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German Pages 280 Year 2018
Frank Schumann Leiden und Gesellschaft
Sozialtheorie
Frank Schumann (Dr. phil.), geb. 1986, promovierte in Jena bei Hartmut Rosa und ist Postdoc an der International Psychoanalytic University in Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Sozial- und Gesellschaftstheorie, Sozialphilosophie und psychoanalytischen Subjekttheorie.
Frank Schumann
Leiden und Gesellschaft Psychoanalyse in der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule
Gefördert durch einen Druckkostenzuschuss der Hans-Böckler-Stiftung
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Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung | 9
DIE ANFÄNGE: MATERIALISTISCHE SOZIALFORSCHUNG UND PSYCHOANALYSE 1
Das interdisziplinäre Forschungsprojekt unter Horkheimer | 31
1.1 Vorüberlegungen: Kulturentwicklung bei Freud und den Linksfreudianern | 34 1.2 Eine materialistische Theorie des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs | 38 1.3 Der autoritäre Charakter | 44 1.4 Die Studien über Autorität und Familie: Ein Fragment | 52 1.5 Anpassung als Schicksal? Das Scheitern des materialistischen Forschungsprogramms | 55
VERARBEITUNGSVERSUCHE: ADORNO UND MARCUSE Gesellschaftskritik als Vernunftkritik bei Adorno | 63 2.1 Deutende Philosophie: Vorbemerkungen zu Adornos Methode der Darstellung und Kritik | 66 2.2 Die Gesellschaftsdiagnose: Subjektive Ohnmacht und verwaltete Welt | 71 2.3 Gesellschaftskritik als Vernunftkritik | 94 2.4 Leiden als Begriff des unversöhnten Zustands? | 105 2
Der triebtheoretische Rettungsversuch von Marcuse | 111 3.1 Leitmotive in Marcuses Denken: Glück und das Wesen des Menschen | 115 3.2 Radikalisierung der Zeitdiagnose und die Erschütterung der normativen Grundannahmen | 123 3.3 Der triebtheoretische Rettungsversuch der Kritik | 133 3.4 Leiden an Deformation der erotischen Grundlagen der Kultur? | 148 3
RESTAURIERUNGSVERSUCHE: HABERMAS UND HONNETH 4
Kommunikatives Handeln und die hintergründige Geschichtsphilosophie bei Habermas | 155
4.1 Habermas’ handlungstheoretisch fundierte Gesellschaftsdiagnose: Die verdinglichende Erosion verständigungsorientierten Handelns | 161 4.2 Die Theorie der Rationalisierung: Eine säkularisierte Geschichtsphilosophie | 179 4.3 Vernunft in der Kommunikation: Die Diskursethik | 193 4.4 Leiden an der deformierten Verwirklichung der kommunikativen Vernunft? | 197 5
Kampf um Anerkennung oder historische Verwirklichung der Sittlichkeit? | 203
5.1 Der Anerkennungsbegriff | 207 5.2 Der historische Kampf um Anerkennung: Missachtungserfahrungen und die Verwirklichung der Sittlichkeit | 231 5.3 Leiden und die Verwirklichung der Sittlichkeit? | 242 Schluss | 247 Literatur | 263
Danksagung
Es ist selbstverständlich, dass längere Arbeiten wie diese nicht das Produkt eines einsamen Arbeits- und Erkenntnisprozesses sind, sondern von der Unterstützung nicht weniger Personen und Institutionen abhängen. Den Anteil aber, den diese zum fertigen Text geleistet haben, sieht man dem Text meist nicht mehr an; und das, obwohl sich jener Anteil erst rückblickend, nach getaner Arbeit, wirklich ermessen lässt. Was wäre also besser geeignet, jenen nicht ganz so selbstverständlichen Anteil zu würdigen, als in Textform zu danken? Dieser Dank gebührt zunächst Hartmut Rosa, dessen Ermutigung und laufende Unterstützung das Promotionsprojekt, aus dem diese Veröffentlichung hervorgegangen ist, überhaupt erst ermöglichte. Der Dank zielt auch auf das gesellschaftstheoretische und sozialphilosophische Klima, das am Institut für Soziologie in Jena zu finden ist; in ihm konnten einige der hier verhandelten Gedanken erst entstehen. Dankbar bin ich auch Phil C. Langer, dessen Enthusiasmus für das Projekt besonders in der mitunter kräftezehrenden letzten Phase der Arbeit Ansporn und Motivation war. Nicht zuletzt verdanke ich ihm auch ein Arbeitsumfeld und die Freiheit, in der ich die Dissertation, die im Frühjahr 2017 an der Universität Jena eingereicht wurde, überarbeiten konnte. Ohne Arthur Groth, Stefanie Leiding, Anne Mielke und ganz besonders Stefanie Thalheim wäre die Arbeit weitaus unübersichtlicher und knöcherner; ihnen verdankt der Text daher unmittelbar etwas – gerade, weil man es ihm nicht mehr ansieht. Die gemeinsame Zeit im Büro mit Anne Mielke (und anderen) waren überdies ein steter Quell von Anregungen. Inspirierend und hilfreich waren auch die regelmäßigen Diskussionen mit Inga Nüthen, Alex Fenton, Hartwig Schuck und Mario Becksteiner. Viel verdanke ich auch der Hans-Böckler-Stiftung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Promotionsförderung, die die konzentrierte Arbeit an dem Projekt und die Veröffentlichung in der Form mit einem Promotionsstipendium überhaupt erst ermöglicht haben. Es ist wahrscheinlich dieser Anteil, der im Rückblick am deutlichsten wird.
Einleitung
Leiden und Gesellschaft – zwischen beiden Begriffen scheint eine Beziehung zu bestehen und doch sind sie nicht leicht unter einen Hut zu bekommen. Leiden ist direkt erfahrbar; Gesellschaftliches teilt sich hingegen nur mittelbar etwa in sozialen Interaktionen mit. Es ist daher leicht zu behaupten »There is no such thing as society« – wie es Margaret Thatcher bekanntlich tat.1 Eine analoge Behauptung – etwa »There is no such thing as suffering« – würde wahrscheinlich nicht so leicht über die Lippen gehen. Denn Leiden ist etwas Spürbares und schmerzhaft Konkretes; es hat einen drängenden, unmittelbaren Charakter. Die meisten Menschen können sich an Situationen erinnern, in denen sie Erfahrungen gemacht haben, die sie als leidvoll bezeichnen würden. Denn Leiden prägt sich ein. Die Unmittelbarkeit und Prägnanz des Leidensbegriffs aber fehlt der Gesellschaft – was nicht heißt, dass Gesellschaft nicht existiert. Gesellschaft ist aber ein Begriff, der in der Regel geringe praktische Relevanz für den Alltag der meisten Menschen besitzt. Daher behält er auch in den öffentlichen und politischen Debatten, in denen er gelegentlich auftaucht, etwas Ungreifbares und Abstraktes. Und doch, trotz der Unterschiede im Erfahrungsbezug scheint es eine Beziehung zwischen Leiden und Gesellschaft zu geben. Es ist vorstellbar, dass sich in den Erfahrungen des Leidens etwas von jener schwer zu greifenden Gesellschaft zeigt; dass also, in anderen Worten, jenes Leiden etwas über die Gesellschaft selbst aussagt. Dieser Verdacht liegt schließlich jeder Gesellschaftskritik zugrunde. Die letzten Jahre brachten mit den Debatten um Burnout und Depression ein augenfälliges Beispiel dafür. Die ungewöhnlich breite Auseinandersetzung mit den so betitelten psychischen Erschöpfungserscheinungen mag darauf zurückzuführen sein, dass der Burnout das Selbstverständnis eines flexiblen und leistungs-
1
Thatcher, Margaret: »Interview«, in: Woman’s Own vom 23.09.1987.
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bewussten Mittelstands ausdrückt. 2 Unverkennbar sind aber dennoch die gesellschaftskritischen Untertöne der Debatte: In Erschöpfungssymptomen wird schließlich eine kritische Wahrheit über die Gesellschaft selbst vermutet.3 »Wer Burnout sagt«, so urteilt daher Ulrich Bröckling, »spricht im Modus der Kulturkritik.«4 Der Diskurs darüber, ob das psychische Leiden der Menschen etwas über Kultur und Gesellschaft verrät, setzte jedoch nicht erst mit dem Burnout ein. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Neurasthenie und Depression als Zeitkrankheiten diskutiert.5 Einige Jahre später nahmen Hysterie und Neurose diese Stellung ein, seit den 1970er und 1980er Jahren wiederum Narzissmus 6 und Depression.7 Alle diese Diskurse konnten mal mehr, mal weniger plausible Indizien dafür liefern, dass ein Zusammenhang zwischen den modernen Lebensbedingungen und leidvollen psychischen Symptomen besteht. Wie plausibel diese Verbindung in der Gesamtschau aber auch sein mag, im Einzelfall ist sie nur schwer nachzuweisen. Geht die Bereitschaft über eigene Grenzen zu gehen, tatsächlich auf ein verändertes gesellschaftliches Umfeld – die ›Leistungsgesellschaft‹ – oder lediglich auf individuelle Dispositionen und Prägungen zurück? Sind es also ›nur‹ Einzelfälle? Warum erkranken einige Menschen trotz hoher Arbeitsbelastung nicht an Burnout, andere hingegen schon weit eher? Auch wenn die Annahme naheliegt, dass sich in den psychischen Erkrankungen und Leiderfahrungen der Menschen gesellschaftliche Aspekte wiederfinden lassen, ist das Verhältnis alles andere als eindeutig.8
2
Vgl. etwa Bröckling, Ulrich: »Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad. Konturen einer Zeitkrankheit«, in: Sighard Neckel/Greta Wagner (Hg.), Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 179200, hier S. 180f.
3
Vgl. Focus: »Die Burn-Out-Gesellschaft. Macht uns der Job krank?« vom 08.03.2010.
4
U. Bröckling: »Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad«, S. 179.
5
Vgl. Kury, Patrick: »Von der Neurasthenie zum Burnout. Eine kurze Geschichte von Belastung und Anpassung«, in: Sighard Neckel/Greta Wagner (Hg.), Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 107128.
6
Vgl. Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzissmus, München: DTV 1986.
7
Vgl. Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008.
8
Vgl. Dornes, Martin: Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M.: Fischer 2016; vgl. Reiche, Reimut: Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche, Frankfurt a. M.: Campus 2004.
Einleitung | 11
In den nächsten Kapiteln soll sich der Beantwortung der soeben gestellten Fragen angenähert werden, aber nicht, indem ein Ansatz vorgestellt wird, der diese Aspekte bereits stimmig integriert. Stattdessen erfolgt die Annäherung an das Problem schrittweise über die Untersuchung einer gesellschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Theorieschule, in der die kritische Beschäftigung mit sozialen Pathologien9 ein zentrales theoretisches Anliegen ist: Die Rede ist von der Frankfurter Schule. An die verschiedenen Etappen der Theorieentwicklung wird dabei stets dieselbe Frage gestellt: Welche Verbindung wird zwischen Leiden und Gesellschaft gezogen, wie wird damit Gesellschaft kritisiert und wird diese Verbindung der Komplexität des Problems gerecht? Trotz der multiperspektivischen und interdisziplinären Herangehensweise, die in der Frankfurter Schule bereits seit der ersten Generation angelegt ist, wird sich jedoch herausstellen, dass jeder der verschiedenen Theorieentwürfe systematisch Schwierigkeiten hatte, die methodologische Komplexität zu fassen. Im Laufe der Arbeit wird sich auch zeigen, dass diese Schwierigkeiten nicht lediglich die Frage betreffen, was als Leiden an Gesellschaft verstanden werden kann. Die Schwierigkeiten, die die Frankfurter Schule mit dem Problem hat, verweisen auf ein inneres Dilemma der Theorietradition und auf eine Herausforderung, die sich für sämtliche kritische Bezugnahmen auf soziale Leiderfahrungen ergibt: Wie ist eine Gesellschaftskritik möglich, die nicht mehr auf metaphysische Grundannahmen zurückgreifen kann?10
9
Honneth, Axel: »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: Axel Honneth (Hg.), Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 11-69.
