lesevorbild als der Vater. Darüber hinaus verbrachten Kinder, in deren Familie Anschlusskommunikation über Gelesenes stattfand, mehr Zeit mit Lektüre als Kinder, die mit ihren Eltern nicht über Bücher sprachen.¹⁷ Auch Sabine Wollscheid befasste sich in Lesesozialisation in der Familie mit der Bedeutung der Familie für das Lesen. Sie führte eine Sekundäranalyse zu Lesegewohnheiten durch und verwendete dafür die Tagebuchdaten der Zeitbudgeterhebung von 2001/02. Für die Zeitbudgeterhebung sollten die Teilnehmer in 10-Minuten-Intervallen ihre durchgeführten Aktivitäten in einem Tagebuch festhalten. In die Stichprobe bezog Sabine Wollscheid Familien mit Kindern zwischen 10 und 19 Jahren ein. Sie untersuchte die Lese- und Fernsehzeitbudgets der Familienmitglieder. Ihre Analyse beschränkte sich allerdings weitgehend auf Mutter-Kind-Dyaden, VaterKind-Dyaden und Eltern-Kind-Triaden. Zusammenhänge zwischen Geschwistern oder zwischen den Kindern und anderen Familienangehörigen wurden also nicht berücksichtigt. Sie stellte fest, dass Mütter und Väter an Wochenendtagen ähnlich viel Zeit mit Lektüre verbrachten, während Mütter an Werktagen mehr lasen als Väter. Mütter unterschieden sich im Hinblick auf die Lesezeitbudgets nur an Wochenendtagen signifikant nach ihrem Bildungsgrad. Väter lasen dagegen sowohl an Werktagen als auch an Wochenendtagen umso länger, je höher ihr Bildungsgrad war.¹⁸ Von der „Stiftung Lesen“ wurde die Studie Lesefreude trotz Risikofaktoren¹⁹ herausgegeben, die den Stellenwert der Familie für die Lesesozialisation von Kindern untersuchte. Besonderes Augenmerk lag auf den Eltern von Kindern unter 12 Jahren, die unter anderem zur Leseerziehung ihrer Kinder befragt wurden. Die Untersuchung zeigte, dass Eltern dem Lesen einen hohen Stellenwert beimaßen, aber das Leseverhalten ihrer Kinder nur selten aktiv beeinflussten. In die Nutzung von Fernseher und Computer griffen sie dagegen häufiger ein – vermutlich, weil sie hierdurch Risiken befürchteten. Auch die Vorlesestudie, die ebenfalls die „Stiftung Lesen“ seit 2007 jährlich mit neuem Schwerpunkt durchführt, hat die Familie im Fokus, genauer die Rolle des Vorlesens für die Lesesozialisation. 2007 wurden hierzu Eltern von Kindern unter 14 Jahren befragt. Analysiert wurde unter anderem, warum Eltern vorlasen bzw. nicht vorlasen. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Eltern mit einem höheren Bildungsniveau häufiger vorlasen als Eltern mit einem niedrigen Bildungsgrad. Außerdem spielten die Mütter die entscheidende Rolle für die Lesesozialisation und es lasen vor allem Personen vor, die selbst auch gerne lasen.²⁰ 2008 beschäftigte sich die Vorlesestudie mit Kindern im Vor- und Grundschulalter, wofür Kinder zwischen 4 und 11 17 Vgl. Hurrelmann / Hammer / Nieß 1995, S. 19 f., 30, 33, 39. 18 Vgl. Wollscheid 2008, S. 100 f., 108, 110, 112–136. 19 Vgl. Stiftung Lesen (Hrsg.) 2010, S. 56. 20 Vgl. Stiftung Lesen / Deutsche Bahn / Die Zeit (Hrsg.) 2007, Folie 25.

2.2 Lesesozialisationsforschung   

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Jahren befragt wurden. Im Zusammenhang mit der persönlich-mündlichen Befragung wurde z. B. überprüft, ob den Kindern überhaupt vorgelesen wurde, und falls ja, wer wann und wo vorlas.²¹ Ein Ergebnis war, dass nur wenige Väter vorlasen, weshalb 2009 Väter, die nur selten oder nie vorlasen, im Mittelpunkt standen. Hier wurde analysiert, warum Väter nicht oder nur selten vorlasen. Als Gründe nannten die Väter, dass sie der Meinung sind, dass die Mütter dafür zuständig sind, dass sie keine Zeit haben und dass sie die Freizeit mit ihren Kindern lieber anders verbringen.²² 2010 standen Eltern mit Migrationshintergrund im Vordergrund, wofür Eltern mit Kindern zwischen 2 und 8 Jahren telefonisch befragt wurden, wenn mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund hatte. Untersucht wurde, wer wie oft vorlas und ob die kulturelle Herkunft einen Einfluss auf das Vorleseverhalten hatte. Ein Ergebnis war, dass auch in Familien mit Migrationshintergrund in erster Linie die Mütter vorlasen.²³ 2011 wurden 10- bis 19-Jährige beispielsweise zu ihren früheren Vorleseerfahrungen und zu ihrem aktuellen Leseverhalten befragt. Dadurch sollte geklärt werden, wie sich das Vorlesen auf die Entwicklung von Kindern auswirkt. Es zeigte sich, dass die Befragten umso mehr lasen, je häufiger sie in ihrer Kindheit vorgelesen bekamen.²⁴ 2012 standen die digitalen Angebote für das Vorlesen im Vordergrund, weshalb Eltern mit Kindern im Alter von 2 bis 8 Jahren dazu befragt wurden, wie verbreitet elektronische Lesegeräte und digitale Leseangebote in ihrer Familie waren. Vätern gefiel das Vorlesen mit Apps besser als Müttern. Auch nutzten sie Apps häufiger zum Vorlesen als Mütter. Darüber hinaus kam die Studie zu dem Ergebnis, dass auch Väter, die selten oder nie aus Büchern vorlasen, durch Apps für das Vorlesen gewonnen werden könnten.²⁵ Die Vorlesestudie 2013 beschäftigte sich mit den Vorleserealitäten 2013 und analysierte, was sich seit 2007 verändert hatte; Teilnehmer waren Eltern mit Kindern im Alter von 2 bis 8 Jahren. Im Vergleich zu 2007 wurde 3- bis 5-jährigen Kindern demnach etwas häufiger vorgelesen, wobei vor allem bildungsferne Eltern und Väter häufiger vorlasen als zum Zeitpunkt der ersten Studie.²⁶ Vorlesen im Kinderalltag fasste die Ergebnisse der Vorlesestudien von 2007 bis 2012 zusammen und ordnete zentrale Befunde ein.²⁷ Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest führte 2011 die FIM-Studie durch, die die Kommunikation und Mediennutzung in Familien mit Kindern zwischen 3 und 19 Jahren untersuchte. Die Nutzung von Lesemedien spielte dabei allerdings nur eine untergeordnete Rolle, da auch die Bedeutung anderer Medien wie des Fernsehens, des Radios und des Internets analysiert wurden. Die Studie kam zu dem

21 Vgl. Stiftung Lesen / Deutsche Bahn / Die Zeit (Hrsg.) 2008. 22 Vgl. Stiftung Lesen / Deutsche Bahn / Die Zeit (Hrsg.) 2009, Folie 28. 23 Vgl. Stiftung Lesen / Deutsche Bahn / Die Zeit (Hrsg.) 2010, Folie 11. 24 Vgl. Stiftung Lesen / Deutsche Bahn / Die Zeit (Hrsg.) 2011, Folie 24. 25 Vgl. Stiftung Lesen / Deutsche Bahn / Die Zeit (Hrsg.) 2012, Folie 26. 26 Vgl. Stiftung Lesen / Deutsche Bahn / Die Zeit (Hrsg.) 2013, Folie 33. 27 Vgl. Ehmig / Reuter 2013.

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Ergebnis, dass Eltern mit hoher Bildung häufiger das Internet nutzten und Bücher, Zeitungen und Zeitschriften lasen als Eltern mit einem niedrigen Bildungsgrad. Computerspiele und Spielkonsolen nutzten dagegen vor allem Eltern mit niedriger Bildung.²⁸ Der Überblick über die Forschung zur Familie hat gezeigt, dass bisher schwerpunktmäßig die Rolle der Eltern untersucht wurde. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Geschwister ebenfalls von großer Bedeutung sind. Besonders interessant ist es hierbei zu betrachten, ob sich mit zunehmendem Alter Veränderungen vollziehen, ob also bei den Jüngeren vor allem die Eltern bedeutsam sind und sich bei den Älteren ein Wandel zugunsten der Geschwister vollzieht. Ausgehend von der Hypothese, dass mit zunehmendem Alter der Einfluss der Peers steigt und der der Eltern sinkt, ist davon auszugehen, dass dies – wenn sich die Hypothese für die Peers als zutreffend erweist – ebenso auf die Geschwister zutrifft.

2.2.2 Schule Mit der Lesesozialisationsinstanz Schule befasst sich ein Artikel von Joachim Fritzsche, der auf dem Modell der Lesesozialisation als Ko-Konstruktion aufbaut.²⁹ Auch der Beitrag von Mechthild Dehn et al. Lesesozialisation, Literaturunterricht und Leseförderung in der Schule handelt vom schulischen Einfluss auf das Lesen.³⁰ Empirische Arbeiten zum Einfluss der Schule auf das Leseverhalten konzentrieren sich häufig auf die Grundschule.³¹ Mit Schülern der weiterführenden Schulen befasst sich dagegen Literaturunterricht und Lesesozialisation von Klaus Gattermaier, der eine Untersuchung zum Lese- und Medienverhalten von Schülern der 8. Jahrgangsstufe und zur lesesozialisatorischen Wirkung ihrer Deutschlehrer durchführte. Er befragte dafür Schüler zu ihrem Medien-, Lese- und Buchleseverhalten und zum Deutschunterricht. Außerdem erfragte er bei Lehrern unter anderem deren Einstellung zum Deutschunterricht und welche lesefördernden Aktivitäten sie nutzten. Darüber hinaus analysierte er, wie gut die Lehrer die Präferenzen der Schüler kannten. Er stellte dabei unter anderem fest, dass Schüler umso leseaffiner waren, je höher ihr sozialer Status war. Außerdem konstatierte er, dass es den Schulen nicht gelang diese familialen Defizite auszugleichen.³² Eine Studie zu den Lesestoffen im Deutschunterricht und dem Zusammenhang zwischen Schul- und Privatlektüre bei Schülern der gymnasialen Oberstufe hat die Autorin der vorliegenden Arbeit 2010 verfasst. Sie befragte Lehrer und Schüler der

28 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) 2012, S. 59. 29 Vgl. Fritzsche 2004, S. 202–249. 30 Vgl. Dehn et al. 1999, S. 568–637. 31 Vgl. beispielsweise Richter / Plath 2005. 32 Vgl. Gattermaier 2003, S. 32, 370.

2.2 Lesesozialisationsforschung   

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12. Jahrgangsstufe zu den im Rahmen des Literaturunterrichts gelesenen Werken und verglich die Ergebnisse mit den Angaben der Heranwachsenden zu den privat rezipierten Textarten. Darüber hinaus beschäftigte sie sich mit der Lesemotivation der Jugendlichen und den Auswirkungen des Deutschunterrichts auf das Lesen. Ein Ergebnis der Studie war, dass sich die schulischen und die privaten Lesestoffe zwar stark unterschieden, die meisten Schüler es aber sinnvoll fanden, dass im Unterricht beispielsweise klassische Literatur besprochen wurde. Der Literaturunterricht hatte allerdings auch kaum eine positive Auswirkung auf das private Lesen der Befragten: Nur wenige Befragte wurden durch den Unterricht dazu motiviert, in der Freizeit mehr oder anspruchsvolle Texte zu lesen.³³ Nur wenige Arbeiten beschäftigen sich mit dem Zusammenhang zwischen dem schulischen und dem privaten Lesen. Außerdem wurden häufig nur Schüler einer Klassenstufe befragt. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, ist es dagegen notwendig, eine große Altersspanne einzubeziehen: Nur so kann überprüft werden, ob die Hypothese zutrifft, dass Schüler der Unterstufe dem schulischen Lesen relativ positiv gegenüber stehen, die Mittelstufenschüler die Schullektüre eher kritisch betrachten und bei den Jugendlichen, die die Oberstufe besuchen, wieder eine positivere Sichtweise vorherrscht. Darüber hinaus ist besonders im Hinblick auf die Schule eine getrennte Auswertung nach den Schularten notwendig, um Schlüsse in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Schwerpunkten bzw. Zielsetzungen der jeweiligen Schularten ziehen zu können.

