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German Pages 454 [456] Year 2005
jfieatron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Christopher Balme, Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 47
Matthias Heilmann
Leopold Jessner Intendant der Republik Der Weg eines deutsch-jüdischen Regisseurs aus Ostpreußen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Dem Andenken meines Großvaters Ernst Heilmann (1866-1923)
D19 Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-66047-3
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren
Inhalt
Einleitung 1.
ι
Die Lehrjahre des ostpreußischen Künstlers am Theater 1.1. Die Heimatstadt Königsberg 1.2. Der Anfang als Schauspieler 1.3. Der Lehrer Carl Heine - Neuer Ibsen-Stil und die Entdeckung Wedekinds 1.4. Zusammenarbeit mit Gustav Lindemann 1.5. Die letzten zwei Jahre vor dem Durchbruch
ig 28 32
2.
Die ersten Stationen zum modernen Regietheater 2.1. Hoffnungsträger Jessner am Thalia-Theater 2.2. Hamburg wird Wedekind-Stadt 2.3. Die Befreiung aus provinzieller Enge 2.4. Der lange Abschied vom Thalia-Theater 2.5. Jessner in der Kulturpolitik Hamburgs
33 33 42 53 66 68
3.
In Kriegszeiten Intendant in der Heimat 3.1. Königsberger Kulturleben am Ende des kaiserlichen Deutschlands 3.2. Das erste Jahr als eigenständiger Leiter
74 75 80
3.3. 3.4.
85 92
Schlaglichter in der zweiten Jessner-Saison Jessner und Königsberg im Umfeld der Revolution
8 10 15
4.
Grundlagen für das Theater der neuen Republik 4.1. Auf dem Weg zum Theater der Zeit 4.2. Das Ende des Expressionismus
105 m 117
5.
Der Anfang als Staatstheaterintendant in Berlin 5.1. Die Umwandlung zum Staatlichen Schauspielhaus 5.2. Die Verpflichtung Fritz Kortners 5.3. Der Schrei nach Freiheit in Wilhelm Teil·. Sensation und Legende
130 130 136 140
6.
Triumphe mit Kortner 6.1. Zum ersten Mal Wedekind im Staatstheater 6.2. Richard III.·. Die Ballade vom Machtrausch
170 170 187
V
7·
Die Ablösung Reinhardts durch Jessner
205
7.1.
Reinhardt verläßt Berlin
205
7.2.
Die Entdeckung Barlachs für das Theater
210
7.3.
Eine neue Sprache für Schillers Fiesco
221
8.
Othello: Ein Höhe- und Wendepunkt
230
9.
Jessner ohne Kortner
241
9.1.
Weimar zwischen Krise und Stabilität
241
9.2.
Kortners Ausstieg aus den Carlos-V robtn
245
9.3.
Die Berufung Jürgen Fehlings an das Staatstheater
257
10.
9.4.
Don Carlos: Freiheitsidee und Unterwerfung
259
9.5.
Napoleon und die Grabbe-Euphorie
263
Das Gegenwartstheater der Republik
269
10.1. Geteiltes Echo auf Macbeth und noch einmal Wilhelm Teil
269
10.2. Faust ohne deutsche Biederkeit
275
10.3. Eröffnung des Schillertheaters und Gründung der Staatlichen Schauspielschule
286
10.5.
302
Wallenstein: Humanität statt Kriegsverwilderung
10.6. Arnolt Bronnen: Der Mann des Tages in der neuen Zeit 11.
313
Jessners Kampf um Kontinuität und Erneuerung
336
11.1.
Noch einmal Grabbe und der Abgang von Krauss
336
11.2.
Hans Jose Rehfisch: Ein neuer Wedekind?
339
11.3.
Eine neue Zeit nach der Wahl Paul von Hindenburgs
343
11.4.
Der Kampf gegen reaktionäre Kunstauffassung: Herodes und Mariamne
11.5.
Hamlet·. Ein Republikaner gegen Gewaltmonarchie und Militarismus . . 356
und die Verpflichtung Piscators
12.
282
10.4. Uraufführungen und erste Proteste im Landtag
Verschärfung der Krise - Neue Siege und schleichender Machtverfall 12.1.
347
370
Hauptmann-Inszenierungen im Kontext antisemitischer Herabsetzungen
372
12.2. Jessners 50. Geburtstag: Abgesänge an einen einst Erfolgreichen?
384
12.3. Widerstände aus zwei Lagern trotz CWz/>«j-Begeisterung
392
12.4. Gefahren durch Besucherorganisationen und Feinde im eigenen Haus. . 401 13.
14.
VI
Jessners Abschied
408
13.1.
408
Die Demission
13.2. Jessner als >freier< Regisseur vor der Katastrophe
412
13.3.
415
Das Ende im Exil
Epilog
418
15-
Verzeichnis der Inszenierungen von Leopold Jessner
420
15.1.
Inszenierungen am Thalia-Theater in Hamburg (1904-1915)
420
15.2.
Inszenierungen an den Hamburger Volksschauspielen
421
15.3.
Inszenierungen am Neuen Schauspielhaus in Königsberg (1915-1919) . . . 422
15.4. Inszenierungen am Staatlichen Schauspielhaus in Berlin (1919—1933). . . . 422 15.5.
16.
17.
Gastinszenierungen von Leopold Jessner in der Weimarer Republik. . . . 428
15.6. Inszenierungen von Leopold Jessner in der Emigration
429
Literaturverzeichnis
430
16.1. Archive
430
16.2. Publikationen von Leopold Jessner
431
16.3. Sekundärliteratur
432
Personenregister
441
VII
Einleitung
Im Gegensatz zu M a x Reinhardt hat sich die Theaterwissenschaft bisher nur unzureichend mit dem Intendanten und Regisseur Leopold Jessner auseinandergesetzt. Dabei steht die überragende Bedeutung Jessners f ü r das Theater der Weimarer Republik und für die Entwicklung des Regietheaters bis zum heutigen T a g außer Zweifel. Schauspieler, Intendanz- und Regiekollegen, Schriftsteller und Kritiker belegen diese Tatsache eindeutig. Der Ostpreuße Jessner wurde an die Spitze des Staatstheaters in Berlin gewählt, als das Theater im N o v e m b e r 1918 erstmals in Deutschland in den Dienst der Demokratie trat. E l f Jahre leitete ein J u d e mit sozialdemokratischen Uberzeugungen die wichtigste Bühne der neuen Republik. In keiner anderen Theaterpersönlichkeit spiegelt sich die Geschichte der Weimarer Republik so umfassend wider. Der Mangel an wissenschaftlicher Literatur zu Jessner ist immer wieder beklagt worden. H u g o Fetting, der 1978 mit Akribie und Spürsinn die Schriften Jessners herausgegeben hat, verstand seine Zusammenstellung von Reden, Aufsätzen, Interviews etc. in erster Linie als Anregung »zur wissenschaftlichen Erschließung, vor allem aber zur schöpferischen Auseinandersetzung mit seiner Arbeit und zur kritischen A n e i g n u n g seines ungenutzten Erbes«. 1 In seinem Nachwort beklagt Fetting, daß die Dissertation von Horst Müllenmeister 2 »die einzige [sei], die bis zum heutigen T a g über das Schaffen des großen deutschen Theaterleiters u n d Regisseurs geschrieben wurde.«' Müllenmeisters Arbeit entstand in zeitlicher N ä h e zu Jessners Leben. E r hatte den Vorteil, mit einigen Weggefährten Jessners noch sprechen zu können. Dabei verläßt er sich häufig auf mündliche Uberlieferung, wertet die zahlreich vorliegenden Kritiken nur unzureichend aus, verzichtet nahezu vollständig auf Aktenmaterial, das zum Verständnis seiner Berliner Intendanz unentbehrlich ist, und verbindet es vor allem nicht mit politischen Konstellationen, die v o n Jessners künstlerischen Arbeiten nicht zu trennen sind. T r o t z einiger sachlicher Fehler kommt Müllenmeister das Verdienst zu, als einziger eine wissenschaftliche Gesamtbetrachtung über Jessner vorgelegt zu haben. Letztendlich ist Peter G a y zuzustimmen, der in seinem Standardwerk über die Kultur der Weimarer Republik in der Bibliographie Müllenmeisters Dissertation folgendermaßen beschreibt: »Brauchbare Doktorarbeit; vieles bleibt zu diesem T h e m a noch zu tun.« 4 Auch Ludwig Marcuse, über Jahrzehnte
1
2 3 4
Leopold Jessner: Schriften. Theater der zwanziger Jahre. Hrsg. von Hugo Fetting. Berlin 1979, S. 9. Horst Müllenmeister: Leopold Jessner. Geschichte eines Regiestils. Phil. Diss. Köln 1956. Vgl. Jessner 1979, S. 301. Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918—19}}, Frankfurt a. M. 1989, S. 242.
1
ein enger Vertrauter Jessners, mahnt, endlich Jessners W e r k und Wirken für das heutige Theater nutzbar zu machen: Wie lebt jene Zeit heute nach, unter den Leuten des Theaters, die diese Aufführungen nicht sehen konnten? Man pflegt zu sagen: dem Mimen und dem Regisseur und dem Theaterbildner flicht die Nachwelt keine Kränze. Weshalb eigentlich nicht? Es gibt aus jener Zeit viele sehr anschauliche Beschreibungen, verfaßt von Theater- und Kunstkritikern, Schauspielern, Regisseuren und Memoiren-Schreibern — weshalb malt kein Theater-Historiker mit Hilfe ihrer Skizzen ein Bild, das im Abglanz auch den Heutigen noch etwas von jener Zeit vermittelt?5 D e r Aufforderung Gays und Marcuses nachzukommen, ist ein Hauptanliegen des Verfassers. So wurde der schwierige und extrem langwierige Versuch unternommen, einen Gesamtüberblick über das Lebenswerk Jessners der Theaterwelt endlich vorzulegen. Ein fundamentales Problem der Jessner-Forschung ergibt sich aus der Ungewißheit über einen privaten Jessner-Nachlaß. Trotz intensiver Bemühungen von Professor Leonhard Fiedler konnte der Entwurf eines geplanten Theaterbuches, an dem Jessner in seinen letzten Lebensjahren in den U S A schrieb, nicht ausfindig gemacht werden. Außerdem haben sich Jessners N a c h k o m m e n nicht darum gekümmert, die privaten Aufzeichnungen des großen Theatermannes f ü r die Nachwelt zu sichern. Ein minimaler Bestand an Briefen, Reden und Aufsätzen ist auf ungeklärtem W e g nach Berlin zurückgekehrt. Seit 1988 verwaltet die A k a d e m i e der Künste einen Jessner-Nachlaß, der aber nur in wenigen Einzelfällen substantielle D o k u m e n t e enthält. Wesentlich ertragreicher sind die Briefwechsel Jessners mit den Kritikern Alfred Kerr und Herbert Ihering, die ebenfalls Bestandteile des Kerr- bzw. Ihering-Nachlasses in der Akademie der Künste sind. A n Primärquellen bleibt man auf die von H u g o Fetting herausgegebenen Schriften angewiesen, dessen Schwerpunkt bei Zeitschriftenaufsätzen aus den zwanziger Jahren liegt. Angesichts dieser großen Lücken mußte in mühseliger Kleinarbeit anderes Material dienstbar gemacht werden. Eine Auswahl an Programmheften und Besetzungszetteln zu Jessner-Inszenierungen wurden in der Theatersammlung des Berlin-Museums und der Abteilung Berliner Theater-, Literatur- und Musikgeschichte des Märkischen Museums gesichtet. Beide Institutionen verwahren auch einen geringen Fotobestand. Einzelne Programmhefte waren ferner im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste, im Theatermuseum Köln, im inzwischen aufgelösten Archiv der Staatsoper Berlin und in der Sammlung U n r u h des theaterwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität Berlin zu finden. In allen genannten Sammlungen wurden aber weder Programmhefte noch Fotos systematisch verwahrt, was die wissenschaftliche Erschließung zusätzlich erschwerte. Wichtige Materialien enthält das Osterreichische Theatermuseum in W i e n , wo sich die Nachlässe von Emil Pirchan und Caspar Neher befinden, die beide häufig Jessner-Inszenierungen ausgestattet haben. D o r t w u r d e n wichtige B ü h n e n b i l d - u n d Kostümentwürfe eingesehen. Im Archiv der Staatsoper Berlin konnten darüber hinaus Soufflier- und Assistentenbücher studiert werden, aus denen Strichfassungen zu einigen Jessner-Produktionen hervorgehen. I m Bundesarchiv-Filmarchiv (Außenstelle Berlin)
5
2
Ludwig Marcuse: »Leopold Jessners Stil. Erinnerungen an einen großen Regisseur«. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 19, 22./23.1.1966.
wurden die drei Jessner-Filme aus der Weimarer Republik am Schneidetisch begutachtet. Aufgrund der Gegebenheiten der übrigen Materialien kamen den Theaterkritiken natürlich überragende Bedeutung für die Rekonstruktion der Regiearbeit zu. Selbstverständlich waren die umfangreichen Kritikensammlungen von Hugo Fetting6 und vor allem Günther Rühle7 zum Theater der Weimarer Republik und - als notwendige Ergänzung - die publizierten Sammlungen einzelner Kritiker (Kerr, Ihering) eine wesentliche Hilfe. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß selbst Rühle logischerweise nur eine Auswahl vornehmen konnte und sich auf drei bis maximal vier Kritiken pro Neuinszenierung beschränken mußte. Außerdem haben längst nicht alle Inszenierungen Jessners in den genannten Bänden Eingang gefunden. Um einen relevanten Einblick in die Rezeption von Jessners Tätigkeit in der Tageskritik zu gewinnen, war es daher unumgänglich, die Premierenbesprechungen in den Tageszeitungen auf eine breitere Grundlage zu stellen. In wochenlanger Forschungsarbeit in den Lesesälen der Deutschen Staatsbibliothek Berlin, im Landesarchiv Berlin und im Theatermuseum Köln wurden weitere Zeitungsartikel zu Jessner gesammelt, um insbesondere auch die nationale und reaktionäre Presse in die Beurteilung mit einzubeziehen. Rühles programmatischer Titel (Theaterftir die Republik) verrät bereits, daß sein Schwerpunkt bei der demokratischen und bürgerlichen Presse liegt, womit sein Standardwerk keineswegs geschmälert werden soll. Theaterkritiken sind allerdings nur dann von wissenschaftlichem Nutzen, wenn sie mit anderen Quellen vergleichend analysiert werden. Viele ehemalige Weggefährten Jessners (Schauspieler, Regiekollegen, Bühnenbildner, Dramaturgen, Kritiker und andere Zeugen) haben ihre Zusammenarbeit mit Jessner auf unterschiedliche Weise publiziert. In diesem Fall ist natürlich zu unterscheiden, ob es sich um Berichte aus Jessners Lebzeiten oder um Lebenserinnerungen im zeitlichen Abstand handelt. Neben den gedruckten Quellen entwickelte sich während der Forschungsarbeit Aktenmaterial vom Staatstheater Berlin zur unverzichtbaren Materialgrundlage. Das Geheime Staatsarchiv bewahrt die Verträge Jessners, zwei Personalakten sowie den Schriftwechsel der Staatstheater-Intendanz auf. Die Vollständigkeit kann heute nicht mehr überprüft werden, weil Teile des Bestandes nach dem Zweiten Weltkrieg nach Merseburg ausgelagert wurden, wo sich bis 1993 eine Außenstelle des Geheimen Staatsarchivs befand. Auch die Sitzungsprotokolle des Preußischen Landtages konnten im Geheimen Staatsarchiv eingesehen werden. Durch das Studium dieser Akten ergab sich ein viel klareres Bild über die Einbindung des Intendanten Jessner in den politischen Tageskampf der Republik. Schließlich ermöglichte mir die Bibliothek der Hochschule der Künste wertvolle Einblicke in Archiv-Unterlagen der Staatlichen Schauspielschule, die Jessner 1925 gegründet hatte. Jessner hat auf verschiedenen Gebieten ein gewaltiges Erbe hinterlassen. Daraus ergeben sich aber auch methodische Probleme für die Anfertigung dieser Arbeit. Auf der
6
7
Hugo Fetting (Hrsg.): Von der Freien Bühne zum Politischen Theater. Drama und Theater im Spiegel der Kritik. 2 Bde. Leipzig 1987. Günther Rühle: Theater flir die Republik. Im Spiegel der Kritik. 2 Bde., überarb. Neuaufl. Frankfurt a. M. 1988.
3
einen Seite ist es notwendig, Jessners praktische Theaterarbeit zu rekonstruieren. Über fünfzig Inszenierungen gestaltete Jessner allein am Staatstheater in Berlin ab 1919. Neben der Verlebendigung von Jessners Stileigenheiten und der Entwicklung seiner Regiearbeit besteht ein weiteres Untersuchungsziel darin, die Auswirkungen von Jessners Kunst auf den politischen Alltag seiner Epoche näher ins Blickfeld zu rücken. Insofern wird versucht, beide Aspekte — Jessners bahnbrechende Regietaten und die Rolle des jüdischen Künstlers im deutschen Kulturbereich zu Beginn des 20. Jahrhunderts - gleichrangig zu behandeln und sinnvoll in Beziehung zu setzen. Zum Verständnis von Jessners Regiestil und seiner programmatischen Theaterarbeit ist es unumgänglich, seine frühen Jahre in Hamburg und Königsberg in die Gesamtbetrachtung mit einzubeziehen, auch wenn ein Schwerpunkt naturgemäß auf der elfjährigen Intendanz in der Hauptstadt der Weimarer Republik liegt. Jessners Haltung war geprägt von seiner ostpreußischen Heimat und jüdischen Herkunft. Schon in seiner Königsberger Jugend mußte er Anfeindungen gegen die jüdische Minorität erleben. Sein Weg zum Theater nahm auf Wanderbühnen im ostdeutschen Raum seinen Anfang, bevor er als Mittzwanziger seine erste große Wirkungsstätte am Hamburger Thalia-Theater fand. Viel zu wenig bekannt ist die Tatsache, daß Jessner entscheidend an der Durchsetzung Ibsens im deutschen Sprachraum beteiligt war. Auch die Entdeckung und Durchsetzung Wedekinds war das Werk Jessners und seines Lehrers Carl Heine. Im Ersten Weltkrieg begann die Intendantenkarriere in Jessners Heimatstadt Königsberg. In den ersten Kapiteln wird mehrfach erläutert, wie Jessner die Grundlagen seiner Regieprinzipien in Hamburg und in Königsberg gelegt hatte. Seine Neuerungen stießen schon in der Frühzeit auf viel größere Resonanz - auch überregional - als allgemein angenommen. Deshalb war seine Berufung nach Berlin, ins Zentrum der revolutionären Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg, keineswegs so überraschend, wie seine politischen Gegner immer behaupteten. Bis heute hält sich das Gerücht, Jessner sei aus politischen Gründen zum Staatstheaterintendanten berufen worden. Der junge demokratische Staat habe an einen Juden und Sozialdemokraten das höchste Amt, das im deutschen Theater zu besetzen war, vergeben, um ein Exempel zu statuieren. Jessner leitete in der Tat einen Aufbruch in eine neue Zeit ein. Dennoch wird darüber zu sprechen sein, daß die Berufung auf Jessners Erfolge als Regisseur und Organisator, und nicht auf Gesinnung oder Religion, zurückzuführen war. Als weitere Legende hält sich hartnäckig die vermeintliche Vorherrschaft des Expressionismus, die durch die neue Ära mit Jessner an der Spitze des Theaters in Deutschland angebrochen sei. Abgesehen von der Tatsache, daß der literarische Expressionismus eine extrem kurzlebige Epoche war, die nach dem Ersten Weltkrieg schnell wieder verschwand, muß ausführlicher auf die Frage eingegangen werden, ob es expressionistische Inszenierungen überhaupt gegeben hatte. Jessner wurde dieses Etikett vor allem im Zusammenhang mit seinen Klassiker-Inszenierungen angeheftet, was bereits andeutet, daß oft zwischen der dramatischen Produktion und der szenischen Umsetzung nicht klar unterschieden wird. Was die Vielzahl der Jessner-Inszenierungen betrifft, so wurde eine kursorische Handhabung unumgänglich. Selbstverständlich nehmen die Inszenierungen in der Frühzeit der Berliner Intendanz breiten Raum ein. Insbesondere Wilhelm Teil, aber auch Der Marquis 4
von Keith, Riebard III. und Othello lösten eine Revolution im Staatstheater aus. Wahrscheinlich hat keine Aufführung in der Theatergeschichte so gewaltige Reaktionen hervorgerufen wie Jessners Wilhelm 7i?//-Antrittsinszenierung. Bereits die unmittelbaren Folgen, die Verdrängung von Reinhardt aus Berlin und die Etablierung von Fritz Kortner als aufstrebendem Schauspielstar der Republik, markieren die Veränderungen, die mit Jessners Intendanz schlagartig eintraten. Gerade in den Klassiker-Aufführungen pflegte Jessner sein inszenatorisches Grundmodell. Jessner war der erste - und hier unterscheidet er sich deutlich von Reinhardt - , der Regie prinzipiell als Interpretation begriff. Er löste sich vom Gedanken, das ganze Werk in seiner Komplexität wiederzugeben. Seine Absicht bestand darin, die als wesentlich erkannte Idee des Stückes aus dem Nerv der Zeit herauszufiltern. Günther Rühle, der in zahlreichen Publikationen immer wieder an Jessner als Vater des Regietheaters erinnert, formuliert es in aller Schärfe: »Das war die Geburt des Interpretationstheaters [...], das Grundgesetz in der Theaterarbeit unseres Jahrhunderts. [...] Hinter dieses Ereignis von 1919 führt kein Weg zurück.«8 Inwieweit Jessners Regie die optische Umsetzung revolutionierte, eine neuartige Gliederung des Raumes einführte, wird im Zusammenhang mit seinen ersten Berliner Produktionen, die er mit dem Bühnenbildner Emil Pirchan entwickelte, ausführlich erörtert. Neben der Abkehr von Illusionismus und naturalistischer Dekoration ging Jessner mit seinen Schauspielern in der Sprachbehandlung neue Wege. Zu seinem wichtigsten Schüler avancierte zweifelsfrei Fritz Kortner. Der keineswegs konfliktfreien Beziehung Jessners zu Kortner wird besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Beide versuchten, die Distanz zwischen klassischen Stücken und zeitgenössischem Publikum durch Herauslösen der grundsätzlichen Aktualität der jeweiligen Werke aufzubrechen. Kortner setzte Jessners Regietheater nach dem Zweiten Weltkrieg fort und schlug damit eine Brücke zu den Regisseuren der heutigen Zeit. Jessner hat seine künstlerische Linie weiterverfolgt und nach seinem spektakulären Berliner Beginn nicht nachgelassen. Eine vordringliche Aufgabe dieser Arbeit liegt auch darin, den Führungsanspruch Jessners im deutschen Theater über die Anfangsjahre hinaus nachzuweisen. Mit Hebbels Herodes und Mariamne, Shakespeares Hamlet oder Hauptmanns Weber konnte Jessner auch in seiner späteren Amtszeit große Siege feiern. Auch die Förderung junger Dramatiker (z.B. Bronnen, Bariach, Zuckmayer) wird meistens genauso unterschätzt wie sein unermüdlicher Einsatz für die Schauspielausbildung. Die Gründung und Leitung einer staatlichen Schauspielschule ohne kommerzielle Interessen gehört zu Jessners Lebenswerk. Viel zu wenig beachtet wurde bisher auch Jessners Verstrickung in die erbitterten Kämpfe der Weimarer Republik. An seiner Person entzündete sich der Streit auch um die Zukunft Deutschlands, weil er, wie kein zweiter Regisseur, in die Tagespolitik eingegriffen hatte. Piscator, der auch bei Jessner unter Vertrag stand, hatte nicht die Möglichkeit, ein offentlich-subventioniertes Theater zu leiten. Deshalb wurde Jessner viel stärker mit der neuen Demokratie identifiziert. Die Publikation soll dazu beitragen, auch diesen Zusammenhang verständlicher zu machen. Im letzten Teil der Arbeit spielen die zuneh-
Günther Rühle: Anarchie in der Regie? Frankfurt a. M. 1982, S. 100 f.