10 Vgl. die Charakterisierung von Habermas, in die er eine sprachtheoretische Verteidigung metaphysischen Denkens einfließen lässt: Habermas, Jürgen: »Motive nachmetaphysischen Denkens«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, S. 35-60; vgl. dazu auch Bohmann, Ulf/Gertenbach, Lars/Laux, Henning: »Ein Spiel zwischen Nähe und Distanz. Formen der Kritik unter nachmetaphysischen Bedingungen«, in: Karin Becker/Lars Gertenbach/Henning Laux et al. (Hg.), Grenzverschiebungen des Kapitalismus. Umkämpfte Räume und Orte, New York, Frankfurt a.M.: Campus 2010, S. 5574.
12 | Leiden und Gesellschaft
LEIDEN UND NACHMETAPHYSISCHE GESELLSCHAFTSKRITIK Obwohl Leiden etwas Fühlbares und damit durchaus Unmittelbares ist, spielt es für eine Gesellschaftskritik nicht als Gefühl eine Rolle. Es ist nicht die Empfindung des Leidens selbst, auf die sich jene Kritik stützen kann. Für eine Gesellschaftskritik relevant sind stattdessen die normativen Ansprüche, die im Moment des Leidens verletzt werden und die dadurch unmittelbar spürbar werden. Die Kritik kann sich daher auf eine gewisse Doppelstruktur des Leidbegriffs stützen: Leiden ist einerseits etwas Spürbares und damit Somatisches; andererseits ist es nicht ohne eine normative Dimension zu denken, die über den konkreten, subjektiven Empfindungsgehalt hinausweist. Das lässt sich bereits in der Alltagsverwendung des Begriffs nachvollziehen. Nicht der Schmerz, die Krankheit oder die psychische Erschöpfung als solche werden mit dem Wort Leiden bezeichnet. Das Wort wird gemeinhin dann verwendet, wenn diese Widrigkeiten gezwungenermaßen ausgehalten, ertragen oder erduldet werden müssen. Die Differenz kann auch ohne Weiteres an einem Beispiel illustriert werden. Eine Schnittwunde, die man sich aus Unachtsamkeit etwa während des Kochens selbst zufügt, muss nicht als Leid empfunden werden, kann es aber durchaus. Dabei spielt es eine Rolle, unter welchen Umständen die Verletzung entsteht: Geht die Unachtsamkeit etwa auf Stress oder andere Ablenkungen zurück? Ist der Anlass des Kochens freiwillig gewählt oder handelt es sich um eine lästige Pflichtaufgabe? Reiht sich die Schnittverletzung möglicherweise in andere Missgeschicke oder Kränkungen ein, die an dem Tag erlebt wurden, oder lässt sie gar belastende und traumatische Erinnerungen wiederauftauchen? Sogar in physischen Verletzungen spiegelt sich der (durchaus soziale) Kontext, in dem sie entstehen. Obwohl es in der sensorischen Qualität selbst nicht zu unterscheiden ist, macht es daher einen Unterschied, ob die Schnittwunde unter einem möglicherweise gesellschaftlich bedingten Belastungszustand zugefügt wurde oder nicht. Der Unterschied liegt darin, ob der Schmerz, die Erschöpfungserscheinungen oder Ähnliches im Zuge einer für die Subjekte sinn- und zweckhaften Situation entstanden sind – oder ob sie in Zusammenhang mit einem inneren oder äußeren, jedenfalls sinnlosen Zwang gebracht werden. Zum Schmerz kommt im Leiden folglich noch etwas hinzu, nämlich so etwas wie ein Schmerz darüber, dass man Schmerzen empfindet.11
11 Instruktiv ist in dem Zusammenhang auch Honneths Unterscheidung von Unglück und Unrechtsempfindungen. Vgl. Honneth, Axel: »Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung«, in: Axel Honneth (Hg.), Das Andere der Gerechtigkeit.
Einleitung | 13
Leiderfahrungen sind die »Schmerzen des Schmerzes«, wie Emanuel Lévinas es formuliert.12 Im Unterschied zu bloßen Schmerzen oder Belastungen ist das Leid kategorisch unvereinbar mit einem guten oder gelingenden Leben; es widerspricht einer normativ zufriedenstellenden Lebensweise. Was Versagungen, Schmerzen, Krankheiten und Erschöpfung so zu Leid werden lässt, ist die Unmöglichkeit, sie sinnhaft in den eigenen Lebenszusammenhang zu integrieren – oder sie abzuschaffen. Es ist der Zwang zum widersinnigen Erdulden, der das Leiden ausmacht. Der Begriff des Leidens transzendiert so die situative, subjektive Empfindung und verweist auf lebensweltliche normative Orientierungen, die in dem jeweiligen Moment ausgehebelt werden. Daher ist auch der Bezug auf das Leiden der Menschen letztlich ein zentraler Aspekt jeglicher Gesellschaftskritik und ganz besonders moderner, sogenannter nachmetaphysischer Kritik. Anders als externe Gesellschaftskritiken, die zwar auch Leidphänomene aufgreifen, kann sich eine moderne Kritik zur Begründung ihres Einspruchs schließlich nicht mehr auf metaphysische, natürliche oder religiöse Prinzipien berufen. Was als ein gutes, oder zumindest als ein besseres Leben gelten kann, muss sie in Anknüpfung an normative Orientierungen rechtfertigen, die bereits Teil der gesellschaftlichen Praxis sind. Sie ist deswegen im Wesentlichen eine immanent ansetzende Kritik.13 Der Bezug auf Leiderfahrungen leistet genau das: Er ist ein immanenter Ankerpunkt der Kritik. Nicht nur zeigt er auf, dass die Menschen selbst ihre Lebenssituation als ungenügend empfinden und ein (formales) Interesse an einer besseren Gestaltung derselben haben. Bestenfalls lässt sich – und das unterscheidet immanent ansetzende von externen Gesellschaftskritiken – so auch belegen, dass im Leiden die allgemeinen normativen Vorbedingungen für ein gutes Leben verletzt werden, auf die sich die Gesellschaftskritik letztlich beruft. Allerdings ist die normative Bedeutung intrapsychischer Leiderfahrungen nicht unmittelbar und positiv gegeben. Schließlich weist das Leiden nur negativ auf normative Aspekte hin, die auf nicht zu rechtfertigende Weise verletzt werden. Außerdem kann es einer Gesellschaftskritik nicht um die partikularen norAufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 171-192, hier S. 180. 12 Lévinas, Emmanuel: »Das sinnlose Leiden«, in: Emmanuel Lévinas (Hg.), Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München: Hanser 1995, S. 117-131, hier S. 118. 13 Für eine weitere Differenzierung verschiedene Arten der Gesellschaftskritik, vgl. Iser, Mattias: »Gesellschaftskritik«, in: Gerhard Göhler/Mattias Iser/Ina Kerner (Hg.), Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden: VS 2011, S. 142157.
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mativen Überzeugungen der Menschen gehen, sondern nur um die Aspekte derselben, die verallgemeinerbar sind. Es geht ihr, in anderen Worten, nur um Vorbedingungen eines guten Lebens, nicht aber um die je subjektive Ausgestaltung desselben. Die normativen Vorbedingungen müssen wiederum erst in den sozialen Kontexten, die mit den Leiderfahrungen assoziiert sind, rekonstruiert und damit aus ihnen geborgen werden. Das ist eine komplexe Aufgabe: Es muss etwas rekonstruiert werden, das nur negativ im Modus einer Verletzung oder eines Verstoßes in Erscheinung tritt. Außerdem muss diese Rekonstruktion mit einer Methodologie verbunden werden, die die soziale Nahperspektive einnehmen kann, diese aber zugleich in einen kontextübergreifenden und damit auch gesellschaftstheoretischen Horizont stellt. Zwischen Mikro- und Makroebene: Soziales Leiden als deskriptives und explanatives Problem Theorien über soziale und gesellschaftliche Ursachen von Leiderfahrungen treten nicht selten als Gesellschafts- oder Zeitdiagnosen auf. Schon der Begriff der Gesellschaftsdiagnose legt allerdings eine makrosoziologische Perspektive nahe, die analytisch vorwiegend auf der Ebene der Gesellschaftstheorie verbleibt. Diese Priorisierung der makroskopischen Erklärungsebene bringt eine Tendenz zu einem methodologischen Holismus hervor, der es erschwert, die konkreten Dynamiken auf der Ebene der Sozialinteraktion adäquat zu beschreiben, da lediglich makrostrukturelle und übersubjektive Faktoren sozialen Handelns betrachtet werden. Das Problem prägt die soziologische Theorie bereits seit ihren Anfängen. Eine erste, deutliche Formulierung findet das objektivistische Selbstverständnis daher schon in den methodologischen Schriften Emile Durkheims. Durkheim bestimmt darin den »soziologischen Tatbestand« dezidiert in Abgrenzung zu individuellen Phänomenen, deren Beschreibung der Psychologie überlassen wird.14 Durkheim muss daher soziale Verhaltensweisen allein mit dem sozialen Bezugssystem erklären, in dem sie stattfinden; und eine solche Erklärung nimmt er mit dem Begriff des sozialen Zwangs vor. 15 Die besonderen, situativen und individu-
14 Vgl. Durkheim, Emile: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 107ff. 15 »Ein soziologischer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihrem individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt« (ebd., S. 114).
Einleitung | 15
ellen Aspekte des Sozialhandelns und die Auseinandersetzung der Subjekte mit jenen werden so allerdings aus der sozialwissenschaftlichen Betrachtung ausgeschlossen. Das stellt in der Folge Durkheims Überlegungen zum Selbstmord vor strukturelle Probleme. Zwar findet sich wie auch bei anderen frühen Soziologen bei Durkheim eine Sorge um die möglicherweise pathologischen Auswirkungen gesellschaftlicher Modernisierung.16 Durkheim bleibt aber in seiner Erklärung und Beschreibung nichts anderes übrig, als das Leiden der Subjekte, das etwa zu Selbstmord führt, unvermittelt auf sozialstrukturelle Ursachen zurückzuführen.17 Oder anders gesagt: Genau das ist sein Anliegen. Wie sich die diagnostizierten Probleme in der sozialen Nahinteraktion und aus der Perspektive der Handelnden ausnehmen, welche Formen des Umgangs sie entwickeln, wird damit aber aus der Untersuchung ausgeschlossen. Ein objektivistischer und auf die Makroperspektive festgelegter Zugang zum Sozialen findet sich aber auch in anderen Gesellschaftstheorien – etwa in marxistisch geprägten. Auch hier werden soziale Pathologien vor allem auf der Ebene gesellschaftlicher, das heißt ökonomischer, Institutionen beschrieben. Das ist für eine kritische Einschätzung der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen zwar unbedingt notwendig; dabei läuft aber die Theorie Gefahr, die Bindung zu den vielfältigen Erscheinungsformen jener Pathologie zu verlieren. Sie kann, in anderen Worten, so nicht beschreiben und erklären, ob und wie die diagnostizierte Störung als Leid empfunden wird. Eine entsprechende Kritik an dem objektivistischen Selbstverständnis der soziologischen Theorie wird etwa von der Ethnomethodologie, 18 zuletzt aber auch prominent von Luc Boltanski formuliert. Boltanski betont in der Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu einen Egalitarismus in der soziologischen Untersuchung von Alltagspraktiken, die die Auseinandersetzungen der Menschen in konkreten sozialen Situationen in das Zentrum stellt.19 Allerdings besteht hier ebenfalls eine Gefahr, nämlich dass die Kritik am Objektivismus sich in ihrem deskriptiven Anspruch zu sehr auf die konkrete soziale Interaktion beschränkt 16 Vgl. Honneth, Axel: »Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung«, in: Axel Honneth (Hg.), Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 202-221. 17 Vgl. Durkheim, Emile: Der Selbstmord, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 376. 18 Vgl. etwa Garfinkel, Harold: »The rational properties of scientific and common sense activities«, in: Harold Garfinkel (Hg.), Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs: Prentice-Hall 1967, S. 262-284. 19 Vgl. Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent: Über die Rechtfertigung. Eine soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg: Hamburger Edition 2007; vgl. dazu auch Celikates, Robin: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie, Frankfurt a. M.: Campus 2009.