2.2.3 Peers Theoretisch befasst sich ein Artikel von Cornelia Rosebrock unter dem Blickwinkel der Ko-Konstruktion mit den Peers.³⁴ Der Forschungsbereich zur Rolle der Peers für die Lesesozialisation ist außerdem eng mit Maik Philipp verknüpft. Er befragte in Lesen, wenn anderes und andere wichtiger werden Schüler der 5. Jahrgangsstufe zu ihrem Lese- und Freizeitverhalten, zu ihrer Cliquenzugehörigkeit, der Leseorientierung unter den Peers und der Anschlusskommunikation über Lektüre im Freundeskreis sowie zum Leseklima in der Familie und der Freude am Deutschunterricht. Er konnte zeigen, dass die Freunde von Befragten, die eine formal hohe Schule besuchten, leseaffiner waren als die von Schülern formal niedriger Schulen. Außerdem spielte das Lesen vor allem im Freundeskreis von Mädchen eine wichtige Rolle.³⁵ In Lesen empeerisch führte Philipp nach eineinhalb Jahren mit denselben Befragten seiner ersten Untersuchung eine Längsschnittstudie durch, um Veränderungen im Altersverlauf entdecken zu können. Auch hier beschäftigte er sich mit der Lese33 Vgl. Mahling 2010, S. 10, 108. 34 Vgl. Rosebrock 2004. 35 Vgl. Philipp 2008, S. 62, 104.

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orientierung in der Clique. Er analysierte darüber hinaus unter anderem das Freizeit-, Medien- und Leseverhalten der Schüler sowie ihre Lesemotivation. Er stellte fest, dass die Leseorientierung in der Clique im Vergleich zum ersten Messzeitpunkt abgenommen hatte, außerdem blieben die Differenzen nach Geschlecht und besuchter Schulart bestehen.³⁶ Die Bedeutung der Peers ist durch die Arbeiten von Philipp relativ gut erforscht. Allerdings fehlen bislang Aussagen zu Schülern ab der 7. Jahrgangsstufe. Außerdem existiert bislang keine Studie, die eine große Altersgruppe einbezieht. Dies ist aber notwendig, um zu zeigen, ob sich die Rolle der Freunde bei den Älteren im Vergleich mit den Jüngeren unterscheidet.

2.2.4 Individuum Mit den individuellen Faktoren der Lesesozialisation befassen sich vielfältige Untersuchungen mit jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen bzw. Fragestellungen. Der „Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest“ führt seit 1999 regelmäßig die KIM-Studie durch, die den Stellenwert der Medien im Alltag von Kindern zwischen 6 und 13 Jahren untersucht. Das Leseverhalten spielt hier allerdings nur eine untergeordnete Rolle, da beispielsweise auch Freizeitaktivitäten, die Rolle des Fernsehens, des Computers, des Internets und des Handys abgefragt werden. Ein Ergebnis 2012 war, dass die Buchlektüre bei Kindern immer noch einen wichtigen Stellenwert innehatte, wobei Mädchen leseaffiner waren als Jungen.³⁷ Die JIM-Studie ist ähnlich angelegt: Diese wird seit 1998 jährlich durchgeführt und beschäftigt sich mit dem Umgang 12- bis 19-Jähriger mit Medien und Information. 2013 kam die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Bücher für viele Jugendliche eine wichtige Bedeutung hatten. Die Buchnutzung hing dabei eng mit dem Bildungsgrad und dem Geschlecht zusammen: Mädchen verbrachten mehr Zeit mit Lesen als Jungen, Gymnasiasten rezipierten regelmäßiger Bücher als Realschüler und vor allem als Hauptschüler.³⁸ Das Freizeit- und Medienverhalten von 10- bis 17-Jährigen untersuchte Jürgen Bofinger. Er betrachtete damit das Medienverhalten einer relativ großen Alterspanne, allerdings behandelte er den Aspekt des Lesens nur kurz, da andere Freizeitaktivitäten wie Fernseh- und Videokonsum oder Musikhören einen breiten Raum einnahmen. In Bezug auf das Lesen untersuchte er, wie häufig die Heranwachsenden lasen, welchen Stellenwert das Lesen im Vergleich zu anderen Medien hatte, woher die Kinder und Jugendlichen ihre Lesestoffe bezogen und welche Textarten sie präferierten. Wie bereits in den bisher genannten Studien konstatierte auch er, dass Mädchen häufiger als Jungen und höher gebildete Befragte öfter als Schüler mit niedriger Bildung lasen. 36 Vgl. Philipp 2010a, S. 107, 110, 204. 37 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) 2013a, S. 74. 38 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.) 2013b, S. 59.

2.2 Lesesozialisationsforschung   

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Außerdem stellte er fest, dass vor allem die Jüngeren und die Heranwachsenden mit Deutsch als Muttersprache viel Zeit mit Lektüre verbrachten.³⁹ Werner Graf beschäftigte sich mit der literarischen Sozialisation in Kindheit und Jugend und befasste sich im Rahmen der empirisch-qualitativen Leseforschung mit Lektüreautobiographien. In Der Sinn des Lesens wertete er Lektüreautobiographien von jungen Erwachsenen aus und bündelte aus den Beschreibungen übereinstimmende Leseweisen. Insgesamt modellierte er sieben Lesemodi der literarischen Rezeptionskompetenz.⁴⁰ Neben Studien, die sich mit den individuellen Faktoren der Lesesozialisation befassen, existieren Untersuchungen, die die individuellen Aspekte im Zusammenhang mit jeweils unterschiedlichen Kombinationen von Instanzen der Lesesozialisation betrachten. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre befassten sich Heinz Bonfadelli und Angela Fritz mit Lesen im Alltag von Jugendlichen. Sie untersuchten darin, welche Faktoren dafür entscheidend waren, ob Jugendliche im Alter zwischen 13 und 18 Jahren eine enge Bindung zum Medium Buch entwickelten. Sie beschäftigten sich dafür mit der Medienumwelt, der Mediennutzung und dem Stellenwert des Buchs. Außerdem griffen sie auch kurz den Einfluss der Lesesozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peers auf. Bonfadelli und Fritz stellten beispielsweise fest, dass Schüler formal hoher Schulen in der Kindheit häufiger leseförderliche Aktivitäten mit ihren Eltern erlebten. Außerdem hatten die Befragten meistens Freunde, die ähnlich viel bzw. wenig lasen wie sie selbst.⁴¹ Renate Köcher analysierte die Entwicklung von Lesekarrieren bei 14- bis 29-Jährigen. Sie bezog verschiedene Einflussfaktoren mit ein, beispielsweise untersuchte sie, wie sich die Schullektüre auf das Leseverhalten auswirkte. Außerdem beschäftigte sie sich damit, welche Rolle das Freizeitbudget spielte und welche Bedeutung dem sozialen Umfeld im Hinblick auf das Lesen zukam. Im Zusammenhang mit diesen Aspekten betrachtete Köcher Differenzen zwischen ehemaligen und kontinuierlichen Lesern. Sie konstatierte, dass es umso wahrscheinlicher war, dass kein Abbruch der Lesekarriere stattfand, je stärker das Lesen in der Kindheit gefördert wurde, wobei die Eltern und Freunde eine wichtige Rolle spielten.⁴² Margit Böck beschäftigte sich in Das Lesen in der neuen Medienlandschaft mit den Lesegewohnheiten und Leseinteressen österreichischer Kinder und Jugendlicher zwischen 8 und 14 Jahren. Neben dem Stellenwert des Lesens in der Freizeit untersuchte sie unter anderem die Buchleseintensität der Schüler und ihre Lesequellen. Außerdem ging sie kurz auf die Rolle des Lesens bei den Eltern, im Freundeskreis und in der Schule ein. Die Studie zeigte unter anderem, dass sich Mädchen und Jungen bei der Lektüre in ihren Genrepräferenzen unterschieden. Außerdem konstatierte Böck im 39 Vgl. Bofinger 2001, S. 183 f. 40 Vgl. Graf 2004, S. 120. 41 Vgl. Bonfadelli / Fritz 1995, S. 105, 111. 42 Vgl. Köcher 1995, S. 216.

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   2 Forschungsstand

Hinblick auf das Lesen Differenzen nach dem Alter der Befragten und der besuchten Schulart.⁴³ Mit der Rolle, die Schule, Familie und Bibliothek für Schweizer Heranwachsende im Medienalltag spielen, setzte sich Priska Bucher auseinander. Sie befragte 12- und 15-jährige Schüler sowie (Deutsch-)Lehrer des Kantons Zürich. Bucher fragte die Jugendlichen nach ihrer Mediennutzung, ihrem Leseverhalten, dem Lesen in der Familie, in der Schule und im Freundeskreis sowie zur Bibliotheksnutzung. Die Lehrer machten Angaben zu ihrem Leseverhalten, zu ihrem Medienumgang und zur Gestaltung und Einschätzung des Deutschunterrichts. Wie bereits Bonfadelli und Fritz stellte auch Bucher fest, dass die eigene Leseintensität mit dem Leseverhalten der Freunde zusammenhing. Außerdem fand sie heraus, dass Schüler aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status in der Familie weniger Leseförderung erfuhren als Befragte aus höheren Schichten. Des Weiteren zeigte sich, dass der positive Einfluss der Lehrer auf die Lesefreude der Heranwachsenden vor allem in den höheren Klassen gering war.⁴⁴ Trotz der Vielzahl an Studien, die sich mit dem Leseverhalten von Schülern beschäftigen, liegt noch keine Untersuchung vor, die ein breites Altersspektrum systematisch erfasst: Die bereits vorliegenden Arbeiten befassen sich oft nur am Rande mit dem Lesen oder fragen lediglich einzelne Aspekte der Freizeitlektüre ab. Eine umfassende Untersuchung, die das individuelle Lesen mit den zahlreichen Facetten abbildet, die damit in Verbindung stehen – und sich dabei nicht nur auf das gedruckte Buch beschränkt – existiert bislang nicht.

2.3 Lesemotivationsforschung Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die habituelle – das bedeutet gewohnheitsmäßige  – Lesemotivation bei Kindern und Jugendlichen zu untersuchen. Die Dimensionen, die in quantitativen Studien abgeprüft werden, unterscheiden sich teilweise, gemeinsam haben die meisten Fragebogen, dass sie sowohl intrinsische⁴⁵ als auch extrinsische⁴⁶ Elemente einbeziehen.⁴⁷ Jens Möller und Eva-Marie Bonerad entwickelten einen Fragebogen zur habituellen Lesemotivation, der ebenfalls intrinsische und extrinsische Elemente abprüft: Die intrinsischen Aspekte umfassen die tätigkeitsbezogene und die gegenstandsbezogene Lesemotivation, wobei die tätigkeitsbezogene Motivation für die Leselust, die

43 Vgl. Böck 2000, S. 209. 44 Vgl. Bucher 2004, S. 305 f. 45 Intrinsisch motivierte Lektüre findet statt, wenn das Lesen selbst positiv bewertet wird. 46 Extrinsisch motiviert ist die Lektüre, wenn man sich davon eine positive Konsequenz bzw. das Ausbleiben einer negativen Konsequenz erhofft. 47 Vgl. Philipp 2011, 39–41.