5
mende Aggressivität und die Machtinteressen der Republik eine immer größere Rolle. In der sich lange Zeit dahinziehenden Endphase Weimars häuften sich auch Niederlagen. Jessners Sturz, der a m A n f a n g des Jahres 1930 Realität w u r d e , w a r ein erklärtes Z i e l reaktionärer und nationalistischer Organisationen. Das letzte J a h r seiner Intendanz war von der Frage überlagert, ob es der Hugenberg-Presse und nationalsozialistischen K a m p f blättern gelänge, den prominenten >Kulturjuden< Jessner zu Fall zu bringen. Trotz aller Polemik von außen, die ihn sein ganzes Leben schwer belastet hatte, steht Jessner als S y n o n y m f ü r Standhaftigkeit und Behauptungswillen. Auch einem Theatermann kann es mit überzeugenden Leistungen gelingen, einer fragilen und krisengeschüttelten Epoche Gestalt und N a m e n zu geben. V o n diesem Grundgedanken wurde die jahrelange Beschäftigung des Verfassers mit Leopold Jessner getragen. U m der Fülle des Materials gerecht zu werden, war es notwendig, Ausgrenzungen vorzunehmen. Jessners trauriges Schicksal in der Emigration, das in den Niederlanden und in L o n d o n begann, für kurze Zeit sich in T e l A v i v fortsetzte und ab Herbst 1937 in Los Angeles schließlich beendet wurde, muß in einem anderen Z u s a m m e n h a n g ausführlicher untersucht werden. Letzten Endes begann der Abstieg Jessners 1930 mit seiner erzwungenen Demission. Existenzkämpfe und fortwährende A n g r i f f e gegen seine Person hatten ihn ermüdet und zermürbt. Bis 1933 stand er dem Staatstheater als Regisseur noch zur Verfügung, aber sein Zenit war überschritten. Elf Jahre hat er die Führung des wichtigsten Theaters in Deutschland gehalten. Es spricht für sich, daß nach ihm dreimal die äußerst komplizierte Leitung am Staatstheater in der kurzen Periode bis zur Machtergreif u n g Hitlers wechselte. Jessners Odyssee ab 1933 ist ein anderes Kapitel. D e r überzeugte J u d e und patriotische Ostpreuße war zu alt und nicht dazu geschaffen, außerhalb Deutschlands von neuem zu kämpfen. Ü b e r Jessners Leben in der Emigration und seine grundlegende jüdische Identität hat Anat Feinberg 2003 einen beachtenswerten Aufsatz in englischer Sprache geschrieben, der aber in dieser Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden konnte. 9 Es ist mir ein besonderes Anliegen, Personen und Institutionen, die diese Arbeit gefördert und begleitet haben, zu danken. M e i n Doktorvater Professor D r . Jens Malte Fischer hat mich vor langer Zeit ermutigt, die Dissertation über Leopold Jessner in A n g r i f f zu nehmen. Neben der langjährigen Betreuung und zahlreichen Anregungen schulde ich ihm vor allem D a n k f ü r die Geduld, die er auch bei schöpferischen Krisen aufgebracht hat. M e i n e m Zweitgutachter Prof. D r . Hans-Peter Bayerdörfer habe ich vor allem deshalb zu danken, weil er als Mitherausgeber der Reihe Theatron die Veröffentlichung im Niemeyer-Verlag maßgeblich gefördert hat. H u g o Fetting, dessen Jessner-Schriftenband ohnehin die wichtigste Materialgrundlage der Arbeit darstellt, hat mir darüber hinaus in mündlichen Gesprächen wertvolle Tips für Recherchen in Archiven und Sammlungen gegeben. Professor Leonhard Fiedler (Frankfurt a. M . ) bin ich f ü r die Überlassung von Interviews, die er in den U S A mit Freunden, Verwandten und Emigranten-Kollegen
9
6
Anat Feinberg: »Leopold Jessner: German Theatre and Jewish Identity«. In: Year Book XLVIII Leo Baeck Institute, 2003, S.m-133.
Jessners geführt hat, zu Dank verpflichtet. Auch wenn die Emigrationszeit nicht zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wurde, enthalten die Gespräche erhellende Aspekte über die Persönlichkeit Jessners. Bernhard Minetti gab mir kurz vor seinem T o d mehrfach bereitwillig über seine Beziehung zu Jessner Auskunft, der nicht nur sein wichtigster Lehrer, sondern auch sein väterlicher Freund gewesen war. Mit Klaus Siebenhaar gestaltete ich am 13. Dezember 1995 zu Jessners 50. Todestag eine Gedenkausstellung im Foyer des Deutschen Theaters in Berlin. Während der Planung und Vorbereitung entwickelte sich ein fruchtbarer Gedankenaustausch. Der Friedrich-Naumann-Stiftung habe ich zu danken, daß sie mir langfristige Studien ermöglichte. Das großangelegte Projekt, das durch zahlreiche Arbeitsaufnahmen immer wieder unterbrochen wurde, wäre nie zustande gekommen, wenn intensive Vorarbeiten nicht durch ein dreijähriges Stipendium abgesichert gewesen wären. Ulrike Schumann (Oper Bonn) hat sich die Mühsal des Korrekturlesens aufgebürdet. Auch ihre Verbesserungen haben zur Fertigstellung beigetragen. Zuletzt danke ich meiner Mutter, die mir während einiger Schaffenskrisen vor allem moralische Unterstützung gegeben hat. Die Arbeit widme ich meinem Großvater Ernst Heilmann. Mit Jessner teilte er das Los, antisemitische Anfeindungen zu Lebzeiten erdulden zu müssen. Durch seinen frühen T o d blieb ihm ein Emigrantenschicksal oder eine weit schlimmere Katastrophe erspart.
7
ι. Die Lehrjahre des ostpreußischen Künstlers am Theater
Ü b e r keine Persönlichkeit, die in der Geschichte des deutschen Theaters derartig N a c h haltiges geleistet hat, ist so wenig Biographisches bekannt wie über Leopold Jessner. Für diese erstaunliche Tatsache gibt es vielfältige Gründe. Es fällt auf, wie konsequent Jessner es in allen seinen Reden, Aufsätzen, Interviews, Briefen und überlieferten mündlichen Zeugnissen vermieden hat, sich über seine eigene Person auch nur andeutungsweise zu äußern, während seine Stellungnahmen zu künstlerischen Fragen, zu allen politischen, sozialen und organisatorischen Angelegenheiten seiner verschiedenartigsten Tätigkeiten am Theater zumindest in den zwanziger Jahren sehr umfangreich sind. 1 Auch bei allen Ehrungen und Auszeichnungen, die Jessner zu Lebzeiten erfahren hat, finden wir nur Würdigungen seiner Leistungen als Theaterleiter und Regisseur, jedoch zum Privatmann Jessner kein einziges W o r t . 2 Alfred Perry macht die unablässigen Anfeindungen, denen Jessner als Sozialdemokrat und ostpreußischer J u d e in der Öffentlichkeit ausgesetzt war, dafür verantwortlich, daß ausschließlich Berufliches nach außen dringen durfte: Jessner hatte zwei Gründe, warum er in der Dokumentierung seiner Berliner Tätigkeit außerhalb des Regieführens eigentlich sehr wenig Öffentliches getan hat [...]. Er hat immer wieder gesagt, daß er also doch von den alten eingesessenen Beamten des Kultusministeriums und zum Teil des Innenministeriums sehr angefeindet wurde. Denn wenn Sie sich erinnern - und das weiß selbst ich, der damals so jung war — daß die alte preußische Haltung gegenüber einem ostpreußischen Juden, der nun der Chef des Preußischen Staatstheaters wurde, nicht so freundlich war und daß da also alle möglichen Kämpfe waren, so daß er gesagt hat, er tut mehr und besser und erreicht vieles, was er erreichen wollte, wenn er seine eigene Tätigkeit und seine eigenen Gedanken nicht publiziert [...]. Der zweite Grund war eine Identifikation mit der Gewerkschaft der Schauspieler, in der er eine führende Stellung hatte, in der er sehr viel zum Fortschritt beigebracht hatte, obgleich das dann später zu Kämpfen um ihn gekommen ist. Aber er sah auch da eine Gefahr darin, wenn er das, was er tat und wollte, zu sehr veröffentlichen würde. Er tat das also alles mehr als Graue Eminenz - im Gegensatz natürlich zu seinen Inszenierungen.'
1
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Siehe Jessner 1979. Diese umfangreiche Sammlung von Jessnerschen Schriften enthält weit über hundert Zeitschriftenaufsätze bzw. Redemanuskripte aus den Jahren 1910 bis 1940 mit zeitlichem Schwerpunkt auf den zwanziger Jahren, in denen Jessner sich privater Äußerungen nahezu ausnahmslos enthält. Zu Jessners fünfzigstem Geburtstag erschienen zwei umfangreiche Festschriften neben zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen, die keine biographischen Angaben enthalten. Insbesondere bei der Publikation von Felix Ziege fällt diese Tatsache auf, da an ihr fünfzehn Autoren mitwirkten, die größtenteils Jessner persönlich sehr nahestanden. Vgl. Carl Theodor Bluth: Leopold Jessner. Berlin 1928, und Felix Ziege: Leopold Jessner und das Zeittheater. Berlin 1928. Die einzige Quelle, die in umfassender Form über Jessners Person und Charakter Auskunft erteilt, stellt das ausführliche Interview dar, das Prof. Leonhard Fiedler mit Alfred Perry am 1. und 2. April 1977 in Los Angeles geführt hat. Perry, der eine Art Privatsekretär Jessners in dessen
Sofern man den Berichten seiner Weggefährten und Freunde Glauben schenken darf, liegen aber gerade in Jessners Lebenseinstellungen und Charaktereigenschaften die Ursachen f ü r seine r e v o l u t i o n ä r e m künstlerischen Ziele u n d Arbeiten. W e r d e n Jessners Grundüberzeugungen, glühender Sozialismus, patriotische Gesinnung mit ostpreußischer Heimatverbundenheit sowie starkes Bekenntnis zur jüdischen Religion, ausgeblendet, ist sein Lebenswerk unvollständig und nicht zu verstehen. 4 I m amerikanischen Exil, als Jessner aus d e m Blickfeld der öffentlichen M e i n u n g weitgehend verschwunden war und damit ungehemmt seiner religiösen und politischen Einstellung Ausdruck verleihen konnte, finden sich einige bemerkenswerte autobiographische Bekenntnisse. Im Jahre 1940 äußerte er sich in einem Artikel unter dem Titel »Nicht Ost - Nicht West - Judaismus« zur Zerrissenheit der J u d e n in der Welt folgendermaßen: Die traditionellen Differenzen finden in der Realität des Heute kaum eine Rechtfertigung. Ich erinnere mich sehr lebendig, wie ich, der Sohn litauischer Eltern und deutsch-jüdisch erzogen von den deutschen Spielkameraden herabsetzend »Litwack Jidd« und von den litauischen »Jackke« gerufen wurde. Ostjuden hielten sich den Westjuden für überlegen, und Westjuden schauten arrogant auf ihre östlichen Brüder herab [...].' Aus diesen Worten geht nicht nur das Leiden an der jüdischen Gespaltenheit hervor, sondern auch, wie stark Jessner von seiner ostjüdischen Herkunft geprägt war. Die Erinnerung an die antisemitische Einstellung der Spielkameraden nach über fünfzig Jahren, die gesellschaftliche Isolierung der aus Litauen eingewanderten J u d e n sogar durch ihre westjüdischen Glaubensgenossen zeigt, wie tief die Außenseiterrolle empfunden worden ist. Der Kontrast zwischen Jessners unfreiwilligem Verzicht auf Öffentlichkeit in seiner Berliner Zeit außerhalb der Berufssphäre einerseits und seiner religiösen Beschäftigung in der Emigration andererseits, die nach Aussage aller Berichterstatter zum alles beherrschenden geistigen Mittelpunkt seines Lebens wurde, läßt an dieser Stelle schon erahnen, welche zentrale Rolle der Zugehörigkeit zum J u d e n t u m Zeit seines Lebens zuzubilligen ist. Die Ignoranz, mit der in den Jessner-Publikationen nach seinem T o d dieses private Schicksal behandelt wird, läßt sich demnach nicht allein mit der komplizierten Quellen-
letzten Lebensjahren war, hatte im kalifornischen Exil fast täglich Umgang mit Jessner, so daß er ein Gesamtbild über Jessners Persönlichkeit in detailgetreuer Kenntnis aufzeigen kann. Prof. Fiedler sei für die großzügige Überlassung des unpublizierten Interviews an dieser Stelle gedankt. Die Beschreibung Leopold Jessners als Juden, Sozialisten und patriotischen Ostpreußen ergibt sich aus den Schilderungen von Ludwig Marcuse, der in seiner Autobiographie und in einem Erinnerungsaufsatz über Jessner dazu Stellung nimmt. Marcuse war einer der ältesten >JessnerVerehrerZiehsohn< Fritz Kortner, welcher erst durch massive nationalsozialistische Agitation in der Endphase der Weimarer Republik sein J u d e n t u m wiederentdeckt hatte. Unter Jessners Schauspielern kam ihm in seiner Einstellung am nächsten Alexander Granach, der 1890 im galizischen
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''
Vgl. Yoram K. Jacoby: Jüdisches Leben in Königsberg!Pr. im 20. Jahrhundert. Würzburg 1983, S. 8, 57 f. und 141. Jessner 1979, S. 51. Für den Hinweis in Müllenmeisters Dissertation, Jessner komme aus einer Familie von Ärzten und Gelehrten, gibt es keinen Anhaltspunkt. Aufgrund der starken gesellschaftlichen Diskriminierung der Juden in Litauen erscheint ein gehobener Berufsstand von Jessners Ahnen mehr als unwahrscheinlich. Müllenmeister 1956, S. 10. Interview zwischen Prof. Fiedler und Alfred Perry vom 1.4.1977.
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Webrowitz geboren wurde. Durch ähnliche, wenn auch nicht wesensgleiche ostjüdische Herkunft verbunden, vertiefte sich folgerichtig die Freundschaft im amerikanischen Exil, nachdem bereits in Berlin viele gemeinsame Arbeiten entstanden waren. Die strenge Religiosität in Jessners Familie entsprach aber schon in seinen frühen Königsberger Jahren nicht dem Charakter der jüdischen Bevölkerungsmehrheit. Etwa dreiviertel der Königsberger Juden waren mehr oder weniger Reformisten,' 4 die beispielsweise in der Neuen Synagoge der Stadt in Anlehnung an christliche Gottesdienste eine Orgel zuließen.1' Bei allem Religionsstreit, bei allen harten Kämpfen in der Gemeinde um die Reform des Gottesdienstes waren die politischen Gegensätze in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch keineswegs eindeutig. Die Spaltung in jüdische Nationalisten, die ihre Heimstätte in Palästina sahen, und in deutsche Patrioten, die sich in nationaldeutscher Gesinnung von niemandem übertreffen lassen wollten, spielte damals eine untergeordnete Rolle. Während im russischen Zarenreich die Juden den Gedanken der Rückkehr ins biblische Land wegen der unerbittlichen Unterdrückung bereits unter der Führerschaft des jüdischen Arztes Leo Pinsker seit 1881 heftig diskutierten, war diese Frage in Deutschland nicht vor dem ersten, durch Theodor Herzl veranstalteten, zionistischen Kongreß 1897 in Basel virulent. Ein Großteil der jüdischen Gemeinde in Königsberg unterstützte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die verschiedenen liberalen Gruppierungen, teils durch Mitgliedschaft, teils durch finanzielle Zuwendungen. Nur eine verschwindende ultraorthodoxe Minderheit lehnte den Liberalismus als Lebensform ab und spaltete sich sogar seit 1893 von der jüdischen Gemeinde ab."5 Die Mehrheit auch der strengen Orthodoxen mit ostjüdischer Vergangenheit strebte die gesellschaftliche Integration an. Gerade die meisten traditionsbewußten Juden pflegten das hohe deutsche kulturelle Erbe und beteiligten sich aktiv am Kulturleben der Stadt. Zu den wichtigen jüdischen Persönlichkeiten in Königsberg auf dem Gebiet der Literatur, Kunst und Musik zählte vor allem der Theater- und Literaturkritiker Ludwig Goldstein, der später in der Königsberger Hartungschen Zeitung einer der bedeutendsten Jessner-Rezensenten werden sollte. Als Initiator und erster Vorsitzender des Goethebundes (1901) erregte Goldstein literarisches Aufsehen weit über die Stadtgrenzen hinaus.17 Neben dem kulturellen Sektor war der Anteil der Königsberger Juden an anderen freien Berufen des Mittelstands überproportional hoch. Unter den Ärzten, in der Anwaltschaft, bei den Kaufleuten und Privatbanken fanden sich viele assimilierte Juden, weil ihnen traditionell der Zugang zum Militär, zur Beamtenschaft und zu den Lehrberufen ganz oder teilweise verwehrt blieb. Obwohl die Königsberger Bildungselite sich stark aus der jüdischen Bevölkerung rekrutierte, war die Berufung an die berühmte Albertina-Universität nur unter erschwerten Bedingungen möglich.18
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Vgl. Jacoby 1983, S. n .
"5
Vgl. C a u s e 1968, Bd. 2, S. 7 0 0 f.
16
Vgl. Jacoby 1983, S. 23.
17
Vgl. Jacoby 1983, S. 17.
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D a die Albertina-Universität sich als Pflanzstätte des L u t h e r t u m s verstand, war ein Z u g a n g f ü r
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Nicht ohne Folgen für das Leben der Juden in Königsberg waren auch die politischen Entwicklungen der Stadt. Jessners Hinwendung zur Sozialdemokratie zeichnete sich schon in der Jugend ab, als in den neunziger Jahren viele aus der jüdischen Intelligenz sich enttäuscht von den in sich gespaltenen liberalen Kräften abwandten. Mit dem Beginn des Kaiserreiches war Königsberg wegen seiner breiten Mittelstandsstruktur ein Zentrum des Nationalliberalismus. Konservative Kräfte hatten ihren Rückhalt in der ostpreußischen Landbevölkerung und führten in der einzigen Großstadt der Region zu allen Zeiten ein Schattendasein. 19 In Königsberg dominierte das konzentrierte Verwaltungszentrum, gleichzeitig kam der geographischen Lage im Grenzgebiet zu Rußland hohe militärstrategische Bedeutung als Garnisionsstadt zu. Einige Jahre nach der Reichsgründung zeichnete sich durch die industrielle Entwicklung eine grundlegende Veränderung des Stadtbildes ab. Die Wirtschaftsmacht Königsbergs gewann durch den Hafen, über den ein Großteil des Handels mit Osteuropa abgewickelt wurde, erheblich an Bedeutung. Zum gleichen Zeitpunkt ergaben sich durch die extrem zunehmende Zahl an Arbeitern in den Werften, in der Metallindustrie und in der Holzverarbeitung große soziologische Veränderungen. Die Nationalliberalen und Freisinnigen verloren an Einfluß, breite Volksmassen sympathisierten mit der Sozialdemokratie. Während in den achtziger Jahren vor allem die Freisinnige Partei von den verschärften Sozialistengesetzen profitierte, wurde seit 1890 mit dem Wegfall des SPD-Verbots fast immer der Kandidat der Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt. Dieser für Königsberg revolutionäre Prozeß fand bei Wahlen zum Landtag und zur Stadtverordnung keine Fortsetzung, weil dort das preußische Dreiklassenwahlrecht die Vertreter der zumeist liberalen ersten Klasse stark begünstigte und sich dementsprechend bis zum Jahr 1918 vier von fünf Bürgern der Stimmabgabe enthielten. Die Abgeordneten des Reichstages hingegen, durch allgemeine, gleiche und geheime Wahl ermittelt, konnten sich auf eine Wahlbeteiligung von über achtzig Prozent der Bevölkerung stützen.20 Die Stimmenzuwächse an die SPD hatten ihre Ursache allerdings auch in der schon erwähnten inneren Zerrissenheit der Liberalen, die sich bereits in der Regierungszeit Bismarcks abzeichnete. Selbst in der Bewertung der Annexion von Elsaß-Lothringen gingen die Meinungen weit auseinander.21 In Königsberg spiegelte sich das in den beiden angesehenen Zeitungen der freisinnigen Königsberger Hartungschen Zeitung (BismarckGegner) und der nationalliberalen Königsberger Allgemeinen Zeitung (Bismarck-Befürworter) wider. Die Nationalliberalen entpuppten sich zunehmend als eine Rechtspartei. Dem deutlich anwachsenden Antisemitismus der neunziger Jahre stand die Partei indifferent, teilweise sogar mit stillschweigender Toleranz gegenüber. Die Freisinnige Partei, zu Beginn der Republik maßgeblich durch Juden unterstützt und gefördert, vertrat hauptsächlich die Interessen alteingesessener reicher Juden aus der ersten Klasse.
Nicht-Evangelische grundsätzlich hart umkämpft. A b den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts gelang es einigen wenigen Juden, in den akademischen Lehrkörper zu gelangen. Vgl. Gause 1968, Bd. 2, S. 595 f. "
Vgl. ebd. Bd. 2, S. 617.
20
Vgl. ebd., Bd. 2, S. 622 f.
21
Vgl. ebd. Bd. 2, S. 612.
13
D e r generelle starke Bevölkerungszuwachs u n d neue Flüchtlingsströme russischer J u d e n vermehrten die sozialen Spannungen. A b 1890 wurde nicht nur die Einbürgerung nahezu unmöglich gemacht, sondern in der Stadt wurde sogar mit Ausweisungen nicht aufenthaltsberechtigter Ostjuden b e g o n n e n . I Z Z u r gleichen Z e i t kamen aber i m m e r wieder Meldungen von auflodernden Pogromstimmungen in vielen russischen Provinzen, so daß die Solidarisierung der J u d e n Königsbergs mit ihren bis zur Entmenschlichung gedemütigten Glaubensgenossen im Nachbarland anstieg. In dieser Zeit des aggressiver werdenden Nationalismus wandten sich viele J u d e n der sozialistischen Bewegung zu. Immer klarer wurde das Bild des Ausgestoßenseins aus der Gemeinschaft, der Isolation und Heimatlosigkeit der Juden. D i e soziale Deklassierung der eigenen Glaubensgenossen bewirkte bei einer Vielzahl intellektueller J u d e n eine Solidarität mit allen, denen Unrecht getan wird. Diesem progressiven, wenn auch humanitären und idealistischen Sozialismus fühlte sich der junge Jessner verpflichtet. Es kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß sein sozialistisches Engagement in den Erlebnissen der Jugendjahre begründet liegt. A n anderer Stelle wird noch zu beschreiben sein, daß die Richtschnur für Jessners lebenslange Theaterarbeit im gewerkschaftlichen Engagement, in der Darstellung von Unterdrückung und Zurücksetzung auf der Bühne zu finden ist. Für die sozialistische Bewegung Königsbergs kam vorteilhaft hinzu, daß der führende politische K o p f der Stadt der Sozialdemokrat H u g o Haase war. Haase, in den achtziger und frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Rechtsanwalt kommunalpolitisch tätig, war seit 1897 Mitglied des Reichstages f ü r den Königsberger Wahlkreis. Wenige Jahre später wurde er als Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zweitwichtigster M a n n in der Partei hinter August Bebel. N a c h Bebels T o d 1913 wurde er zudem stellvertretender Parteivorsitzender unter Friedrich Ebert, bis er gegen E n d e des Ersten Weltkrieges aus Protest gegen die Bewilligung der Kriegskredite die Spaltung der S P D herbeiführte und die Führung in der neuen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei übernahm. Während seiner kurzen Amtszeit als preußischer Justizminister wurde Haase 1919 ermordet. Der Sozialismus von Leopold Jessner war aber niemals ein ausschließlich intellektueller, aufklärerischer, sondern tief verwurzelt in der Vision der jüdisch-messianischen Erneuerung. In der prophetischen Tradition des Judaismus ist die H o f f n u n g auf Aufhebung der Klassenschranken, auf Befreiung der sozial Geächteten und die Verwandlung der Gesellschaft in Gemeinschaft ein zentrales Motiv. Die Parallelität v o m humanitären Sozialismus und jüdischer Religion, wie sie auch in der Philosophie Gustav Landauers und Martin Bubers zum Ausdruck k o m m t , war Jessners maßgebliche Bestimmung in seinem ganzen Denken und Wirken. 2 3 Ludwig Marcuse erinnert sich an einen nicht-orthodoxen Rabbiner in Los Angeles, der sich bei Religionsgesprächen sehr habe vorsehen müssen, »um Jessners leidenschaft-
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Vgl. Jacoby 1983, S. 54 f· Stellvertretend für viele Darstellungen des Zusammenhanges zwischen jüdischem Messianismus und sozialer Utopie sei auf folgendes Werk von Martin Buber hingewiesen: Martin Buber: Pfade in Utopia. Heidelberg 1985.
liehe Frömmigkeit nicht zu verletzen.« 24 Jessner war in seinem ganzen Regisseur- und Intendantenleben ein besessener Verfechter für seine theaterpolitischen Ziele. Empfindlicher und angreifbarer war er aber, wenn es um seine unumstößliche Identifikation mit der Befolgung der Gesetze und Gebote des Judentums ging. Ein Abrücken von seinen jüdischen Überzeugungen war außerhalb jeder Vorstellung. Wiederum Marcuse hat bei lebhaften Debatten Jessners mit anderen jüdischen Emigranten dieses Phänomen wiederholt erfahren müssen: »Nur einen einzigen bösen Zwischenfall habe ich in Erinnerung. Jessner fühlte sich durch irgendeine Bemerkung als frommer J u d e getroffen - und schrie buchstäblich auf. N i e vorher und nie nachher habe ich ihn so w u n d gesehen: nach keiner Kritik, bei keinem politischen Konflikt.« 2 5
1.2. Der Anfang als Schauspieler Jessners Lebensplanung, der Welt der Bühne anzugehören, wurde ohne Umschweife von J u g e n d an zielstrebig verfolgt. Im Knabenalter von fünfzehn oder sechzehn Jahren erhielt er sein erstes Engagement als Schauspieler. Einer Ausbildung im heutigen Sinn unterzog sich Jessner nicht. D i e Wege, die zum Theater führten, unterschieden sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer noch radikal von heutigen Möglichkeiten. M a n ließ sich entweder von einem erfahrenen Schauspieler unterrichten, was nicht von künstlerischen, sondern finanziellen Gesichtspunkten abhängig war, oder man zog den anderen W e g über eine private Theaterschule vor. Die Qualität einer solchen Ausbildung ist in beiden Fällen in Frage zu stellen. Es ist bemerkenswert, daß insbesondere der wichtigste Entdecker und Förderer des Jessnerschen Regietalents Carl Heine den Wert der Schauspielerausbildung in der damaligen Zeit scharf kritisierte: Privatunterricht bei einem Schauspieler. Sie bekommen eine ungemeine Fertigkeit darin, Stühle als Romeo und Julia anzureden und große Rollen auswendig zu lernen. Sie können bestenfalls deklamieren, aber nicht spielen, sie sind zu Rezitatoren nicht zu Schauspielern ausgebildet [...]. Theaterschulen. Sie unterscheiden sich in der Regel von dem Einzelunterricht bei Schauspielern nur dadurch, daß in ihnen auch Ensemble-Scenen geübt werden [...]. Auch hier werden die Schüler nur auf einige Glanzproben dressiert und zwar, da die meisten Leiter und Lehrer solcher Schulen alte entgleiste oder emeritierte Schauspieler sind, werden die Schüler in einem Stile dressiert, der in der Schauspielkunst ein Menschenalter zuvor üblich war. 26 D i e niederschmetternde Analyse der damaligen Schauspielkunst macht zwei Dinge deutlich: Leopold Jessner erlitt keinen großen Schaden, indem ihm diese Form der Dressur erspart blieb. Vermutlich gehörte er, folgt man Heines Auffassung, zu den »AusnahmeMenschen, die als Autodidakten das höchste M a ß von Künstlerschaft erreicht haben.« 2 7
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Marcuse 1958, S. 4. Ebd. Marcuse bezieht sich hier auf eine Diskussion mit dem Literaten Bruno Frank, ebenfalls im kalifornischen Exil. Carl Heine: Herren und Diener der Schauspielkunst. Hamburg 1905, S. 35. Ebd., S. 39.