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und so gesellschaftliche Vorbedingungen, die jene Interaktionen rahmen, ausblendet. Die mikrosoziologische Beschreibung sozialer Leidensphänomene würde so die Konkretion mit dem Preis bezahlen, keine Aussagen mehr treffen zu können, die den partikularen Handlungskontext übersteigen. Eine immanente Gesellschaftskritik, die von sozialen Leidensphänomenen aus formuliert wird, muss also auf der deskriptiven Ebene kontextsensibel sein, zugleich aber diesen Kontext in der Beschreibung auch transzendieren und auf allgemeine Strukturmerkmale erweitern können. Zwischen Besonderheit und Allgemeinheit: Soziales Leiden als normatives Problem Ein analoges Problem stellt sich für die normative Basis der Gesellschaftskritik. Auch sie muss nah an sozialen Interaktionskontexten bleiben, um berücksichtigen zu können, welche normativen Eigenheiten soziale Leiderfahrungen für die Betroffenen besitzen. Aber auch wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass in Leiderfahrungen selbst bereits eine normative Dimension eingelassen ist, ist diese zunächst nur von beschränkter Reichweite. Im Leiden spiegelt sich, in anderen Worten, in erster Linie eine partikulare Erwartungshaltung, die ohne Weiteres lediglich für die Betroffenen oder ihr soziales Nahumfeld Verbindlichkeit beanspruchen kann. So ist es zwar nachvollziehbar, dass der wiederholte Gefängnisaufenthalt eines überzeugten Neonazis für ihn mit Leid verbunden ist, weil er für Taten verurteilt wurde, die für ihn gerade kein Unrecht darstellen. Aber der normative Hintergrund dieser Erfahrung ist für eine Gesellschaftskritik nicht relevant, da sich die neonazistische Grundhaltung nicht zwang- und gewaltlos generalisieren, also vernünftig rechtfertigen lässt.20 Die normativen Grundlagen der Gesellschaftskritik müssen folglich so gefasst sein, dass in ihnen einerseits die vielfältigen und kontextspezifischen Verletzungserfahrungen zwanglos aufgehoben sind, diese aber andererseits in einem umfassenderen, gesellschaftsrelevanten Kontext eingeordnet werden können. Hieraus ergeben sich wieder zwei Vereinseitigungstendenzen: erstens eine zu kontextspezifische Rekonstruktion des normativen Gehalts von Leidenserfahrungen, zweitens der gegenteilige Fall einer zu allgemeinen Formulierung.
20 Schließlich basiert die NS-Ideologie in vielen Punkten ganz im Gegenteil auf der (sozialdarwinistischen) Annahme, dass die Verallgemeinerung von Normen des Zusammenlebens nur mit Zwang und Gewalt bis hin zur systematischen Vernichtung von Menschen erfolgen kann und daher auch muss.
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Das lässt sich auch an einem weniger plakativen Beispiel illustrieren. Ersteres – eine allein kontextuelle Rekonstruktion – ist etwa der Fall, wenn sozialstrukturell begünstigte Leidenserfahrungen lediglich im Rahmen individueller Erwartungshaltungen verhandelt werden. Die normative Bedeutung von häuslicher Gewalt wird beispielsweise vollkommen verfehlt, wenn die Gewalt auf die Verletzung individueller normativer Erwartungen reduziert werden würde. Bei häuslicher Gewalt wird schließlich nicht bloß gegen eine partikulare Übereinkunft verstoßen, die von den Lebenspartnern ausgehandelt wurde, sondern zugleich gegen allgemeine normative Prinzipien. Da das Recht auf körperliche und psychische Unversehrtheit – zumindest in den meisten westlichen Gesellschaften – ein allgemeiner, gesellschaftlich anerkannter Wert ist, muss sich nicht mehr explizit auf diesen geeinigt werden: Er wird schlicht als geltend vorausgesetzt. Zwar tragen subjektive Leiderfahrungen stets die Konturen der individuellen Biografie und sind geprägt von individuellen Orientierungen. Aber sie müssen – das soll das Beispiel illustrieren – auch dahingehend geprüft werden, ob in den partikularen Einstellungen und Erwartungshaltungen Voraussetzungen enthalten sind, die den Kontext, der durch die konkret Handelnden gestellt ist, übersteigt. Das ist in dem Beispiel der Fall: Häusliche Gewalt gilt deswegen als falsch, weil sie im Widerspruch zu einer allgemein verbindlichen Norm der Gewaltlosigkeit steht und nicht nur, weil sie gegen eine individuelle Übereinkunft verstößt. Und Gewaltlosigkeit gilt deswegen als verbindlich, weil es evident ist, dass Gewalt gegen Vorbedingungen eines gelingenden Lebens verstößt und damit notwendig Leid erzeugt. Wenn die normativen Aspekte von Leiderfahrungen rekonstruiert werden sollen, ist es also notwendig, die besonderen normativen Erwartungen zu verallgemeinern und zu zeigen, dass hier gegen grundsätzliche normative Prinzipien verstoßen wird, die daher die Gesellschaft als Ganze etwas angehen.21 Das wird schon durch den Umstand nahegelegt, dass die Betroffenen selbst nicht immer in der Lage sind, die volle normative Dimension der Verletzungserfahrungen systematisch zu durchschauen. So kann etwa eine patriarchale Kultur verhindern, dass häusliche Gewalt als ein gesellschaftliches Problem wahrgenommen und diskutiert wird. Besonders ideologiekritische Ansätze betonen die Verstrickung der Subjekte in ihre eigene, leidhafte Lebenspraxis und nehmen dies mitunter zum Anlass, die Geltung normativer Kriterien gerade gegen jenes Alltagsbewusstsein zu behaupten. Allerdings entsteht damit die Tendenz zu einer zweiten Vereinseitigung, die darin besteht, der Gesellschaftskritik allgemeine Kriterien zugrunde zu legen, die jedoch keine Berührungspunkte mit den implizit geteilten Überzeugungen der handelnden Subjekte mehr haben. Das führt zu mehreren Folgeprob21 Insofern ist Gesellschaftskritik mit einem radikalen Relativismus nicht zu machen.
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lemen. Zum einen ist es so kaum mehr möglich, die beanspruchten normativen Kriterien immanent zu begründen. Ein radikaler Bruch mit dem Bewusstsein der Betroffenen muss daher in letzter Konsequenz wieder auf Begründungsfiguren zurückgreifen, die außerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit liegen. Das heißt, um die eigenen normativen Ansprüche rechtfertigen zu können, müssen externe, zum Teil auch direkt metaphysische Topoi wiederbelebt werden. Zum anderen führt der Umstand, dass eine Gesellschaftskritik sozusagen die Interessen der Subjekte besser zu kennen glaubt als diese selbst, zu einem weiteren Problem: zu einer »paternalistischen« und belehrenden Haltung der Kritik gegenüber den Betroffenen.22 Zwar ist es offensichtlich, dass Gewalterfahrungen – etwa im häuslichen Bereich – den Bedürfnissen und Interessen der Betroffenen zuwiderlaufen. Aber die Formulierung von normativen Forderungen unabhängig von den jeweils Betroffenen käme einer weiteren Entmündigung gleich. Daraus ergibt sich außerdem ein weiteres Problem. Oftmals sind die belastenden Erfahrungen in komplexe Handlungszusammenhänge eingebettet, in denen auch verschiedene normative Orientierungen im Konflikt miteinander stehen können. Daher bliebe eine Rekonstruktion der normativen Dynamiken etwa von häuslicher Gewalterfahrung abstrakt, wenn sie die widersprüchliche Struktur sozialen Handelns ignoriert, die hier beispielsweise durch eine patriarchale Kultur mitgeprägt ist. Dagegen ist davon auszugehen, dass es gerade jene Verstrickungen und widersprüchlichen Orientierungen sind, die zu dem leidtypischen Charakter des Erduldenmüssens beitragen. Die Zeugnisse und alltäglichen Auseinandersetzungen der Betroffenen müssen in der normativen Rekonstruktion zwar methodisch (und das heißt auch ideologiekritisch) gebrochen werden, aber so, dass sie für die Untersuchung nicht entwertet werden. Mit Foucault ließe sich sagen, dass eine so verstandene Gesellschaftskritik vor der Herausforderung steht, mit dem »Wahnsinn« oder der Unvernunft psychischer Leidenserfahrungen in einen Dialog zu treten, und diese nicht in einem Monolog der Rationalität zum Verschwinden zu bringen. 23 Bis hier hin lassen sich die Herausforderungen, die sich für eine kritische Verbindung von Leiderfahrungen und Gesellschaftstheorie stellen, in drei Punkten zusammenfassen: 1) Zum Ersten – und das ist naheliegend – erfordert das eine Beschreibung subjektiver und sozialer Dynamiken, in denen schließlich jene Leidphänomene wurzeln. So könnten in der Untersuchung von Arbeits- und Lebensbedingungen der Betroffenen typische Merkmale identifiziert werden, die mit dem Auftreten 22 Vgl. ebd., S. 19ff. 23 Vgl. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013, S. 11ff.
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von Burnout-Symptomen assoziiert sind. Bedeutsam ist hier aber auch der Umgang der Menschen mit den für sie als leidvoll empfunden Anforderungen und Situationen. Sollte sich dabei herausstellen, dass nur Menschen mit bestimmten biografischen Merkmalen an Burnout leiden, dann stellt dieser Fund zwar nicht in Abrede, dass es sich hierbei möglicherweise um ein gesellschaftliches Problem handelt. Aber es ist dann nicht mehr ohne Weiteres mit den aktuellen Arbeitsund Lebensverhältnissen zu identifizieren, sondern verweist dann mindestens ebenbürtig auf zurückliegende Sozialisationsbedingungen und das heißt: auf generations- oder milieuspezifische Prägungen. 2) Zum Zweiten müssen die beschriebenen sozialen Lebensverhältnisse, wie auch die damit einhergehenden Prägungen, mit einer Gesellschaftstheorie verbunden werden. Dabei wird ihr systematisches Auftreten mit einer gesellschaftstheoretischen Erklärung versehen. In anderen Worten: Das Auftreten der für Burnout typischen Sozialkonstellationen müsste so mit gesellschaftlichen Strukturbedingungen verknüpft werden, dass jene lebensweltlichen Problemlagen als Auswirkungen struktureller gesellschaftlicher Konflikte transparent werden. 3) Die Beschäftigung mit leidhaften Sozialkonstellationen hat aber durchaus auch eine normative Dimension, die schließlich auch die Grundlage einer möglichen Gesellschaftskritik bildet. Zum Dritten muss daher eine so verfahrende Gesellschaftskritik eine Rekonstruktion der impliziten normativen Ansprüche vornehmen, die letztlich infolge der systematischen gesellschaftlichen Erzeugung von konflikthaften Sozialkonstellationen verletzt werden. Diese muss nachweisen, dass in den besonderen Interessen und normativen Orientierungen der Betroffenen allgemeingültige normative Kriterien enthalten sind, die als notwendige Bedingungen für ein gutes Leben vorausgesetzt werden müssen – und dass die Menschen deswegen an ihrer Verletzung leiden.
WARUM FRANKFURTER SCHULE UND WARUM PSYCHOANALYSE? Damit sind bereits die wesentlichen Grundkoordinaten der Arbeit dargelegt. Wie eine Verbindung zwischen Leiden und Gesellschaft rekonstruiert werden kann, soll nun im Folgenden anhand der Psychoanalyserezeption der Frankfurter Schule nachvollzogen werden.24 Damit ist nicht gesagt, dass die Theorietradition das
24 Die Zuordnung »Frankfurter Schule« wird hier in einem weiten Sinne gebraucht, sodass auch Jürgen Habermas’ spätere Arbeiten und Axel Honneths Theorie darunter gefasst werden. Diese weichen zwar in zentralen Punkten von dem schulbildenden theo-
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Problem bereits gelöst habe und die Antwort lediglich geborgen werden müsse. Im Gegenteil gehört das Verhältnis von Gesellschaft zu den relevanten Leiderfahrungen der Menschen zu den umständlichen und umkämpften Anteilen der Theorietradition. Ein Anliegen der Arbeit ist es daher, genau jene Uneindeutigkeiten zu rekonstruieren und die Verengungen und Auslassungen des theoretischen Diskurses für zukünftige Arbeiten fruchtbar zu machen. Zunächst gilt es aber noch die Fragen zu klären: Warum die Frankfurter Schule? Und warum die Psychoanalyse? Warum Psychoanalyse? Der anfangs berührte Diskurs um Zeitkrankheiten und leidhafte psychische Folgen des modernen Lebens ist nun seit über 100 Jahren auch mit dem Namen Sigmund Freuds verbunden. Die von ihm begründete psychoanalytische Behandlungstechnik ermöglichte es, etwas über die psychischen Konfliktdynamiken der Neurosen zu erfahren, was für die damalige Psychiatrie unmöglich schien. Gegen diese insistierte Freud darauf, dass die psychischen Symptome einen Sinn und eine Funktion haben, die sich in der therapeutischen Behandlung rekonstruieren lassen. Ihm entging dabei nicht, dass dieser Sinn nicht nur einen eindeutigen Bezug zur Biografie der Analysand*innen hatte, sondern darüber hinaus auch wesentlich durch die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen mitbestimmt war.25 Die Neurose steht für Freud daher nicht in einem Gegensatz zur ›Normalität‹, sondern beide sind für ihn von denselben, kulturellen Grundkonflikten bestimmt.26 Das ermöglichte es, die Neurose auch als eine soziale, gar auch gesellschaftliche Krankheit zu diskutieren und das Leiden an ihr aus den Behandlungszimmern und aus den Psychiatrien in die Zeitungsredaktionen, Kaffeehäuser, Diskussionsgesellschaften, kurzum: in die Öffentlichkeit zu holen. Psychoanalyse ist seither mit einer Kultur- und Gesellschaftskritik assoziiert, die die psychischen Folgeerscheinungen und insbesondere die konflikt- und leidhaften Konsequenzen des Lebens in modernen Gesellschaften, thematisiert – auch
retischen Rahmen ab, zugleich stehen sie in anderen Punkten deutlich in seiner Tradition. 25 Vgl. etwa Freud, Sigmund: »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1906-1909, Frankfurt a. M.: Fischer 1966, S. 141-167. 26 Vgl. Freud, Sigmund: »Abriss der Psychoanalyse«, in: Gesammelte Werke. Schriften aus dem Nachlass, London: Imago 1941, S. 63-138.