2.3 Lesemotivationsforschung   

   21

gegenstandsbezogene Motivation für das Lesen aus Interesse steht. Für die extrinsische Komponente wurde das soziale Vergleichsmotiv – das Lesen aus Wettbewerbsgründen – herangezogen. Darüber hinaus erfassten sie das lesebezogene Selbstkonzept. Die Stichprobe setzte sich aus Schülern der 4. und 5. Jahrgangsstufe zusammen. Sie stellten fest, dass die Mädchen eine stärkere intrinsische Motivation aufwiesen als die Jungen, während das Lesen aus Wettbewerbsgründen bei den Jungen etwas stärker ausgeprägt war.⁴⁸ Ähnlich wie Möller und Bonerad kombinierten auch Ellen Schaffner und Ulrich Schiefele intrinsische und extrinsische Faktoren der Lesemotivation. Ihr Modell enthält als intrinsische Aspekte neben der gegenstandsbezogenen Motivation die erlebnisbezogene Lesemotivation, bei der die affektive Komponente im Vordergrund steht. Als extrinsische Facetten wurden die wettbewerbsbezogene, die leistungsbezogene und die soziale Lesemotivation einbezogen. An der Studie nahmen Schüler der 8. und 9. Klassenstufe teil. Die Jungen erzielten bei ihnen etwas höhere Werte bei der wettbewerbsbezogenen Lesemotivation, während für die intrinsischen Aspekte die Mädchen höhere Werte aufwiesen.⁴⁹ Im Rahmen der PISA-Studie 2009 wurde die Lesemotivation von 15-Jährigen etwas anders als in den bisher vorgestellten Untersuchungen gemessen: Als Indikatoren der Lesemotivation fassen wir hier das Leseverhalten (Häufigkeit und Qualität) sowie die emotional-affektiven Komponenten beim Lesen. Die emotional-affektive Komponente beim Lesen wird vor allem durch den Indikator Lesefreude erfasst.⁵⁰

Es fand somit keine Unterscheidung zwischen den intrinsischen und den extrinsischen Faktoren statt, stattdessen stand die emotional-affektive Bedeutung des Lesens im Vordergrund. Ein weiterer Unterschied zu anderen Studien besteht darin, dass auch Faktoren, die das Leseverhalten selbst betreffen, einbezogen wurden, um die Lesemotivation zu beschreiben. Die Daten wurden unter anderem dazu herangezogen, die Lesefreude in den verschiedenen Teilnehmerstaaten zu vergleichen. Außerdem wurden Unterschiede zwischen den Geschlechtern analysiert. Deutschland gehörte zu den Staaten, in denen die Lesefreude oberhalb des OECD-Durchschnitts lag, wobei Deutschland hierbei nach Finnland die stärksten Geschlechterdifferenzen zugunsten der Mädchen aufwies.⁵¹ Einen Bezug zwischen der Lesemotivation und den verschiedenen Lesesozialisationsinstanzen stellte Senta Pfaff-Rüdiger her: Sie beschäftigte sich mit der Lesemotivation und der Lesekompetenz von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren und den Lesestrategien, die sie beim Lesen von Büchern anwandten. Darüber hinaus erfasste

48 Vgl. Möller / Bonerad 2007, S. 262–265. 49 Vgl. Schaffner / Schiefele 2007, S. 272 f., 277 f. 50 Artelt / Naumann / Schneider 2010, S. 76. 51 Vgl. Artelt / Naumann / Schneider 2010, S. 83, 88 f.

22   

   2 Forschungsstand

sie auch Faktoren wie das Lesen im Familien- und im Schulalltag sowie die Rolle der Peers für das Lesen. Für ihre Studie führte sie Paar-Interviews mit Heranwachsenden, außerdem befragte sie Schüler mittels Fragebogen. Sie fand heraus, dass die Familie, die Schule und die Peers die Heranwachsenden dadurch in ihrer Lesemotivation unterstützen konnten, dass sie mit ihnen über die Lektüre sprachen. Sprachen Freunde untereinander allerdings nicht über das Gelesene, so wandten sich die Jugendlichen häufig von Büchern ab und anderen Medien zu.⁵² Die vorgestellten Studien beschäftigten sich in erster Linie mit der Lesemotivation aus schulischer Sicht: Häufig wurde der Zusammenhang zwischen Lesemotivation und Lesekompetenz betrachtet. In der vorliegenden Arbeit kann die Lesekompetenz nicht berücksichtigt werden. Stattdessen wird untersucht, inwiefern Unterschiede in der Lesemotivation in vielen unterschiedlichen Bereichen des Lesens sichtbar werden, zum Beispiel im Hinblick auf die präferierten Textarten und die genutzten Lesemodi und Lesestrategien.

2.4 Relevanz der Studien Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Leseverhalten und die Lesesozialisation von Kindern und Jugendlichen insofern defizitär erforscht sind, als sich die meisten Studien auf einzelne Aspekte beschränken, wie beispielsweise die Lesesozialisation in der Familie, den Einfluss der Peers auf das Leseverhalten oder die Auswirkungen der Schule auf das Lesen. Die Untersuchungen, die mehrere Instanzen behandeln, machen dies meist nur relativ oberflächlich und stellen kaum Zusammenhänge zwischen ihnen her. Das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen einer großen Alterspanne und verschiedener Schularten wurde bisher nicht ausführlich analysiert. Darüber hinaus wurde bei den bisherigen Untersuchungen nie sowohl die Beschaffung der Lesestoffe – also Geschenk, Kauf oder Leihe – als auch das tatsächliche Nutzungsverhalten genauer betrachtet. Die Ergebnisse der vorgestellten Studien werden in der vorliegenden Arbeit im Fazit der jeweiligen Kapitel mit den eigenen Resultaten verglichen, sofern die Daten dazu geeignet sind. Einschränkungen ergeben sich durch Unterschiede im Hinblick auf das Alter und die besuchte Schulart der Befragten sowie durch Differenzen in den Befragungsmethoden bzw. den Frageformulierungen. Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Studie sind die Untersuchungen von Philipp⁵³. Ein Teil der Fragen aus seinen Fragebogen wurde daher übernommen: Neben den Fragen zur Leseorientierung in der Clique waren dies auch die Aussagen, die den Schülern zur Ermittlung des Leseklimas in der Familie vorgelegt wurden. Durch die Verwendung identischer Fragen ist ein direkter Vergleich mit den Ergebnis52 Vgl. Pfaff-Rüdiger 2011, S. 294. 53 Vgl. Philipp 2008; Philipp 2010a.

2.4 Relevanz der Studien   

   23

sen von Philipp möglich. Die Fragen zur Beurteilung des Deutschunterrichts wurden dagegen teilweise aus der Studie von Bucher übernommen.⁵⁴ Auch die Ergebnisse von Grafs Untersuchungen spielen für diese Arbeit eine wichtige Rolle: Die Relevanz der verschiedenen Lesemodi, die er qualitativ durch die Auswertung der Lektüreautobiographien modelliert hat, wird in der vorliegenden Studie im Fragebogen durch Aussagen zu den Modi abgefragt. So soll gezeigt werden, mit welcher Intention Kinder und Jugendliche Bücher bzw. Texte rezipieren. ⁵⁵

54 Vgl. Bucher 2004. 55 Vgl. Graf 2004.

3 Theoretische Ansätze 3.1 Lesesozialisation als Ko-Konstruktion Lesen gilt – heute – primär als individueller, z. T. sogar intimer Rezeptionsprozess. Das Konzept der Mediengesellschaft ist eine aktuelle Qualifizierung des Gesellschaftssystems, und die Sozialisation bezeichnet die Verbindung zwischen der Individual- und der Systemebene, wobei diese Verbindung im Optimalfall die Form einer Erklärung annehmen sollte – d. h. erklären können sollte, wie Lesesozialisation in der Mediengesellschaft abläuft, was die Antezedens- und die Sukzedensbedingungen dieser Sozialisation sind. Vor jeder inhaltlichen Beantwortung der Erklärungsfrage ist deshalb von der formalen Struktur her klar, dass eine adäquate Antwort mehrere Ebenen (vom Individuum bis zum Gesellschaftssystem) umfassen muss. Dies ist, ganz abstrakt gesprochen, das Mehrebenen-Problem […]. Es handelt sich um die Diskussion des Mikro-MakroProblems […].¹

So erklärt Norbert Groeben die Notwendigkeit verschiedene Ebenen zu berücksichtigen, um das Leseverhalten von Individuen zu erklären. Es ist erforderlich Erklärungsmodelle zu entwickeln, die die verschiedenen Ebenen verbinden, die also neben der individuellen Ebene auch überindividuelle Ebenen einbeziehen. Für dieses Modell der Ko-Konstruktion ist die Wechselwirkung charakteristisch: Die überindividuellen Ebenen haben Einfluss auf das individuelle Handeln, umgekehrt kann das Individuum aber auch Veränderungen in einer höheren Ebene bewirken. Wegen der Komplexität unseres Gesellschaftssystems existiert beim Modell für die Lesesozialisation zwischen der Makro-Ebene und der Mikro-Ebene eine Zwischenebene, die als Meso-Ebene bezeichnet wird. Für diese Ebene relevant sind nach Groeben die Peers, die Schule bzw. das Bildungssystem und die Familie, da sie bei der Lesesozialisation eine wichtige Rolle einnehmen.² Bezogen auf das Beispiel Familie lässt sich die erfolgreiche Lesesozialisation als Ko-Konstruktion folgendermaßen erklären: Die gesellschaftliche Norm (MakroEbene) besagt, dass Lesekompetenz eine Schlüsselqualifikation ist, die für den Wissenserwerb und die gesellschaftliche Teilhabe notwendig ist. Auf der Meso-Ebene setzen die Eltern diese Norm im täglichen Leben um: Sie lesen beispielsweise selbst häufig und gern und erzählen ihren Kleinkindern Geschichten. Lesen etabliert sich damit als eine Familienaktivität und mit Älterwerden der Kinder tritt neben das Vorlesen auch das Austauschen über Gelesenes und die Familie gibt sich gegenseitig Anregungen zum Lesen. Aus diesem Familienklima resultiert unter anderem, dass die Kinder selbst Bücher auswählen, viele Bücher besitzen und die Bücherei nutzen. Auf der individuellen Ebene (Mikro-Ebene) identifiziert sich das kleine Kind mit seinen Eltern und übernimmt deren Einstellungen dem Lesen gegenüber. Sobald es selbst

1 Groeben 2004, S. 145. 2 Vgl. Groeben 2004, S. 147–149, 155.

26   

   3 Theoretische Ansätze

lesen kann imitiert das Kind seine Eltern – liest also selbst gern und viel – und entwickelt dadurch Lesekompetenz. Schließlich gibt es selbst Lektüreanregungen an die Familie zurück. Die Norm der Gesellschaft, dass Lesekompetenz gefördert werden soll, wird daher auf der Meso-Ebene durch das Verhalten der Eltern übernommen und auf die individuelle Ebene des Kindes übertragen.³ Mit Hartmut Essers Grundmodell soziologischer Erklärungen können für das Modell der Ko-Konstruktion auch Prozesse des sozialen Wandels erklärt werden: Das Modell unterscheidet zunächst nur zwischen der Makro- und der Mikro-Ebene und arbeitet für die Erklärung der Beziehung zwischen den beiden Ebenen drei typische Schritte aus. Im ersten Schritt – der Logik der Situation – wird auf der Makro-Ebene die soziale Situation rekonstruiert, in der sich die Akteure befinden.⁴ Durch sie ist vorgegeben, „welche Bedingungen in der Situation gegeben sind und welche Alternativen die Akteure haben. Die Logik der Situation verknüpft die Erwartungen und die Bewertungen des Akteurs mit den Alternativen und den Bedingungen in der Situation.“⁵ Im zweiten Schritt wird auf der Mikro-Ebene das Handeln des Individuums erklärt. Im Rahmen dieser Logik der Selektion wählt der Akteur eine der möglichen Handlungsalternativen aus.⁶ Es „wird somit die methodisch erforderliche allgemeine und kausale funktionale Beziehung zwischen den situational geprägten Erwartungen und Bewertungen beim Akteur und dem Handeln hergestellt.“⁷ Im dritten Schritt, der Logik der Aggregation, erfolgt der Übergang von der Mikrozurück auf die Makro-Ebene. Durch die Handlungen der Individuen vollziehen sich auch Veränderungen auf der Makro-Ebene. Durch diese aggregierende Transformation ist es möglich den sozialen Wandel zu explizieren.⁸ Abb. 3.1 zeigt das Grundmodell der soziologischen Erklärung. Auf der MakroEbene des sozialen Gebildes wird zuerst die Logik der Situation (1) rekonstruiert. Im Zusammenhang mit der Logik der Selektion (2) wählt der Akteur auf der Mikro-Ebene anschließend eine Handlungsoption aus. Durch die Logik der Aggregation (3) findet wegen der Aggregation der individuellen Handlungen der Übergang von der MikroEbene zur Makro-Ebene statt. Der soziale Wandel wird durch den gestrichelten Pfeil 4) beschrieben, er ist nämlich nur als indirekter Effekt über die Schritte 1) bis 3) zu interpretieren. Das kollektive Explanandum bezeichnet somit die Veränderung des sozialen Gebildes aufgrund der Handlungen der Akteure.⁹

3 Vgl. Groeben 2004, S. 157 f. 4 Vgl. Esser 1993, S. 91, 94. 5 Esser 1993, S. 94. 6 Vgl. Esser 1993, S. 94 f. 7 Esser 1993, S. 95. 8 Vgl. Esser 1993, S. 96 f. 9 Vgl. Esser 1993, S. 100; Garbe 2009, S. 173 f.