15
Z u m anderen wird verständlich, daß der R u f nach staatlichen Schauspielschulen immer lauter wurde, w o nach strengen Auswahlkriterien die Technik des Rollenstudiums, körperliche Beweglichkeit, literarische Kenntnisse u n d die Gesetze der Bühnenwirkung in einem mehrjährigen Prozeß vermittelt werden. N i c h t zuletzt Jessner selbst ist es zu verdanken, daß die Einrichtung des Studiengangs Darstellende Künste an staatlichen H o c h schulen als einzig gangbarer W e g zur Heranziehung künstlerischen Nachwuchses nach dem Ersten Weltkrieg in die T a t umgesetzt wurde. Berücksichtigt man Jessners frühzeitigen Beginn, so betritt er nach den damaligen Gegebenheiten den wohl sinnvollsten W e g , als blutjunger Anfänger ältere Bühnenkünstler auf sich wirken zu lassen. A u f g r u n d der im ländlichen Ostpreußen ungünstigen Theaterverhältnisse vollzog sich Jessners erste Bühnenerfahrung in der am rechten Weichselufer gelegenen westpreußischen Kreisstadt Graudenz. Als Jessner in der W e i m a r e r Republik zur führenden Persönlichkeit des deutschen Theaters aufstieg und von zahlreichen Gegnern aus politischen Gründen bekämpft wurde, sprach er amüsiert darüber, daß die Theaterdirektoren im ausgehenden 19. J a h r h u n d e r t ihn f ü r gänzlich untalentiert hielten: Ich weiß, daß mich Gott und mein gütiges Geschick in die erste Reihe meiner Berufswelt gestellt hat. Immerhin wollen mich viele als ungeeignet zum Teufel wünschen. Im Anschluß an das eben Gesagte kann ich diesen, meinen verehrten Gegnern, die Versicherung geben, daß ich schon im Anfang meiner Laufbahn dreimal als vollkommen untalentiert aus dem Engagement in den Weltstädten Graudenz, Stolpmünde bei Stolp und Döbeln in Sachsen entlassen wurde. Der erste Kündigungsbrief in Graudenz lautete wörtlich: »Leopold Jessner! Wir geben Ihnen den guten Rat, die von Ihnen erwählte Bühnenlaufbahn nicht weiter zu verfolgen, da Sie für den Beruf des Theaters vollständig ungeeignet sind.«28 E r kann bei dieser deutlichen A b f u h r nicht älter als sechzehn oder siebzehn Jahre gewesen sein, denn bereits in der Spielzeit 1895/96 verschlug es ihn, offenbar unbeeindruckt von der vernichtenden Beurteilung, nach Sagan in Niederschlesien. 2 9 In dem Grenzgebiet zwischen Brandenburg, Niederschlesien und Sachsen existierte kein stehendes Theater, sondern in einer A r t reisenden Gesellschaft gastierte man in verschiedenen Orten der umliegenden Region, wozu offensichtlich auch Stolpmünde und Döbeln gehörte, die Jessner im obengenannten Zitat erwähnt. N a c h dieser zweijährigen >Lehrzeit< wechselte der neunzehnjährige Jessner im Spieljahr 1897/98 ans Stadttheater Cottbus: »Schon ein beträchtlicher Aufstieg des jungen Schauspielers«. 30
28 29
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Jessner 1979, S. 260. Neuer Theater-Almanack, 7. Jg., Berlin 1896, S. 475 f., und 8. Jg., Berlin 1897, S. 486 f. Aus diesem wichtigen Nachschlagewerk über alle Engagementsabschlüsse an deutschsprachigen Bühnen geht unmißverständlich Jessners Schauspielertätigkeit bei der Reisenden Gesellschaft Sagan, Riesa, Langenbielau etc. (Regierungsbezirk Liegnitz) in den Jahren 1896 und 1897 hervor, bevor er während der Saison 1897/98 ans Stadttheater Cottbus wechselte. Eine Tätigkeit Jessners am Stadttheater Graudenz-Marienwerder muß demnach vor diesem Zeitpunkt liegen, ist aber im Theater-Almanach nicht belegt. Ο. K.: »Jessners Jugendjahre beim Theater«. In: Theaterdienst, 10. Jg., H. 44, Oktober 1955, S. 5. In allen weiteren Gedenkartikeln werden Jessners Theateranfänge bis zur Hamburger Zeit verschwiegen.
Direktor des Cottbuser Theaters war Max Waiden. Mit Waiden, einem Inhaber des herzoglichen Verdienstordens von Sachsen-Meiningen für Kunst und Wissenschaft und ehemaligen bekannten Hofschauspieler in Berlin, kam Jessner bereits ein Jahr später erstmals in die Reichshauptstadt. Waiden verpflichtete Jessner für das sogenannte »Berliner Gesamt-Gastspiel«. Dieses Tourneetheater bespielte von Berlin aus wiederum mittlere Städte und Ortschaften. Die Tatsache, daß der Schauspieler Jessner 1898 in Orten wie Neuruppin, Landsberg, Stargard oder Bad Landeck auftrat, wird oft als Jugend unter »nicht gerade hoffnungsvollen Aspekten«3' betrachtet. Jessner selbst soll diese Zeit der Durchwanderung kleinerer Orte später folgendermaßen ironisiert haben: »Oft erzählte Jessner nach Jahren von einem Brief seiner Mutter, die ihre Post stets in unbedeutende Orte senden mußte, die postalisch beim Ortsnamen den Zusatz bei... zu führen hatten. Die besorgte Mutter schrieb dem Sohne: Wann bist Du endlich mal in einer Stadt von Belang tätig, nicht immer nur in ... bei ...r'«3Z Unabhängig davon, daß Jessner gerade erst das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatte, darf bei der Betrachtung von Jessners Reifezeit nicht übersehen werden, daß Tournee- und Reisetheater im 19. Jahrhundert einen vergleichsweise höheren Stellenwert hatten und nicht als >tingelnde< Wanderbühnen abzuwerten sind. Vorteile von nichtstehenden Theatern waren vielfältig, so daß sie nicht selten von fachkundigen Direktoren geleitet wurden, die ihre künstlerischen Leistungen teilweise besser verwirklichen konnten als in Theatern mit festen Ensembles. Sieht man von einigen wenigen Hof- und Residenzbühnen ab, so waren Stadt- und Landestheater vom damaligen Publikumsgeschmack dergestalt abhängig, daß dem Unterhaltungsbedürfnis in Form von schablonenartigen Lustspielen und Schwänken Rechnung getragen werden mußte. Zudem waren die Inszenierungen im Regelfall in kunstgewerblicher und überfrachteter Ausstattung erstarrt, so daß die Abhängigkeit von jeweiligen räumlichen und technischen Möglichkeiten bei einer Wanderbühne zu einer oft befreienden, wenn auch nicht immer freiwilligen, Beschränkung in der Dekoration führte. Die organisations- und kostenbedingte Begrenzung der Personenzahl verhalf einer reisenden Schauspielertruppe zu einer intensiveren Probenarbeit und genauerem Ensemblespiel, da meistens ein >En-suiteVon allem Geschriebenen liebe ich nur das, was einer mit seinem Blute schreibt; schreibe mit Blut und du wirst erfahren, daß Blut Geist ist.««-Aufführungen stellten neben den Wedekind-Arbeiten das Herzstück der Hamburger Jahre dar. Der Ausgestaltung der Ensembleszenen bescheinigte Jessner in den zwanziger Jahren sogar eine Vorbildfunktion für den ersten legendären Wilhelm Teil am Berliner Staatstheater: Die Hamburger Darsteller von »Peer Gynt« und »Dantons Tod« (1910) hatten in der Gesamtstruktur und in der Behandlung der Massenszenen schon das Charakteristische der Berliner »Wilhelm Tell«-Aufführung vorweggenommen, die am 12. Dezember 1919 war. So darf also an dieser Stelle mit einer gewissen Genugtuung vermerkt werden, daß die veränderte Inszenierungsart und Spielweise, soweit sie vom Berliner Staatlichen Schauspielhaus inauguriert wurde, in Hamburg ihren Ursprung hat.103
Dantons Tod ging noch stärker als Peer Gynt der Ruf der Unspielbarkeit voraus. Bühnenpräsenz erlangten Büchners Werke erst etwa fünfundsiebzig Jahre nach ihrer Entstehung. Dantons Tod, vor Jessners Hamburger Produktion lediglich 190z in einer Sondervorstellung des Vereins Freie Volksbühne in Berlin aufgeführt, 104 wurde wegen der epischen Struktur der 3z Einzelszenen, in denen Büchner sich teils einer dokumentarisch-nüchternen Form (Jakobinerclub, Nationalkonvent oder Revolutionstribunal), teils einer derben und obszönen Sprache (das Volk in den Pariser Gassen, Grisetten im Palais-Royal) bediente, von Regisseuren und Theaterdirektoren verschmäht. Die notwendige dramaturgische Umarbeitung reizte hingegen Jessner im besonderen Maße. Hatry schreibt über Jessners Danton-Konzeption:
»Das Werk galt bis zu diesem Zeitpunkt als schlechthin
unaufFührbar. Jessner bewies das Gegenteil: seine Spielbarkeit, seine Bühnenmäßigkeit, seine spürbare Effektivität.« 105 Das Experiment konnte gelingen durch eine enorme textliche Straffung. Zweiunddreißig Verwandlungen wurden auf dreizehn reduziert. Alle Bezüge auf spezielle Gegebenheiten der Französischen Revolution entfielen. 106 Auf das Revolutionäre als allgemein menschliche Grundhaltung war die ganze Aufführung fokussiert. Dantons Hang zu ausschweifenden Vergnügungen und die allzu hemmungslose Pathetik der Reden Robespierres und St. Justs empfand Jessner nur als Ablenkung, so daß er alles auf den Gegen-
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Ebd. Hinweise zur Beleuchtungsregie entnimmt Hatry vor allem Alexander Zinns Kritik im Generalanzeiger vom 26.2.1910. Jessner 1979, S. 167. Müllenmeister behauptet, die Kritiker hätten nur deshalb die geschlossene Vorstellung in Berlin ignoriert, weil sie ohne Aufsehen geblieben ist. Müllenmeister 1956, S. 13. In Wahrheit bleibt es zweifelhaft, ob die einmalige Darbietung überhaupt als Aufführung anzusehen ist. So setzt beispielsweise Rischbieter im Büchner-Abschnitt seines Theaterlexikons als Danton-Uraufführung Jessners Inszenierung fest. Vgl. Rischbieter 1983, S. 216. Hatry 1966, S. 166. Vgl. ebd., S. 166 und 260. Hatry bezieht sich abermals auf das erhaltene SoufHierbuch.
satz zwischen der gehetzten Nervosität in den Konvent- und Tribunalszenen und der langsamen zermürbenden Resignation in den Kerkern der Conciergerie konzentrierte. Mit den einfachsten Mitteln wurde die Grundstimmung Revolution, die überall und nicht nur 1791 in Paris sich ereignen könnte, ins Bild gesetzt. Umbauten fielen zum ersten Mal ganz weg. Szenenwechsel ergaben sich ausschließlich durch veränderte Farbstimmung. Im Jakobinerclub beschränkte sich Jessner auf eine blutrote Farbfläche als Bühnenhintergrund. In der Schlußszene wurde das Elend des hungernden, frierenden Volkes durch eine zerlumpte, zusammengepferchte Menschenmasse dargestellt, die dichtgedrängt auf einer übervollen Bühne um eine zur Seite gerückte Guillotine im kalten violetten Licht bedrohlich wirkte. 107 Die Dialogregie war extrem antideklamatorisch. Neben dem peitschenden Tempo der politischen Versammlungen ging die Melancholie der unterdrückten Bürger auch sprachlich nicht unter. T o m Farecht spielte mehr einen geknickten als einen heldischen Danton.' 08 Politisches Theater, in Berlin ein selbstverständliches Merkmal von Jessners Schaffen, wurde mit Peer Gynt und mehr noch mit Dantons Tod auf einer Lustspielbühne Realität. Jessner dankte noch 1930 dem damaligen Direktor Bachur, denn er »ließ Werke, wie Peer Gynt und Dantons Tod, die bisher nur als matineereif galten, in den Abendspielplan aufnehmen und bereicherte damit die gesamte deutsche Bühne.« 109 Obwohl nichts dem üblichen Stil des Thalia wesensfremder hätte sein können als die Aufführung von Dantons Tod, sah Jessner das Stück als unabdingbaren Bestandteil einer verantwortungsvollen Bühne an. 1926 plädierte Jessner fur die selbstverständliche Einordnung von Dantons Tod als Repertoirestück: »Nicht um einer nationalen oder revolutionären Richtung gerecht zu werden, sondern weil sich [...] eine menschlich-politische Idee in Dichtung umgesetzt hat. Und dies ist die erste und letzte Frage, die der Theaterleiter an ein Werk zu richten hat.« 110 Daß sich auch ein Unterhaltungstheater dieser Erkenntnis nicht gänzlich verschlossen hat, spricht für die weise und vorausschauende Intendanz Max Bachurs. Bei den Versuchen, die Aufmerksamkeit auf unerprobte Autoren zu lenken, erlitt Jessner zuweilen auch Niederlagen. Im Bereich der Gesellschaftskomödie - ein nach wie vor publikumswirksames Genre, das Jessner keinewegs ganz aussparte
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galt er als
Vgl. ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 168 und 261. Jessner 1979, S. 200. Ebd., S. 90. Fetting vermutet, daß es sich um einen Zeitungsartikel Jessners unter dem Titel »Theaterpolitik« aus dem Jahre 1926 handelt. Eine Datierung und genauere Quellenangabe liegt nicht vor. Lustspiele, Komödien und Volksstücke, die immer noch den größten Teil des Spielplans ausmachten, überließ Jessner meistens, aber keinesfalls immer Paul Flashar. Einmütigen Applaus erzielte Jessner z.B. mit dem italienischen Lustspiel Das Modell von Alfredo Testoni, Nestroys Revolution in Krähwinkel, der Kriminalkomödie Kavaliere von Lothar und Saudeck, Molnars Leibgardist, Ludwig Thomas Volksstück Magdalena oder der Uraufführung Sänke Erichsen von Gustav Frenssen. Von lokaler Bedeutung war das Trauerspiel des Hamburger Reichstagsabgeordneten Siegfried Heckscher König Karl /. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs inszenierte Jessner die Kriegsstücke Cafard von Erwin Rosen und Justiz von John Galsworthy.
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Spezialist für englische Konversationsstücke. Sein Engagement für George Bernard Shaw blieb beispielsweise glücklos. Weder für Der verlorene Vater im Januar 1907, als Jessner erstmals Shaw in Hamburg aufFühren ließ, noch für Fannys erstes Stück viereinhalb Jahre später begeisterte sich das Publikum. 111 Die Ablehnung lag zum Teil an der Auswahl von schwächeren Stücken aus einer frühen Schaffensperiode des in Irland geborenen Dramatikers. Möglicherweise hat Jessner bei der Fülle seiner Regieverpflichtungen Komödien auch zum Ausprobieren seiner Dialogregie-Prinzipien benutzt. Deutlich äußert sich Jessner im Regiebuch zu Der verlorene Vater, mit welcher schnellen und dennoch selbstverständlichen Sprechweise englische Komödien zu spielen seien: »Das Stück mit wenigen Ausnahmen in rasendem Tempo und durchweg in parodistischem Tone. Selbst die erregten und scheinbar ernsten Szenen müssen mit einer gewissen Leichtigkeit gespielt werden. Hinter allem muß man sich das ironisch dreinblickende Gesicht von Shaw denken!«"3 Alles andere als Nebenproduktionen waren dagegen die Aufführungen junger russischer Schriftsteller, die ab 1907 wiederholt lanciert wurden. Als Einstieg wählte Jessner im Februar 1907 Maxim Gorkis Nachtasyl aus. Schon wenige Wochen nach der Moskauer Uraufführung verhalf Richard Vallentin dem Werk im Januar 1903 am Deutschen Theater in Berlin zum internationalen Durchbruch. Gorki bleibt in seiner Darstellung von unerträglichem Elend gedemütigter Existenzen in einem überfüllten Obdachlosenheim im Gegensatz zu den meisten Naturalisten nicht in einer scharfen Milieuschilderung stecken, sondern versucht, den Weg einer sozialistischen Utopie im Sinne einer Veränderbarkeit des Schicksals von Ausgebeuteten aufzuzeigen. Die Aufführung überzeugte durch eine in sich geschlossene Ensembleleistung." 4 Ermutigt von der überaus positiven Aufnahme russischer Literatur setzte Jessner die Linie mit dem heute in Deutschland weitgehend vergessenen Leonid Andrejew fort. Andrejew, der im Vergleich mit Gorki den sozialistischen Idealen kritischer gegenüberstand, war vom französischen Symbolismus der Jahrhundertwende nicht unbeeinflußt. Ähnlich wie Maurice Maeterlinck waren Aufführungen seiner Werke zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ereignisse ersten Ranges, da seine ganz auf psychologische Hintergründigkeit ausgerichteten Dramen als Uberwindung naturalistischer Alltagskunst gepriesen wurden. Jessner sorgte mit den Hamburger Erstaufführungen der tragischen AndrejewWerke Zu den Sternen im Mai 1909 und Anathema im Januar 1912 dafür, daß auch in der Hansestadt man mit schwermütig-getragenen Stoffen russischer Dramatik den Geschmack der Zeit treffen kann." 5
111
Vgl. Hatry 1966, S. 148 und 175. Ebd., S. 79. »4 Vgl. ebd. Niclassen sprach in seiner Kritik im FremdenbUtt am 4.3.1907 von so großer Ergriffenheit der Besucher, daß lange nach Fallen des Vorhanges erst der Applaus anhob. Uberraschenderweise sieht Hatry in Jessners Inszenierung mehr das Versöhnliche: »weniger Anklage als Klage«, obwohl Jessner sicherlich hinter dem aggressiv-anklagenden Charakter von Gorkis Thesen stand. Vgl. ebd., S. 160 f. und 258. Neben Niclassen und Müller-Rastatt sprach in diesem Fall auch Förster (Hamburger Woche) voller Hochachtung über Jessners Leistung.
60
Bemerkenswert an der Zu den Sternen-Produktion
war auch das Einspringen Jessners
für einen über Nacht erkrankten Schauspieler. Die Presse war voll des Lobs für Jessners einmaligen Auftritt als Darsteller, der sich niemals wiederholen sollte. Im
Fremdenblatt
war zu lesen: »In der Praxis [bewiesen], was wir theoretisch schon lange durch ihn kannten, nämlich: wie man natürlich Theater spielt.«" 6 Andrejews Überzeugung von der ausweglosen Verdammnis des Menschen in Elend und Verderben vertrug nur eine natürliche Darstellung, um die Gefahr eines Schwelgens in Untergangsstimmung zu bannen. Noch düsterer war die spätere Anathema-VioAuktion,
in der Jessner auf die szenische
Suggestivität durch große einheitliche Farbflächen, stilisierte Kostüme und LichtefFekte setzte. Wenn auch die Einfachheit gelegentlich zur Manier geraten konnte, erfüllten sie in einem gespenstisch-wehmütigen Stück, wo die diabolische, aber gleichzeitig auch depressive Stimmung der greisenhaften Titelfigur im Vordergrund stand, ihren Zweck." 7 Als wenige Monate nach Andrejews Anathema Jessner im April 1912 Tolstois Lebenden Leichnam mit den gleichen inszenatorischen Mitteln auffuhren ließ, war die Aufnahme verhalten." 8 Karge Bühnenarchitektur und unromantisches Spiel probierte Jessner in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg immer häufiger aus. Tolstoi eignete sich dazu nicht. Seine dramatischen Dichtungen, die ausschließlich zum Alterswerk des russischen Literaten gehören, standen ohnehin im Schatten seiner international als Glanzpunkt realistischer Epik gefeierten Romane. Obgleich Der lebende Leichnam noch zu den berühmtesten Bühnenwerken zählt, haftet auch diesem Drama ein Hang zur epischen Breite an. Tolstois Stärke, die im Bildhaften, in der realistischen Nachgestaltung liegt - im Falle des Lebenden Leichnams in der Nacherzählung einer schwächlichen, aus einer konventionellen und mißratenen Ehe in die Sumpfwelt von Zigeunern und Trinkern fliehenden Existenz - , kam in Jessners Konzeption nicht zur Geltung. Durch eine Reduzierung der Schauplätze gewann das an und für sich undramatische Stück nicht an Dichte." 9 Wie weit Publikums- und Kritikergeschmack zuweilen divergierten, zeigte sich in den Reaktionen auf Jessners letzte >russische< Inszenierung.
In Anton Tschechows
Onkel
Wanja bemühte sich Jessner ausnahmsweise nicht, einen dramatischen Kern herauszufiltern, sondern spielte die triste Eintönigkeit eines unspektakulären Alltags auf einem russischen Gut voll aus. Der Untertitel »Szenen aus dem Landleben« wurde in Jessners Inszenierung praktisch zum Haupttitel. Die handlungsarme Monotonie wurde entgegen Jessners sonstigen Gepflogenheiten nicht gestrafft, sondern episch ausgebreitet. Jessner, im grenznahen Königsberg aufgewachsen, war die Stimmung im zaristischen Rußland, die stoische Duldsamkeit einer gedemütigten Landbevölkerung um die Jahrhundertwende
"6 "7
Niclassen im Fremdenblatt worn 25.5.1909. Zit. nach Hatry 1966, S. 161. Vgl. ebd., S. 176 und 264 f. Hatry bemängelt nach Einsicht im Regiebuch, daß ein reich geschmückter Marmorsaal (3. Bild) nur durch weiße Prospekte angedeutet wurde. Ähnlich äußerten sich die Kritiker Niclassen, Zinn, Müller-Rastatt, die der Gesamtleistung aber großen Beifall zollten. 1,8 Vgl. ebd., S. 177. "9 Vgl. ebd.