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wenn der jüngste Diskurs über das Burnout-Syndrom und Depression nur am Rande von psychoanalytischen Ansätzen mitbestimmt wird. 27 Aufgrund ihres Anspruchs, im psychischen Leiden der Menschen auch gesellschaftliche und kulturelle Aspekte zu rekonstruieren, bietet sich die Rezeption der Psychoanalyse für ebenjene Gesellschaftskritik an, die weiter oben angesprochen wurde. Mit ihr scheint sich – anders als andere therapeutische Ansätze – jene Verbindung zwischen dem konkreten Leiden und einer als defizitär betrachteten Gesellschaft erhärten zu lassen. Unter diesen Rezeptionsbemühungen sticht besonders die Frankfurter Schule heraus. Zum einen stellte sie den ersten systematischen Versuch dar, Psychoanalyse in ein kritisches interdisziplinäres Forschungsprogramm zu integrieren. Zum anderen gehört sie außerdem zu den wirkmächtigsten gesellschaftstheoretischen Rezeptionslinien der Psychoanalyse. Warum Frankfurter Schule? Die Nähe zu psychoanalytischen Konzepten ist jedoch nicht der alleinige Grund, weswegen die Frankfurter Schule genauer betrachtet werden soll. Die Wahl fiel auf diese Theorietradition, da sie seit ihren Anfängen versuchte, die methodologische Komplexität der Problemstellung zu reflektieren. Die bereits beschriebene Doppelstruktur, einerseits die Gesellschaftskritik in sozialen Kontexten zu verankern, andererseits aber in einem umfassenderen theoretischen Reflexionsrahmen auszuarbeiten, versuchte in den 1930er Jahren schon Max Horkheimer mit einem interdisziplinären Forschungsprogramm einzuholen. Horkheimer begründete die Bemühungen um eine interdisziplinäre Vermittlung unter anderem mit einer Kritik an dem bloßen Nebeneinander von einzelwissenschaftlicher, kontextgebundener Forschung und abstrakter, kontexttranszendierender Theoriebildung; aufgrund der jeweiligen Einseitigkeit schaffen diese Ansätze es nicht, die soziale Wirklichkeit als Ganze zu erfassen – so lautete damals der Vorwurf von Hork-
27 Eine Ausnahme bildet hier Alain Ehrenberg, dessen Beschäftigung mit dem Formwandel psychischer Leiderfahrungen dezidiert psychoanalytische Überlegungen aufgreift, vgl. A. Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Vgl. ebenfalls Ehrenberg, Alain: Das Unbehagen in der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011. Eine kulturgeschichtliche Zusammenfassung und Systematisierung der psychoanalytischen Verarbeitung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse liefert auch Zaretsky, Eli: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse, München: DTV 2009.
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heimer.28 In dem interdisziplinären Forschungsprogramm sollte eine psychoanalytische Sozialpsychologie sicherstellen, dass der objektivistische Theorierahmen der materialistischen Theorie aufgebrochen wird und die alltäglichen Einstellungen und Bewusstseinsstrukturen der Menschen darin aufgenommen werden können. Ebenso sollten damit die normativen und revolutionären Potenziale, die in der sozialen Wirklichkeit damals noch vermutet wurden, dechiffriert werden. Das Projekt war anfangs nämlich noch von der Hoffnung getragen, dass eine kritische Sozialwissenschaft im Bunde mit fortschrittlichen sozialen Bewegungen einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen könne.29 Es scheint daher so, als ob das frühe interdisziplinäre Projekt eine Antwort auf die eingangs formulierten Fragen nach der Verbindung zwischen einzelnem Leid und einer Gesellschaftsdiagnose bereithält. Aber obwohl der interdisziplinäre Ansatz damals die Problemstellung aufgriff, scheiterte er daran, eine Antwort zu formulieren. Das lag daran, dass sich in den normativen Grundlagen der Theorie eine geschichtsphilosophische Verwirklichungsfigur erhalten hatte, die die Beschreibung der sozialen Wirklichkeit und der darin enthaltenen normativen Aspekte deutlich präjudizierte. An diesem Scheitern laboriert die Theorietradition noch heute – und in den nächsten Kapiteln sollen die Gründe, die dafür sorgten und auch noch sorgen, dass eine interdisziplinäre Erforschung sozialer Leidensphänomene im Rahmen der Theorietradition der Kritischen Theorie verhindert wurde, rekonstruiert werden. Dabei ist die Geschichte einer Theorietradition, die zunächst versuchte, sich mithilfe der Psychoanalyse aus dem objektivistischen und geschichtsphilosophischen Rahmen der materialistischen Theorie herauszubewegen, auch für Ansätze außerhalb ihres engeren sozialwissenschaftlichen und -philosophischen Umfelds interessant. Denn in der Tradition konkurrierten das Bemühen, die normativen Thesen mithilfe einer psychoanalytisch informierten Subjekttheorie und Sozialpsychologie zu konkretisieren, mit der Absicht, an den kritisch reflektierten, universalistischen Ansprüchen einer aufgeklärten Moderne festzuhalten und zugleich mit einer Theorie der Gesellschaft als Ganzer zu verbinden. Daran lassen sich Probleme ablesen, die auch für andere gesellschaftsdiagnostische Bemühungen exemplarisch sind. Zum einen führt das Bedürfnis nach einer gesellschaftstheoretischen Erklärung sozialer Leidphänomene zu einer weitgehend makrosozialen Perspektive auf eigentlich mikrosozial zu erfassende Zusammenhänge – hier 28 Vgl. Horkheimer, Max: »Bemerkungen über Wissenschaft und Krise«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1931-1936, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 40-47, hier S. 45f. 29 Vgl. Dubiel, Helmut: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 43ff.
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zeigt sich also eine Einseitigkeit auf deskriptiver und explanativer Ebene. Zum anderen führt das Bedürfnis nach einer universalistischen normativen Perspektive dazu, dass die normativen Orientierungen der Subjekte weitgehend ausgeblendet, ja mitunter sogar bewusst umgangen werden, und damit die Rückbindung der normativen Thesen an die soziale Wirklichkeit äußerst dünn geblieben ist. Diese beiden Probleme zeigen sich sogar bereits in der frühen interdisziplinären Arbeit des Instituts für Sozialforschung und trugen – neben der Erfahrung des Nationalsozialismus, der Shoa und der erzwungenen Emigration in die USA – wesentlich zum Scheitern des Projekts bei. Die Frage, die sich die Arbeit stellt, lautet daher, ob dieses Scheitern erstens ein zwangsläufiges sein musste und ob zweitens die nachfolgenden Generationen der Theoriebildung die entsprechenden Konsequenzen hieraus gezogen haben. Die Antwort, die die Arbeit geben wird, lautet: Das Scheitern des Ansatzes war in der Form schon aus theoretischen Gründen absehbar, da er die Leiderfahrungen der Menschen nicht stichhaltig beschreiben und in ihrem normativen Gehalt entschlüsseln konnte.
KERNPROBLEME IN DER ERKLÄRUNG SOZIALER LEIDERFAHRUNGEN Leiden Menschen an der verzerrten Verwirklichung normativer Potenziale in der Geschichte? Dass die Frankfurter Schule trotz des Anspruchs, die normative Struktur der Sozialpraxis aufzugreifen und daran anzuknüpfen, diese verfehlte, lässt sich in letzter Konsequenz auf die bereits erwähnte Geschichtsphilosophie zurückführen, die die Theoriekonstruktion bestimmte. Die normativen Grundlagen der Theorie werden hierbei nicht aus konkreten Handlungskontexten der Betroffenen, sondern aus einer anthropologischen Rekonstruktion der normativen Struktur menschlicher Lebensform abgeleitet. In einem weiteren Schritt werden diese anthropologischen Normkriterien historisiert. Das geschieht, indem eingeschätzt wird, inwieweit die gegebene gesellschaftliche Institutionenstruktur eine Entfaltung der Normprinzipien erlaubt und welche Hindernisse oder Defizite hier möglicherweise bestehen.30 Dadurch lässt sich psychisches Leiden als hintergründige Aus-
30 Die Konstruktion eines Spannungsverhältnisses von menschlicher Natur (Anthropologie) und ihrer gesellschaftlichen Manifestation (Geschichte) scheint ein generelles Merkmal aufklärerischer – und damit: kritischer – Geschichtsphilosophie zu sein, vgl.
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wirkung der konflikthaften Institutionalisierung der anthropologischen Interessenstruktur verstehen und unabhängig vom möglicherweise eingeschränkten Bewusstsein der Handelnden erklären. Soziale Leiderfahrungen werden so jedoch an eine normative Geschichtstheorie angeschlossen, die die kontextspezifische Eigendynamik sowohl in faktischer wie auch in normativer Hinsicht überdeckt. Die eigentliche normative Grundlage der Kritik liegt daher nicht den alltäglichen Erfahrungen des Leidens, sondern im unausgeschöpften geschichtlichen und gesellschaftlichen Möglichkeitsraum, der hinter den Leiderfahrungen vermutet wird. Aus dieser Perspektive ist es daher nicht die Aufgabe einer Gesellschaftskritik, die Leidenserfahrungen zu rekonstruieren und normativ zu entschlüsseln. Einer so verstandenen kritischen Sozialwissenschaft geht es stattdessen darum, die normativen Potentiale, wie sie sich in der gegebenen historischen Situation stellen, freizulegen und kritisch einzufordern.31 Kritik ist – in anderen Worten – notwendig, um dem geschichtlichen Prozess, in dem sich die normative Struktur der menschlichen Lebensweise gesellschaftlich niederschlägt – oder verwirklicht –, auf die Sprünge zu helfen. Das ist etwa nötig, weil die gesellschaftliche Verwirklichung der Vorbedingungen eines guten Lebens durch Machtverhältnisse oder die kapitalistische Wirtschaftsweise verzerrt und eingeschränkt sei. Auch wenn das in abstracto nicht zu bestreiten ist, kann mit der hintergründigen und deutlich hegelianisch geprägten Geschichtsauffassung kaum geklärt werden, inwieweit die rekonstruierten normativen Aspekte in konkreten sozialen Handlungskontexten, wie auch in politischen Diskursen eine motivationale Kraft entfalten – die Kritik kann also nicht klären, ob die zur Begründung herangezogenen normativen Aspekte tatsächlich sozial wirksam sind. Sie geht stattdessen von Hegels methodischer Voraussetzung aus, dass in der Geschichte irgendeine Form der Vernunft – wie ideologisch verzerrt auch immer – rekonstruierbar ist, die einerseits dafür bürgt, dass Geschichte als ein logisch strukturierter Entwicklungsprozess erfasst werden kann. Andererseits soll diese logische und gewissermaßen auch ontologische Struktur der Geschichte dann auch die normative Basis der Kritik abgeben. Auf dieser Grundlage gelingt es den verschiedenen Generatidazu Schnädelbach, Herbert: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg, München: Karl Alber 1974 S. 23f. 31 Daher lässt sich zutreffend feststellen: »Eine geschichtsphilosophisch begründete kritische Gesellschaftstheorie liegt dann vor, wenn der Maßstab der Kritik vornehmlich durch Annahmen über den Verlauf der Geschichte begründet werden.« (Lohmann, Georg: »Ernüchterte Geschichtsphilosophie. Zur Rolle der Geschichtsphilosophie in Habermas’ kritischer Gesellschaftstheorie«, in: Smail Rapic (Hg.), Habermas und der Historische Materialismus, Freiburg, München: Karl Alber 2014, S. 327-344, hier S. 328).