3.1 Lesesozialisation als Ko-Konstruktion   

MakroEbene

soziales Gebilde

4)

1) MikroEbene

   27

kollektives Explanandum 3)

Akteur

2)

Handlung

Abb. 3.1: Das Grundmodell der soziologischen Erklärung (leicht modifizierte eigene Darstellung basierend auf Esser 1993, S. 98).

Esser hält fest, dass es in den meisten Fällen nicht ausreicht nur die Makro- und die Mikro-Ebene zu berücksichtigen. Normalerweise ist zusätzlich eine Meso-Ebene notwendig, um Verhalten erklären zu können.¹⁰ Das trifft auch auf das Beispiel der Lesesozialisation als Ko-Konstruktion zu. Die wichtigsten Instanzen der Meso-Ebene sind hierfür die Familie, die Schule und die Peers. In Abb. 3.2 wird das Grundmodell der soziologischen Erklärung für diese Instanzen dargestellt: Bezogen auf das Beispiel der Familie (Meso-Ebene) als Sozialisationsinstanz wäre eine Möglichkeit, dass ein Kind in einer Familie aufwächst, in der Lesen eine große Rolle spielt. Das Kind (der Akteur auf der Mikro-Ebene) würde also im sozialen Gebilde bzw. in Alltagssituationen (Logik der Situation) beobachten, wie die Mutter liest oder der Bruder sich mit dem Vater über ein gelesenes Buch austauscht. Im zweiten Schritt (Logik der Selektion) wählt der Akteur situationsabhängig, aber auch aufgrund seiner bisher gemachten Erfahrungen, eine Handlungsoption aus.¹¹ Hierbei sind fünf Möglichkeiten der Ko-Konstruktion denkbar: Der Akteur kann die Handlungen seiner Familie mehr oder weniger vollständig nachahmen (entspricht einer Reduplikation), bezogen auf das Beispiel also selbst gern und häufig lesen. Als zweite Möglichkeit kann er auswählen, das heißt einen Teil der Handlungsweisen übernehmen und einen anderen Teil ignorieren (Selektion) – z. B. genau wie der Vater Sachbücher rezipieren, aber anders als die Mutter auf Liebesromane verzichten. Drittens kann das Kind aus den Verhaltensmustern der Familienangehörigen neue eigene Handlungsweisen zusammenstellen (Kombination), beispielsweise dieselben Texte lesen wie die Mutter, aber auf einem anderen Lesegerät. Als vierte Variante kann der Akteur bestimmte Handlungsweisen der Eltern oder Geschwister abwandeln (Modifikation), z. B. gerne lesen, aber andere Genres präferieren als alle anderen Mitglie-

10 Vgl. Esser 1993, S. 117. 11 Vgl. Philipp 2011, S. 24 f.

28   

   3 Theoretische Ansätze

der der Familie. Fünftens kann das Kind die Verhaltensweisen der Familie ablehnen (Negation), also das Lesen verweigern.¹² Je nachdem wie der Akteur handelt, wirken seine Verhaltensweisen der MikroEbene im dritten Schritt (Logik der Aggregation) auf die Meso-Ebene der Familie zurück: Hier wäre es beispielsweise denkbar, dass ein Kind oder Jugendlicher (möglicherweise im Freundeskreis) mit E-Readern in Kontakt gekommen ist, sich selbst einen zulegt und zu Hause nutzt. Die Familienmitglieder, die bisher Printmedien bevorzugt haben, lernen dieses Lesemedium ergänzend zu den Printmedien schätzen, sodass der Stellenwert von E-Books in der gesamten Familie steigt.¹³

Makro-Ebene: Gesellschaft

Normen – Sozialsystem 1) Situation 3) Aggregation 2) Selektion

Meso-Ebene: Lesesozialisationsinstanzen

Familie – Schule – Peers 1) Situation 3) Aggregation 2) Selektion

Mikro-Ebene: Individuen

Persönliche Lesekultur

Abb. 3.2: Die Ebenen und Logiken der Lesesozialisation im Modell der Ko-Konstruktion (Quelle: Philipp 2011, S. 24).

Die verschiedenen Instanzen unterliegen unterschiedlichen gesellschaftlichen Normen: Die informelle Sozialisationsinstanz Familie hat nach der gesellschaftlichen Norm einerseits die Aufgabe das Lesen zu fördern, damit die Kinder befähigt werden eine hohe Bildungsleistung zu erzielen, andererseits soll sie dem Nachwuchs vermitteln, dass Lesen Freude bereitet.¹⁴ Entscheidend für den Verlauf der Lesesozialisation in der Familie sind folgende Punkte: – [D]er Grad der sozialen Eingebundenheit des Lesens in der Familie; – die Praktizierung prä- und paraliterarischer Kommunikationsformen; – die Bereitstellung literarischer Anschlusskommunikationen in der Familie; 12 Vgl. Groeben 2004, S. 161 f., Garbe 2009, S. 174. 13 Vgl. Philipp 2011, S. 25. 14 Vgl. Groeben / Schroeder 2004, S. 316.

3.1 Lesesozialisation als Ko-Konstruktion   

– –

   29

das Mediennutzungsverhalten der Eltern; das allgemeine Familienklima.¹⁵

In dieser Arbeit werden vor allem die soziale Eingebundenheit des Lesens in der Familie, das Ausmaß der Anschlusskommunikation in der Familie und das Mediennutzungsverhalten der Familie untersucht. Prä- und paraliterarische Kommunikationsformen spielen in erster Linie bei jüngeren Kindern eine Rolle und sind daher für die untersuchte Altersgruppe nur von geringer Bedeutung. Dennoch wird zumindest die Rolle des Vorlesens in der Kindheit beleuchtet. Das allgemeine Familienklima, das durch viele verschiedene Faktoren wie beispielsweise auch den Erziehungsstil der Eltern beeinflusst wird, kann in einem Fragebogen, der sich nicht ausschließlich mit der familiären Situation befasst, nur schwer abgebildet werden und wird deshalb nicht mit einbezogen. In Bezug auf die formelle Sozialisationsinstanz Schule bezieht sich die explizite gesellschaftliche Norm darauf, dass die Schule bei den Schülern als Teil der Persönlichkeitsentwicklung Lesekompetenz entwickeln und fördern soll. Eine gegenläufige implizite Norm besagt allerdings, dass die Schule die Aufgabe hat die Selektion und Allokation der Schüler durchzuführen. Für eine erfolgreiche Leseentwicklung erachten Groeben und Schroeder als notwendig:¹⁶ – [A]uf der globalen Ebene des Schulsystems vor allem [den] Grad der Flexibilisierung und Entlastung des Unterrichtes von (überzogenem) Leistungs- und Konkurrenzdruck (aufgrund einer verabsolutierten Selektions-/Allokationsnorm); – auf der konkreten Handlungsebene der Lehrer/innen eine konstruktive Passung zwischen Unterricht und den Bedürfnissen der Schüler/innen (allgemeines Interesse, lebensspezifische Probleme etc.); – auf der Ebene des Literaturunterrichts eine altersadäquate Textauswahl und eine integrative Bandbreite von analytisch-interpretierendem Unterrichtsgespräch bis zu rezeptions- und produktionsorientierten Ansätzen.¹⁷ Da bei diesen Punkten eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielt, werden sie im Fragebogen nicht abgeprüft. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Beurteilung des Lesens in der Schule, den Auswirkungen des Literaturunterrichts auf die Lesemotivation, dem Zusammenhang zwischen schulischem und privatem Lesen und dem erlebten Interesse des Deutschlehrers für die Lektürevorlieben der Schüler. Die Peers als informelle Sozialisationsinstanz unterliegen der gesellschaftlichen Norm ihre Freiräume gegenüber den Erwachsenen zu behaupten und Probehandeln zu ermöglichen, ihnen obliegt aber auch die Aufgabe, die Integration der Individuen

15 Groeben / Schroeder 2004, S. 320. 16 Vgl. Groeben / Schroeder 2004, S. 321, 329. 17 Groeben / Schroeder 2004, S. 329 f.

30   

   3 Theoretische Ansätze

in das Gesellschaftsgefüge zu fördern.¹⁸ Eine positive Leseorientierung bei den Peers entsteht, wenn die beiden folgenden Punkte erfüllt sind: – Die Jugendlichen bringen ihre literarischen Erfahrungen in die GleichaltrigenGruppe ein und verstärken so das flexible und lesefreundliche Gruppenklima. – Durch den intensiven Austausch literarischer Erfahrungen werden andere Gruppenmitglieder zur Lektüre angeregt, geben entsprechende Anregungen zurück, sodass sich das literarische Spektrum kontinuierlich erweitert.¹⁹ Im Folgenden werden neben der Anschlusskommunikation bei den Peers und ihrem Leseverhalten auch die Leihe und das Schenken von Lesestoffen im Freundeskreis analysiert. Die Sozialisationsinstanzen können allerdings nicht –  wie bisher dargestellt  – als nach außen abgeschlossene Einheiten angesehen werden, sie stehen vielmehr in vielfältigen Beziehungen zu den anderen Instanzen. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ein leseunfreundliches Familienklima durch ein lesefreundliches Klima bei den Peers kompensiert wird. Das Individuum ist gleichzeitig Teil verschiedener Gruppen und ko-konstruiert sich aus den unterschiedlichen Gegebenheiten seine eigene Lesekultur. Die Lesefreude, die von den Peers vermittelt wird, kann das Individuum in die Familie hineintragen und damit auch das Leseklima in der Familie verändern. Diese Struktur gegenläufiger Ko-Konstruktions-Muster wird als kombinatorisch-modifizierend bezeichnet. Häufiger treten allerdings selektiv-reproduktive Ko-Konstruktions-Komplexe auf. Ein Beispiel dafür wäre, wenn ein Jugendlicher, der in einer leseunfreundlichen Familie lebt, sich auch Freunde sucht, die das Lesen ablehnen. Diese Dynamik entsteht vor allem durch den Einfluss der Schichtzugehörigkeit: So besuchen Kinder aus der Unterschicht häufig formal niedrige Schulen und finden ihren Freundeskreis in erster Linie im schulischen Umfeld.²⁰ Abb. 3.3 zeigt das Ko-Konstruktions-Schema für Kinder und Jugendliche nach der Grundschule. Auf der Makro-Ebene sind die gesellschaftlichen Normen angesiedelt, die auf die Instanzen der Lesesozialisation (Meso-Ebene) Familie, Schule und Peers einwirken. Durch die Moderatorvariable Schicht wird verdeutlicht, dass – im Beispiel Familie – die Normen unterschiedlich interpretiert und umgesetzt werden. So versäumen es Eltern aus prekären Schichten bei ihren Kindern häufig das Lesen zu fördern. Auch bei den Peers spielt die Moderatorvariable Schicht eine Rolle, da die Freunde meist aus einem ähnlichen sozialen Milieu stammen –  bedingt einerseits dadurch, dass die meisten Freunde dieselbe Schule besuchen, andererseits auch dadurch, dass Freunde häufig in der näheren Umgebung wohnen. Bezogen auf die Schule zeigt sich, dass Kinder aus niedrigen sozialen Schichten meist auch formal niedrige Schulen besuchen, während Kinder aus der Mittel- und Oberschicht überproportional häufig 18 Vgl. Groeben / Schroeder 2004, S. 330 f. 19 Groeben / Schroeder 2004, S. 333 f. 20 Vgl. Groeben / Schroeder 2004, S. 335, 338–340.