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vertraut. Seine Rußland-Erfahrungen ließ er bewußt in die Inszenierung einfließen, was die Kritiker im Gegensatz zum Publikum mit Lob quittierten.120 Wie Jessner selbst dieses Inszenieren mit >breitem Pinsel· als überholt und atypisch empfand, äußerte er in einer Stellungnahme in der Hamburger Woche nach der Premiere: »Infolgedessen scheute ich mich auch nicht, die sonst überwundene Melodramatik hier stellenweise wieder auferstehen zu lassen, zumal auch Stanislawski [...] der Eigenart seiner Landsleute dadurch Rechnung trägt, daß er in manchen Szenen unter Musikbegleitung spielen läßt.«121 Leere und Depression, ohne abwechselnde Heiterkeit, bestimmten hartnäckig die Situation, was die Zuschauer im Thalia befremdete. Müller-Rastatt sah die Ursache für dieses Mißverständnis in der Tatsache, daß Jessner im zweiten Teil der Spielzeit 1912/13 wenig inszenierte. Zur reservierten Aufnahme der künstlerisch gelungenen Onkel WanjaProduktion schrieb er im Hamburger Correspondent, daß sich das Publikum »vermutlich an dem elenden Kitsch, der in diesem Winter zumeist auf der Bühne des Thalia-Theaters erschien, den Geschmack so gründlich verdorben [hat], daß es außerstande ist, gediegenere geistige Kost zu vertragen.«' 12 Jessners Bemühung um eine geschmackliche Formung des Publikums erlitt in dieser Phase einen empfindlichen Rückschlag. Was das deutschsprachige Repertoire betrifft, hatten die meisten jungen Autoren bei Jessner wegen seiner bekannten Wedekind-Präferenz einen schweren Stand, wenn auch Hauptmann immer wieder zu Wort kam. Erstaunlicherweise führte Jessner im Mai 1907 ausgerechnet Hauptmanns Frühwerk Das Friedensfest auf, ein Werk mit dem Untertitel »Familienkatastrophe«, das bis in alle Einzelheiten das zerrüttete Familienleben des jungen Wedekind wiedergab. Wedekind, der seinen Jugendfreund Hauptmann über seine gestörte Vaterbeziehung ins Vertrauen gezogen hatte, wurde durch die hemmungslose literarische Ausschlachtung seines privaten Leids zum unversöhnlichen Feind des indiskreten Dichters. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Jessner von dem aufsehenerregenden Bruch Wedekinds mit Hauptmann nichts wußte, zumal Wedekind den Grund seiner Hauptmann-Gegnerschaft auch in späteren Jahren nie verhehlt hatte.123 Jessner sah Hauptmanns Vorgehensweise wahrscheinlich als nicht so gravierend an, unter Umständen reizte ihn sogar die Thematisierung von Wedekinds Biographie. Jedenfalls bescheinigten die Kriti-
120 111 122 123
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Vgl. ebd., S. 188 und 268. Hamburger Woche, Nr. 17 im März 1913, zit. nach Hatry 1966, S. 188. Müller-Rastatt im Correspondent vom 11.4.1913, zit. nach ebd. Erhard Weidl berichtet in seinem Nachwort zur Wedekind-Werkausgabe von der tiefen Verletzung durch den zunächst verehrten Dichter. Wedekind vertraute darauf, an Hauptmann »wenigstens einen, einen Menschen auf dieser Welt zu haben, dem ich mein übervolles, gequältes Herz öffnen konnte [...]. Und dieser Mensch geht hin und setzt meine Seelenergüsse Wort für Wort, stenographiert gewissermaßen, seiner Koprophagenclique als realistische Delikatesse vor.« Wedekind rächte sich, indem er in seiner Komödie Die junge Welt unter dem Pseudonym Franz Ludwig Meier unmißverständlich die naturalistische Schreibart Hauptmanns persiflierte. Vgl. Wedekind 1990, 2. Bd., S. 748. Artur Kutscher stellt heraus, daß Wedekind auch zwanzig Jahre später unversöhnlich Hauptmann gegenüberstand und ihm sogar zum 50. Geburtstag eine öffentliche Schelte verpaßte. Vgl. Kutscher 1964, S. 64-67 und 268.
ker Jessner eine »mustergültige Wiedergabe«124 des Friedenfestes. Eine Fülle der Dialoge ließ Jessner in einem extrem leisen, gedämpften Ton sprechen, wodurch eine von Angst, Enttäuschung und Sehnsucht getragene Stimmung erzeugt wurde. 115 Eine fast gespenstische Lautlosigkeit setzte Jessner gerade in Hauptmann-Inszenierungen wiederholt ein. Vorverweise auf die grandiose Berliner Weber-Regie im Jahre 1928 mit der legendären geräuschlosen Plünderung im 4. Akt sind hier unverkennbar. Nach fünfjähriger Hauptmann-Abstinenz bemühte sich Jessner um eine ebenfalls gedämpfte, unaufdringliche Vor Sonnenaufgang-Darbietung. Das Stück hatte 1912 nach über zwanzigjähriger Aufführungsgeschichte viel von seiner Popularität eingebüßt. Jedoch wurde anerkannt, daß Jessner sich bemühte, durch starke Kürzungen die naturalistische Penetranz herauszunehmen.126 In Jessners Abschiedssaison präsentierte er mit Florian Geyer noch einmal ein Hauptmann-Werk, was in die Reihe der >Steckenpferde< Jessners einzuordnen ist. Ebenso wie Peer Gynt ließ er weitere Inszenierungen in Königsberg, in den zwanziger Jahren erneut in Hamburg und in Berlin folgen. Die Zuschauer für historische Schauspiele mit Volksmassen zu begeistern, das komplizierte Personen- und Szenengefüge durchsichtig und verständlich zu machen und Gegenwartsbezüge herzustellen, wurde zu Jessners großer Herausforderung. Die Premiere fiel im Januar 1915 in die Turbulenzen des ersten Kriegswinters. Jessner mußte mit neuen, unerfahrenen Schauspielern arbeiten. Trotzdem feierten Beobachter Jessners umfassende Bearbeitung als eine seiner besten Leistungen am Thalia. 127 Von der Personenführung revoltierender Massen ging wie so oft die größte Faszination aus. Daß Jessner an seiner Hamburger Wirkungsstätte ein Großteil der deutschen Gegenwartsliteratur aussparte, lag nicht nur an seiner Uberzeugung vom einmaligen Talent Wedekinds, nicht nur daran, daß er mit Einschränkungen Hauptmann die Treue hielt und ansonsten die Verbreiterung des ausländischen Spielplananteils zu seinem Hauptanliegen machte, sondern auch an seinem Unverständnis für traumspielartige lyrische Dichtungen. Noch stärker schreckte ihn aber das Streben nach einem neoklassizistischen Formideal ab, das in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine Renaissance in der deutschen Literatur erlebte. Selten experimentierte Jessner mit Stücken dieser dramatischen Strömung, wenn auch 1910 die Darbietung der Vertauschten Seelen von Wilhelm von Scholz im Gegensatz zum Werk zu gefallen wußte. In Scholz< Schaffen verbinden sich Forderungen nach klassischer Idealität mit einer Neigung zur mystisch-okkulten Ästhetik, der Jessner mit aufwendiger Farbsymbolik in Bühnenbild und Kostüm Rechnung trug.128
124
Hairy 1966, S. 149.
125
Vgl. ebd., S. 149 und 253. In einigen Szenen verursachte der konsequente Flüsterton akustische
126
Vgl. ebd., S. 178 und 265 f.
127
Vgl. ebd., S. 199 und 271 f. In Jessners Bearbeitung war das revolutionäre Feuer der Bauernbe-
Probleme. Die Pressestimmen waren ansonsten allgemein begeistert.
wegung nach Meinung der Kritiker der fesselnde Grundakkord in allen Szenen. Den Florian Geyer spielte das neue Ensemblemitglied Heinz Salfer aus Berlin. 128
Vgl. ebd., S. 171 und 262.
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Vollkommen aus dem Rahmen fiel auch die Aufführung von Fritz von Unruhs Offiziere im September 1914. Unruh, Generalssohn aus preußischem Adel und selbst zunächst im Militärdienst tätig, schrieb dieses Frühwerk im Stile Kleists. Probleme des Gehorsams standesgebundener Soldaten in einem Kolonialkrieg thematisierte Unruh, bevor er durch Weltkriegserfahrungen zum scharfen Kritiker von befohlener Pflichterfüllung und Traditionsbewußtsein werden sollte. Unruhs Offiziere wurde im Spielplan berücksichtigt, weil Intendanten dem politischen Druck ausgesetzt waren, im Theater patriotische Begeisterung für den Weltkrieg zu wecken. Immerhin soll Jessner laut Müllenmeister einen Akt aus Unruhs vierteiligem Drama komplett gestrichen haben, so daß die Eigenständigkeit in künstlerischen Fragen trotz Zugeständnissen an den Zeitgeschmack offenbar erhalten blieb.12? Ein einmaliger Vorgang blieb auch die Berücksichtigung von Arno Holz, wenn auch Jessner der tragischen Groteske Sonnenfinsternis ausdrücklich Bühnenwirksamkeit attestierte. 1 ' 0 Wie Jessner sich an die gewaltige und ausgedehnte Sonnenfinsternis von Holz herantastete, bleibt umstritten. Müllenmeister geht von einer naturalistischen Inszenierung aus, die er als Gegenbeispiel für die These von der radikalen Abkehr Jessners vom Naturalismus anführt. 1 ' 1 Die Einschätzung verwundert, weil Holz zur Zeit der Entstehung der Sonnenfinsternis sich deutlich vom photographischen Alltag gelöst hatte. Das Protzige und Parvenühafte der Großstadt Berlin trat zugunsten der Beschreibung psychopathischer Entwicklungen zurück. Die Lebens- und Schaffenskrise eines Malerprofessors und sein inzestuöses Verhältnis zu einer verführerisch-sinnlichen Tänzerin zeugen eher vom Einfluß Ibsenscher Enthüllungstechnik. Jessners Klassikerinszenierungen blieben in Hamburg auf die beiden Anfangsspielzeiten beschränkt. Mit Beginn der Spielzeit 1906/07 waren von mehr als vierzig JessnerInszenierungen nur noch drei dem klassischen Werk vorbehalten. In Beaumarchais« Figaro bemühte sich Jessner nicht, die revolutionären, aufklärerischen Elemente auszuspielen. Vermutlich ging es ihm darum, seine Fähigkeit, mit leichter Hand zu inszenieren, gelegentlich unter Beweis zu stellen. 131 Eine mechanisierte Typisierung eines Heuchlers war das Ziel, das Jessner 1912 in seiner Version von Molieres Tartuffe ausprobierte. Der Versuch mißglückte durch ein Abrutschen ins Karikaturistische.'33 Eine Maß fur Maß- Interpretation im Dezember 1913 stieß zwar auch nicht auf einhellige Begeisterung, muß aber neben Marquis von Keith als bedeutendstes Regiewerk der letzten zwei Hamburger Jahre betrachtet werden.' 34 Nach über acht Jahren widmete sich
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Vgl. Müllenmeister 1956, S. 16. »Dieses Werk gehört der Bühne«, schrieb Jessner in der Scene. Zit. nach Hatry 1966, S. 191. Vgl. Müllenmeister 1956, S. 17. Die »Glocke der Revolution« hörte man nirgends, war am 5.9.1907 im Hamburger Echo zu lesen, was von Jessner bei diesem Werk eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Vgl. Hatry 1966, S. 151. Kaum eine Inszenierung von Jessner in Hamburg sahen nahezu alle Kritiker als derart mißraten an wie Molieres Meisterwerk. Sowohl Tartuffes Scheinheiligkeit als auch Orgons Trottelhaftigkeit wirkten in der starken Typisierung durchsichtig und ungefährlich. Vgl. ebd., S. 185 f. und 267. Müller-Rastatt (Correspondent), Zinn (Generalanzeiget•) und der Rezensent des Hamburger Echo waren allerdings vor allem von der bildnerischen Wirkung angetan. Kruse (Fremdenblatt) war
Jessner wieder Shakespeare. Die Beschäftigung mit Shakespeares Komödien blieb auch in späteren Zeiten im Gegensatz zu Historien und Tragödien marginal. Im Hamburger Echo und im Correspondent schrieb Jessner drei Tage vor der Premiere ein bemerkenswertes Vorwort, wo vom »grundlegenden Regieeinfall«135 und von einer inszenatorischen Neuschöpfung anstelle einer Nachschöpfung die Rede ist. Der Schlußsatz des Maßfiir Maß-Vorworts: »Regie ist ja, weiß der Himmel, weniger Leistung, Regie ist Oberzeugung«,136 zeigt, daß eine politische Haltung hinter Jessners Regieführen stand. Die Präsentation eines Dramas verstand Jessner immer stärker als aktives Eingreifen in die gesellschaftlichen Umstände der Zeit. In der Weimarer Republik beinhalteten seine inszenatorischen Arbeiten konkrete Stellungnahmen vor allem zur heftig umkämpften aktuellen parlamentarischen Demokratie, wenn auch der Vorwurf einer parteilichen Abhängigkeit von Jessner immer entschieden zurückgewiesen wurde. Tatsächlich enthält kaum eine Komödie Shakespeares so unmißverständliche konkrete politische Bekenntnisse. Der heuchlerische Statthalter Angelo verweist mit seinem lebensfeindlichen Regierungsprogramm auf den zu Shakespeares Lebzeiten bedrohlichen Fanatismus der Puritaner, wenn er auch den Schauplatz zur Tarnung nach Wien verlagerte. Zur Herstellung der Allgemeingültigkeit schaltet Jessner jeden historischen Bezug auf die Renaissance-Zeit aus und verlegt das Geschehen in die Irrealität einer >Tausend-undeiner-Nachtneutralen< Norwegers Ibsen, verschwanden von der Bühne. Als im ersten Kriegswinter der Höhepunkt nationaler Euphorie eingetreten war und viele Schauspieler zum Fronteinsatz eingezogen wurden, mußte Jessner mit Gästen kriegsverherrlichenden Patriotismus zur Darstellung bringen.' 47 •44 Vgl. ebd., S. 273. Das Fremdenblatt meldete schon am 23.4.1909 von einem bevorstehenden Engagement Jessners als Oberregisseur des Wiener Volkstheaters. Von ähnlichen Angeboten war am 16.10.1910 die Rede, auf die Jessner wahrscheinlich freiwillig verzichtete, während Vertragsverhandlungen im Jahre 1912 (Fremdenblatt vom 3.Π.1912 und Hamburger Nachrichten vom 9.12.1912) allem Anschein nach nicht an Jessner allein scheiterten. 145
146 147
Vgl. Jessner 1979, S. 13-16. Am 25.10.1913 wurde im Neuen Weg unter dem Titel »Meine Bewerbung um die Leitung des Neuen Volkstheaters in Berlin« seine Ansichten über die Aufgaben eines Theaterleiters aus gewerkschaftlicher Sicht abgedruckt, die die Redaktion als richtungsweisend ansah. Jessner bedauert, daß einem entsprechenden Wunsch des Berliner Tageblatts, Kandidatenreden zu veröffentlichen, nur ein Teil der Kollegen nachkam. Vgl. Hatry 1966, S. 150. Vgl. ebd., S. 195-201. Hatry nennt das Ende der Spielzeit 1913/14 einen »sich hinstreckenden Prozeß der Auflösung«. Im folgenden Kriegswinter wurden siegreiche Frontberichte an Vorstellungsabenden feierlich verlesen.
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Eine Schließung, wie sie in anderen Städten unumgänglich wurde, konnte in Hamburg zwar verhindert werden, zur besorgniserregenden Niveauverflachung k a m aber noch zusätzlich der überraschende Rücktritt von M a x Bachur hinzu. Die G r ü n d e erschienen unerfindlich. D e r zermürbende Zustand in der schrecklichen Kriegszeit konnte nicht der einzige G r u n d sein, daß der langjährige Direktor sein A m t zur V e r f ü g u n g stellte. D i e Begleitumstände der letzten eineinhalb Jahre erleichterten aber sicherlich Jessners Entscheidung, die Bühne zu verlassen und 1915 das Intendantenangebot in seiner Heimatstadt Königsberg anzunehmen. Jessners endgültiger Abgang nach Königsberg wurde in der Presse zutiefst bedauert. M ö h r i n g berichtet von »überaus herzlichen Abschiedsworten« f ü r den »Regenerator« des Thalia. 1 4 8 Man wußte, daß allein Jessner den unaufhaltsamen Absturz zum reinen Schwankund Possentheater abgewandt hatte u n d eine M i s c h f o r m aus gehobener Unterhaltung und zeitgenössischer Kunst durchsetzte, was bis zum heutigen T a g das Bild des Thalia bestimmt. H a m b u r g verlor 1915 mit Jessner außerdem die größte H o f f n u n g für ein vollk o m m e n neuartiges Regietheater. A u f dem Regiekongreß der Vereinigung Künstlerischer Bühnenvorstände ( V . K . B . ) am 2. M a i 1913 in Berlin-Charlottenburg lautete einer der Kernthesen von Jessners berühmtgewordener Rede über gestiegene Anforderungen und gewachsene Verantwortung eines neuartigen Regisseurberufes: »Der Regisseur muß, ehe er mit der Verteilung der Rollen beginnt - ein wesentliches Recht, auf das w i r noch zurückkommen werden - , das zu inszenierende W e r k von G r u n d aus erfaßt haben. Das W e r k des Dichters muß vom Regisseur strategisch ausgearbeitet sein.« 1 4 9 Diese Arbeitsweise, zuerst ein Werk zu interpretieren, einen dramaturgischen Gesamtplan zu entwerfen, bevor man auf der Probebühne beginnt, war in dieser Zeit einmalig und revolutionär. W i e stark die Hamburger Theaterszene Jessner vermißte, kann an den Bemühungen ermessen werden, ihn in den zwanziger Jahren als Gastregisseur zurückzuholen. Auch nach dem Krieg hatten die Hamburger Leopold Jessner nicht vergessen. Eine »verspätete, d e n n o c h aber erfreuliche E h r u n g « 1 5 0 w u r d e ihm p o s t u m an seinem 85. Geburtstag zu teil. Als Ausdruck tiefempfundenen Dankes der Stadt H a m b u r g wurde eine Büste Jessners aufgestellt, die seit 1963 das Foyer des Thalia-Theaters ziert.
2.5. Jessner in der Kulturpolitik Hamburgs Überragende Verdienste erwarb sich der eifrige Sozialdemokrat Jessner auch als Kulturpolitiker der Hansestadt. Sein R e n o m m e e als führender Regie-Repräsentant des ThaliaTheaters sah er als Ansporn und Verpflichtung an, sich mit ganzer K r a f t für die Verbesserung der wirtschaftlichen u n d sozialen Stellung des Bühnenpersonals einzusetzen.
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Möhring 1963, S. 199. Jessner 1979, S. 145. Jessners Rede auf dem ersten Regiekongreß des V.K.B, wurde unter dem Titel »Die künstlerische Verantwortung des Regisseurs, seine Rechte und Pflichten« in der Verbandszeitschrift Scene im Oktober 1913 nachgedruckt. '5° Möhring 1963, S. 198. 145
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Frühzeitig wurde Jessner Mitglied im Zentralausschuß der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger.'51 Wie sehr sich Jessner der Gewerkschaft verbunden fühlte, zeigt sich insbesondere darin, daß er der Gründung der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände (V.K.B.) am 4. April 1911 zunächst skeptisch gegenüberstand, obwohl treibende Kraft und erster Vorsitzender sein väterlicher Freund Dr. Carl Heine war.'5Z In der V.K.B., die sich als Interessenvertretung der Regisseure verstand, sah Jessner ein Konkurrenzunternehmen zur Genossenschaft, die er in den Fragen der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verbesserungen der Bühnenkünstler für allein maßgeblich hielt.'55 Die V.K.B, wiederum mißtraute damals der bestehenden Gewerkschaft wegen ihrer vermeintlich einseitigen Parteinahme für das darstellende Personal.1'4 Gustav Härtung, Dr. Carl Heine und weitere Initiatoren wollten mit der neuen Berufsorganisation den gewaltigen Umstrukturierungen des deutschen Theaterwesens Rechnung tragen. Die zunehmenden Ansprüche und die enorm erweiterte Verantwortlichkeit der Regisseure bedurfte einer ihrer Bedeutung entsprechenden Stellung und rechtlichen Absicherung vor allem gegenüber der Theaterdirektion. In der Gründungsphase der V.K.B, war die Eigenständigkeit des Regisseur-Berufsstandes anstelle des Schauspielers mit nebenamtlicher Spielleitungsbefugnis oberstes Ziel. Zu den wichtigsten detaillierten Forderungen gegenüber der Theaterleitung gehörten neben einer vertraglich festgelegten Entlohnung alleinige Verfügung über Rollenbesetzung, Mitbestimmung bei Engagements und Spielplangestaltung, mindestens vierzehntägige Probenzeit bei Neueinstudierungen und uneingeschränkte Beanspruchung von Hilfsregisseuren (Assistenten).'55 Während anfangs die Regisseure eindeutig im Mittelpunkt standen, setzte sich die V.K.B, später ebenso für die Rechte anderer fachlich geschulter Bühnenvorstände wie Dramaturgen, Kapellmeister, Chordirektoren, Ballettvorstände, Dekorationsmaler oder künstlerische Beiräte (Chefs von Bühnen- und Kostümabteilungen) ein. Der Streit mit der Bühnengenossenschaft bezog sich auf Kompetenzen und Zuständigkeiten. Weil Jessner die Anliegen der V.K.B, in der Sache leidenschaftlich unterstützte, beteiligte er sich von Beginn an aktiv mit Beiträgen für das Verbandsorgan Die Scene. Trotz seines Einsatzes für die unstreitig wichtigste Theaterzeitschrift der Zeit, in der
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Wann Jessner Zentralausschußmitglied der Genossenschaft wurde, ist nicht genau bekannt. Als er sich 1913 um die Volkstheaterleitung in Berlin bewarb, erwähnt er diese Funktion zum ersten Mal. Vgl. Jessner 1979, S. 16. ' 5Z Bruno Th. Satori-Neumann: »Die Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände. Ihre Begründung, ihre Entwicklung, ihre Ziele«. In: Die Scene, 1927,17. Jg., H. 5, S. 193-227. Neben Jessner erhob beispielsweise auch Hans Meyer, Dramaturg und Regisseur aus München, Einwände gegenüber dem Gründungsaufruf der V.K.B. '» Vgl. ebd., S. 204. '5t Vgl. ebd., S. 200. 155 Den eingehendsten und ausführlichsten Forderungskatalog stellte Regisseur Franz Herterich (Neues Schauspielhaus Berlin) zusammen, der vor der offiziellen Gründung der V.K.B, in der Deutschen Theater-Zeitschrift am 31.1.1911 abgedruckt wurde. Vgl. ebd., S. 205-207.
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bedeutende Theaterschaffende ihre Theatererfahrungen und Erkenntnisse zum Vortrag brachten, blieb seine Haltung gegenüber der Politik der V . K . B , ambivalent. Als er 1924 d e m vielfachen D r ä n g e n , die Spitzenposition innerhalb der V . K . B , w a h r z u n e h m e n , nachgab -
nach dem Rücktritt Ferdinand Gregoris fiel die W a h l fast zwangsläufig auf
Jessner als Intendant der größten deutschen Bühnen
knüpfte er die Übernahme des
Ehrenamtes aber an die Bedingung, daß sich unter seiner Führung die V . K . B , auf geistigkünstlerische Angelegenheiten des Theaters beschränke. D i e soziale und wirtschaftliche Interessenvertretung aller Bühnenkünstler sollte wieder ausschließlich der Bühnengenossenschaft obliegen. 1 , 6 In H a m b u r g bemühten sich die Gewerkschaften schon um die Jahrhundertwende für die karge Entlohnung der Schauspieler, die ausschließlich für die neunmonatige Dauer der Saison bezahlt wurden und in den Sommermonaten gänzlich ohne Einkommen waren, einen Ausgleich zu schaffen. N a c h Müllenmeisters Angaben existierte in der Hansestadt schon seit 1 9 0 0 von der Zentralkomission f ü r das Arbeiterbildungswesen veranstaltete sogenannte Volksschauspieleverjudeten< Theaters entgegenzutreten versuchte. Goldstein publizierte zur Einweihung des neuen Hauses eine Festschrift über die Geschichte des Neuen Schauspielhauses unter den verschiedenen Intendanzen. Ludwig Goldstein: Das neue Schauspielhaus Königsberg/Pr. Königsberg Γ927, S. 22.