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onen der Frankfurter Schule jedoch nicht, eine kontextsensible Perspektive auf soziale Leidenserfahrungen zu entwickeln. Ist Psychoanalyse eine Theorie der Vergesellschaftung? Hinsichtlich der Subjekttheorie, wie auch hinsichtlich einer sozialen Handlungstheorie mangelt es der Frankfurter Schule daher an Konkretion und Kontextsensibilität. Dieser Mangel lässt sich sehr deutlich an der Psychoanalyserezeption nachvollziehen. Psychoanalyse wurde wie bereits erwähnt aufgegriffen, um gerade die Leerstellen der materialistischen Theorie hinsichtlich der Subjekttheorie zu beheben. Da aber das theoretische Rückgrat – das hegelianisch geprägte Verwirklichungsmotiv – weitgehend vom materialistischen Theorierahmen übernommen wurde, führte auch die Integration psychoanalytischer Konzepte nicht zu einer größeren Nähe zu konkreten Handlungskontexten. Stattdessen wurde Psychoanalyse dem theoretischen Rahmen untergeordnet. Sie spielte stets die Rolle einer Vergesellschaftungstheorie, mit der erklärt werden sollte, welche durchschnittlichen psychischen Folgen das Aufwachsen in einer Gesellschaft zeitigt, in der das historisch verfügbare normative Potenzial der menschlichen Lebensform nur eingeschränkt zur Verwirklichung gekommen ist. Hier wiederholen sich allerdings die erwähnten Probleme. Zum einen können mithilfe einer Vergesellschaftungstheorie lediglich allgemeine Aspekte der individuellen Entwicklung beschrieben werden. Denn eine Vergesellschaftungstheorie ist im Wesentlichen eine Theorie idealtypischer Entwicklungsverläufe. Sie eignet sich damit nicht, um ein Verständnis für subjektive Leidenserfahrungen oder unkonventionelle Formen der Auseinandersetzung mit den Lebensverhältnissen zu entwickeln. Das Leiden und das Unbehagen an der Kultur lassen sich, so die verwirklichungstheoretische Erklärung weiter, daher nur als Leiden an der unvollkommenen gesellschaftlichen Verwirklichung jener normativen Ideale erklären. Dieses Leiden ist allerdings ein abstraktes, unkörperliches Leiden an unausgeschöpften Entwicklungspotenzialen und nicht das alltäglich empfundene Leiden der Menschen. Und paradoxerweise verstärkt die Rezeption der Psychoanalyse jene makrologische Tendenz, obwohl ihre klinische Erfahrung gerade erhellen könnte, was es denn nun konkret ist, das die Menschen – salopp gesprochen – in eine Depression treibt.
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EIN WEG DURCH DIE THEORIEGESCHICHTE: ZUM VORGEHEN Die revolutionären Hoffnungen, die das Projekt ursprünglich antrieben, wurden bekanntlich durch die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in den 1930er Jahren bitter enttäuscht. Es war aber nicht allein die Erfahrung des europäischen Faschismus, die das Projekt scheitern ließ, sondern ebenso die Defizite in der Theoriebildung, die dadurch offenbart wurden. Die Erfahrung der politischen Realität zeigte, wie wenig die theoretischen und normativen Vorannahmen des interdisziplinären Projekts aufgrund ihrer geschichtsphilosophischen Struktur mit der sozialen Wirklichkeit konvergierten. Die Theorie blieb der sozialen Alltagspraxis, deren normative Potenziale sie beschreiben wollte, schlichtweg fremd. Instruktiv sind aus heutiger Sicht allerdings nicht allein die theoretischen Defizite des damaligen Ansatzes. Instruktiv ist vor allem die Konsequenz, mit der sich die Theorietradition danach einerseits systematisch der Selbstkritik ihrer normativen Grundannahmen zugewandt hat, die aber andererseits ebenso systematisch das geschichtstheoretische Verwirklichungsmotiv in seiner Grundstruktur unangetastet ließ. So bildet selbst in den theoretischen Entwürfen von Jürgen Habermas und Axel Honneth eine linkshegelianisch anmutende Fortschrittserzählung den Horizont der Theorie und präjudiziert daher weiterhin den Blick auf sozialen Pathologien und noch einmal mehr auf soziale Leidensphänomene. Die eben skizzierten Gedanken werden in den folgenden Kapiteln theoriegeschichtlich ausgearbeitet. Dabei sollen die spezifischen Lern- und Reflexionsstufen der Frankfurter Schule nachgezeichnet und die inneren Schwierigkeiten vor Augen geführt werden, die sich für eine sozialwissenschaftliche Erforschung subjektiven Leidens daraus ergeben. Ausgangspunkt für diese theoriegeschichtliche Rekonstruktion sind folgende Fragen: Wie versuchte das interdisziplinäre Forschungsprogramm unter Horkheimer Zugriff auf die vorwissenschaftlichen und alltäglichen normativen Orientierungen zu bekommen? Und wie gehen die nachfolgenden Generationen mit dem Scheitern dieses Versuchs um? In der Beantwortung dieser Fragen wird eine immanente Kritik an der Frankfurter Schule entfaltet, die darauf hinweist, dass die hier relevante Frage bisher versäumt wurde zu stellen: Welche konkreten sozialen Dynamiken sorgen dafür, dass Menschen an ihren Lebensverhältnissen leiden und welche Formen nimmt das Leiden an? Im ersten Teil wird dafür die Ausgangsszene der Psychoanalyserezeption in der Frankfurter Schule rekonstruiert. Diese spielt sich zwischen einer kulturtheoretischen Ausarbeitung psychoanalytischer Konzepte und der Theorie des historischen Materialismus ab. Nicht nur konnte sich der damalige Frankfurter Kreis auf Motive stützen, die bereits in Freuds kulturtheoretischen Arbeiten angelegt wa-
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ren. Dieser Rückgriff war außerdem durch die bereits einsetzende marxistische Rezeption der Psychoanalyse vorgeprägt. Die vom historischen Materialismus vorgegebene Forschungsperspektive und die theoretische Festlegung auf Psychoanalyse als Vergesellschaftungstheorie prägte die Theoriegeneration nachhaltig. Sie brachten aber auch systematische theoretische und methodologische Schwierigkeiten mit sich, die neben der Erfahrung der des Nationalsozialismus dazu führten, dass das interdisziplinäre Forschungsprojekt, das den Kern der frühen Psychoanalyserezeption ausmachte, spätestens ab 1936 als gescheitert gelten musste. Der zweite Teil, bestehend aus den Kapiteln 2 und 3, widmet sich den Versuchen, jenes Scheitern, das nicht nur ein Scheitern des Forschungsprogramms, sondern auch ein Scheitern der materialistischen Geschichtsphilosophie war, zu verarbeiten. Obwohl Adorno und Marcuse divergierende Konsequenzen aus der damaligen Situation zogen, waren sie sich in wesentlichen Punkten einig: Beide hielten an den Ansprüchen der linkshegelianischen und materialistischen Geschichtsphilosophie fest und beide verhandelten die methodologischen Probleme des Forschungsprojekts allein als Problemlagen der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die normativen Grundlagen der Theorie wurden daher im Bruch mit jener Wirklichkeit bestimmt. Marcuse versuchte jene mit einem metaphysischen und utopischen Entwurf zurückzugewinnen, Adorno beließ es dabei das Scheitern der Geschichtsphilosophie in der Geschichte aufzuzeigen. Allerdings hielt auch er an den normativen Ansprüchen der Geschichtsphilosophie fest, nämlich indem er negativ vor Augen führte, dass diese aus der Geschichte und Gesellschaft gewichen sind. Damit reproduzierten Adorno und Marcuse aber die Einseitigkeiten des früheren Theorierahmens. Habermas, und nach ihm auch Honneth, traten später an, eben jene Einseitigkeiten zu beheben und die normativen Prämissen der Theorie wieder in der sozialen Wirklichkeit zu verankern. Aber auch sie, wie im dritten Teil – Kapitel 4 und 5 – der Arbeit gezeigt wird, halten in wesentlichen Zügen an dem etablierten Theorierahmen fest. Sie lösten daher die hier diskutierten Probleme nicht und schwächten lediglich den kritischen Anspruch der Theorie ab. Und das, obwohl spätestens mit Honneth die Bedeutung von sozialen Leiderfahrungen für die Grundlegung einer kritischen Gesellschaftstheorie oder Sozialphilosophie erkannt wurde.
Die Anfänge: Materialistische Sozialforschung und Psychoanalyse
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Das interdisziplinäre Forschungsprojekt unter Horkheimer
Die sozialpsychologischen Studien, die in den 1930er Jahren am Institut für Sozialforschung begonnen wurden, gehörten zu den ersten Versuchen systematisch Psychoanalyse in eine kritische Gesellschaftstheorie zu integrieren. Das Ziel der interdisziplinären Sozialforschung war nichts weniger als die »Erkenntnis des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs«1 und orientierte sich dabei noch an dem durch den historischen Materialismus vorgegebenen Theorierahmen.2 Psychoanalyse hatte darin die Aufgabe zu erfüllen, die sozialpsychologischen Bedingungen jenes Verlaufs zu klären und so zur Weiterentwicklung der materialistischen Theorie beizutragen. In diesem Rahmen war sie vor allem »Hilfswissenschaft«,3 mit der die vorherrschenden Bewusstseinsstrukturen und ihr Verhältnis zu sozialen Wandlungsprozessen näher bestimmt werden sollten – etwas, dass die vorwiegend ökonomisch fundierte Geschichtstheorie des Materialismus nicht leisten konnte.4 Obwohl besonders Horkheimer eine Orientierung an sozialen Leidphänomenen erkennen ließ,5 ist mit diesen wenigen Sätzen bereits das Forschungs1
Horkheimer, Max: »Vorwort«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932c), S. I-IV, hier S. I.
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Eine gewisse Ausnahme bildet hier die Arbeit von Aurel Kolnai, in der dieser psychoanalytische Konzepte mit Durkheims Gesellschaftstheorie verbinden wollte. Vgl. Kolnai, Aurel: Psychoanalyse und Soziologie. Zur Psychologie von Masse und Gesellschaft, Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1920.
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Horkheimer, Max: »Geschichte und Psychologie«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1931-1936, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 48-69, hier S. 59.
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Vgl. ebd., S. 58.
5
Vgl. Horkheimer, Max: »Materialismus und Moral«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1931-1936, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 111-149.