3.1 Lesesozialisation als Ko-Konstruktion   

   31

ein Gymnasium besuchen. Darüber hinaus ist das Geschlecht als Moderatorvariable anzusehen: Weibliche Kinder und Jugendliche haben meist auch einen (überwiegend) weiblichen Freundeskreis, in dem ein lesefreundlicheres Klima herrscht als bei männlichen Peers. Außerdem ist auch in Bezug auf die Schule das Geschlecht zumindest teilweise zu berücksichtigen: Beispielsweise entspricht die Textauswahl eher den weiblichen Lektüreinteressen.²¹

MakroEbene

Gesellschaft/ Normen Schicht

MesoEbene

Familie

Geschlecht

Schule

Peers

Schicht

MikroEbene

Individuum

Abb. 3.3: Ko-Konstruktions-Schema für Kinder und Jugendliche weiterführender Schulen (leicht modifizierte eigene Darstellung basierend auf Groeben / Schroeder 2004, S. 341).

Philipp stellte 2011 fest: Das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Instanzen ist bislang in der Lesesozialisationsforschung wenig empirisch bearbeitet worden, was auch damit zu tun haben dürfte, dass man eine Vielzahl von Variablen erfassen muss, um das komplexe längerfristige Zusammenspiel abzubilden. Insbesondere mangelt es an Längsschnittstudien, die darüber Auskunft erteilen, in welcher Phase bzw. welchem Alter welche Lesesozialisationsinstanz welchen Einfluss wie ausübt.²²

Obwohl keine Längsschnittstudie vorliegt, wird im Folgenden das Modell der KoKonstruktion und das Zusammenspiel der einzelnen Instanzen empirisch überprüft. Dadurch, dass Schüler der 5. bis 12. Jahrgangsstufe an der Studie teilgenommen haben, ist es zwar –  anders als dies bei einer Längsschnittstudie der Fall wäre  – nicht möglich Veränderungen bei den Individuen festzustellen, dennoch können 21 Vgl. Groeben / Schroeder 2004, S. 308, 340, 343. 22 Philipp 2011, S. 143.

32   

   3 Theoretische Ansätze

Unterschiede zwischen Befragten unterschiedlichen Alters herausgearbeitet werden. Neben den Instanzen Familie, Schule und Peers sollen auf der Meso-Ebene aber auch die öffentliche Bücherei, die Schulbücherei und die Buchhandlung mit einbezogen werden. Sie sind zwar keine Sozialisationsinstanzen im engen Sinn, haben aber durchaus Auswirkungen auf die Lesesozialisation der Heranwachsenden. In Abb. 3.4 sind alle für diese Arbeit relevanten Ebenen und Akteure dargestellt. Auf die Wiedergabe der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Ebenen wird der Übersichtlichkeit wegen verzichtet, sie treffen aber genauso zu wie in Abb. 3.3. Zusammenhänge mit der öffentlichen Bücherei und Buchhandlungen sind vor allem im familiären Bereich zu vermuten – beispielsweise durch gemeinsame Besuche in der Kindheit. Die Schulbücherei entzieht sich dagegen dem familiären Einfluss, hier spielt die Schule eine größere Rolle – und theoretisch die Peers, falls der Freundeskreis dieselbe Schule besucht und die Bücherei gemeinsam aufsucht. Allerdings kann der Zusammenhang zwischen der Schulbücherei und den Peers sowie auch zwischen der öffentlichen Bücherei bzw. der Buchhandlung und den Peers im Folgenden nicht ausführlich untersucht werden, da hierfür der Fragebogen einen stärkeren Fokus auf diesen Bereich hätte legen müssen – was aus Gründen der eingeschränkten Bearbeitungs- und Konzentrationsdauer der Schüler nicht möglich war.

MakroEbene

Gesellschaft/ Normen

Öffentliche Bücherei

Schulbücherei

Buchhandlung

MesoEbene Familie

MikroEbene

Schule

Peers

Individuum

Abb. 3.4: Ebenen und Akteure der Lesesozialisation (eigene Darstellung basierend auf Garbe 2009, S. 172).

3.2 Lesemodi nach Werner Graf   

   33

Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an den verschiedenen Ebenen. Die Makro-Ebene wird allerdings in keinem separaten Kapitel untersucht, da die übergeordneten Strukturen nicht im Fragebogen abgebildet werden konnten. In den Kapiteln 5 bis 8 wird die Meso-Ebene beschrieben: Zunächst wird die Rolle des Buchkaufs und der Leihe aufgegriffen, bevor auf die Buchgeschenke und den Buchbesitz eingegangen wird (Kapitel 5). Auch wenn dabei die verschiedenen Ebenen nicht in allen Fällen strikt voneinander getrennt werden können – da beim Buchbesitz auch der Besitz des Individuums analysiert wird  – liegt der klare Schwerpunkt des Kapitels auf der MesoEbene, weil in erster Linie die Büchereien und Buchhandlungen betrachtet werden sowie die Bedeutung der Familie und der Peers für die Buchbeschaffung untersucht wird. Es folgt die Darstellung der Rolle der Familie (Kapitel 6), der Schule (Kapitel 7) und der Peers (Kapitel 8). Im Anschluss liegt der Fokus auf der Mikro-Ebene: Kapitel 9 befasst sich mit dem Individuum. Abschließend werden die Befunde aus den vorherigen Kapiteln in Kapitel 10 übergeordnet auf der Meso-Ebene betrachtet, indem die Zusammenhänge zwischen den Instanzen Familie, Schule und Peers differenziert analysiert werden.

3.2 Lesemodi nach Werner Graf Werner Graf, der wichtigste Vertreter der Lesebiographieforschung im deutschsprachigen Raum, hat Lektüreautobiographien von jungen Erwachsenen analysiert, um Aussagen über Leseweisen zu treffen. Dabei wird den Teilnehmern ein Locktext²³ vorgelegt, darunter versteht man eine Sammlung mit inhaltlich breit gestreuten Zitaten zur Lesebiographie. Dieser Text erleichtert es den Probanden ihre Erinnerungen und Einstellungen zum Lesen niederzuschreiben, ohne dass ein vorgegebenes Frageschema ihre Antworten beeinflusst, wie das bei einem Fragebogen der Fall wäre. Die Schreibzeit beträgt 90 Minuten, die Datenerhebung erfolgt anonym.²⁴ Leider wird bei Graf nicht deutlich, wie er die Auswahl der Probanden getroffen hat. In einem Beitrag von 1995 gibt er an, dass er ungefähr 300 Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen Lektüreautobiographien schreiben ließ.²⁵ Als Graf 2004 die Modi der literarischen Rezeptionskompetenz erarbeitete, lagen ihm ungefähr 1.000 Texte von jungen Erwachsenen vor  – wie sich die Probandengruppe zusammensetzt, wird nicht erwähnt.²⁶ Auch Maik Philipp weist in diesem Zusammenhang auf Problematiken hin: „Es handelt sich vorwiegend um Selbstauskünfte aus der Feder von Studierenden vornehmlich des Lehramts Fach Deutsch, hauptsächlich aus

23 Der Locktext zum Thema Lesen ist bei Graf 2007, S. 4–6 abgedruckt. 24 Vgl. Graf 2004, S. 18 f.; Graf 2007, S. 4. 25 Vgl. Graf 1995, S. 98. 26 Vgl. Graf 2004, S. 18.

34   

   3 Theoretische Ansätze

den 1980er und 1990er Jahren.“²⁷ Die Ergebnisse müssen daher kritisch hinterfragt werden, einerseits weil sich die untersuchte Personengruppe vermutlich in erster Linie aus der Mittel- bzw. Oberschicht zusammensetzt und Studierende des Fachs Deutsch in den meisten Fällen dem Lesen positiv gegenüberstehen, andererseits auch, weil die Ergebnisse sich hauptsächlich auf das Bücherlesen konzentrieren. Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre, aber beispielsweise auch die Rolle von Computer und Internet oder gar E-Books für das Lesen wurden nicht ausführlich beleuchtet bzw. konnten nicht analysiert werden, da sie damals noch keine (wichtige) Rolle spielten. Auch nach welchem konkreten Auswertungsschema Graf die Texte analysiert hat, bleibt unklar. Trotz dieser Einschränkungen konnte Graf sieben Modi der literarischen Rezeptionskompetenz herausarbeiten, die aus theoriegestützten Überlegungen heraus ungeachtet der methodischen Schwächen im Hinblick auf die empirischen Ergebnisse als sinnvolle und etablierte Kategorisierung anzusehen sind: Modi werden definiert als in der literarischen Sozialisation erworbene Handlungsdispositionen, die spezifische Rezeptionsweisen ermöglichen, um Texte subjektbezogen zu nutzen, also um z. B. Bedürfnisse zu befriedigen, um Interessen zu realisieren oder um Notwendiges zu bearbeiten, um Wissen zu erwerben, um Erfahrungen zu machen oder um Kunst zu genießen.²⁸

Graf bezeichnet mit den Lesemodi also Zwecke und Anlässe, die mit der Lektüre von Texten verbunden sind. Die Modi haben ursprünglich das Leseverhalten von jungen Erwachsenen beschrieben. Die Lesemodi sollen in dieser Untersuchung auf jüngere Leser, nämlich ab der 5.  Jahrgangsstufe angewendet werden. Anders als bei Graf erfolgt die Überprüfung der Relevanz der einzelnen Modi nicht anhand selbst verfasster Texte, sondern wird in einem Fragebogen abgefragt. Anhand der Merkmale, die für die verschiedenen Modi charakteristisch sind, wurden für die vorliegende Studie Items entwickelt, die diese abbilden²⁹. Im Folgenden werden zunächst jeweils die Modi nach Graf beschrieben und im Anschluss die Übertragung dieser Charakteristika für die Anwendung im Fragebogen erläutert. Die Zusammenstellung der Items erfolgte mithilfe der Auswertungen von Graf: Beispielhafte Aussagen wurden übernommen bzw. Sätze generiert, die den jeweiligen Lesemodus besonders gut beschreiben. Pro Lesemodus bzw. Element des Modus wurde mindestens ein Item generiert, um abzufragen, wie relevant der jeweilige Modus für die Befragten ist. Für eine definitive Aussage wären mindestens zwei Items pro Element eines Modus wünschenswert. Da die Abfrage für die Befragten nicht zu umfangreich werden sollte, war dies aber nicht für alle Modi möglich.