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Begünstigt wurde der Wechsel von Hamburg nach Königsberg zusätzlich durch die Suche nach einer »von Traditionen möglichst unbeschwerte[n] Wirkungsstätte«, 7 eine Voraussetzung, die das Neue Schauspielhaus erfüllte. Der Schriftsteller und Kritiker Julius Bab, für zwei Jahre von Jessner als Dramaturg und Regisseur aus Berlin nach Königsberg berufen, ordnete die Neugründung im Jahre 1910 als offenen Protest zum bestehenden Stadttheater ein: »Das kleine Neue Schauspielhaus [...] - eines jener Theater, die zu belebendem Wettkampf mit dem träg und langweilig gewordenen Stadttheater in den meisten deutschen Großstädten am Jahrhundertanfang gegründet wurden.« 8 In der Tat waren die Königsberger Theaterverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinterwäldlerisch und dem Ruf der Universitätsstadt abträglich. Von Wedekind nahm das Stadttheater über Jahre hinweg keine Notiz. Als im November 1910 mit einer Frühlings irawf/^TZ-AufRihrung erstmals ein Vorstoß gewagt wurde, untersagte die Polizeibehörde, trotz einer gemäßigten Bühnenbearbeitung, kategorisch jede Aufführung, was den Ruf der künstlerischen Rückständigkeit noch deutlicher untermauert. 9 Dieser krasse Fall eines Zensureingriffes, der überregionale Erregung auslöste, war sicherlich beispielhaft für die Provinzialität des Stadttheaters. Gegen eine Versumpfung des geistigen Klimas und die Tabuisierung neuer literarischer Entwicklungen auf theatralischem Gebiet kämpfte frühzeitig vor allem Goldstein mit seinem Goethebund immer wieder an. Neben Goldstein versuchten schon seit 1905 unter Führung des Arztes Dr. Arthur Bredow kunstsinnige Persönlichkeiten und finanzkräftige Mäzene die Inbetriebnahme eines zweiten Theaters in Königsberg durchzusetzen. Das Neue Schauspielhaus, das in seiner Konzeption der Volksbühnenidee sehr nahe kam und den literarisch-künstlerischen Erfordernissen einer Universitätsstadt entsprach, wurde nach zähem Ringen im Herbst 1910 eröffnet. Uber diese für die Reputation der Stadt lebenswichtige Großtat schreibt Goldstein: »In den ersten Jahren des Neuen Schauspielhauses sprach man >im Reich< mehr von Königsberg als es früher während eines ganzen Menschenalters geschehen war.« 10 Nachträglich erscheint es selbstverständlich, die neue Bühne, die dem konkurrierenden Stadttheater schnell den Rang ablief, zu rühmen. Jessner nannte das Haus eine »Kulturfestung des Ostens«," erinnerte aber gleichzeitig daran, daß es »anfänglich mit mancherlei Skepsis begrüßt wurde«. 12 Vor allem im Vorfeld werteten viele die von den Initiatoren favorisierte Lösung, nur mit privaten Mitteln einen eigenständigen Theaterneubau zu finanzieren, als waghalsigen Schritt. In einer großangelegten Kampagne gelang es jedoch Kaufleuten, Professoren, Stadträten und vor allem Handelsgesellschaften, ein
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Ebd. Julius Bab: Das Theater der Gegenwart. Leipzig 1928, S. 180. Den Skandal um den ersten Königsberger Wedekind-Versuch mit Frühlings Erwachen hat Seehaus ausführlich dokumentiert. Vgl. Seehaus 1964, S. 95-97· Erst im Frühjahr 1912 wurde durch Bescheid des Oberverwaltungsgerichts Berlin das Aufführungsverbot aufgehoben. An die Spitze der energischen Widersacher setzte sich der Goethebund-Vorsitzende und Kritiker Goldstein, dessen unablässige Berichte in der Hartungschen Zeitung erst ein Aufrütteln der Öffentlichkeit ermöglicht haben. Goldstein 1927, S. 16. Jessner 1979, S. 273. Ebd., S. 271.
ausreichendes Stammkapital zu erwirtschaften, um nach langjährigen Verhandlungen ein geeignetes Grundstück in der Roßgärter Passage zu erwerben. N i c h t zuletzt jüdische Kaufleute im Holz- und Getreidehandel oder in der Textil- und Bekleidungsindustrie waren an dem Unternehmen maßgeblich beteiligt.' 3 In der räumlichen Gestaltung orientierte man sich am M ü n c h n e r Schauspielhaus. D i e 6 6 0 Sitzplätze verteilten sich ausschließlich auf Parkett und einen Rang, die Bühne war schmal, wenn auch mit Rundhorizont und neuester Beleuchtungstechnik ausgestattet. 14 Als sich am 8. September 1910 zum vereinbarten T e r m i n erstmals der Vorhang im Neuen Schauspielhaus öffnete, hieß der erste Direktor Josef Geissei. In seiner vierjährigen Amtszeit hatte er trotz mancher Rückschläge viel in Königsberg erreicht. Ein ausgewogenes Programm, das auch auf literarische Neuentdeckungen nicht verzichtete, und ein hohes darstellerisches Niveau brachten dem Haus Huldigungen ein, die die letzten Skeptiker eines erweiterten Theaterangebots verstummen ließ. Kennzeichnend für die Inszenierungen war eine N a c h a h m u n g des Reinhardt-Stils.' 5 M a x Reinhardt beherrschte die deutsche Theaterszene in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahezu vollständig. D i e Abhängigkeit ging - am Neuen Schauspielhaus nicht anders als an fast allen anderen Bühnen des Reiches - so weit, daß wie selbstverständlich das Repertoire des Deutschen Theaters nachgespielt, Spielfassungen ungeprüft übernommen, seine Regieprinzipien imitiert und Bühnenbilder nachgebaut wurden. Berlin, und das hieß in der Zeit von 1910 bis 1914 in erster Linie Reinhardt, war der Maßstab aller Dinge. W e n n Geissei ReinhardtSchauspieler wie Durieux, Eysoldt, Moissi, Wegener oder Winterstein nach Königsberg holte, galten diese Gastspiele als Höhepunkte der Saison. Das Ende der Reinhardt-Mode war 1915 in Königsberg zu Beginn der Jessner-Ära vielleicht die auffälligste und grundlegendste Neuerung. Jessner hatte große Uberzeugungsarbeit zu leisten, u m die N o t w e n d i g k e i t einer radikalen L ö s u n g plausibel zu machen. Reinhardts großbürgerlich-romantisches u n d apolitisches Kunstverständnis blieb Jessner fremd. In den zahlreichen Aufsätzen und Reden Jessners ist zwischen den Zeilen trotz betont höflicher A n e r k e n n u n g f ü r das außerordentliche Theatergenie Reinhardt diese Distanz immer unüberhörbar geblieben. In der Königsberger Zeit prangerte er vor allem den Schatten des >Übervaters< an, der besonders in der Provinz jeden Fortschritt zum Stillstand bringe. I m Januar 1918 machte Jessner in einem Interview der Theaterkritik den V o r w u r f , durch die Fixierung auf Reinhardt eine Theatererneuerung erschwert zu haben: In den meisten Fällen kennt die Presse im Reich nur Reinhardt-Überwinder oder ReinhardtKopisten. In leider nur sehr wenigen Fällen wird anerkannt, daß ein Regisseur weder das eine
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Vgl. Jacoby 1983, S. 18. Vgl. Müllenmeister 1956, S. 22. Müllenmeister bemißt Größe des Bühnenhauses mit 15 mal 9 Metern ohne Hinterbühne, während Goldstein in seiner Wilhelm 7>//-Kritik das Podium mit 7 mal Ii Metern beziffert. E. Kurt Fischer: Königsberger Hartungsche Dramaturgie. Königsberg 1932, S. 547. Vgl. Goldstein 1927, S. 16-18. Goldstein widmet sich auch deshalb so ausgiebig dem Einfluß Reinhardts, weil er selbst ihn zum Vorbild hatte.
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noch das andere ist, sondern ehrlich bemüht, eigene Wege zu gehen. G e w i ß hat Reinhardt befruchtend auf alle gewirkt, und ich kann nicht oft genug sagen, daß ich ihm die größte Verehrung zolle, aber es ist doch Tatsache, daß nicht alles von Reinhardt herrührt, was mit Recht als ein Resultat der großen Regiebewegung angesehen wird, die mit den N a m e n Reinhardt verknüpft ist. Die großen künstlerischen Religions-Verkünder waren doch schließlich BeerbohmTree, G o r d o n Craig, Stanislawski. Reinhardt hat es verstanden, diese großen Ausländer für die deutsche Art umzusetzen. W i r würden nie die Segnungen von Reinhardts Erfolgen genießen, wenn die Berliner Kritik ihn stets krittelnd auf seinen Ursprung hingewiesen hätte. Der Regisseur im Reich aber wird in seiner Wanderung auf eigenen Wegen ständig durch den Hinweis auf Reinhardt gehemmt. 1 6
Eigenständigkeit betonte Jessner auch in seinem Führungsstil als Theaterdirektor. Gerade weil er sich künstlerisch viel vorgenommen hatte, blieben die Begriffe sozialdemokratisch und vaterländisch-versöhnlich in der bedenklichen Zeit die Richtschnur für sein Handeln. Im bereits obengenannten Interview wurde Jessner als gewerkschaftlicher Vorkämpfer vorgestellt, der in seiner neuen Leitungsrolle trotz wirtschaftlicher Depression zunächst die Gagen der Angestellten um zwanzig Prozent erhöhte. »Er hat in seiner ersten Ansprache an die Mitglieder seiner Bühne sich die Anrede >Direktor< verbeten, gleichsam als äußeres Symbol dafür, daß er sich nicht nur als Primus inter pares ansieht, er hat die Verträge eingeführt, die die Genossenschaft seit Jahren vergeblich verlangt [...].«'7 Wegen seiner bekannten Kompromißlosigkeit im Eintreten für Arbeitnehmerinteressen hatte Jessner allen Grund, die Amtsgeschäfte kollegial und antiautoritär zu führen. Von seinem »Wechsel zur Gegenseite«,'8 wie Müllenmeister Jessners erste Intendanz beschreibt, erwarteten die Schauspieler gerade eine soziale Verbesserung für die Bühnenangestellten. Angesichts des Krieges und eines extrem eingeschränkten Etats ist es nahezu unfaßbar, daß Lohnerhöhungen und Uberstundenbezahlung tatsächlich durchgesetzt werden konnten. Im Weltkrieg kamen auf einen Theaterleiter weitere Aufgaben zu. Fast beschwörend definierte Jessner in seiner Antrittsrede im Sommer 1915 die gesellschaftliche Funktion der darstellenden Kunst unter den gegenwärtigen Umständen: Vor-Wacht der deutschen Kunst im Osten des Reiches, [...] Stätte der Erhebung, Erbauung und edlen Unterhaltung [...]. Auch die Bühne des Neuen Schauspielhauses will in diesen ernsten Tagen das Hochgefühl sittlicher Kraft im deutschen Herzen bewahren helfen und den von Leid Heimgesuchten Tröstung und innere Festigung geben. Sie wird diese Bestimmung erfüllen mit Hilfe der Werke unserer klassischen wie zeitgenössischen Dichter, die in der Form heutiger Errungenschaften auf szenischem und darstellerischem Gebiete gebracht werden sollen. 19
Diese auf den ersten Blick erstaunlich patriotischen Töne waren unumgänglich, um die Aufrechterhaltung des Spielbetriebs in dieser vom Krieg besonders betroffenen ostdeutschen Grenzstadt zu rechtfertigen. Goldstein berichtet zum Beispiel von einer Kohlenknappheit,
16
Jessner 1979, S. 50 f.
"7
Ebd., S. 49.
,8
Müllenmeister 1956, S. 25. Goldstein 1927, S. 23. Goldstein nimmt Auszüge aus Jessners Intendanten-Antrittsrede in seine Publikation mit auf.
78
die einige Male Abendvorstellungen verhinderte. Die Lage war wirtschaftlich so angespannt, daß das Stadttheater, ohnehin künstlerisch heruntergekommen, während der gesamten Kriegsdauer geschlossen blieb und seine Spielstätte jahrelang als Lazarett diente. 20 Jessner fühlte sich mit seinem konkurrenzlosen Neuen Schauspielhaus in die Pflicht genommen, den um die Zukunft bangenden Menschen M u t und Hoffnung zu geben. Insofern entsprachen die nationalen Worte bei der Amtsübernahme seiner ehrlichen Uberzeugung. Trotz zeitbedingter Vorgaben in der Stückauswahl konnte Jessner in der vierjährigen Königsberger Wirksamkeit ein anspruchsvolles Programm anbieten. Gegenüber der Unterhaltungsliteratur behielt Jessner eine angestammte Reserviertheit bei, obwohl normalerweise zum Kriegsrepertoire neben heroischen Schauspielen auch ablenkende heitere Lustspiele gehörten. Müllenmeister konstatierte zwei hervorstechende Veränderungen im Gesicht des Schauspielhauses: »Der Komödie gegenüber eine vornehme, fast übertriebene Zurückhaltung [...] und einem für Königsberg beachtlichen Bemühen um Uraufführungen.« Z1 Jessner kümmerte sich selbst verstärkt um Klassiker, die ihm in Hamburg weitgehend versagt geblieben waren. Obwohl die kammerspielartige Bühne des Neuen Schauspielhauses keineswegs optimale Voraussetzungen für Shakespeare-, Schiller-, Goethe-, Kleistoder Hebbel-Inszenierungen bot, wurden sie zur Domäne des neuen Königsberger Chefs, während das breite Angebot zeitgenössischer Autoren mehrheitlich von Jessners Mitarbeitern in Szene gesetzt wurde. Ansonsten behielt sich Jessner nur noch bei seinen Favoriten Hauptmann und Wedekind das Recht vor, zumeist selbst Regie zu führen, wenn sie auch, verglichen mit der Hamburger Zeit, nicht mehr so dominierten. Die Gegenwartsdramatik, die unter Jessners Leitung breiten Raum einnahm, läßt sich grob in drei Rubriken einteilen. V o n der Aussichtslosigkeit, >feindliche< Engländer, Franzosen oder gar Russen zu spielen, profitierten zum einen kriegsunbeteiligte Skandinavier wie Ibsen oder auch Björnson und Strindberg. Zweitens gab Jessner dem Verlangen nach, den in der norddeutschen Provinz bisher vollständig vernachlässigten österreichischen Autoren Geltung zu verschaffen. Von den vaterländischen Bundes- und militärischen Waffenbrüdern wurden Schnitzler, Bahr, Wildgans und Karl Schönherr in Königsberg erstmals gespielt. Die dritte Gruppe umfaßte die im weitesten Sinne junge expressionistische Strömung, die durch Sternheim, Heinrich Mann, Hasenclever und Kaiser vertreten war. Interessanterweise behauptet der in dieser Zeit genaueste Beobachter der Königsberger Theaterszene Ludwig Goldstein, daß Jessner den »Hexensabbat des Expressionismus« nur »pflichtschuldigst mitgemacht« 12 habe. Seine Gesamtbilanz fällt positiv aus, ohne Nennung besonderer Prioritäten: »Man leistete sich besonders am Anfang den Luxus eines ausgezeichneten Spielplans, wie ihn Königsberg in solcher Güte noch nie gesehen hatte, und suchte mit den dreimal beschränkten Kriegsmitteln doppelte Friedensarbeit zu leisten.« 23
20
Vgl. ebd., S. 24.
21
Müllenmeister 1956, S. 22 f.
22
Goldstein 1927, S. 24. Ebd.
79
3-2. Das erste Jahr als eigenständiger Leiter Als Einstieg wählte Jessner das gedankenschwere und umfängliche Peer Gynt-Drama aus, das er fünf Jahre zuvor in Hamburg erst für Deutschland entdeckt und zu einem der angesehensten Werke Ibsens emporgehoben hatte. Die ungeeigneten Bühnenverhältnisse in Königsberg stachelten Jessner umso mehr an, die Machbarkeit von derartigen Großprojekten zu beweisen. Eine stilistische Anlehnung an die gefeierte Hamburger GyntInszenierung bot sich an. Nationale Elemente spielten wiederum keine Rolle. Jessner filterte das Unrealistische und Visionäre der Dichtung heraus. Vom ursprünglichen Text fiel etwa die Hälfte dem Rotstift zum Opfer. Goldstein sah zwar in der Fülle von Auslassungen die Gefahr zu harter Schnitte und gewaltsamer Übergänge, begeisterte sich aber in seiner Kritik für Jessners Konzeption, das ganze wirre Szenengeflecht als Traumbild Peer Gynts aufführen zu lassen: »[...] als Wiederstrahlung von inneren Vorgängen, Hirngespinsten und Beängstigungen, Herzkämpfen und -krämpfen. Fast alles ist wie durch einen Schleier gesehen [...]. Jessner entnebelt nicht die dichterischen Vorgänge, sondern er umnebelt sie.«24 Zur Sprach- und Personenregie verliert Goldstein kein Wort. Sein Interesse konzentriert sich auf eine vermeintlich üppige Ausstattung, wenn auch am Ende auf kontrastreiche Szenen mit karger Bühnenarchitektur ansatzweise hingewiesen wird. Ob eine Uberbetonung der bildlichen Gestaltung vorgelegen hatte oder nur Goldsteins Blickwinkel zu sehr auf das Dekorative ausgerichtet war - auffallend lange hält er sich mit der Beschreibung technischer Details wie Projektionsapparate und kinematographische Hilfsmittel a u f - , ist nicht mit letzter Gewißheit zu eruieren. In jedem Fall hatte die zuweilen aufwendige szenische Realisierung beim Königsberger Publikum große Bewunderung ausgelöst, die Jessner einhelligen Applaus und 25 Vorstellungsabende für seine erste Inszenierung bescherte. Goldsteins Worte, »[e]r hat dem Bühnlein in der Passage Großbühnliches abgerungen«,25 gaben jedenfalls die allgemeine Stimmung wieder, daß die Königsberger Theaterszene nun bereit war, Jessner auf dem Weg der Umsetzung schwieriger Werke zu folgen. Als Jessner zwei Monate nach Peer Gynt in eigener Regie Don Carlos inszenierte, war der Hauch von Illusion und Verzauberung schon wieder verschwunden. Es bleibt festzuhalten, daß die malerische Wirkung im Gywi-Stück von Goldstein vermutlich mißverstanden wurde. Sein Kompliment »Blut vom Blute Reinhardts«26 hatte nur insofern Berechtigung, als daß Jessners optimale Ausnutzung des Bühnenraumes und der professionelle Umgang mit dem technischen Apparat an Reinhardt erinnerte. Müllenmeister wertet Jessners visionären Anfang als enthüllende und nicht verzaubernde Regie und
24
2
*
26
80
Goldstein in der Hartungschen Zeitung, Nr. 440 vom 20.9.1915. Zit. nach Fischer 1932, S. 538 f. Kurt Fischer hat in seinem umfangreichen Buch über eine der ältesten deutschen Zeitungen Feuilletonartikel aus zwei Jahrhunderten gesammelt. Viele Kritiken aus der Hartungschen Zeitung über Königsberger Jessner-lnszenierungen (fast immer von Ludwig Goldstein geschrieben) haben Eingang in Fischers Buch gefunden. Ebd., S. 537. Ebd., S. 538.
kritisiert Goldstein: »Jessner ist nach der Einführung mit >Peer Gynt< unter völlig falschen Voraussetzungen begrüßt worden, nämlich als Regisseur der Dekoration.« 27 Das Gegenteil eines dekorativen Regiestils bewies Jessner in Schillers Carlos. In kalten und schmucklosen Räumen sah man bedenkliche Gestalten im gedämpften Ton sprechen und umherschleichen. Das Intrigenspiel drängte die großen politischen Ideen beiseite und stellte stattdessen die menschliche Leere des spanischen Hofes bloß. Nicht den Historiker, sondern den Menschenkenner Schiller bewunderte Jessner. Vor allem auf die umfassende dramaturgische Bearbeitung seiner Königsberger Version wurde in weiteren Inszenierungen immer zurückgegriffen. Günther Rühle schreibt über Jessners ersten Berliner Carlos im Jahre 1922: Schon der Königsberger »Carlos« ging von Schillers Hinweis aus: »Wenn das Trauerspiel schmelzen soll, so m u ß es durch die Situation und den Charakter K ö n i g Philipps geschehen. A u f der W e n d u n g , die man diesem gibt, ruht vielleicht das ganze G e w i c h t der Tragödie.« Jessner inszenierte aber nicht die Tragödie eines Königs, sondern die Tragödie des Menschen Philipp. D i e Carios-Posa-Handlung trat zurück, das K o m p l o t t Alba, D o m i n g o , Eboli wurde stärker herausgearbeitet.
Die Unerschrockenheit, mit der Jessner zum Zwecke der Zuspitzung auf das private Schicksal Philipps und seiner zerrütteten Familienverhältnisse die Tragödie für die Königsberger Aufführung zusammenstrich, ging weit über die bisherige C^r/βί-Rezeption hinaus. Müllenmeister sieht in der Don CarAw-Spielfassung den Ausgangspunkt für Jessners Uberzeugung, daß der Regisseur aus jedem Werk einen eigenen Regiegedanken auswählen müsse. 29 Zwar wandte Jessner bereits in seiner Hamburger Zeit - der Hinweis auf die Marquis von Af/V/?-Produkt ion mag an dieser Stelle genügen - das Prinzip der motivischen Regie, des Herausschälens des Kerns der Handlung an. Aber in der Carlos-Version wird zum ersten Mal die Eigenständigkeit des Regiewerks, die Unabhängigkeit von der Textvorlage reklamiert. Jessner nimmt erstmals das Recht des Regisseurs auf Veränderbarkeit des Schwerpunkts wahr. Er greift mit der Familientragödie Philipps Einzelzüge des Werks heraus. Genausogut hätte er den politischen Konflikt um das Freiheitsproblem oder das Liebes- und Eifersuchtsdrama spielen lassen können, was in diesem Fall aber gänzlich ausblieb. Wie weitgehend Jessners Umarbeitung gerade populäre Stellen des Werkes betraf, läßt sich an vielen Beispielen zeigen. Schon im Anfangsdialog wurden die geflügelten Worte Domingos von den schönen Tagen in Aranjuez und dem rätselhaften Schweigen des Prinzen nicht gesprochen. Posas Erzählung von den edlen Häusern aus Mirandola (I/4), die nur für den Verzicht Carlos' auf Elisabeth von Bedeutung ist, wurde ebenso komplett gestrichen wie die Audienzszene (III/6 und 7), in der die Person des Marquis Posa dem König angekündigt wird und ansonsten die Haupt- und Staatsaktion dominiert. Die
27
Müllenmeister 1956, S. 28.
28
Rühle 1988, S. 353.
29
V g l . Müllenmeister 1956, S. 26.
81
zumeist als Höhepunkt bezeichnete Auseinandersetzung zwischen Philipp und Posa (III/io) erhielt starke Kürzungen, insofern sie mehr den König als den Menschen Philipp beschreiben. Die unmittelbare Replik auf Posas Gedankenfreiheits-Monolog »sonderbarer Schwärmer« fiel aus, da es auf Posas sprichwörtliche Charakterisierung nicht ankam. Zur Klärung des komplizierten Intrigengeflechts fanden dagegen nahezu alle Verse der Alba-DomingoEboli-Verschwörung (Ii/n und 12) Eingang in Jessners Bühnenfassung.30 Neben der eindeutigen Zentrierung auf die privaten Fehden und Machenschaften um Philipp und sein Herrscherhaus steht Jessners Interpretation in unmißverständlicher Opposition zur traditionellen Haltung des belesenen Bildungsbürgers, der im Theater nur auf die Reproduktion tönender Verse und bekannter Zitate wartet. Die ersten Zeilen aus der Kritik Goldsteins belegen diese Tendenz eindeutig, obwohl Goldstein aus prinzipiellen Erwägungen immer voll hinter Jessners Aufführungen stand: 7 Uhr 33 das erste Glockenzeichen. Der unvermeidliche Literaturkenner murmelt schon die Anfangsworte vor sich hin. »Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende« [...]. Aber beim Theater kommt es immer anders [...]. Wie, hat man eines der schönsten Literaturdenkmale umzudichten sich erdreistet? - Unbesorgt! Es ist nur eine leichte Textretusche [...] die man freilich auf der Schule nicht kennen lernt.3'
Goldstein widerlegt seine These von den geringfügigen Textretuschen allerdings selbst, wenn er einige Absätze später auf den Verzicht von annähernd der Hälfte der 5.370 Verse zu sprechen kommt. Dieser Passus ist ein eindeutiges Indiz dafür, daß der Literaturwissenschaftler Goldstein als Verfechter einer großbürgerlichen Kunstauffassung Jessners Theater viel kritischer gegenüberstand, als er es selbst zugibt. Sein Gespür für das einzigartige Regietalent Jessners veranlaßte ihn in erster Linie, Jessners Leistungen voll zu unterstützen, um einen vorzeitigen Weggang aus Königsberg um jeden Preis zu verhindern. Eine Mischung aus fassungslosem Erstaunen über die neue Qualität des Spielplans und gleichzeitig vorsichtig vorgetragenen Einwänden gegenüber Jessners tiefgreifenden Bearbeitungen wird noch deutlicher in Goldsteins Kritik zu Shakespeares König Lear, dem dritten Großprojekt Jessners in seiner ersten Saison. »An hohe Sterne legt er die Leiter an: Peer Gynt, Don Carlos, König Lear - zu Ostern spricht man schon vom Faust. So daß man immer wieder vor die Frage gestellt wird, ob solche unerschwinglich kostbaren Juwelen der Literatur unserer Passagebühne überhaupt erreichbar sind.«32 Die Arbeit am Faust wurde zwar um über zwei Jahre verschoben, dennoch wurde die generelle programmatische Hinwegsetzung über provinzielle Gegebenheiten zur wesentlichsten Neuerung am Anfang der Jessner-Ara. Die Zf^r-Kritik offenbart aber auch, daß Goldsteins Vorstellungswelt noch von der Machbarkeit einer unveränderlichen Werkwiedergabe geprägt war. Es fiel ihm schwer, zwischen dramatischer Form und theatralischer Umsetzung zu unterscheiden. Worte wie
3
°
31 32
82
Vgl. ebd., S. 27. Müllenmeister entnimmt die Spielfassung weitgehend der Kritik Goldsteins in der Hartungschen Zeitung, Nr. 536 vom 15.11.1915, zit. nach Fischer 1932, S. 545-547. Zit. nach Fischer 1932, S. 545. Goldstein in der Hartungschen Zeitung, Nr. n o vom 6.3.1916, zit. nach Fischer 1932, S. 540.