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programm des frühen Instituts für Sozialforschung umrissen. Soziale Leidphänomene kommen darin nicht explizit vor; zu offensichtlich schien damals das Elend des Proletariats aufgrund von Ausbeutung und wirtschaftlicher Krisen, als dass es einer wissenschaftlichen Untersuchung bedurfte. Außerdem konnte durch eine Verbindung psychoanalytischer und marxistischer Theoriebausteine eine – auf den ersten Blick – einleuchtende Erklärung für die Entstehung sozialen Leids gegeben werden: Das Leiden der Menschen gehe auf die Unterdrückung der Triebe zurück, die von der Notwendigkeit zu ausbeuterischer und harter Arbeit erzwungen wird. Die marxistische Theorie beschrieb hierbei vor allem die materiellen Herrschaftsverhältnisse, die diese Unterdrückung erforderlich machten; die psychoanalytische Theorie zeigte die intrapsychischen Prozesse auf, in denen sich die Unterdrückung verfestigte. Dieser theoretische Nexus von Triebunterdrückung und Herrschaft prägte nicht nur die ersten interdisziplinären Projekte am Institut für Sozialforschung, sondern – und zwar vor allem mit dem Namen Wilhelm Reich assoziiert – eine lange Tradition freudomarxistischer Erklärungsansätze.6 Die Repressionsthese wurde seither allerdings vielfach als zu einseitig oder essenzialistisch kritisiert.7 Auch die Autoren der Frankfurter Schule zweifelten bald an der Triftigkeit der These, da der steigende Lebensstandard, die Verbreitung konsumistischer Lebensstile und die damit einhergehende Lockerung der Sexualmoral es nicht mehr plausibel erscheinen ließen, dass Herrschaft notwendig mit Triebunterdrückung verquickt ist. Die Perspektive auf gesellschaftliche Ursachen psychischen Leidens war in der Frankfurter Schule ohnehin weniger von der Repressionsthese geprägt; diese war eher in eine geschichtsphilosophischen Überlegung eingepasst, durch die die Rückführung von psychischer Not auf Herrschaft überhaupt erst einen theoretischen Sinn erhielt. Es ging in diesem Zusammenhang schließlich nicht um sämtliche sozialen Leidphänomene, sondern nur um solche, die gemessen am technischen Entwicklungsstand überflüssig sind. Dahinter steht die Überzeugung, dass Geschichte im Wesentlichen als ein – wenn auch konfliktreicher – Fortschrittsprozess verstanden werden kann, in dem zu6
Wie nachhaltig die Wirkung des frühen Erklärungsansatzes war, zeigte sich deutlich in den 68er Protesten, in deren Zuge die Schriften Wilhelm Reichs wieder rezipiert wurden.
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Zugleich sprechen auch die Abgrenzungsversuche und die Kritik, die unterschiedliche Autoren an der »Repressionshypothese« geäußert haben, für die Wirkmächtigkeit der theoretischen Verbindung von Herrschaft und Triebunterdrückung. Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit (= Band 1), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014, vgl. auch Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Oedipus. Capitalism and Schizophrenia, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984.
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nehmend die technischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein freies Leben ohne Unterdrückung und Not geschaffen werden. Dass dieses Potenzial nicht voll ausgeschöpft wird und ein großer Teil der Menschheit noch in eben jener anachronistischen Not lebt, wird wiederum auf ökonomisch vermittelte Herrschaftsverhältnisse zurückgeführt. Aus dieser Perspektive sind nicht die Entstehung und die soziale Dynamik von psychischen Leidenserfahrungen erklärungsbedürftig; erklärungsbedürftig sind die Entstehung und soziale Reproduktion jener defizitären Umsetzung der gesellschaftlichen Potenziale. Hier setzte das interdisziplinäre Forschungsprojekt an: Es sollten die subjektiven, psychologischen Aspekte untersucht werden, die dafür sorgen, dass sich selbst die ausgebeuteten Schichten mit einer Gesellschaft arrangieren, die systematisch einer vollen Ausschöpfung des historischen Möglichkeitsraums im Wege steht. Der theoretische Rahmen des Forschungsprojekts sowie die Psychoanalyserezeption war zwar deutlich durch die linkshegelianisch geprägte Gesellschaftsund Geschichtstheorie des Materialismus bestimmt. 8 Anknüpfen konnte diese aber auch an Motiven, die bereits Freuds Schriften – besonders seine kulturtheoretischen Arbeiten – durchziehen und die wiederum von den frühen marxistischen Psychoanalytikern theoretisch verarbeitet wurden.9 Beginnen soll das Kapitel daher mit einem knappen Exkurs zu Freuds Kulturtheorie und der marxistischen Bearbeitung derselben, bevor dann die Aneignung der so entwickelten Überlegungen im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts am Institut für Sozialforschung rekonstruiert wird.
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Für eine erhellende Beschreibung der damaligen und auch für die frühe Frankfurter Schule prägenden intellektuellen Stimmung am Beispiel von Georg Lukács: vgl. Kondylis, Panajotis: »Die Hegelauffassung von Lukács und der marxistische Linkshegelianismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 341-350, vgl. auch allgemeiner Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München: DTV 2008, Kapitel 1.
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Vgl. Dahmer, Helmut: »Psychoanalyse und historischer Materialismus«, in: Helmut Dahmer (Hg.), Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 75-107.
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1.1 VORÜBERLEGUNGEN: KULTURENTWICKLUNG BEI FREUD UND DEN LINKSFREUDIANERN Schon Freud bestimmte das Hauptproblem der Kulturentwicklung als die gleichzeitige Aneignung von innerer und äußerer Natur; ein dilemmatischer Prozess, bei dem die Erlangung von Befriedigung in der Außenwelt es notwendig macht, auf einen Gutteil der Bedürfnisbefriedigung selbst zu verzichten. Das Verhältnis der Menschen zu sich selbst und zur Welt entwirft Freud in Übereinstimmung mit dem Materialismus demnach als ein Werkverhältnis: als Arbeit. Arbeit ist unmittelbar unlustvoll, aber mittelbar soll sie die Güter und Bedingungen hervorbringen, die eine gewisse Befriedigung – und damit Lust – gewähren. Freuds Theorie der psychischen Entwicklung beschreibt nun zwei wesentliche Etappen, die die psychischen Vorbedingungen für kulturell nützliche Arbeit schaffen: die Hinwendung zur äußeren Wirklichkeit und die Verinnerlichung der Kulturforderungen. Ersteres kann auch als der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip verstanden werden, den jedes Kind in den frühen Jahren seines Lebens vollziehen muss; dabei lernt es, auf unmittelbare, aber oftmals halluzinatorische Befriedigung zu verzichten und stattdessen eine beschränkte, aber reale in der Außenwelt anzustreben.10 Die zweite Etappe ist in der psychoanalytischen Theorie hingegen mit dem Ödipuskomplex assoziiert und umfasst auch die im engeren Sinne kulturspezifischen Aspekte des Weltverhältnisses. Im Ödipuskomplex befindet sich das (männliche) Kind in einem von Rivalität und Zuneigung geprägten Konflikt mit den Eltern, der mit dem Eintritt des Vaters in die Mutter-Kind-Beziehung ausbricht. Dieser Konflikt wird schließlich mit der Identifikation mit dem Vater und der Verinnerlichung der paternalen Ge- und Verbote aufgelöst. Während die Akzeptanz des Realitätsprinzips eher den Status einer formalen und universellen Notwendigkeit besitzt, ist es besonders die Verinnerlichung der Kulturanforderungen im Ödipus-Komplex, die für die Aufrechterhaltung und Reproduktion der spezifischen Gesellschaft notwendig ist. Beide tragen aber gleichermaßen das Mal des Verzichts: Das Realitätsprinzip zwingt zum Verzicht auf unmittelbare und volle Befriedigung, die Verinnerlichung der patriarchalen Autorität hingegen lenkt jene Befriedigung in die kulturell akzeptierten Bahnen. Diese Skizze ist zugegebenermaßen äußerst knapp und vereinfachend, mit ihr soll daher lediglich ein Punkt hervorgehoben werden: Für Freud führt der Weg des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen notwendig über die Versagung.
10 Vgl. Freud, Sigmund: »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 19091913, London: Imago 1943, S. 229-238.
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Der Gedanken, dass Kultur auf Triebverzicht basiert, wird im Rahmen der kulturtheoretischen Arbeiten Freuds von der Onto- auf die Phylogenese übertragen. Gattungsgeschichtliche Motive ersetzen in Freuds Arbeiten gewissermaßen eine Gesellschaftstheorie,11 zugleich können sie aber auch als eine rudimentäre – und letztlich pessimistische – Geschichtsphilosophie gelesen werden. So ist für Freud etwa die Dynamik des Ödipuskomplexes nicht nur für die individuelle Psyche strukturbildend, sie bilde auch den Ursprung der Zivilisation, den Freud mit einem Mord zusammenfallen lässt.12 In dieser Urszene herrscht eine übermächtige Vaterfigur über eine patriarchal organisierte Urhorde, bis er von den unterdrückten und sexuell frustrierten Söhnen gemeinsam umgebracht wird. Doch bringt der Mord den Söhnen nicht die ersehnte Freiheit, da sie bald von quälenden Reuegefühlen heimgesucht werden. Vor diesen finden sie erst Ruhe, als sie sich entschließen, den Mord symbolisch zu widerrufen: Im Totem richten sie die Vaterfigur wieder auf, mit ihm werden zugleich die väterlichen Verbote – vor allem das Inzesttabu – in Form moralischer Vorschriften wiedereingesetzt. Am Anfang der menschlichen Geschichte steht für Freud somit die mörderische Verinnerlichung der kulturellen Triebunterdrückung. Mit der Internalisierung der moralischen Vorschriften sind nun einerseits die subjektiven Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich dauerhafte soziale Verbände bilden können. Andererseits bereitet die Institutionalisierung des Triebverzichts auch die Grundlage der kulturellen Arbeit, die für Freud schließlich auf der Sublimierung der unterdrückten Triebenergie beruht. Auch wenn in der Moderne die Kulturvorschriften immer rationaler begründet werden können,13 beruhen sie weiterhin auf der Restringierung der inneren Natur. Freuds Kulturtheorie fußt so auf der starken These, dass sich in der Vergesellschaftung des Individuums der Vergesellschaftungsprozess der Gattung zum Teil wiederholt. Das Leiden der Menschen geht also schon für Freud auf die konfliktreiche Entfaltung einer Conditio Humana in der Geschichte zurück. Und, wie er in seiner späten Schrift Das Unbehagen in der Kultur ausführt, lässt sich dieser Prozess als eine Zunahme des Zwangs zur Triebunterdrückung verstehen.14 11 Vgl. Emmerich, Marcus: Jenseits von Individuum und Gesellschaft. Zur Problematik einer psychoanalytischen Theorie der Sozialität, Gießen: Psychosozial 2007. 12 Vgl. Freud, Sigmund: »Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Totem und Tabu, Frankfurt a. M.: Fischer 1961. 13 Vgl. Freud, Sigmund: »Die Zukunft einer Illusion«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1925-1931, London: Imago 1948, S. 323-380. 14 Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unbehagen in der Kultur«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1925-1931, London: Imago 1948, S. 419-506.
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Zwar widersprachen die frühen marxistischen Psychoanalytiker15 dieser Auffassung in wesentlichen Punkten, aber sie lehnten sie nicht vollständig ab. Getragen von der Überlegung, dass Psychoanalyse »zum Gegenstand der kritischen Prüfung gemacht und in den Marxismus so weit eingebaut werden [solle], als er ihrer zum Aufbau einer geschlossenen sozialistischen Weltanschauung bedarf,«16 reformulierten sie Freuds Kulturtheorie lediglich in einem marxistischen Theorierahmen. Gegen Freud wurde entsprechend eingewandt, dass die in der Moderne zunehmende Triebunterdrückung keine Kulturnotwendigkeit sei, sondern aus der ausbeuterischen Klassengesellschaft resultiere. So verstanden ist das Unbehagen der Menschen keines an der Kultur schlechthin; es ist ein Unbehagen an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.17 Die »kritische Prüfung«, von der Bernfeld sprach, orientierte sich damit weniger an den innovativen Aspekten der Gesprächstherapie und versuchte stattdessen den politischen Quietismus, der mit 15 Zu den Protagonisten der marxistischen Psychoanalyserezeption zählen Sigfried Bernfeld, Wilhelm Reich, Otto Fenichel und Erich Fromm. Die marxistisch orientierten Psychoanalytiker waren von der österreichischen Jugendbewegung beeinflusst, in der insbesondere Fenichel und Bernfeld eine bedeutende Rolle spielten. Reich lernte diese über ein sexualpolitisches Seminar kennen – ein Thema, das auch in der Jugendbewegung rege diskutiert wurde. Fenichel und Bernfeld entwickelten so, bevor sie sich mit Psychoanalyse auseinandersetzten, schon ein politisches Bewusstsein, das ihre Interpretation der analytischen Arbeit merklich prägte. Reich hingegen äußerte sich erst später offen politisch, trat dann aber in die kommunistische Partei ein und beschäftigte sich eine Zeit lang intensiv mit Arbeiter- und Sexualpolitik. Fenichel und Bernfeld interessierten sich auch später noch für Jugendkultur und Pädagogik; in dem von Fenichel 1930 in Berlin gegründeten »Kinderseminar« befand sich auch Erich Fromm, der später in der sozialpsychologischen Abteilung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung tätig war. Vgl. Fallend, Karl: »Otto Fenichel und Wilhelm Reich. Wege einer politischen und wissenschaftlichen Freundschaft zweier ›Linksfreudianer‹«, in: Karl Fallend/Bernd Nitzschke (Hg.), Der ›Fall‹ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 13-67. 16 Bernfeld, Siegfried: »Die Psychologie in der Arbeiterbewegung«, in: Lutz v. Werder/Reinhart Wolff (Hg.), Ausgewählte Schriften. Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, Darmstadt: März 1969, S. 497-506, hier S. 506. 17 Vgl. Fenichel, Otto: »Über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektischmaterialistischen Psychologie«, in: Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie 1 (1934), S. 43-62, hier S. 58f; vgl. Bernfeld, Siegfried: »Der soziale Ort und seine Bedeutung für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik«, in: Ulrich Herrmann (Hg.), Sämtliche Werke, Weinheim, Basel: Bertz 1996, S. 255-272; vgl. K. Fallend: »Otto Fenichel und Wilhelm Reich«, S. 35.