27 Philipp 2011, S. 20. 28 Graf 2004, S. 120. 29 Vgl. Fragebogen im Anhang, S. 361, Aussagen unter Punkt V 15.

3.2 Lesemodi nach Werner Graf   

   35

Für jeden Lesemodus wird für die Schüler die Zustimmung und damit die Relevanz für das Lesen berechnet. Leser unterscheiden bei der Lektüre zwischen dem freiwilligen und dem verpflichteten Lesen. Lesemodus eins beschäftigt sich mit der Pflichtlektüre: Sie ist durch die drei Elemente institutioneller Zusammenhang, Funktion im Lern- und Arbeitsprozess und Pflicht geprägt. Zum institutionellen Zusammenhang gehört allgemein beispielsweise die Lektüre im Rahmen des Studiums, der Berufsausbildung oder der Weiterbildung. Im konkreten Beispiel dieser Arbeit ist damit die Lektüre gemeint, die für das schulische Lernen notwendig ist. Neben Sachtexten fallen in diese Kategorie daher auch fiktionale Texte, die im Deutschunterricht behandelt werden. Das Element institutioneller Zusammenhang wird mit der Aussage „Ich lese oft, um mich auf den Unterricht vorzubereiten.“ im Fragebogen abgebildet. Mit der Funktion im Lern- und Arbeitsprozess ist gemeint, dass durch die Lektüre Ziele erreicht werden sollen, die sich aus dem institutionellen Rahmen ergeben. Im Fragebogen ist dieses Element durch die Aussage „Lesen hilft mir, wichtiges Wissen für die Schule zu erwerben.“ vertreten. Dass es sich bei diesem Modus nicht um intrinsische, sondern um extrinsische Lesemotivation handelt, wird durch die Bezeichnung als Pflichtlektüre deutlich. Gekennzeichnet ist diese Art des Lesens auf der einen Seite durch den Zwang zur Lektüre, auf der anderen Seite aber manchmal auch dadurch, dass das Lesen vom Individuum als notwendig angesehen wird, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.³⁰ Modus zwei ist das instrumentelle Lesen. Typisch dafür ist, dass gezielt Informationen gesucht werden, beispielsweise in Nachschlagewerken. Dieser pragmatische Lesemodus dient zwar –  ebenso wie die Pflichtlektüre  – der Informationsbeschaffung, ist im Gegensatz zu ihr aber freiwillig. Für diesen Modus haben Printmedien eine vergleichsweise geringe Bedeutung, stattdessen ist laut Graf vor allem das Internet relevant, um schnell an kurze interessierende Informationen zu gelangen.³¹ Die folgenden drei Aussagen überprüfen im Fragebogen die Relevanz des instrumentellen Lesens: „Beim Lesen wähle ich auf der Suche nach Informationen ganz gezielt aus.“, „Lesen hilft mir, mich zu informieren.“ und „Die Möglichkeit mich durch Lesen kurz und knapp zu informieren, spielt für mich keine Rolle.“. Die letzte Aussage ist umkodiert, das heißt, dass große Zustimmung zu diesem Satz bedeutet, dass für die Befragten das instrumentelle Lesen keine Rolle spielt. Durch umkodierte Items ist es möglich Personen herauszufiltern, die den Aussagen generell zustimmen bzw. die diese prinzipiell ablehnen. Für den dritten Lesemodus, das intime Lesen, ist charakteristisch, dass die Leser emotional stark involviert sind. Dies ist besonders bei Unterhaltungsromanen der Fall. Der Lesemodus ist intrinsisch motiviert und wird vor allem von weiblichen Lesern praktiziert. Der Leser identifiziert sich mit der Hauptperson, die Texte regen seine Fantasie an. Das intime Lesen ist gekennzeichnet durch das Flow-Erlebnis des Lesers. 30 Vgl. Graf 2004, S. 31 f., 41. 31 Vgl. Graf 2004, S. 42, 47.

36   

   3 Theoretische Ansätze

Typischerweise handelt es sich um spannende und entspannende Texte, in die die Person eintaucht³²: „Der Leser mutiert zum anwesenden Beobachter, der zwar in die Geschichte nicht handelnd (interaktiv) eingreifen kann, der sie aber miterlebt.“³³ Die inhaltsunspezifische Bedürfnisbefriedigung steht im Vordergrund, weshalb der Leser oft auch schnell den Inhalt des Textes vergisst.³⁴ Die Aussagen „Wenn ich einen Text lese, versinke ich häufig in der Welt des Gelesenen.“ und „Beim Lesen fühle ich mit der Hauptperson mit.“ fragen die Bedeutung des intimen Lesens für die Schüler ab. Modus vier bezeichnet das Lesen als Partizipation. Dieses Lesen geschieht freiwillig, der Lesemodus zeichnet sich durch eine soziale oder kommunikative Facette aus. Charakteristika für die Lektüre sowohl von fiktionalen Texten als auch von Sachtexten sind hierbei, dass die Lektüre ein Medium sozialer Teilnahme ist, dass Aktualität eine wichtige Rolle spielt, dass ein Transfer des Gelesenen möglich ist und dass zum Zweck der Bildung gelesen wird. Laut Graf ist dieser Lektüremodus dominierend beim Lesen von Sachtexten aus eigenem Antrieb, vor allem bei männlichen Lesern ist er relevant. Im Gegensatz zum intimen Lesemodus steht hier nicht die einsame Lektüre im Vordergrund, stattdessen ist das partizipatorische Lesen durch seinen Außenbezug gekennzeichnet.³⁵ Diese soziale und kommunikative Dimension wird im Fragebogen durch die sachtextbezogene Aussage „Ich lese, damit ich mich mit anderen über bestimmte Themen unterhalten kann.“ und die literaturbezogene Aussage „Ich lese, damit ich mit anderen über diese Bücher sprechen kann.“ abgebildet. Lesen dient in diesem Fall dazu, dass Anschlusskommunikation ermöglicht wird. Um an öffentlichen Diskussionen teilnehmen zu können, sind vor allem die aktuellen Nachrichten relevant. Neben der Zeitungslektüre sind dafür auch das Internet, Fachmagazine und das populäre Sachbuch bedeutsam. Darüber hinaus kann aber auch die Lektüre fiktionaler Texte das Ziel haben am literarischen Leben teilnehmen zu können, beispielsweise wenn Literatur der Bestsellerliste konsumiert wird.³⁶ Im Fragebogen wird die Aktualität durch die Aussage „Ich lese, um auf dem Laufenden zu bleiben.“ abgefragt. Wenn die Transferebene im Vordergrund steht, wird das Lesen mit pragmatischen Bezügen genutzt. Dieser pragmatische Zusammenhang ist beispielsweise für die Freizeitgestaltung gegeben, wenn Texte zum Hobby rezipiert werden, um Wissen darüber zu erlangen.³⁷ Die Aussage „Ich lese keine Texte, die von meinen Hobbys handeln.“³⁸ befasst sich im Fragebogen mit diesem Element. Auch Lektüre zum Zweck der Lebenshilfe bzw. als Ratgeber fällt in den Bereich des Transfers. Texte zur Lebens-

32 Vgl. Graf 2004, S. 49, 52, 55, 57–59, 62. 33 Graf 2004, S. 55. 34 Vgl. Graf 2004, S 97. 35 Vgl. Graf 2004, S. 71 f. 36 Vgl. Graf 2004, S. 72, 76, 78–80. 37 Vgl. Graf 2004, S. 80 f. 38 Dieses Item wurde für die Auswertung umkodiert.

3.2 Lesemodi nach Werner Graf   

   37

hilfe sollen beispielsweise in schwierigen Lebensabschnitten bzw. bei Problemen Lösungen anbieten, die auf die eigene Situation und das eigene Handeln übertragen werden können. Wenn Lektüre der Lebenshilfe dienen soll, werden normalerweise Sachtexte präferiert – z. B. Zeitschriften oder Bücher mit psychologischen Themen. Bei Ratgebern soll das Gelesene ebenfalls im Alltag praktisch angewendet werden, hier ist der Übergang zur Unterhaltungslektüre allerdings teilweise fließend – wenn beispielsweise Reiseführer zum nächsten Urlaubziel konsumiert werden.³⁹ Für den Bereich Lebenshilfe und Ratgeber wurde die Aussage „Dinge, die ich beim Lesen erfahre, helfen mir oft im Alltag.“ in den Fragebogen aufgenommen. Das vierte und letzte Element des partizipatorischen Lesens bildet die Lektüre zu Bildungszwecken: Hierbei unterscheidet man zwischen der Allgemeinbildung und der literarischen Bildung.⁴⁰ Für die Allgemeinbildung steht die Aussage „Ich lese oft, weil es für meine Allgemeinbildung wichtig ist.“, für die literarische Bildung die Aussage „Ich lese, um viele wichtige Bücher kennenzulernen.“. Der fünfte Lesemodus ist das Konzeptlesen. Es dient häufig Informations- oder Bildungszwecken, ist aber im Gegensatz zum instrumentellen Lesen nicht situativ und punktuell, sondern dient dazu, ein Interessengebiet – beispielsweise eine bestimmte Epoche oder ein bestimmtes Land  – möglichst gründlich und vollständig zu erfassen. Dafür sind sowohl fiktionale als auch nicht-fiktionale Texte relevant, die intrinsisch motiviert rezipiert werden. Anders als beim intimen Lesemodus hält der Leser hier aber durch ein gezieltes Leseprogramm emotionale Distanz zu den Texten. Auch Anschlusskommunikation spielt nach Graf anders als beim partizipatorischen Lesen keine oder eine untergeordnete Rolle. Der Zweck der Lektüre besteht im Ansammeln von Wissen. Im Vergleich zum Lesen als Transfer, das beim partizipatorischen Modus bei der Lektüre von Ratgebern oder Texten für das Hobby von Bedeutung ist, ist die Intensität beim Konzeptlesen stärker, außerdem sucht die Person nicht in erster Linie den Alltagsbezug, sondern findet die Lektüre für ihre spezifischen Interessen bedeutsam.⁴¹ Folgende Aussagen stehen im Fragebogen für das Konzeptlesen: „Wenn mich ein Thema interessiert, lese ich dazu alles, was ich finde.“ und „Zu Themen, die ich interessant finde, lese ich viele Texte verschiedener Art.“. Das Lesen zur diskursiven Erkenntnis ist Modus sechs. Im Unterschied zum Konzeptlesen steht nicht die Aneignung von Wissen, sondern das Erkenntnisinteresse im Vordergrund. Der Fokus liegt somit auf der Veränderung und Negation vorhandener Wissensstrukturen durch für den Leser neue Erkenntnisse. Die Lektüre trägt ihren Zweck in sich, wird also nicht rezipiert, um Informationen für andere Zwecke zu sammeln. Bei dieser freiwilligen Lektüre setzt sich der Leser kritisch mit meist nichtfiktionalen Texten auseinander, aktiviert dabei sein Vorwissen und versucht gegebenenfalls auftretende Unklarheiten zu beseitigen. Von besonderer Bedeutung ist daher 39 Vgl. Graf 2004, S. 83–85, 87. 40 Vgl. Graf 2004, S. 88 f. 41 Vgl. Graf 2004. S. 91–95, 98.

38   

   3 Theoretische Ansätze

der Prozesscharakter, da eine Wechselbeziehung zwischen den Informationen im Text und dem eigenen Vorwissen besteht. Für diesen Lesemodus ist eine analytische Lesekompetenz nötig, die sich überwiegend erst in der gymnasialen Oberstufe entwickelt – und normalerweise nur bei höher gebildeten Personen.⁴² Daher wurde dieser Lesemodus nur in die Fragebogenversion für Schüler ab der 10. Jahrgangsstufe aufgenommen. Die Aussagen „Ich lese, weil ich dadurch neue Erkenntnisse gewinne.“ und „Ich setze mich oft kritisch mit Texten auseinander.“ stehen für diesen Modus. Der siebte und letzte ist der ästhetische Lesemodus. Er ist gekennzeichnet durch die Zweckfreiheit der Lektüre, bedeutend ist nur die hohe literarische Qualität. Die Freude an der ästhetischen Form steht im Vordergrund, daher müssen die literarischen Texte auch nicht in erster Linie leicht verständlich sein, die Inhalte sollen nämlich nicht durch Sprache vereinfacht werden. Der Leser muss deshalb sprachlich sensibel sein, um konnotative Elemente wie beispielsweise Anspielungen und Metaphorik zu verstehen. Außerdem muss er auch über Kenntnisse von Textbauformen verfügen, um die textinterne Referenzialität zu verstehen. Um Beziehungen zwischen verschiedenen Texten herstellen zu können, muss die Person belesen sein und über Weltwissen verfügen.⁴³ Dieser Lesemodus erfordert eine hohe Lesekompetenz, weswegen die folgenden Aussagen ebenfalls nur Schülern ab der 10. Jahrgangsstufe vorgelegt wurden: „Sprachlich schön geschriebene Texte lese ich nicht in erster Linie wegen ihres Inhalts, sondern wegen des Schreibstils.“ und „Beim Lesen kommt es mir nicht darauf an, dass der Text kunstvoll geschrieben ist.“⁴⁴. Unterschiedliche Personen nutzen verschiedene Lesemodi. Für einige sind nur wenige Modi von Bedeutung, andere können alle Modi einsetzen. Graf stellt dazu fest: „Allgemein bezeichnet der Begriff Lesekonstruktion das persönliche Lesevermögen, also welche Lesemodi in welcher Intensität und Kombination ein Individuum nutzen kann.“⁴⁵ Ideal ist es, wenn ein Leser flexibel alle Lesemodi nutzen kann. Je nach spezifischem Bedürfnis kann dann die passende Variante ausgewählt werden.⁴⁶ Garbe hält dazu fest: Unter normativer Perspektive sollte das Ziel einer ganzheitilichen Lesesozialisation darin bestehen, Kindern und Jugendlichen sämtliche Rezeptionsmodi von Texten zugänglich zu machen und sie nicht etwa einseitig auf einen Modus (z. B. des ästhetischen Lesens) auszurichten.⁴⁷

Allerdings ist nicht immer eine klare Trennung der Lesemodi voneinander möglich. So kann oft nur im Einzelfall bestimmt werden, welcher Modus vorliegt. Ein historischer Roman kann beispielsweise einerseits im intimen Lesemodus rezipiert werden, 42 Vgl. Graf 2004, S. 102–106. 43 Vgl. Graf 107, 115. 44 Dieses Item wurde für die Auswertung umkodiert. 45 Graf 2004, S. 128 f. 46 Vgl. Graf 2004, S. 131. 47 Garbe 2009. S. 175 f.