»Gewaltsamkeiten« 33 in der Herstellung einer Bühnenfassung, trotz der einschränkenden Formulierung vom »Los jeder Theaterspielerei [...] der Dichtung ins blühende Fleisch« 34 zu schneiden, verraten die Präferenz des Literaturkritikers vor dem Theaterkritiker. Goldstein fehlte in dieser Inszenierung vor allem das Verständnis fur Kürzungen in den Heideszenen, die insbesondere an der imaginären Gerichtsverhandlung zwischen dem verwirrten Lear, Edgar und dem Narren vorgenommen wurde {III/6), genauso wie er den Verzicht auf Lears wunderlichen Zaunkönig-Monolog (IV/6) beklagte. 35 Jessners Regiekonzept zielte auf Vereinfachung ab, die Goldstein wiederum vorrangig am Bühnenbild analysierte. Die Aufteilung von Lears Reich und Vermögen (I/i) fand in einem Zelt anstelle eines Thronsaals statt. Albanys Schloß bestand nur aus einer Mauer. Die Sturmund Gewitterszenen wurden nicht naturalistisch inszeniert. Man beschränkte sich auf dunkle, undurchsichtige Farben, die die ganze Aufführung dominierten. Obwohl Goldstein auch diesem »Rembrandtschen Helldunkel« 36 zwiespältig gegenübersteht, nennt er abschließend voll des Lobes Jessner einen »Königsberger Reinhardt«. 37 Dieser abermalige, für Jessner keineswegs schmeichlerische Vergleich macht die Absicht deutlich, die Person Jessner und nicht seine künstlerischen Taten herauszustreichen. Eine Erweiterung des künstlerischen Personals sah Jessner mit Beginn der Spielzeit 1916/17 als vordringlichste Aufgabe an. Deutlich gestiegene Zuschauerzahlen und wirtschaftliche Liquidität, begünstigt durch die Monopolstellung des Schauspielhauses, ermöglichten Neuverpflichtungen in ausreichender Zahl. Jessners Pläne zielten auf den Aufbau eines eingespielten Ensembles ab. Seine entschiedene Abneigung gegen Stars und der weitverbreiteten Unsitte eines »sogenannten Borgsystems« 38 blieb Jessner ebenso treu wie der Vorliebe für unverbrauchte, junge Schauspieler. Z u Jessners bedeutsamsten Engagements gehörte Franz Weber, der ihm Mitte der zwanziger Jahre als Spezialist für komische Rollen ans Staatstheater nach Berlin folgte. Aus Hamburg wurde Fritz Jessner geholt, der als übernächster Intendant ab der Spielzeit 1925/26 das Erbe des berühmten Schwagers am Neuen Schauspielhaus antreten sollte. Mit Grete Ilm begann Jessner in Königsberg eine jahrzehntelange Zusammenarbeit, die später vor allem als Mitbegründerin und Jessners Nachfolgerin an der ersten staatlichen Schauspielschule Berühmtheit erlangte. Lucie Mannheim startete in Königsberg ihre Weltkarriere, nachdem Jessner die gebürtige Berlinerin im Alter von siebzehn Jahren entdeckte. 39 Jessners Bestrebungen, qualifizierten künstlerischen Nachwuchs zu entdecken und neueste Theaterentwicklungen mitzuverfolgen, erforderten seine zunehmende Anwesen-
»
Ebd.
'ι
Ebd.
«
Vgl. ebd., S. 540 f.
36
Ebd., S. 541. Ebd.
38
Jessner 1979, S. 15. In Jessners Bewerbungsrede für das Volkstheater Berlin legt er ein Bekenntnis zum Ensembletheater aus künstlerischen und sozialpolitischen Gründen ab. Eine gastspielweise Verpflichtung von zugkräftigen Stars mache eine planvolle und kontinuierliche künstlerische Arbeit unmöglich und leiste nur einem leistungshemmenden Geniekult Vorschub.
J9
Vgl. Goldstein 1927, S. 25 f.
83
heit in Berlin und in anderen Städten des Reiches. Eine im Vergleich zur Hamburger Zeit spürbare Reduzierung der Regietätigkeit war die Folge, die Jessner aufgrund verläßlicher, mit seinen Ideen übereinstimmender Mitstreiter rechtfertigte. Die Hauptlast der Inszenierungen nahmen ihm ab 1916 Richard Rosenheim und Julius Bab ab, deren Verpflichtung sich als Glücksfall für Königsberg erweisen sollte.40 Den heute weitgehend vergessenen Rosenheim kannte Jessner aus gemeinsamen Hamburger Tagen. 41 In Königsberg wurde er schnell zu Jessners >rechten HandBühnenhandwerk//-Kritik gibt dazu nichts her. Der Verdacht liegt nahe, daß sich Müllenmeister auf mündliche Berichte und Briefe von Zeitzeugen (Bab, Rosenheim) stützt. Bab 1928, S. 78. Rühle 1976, S. 54. Müllenmeister 1956, S. 30. Vgl. ebd. Müllenmeister glaubt zu wissen, daß Raabe seinem Vorbild Bassermann nacheiferte. In Goldsteins Kritiken fehlen grundsätzlich Hinweise auf schauspielerische Leistungen.
91
der Gruppierung der Ritter, Geistlichen, Bauernführer und Bürger mit ihren jeweiligen Gefolgsleuten ohnehin unerläßlich, um die Spielbarkeit zu gewährleisten. Von ähnlichem Zuschnitt war auch Jessners Unermüdlichkeit, mit der neben Wilhelm 7V//auch auf den Florian Geyer-Stoff immer wieder zurückgegriffen wird. Nach Aufführungen in Hamburg und Königsberg legt Jessner beim Geyer zwar eine zehnjährige Pause ein, dafür folgen im Jahre 1927 zwei Geyer-Arbeiten innerhalb weniger Monate. Im Programmheft zur Hamburger Gastregie am Altonaer Stadttheater schreibt Jessner: »[D]ie Gestalt des Florian Geyer [...] der im Grunde kein Held ist, weil er als ein Leidender mehr denn als ein Handelnder seinen Weg geht.«73 Der tragische Zug am Bauernfiihrer Geyer, seine an der Ungerechtigkeit verzweifelnde Seele läßt sich auf die Teil-Figur nicht ohne weiteres übertragen. Das legt den Schluß nahe, daß in Königsberg Jessners Aversion gegenüber einer heldischen Darstellung, mehr noch an der Gefahr des Chargieren, an der nicht auszutilgenden Marotte des schablonenartigen Spiels lag.74 Der gegenteiligen Tendenz, Rollen in einem rasenden, hastigen Ton herunterschnattern zu lassen, war Jessner wegen seiner panischen Angst vor gewohnheitsmäßiger Konvention mitunter erlegen. Es stellte sich heraus, daß trotz umfangreicher Talentförderung Jessner immer noch die Schauspieler fehlten, die zur Vervollkommnung seines Stils notwendig waren.
3.4. Jessner und Königsberg im Umfeld der Revolution Jessner nahm in der dritten Spielzeit noch weniger Regieaufgaben wahr. Neben seinen Pflichten als Theaterleiter nahm sein unvermindertes Engagement als Bühnengenossenschaftler, seine Anteilnahme an der Entwicklung der Vereinigung Künstlerischer Bühnenvorstände (V.K.B.) viel Zeit in Anspruch. Eine gründliche Vorbereitung kam bei Jessner-Premieren hinzu. Die knapp zweiwöchige Probenzeit, in der damaligen Situation ohnehin ein außerordentlich langer Zeitrahmen, bildete nur den letzten Arbeitsschritt eines ausgearbeiteten Inszenierungsplans.75 Gestiegene Erwartungen, die aufgrund nicht mehr ganz so häufiger Regieauftritte von Publikum und Kritik ausgingen, konnte Jessner zumindest bei seiner ersten Arbeit in der Saison 1917/18 erfüllen. Friedrich Hebbels Judith war in Jessners Version ein Spiegelbild des Weltkrieges mit hoffnungsvollem Ausblick auf den politischen Wandel. Lag der revolutionäre Hintergrund in Wilhelm Teil und Florian Geyer noch auf der Hand, so wurde Hebbels Jugendwerk Judith meistens als Geschlechterkampf, als psychologischer Konflikt zwischen Mann und Frau verstanden. Jessner hingegen interpretierte die Ermordung des Holofernes in erster
73
Jessner 1979, S. 220.
74
Vgl. Müllenmeister 1956, S. 30. Jessners Unduldsamkeit gegenüber Helden-Darstellern mag der
75
Vgl. ebd., S. 107. Müllenmeister beruft sich auf Kritiken Goldsteins, in denen die Zahl von neun
G r u n d für manche überraschende Rollenbesetzung gewesen sein. oder zehn Proben genannt wird. Sofern man einen probenfreien Sonntag berücksichtigt, lag zwischen Probenbeginn und Premiere in etwa ein Zeitraum von zwei Wochen.
91
Linie nicht als Einzeltat einer gedemütigten, benutzten Frau, sondern als Befreiung eines durch Hunger und Belagerung gepeinigten Volkes der Ebräer. 76 Nach Judiths ahnungsvoller Prophezeihung in der Schlußszene »Ihr Jubelruf, ihr Zimbelklang und Paukenschlag wird mich zerschmettern, und dann hab ich meinen Lohn« ließ Jessner das Chanukka-Lied anstimmen. Das Chanukka-Fest erinnert an das Lichtwunder zur Einweihung des zerstörten Tempels im Jahre 167 v. Chr. und an die Kämpfe unter der Führung Judas Makkabäus' gegen die Seleukiden. Es symbolisiert die jüdische Hoffnung auf das Ende grausamer Verfolgung. Eine Ausweitung des JudithFinales hatte Jessner damit erreicht. Während Hebbel sich mit der Invasion Nebukadnezars und der Zerstreuung der Juden im persischen Großreich eindeutig auf ein dunkles Kapitel jüdischer Geschichte bezieht, stellte Jessner einen optimistischen und aktuellen Bezug mit der Aussicht auf Vergeltung für die Leiden der Juden in aller Welt her. Ludwig Marcuse, der Jessners Lebensweg von Königsberg über Berlin bis ins amerikanische Exil fast dreißig Jahre verfolgte, sieht in Jessners /a^/zf^-Inszenierung im Herbst 1917 ein eindeutiges Bekenntnis, den immer lauter werdenden Ruf nach demokratischen Reformen im Inneren und internationaler Verständigung in der Außenpolitik nach drei bitteren Kriegsjahren und unerfüllten Hoffnungen auf glanzvolle deutsche Siege mutig und unerschrocken in Angriff zu nehmen: Er ließ Hebbels »Judith« in das jüdische Chanukka-Lied ausklingen. Er wurde angegriffen. Ich war ein blutjunger Beamtenvorsteher der deutschen Armee, hatte kein A m t , vertrat niemand, saß jeden Abend im Neuen Schauspielhaus — und mischte mich ein. Ich verteidigte Jessner, warf ihm aber das optimistische Finale vor, weil er die »Judith«-Tragödie mit dem Triumph-Lied zugedeckt hatte. Jessner ließ mir sagen, er möchte mich sehen. So beginnen meine Erinnerungen an ihn, vor mehr als vierzig Jahren. Zunächst behielt der zuversichtliche Jessner recht - nicht nur deshalb, weil seine »Judith« ein stürmischer Erfolg war. Es kam der November 1918. 7 7
Nach Marcuses eindrucksvollem Befund, der in Babs Worten: »Von anderen Jessnerschen Leistungen der Königsberger Zeit ist mir vor allen Dingen der Schluß seiner JudithInszenierung im Gedächtnis« 78 seine Bestätigung findet, lag das ganze Gewicht der Aufführung auf Jessners zuversichtlicher Schlußvariante. Die Wirkung war revolutionär und, zumal für einen jüdischen Theatermann, waghalsig. Zwar war die anfängliche Euphorie des Jahres 1914 durch eine skeptische Betrachtung des Kriegsverlaufes schon lange abgelöst worden, vom vorläufigen revolutionären Sieg in Deutschland trennte die Judith-¥tcmicK aber noch ein volles Jahr. Gleichzeitig mit der aufkeimenden Hoffnung auf ein Ende des zermürbenden Krieges und einen demokratischen Umbruch hatte die oberste Heeresleitung, und mit ihr die alten Eliten des Kaiserreiches, längst begonnen, durch Judenzählungen und andere hetzerische Maßnahmen, für den Fall einer schmach-
76 77
Vgl. Ludwig Marcuse: Mein Zwanzigstes Jahrhundert. Frankfurt a. M./München 1968, S. 46. Ebd. Marcuses Hinweis auf über vierzig Jahre zurückliegende Erinnerungen bezieht sich auf die Entstehung der Autobiographie Anfang der sechziger Jahre.
78
Bab 1928, S. 78. Bab erläutert im vorhergehenden Text Wedekinds //idia/Ai-Inszenierung, woran der zitierte Satz unmittelbar anschließt.
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vollen Niederlage die Schuld auf angeblich mit den Ententemächten verbündete jüdische und sozialistische Drahtzieher abzuwälzen, denen vaterlandsverräterische Friedensverhandlungen und Demontage der Wehrkraft unterstellt wurden. Der Vorbereitung der Dolchstoßlegende, wofür Jessner als Jude und Sozialdemokrat geradezu ein idealtypisches Feindbild abliefern sollte, setzte der selbstbewußte und stolze Jude Jessner eine JudithInszenierung entgegen, die eindeutig Kriegsende und Integration der jüdischen Minorität propagierte. Mit der Revolution von 1918/19 bestätigte sich zunächst aber der Optimismus von Jessner. Jessners Judith bewies in seiner Bühnenrealisierung außerdem, daß das Prinzip der szenischen Vereinfachung von Werk zu Werk unterschiedlich ausfiel und von Kompromißlösungen am neuen Schauspielhaus aufgrund des schmalen Bühnenportals und eingeschränkter technischer Möglichkeiten nicht gesprochen werden kann. Müllenmeister erklärt am Beispiel der /««^^-Inszenierung, was für aufwendige Bühnenbilder Jessner zuweilen einsetzte. Die Gemächer von Judith und Holofernes mußten sich notwendigerweise in ihrer Ausstattung klar unterscheiden. Der obligatorische Webstuhl durfte im dritten Akt ebensowenig fehlen wie in den Priester- und Volksszenen Altäre und Rednerpulte. 7 ' Demgegenüber hielt sich Jessner in seiner nächsten Arbeit an die Vorgabe des Autors, in kurzen Szenen keine Mühen mit dem Aufbau von großen Dekorationen zu vergeuden. In Strindbergs Luther herrschte eine fast shakespearehafte Sparsamkeit vor. 80 Die spätgotische und reformatorische Enge mit ihren Gassen, Winkeln, Burgen und Kirchen wurde zumindest bildlich enthistorisiert. Zu Weihnachten 1917 inszenierte Jessner Anton Wildgans' Liebe. Bereits in der ersten Saison Jessners kam er mit seinen Stück Armut in Königsberg zu neuen Ehren. Mit den Wildgans-Aufführungen sowie Schmidtbonns Der verlorene Sohn in der zweiten und Herczegs 5£z«/»cÄs-Inszenierung in der letzten Spielzeit bewies Jessner, daß er mindestens einmal pro Spielzeit ein Gegengewicht zum »literarischen Snobismus«8' setzte. Unter keinem sehr glücklichen Stern standen dagegen Jessners ^/«-Produktionen in Königsberg, die er zum Abschluß seines dritten Intendantenjahres mit der Erdgeist-Tragödie begann. Es verwundert sehr, daß ein vollkommen anderer Akzent als in der ein Jahrzehnt zurückliegenden umjubelten Hamburger Aufführung mit anschließender Tournee gewählt wurde. Goldstein faßt die Königsberger Erdgeist-Inszenierung als wirklichkeitsfremde, groteske Reproduktion auf: Lulu ist überhaupt kein Wesen von Fleisch und Blue, sondern Ausdruck einer Idee, dramatischer Notbehelf, künstlerische Formel [...]. Nein, real ist diese Gestalt kaum: sie ist nur zu fassen als Menschwerdung aller dirnenhaften Z ü g e im Weibe, als Inbegriff animalischen und amoralischen Trieblebens - und letztendlich als Sinnbild für die urewige Zerstörungskraft der Natur. 8 1
7S>
Vgl. Müllenmeister 1956, S. 29.
80
Ebd.
81
Vgl. ebd. S. 23.
82
Goldstein in der Hartungschen Zeitung, N r . 82 vom 18.2.1918, zit. nach Fischer 1932, S. 353.
94
Zwar sind gegenüber Goldsteins Bewertungen Vorbehalte angebracht, aber von einer Verlagerung des Schwerpunkts muß ausgegangen werden. Jessner hatte sieben Jahre zuvor am Vorabend der Pandora-Premiere
in Hamburg eine zu Goldstein entgegengesetzte
Position vertreten, vom ehrlichen Menschenkind und unerbittlichen Dirnenschicksal der Lulu gesprochen und statt einer symbolhaften Glättung anstößiger Stellen der Lulu-Figur eine nackte, realistische Verkörperung weiblicher Reize verlangt. 8 ' In Königsberg erlaubten strenge Zensurpraktiken lange Zeit grundsätzlich keine LuluAufführungen. Selbst gegen Ende der kaiserlichen Epoche mußte Jessner auf die Bedrohung durch rigide Polizeieingriffe gefaßt sein, worin die Ursache für widerwillige Konzessionen zu suchen sind. Ein bedeutendes Ereignis war Erdgeist nur im Hinblick auf die Übertragung der Lulu-Rolle auf die achtzehnjährige Lucie Mannheim. Selbst Goldstein mit seiner generellen Ignoranz für die Qualitäten der Darsteller war voll des Lobes für den Mut, die Riesenpartie einem so hoffnungsvollen Talent anzuvertrauen: Erscheint es doch schon als eine Kühnheit, die Wirkung des Abends auf die beiden schönen Augen des Fräulein Lucie Mannheim zu stellen. W i r haben mit Vergnügen diese Begabung aus dem Schatten der Unbeschäftigten auf die Sonnenseite der Publikumslieblinge rücken sehen, und es gibt für ein Theater wirklich keine weisere Maßregel, als für einen leistungsfähigen Nachwuchs zu sorgen. 84
Enthielt die Erdgeist-Y^x\vL· ausnahmsweise eine eingehende Auseinandersetzung mit der Rollenauffassung der Hauptfigur, in der vor allem wegen ihrer verblüffenden Sicherheit Lucie Mannheim mit Gertrud Eysoldt auf eine Stufe gestellt wurde, ließ sich Goldstein ein Jahr später nach der Pandora-Premiere mehr allgemein über Zensurschwierigkeiten und dem vermeintlich lasterhaftrohen Grundcharakter des Werkes aus.85 Kriegsende, Kaiserabdankung und Konstituierung einer parlamentarischen Demokratie ermöglichten Jessner bereits elf Monate nach der £>a^rtif-Aufführung die Lulu-Tragödie mit der Büchse der Pandora fortzusetzen. Diese vorletzte Jessner-Inszenierung in Königsberg war in der Vorstellungswelt des bildungsbürgerlichen Theaterpublikums immer noch ein außergewöhnlicher Vorgang. Goldsteins Rezension im Januar 1919 beweist, daß der inzwischen verstorbene Wedekind auch in der neuen deutschen Republik nichts von seinem >Bürgerschreck-Image< der Vorkriegszeit eingebüßt hat. Mit aggressiv-reaktionären Floskeln wird Wedekinds Pandora als »kalter Zynismus« gebrandmarkt, der nur »durch einen faszinierenden Witz und Geist ausgeglichen«86 würde. Dem Personenverzeichnis des Dramas haftet Goldstein das Stigma einer »ausgesuchten Gesellschaft von Verbrechern, Hochstaplern, Mördern, Kupplern, Dirnen und Zuhältern« 87 an. Aufschlußreich an Goldsteins Kritik ist auch die unverminderte Ächtung und gesellschaftliche Herabwürdigung weiblicher Homosexualität. Über
83
Vgl. Jessner 1979, S. 213 f.
84
Zit. nach Fischer 1932., S. 354.
85
V g l . Goldstein in der Hartungschen
Zeitung,
N r . 32 v o m 20.1.1919, zit. nach Fischer 1932,
S. 1 2 0 - 1 2 2 . 86
Ebd., S.121. Ebd.
95
die Gräfin Geschwitz heißt es einerseits, daß sie »der einzig anständige Mensch«, andererseits »mit dem Fluche widernatürlichen Empfindens bemakelt«88 sei. Ohne Hemmungen wird auch in der als liberal geltenden Hartungschen Zeitung der tote Autor als sexueller Monomane primitiv diskreditiert und seine Darstellung der Sexualität als pornographisch verleumdet: »Im Gegenteil sollte man meinen, daß soviel ungeschminkte Brutalität, soviel unverhüllter Schmutz nur abstoßend und niemals anziehend wirken kann. Man muß ja schon pervers veranlagt sein, um aus diesen Sumpfblüten Duft und Genuß zu saugen.«89 Ausgerechnet Goldstein, der Zeit seines Lebens gegen Zensurwillkür gekämpft: hat, versteigt sich dann sogar zur Formulierung, daß die »neugewonnene Zensurfreiheit« dem Theater nun »alle dramatischen Uebel der Weltliteratur«90 bescheren könne. Obwohl er Jessners grundsätzlichen Einsatz für das umstrittene Stück ausdrücklich begrüßt, würdigt er bezeichnenderweise die Aufführung im letzten Absatz, für die er nicht mehr als zwei Sätze übrig hat, damit, daß Jessner »den Ungeheuerlichkeiten des dritten [Aktes] von vornherein eine möglichst weitgehende Abdämpfung ins Dezente«91 angedeihen ließ. In diesem gesellschaftlichen Klima war eine sachliche Beurteilung der Jessnerschen Regieleistung nicht möglich. In der heiß umkämpften Gründungsphase der Weimarer Republik drifteten die kulturpolitischen Gegensätze immer mehr auseinander. Für die Situation in Königsberg läßt sich konstatieren, daß auch im liberalen Bürgertum die Darstellung von Außenseitern und Randgruppen auf der Bühne als Einbruch in Tabuzonen bewertet wurde, wofür auch Persönlichkeiten wie Goldstein, der ansonsten nicht mit der nationalistischen oder konservativen Lebenswelt sympathisierte, wenig Verständnis entgegenbrachten. An der Präsentation der Lulu-Dramen in Königsberg bleibt als weiterer Gesichtspunkt festzuhalten, daß eine Wedekind-Müdigkeit bei Jessner trotz der Diskrepanzen um die Karl Hetmann-Aufführung nicht festzustellen war. Zu einer Versöhnung war es allerdings zu spät. Ob der kranke Wedekind den Königsberger Erdgeist drei Wochen vor seinem Tod noch registrierte, ist eher unwahrscheinlich. Als Die Büchse der Pandora Premiere hatte, war er bereits neun Monate tot. Es wäre theaterhistorisch bedeutsam gewesen, welche Haltung der Autor gegenüber Jessners weiteren Wedekind-Arbeiten, vor allem Marquis von Keith im März 1920, Jessners zweiter begeistert gefeierten Regie in Berlin, eingenommen hätte. Jessners viertes und letztes Spieljahr als Intendant am Neuen Schauspielhaus war das Jahr der lang ersehnten Revolution in Deutschland. Die Ereignisse des Winters 1918/19 lösten euphorische Stimmungen aus. Niemals wieder konnte man einen so uneingeschränkt zuversichtlichen Jessner erleben wie in diesen Wochen. Für den jungen Ludwig Marcuse wurde Jessner zum väterlichen Freund, der auch die Bildung von Räten in Königsberg tatkräftig unterstützte:
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Ebd. Ebd. 9° Ebd. !» Ebd., S. 122. 96
Der glühende Sozialist und patriotische Ostpreuße war nun ganz sicher, daß Deutschland gerettet sei. Wir, eine kleine Schar junger Menschen, erhielten also von Berlin den Auftrag, eine Ortsgruppe des »Rat geistiger Arbeiter« zu gründen. Jessner kam uns Unerfahrenen zu Hilfe und zu unserer Gründungsversammlung. Er überragte uns alle - körperlich wie als Taktiker - und erzählte der Stadt, daß wir junge Menschen einer glänzenden Zukunft entgegenschritten. Von dieser Stunde an war er »Unser Jessner«.92
Jessner glaubte fest an eine bessere Zukunft, wußte aber, daß die entscheidenden Weichen in den ersten Wochen gestellt werden müssen, um den revolutionären Schwung nicht zu verspielen. Seine speziellen Königsberger Aufgaben traten in den Novembertagen in den Hintergrund. Die grundlegende Umgestaltung des deutschen Theaterwesens duldete keinen Aufschub. Um die gesellschaftliche Stellung des künstlerischen Personals zu verbessern, hatte Jessner zusammen mit dem Vorsitzenden der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger Gustav Rickelt bereits 1916 eine Initiative zur Aufnahme geschäftlicher Beziehungen zwischen dem Deutschen Bühnenverein und der Bühnengenossenschaft, die bis dahin mehr gegeneinander als miteinander arbeiteten, gestartet.53 Eine reelle Chance hatte die angestrebte Milderung sozialer Gegensätze zwischen den Interessenvertretungen der Arbeitgeber (Bühnenverein) und Arbeitnehmer (Genossenschaft) aber erst, als am Ende des Jahres 1918 die reaktionäre Kulturpolitik des alten Reiches obsolet wurde. Bereits zwei Wochen nach Ausrufung der Republik verfaßte Jessner einen Aufruf an alle deutschen Theaterleiter im Berliner Tageblatt,94 Der Aufruf diente der Sammlung aller maßgeblichen Kräfte, um die Umstrukturierung der Theatersysteme unverzüglich in Angriff zu nehmen. Dem neuen Kurs, der mit den Schlagworten Demokratisierung und weitgehende Verstaatlichung der deutschen Bühnenkunst grob umrissen werden kann, entsprach es, daß Jessner dem Bühnenverein deutlich die Leviten las. Ein Bühnenverein, der im Stile eines Wirtschaftsunternehmens mit dem Hauptaugenmerk auf Gewinnmaximierung und möglichst positiver Jahresabschlußbilanz sich gebärde, habe ausgespielt. Die Daseinsberechtigung sei in der »Schicksalsstunde« und im »Reformationszeitalter der deutschen Bühne«95 ohne eine Reform nicht mehr gegeben. Am Anfang von Jessners Aufruf überwiegt noch die idealistische Begeisterung über die neue republikanische Zeitrechnung: Im Morgenrot von Deutschlands Verjüngung ist auch für die deutschen Bühnen eine neue Zeit, vielleicht sogar die Zeit gekommen! [...] Die erschütternde Bewegung der letzten Wochen hat Dinge, die für die Ewigkeit verankert schienen, über Nacht hinweggefegt - warum sollte es da heute noch eine Utopie sein, daran zu glauben, daß das Theater nun endlich seiner wahren
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Marcuse 1968, S. 47. Vgl. Jessner 1979, S. 255-157. Im April 1916 wurde erstmals von der Vertreterversammlung der Bühnengenossenschaft und der Hauptversammlung des Bühnenvereins eine Zusammenarbeit befürwortet. Vgl. ebd., S. 52-54. Der Aufruf vom 23.11.1918 entsprach der politischen Linie des Berliner Herausgebers Theodor Wolff, der auf allen Feldern der Politik eine radikale und schnelle Demokratisierung propagierte. Ebd., S. 52.