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Freuds pessimistischen Behauptung der Notwendigkeit des Triebverzichts assoziiert wurde, zu überwinden. Die Einfügung der Psychoanalyse in ein sozialistisches Weltbild bedeutete aber auch, dass neben der Ablehnung der als konservativ empfundenen Elemente die Nähe psychoanalytischer Konzepte und Methoden zum Materialismus hervorgehoben wurde: So sei auch die Psychoanalyse eine materialistische Theorie;18 es wurde die geschichtliche Methode19 sowie die ideologiekritische Erklärungsweise betont, da Psychoanalyse hinter den manifesten Bewusstseinsäußerungen verborgene Determinanten vermutete. 20 Die Annahme, dass Geschichte als ein Entfaltungsprozess humaner Anlagen zu verstehen sei, wurde dabei weitgehend beibehalten und als Erklärung für gesellschaftliches Leiden angeboten. Es fand lediglich eine Verschiebung innerhalb der Struktur der Erklärung statt. Stellte Freud die Entstehung gesellschaftlicher Institutionen noch mit psychologischen Konzepten dar, drehte sich das Muster der Erklärung gleichsam um: Die Entstehung der psychischen Struktur wird in linksfreudianischen Ansätzen über die Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Institutionen erklärt. Damit eröffnete sich ein größerer Spielraum, um gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und deren Spuren im individuellen Bewusstsein zu thematisieren. Psychisches Leiden und innere Konflikte wurden nun, analog zur Geschichte der Menschheit, als Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche und nicht mehr als konsequente Folge der widersprüchlichen Natur des Menschen verstanden. Abgesehen davon, dass die forcierte Verschaltung psychoanalytischer und marxistischer Konzepte zum Teil wesentliche begriffliche Differenzen ignorierte, setzte sie psychische Leidzustände recht unmittelbar mit kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen gleich, ohne dass das Verhältnis selbst als ein Gegenstand 18 Vgl. Reich, Wilhelm: Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse, Kopenhagen: Verlag für Sexualpolitik 1934; vgl. O. Fenichel: »Über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektisch-materialistischen Psychologie«, S. 50f; vgl. Fromm, Erich: »Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932b), S. 253-277. 19 Vgl. O. Fenichel: »Über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektischmaterialistischen Psychologie«, S. 54; vgl. Bernfeld, Siegfried: »Sozialismus und Psychoanalyse«, in: Lutz v. Werder/Reinhart Wolff (Hg.), Ausgewählte Schriften. Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, Darmstadt: März 1969, S. 483-496, hier S. 492. 20 Vgl. O. Fenichel: »Über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektischmaterialistischen Psychologie«, S. 52f. Später bezeichnete Ricoeur Marx und Freud zusammen mit Nietzsche dementsprechend als Hermeneutiker des Verdachts, vgl. Ricoeur, Paul: »Das Bewußte und das Unbewußte«, in: Daniel Creutz/Hans-Helmuth Gander (Hg.), Der Konflikt der Interpretationen. Ausgewählte Aufsätze 1960-1969, Freiburg: Alber 2010, S. 135-161, hier S. 135.
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der Forschungsarbeit wahrgenommen wurde. Welche normativen Voraussetzungen in Leiderfahrungen verletzt werden, ist daher schon durch die materialistische Geschichtstheorie vorgezeichnet: Leiden gehe auf die technisch unnötige, aber durch Herrschaft erzwungene Repression zurück, die für ausbeuterische und entfremdete Arbeit notwendig ist. Begleitet wird die geschichtsphilosophische Normgrundlage durch eine objektivistische Interpretation des Materialismus, die gesellschaftliche und soziale Phänomene allein mit den Produktionsverhältnissen erklärt. »Für die Gesellschaft gilt«, so schreibt Fromm etwa, »daß die Ökonomie ihr Schicksal ist.«21 Und da die psychische Struktur sich in Abhängigkeit von ebenjener Gesellschaft entwickle, teile sie letztlich auch deren Schicksal – sie ist determiniert. »Eine materialistische Psychologie anerkennt«, so fasst Fenichel die Forschungsperspektive zusammen, »die Existenz des Psychischen als eines eigenen Bereiches der Natur und bemüht sich, die speziellen Formen, in denen dieses Psychische auftritt, aus der materiellen Wirklichkeit, in der der Träger dieses Psychischen steht […] zu erklären«.22
1.2 EINE MATERIALISTISCHE THEORIE DES GESAMTGESELLSCHAFTLICHEN VERLAUFS Noch bevor im Institut für Sozialforschung systematisch Versuche eines interdisziplinären Projekts durchgeführt wurden, standen die groben Koordinaten der Psychoanalyserezeption fest: Sie sollte im Wesentlichen die psychologischen Bedingungen eines unter partikularen Herrschaftsverhältnissen stattfindenden Vergesellschaftungsprozesses beschreiben und die psychische Anpassung an jene Herrschaft erklären. Während Bernfeld, Fenichel und vor allem Reich die so entwickelten Gedanken Anfang der 1930er Jahre unabhängig vom Institut für Sozialforschung weiter ausarbeiteten, wurde die Idee einer psychoanalytischen und materialistischen Sozialpsychologie in der Person Erich Fromms Teil des inter-
21 Fromm, Erich: »Politik und Psychoanalyse«, in: Rainer Funk (Hg.), Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 15-22, hier S. 16. 22 O. Fenichel: »Über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektischmaterialistischen Psychologie«, S. 45; vgl. dazu auch Fromm, Erich: »Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie«, in: Rainer Funk (Hg.), Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 23-35, hier S. 23.
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disziplinären Forschungsprojekts am Institut für Sozialforschung.23 Die von Fromm begonnenen sozialpsychologischen Arbeiten zum autoritären Charakter ordneten sich in das übergeordnete Forschungsprogramm des Instituts ein, in dem die Bewusstseinsformen, die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschten, hinsichtlich progressiver und regressiver Potenziale erforscht werden sollten. Der Forschungsrahmen war damit denkbar groß angelegt: »Zu den allgemeineren theoretischen Abhandlungen über philosophische, psychologische, ökonomische, soziologische Probleme«, so kündigt Horkheimer im Jahr 1932 in der Zeitschrift für Sozialforschung an, »treten Einzeluntersuchungen über konkrete Fragen der gegenwärtigen Gesellschaft und Wirtschaft.«24 Das interdisziplinäre Projekt umfasste daher auch so verschiedene Bereiche wie Staats- und Wirtschaftstheorie sowie eine Kulturtheorie, die sich vor allem auf Literatur und Musik konzentrierte. Zusammengehalten werden sollten die vielfältigen einzelwissenschaftlichen Untersuchungen durch eine materialistische Metatheorie, die ihre Ergebnisse nach Vorbild der dialektischen Methode in einem allgemeineren, sozial- und geschichtsphilosophischen Horizont ›aufhebt‹. Horkheimer versuchte mit diesem Modell auf die Diagnose zu reagieren, der zufolge sich im zwanzigsten Jahrhundert zunehmend ein unvermitteltes Nebeneinander von einzelwissenschaftlicher Forschung und philosophischer Spekulation herausgebildet habe. 25 Das interdisziplinäre Sozialforschungsprojekt war daher ein Versuch, konkrete Untersuchungen und allgemeine Theorien in einem wissenschaftstheoretisch und methodologisch reflektierten Forschungsprogramm zu verbinden und so zur »Erkenntnis des gesamtgesellschaftlichen Verlaufs«26 beizutragen. Das Forschungsprojekt war zum einen also eine Antwort auf das Problem der arbeitsteiligen Zersplitterung wissenschaftlicher Erkenntnis. Zum anderen ist es aber auch als Antwort auf Probleme der marxistischen Theorie und Bewegung zu verstehen, die sich in der 23 Zur Rolle Fromms vgl. auch Bonß, Wolfgang: »Analytische Sozialpsychologie. Anmerkungen zu einem theoretischen Konzept und seiner empirischen Praxis«, in: Michael Kessler/Rainer Funk (Hg.), Erich Fromm und die Frankfurter Schule, Tübingen: Francke 1992, S. 23-39, hier S. 27f. 24 M. Horkheimer: »Vorwort«, S. II. 25 Vgl. M. Horkheimer: »Bemerkungen über Wissenschaft und Krise«. Die Doppelkritik an Positivismus sowie Ontologie, die später immer wieder von Horkheimer und Adorno wiederholt wird, hat hier ihre Wurzeln. Vgl. dazu auch Horkheimer, Max: »Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1931-1936, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 163-220; vgl. ebenfalls H. Dubiel: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S. 152ff. 26 M. Horkheimer: »Vorwort«, hier S. I.
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Zeit der 1920er Jahre stellten. Hervorgegangen aus einer gescheiterten Revolution, wurde die Weimarer Republik wiederholt von politischen und wirtschaftlichen Krisen heimgesucht, ohne dass sich daraus eine flächendeckende proletarische Bewegung entwickelte. Dieser Umstand wurde, so Horkheimers Einschätzung, nicht nur ungenügend von den politischen Akteuren reflektiert.27 Die politische Situation nach dem ersten Weltkrieg ließ außerdem eine Geschichtstheorie, die sich ausschließlich auf Widersprüche in der materiellen Gesellschaftsstruktur konzentrierte, unplausibel erscheinen; das rückte die Frage nach dem Einfluss von Bewusstseinsstrukturen auf gesellschaftlichen Wandel in den Vordergrund.28 Die Untersuchungen über die bürgerliche Kultur, aber vor allem die psychoanalytische Sozialpsychologie sollte hierauf eine Antwort geben. Horkheimer sah, wenn man so will, den Ausweg aus der Krise des Marxismus in der Erforschung des Vermittlungsverhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Obwohl dieses Modell der interdisziplinären Zusammenarbeit ungleich komplexer angelegt ist als das linksfreudianische, lassen sich an ihm ähnliche Limitierungen nachvollziehen. Da die materialistische Geschichtsphilosophie29 dominant blieb, schien das zu erforschende Bewusstsein weiterhin durch das materielle Sein determiniert zu sein: »Das Bewusstsein der eigenen Bedingtheit, die das materialistische Denken kennzeichnet, ist beim gegenwärtigen Stand der Theorie identisch mit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedingtheit der Individuen. […] Vielmehr [entgegen der idealistischen Philosophie Hegels, F.S.] hängt nach dem Materialismus das Individuum mit allen seinen Kategorien von der gesellschaftlichen Entwicklung ab; diese wird in der ökonomischen Geschichtstheorie dargelegt. Subjekt und Objekt fallen hier niemals ganz zusammen, sie befinden sich vielmehr je nach der Rolle, welche die Theorie in der Gesellschaft spielt, je nach dem Grad 27 Vgl. etwa Horkheimer, Max: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung, Notizen in Deutschland, Frankfurt a. M.: Fischer 1974. 28 Vgl. H. Dubiel: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S. 40f. 29 Obwohl Horkheimer die Vorstellung der materialistischen Theorie stets mit Verweis auf die späten Arbeiten von Marx erklärt, und unzweifelhaft ist, dass er damit vor allem eine Gesellschafts- und Geschichtstheorie meint, in deren Zentrum ökonomische Prozesse und Widersprüche stehen, bleibt Horkheimer in den verschiedenen Aufsätzen dennoch recht vage. Für eine Rekonstruktion des Geschichtsverständnisses von Horkheimer und der frühen Forschungsarbeit am Institut für Sozialforschung vgl. Schmidt, Alfred: Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie, München, Wien: Hanser 1976, vgl. auch Wegerich, Ulrich: Dialektische Theorie und historische Erfahrung. Zur Geschichtsphilosophie in der frühen kritischen Theorie Max Horkheimers, Würzburg: Königshausen und Neumann 1994.