3.2 Lesemodi nach Werner Graf   

   39

wenn die Identifikation mit der Hauptperson im Vordergrund steht. Andererseits könnte auch das Interesse an den historischen Zusammenhängen lesebestimmend sein, in diesem Fall würde es dem Konzeptlesen zugeordnet werden. Ein weiteres Beispiel wären künstlerische Texte: Diese werden teilweise im ästhetischen Modus gelesen, im Schulkontext finden sie sich aber als Pflichtlektüre wieder.⁴⁸ Auch wenn hier deutlich wird, dass die Lesemodi sich teilweise überlagern oder sogar miteinander verbinden können, sollen sie im Folgenden quantitativ überprüft werden. Durch die Abfrage der Bedeutung der unterschiedlichen Lesemodi für Schüler ab der 5. Jahrgangsstufe wird erstmals die Rolle der verschiedenen Modi für Kinder und Jugendliche untersucht. Anders als bei Graf werden nicht nur Personen mit einem hohen Bildungsgrad einbezogen, vielmehr soll ein umfassendes Bild entworfen werden, das es erlaubt nach Alter, Geschlecht und besuchter Schulart der Befragten zu differenzieren. Neben Unterschieden in der Stichprobe existieren auch gravierende Differenzen in der Umsetzung. Durch die quantitative Herangehensweise sind die Antworten besser vergleichbar und können in Beziehung zu anderen Ergebnissen der Studie gesetzt werden. Dadurch kann beispielsweise überprüft werden, ob Schüler, für die das intime Lesen eine große Bedeutung hat, auch eine hohe intrinsische Lesemotivation aufweisen. Abbildung 3.5 verdeutlicht zusammenfassend den Verlauf der Lesesozialisation bis zum Ende der gymnasialen Schulzeit mit den relevanten Lesesozialisationsinstanzen (siehe auch Kapitel  1) und möglichen angewendeten Lesemodi, wobei die Modi Pflichtlektüre und instrumentelles Lesen nicht nur für Nicht- und Wenigleser, sondern für alle Leser relevant sind. Die Instanzen sind danach geordnet, als wie wichtig sie eingeschätzt werden, wobei diejenigen, die nach bisherigen Erkenntnissen die größte Bedeutung haben, jeweils durch Fettdruck hervorgehoben sind. Die Bedeutung der Lesesozialisationsinstanzen im Zusammenhang mit Ausbildung und Studium werden in dieser Abbildung nicht berücksichtigt, da sie für diese Studie keine Rolle spielen. Im Rahmen dieser Arbeit wird überprüft, inwiefern das Verlaufsmodell für die befragten Schüler ab der 5. Jahrgangsstufe tatsächlich zutrifft.

48 Vgl. Graf 2004, S. 83, 97, 112.

40   

   3 Theoretische Ansätze

Bedeutende Instanzen der Lesesozialisation Familie, Kindergarten

Grundschule

Familie, Schule, Bücherei, Peers

Schule, Peers, Familie

Leseknick àAbwanderung zu anderen Medien

Primäre literarische Initiation (Vorleseerlebnisse, Wortspiele usw.)

Schriftspracherwerb

Phase der lustvollen Lesekrise Kinderlektüre

Peers, Schule/Deutschlehrer, Bücherei, Familie

Nicht- oder Wenigleser

Instrumentelles Lesen Sach- und Fachtextleser

Sekundarstufe I: Pubertät (12 bis ca. 14/15 Jahre)

Lesen zur diskursiven Erkenntnis Konzeptlesen Partizipatorisches Lesen

Sekundäre literarische Initiation Frühe Schuleintritt Grundschule: Kindheit Kindheit/ (7/8 bis ca. Vorschulalter 11 Jahre)

Pflichtlektüre

Ästhetisches Lesen Intimes Lesen

Sekundarstufe II: Jugend, Adoleszenz

Ontogenetische Entwicklungsphase, biographisches Ereignis Abb. 3.5: Verlaufsmodell der Lesesozialisation (modifizierte eigene Darstellung basierend auf Graf 2004, 2007, Philipp 2011, S. 20).

4 Methodik Diese Arbeit basiert auf einer Fragebogenbefragung¹, die zwischen März und Dezember 2013 an weiterführenden Schulen in Hessen und Thüringen durchgeführt wurde. Der Pretest fand im Dezember 2012 bei bayerischen Hauptschülern der 6. Jahrgangsstufe statt. Im Anschluss wurde ein Teil der Fragen leicht modifiziert. Die Befragung wurde vom hessischen Kultusministerium bzw. dem staatlichen Schulamt Ostthüringen genehmigt. Um ein größtmögliches Maß an Repräsentativität zu gewährleisten, erfolgte die Auswahl der Befragten mehrstufig: In einem ersten Schritt wurden die Schulen mittels einer zweifach geschichteten Stichprobe gezogen (Schichtungsmerkmale Stadt vs. Land und Schulart). Die Schichtung sollte bewirken, dass einerseits eine gleichmäßige Verteilung in Bezug auf städtische und ländliche Schulen erzielt wurde, da z. B. Unterschiede in der Erreichbarkeit von Buchhandlungen und öffentlichen Büchereien erwartet wurden und damit eventuell auch Unterschiede in der Beschaffung von Lesestoffen. Deshalb wurden alle Schulen dem Bereich Stadt zugeteilt, wenn sie in einem Ort mit mindestens 100.000 Einwohnern angesiedelt waren bzw. dem Bereich Land zugeordnet, wenn dort weniger als 100.000 Personen wohnten. Andererseits sollten in der Stichprobe verschiedene Schularten berücksichtigt werden. Deshalb wurde für die hessischen Schulen zwischen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien unterschieden. Für die thüringischen Schulen wurde zwischen Regelschulen und Gymnasien differenziert, da dort keine Unterscheidung zwischen Haupt- und Realschulen existiert. Für Hessen wurden zunächst 2 Hauptschulen, 2 Realschulen und 2 Gymnasien ausgewählt, allerdings wurde die Stichprobe um eine Haupt- und Realschule ergänzt, da der Rücklauf bei den anderen Schulen dieser Schularten teilweise unterdurchschnittlich war und an dieser Schule die Haupt- und Realschüler zum Teil dieselben Klassen besuchten. Für Thüringen wurden neben 2 Gymnasien 4 Regelschulen ausgewählt – da sowohl diejenigen Schüler Regelschulen besuchen, die den Hauptschulabschluss erwerben, als auch diejenigen, die den Realschulabschluss anstreben, ist die Anzahl der gewählten Schulen entsprechend größer. Wenn die Befragung an den gezogenen Schulen nicht genehmigt wurde, wurden neue Schulen ausgewählt, die den Kriterien entsprachen. Wenn die Befragung durch die Schule genehmigt wurde, wurden in einem zweiten Schritt im Sinne einer Clusterstichprobe die Klassen bestimmt, die einbezogen werden sollten. Bis auf eine Ausnahme – die hessische Haupt- und Realschule, deren Schüler alle befragt werden sollten – wurde an jeder Schule pro Jahrgang eine Klasse ausgewählt, deren Schüler alle an der Untersuchung teilnehmen sollten. Abb. 4.1 zeigt die Zusammensetzung der Stichprobe: In Schritt 2 ist jeweils aufgelistet, welche Klassenstufen ursprünglich einbezogen werden sollten und in Klammern ist dargestellt, wie viele Schüler welcher Jahrgangsstufen tatsächlich teilgenommen

1 Der Fragebogen ist im Anhang aufgeführt.

42   

   4 Methodik

haben. Wenn in Klammern keine Angaben zu den Jahrgangsstufen gemacht werden, haben alle Klassen wie geplant teilgenommen.

Bundesland Hessen Lage des Schulortes

1. Schritt

Hauptschule

Stadt

Thüringen 2. Schritt

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 9; (41 Teilnehmer)

Realschule

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 10; (121 Teilnehmer der Klassen 5 bis 8 und 10)

Gymnasium

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 12; (135 Teilnehmer der Klassen 5 bis 10)

Hauptschule

Realschule

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 9; (65 Teilnehmer)

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 10; (41 Teilnehmer der Klassen 5 bis 9)

1. Schritt

2. Schritt

Regelschule I

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 10; (136 Teilnehmer der Klassen 5 bis 8 und 10)

Regelschule II

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 10; (34 Teilnehmer der Klassen 5 bis 7)

Gymnasium

Regelschule I

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 12; (164 Teilnehmer)

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 10; (96Teilnehmer)

Regelschule II

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 10; (78 Teilnehmer der Klassen 5 bis 9)

Gymnasium

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 12; (124 Teilnehmer der Klassen 5 bis 11)

Land Haupt- und Realschule

Gymnasium

alle Schüler der Jahrgangsstufen 5 bis 10; (180 Teilnehmer)

je eine Klasse der Jahrgangsstufen 5 bis 12; (132 Teilnehmer)

Abb. 4.1: Zusammensetzung der Stichprobe.

3.2 Lesemodi nach Werner Graf   

   43

Bei minderjährigen Schülern war für die Teilnahme zusätzlich zum eigenen Einverständnis der Kinder und Jugendlichen eine Einverständniserklärung der Eltern notwendig. Da nicht für alle Klassen die exakte Anzahl der Schüler bekannt ist, an die die Einverständniserklärungen ausgeteilt wurden, kann keine genaue Rücklaufquote berechnet werden. Bei den Klassen, für die die Schülerzahl vorliegt, lag die Rücklaufquote bei 72 %. Nicht teilgenommen haben Schüler, die keine Einverständniserklärung der Eltern abgegeben haben, nicht teilnehmen wollten oder am Tag der Befragung nicht anwesend waren  – beispielsweise wegen Krankheit, einer Klassenfahrt oder weil sie zu dieser Zeit ihre Abschlussprüfungen ablegten. Wenn ganze Klassen bzw. Jahrgänge z. B. aus Zeitgründen für die Befragung nicht zur Verfügung standen, wurden sie bei der Berechnung der Rücklaufquote nicht einbezogen, da diese Schüler gar keine Möglichkeit gehabt hätten den Fragebogen auszufüllen. Die Befragung wurde nach Absprache mit den Schulen entweder persönlich durch die Verfasserin dieser Arbeit oder durch Lehrkräfte der jeweiligen Schulen durchgeführt, die vorab Hinweisblätter für den Ablauf der Befragung erhielten. Das Ausfüllen der Fragebogen war auf maximal 45 Minuten – also eine Unterrichtsstunde – angesetzt, die benötigte Zeit zur Beantwortung der Fragen schwankte allerdings je nach Alter und Bildungsgrad der Schüler, sodass ein Teil der Schüler den Fragebogen beispielsweise bereits nach 30 Minuten abschloss. An der Untersuchung nahmen insgesamt 1.347 Schüler teil, 696 Jungen und 614 Mädchen, 37 Personen machten keine Angabe zum Geschlecht. Tab. 4.1 zeigt die Altersverteilung. Tab. 4.1: Altersverteilung der Befragten. Alter