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Bestimmung zugeführt und zu einem wirklichen Allgemeingut der Öffentlichkeit gestaltet werden wird?' 13
Jessners konkrete Forderungen basieren aber auf klaren sozialistischen Positionen. Von den einzelnen Thesen ragten heraus: Allmähliche Überführung sämtlicher ehemaligen Hof- und Stadttheater in staatliche beziehungsweise städtische Verwaltung sowie Unterstellung der Privatbühnen unter staatliche oder städtische Aufsicht in materieller Beziehung. [...] Gründung eines Reichs-Theaters-Rates, dessen Mitglieder von den derzeit noch getrennten Organisationen, »Deutscher Bühnenverein« und »Bühnengenossenschaft«, zu wählen sind und die in Gemeinschaft mit der Reichsregierung die gesetzliche Regelung des deutschen Theaterwesens sowie alle damit zusammenhängenden Maßnahmen und Reformen in die Wege zu leiten sowie dauernd eine mitentscheidende Funktion in allen materiellen und künstlerischen Fragen auszuüben haben werden. 97
Verstaatlichung und Zentralisierung hielt Jessner für unumgänglich, weil die große Masse der privatkapitalistischen Bühnen keine Veranlassung sah, an der künstlerischen Hebung des deutschen Theaters sich zu beteiligen, sondern ausschließlich unter Ausnutzung der materiellen Not vieler Bühnenkünstler auf den wirtschaftlichen Profit des Theaterunternehmens schielten. Neben staatlichen Kontrollinstanzen für Privatbühnen versprach sich Jessner vor allem von einer Zusammenlegung oder zumindest von einer paritätischen Koalition von Bühnenverein und Genossenschaft ökonomische Vorteile für alle Beschäftigten im Bereich darstellender Künste. Einige Monate später konkretisierte Jessner seine Vorwürfe und ermahnte ebenfalls im Berliner Tageblatt den Bühnenverein, auf seiner bevorstehenden Tagung die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Schauspielern deutlich zu signalisieren.98 Jessners Plan sah ein Tarifabkommen vor, in dem unter anderem das Recht auf Beschäftigung, Bezahlung von Vorproben, mindestens partielle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Kostenbeteiligung der Bühnenleitung an Garderoben für Schauspieler berücksichtigt waren. Zur effizienteren Durchsetzung des Tarifabkommens forderte Jessner die Theaterleiter auf, nur Verträge mit Angestellten abzuschließen, die Mitglieder in der Genossenschaft waren. Andererseits wollte Jessner den Bühnenleitern die Pflicht auferlegen, sich dem Bühnenverein anzuschließen. Unter dem Recht auf Beschäftigung verstand Jessner nicht das grundsätzliche Recht auf Arbeit, sondern vorbeugende Maßnahmen gegen künstlerische Erlahmung aufgrund erzwungener Untätigkeit des Bühnenpersonals. In Teilaspekten wie die finanzielle Regelung der Kostümanfertigung lag enormer Zündstoff, weil damals die entsprechende Beschaffung, nach heutigen Vorstellungen kaum glaubhaft, meistens zu Lasten des Darstellers ging. Ahnliche Tarifvorschläge kamen aus den Reihen der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände, deren Mitglieder zum Teil seit 1919 in der Berufsgruppe III der Genossenschaft (dramatische und musikalische Bühnenvorstände) integriert waren."
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Ebd. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 54 f. Der Appell zur Reform des Bühnenvereins datiert vom 14.3.1919. Vgl. Satori-Neumann 1927, S. 217-219.
Gegen Jessners Pläne erhoben sich verschiedenste Widerstände. Die Ablehnung durch den Bühnenverein kam erwartungsgemäß. Zwar hatte es an Versuchen seitens des Genossenschaftspräsidenten Rickelt und sozial engagierter Regisseure nicht gefehlt, immer wieder abgeänderte Tarifentwürfe zu präsentieren, die Hoffnungen auf konstruktive Zusammenarbeit zwischen dem Bühnenverein und den Vertretungen der Bühnenangestellten erfüllten sich während der ganzen Weimarer Republik aber nur in Einzelfällen. Es ist bemerkenswert, daß Jessners Vorschlag einer paritätischen Koalition, wonach nur in einer Einbindung in die jeweilige Berufsorganisation eine wirtschaftliche Sicherstellung der Arbeitnehmer gewährleistet ist, auch auf Kritik aus dem Kreise der Künstler stieß. 100 Diejenigen, die aus Furcht vor einer Verbürgerlichung des Berufsstandes Schauspieler in Gegnerschaft zum genossenschaftlichen Gedanken traten, hatten nicht selten einen hohen Preis fiir ihre vermeintliche Unabhängigkeit zu bezahlen. Allein in Berlin wird noch für das Jahr 1920 eine Zahl von 2.000 engagementlosen Schauspielern ermittelt. Nur durch das energische Eintreten der Gewerkschaft für die wirtschaftlichen Interessen der Bühnenangehörigen konnten viele Künstler vor dem Schicksal der Erwerbslosigkeit bewahrt und das Abgleiten zahlreicher Arbeitslosen in den gesellschaftlichen Abgrund verhindert werden. Gegenüber dem unermüdlichen Einsatz für eine Strukturreform des deutschen Theaters und der aktiven Mitgestaltung an den politischen Umwälzungen verblaßte naturgemäß die inszenatorische Arbeit des letzten Jahres. Passend zum materiellen Elend und dem Schicksal der Kriegsversehrten setzte Jessner Gorkis Nachtasyl im September 1918 auf den Spielplan. Zwei Monate vor Kriegsschluß ein Stück über sozial Ausgestoßene, noch dazu von einem russischen Autor, zu spielen, war zweifelsfrei Ausdruck des Protestes gegen sinnlose Verlängerung der unermeßlichen Kriegsleiden. Naturgemäß größere Resonanz widerfuhr Jessner mit seiner Inszenierung des ersten Teils der Faust-Tragödie, ein lange Zeit angekündigtes Vorhaben, das am ersten FriedensWeihnachten endlich Premiere feiern konnte. 101 Obwohl mehrmalige Anläufe einer zyklischen Aufführung beider Teile scheiterten, verstand gerade Jessner die Goethische Universaldichtung immer nur als Gesamtwerk. Es gehört zu den tragischen Seiten in Jessners Leben, daß auch später in Berlin eine Realisierung von Faust II nicht gelang. Jessner wollte den großen Bogen vom himmlischen Prolog bis zu Fausts Lebensende mit seiner titanischen Grundidee spannen. Auch in der unfreiwillig isolierten Darbietung des ersten Teils konzentrierte sich Jessner ganz auf die Goethische Titelgestalt. In einer der wenigen erhaltenen Notizen aus dem Nachlaß kommt Jessners Verärgerung über die Überbetonung der Gretchen-Handlung in der Rezeptionsgeschichte des Faust deutlich zum Tragen: »Im deutschen Reich ist die Größe ihrer Werke kaum verstanden worden - ihre Gedanken wurden überhört. Der deutsche Bürger begriff vom >Faust< im
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Vgl. Jessner 1979, S. 56-58. Am 16.4.1919 forderte Jessner wiederum im Berliner Tageblatt eindringlich, auf der bevorstehenden Tagung der Bühnengenossenschaft Widerstände gegen eine Zwangsmitgliedschaft der Schauspieler aufzugeben.
101
Vgl. Goldstein in der Hartungschen Zeitung; Nr. 600 vom 23.12.1918, zit. nach Fischer 1932, S. 267-270. Das Faust-Projekt wurde bereits zweieinhalb Jahre zuvor angekündigt.
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Wesentlichen die Gretchentragödie, und auch da empfand er kaum die Tragödie, sondern begriff die Friedrich-Wilhelminische Moral, die eine Unzüchtige zu Tode brachte.« 101 Was Jessner hier denunzierte, war der bürgerlich-moralische Blickwinkel auf den Faust-Stoff. Schon seit der Biedermeier-Zeit wurde die Tragödie auf ein vermeintlich schuldhaftes Verhalten Fausts gegenüber Gretchen reduziert. Die klischeehafte Simplifizierung eines über Bindungen an Tradition und Familie sich hinwegsetzenden und dadurch die Existenz des Mädchens vernichtenden Faust verfälscht die weitumspannende Perspektive von Goethes Lebens- und Gedankendrama, die für Jessner in der Duplizität menschlicher Natur, wie sie das faustische Prinzip vertritt, zu finden ist. Die Ursache für die Ignoranz der Deutschen gegenüber dem Charakter der Goethischen Faust-Gestalt sieht Jessner im obengenannten Fragment bereits im 18. Jahrhundert durch den Erfolg des Ordnungs- und Unterwürfigkeitsideals von Friedrich Wilhelm I. von Preußen. Unter dem Begriff Friedrich-Wilhelminische Moral versteht Jessner die Verherrlichung soldatischer Tugenden, wodurch der preußische König zum verhängnisvollen ersten Erzieher des deutschen Volkes mit Auswirkungen bis ins 20. Jahrhundert wurde und gleichermaßen das geistige Klima zum Spießbürgermief verkümmerte.103 Die Spieldauer von Jessners Königsberger Faust / soll fünf Stunden betragen haben. In diesem Fall war Jessners Neigung, Verse zu streichen, sehr verhalten. 104 Alle Kernbereiche des Seins, die Faust in seinem Lebensweg durchläuft, wollte Jessner einfließen lassen: Tatendrang und Lebensgier, Sinnenrausch und Schmerz, andererseits Verneinung jedes Sinns und Zweifel am Erkenntnisvermögen von Wahrheit. Der Faust-Darsteller Straube hatte sich dementsprechend aller prätentiösen Gebärden zu enthalten. Goldstein billigt ihm in seiner Kritik eine klare, verständliche Sprache jenseits aller Schönrederei zu, nörgelt aber im Stile der traditionellen Faust-Auffassung daran herum, daß »die unserem Volk so ans Herz gewachsene Gretchentragödie [...] nichts weiter als ein schmükkender Zwischenstock [war].«105 Goldstein entlarvt mit einer Frage an die Gretchen-Schauspielerin die herkömmliche Erwartungshaltung, wozu Jessner in seiner Inszenierung einen demonstrativen Kontrapunkt setzt: »Entfernt sich Fräulein Paschen von dem ganz bestimmten Ideal, daß wir schließlich alle von dem Goethischen Urbild deutscher Mädchenanmut und -holdseligkeit in uns tragen?«106 Von dieser gewohnheitsmäßigen Tendenz zur Verkitschung der Gretchen-Figur, die sich wohl kaum auf die Absicht des Autors berufen kann, entfernte sich Jessner in der Tat, indem er beispielsweise den berühmten Monolog »Meine Ruh ist hin« ohne Spinnrad spielen ließ. Keine sittsam reinliche Kammer eines unschuldigen Mädchens war zu sehen, und den Schluß entnahm er der unsentimental prosaischen Urßiust-Fassung. Eine
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Jessner 1979, S. 280. D i e Herkunft dieses undatierten Nachlaß-Manuskripts unter dem Titel Der Krückstock ist nach den Angaben H u g o Fettings unbekannt geblieben. Vgl. ebd., S. 278 f.
104
Vgl. Müllenmeister 1956, S. 28.
105
Zit. nach Fischer 1932, S. 268.
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Ebd.
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härtere, schnellere und unlyrische Kerkerszene beugte der G e f a h r vor, aus dem vernichtenden E n d e des ersten Faust-Teils
ein pomphaftes Opernfinale zu machen. 1 0 7
Bald nach dem Faust zur Weihnachtszeit folgte im Januar 1919 noch einmal Wedekind mit der bereits erwähnten / ^ W o r a - A u f f ü h r u n g . Im Frühjahr 1919 konnte Jessner endlich das biblische Dramas Adam des ostpreußischen J u d e n A r n o Nadel aufführen. Uber zwei Jahre kämpfte Jessner, unterstützt vom Goethebund, um die Erstaufführung dieses Werkes, das wegen verweigerter Z u s t i m m u n g des Polizeipräsidiums zuvor in Karlsruhe und Düsseldorf auf die Bühne kam. Die fadenscheinige Begründung der Königsberger Z e n surbehörde, biblische Vorgänge mit stark erotischer Färbung seien bedenklich, verletzte das religiöse und lokalpatriotische G e f ü h l Jessners empfindlich, da es um die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte eines in der Region beheimaten J u d e n ging. 1 0 8 D e n definitiven inszenatorischen Schlußpunkt in Königsberg setzte Jessner ausgerechnet mit G e o r g Kaisers Gas. Hier greift Jessner erstmals in die Expressionismus-Debatte ein. Seit dem letzten Kriegsjahr konnten expressionistische Dramatiker auf der Bühne einen kometenhaften Aufstieg feiern. Gerade Kaiser gehörte zeitweise zu den meistgespielten deutschen Gegenwartsautoren. Entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil wandte sich Jessner dem Expressionismus nur sehr zögerlich zu. Carl Sternheim, Oskar Kokoschka, Walter Hasenclever, Reinhard Sorge, Hanns Johst oder Ernst Toller spielten in seinen Überlegungen niemals eine Rolle. Reinhard Goering und Paul Kornfeld hielt Jessner erst 1930 für aufführbar, als sich längst die episch-dokumentarische Form durchgesetzt hatte. Kaiser- und Unruh-Inszenierungen blieben rudimentäre Randerscheinungen in Jessners Lebenswerk. Die andere heftig diskutierte Frage nach der Existenz eines expressionistischen Darstellungsstils in Jessners Klassikerinszenierungen bedarf A n f a n g der zwanziger Jahre in jedem Einzelfall einer kritischen Überprüfung. An dieser Stelle mag vorerst der Hinweis genügen, daß Jessners Ablehnung einer naturalistischen Wirklichkeitsnachbildung nichts an seiner noch größeren Aversion gegenüber expressionistischer Distanzierung von der Realität und vor allem gegenüber dem T y p u s eines Protagonistendramas ändert. Jessners Interesse für Kaisers Gas lag einerseits daran, daß in der Spielzeit 1918/19 diese erste Fassung des Kaiserschen >Modestückes< auf nahezu allen großen Bühnen gegeben wurde. N a c h der U r a u f f ü h r u n g in Frankfurt folgte eine Inszenierung Lindemanns in Düsseldorf und eine A u f f ü h r u n g der Berliner Volksbühne. Neben Jessner in Königsberg gab es beachtenswerte Gw-Produktionen am M ü n c h n e r Schauspielhaus mit Dieterle, Müthel und Granach in den Hauptrollen, an den Hamburger Kammerspielen in der Regie Erich Engels und schließlich in Dresden unter der Leitung Berthold Viertels. 1 0 9
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Vgl. ebd, S. 270. Goldstein in der Hartungschen Zeitung, Nr. 208 vom 5.5.1919, zit. nach Fischer 1932, S. 122 f. Ob Jessner selbst in Nadeis Stück Regie führte, bleibt in Goldsteins Kritik unklar. Vgl. Rühle 1988, S. 124 f. Rühles Kommentar zur Frankfurter Uraufführung von Kaisers Gas enthält einen Überblick über die verschiedensten Interpretationen in der Zeit bis Februar 1920.
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Andererseits bot dieses unter dem unmittelbaren Einfluß des Weltkrieges geschriebene Kaiser-Werk Gelegenheit, soziale Gegenwartsprobleme zu zeigen. Wegen der Kritik an der Maschinerie der Zivilisation und des nicht mehr zu beherrschenden technischen Fortschritts konnte Jessner nicht den Milliardärssohn, sondern das arbeitende Volk zum eigentlichen Helden des Dramas küren. Jessners Zuspitzung auf den Schluß der Handlung befürwortete Goldstein ausdrücklich: »Mit welcher Autorität und Disziplin hielt der Spielleiter allein die große Volksversammlung in der Hand - dieses Herzstück des Dramas, an das sich hier (dies ist ganz Jessners Einfall!) unter Weglassung der Regierungs- und Militärszenen gleich des Ganzen feierliches Ende anschließt.«110 Kaisers Stück entfernte sich in der Jessnerschen Version vom expressionistischen Formideal. Die Wandlung eines heldischen Menschen als Ausgangspunkt für die Änderung der Welt zu nehmen, ließ Jessners Mißtrauen gegen Führerfiguren nicht zu. Die Frage, ob Kaiser selbst an eine Abhängigkeit des Weltzustandes von der Opferwilligkeit und dem idealistischen Programm einzelner glaubte, wurde in den verschiedenen Interpretationen naturgemäß sehr unterschiedlich beantwortet. Jessners Wechsel nach Berlin kam zumindest für die Königsberger nach dem grundlegenden politischen Wandel nicht unerwartet. Goldstein spricht unumwunden aus, daß die Leitung des Neuen Schauspielhauses von vornherein nur als Probelauf für höhere Aufgaben gewertet werden kann: Als Leopold Jessner, schon ein bekannter Charakterkopf unter den führenden Theatermännern, nach der Ostmark kam, war es uns und wohl auch ihm selbst von Anbeginn klar, daß die Heimatstadt nur eine Durchgangsstation auf seinem Lebensweg sein werde [...]. Aber wir waren nicht völlig »verwaist«; seine Uberlieferung, seine Lehre blieben uns in seinem bisherigen Oberspielleiter erhalten.111
Mit Richard Rosenheim hatte er längst einen Kronprinzen auserkoren und auf seine zukünftigen Intendantenaufgaben vorbereitet, ehe 1925 mit seinem Schwager Fritz wieder ein Jessner die Geschicke des Neuen Schauspielhauses leitete. Den Königsberger Jahren verdankte Jessner zudem seinen lebensentscheidenden Weggefährten. Heinz Lipmann, Sohn eines jüdischen Justizrates aus Königsberg, erweckte mit Theater- und Musikkritiken in der Hartungschen Zeitung im jugendlichen Alter Aufmerksamkeit. 112 Auf der Suche nach geistigen Mitstreitern, die auf Gedeih und Verderb seine reformatorischen Theaterideen mittragen, erkannte Jessner sofort das außergewöhnliche Talent Lipmanns. Als er 1932 viel zu früh und überraschend starb, sagte Jessner: »Und schon bei seinem Abgang von der Schule [...] band [ich] mich an ihn, mit dem Versprechen und mit der Bitte, daß er nach einigen Lehrjahren auf der Universität zu mir zurückkehren solle, wo ich mich auch befinden würde, zu gemeinsamer Arbeit!«"3
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Goldstein in der Hartungschen Zeitung, Nr. 248 vom 28.s5.1919, zit. nach Fischer 1932, S. 387. Goldstein 1927, S. 26. Vgl. Jacoby 1983, S. 69. Jessner 1979, S. 202-205. Jessners Rede an Lipmanns Grab wurde im Februar 1932 in der Scene abgedruckt.
Jessners Wunsch ging in Erfüllung. Nach Lipmanns heute noch vielzitierter BüchnerDissertation bei dem berühmten Münchner Professor und Herausgeber der WedekindBriefe Fritz Strich" 4 konnte Jessner den Mittzwanziger »auf den obersten Posten, den das Reich an einen Dramaturgen zu vergeben hat«,"5 berufen. Marcuse betont, daß niemand größeren Anteil an Jessners Karrierehöhepunkt am Berliner Staatstheater hatte als sein beruflich wie privat hundertprozentig verläßlicher Freund: Als Dramaturg hatte er aus Königsberg einen jungen-weißblonden Doktor der Philosophie mitgebracht, der gerade bei Fritz Strich mit einer Arbeit über Georg Büchner promoviert hatte [...]. So wurde er mit Recht vom Thearerjargon »der Christengel« getauft. Jessner entsandte ihn in alle Ecken des Hauses, in denen es brenzlich wurde. Und es knisterte oft im Gebälk. Lipmann löschte, mit der sanften Stimme. Dann und wann entdeckte er auch einen jungen Dramatiker. Diese Entdeckungen bereiteten Jessner schwere Stunden. Sein Dramaturg gehörte mehr zur Literatur als zwischen die Kulissen. Deshalb war er hier so nützlich. Deshalb zog sich Jessner so gern in Christengels stille Klause zurück." 6
Lipmann prägte den Beruf des Dramaturgen für künftige Generationen. Im uneingeschränkten Einverständnis mit Jessner verachtete er die billige, leichte Unterhaltungsware und sah in der Durchsetzung geistiger Ziele die Aufgabe des modernen Theaters, was an seiner bahnbrechenden Oedipus-Bearbeitung noch zu zeigen sein wird. Jessner litt sehr unter dem Verlust dieses Freundes. Die Dankesworte an Lipmanns Grab sind mehr als ein verklärender Nachruf, sondern Ausdruck der tiefen Verbundenheit in künstlerischen Idealen, jüdischem Glauben und ostpreußischer Heimat: »Ich habe gemeinsame Schlachten mit ihm gewonnen und Niederlagen gemeinsam mit ihm wieder gutgemacht. Immer war er selbstlos, voller Feingefühl und von einem vorbildlichen Takt [...]. Mit anderen war er Kamerad, mit meinem Schicksal war er verbunden: mit meiner Zeit, mit meinem Werke, mit meinen Aufgaben.«" 7 Lipmann starb an den Folgen einer Embolie nach einer harmlosen Blinddarm-Operation. Der plötzliche Verlust löste am ganzen Staatstheater lähmendes Entsetzen aus. Der Dramaturg Eckart von Naso setzt den Tod des jungen Kollegen im Februar 1932 in Beziehung zum aufkommenden Nazi-Terror. Trotz des etwas pathetischen Tonfalls belegt Nasos Autobiographie in eindrucksvoller Weise, daß Jessners Worte vom gemeinsamen Schicksal nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines Bekenntnisses zur ostjüdischen Herkunft und ihrer entsetzlichen Gefährdung wenige Monate vor der Machtergreifung zu sehen ist: Schrecklich aber war die Verzweiflung der Eltern, als sie aus Königsberg eintrafen. Diese alten, sehr frommen Juden haderten in einer unvorstellbaren Weise mit ihrem Gott, und es fehlte nicht viel, daß sie ihm geflucht hätten. Dabei schickte der gleiche Gott ihrem Sohn den frühen Tod wie ein Geschenk. Ein Jahr später schon würde die viel grausamere irdische Hand den Faden seiner Existenz noch zu Lebzeiten durchschnitten haben, und die sanfte Seele Heinz Lipmann war nicht dazu gemacht, ihn außerhalb Deutschlands oder in heimlichen Verstecken
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Lipmanns Dissertation Georg Büchner und die Romantik erschien 1923 in München. Jessner 1979, S. 203. Marcuse 1968, S. 47. Jessner 1979, S. 204-205.
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innerhalb der Reichszone von neuem zu knüpfen. Wenn einer, hätte er ein Opfer des kommenden Systems werden müssen, weil in Katastrophenzeiten die reinen Herzen als erste auf der Strecke bleiben."8 W a s Naso zum Ausdruck bringt, traf im vollen U m f a n g auch Jessner, der im Dritten Reich exakt die beschriebene andere Seite durchlebte: Flucht vor den N a z i - M ö r d e r n , trostlose Odyssee eines Emigrantenschicksals mit einem unrühmlichen Ende in Hollywood. Bis zu Lipmanns T o d glichen sich die Lebenswege in verblüffender Weise. A m gemeinsamen Wirken Jessners und Lipmanns am Staatstheater läßt sich ablesen, wie nachhaltig die Erneuerung des Theaters im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aus dem Osten kam. Ihre tiefe Verwurzelung in jüdischer Orthodoxie und ostdeutscher Heimat befruchtete bis zur Nazi-Barbarei das deutsche Kulturleben, womit sich der Kreis zu Arnold Zweigs Eingangsthese schließt.
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Eckart von Naso: Ich liebe das Leben. Hamburg 1953, S. 597 f.
4· Grundlagen für das Theater der neuen Republik
Aus den sozial- und kulturgeschichtlichen Studien über das demokratische Zeitalter in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ist das überaus populäre Schlagwort von den »goldenen zwanziger Jahren< nicht wegzudenken. O h n e Zweifel setzten sich vor allem in Berlin, aber auch in anderen Großstädten des Reiches Entwicklungen durch, die im repressiven Wilhelminischen Deutschland durch traditionell autoritäre Eliten in ihrer Verbreitung gehindert wurden. M i t avantgardistischen Richtungen in M u s i k , Literatur und bildender Kunst, dem zunehmenden Einfluß eines pluralistischen Journalismus, dem A u f k o m m e n neuer Wissenschaftszweige wie beispielsweise der umstrittenen Psychoanalyse, der Ausgestaltung des Films zum neuen Massenmedium, lebhaften Diskussionen u m revolutionäre Theaterformen und nicht zuletzt dem explosionsartigen Aufstieg verschiedenartiger R e v u e f o r m e n w i r d zumeist der M y t h o s v o n den »Goldenen Zwanzigern* beschworen. A n faszinierenden Berichten über den G l a n z dieser Epoche mit seinen geistigen und künstlerischen Errungenschaften herrscht in der Literatur kein Mangel. 1 Bei aller berechtigten H e r v o r h e b u n g der außergewöhnlichen Sonderstellung der Kultur in der ersten deutschen Republik und insbesondere im Berlin der zwanziger Jahre darf nicht übersehen werden, daß der K a m p f um die geistige Weiterentwicklung Deutschlands nicht gänzlich neu war, sondern schon von oppositionellen Bewegungen im Kai-
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Zu den beeindruckendsten Zeugnissen über das kulturelle Leben der Weimarer Republik zählt Ludwig Marcuses Autobiographie Mein zwanzigstes Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1968. Fritz Kortners Aller Tage Abend, München 1976, gehört zu den meistzitierten und stilistisch anspruchsvollsten Schauspieler-Memoiren, trotz gelegentlich übertriebenem Anekdotenreichtum. Vorzügliche Berlin-Charakterisierungen enthält Carl Zuckmayers Als wär's ein Stück von mir, Frankfurt a. M. 1966. Die Autobiographie Bruno Walters Thema und Variationen, Frankfurt a. M. 1950, ist nicht nur für den Musikbereich hochinteressant. Außerordentlich wichtig sind Heinrich Manns Essays, Hamburg i960, aus den zwanziger Jahren. Von den zahlreichen Schriften Herbert Iherings sei an dieser Stelle auf die Berliner Dramaturgie, Berlin 1947, hingewiesen, die über die spezifische Rolle des Theaters im täglichen Leben Berlins informiert. Walter Kiaulehns vielzitiertes Buch Berlin, München 1976, vermittelt dagegen ungenaue und sachlich falsche Eindrücke über die Geschichte der Hauptstadt. Jost Hermands und Frank Trommlers Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, Bärbel Schräders und Jürgen Scheberas Kunstmetropole Berlin ipiS—ipjj, Berlin/Weimar 1987 (vor allem wegen der umfangreichen Illustrationen) sowie Peter Gays Die Republik der Außenseiter, Frankfurt a. M. 1989, ragen aus der Fülle der kulturgeschichtlichen Uberblicksdarstellungen sowohl an Materialreichtum als auch an differenzierter Darstellung heraus. Ertragreich und nach wie vor hochaktuell ist Günther Rühles ausführliche Einleitung zur zweibändigen Kritikensammlung Theater fiir die Republik, Frankfurt a. M. 1988 (überarbeitete Neuauflage). Der einzige Einwand besteht in einer überproportionalen Berücksichtigung der bürgerlich-demokratischen Theaterkritik gegenüber der Breitenwirkung völkischnationaler Presse.
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serreich geführt wurde, und daß außerdem während der gesamten vierzehnjährigen Existenz der Republik von einer unumstrittenen gesellschaftlichen Akzeptanz progressiver Persönlichkeiten im politischen und kulturellen Bereich keine Rede sein kann. Peter Gay betont in seiner bestechenden Analyse der Weimarer Verhältnisse bereits im Titel Die Republik der Außenseiter, daß die Besetzung einflußreicher Positionen in Staat und Gesellschaft mit »Demokraten, Kosmopoliten, Juden« 1 nichts daran änderte, daß von Anfang an ein Großteil der monarchistisch gesinnten Beamten, Industriellen und Militärs unversöhnlich gegen die Republik agitierte und ihren Repräsentanten jeden Respekt versagte. Die unstreitig glanzvollen künstlerischen Leistungen der Weimarer Zeit müssen auch aus der Perspektive der zeitgleichen verhängnisvollen politischen Entwicklung betrachtet werden. Es wird zuweilen übersehen, daß schon Anfang der zwanziger Jahre Ausgrenzung und Beseitigung demokratischer Kulturträger eine der Hauptforderungen der nationalen Reaktion war. Der Hinweis auf diesen Zusammenhang - Jessners Weg als Intendant am Berliner Staatstheater spiegelt mit unaufhörlichen Diskreditierungen und persönlichen Herabsetzungen geradezu beispielhaft das Klima der Republik wider - schmälert keineswegs die Radikalität des revolutionären Umbruchs, die sich im Theater mit allen Konsequenzen vollzog. Nach Peter Gays Einschätzung öffnete sich nach 1918 der Vorhang zu einem unerbittlichen Kampf einer tief gespaltenen Nation: In der T a t war die Republik von einer Energie besessen, ob im Film, in der Musik, in der Psychoanalyse oder was auch immer, gegen die die vielgerühmte Kultur Wiens um 1900 sich geradezu schwächlich ausnimmt. Weimar war die Arena eines großen Zweikampfes, der 1918/19 mehr als ein Jahrhundert alt war, eines Kampfes des einen Deutschlands gegen das andere. 3
In der historischen Forschung ist immer wieder auf die Widersprüchlichkeit der ersten deutschen Republik hingewiesen worden. Der Widerspruch liegt in dem gewaltigen Modernisierungsprozeß auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet einerseits und dem letztendlichen Versagen der Demokratie andererseits. Aufgrund der Tatsache, daß nach nur vierzehn Jahren die Republik dem nationalsozialistischen Totalitarismus weichen mußte, liegt die Versuchung nahe, die ganze Epoche nur von ihren Eckpunkten aus zu sehen. Detlev J. K. Peukert hat in seiner Gesamtbetrachtung des Weimarer Staates versucht, die Zeit von 1918 bis 1933 nicht ausschließlich als Erbe des Kaiserreiches bzw. als Vorspiel des Nazi-Regimes zu untersuchen. Aber auch er räumt ein, daß gegensätzliche Strömungen die Entwicklung der vierzehn Jahre hemmten: Die Geschichte der Weimarer Republik wurde bisher fast ausschließlich entweder von ihrem Anfang oder von ihrem Ende her geschrieben. Die Frage nach dem Charakter der Novemberrevolution und der Versailler Friedensregelung markierte mit den Geburtsfehlern der Republik gleichsam auch deren Strukturschwächen und letztlich die Gründe ihres Untergangs. Umgekehrt projizierte die Frage nach den Bedingungen der nationalsozialistischen Machtergreifung die Voraussetzungen der »deutschen Katastrophe« bis in die Anfangsjahre oder gar bis in die Vorgeschichte der Republik. So legitim und erkenntnisträchtig solche Fragestellungen waren, so
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G a y 1989, S. 10.
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Ebd., S. 15.
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könnte doch der Perspektivwechsel zusätzliche Verstehenshorizonte einbringen. »Weimar« geht nicht in Anfang und Ende auf. Die 14 Jahre seiner Existenz stellen auch eine Epoche eigener Art dar [...]. Das historische Bild Weimars leidet unter einem nur selten erklärten Widerspruch zwischen der optimistischen Zeichnung kultureller Avantgardeleistungen und der pessimistischen Vision politischer und sozialer Misere. Dieser Widerspruch charakterisiert die Epoche und kann daher nicht aufgehoben werden. Aber man könnte versuchen, zwischen seinen oft unverbundenen Elementen, die noch dazu von unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten untersucht werden, zu vermitteln.4
Daß Peukerts Skepsis gegenüber einseitigen Fragestellungen nicht unangebracht ist, zeigt sich beispielsweise in dem später publizierten Buch von Hans Mommsen, der sich im Titel (Aufstieg und Untergang der Republik von Weimars) bereits auf die Perspektive > Vorgeschichte und Untergang< festlegt. Mommsen sieht die nichteingestandene Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg als den Gründungsfehler der Republik an."5 Den Vätern und Müttern der demokratischen Verfassung wirft Mommsen Versagen vor, weil sie aus nationalen Rücksichten keine klare Trennungslinie zu den Verfechtern der verfehlten Weltpolitik und der überholten sozialen alten Ordnung vollzogen. Mommsen spricht von einer »abgebrochenen deutschen Revolution«7 und Heinrich August Winkler von der »gebremsten Revolution«. 8 Ferner werden in der historischen Forschung immer wieder die heterogenen Interessen innerhalb des deutschen Parlamentarismus beklagt. Ideologische Strömungen wurden toleriert, die die weitverbreitete Ablehnung der Versailler Friedensbedingungen mit den hohen Reparationszahlungen zu einem Instrument im innenpolitischen Tageskampf ausnutzten. Schon zu Beginn der Republik wurde die Politik der Sozialdemokraten und Liberalen, die sich um Ausgleich und Entspannung mit den alliierten Kriegsgegnern bemühten, von nationalistischen und völkischen Gruppierungen als Verrat deutscher Interessen verunglimpft. Diese Einschätzungen sind mit Einschränkungen nachvollziehbar, unterschätzen aber die Gefolgschaft liberaler und progressiver Ideen, die zumindest in den Jahren 1918 und 1919 auf einer breiten Basis standen. Peter Gay geht auf die Kontroverse der Historiker Hans-Ulrich Wehler und Thomas Nipperdey ein.9 Gay stellt sich dabei eindeutig auf die Seite Nipperdeys, der Wehlers zugespitzter Theorie in seinem Grundlagenwerk zum Kaiserreich widerspricht. Für Wehler war »Bismarck Hitlers Großvater und die ganze
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Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt a. M. 1987, S. 9—Ii. Vgl. Hans Mommsen: Außtieg und Untergang der Republik von Weimar 1918-19}}. Berlin 1998. Vgl. ebd, S. 7 und 118. Ebd. S. 5. Heinrich August Winkler: Weimar 1918-19}}. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993, S. 33. Vgl. Gay 1989, S. 11. Wehler hatte die Weimarer Republik als »eine strahlende, von Anfang an jedoch todkranke Ausnahmeerscheinung in der düsteren deutschen Vergangenheit« eingeschätzt. Dem setzte Nipperdey entgegen, daß die Außenseiter (ein Begriff, den gerade Gay gerne gebraucht), »keineswegs so machtlos, keineswegs so arm an Gefolgschaft« waren, »wie Wehlers Deutsches Kaiserreich sie darzustellen versucht.« Gay bezieht sich auf Hans-Ulrich Wehler: Das deutsche Kaiserreich 18/1-1918. Göttingen 1973, und Thomas Nipperdey: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufiätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 360-389.
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deutsche Vergangenheit ein Vorspiel, das im Dritten Reich enden mußte.« 10 G a y erklärt dagegen eindeutig, däß »die Weimarer Republik eine Ausnahme und nicht ein Intervall zwischen Wilhelm II. und Adolf Hitler war.« 11 Wehler vernachlässigt ganz eindeutig die Kriegsmüdigkeit der Deutschen von 1918 und den Willen zur Veränderung, der allerdings schnell durch Zunahme partikularer Interessen zugedeckt wurde. Heinrich August Winkler hat, trotz seines Hinweises auf die gebremste Revolution, sehr differenziert festgestellt, daß die Ablösung der Hohenzollernmonarchie von einem Großteil der Bevölkerung begrüßt worden war: Für die große Mehrheit der Deutschen verband sich mit der Republik die H o f f n u n g auf einen gerechten Frieden und einen innenpolitischen N e u a n f a n g . Scheidemanns W o r t e »Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt!« trafen die Gefühlslage des 9. November genau. Die Fürsten und Generäle hatten ihren Kredit verspielt; sie standen für die Enttäuschungen und Entbehrungen des verlorenen Krieges; sie verkörperten eine Gesellschaft des »Oben« und »Unten«, die in Wirklichkeit längst aus den Fugen geraten war. 1 2
Das Dilemma bestand jedoch darin, daß die Vorstellungen von einem Neuanfang weit auseinander gingen. Die Spaltung der Arbeiterschaft in Anhänger eines Rätesystems, die in Sowjetrußland ihr Vorbild sahen, und Sozialdemokraten, die für eine parlamentarische Demokratie votierten, belasteten das Klima einer anfänglich revolutionären Euphorie. Die nicht zu unterschätzende Sympathie in der arbeitenden Bevölkerung für die Ergebnisse der Oktoberrevolution in der Sowjetunion führte zur schizophrenen Situation, daß der neue Reichspräsident Ebert mit den Militärs kooperierte, um die Ausbreitung des Bolschewismus in Deutschland zu verhindern. D i e zunächst diskreditierten alten Eliten gewannen dadurch innerhalb eines Jahres wieder an Ansehen und Macht. Das Bündnis zwischen Arbeitern und Bürgertum, auf das gerade Leopold Jessner große Hoffnungen setzte, geriet schnell zwischen die innenpolitischen >FrontenTheateroktoberGesamtbetrachtung< über das politische Theater der Weimarer Republik. 1 7 Leopold Jessner wird mit einer staatserhaltenden Position in Verbindung gebracht und die weitgehende Ubereinstimmung der Theaterreformer nach 1918 im Hinblick auf den soziologisch-aufklärerischen Impuls des Theaters schlichtweg negiert. Knellessen unterstellt außerhalb des engen Rahmens eines politisch-revolutionierenden Theaters, das nach einer Veränderung des Staates trachtet »oder gar für eine neue Staatsform agitiert«,28 allen anderen Formen eine politisch-konservative Position, was ausdrücklich auch für Jessners »Staatstheater eines sozial-demokratisch regierten Staates« 19 gälte. Knellessen verwickelt sich selbst in Widersprüche, wenn er einerseits von einem »in künstlerisch-theaterstilistischer Hinsicht [...] sowohl als Theaterleiter, wie auch als Inszenator, revolutionär[en]« 3 ° Jessner spricht, andererseits ihn mit dem verwirrenden Politik-Klischee politisch-konservativ stigmatisiert. An anderer Stelle leugnet Knellessen gerade die beliebte Trennung zwischen künstlerischer und politischer Wirkung, indem er überzeugend nachweist, daß Theater prinzipiell im direkten Bezug zur Politik stehe und eine apolitische ästhetische Verabsolutierung des Theaters im Sinne des L 'art pour l'art als eine wesensfremde und realitätsferne, ja illusionäre Theorie zu entlarven sei.' 1 Der Begriff Staatserhaltung greift in der permanent gefährdeten Weimarer Republik ohnehin ins Leere. Generalstreiks und Putschversuche, Straßenterror und Mordanschläge beherrschten in den ersten Jahren neben den emotionalen Auseinandersetzungen um die Unterzeichnung des Versailler Friedensabkommens die Szene. Auf eine Festigung der parlamentarischen Demokratie, sofern sie überhaupt jemals erfolgte, deutete viele Jahre nichts hin. Selbst als sich der extrem labile Zustand in Deutschland nach Niederschlagung des Hitler-Putsches im November 1923 partiell konsolidierte, wurde die behauptete sozialdemokratische Dominanz niemals Realität. Darüber hinaus ist der versteckte Vorwurf, Jessner und die S P D hätten als Stützen der Republik die Interessen der Arbeiter verraten und einer Verbürgerlichung Vorschub geleistet, aus verschiedenen Gründen haltlos und abwegig. Als Indiz für die Eingliederung der Volksmassen in den Kulturbetrieb der Bourgeoisie wird nicht zu Unrecht die Entwicklung der Volksbühne in Berlin herangezogen. Der eingeschlagene Kurs der Besucherorganisation hatte sich längst von den ursprünglichen Zielen, das Theater als Instrument im Emanzipationskampf der Arbeiterschaft zu benut-
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Friedrich Wolfgang Knellessen: Agitation auf der Bühne. Emsdetten 1970. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 12-26.
zen, entfernt. Nach dem Mehrheitswillen ihrer Mitglieder hing schon vor dem Weltkrieg die Volksbühne der Illusion eines politisch-neutralen Bildungsideals an, so daß ihre Aufführungen, von der herkömmlichen Praxis ununterscheidbar, beispielhaft die Rückständigkeit des deutschen Theaters widerspiegeln. Piscators Entsetzen über die Saturiertheit der Volksbühne ist bekannt; sowohl seine 1924 einsetzenden Volksbühnen-Inszenierungen als auch seine verbalen Angriffe belegen, wie er mit radikaler Politisierung den strukturellen Mißstand zu beheben versuchte: »Die Volksbühne hatte den letzten Rest kämpferischer Einstellung verloren, war aufgesogen und verdaut vom bürgerlichen Theaterbetrieb. Der Krieg leitet für die Volksbühne keine neue Ära ein. Es sei denn eine Ära der definitiven und unwiderruflichen Kapitulation vor den herrschenden Mächten.«3* Es ist dagegen weniger bekannt, daß Jessner gleichermaßen die »Verspießerung« der Volksbühne zum Ausgangspunkt für die Notwendigkeit eines Traditionsbruches nahm, weshalb er auch beim sogenannten »Volksbühnenkrach« 1927 sich voll und ganz hinter die Regieprinzipien Piscators stellte. Noch schwerer wiegt die Tatsache, daß mit Jessners gescheiterter Bewerbung um die Volksbühnenleitung im Jahre 1913 gerade die Anpassung des Wahlausschusses an die kurz vor Kriegsbeginn propagierte Burgfriedenspolitik des wilhelminischen Staates klar zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang ist Herbert Iherings bekannte Schrift Der Volksbühnenverrat aus dem Jahre 1928 äußerst aufschlußreich. Die Ablehnung Jessners bezeichnet Ihering noch 15 Jahre später, trotz Jessners späterer Erfolge in der noch renommierteren Position als Staatstheater-Intendant, als größte Fehlentscheidung in der Geschichte der Volksbühnenbewegung. Als 1914 der Volksbühne mit dem Oskar Kaufmann-Bau am Bülowplatz ein eigenes Haus zur Verfügung stand, tätigte der Vorstand mit der Wahl des wenig ambitionierten Emil Lessing einen fatalen Mißgriff, womit sich erst der von Piscator angeprangerte Weg einer Eingliederung in die realitätsferne, schwebend-erhabene Kunst des ausgehenden kaiserlichen Bildungsbürgertums in letzter Konsequenz vollzog. Die Folgen waren verheerend. Bereits nach einem Jahr scheiterte Lessing, und Max Reinhardt, der Antipode eines Theaters für Arbeiterinteressen, nutzte drei Jahre das Haus für Inszenierungen seines großbürgerlichen Theaterimperiums, ehe 1918 Friedrich Kayßler, ein relativ regieunerprobter Reinhardt-Schauspieler, die Bühne am Bülowplatz übernahm. Der einzige Ausweg aus der Krise wäre Jessner gewesen, der die Entwicklung zu einem politischneutralen »Selbstzweck-Theater« gestoppt hätte, was Ihering gerade im Licht von Jessners ersten revolutionären Staatstheater-Produktionen analysiert: Gab es damals eine andere Möglichkeit? [...] Jessner hatte, als Oberregisseur des Hamburger Thalia-Theaters, Vorstellungen für Volksbühnenmitglieder und Gewerkschaften inszeniert (»Dantons Tod« vor Reinhardt). Jessner hatte sich der politischen Bewegung angeschlossen, Jessner interessierte sich für die Volksbühne, Jessner war zu haben. Aber der Vorstand ahnte nicht, daß er mit der Übernahme des Hauses am Bülowplatz eine Epoche einleiten könnte. Er wollte nicht beginnen, sondern hinterherziehen. Jessner war damals unverbraucht. Er hätte - in dieser frühen Zeit - gewußt, was er spielen und wie er für die Massen spielen sollte [...]: eine Bühne für Massen, [...] für politische Dramen und aggressive Revuen [...] und man spielte muffiges, kleinbürgerliches Sauerkohltheater, unfrei, bärtig, zerzuzzelte die Sätze psychologisch,
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Piscator 1986, S. 49.
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murmelte »naturalistisch« vor sich hin. Wenn man an Jessners ersten »Teil«, an »Richard III«, an »Wallenstein« denkt - das wäre der Stil gewesen, mit dem damals das Publikum zu packen, die Volksbühnenmitglieder emporzureißen gewesen wären.'3 Es bleibt spekulativ, ob das deutsche Theater eine andere W e n d u n g genommen hätte, wenn Jessner 1913 in Berlin Volksbühnen- statt 1919 Staatstheater-Intendant geworden wäre. In Bezug auf die von Ihering erwähnten Inszenierungen bleibt aber festzuhalten, daß Jessner an der Staatsbiihne m e h r f ü r die Interessen der Bevölkerungsmasse u n d Arbeiterschaft kämpfte als die Verantwortlichen der Volksbühne (das dreijährige Regieintermezzo Piscators einmal ausgenommen). Jessner war während seiner ganzen elfjährigen Staatstheater-Intendanz besessen von dem Willen, »im edlen Sinne doch ein Volkstheater« 34 zu bleiben. Dieser wörtlichen Formulierung aus seiner Antrittsrede fügte er 1923, als das ehemals private Schiller-Theater zum >Kleinen Haus< der Staatsbühnen umfunktioniert wurde, die L o s u n g hinzu, anstelle eines »konservativ-abgelebten [...] eine[n] Darstellungsstil aus d e m N e r v der Z e i t heraus ohne kunstgewerblichen u n d modischen Einschlag« 35 zu verwirklichen, womit die bürgerlichen Allüren, wie sie Knellessen fälschlich attestiert, endgültig ad absurdum geführt werden können. Jessners immer wiederkehrende Forderung, >aus dem N e r v der Zeit< zu inszenieren, bedeutete mehr als nur ex negativo sich von restaurativen Kunstauffassungen zu verabschieden und den Prozeß der Ablösung eines von der Tagespolitik sich fernhaltenden Illusionstheaters unumkehrbar zu machen. Die entscheidende Neuerung Jessners war die Initialzündung zum Zeittheater, noch bevor die ersten proletarischen Theaterbewegungen wirksam wurden. W o l f g a n g Drews vergleicht ihn mit dem G r ü n d e r des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins Ferdinand Lassalle: Der lange, ungeschlachte Mann aus Ostpreußen, der sich kühn zu seinem Judentum und noch kühner zum Sozialismus bekannte, befolgte Lassalles Forderung: »Aussprechen, was ist«. Er unternahm es, das Zeitgefühl zu formulieren; er formulierte das Zeittheater. Ein geformtes Theater des äußeren und inneren Tempos, der nüchternen Leidenschaft, der logischen Gliederung, des Akzents, des Siegels. Unverkennbar seine Verwandtschaft mit Meyerhold, Tairoff (sie!), Wachtangow, den russischen Neuerern, die sich von Stanislawskis Realismus abwandten. Jessners Identifikation mit dem Lassalleschen M o t t o ' 7 beweist, daß auch in der inhaltlichen Ausprägung eine N ä h e zu den sozialistischen Theaterreformern unbestreitbar ist. Folgerungen für die inszenatorische Praxis sind hier deutlich zu greifen. Für ein Regietheater, in dem sich die Zeichen der Zeit manifestieren und unter Umständen eine Lösung von
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Ihering 1974, S. 249. Jessner 1979, S. 17. Ebd., S. 19. Wolfgang Drews: Theater. Wien/München/Basel 1961, S. 135. Der Jessner-Aufsatz von Drews wurde neben der Buchpublikation mit geringfügigen Änderungen immer wieder in Fachzeitschriften veröffentlicht. Vgl. Drews: »Die ethisch-politische Tribüne«. In: Volksbühnen-Spiegel, 4. Jg., Nr. 3, 1958, S. 5 f.; »Theater zwischen Revolution und Reaktion«. In: Theater und Zeit, 6. Jg., Nr. 7, 1958, S. 7-9, und »Idee statt Illusion«. In: Theater heute, 3. Jg., H. 4, 1962, S. 3438.
der literarischen Vorlage unumgänglich wird, gab Jessner in Deutschland den Anstoß. Jessner entfachte damit eine scharfe und nie zu Ende kommende Debatte, die bis zum heutigen T a g e nichts an Aktualität eingebüßt hat. Als Vorsitzender der Vereinigung künstlerischer Bühnenvorstände setzte er in öffentlicher Sitzung das T h e m a »Die schöpferische Tätigkeit des Regisseurs und seine Freiheit gegenüber dem Autor« bewußt auf die Tagesordnung. M i t Nachdruck verteidigte Jessner in seinem Schlußwort gerade die Autonomiebestrebungen Meyerholds und Tairows. Dieser Standpunkt war angesichts Jessners herausgehobener Position im deutschsprachigen Theater alles andere als opportun, da die Entliterarisierung und das Beharren der russischen Regisseure auf Eigenständigkeit in der theatralischen Realisierung in der Regel als > Vergewaltigungen verteufelt wurden: Bei aller Freiheit des Regisseurs und bei aller Anerkennung für den ersten Platz des Autors muß dem Regisseur das Recht zuerkannt werden, aus seinem Gefühl, aus den Nerven seiner Zeit, aus dem Nerv seines Ichs heraus zu inszenieren. Ich behaupte, daß das, was Tairow und Meyerhold schaffen, durchaus keine Vergewaltigung der von ihnen dargestellten Dichter bedeutet, sondern sie inszenieren lediglich aus dem Nerv ihres Landes. Dieses expansionsfähige Gefühl, das sich nach dem Volksliedmäßigen Stanislawskis in Rußland gezeigt hat, und zwar nach der großen Umwälzung, das kommt in den Inszenierungen Tairows und Meyerholds zum Ausdruck - genau, wie auch hier, 1919, der allgemeine politische Akzent in der Theater-Darstellung in Deutschland zum Ausdruck gekommen ist. Dieses Recht und diese Pflicht hat der Regisseur: den Nerv seiner Zeit zu beobachten - oder vielmehr: der Regisseur wird ihn nicht »beobachten« - ist er der Regisseur, so wird er den Nerv seiner Zeit fühlen - und, meine Damen und Herren, in einer solchen Zeit wie der unsrigen fühlt er ihn.' 8 Die Leistungen Tairows und Meyerholds waren nicht nur vor dem >Vergewaltigungs