Häufigkeit

Prozent

Gültige Prozente

Kumulierte Prozente

  0,1   3,3  12,6  18,2  19,3  17,5  12,2  12,4   3,4   0,8   0,2 100,0

  0,1   3,4  16,0  34,2  53,4  70,9  83,2  95,6  99,0  99,8 100,0

Gültig

 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 Gesamt

   1   43  165  238  252  229  160  162   45   10    3 1308

  0,1   3,2  12,2  17,7  18,7  17,0  11,9  12,0   3,3   0,7   0,2  97,1

Fehlend

keine Angabe

  39

  2,9

Gesamt

1347

100,0

44   

   4 Methodik

An der Befragung haben Schüler zwischen 9 und 19 Jahren teilgenommen, der Großteil war zwischen 11 und 16 Jahren alt. Einbezogen wurden die Klassen 5 bis 12, wobei die meisten Schüler die Klassen 5 bis 10 besuchten. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass Haupt-, Real- und Regelschüler die Schule nach der 9. bzw. 10. Jahrgangsstufe verlassen, andererseits legten die höheren Jahrgänge zum Zeitpunkt der Befragung teilweise ihre Abschlussprüfungen ab bzw. waren nach den Prüfungen nicht mehr an der Schule. Es liegen Fragebogen von 125 Hauptschülern, 320 Realschülern, 344 Regelschülern und 555 Gymnasiasten vor, 3 Schüler einer Haupt- und Realschule machten keine Angabe dazu, welchen Schulzweig sie besuchten. 632 Schüler besuchten eine Schule in Thüringen, 715 eine hessische Schule. 631 Kinder und Jugendliche besuchten eine Schule, die sich in einer Stadt mit mindestens 100.000 Einwohnern befindet, die Schule von 716 Heranwachsenden ist in einem Ort mit unter 100.000 Einwohnern. 80 % haben Deutsch als Muttersprache, 17 % eine andere Sprache² und 3 % Deutsch und eine andere Sprache. An den Schulen in Großstädten war die Quote an Personen, die nicht (auch) Deutsch als Muttersprache haben, mit 23 % allerdings mehr als doppelt so hoch wie in ländlichen Gebieten (11 %). Bei der Interpretation der Daten ist außerdem zu berücksichtigen, dass Schüler mit einer anderen Muttersprache als Deutsch zu einem höheren Anteil formal niedrige Schulen besuchen als Schüler, die Deutsch als Muttersprache haben. Tab. 4.2 zeigt die Verteilung auf die verschiedenen Schularten für die Befragten, die ihre Muttersprache im Fragebogen angegeben haben. So besuchen diejenigen, die Deutsch als ihre Muttersprache nannten, nur zu 5 % eine Hauptschule, aber zu 47 % ein Gymnasium, während die Schüler mit einer anderen Muttersprache zu 25 % auf einer Hauptschule und nur zu 18 % auf einem Gymnasium sind. Die Auswertung der Daten erfolgte mit Hilfe des Programms PASW Statistics 18. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, wurden normalerweise jeweils nur Vergleiche zwischen den Geschlechtern, zwischen verschiedenen Schularten oder verschiedenen Altersgruppen gezogen – bei weiterer Differenzierung wären die Fallzahlen zu klein gewesen, beispielsweise bei einem Vergleich der Hauptschülerinnen der 5. Jahrgangsstufe mit den Hauptschülern der 5. Klasse. Besondere Beachtung fanden bei der Auswertung Zusammenhangsmaße, um Beziehungen zwischen den Sozialisationsinstanzen darstellen zu können. Bei Gruppenvergleichen bezüglich metrischer Merkmale wurde jeweils eine einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA) durchgeführt und der zugehörige p-Wert angegeben.

2 Diejenigen, die eine andere Muttersprache als Deutsch haben, haben am häufigsten Türkisch als Muttersprache (72 Nennungen). Am zweithäufigsten wurde Russisch genannt (58 Nennungen), am dritthäufigsten Polnisch (13 Nennungen). Englisch wurde von 11 Befragten, Italienisch von 10 Schülern als Muttersprache angegeben. Alle anderen Sprachen wurden von weniger als 10 Personen genannt.

3.2 Lesemodi nach Werner Graf   

   45

Tab. 4.2: Muttersprache der Befragten nach besuchter Schulart. Muttersprache

Häufigkeit

Prozent

Deutsch

Gültig

Hauptschule Realschule Gymnasium Regelschule Gesamtsumme

  56  191  486  312 1045

  5,4  18,3  46,5  29,9 100,0

eine andere Sprache

Gültig

Hauptschule Realschule Gymnasium Regelschule Gesamtsumme

 55 106  39  16 216

 25,5  49,1  18,1   7,4 100,0

Deutsch und eine andere Sprache

Gültig

Hauptschule Realschule Gymnasium Regelschule Gesamtsumme

 6 18 14  4 42

 14,3  42,9  33,3   9,5 100,0

Ein Teil der ordinalskalierten Items wurde als quasi-metrisch angenommen, da bei ihnen die Bezeichnungen für die Skalenpunkte so formuliert wurden, dass sie äquidistant verteilt sind. Dies trifft beispielsweise auf Items zu, deren Skalenpunkte mit „stimme sehr zu“, „stimme eher zu“, „stimme eher nicht zu“ und „stimme überhaupt nicht“ zu bezeichnet wurden bzw. auf Aussagen, bei denen auf einer sechsstufigen Skala von „sehr oft“ bis „nie“ (ohne Unterbezeichnungen zwischen Anfangs- und Endpunkt der Skala) ausgewählt werden konnte. Dadurch ist es möglich, für diese Items Mittelwerte zu berechnen. In den Fragebogen wurden einerseits Fragen aufgenommen, die so oder so ähnlich in Befragungen verwendet wurden, die sich mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigt haben. Dies ermöglicht den direkten Vergleich mit diesen Ergebnissen. Für Fragestellungen, die in dieser Arbeit zum ersten Mal untersucht werden, wurden neue Fragen konzipiert. Die Zusammenstellung des Fragbogens orientierte sich an den verschiedenen Lesesozialisationsinstanzen bzw. an den interessierenden Merkmalen der Individuen. Darüber hinaus wurden folgende soziodemographische Merkmale erhoben: Geschlecht, Alter, besuchte Jahrgangsstufe, besuchte Schulart, Lage des Schulortes, Bundesland, kulturelle Herkunft, Muttersprache, Anzahl und Alter der Geschwister, Haushaltsstruktur, Bildungsgrad der Eltern und sozio-ökonomischer Status. In den einzelnen Kapiteln zum Buchbeschaffungsverhalten und Buchbesitz, zur Familie, zur Schule, zu den Peers und zum Individuum werden jeweils die wichtigsten Fragen, die zu diesem Themenkomplex im Fragebogen gestellt wurden, kurz erläutert. Abb. 4.2 zeigt, wie das Modell der Ko-Konstruktion im Rahmen dieser Arbeit konkret umgesetzt wird. Zu den verschiedenen Aspekten werden jeweils die interessierenden Unterkategorien angegeben, wie sie auch im Fragebogen abgefragt

46   

   4 Methodik

wurden. Die soziodemographischen Merkmale sind dabei keiner speziellen Ebene zugeordnet, da bereits Abb. 3.3 gezeigt hat, dass die verschiedenen Merkmale auch für mehrere Ebenen relevant sein können.

Gesellschaft/Normen MakroEbene

MesoEbene

MikroEbene

Soziodemographie: Geschlecht, Alter, Jahrgangsstufe, Schulart, Lage des Schulortes, Bundesland, kulturelle Herkunft, Muttersprache, Geschwister, Haushaltsstruktur, Bildungsgrad der Eltern, sozioökonomischer Status

Buchbeschaffungsverhalten und Buchbesitz: Kauf, Leihe, Geschenke Familie: Medienverhalten der Familie, Anschlusskommunikation, frühe Lesesozialisation, Leseklima

Schule: Deutschunterricht, Auswirkungen auf die Freizeitlektüre, Leseklima

Peers: Leseverhalten der Freunde, Anschlusskommunikation, Leseorientierung

Individuum: Mediennutzung, Leseverhalten: Beliebtheit, Häufigkeit, Textarten, Buchempfehlungen, Leseabbruch, Ursachen für das Nichtlesen, Lesestrategien, Lesemodi, Lesemotivation

Abb. 4.2: Aspekte und Unterkategorien des Fragebogens für diese Arbeit.

Meso-Ebene

5 Buchbeschaffungsverhalten und Buchbesitz 5.1 Buchkauf Dieses Kapitel befasst sich schwerpunktmäßig mit der Beschaffung von Büchern in der Buchhandlung (Kapitel 5.1.1). Hierzu wurde im Fragebogen abgefragt, wie gut die nächstgelegene Buchhandlung erreichbar ist, wie häufig die Befragten eine Buchhandlung besuchen und wie oft sie Bücher in einer Buchhandlung kaufen. Untersucht werden soll beispielsweise, ob die Hypothese zutrifft, dass Kinder und Jugendliche aus der Stadt Buchhandlungen besser erreichen können als Heranwachsende vom Land und ob die Befragten aus der Stadt häufiger Buchhandlungen besuchen und dort Bücher kaufen. Darüber hinaus werden geschlechtsspezifische Unterschiede und Differenzen zwischen den verschiedenen Schularten herausgearbeitet: Es wird die Hypothese überprüft, dass Mädchen und Heranwachsende, die eine formal höhere Schule besuchen, häufiger Buchhandlungen besuchen und dort Bücher kaufen als Jungen und Schüler einer formal niedrigen Schule. Kapitel 5.1.2 betrachtet neben der Buchhandlung auch andere Kauforte, nämlich Kauf im Internet, im Kaufhaus bzw. am Kiosk und die Möglichkeit des elektronischen Herunterladens. Besonders interessieren dabei Unterschiede nach Alter, besuchter Schulart, Geschlecht und Lage des Schulortes. Des Weiteren wird dargestellt, wie viele Bücher die Befragten für sich selbst und für andere als Geschenk kaufen.

5.1.1 Buchhandlung Befragte, die eine Schule in einem Ort mit weniger als 100.000 Einwohnern besuchen, schätzen die Erreichbarkeit der nächstgelegenen Buchhandlung nicht schlechter ein als Personen, die in einem Ort mit mindestens 100.000 Einwohnern zur Schule gehen. So geben jeweils 22 % der Heranwachsenden an, dass die nächste Buchhandlung sehr gut zu erreichen ist, 37 % der Stadtschüler bzw. 39 % der Landschüler sind der Meinung, dass die Erreichbarkeit gut ist, 28 % der städtischen bzw. 27 % der Schüler vom Land konstatieren eine mittelmäßige Erreichbarkeit, jeweils 9 % beurteilen den Zugang als eher schlecht und 4 % aus der Stadt bzw. 3 % vom Land schätzen die Erreichbarkeit der nächsten Buchhandlung als sehr schlecht ein. Somit schätzen die Schüler vom Land die Erreichbarkeit der nächstgelegenen Buchhandlung ähnlich ein wie die Befragten aus der Stadt. Allerdings zeigt Abb. 5.1, dass Schüler aus ländlichen Gebieten etwas seltener als Stadtschüler eine Buchhandlung aufsuchen. So besuchen 41 % der Schüler einer Großstadtschule ungefähr einmal im Monat oder häufiger eine Buchhandlung, während es bei den Landschülern nur 28 % sind. Es wäre daher möglich, dass die Buchhandlungen für die Schüler ländlicher Schulen doch schlechter erreichbar sind,

50   

   5 Buchbeschaffungsverhalten und Buchbesitz

100,0%

18 3%

13 2%

97 16%

68 10% 114 16%

80,0%

Anzahl

137 22% 60,0%

183 26% 122 20% 87 13%

40,0% 63 10%

20,0%

144 21%

118 19%

82 12%

56 9% 0,0% Stadt

Land Lage des Schulortes

mehrmals pro Woche mehrmals im Monat ungefähr einmal im Monat

mehrmals im Jahr ungefähr einmal im Jahr

seltener nie

Abb. 5.1: Häufigkeit des Besuchs einer Buchhandlung nach Lage des Schulortes.

diese das selbst aber nicht so einschätzen – beispielsweise, weil für sie auch andere Institutionen (z. B. die Schule) schwieriger zu erreichen sind als für Heranwachsende aus Großstädten und sie daher generell größere Entfernungen weniger kritisch einschätzen. Insgesamt suchen Befragte, die angeben, dass sie die Buchhandlung gut erreichen können, etwas häufiger Buchhandlungen auf als Personen, die die Erreichbarkeit schlecht einschätzen (rS = .231; p