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der Herrschaft der Menschen über sich und die aussermenschliche Natur in einer variablen Spannung.«30
Zwar ging es hier darum, die Theorie stärker an die soziale Wirklichkeit anzubinden und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft – die »Spannung«, von der Horkheimer spricht – genauer zu bestimmen. Aber die sozialpsychologische Forschung blieb der materialistischen Theorie größtenteils untergeordnet; ihr kam hierin die Aufgabe zu, einzelne Aspekte des theoretisch entworfenen Vorverständnisses empirisch zu konkretisieren und möglicherweise Anregungen zur Weiterentwicklung des theoretischen Rahmens zu liefern.31 Der mit der materialistischen Gesellschaftstheorie assoziierte objektivistische und makroskopische Fokus auf soziale Phänomene spiegelt sich dementsprechend auch in der Forschungsfrage, die Horkheimer für das Projekt umreißt: »welche Zusammenhänge lassen sich bei einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, in einer bestimmten Zeitspanne, in bestimmten Ländern nachweisen zwischen der Rolle dieser Gruppe im Wirtschaftsprozeß, der Veränderung in der psychischen Struktur ihrer einzelnen Mitglieder und den auf sie als Gesamtheit im Ganzen der Gesellschaft wirkenden und von ihr hervorgebrachten Gedanken und Einrichtungen.«32
Horkheimer deutete hier bereits die Arbeiter- und Angestellten-Erhebung an, die in den nächsten Jahren durchgeführt werden sollte.33 Auch ist in Umrissen zu erkennen, was später die Studien über Autorität und Familie werden sollte. An der Formulierung lässt sich außerdem die zentrale Rolle ablesen, die der Sozialpsychologie in dem umfassenden Forschungsprogramm zukam. Dennoch hatte die Psychologie beziehungsweise die Psychoanalyse lediglich den Status einer »Hilfswissenschaft der Geschichte«34 inne. Damit ist nicht nur die Aufgabe und 30 M. Horkheimer: »Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie«, S. 196. 31 Zur Strategie der Forschung sowie zum Verhältnis der materialistischen Theorie zur Psychologie vglH. Dubiel: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S. 170ff. 32 Horkheimer, Max: »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgabe eines Instituts für Sozialforschung«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1931-1936, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 20-35, S. 33. 33 Die Untersuchung wurde erst in den 1980er Jahren in Deutschland veröffentlicht, vgl. Fromm, Erich: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, München: DTV 1983. 34 M. Horkheimer: »Geschichte und Psychologie«, S. 59f.
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Forschungsfrage der sozialpsychologischen Untersuchungen vorgegeben, auch die Rolle und Deutung der zu erwartenden Ergebnisse ist daher bereits vorgezeichnet. Es geht um die psychischen Strukturen, die funktional an die gesellschaftliche Wirklichkeit angepasst sind: »Sie [die Psychologie, F.S.] wird vor allem zu untersuchen haben, inwiefern die Funktion des Individuums im Produktionsprozeß durch sein Schicksal in einer bestimmt gearteten Familie, durch die Wirkung der gesellschaftlichen Bildungsmächte an dieser Stelle des gesellschaftlichen Raums, aber auch durch die Art und Weise seiner eigenen Arbeit in der Wirtschaft für die Ausgestaltung seiner Charakter- und Bewußtseinsformen bestimmend ist. Es wäre zu erforschen, wie die psychischen Mechanismen zustandekommen, durch die es möglich ist, daß Spannungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, die auf Grund der ökonomischen Lage zu Konflikten drängen, latent bleiben können.«35
Es ist kein Zufall, dass Horkheimer dabei lediglich von latenten Spannungen spricht. Zwar lag das übergeordnete Forschungsanliegen auch darin, nachzuvollziehen, ab wann sich jene Spannungen zu einem revolutionären Bewusstsein wandeln und in sozialen Kämpfen entladen. Aber der von der materialistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorie formulierte Primat des Ganzen gegenüber dem Besonderen ließ es lediglich zu, soziale Phänomene als Erscheinungsformen von Anpassung zu beschreiben. Da das Forschungsprojekt in anderen Worten versuchte, Psychisches allein mit Gesellschaftlichem zu erklären, war es darauf festgelegt, die psychische Struktur auch lediglich als durch die Gesellschaft determiniert zu beschreiben. Die materialistische Theorie präjudizierte aber nicht nur die Beschreibung und Erklärung der Bewusstseinsstrukturen. Ihre Geschichtsphilosophie blieb zudem auch für die normative Einschätzung der sozialen und gesellschaftlichen Phänomene bestimmend.36 Auch wenn die sozialpsychologischen Untersuchungen davor schützten, etwa das Proletariat als alleinigen Träger des Fortschritts zu überhöhen, bezieht sich die Gesellschaftskritik weiterhin auf ein vermeintlich objektives Interesse, das den Gesellschaftsmitgliedern, und darunter besonders dem Proletariat, unterstellt wurde. Die normativen Postulate, so schreibt Horkheimer, »bestimmen sich im Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Allgemeinheit und werden gemessen an dem, was mit den vorhandenen menschlichen Kräften in 35 Ebd., S. 60. 36 Vgl. auch Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns 2. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft (= Band 2), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014b, S. 559f; Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 142f.
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sichtbarer Zukunft möglich ist«.37 Das objektive Interesse an einer gerechteren Gesellschaft konnte sich hier also noch an einer konkreten und greifbaren Utopie orientieren – und das war eine Gesellschaft, in der Not aufgrund des technischen und produktiven Fortschritts keine Naturnotwendigkeit mehr sein musste. 38 Die ersten Jahre des Forschungsprojekts waren so noch von der Hoffnung getragen, das auf eine bessere Gesellschaft drängende Potenzial durch wissenschaftliche Untersuchungen freizulegen.39 Die immanente Kritik setzte an den objektiven, historischen Möglichkeiten an – und nicht an der normativen Dimension von Leidenszuständen –, und zeigte auf, dass diese lediglich in deformierter Form verwirklicht wurden. Das Leiden der Menschen spielt in der Konstruktion der normativen Grundlagen, wie auch in der sozialpsychologischen Erklärung ledig37 Horkheimer, Max: »Materialismus und Metaphysik«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1931-1936, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 70-105, S. 105. 38 Horkheimer ist hier noch nah am von Ernst Bloch entwickelten Begriff der »konkreten Utopie«, demzufolge sich das utopische Ideal aus den konkreten, aktuell gesellschaftlich verfügbaren Möglichkeiten ergibt (vgl. Zudeick, Peter: »Utopie«, in: Beat Dietschy (Hg.), Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, Berlin: De Gruyter 2012, S. 633-663, hier S. 653). Als sich am Institut für Sozialforschung die Einsicht durchsetzte, dass das progressive Potenzial innerhalb der Gesellschaft kaum mehr im Proletariat oder in dessen Organisationen zu finden sei, wurde sich auch zunehmend vom Konzept der konkreten Utopie entfernt. Daher traten die geschichtsphilosophischen Aspekte der normativen Grundlage stärker in den Vordergrund. Darauf bezieht sich auch der Begriff der »Kritischen Theorie«: Da eine konkrete Praxis nicht mehr ohne Weiteres verfügbar schien, reorientierte sich das Institut für Sozialforschung auf die vorwiegend theoretische – und nicht mehr empirische – Untersuchung der progressiven und damit vernünftigen Potenziale moderner Gesellschaften (vgl. Horkheimer, Max: »Traditionelle und kritische Theorie«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1936-1941, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 162225, hier S. 186f). Auch diese Idee wurde alsbald durch einen tiefen Pessimismus abgelöst, der selbst verhaltenen geschichtsphilosophisch begründeten Hoffnungen abschwor (vgl. Habermas, Jürgen: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1992, Leipzig: Reclam 1990, S. 32-54). 39 Die Rolle der Psychoanalyse umreißt Fromm daher anfangs noch ideologiekritisch: »Indem die Psychoanalyse als Theorie geeignet ist, gewisse gesellschaftlich relevante Illusionen genetisch zu erklären und zu zerstören, kann sie in gewissen gesellschaftlichen Situationen auch eine politische Funktion bekommen« (E. Fromm: »Politik und Psychoanalyse«, S. 22).
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lich eine marginale Rolle – nicht die Ursachen des Leidens sollten geklärt werden, sondern der Umstand, dass trotz des offenkundigen Elends der Erfolg sozialrevolutionärer Bewegungen so brüchig war.
1.3 DER AUTORITÄRE CHARAKTER Diese geschichtstheoretische Normativitätskonzeption hielt sich jedoch in der ersten Zeit des interdisziplinären Projekts noch weitgehend im Hintergrund, da es Horkheimer und seinen Kollegen trotz der Bedenken letztlich noch als unzweifelhaft galt, dass in der damaligen Situation einerseits die Idee einer gerechteren Gesellschaftsordnung greifbar war und damit andererseits auch gesellschaftliche Gruppen existierten, die für eine entsprechende Kritik ansprechbar waren. Die normative Basis der Theorie musste daher nicht eigens rekonstruiert werden, sondern die Untersuchungen sollten lediglich klären, welche psychologischen Hindernisse progressiver Veränderung im Wege stehen. Eine Erschütterung erfuhr dieses Verständnis durch die ersten sozialpsychologischen Untersuchungen Fromms, die eine stärkere Verstrickung der Menschen mit den Herrschaftsverhältnissen feststellten, als zunächst vermutet wurde. Bereits die vorläufigen Ergebnisse der Arbeiter- und Angestelltenerhebung zeigten, dass nur ein kleiner Teil der Befragten aus dem linken Spektrum tatsächlich eine gefestigte revolutionäre Orientierung besaß, dagegen aber ein Viertel der SPD- und KPDWähler*innen autoritäre Persönlichkeitszüge aufwiesen.40 Die Funde schienen zu erklären, weswegen die NSDAP angesichts der guten Wahlergebnisse, die die linken Parteien in den späten Jahren der Weimarer Republik einfuhren, verhältnismäßig widerstandslos die Macht übernehmen konnte. Obwohl die Ergebnisse in der Deutlichkeit nicht erwartet wurden, werden sie in gewisser Hinsicht bereits durch die theoretische Konstruktion nahegelegt, die aufgrund des objektivistischen Erklärungsrahmens individuelle Persönlichkeitsbildung lediglich als Anpassung an die sozioökonomische Position konzeptualisieren konnte. Unangepasstheit musste unter den Voraussetzungen eine theoretische Anomalie bleiben. Fromm drückt den Zusammenhang von gefühls- und charaktermäßigen Prägungen und der objektiven Lebenssituation ähnlich wie Horkheimer, aber mit einschlägigem psychoanalytischem Vokabular folgendermaßen aus: »Die sozialpsychologischen Erscheinungen sind aufzufassen als Prozesse der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an die sozial-ökonomische Situation. Der Triebap-
40 Vgl. E. Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches, S. 251.
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parat selbst ist – in gewissen Grundlagen – biologisch gegeben, aber weitgehend modifizierbar; den ökonomischen Bedingungen kommt die Rolle als primär formenden Faktoren zu. Die Familie ist das wesentlichste Medium, durch das die ökonomische Situation ihren formenden Einfluß auf die Psyche des einzelnen ausübt. Die Sozialpsychologie hat die gemeinsamen – sozial relevanten – seelischen Haltungen und Ideologien – und insbesondere deren unbewußte Wurzeln – aus der Einwirkung der ökonomischen Bedingungen auf die libidinösen Strebungen zu klären.«41
Die Ergebnisse der empirischen Arbeiten sind daher im Wesentlichen eine Explikation dieser These. Denn, da die Ebene sozialer Interaktion auf einen Vergesellschaftungsprozess reduziert wurde, der sich in Abhängigkeit von den makrogesellschaftlichen Wirtschaftsverhältnissen vollzieht, wurde es versäumt, Untersuchungsmethoden zu entwickeln, mit denen unangepasstes und nonkonformes Verhalten erfasst werden konnte. Menschen kommen so nicht als handelnde, sondern lediglich als passiv erleidende in den Blick der sozialpsychologischen Forschung. Daher konnten die Untersuchungen paradoxerweise auch jene Leidenserfahrungen und alltäglichen normativen Intentionen der Menschen nicht erfassen, auf die eine kritische Gesellschaftstheorie, die nach der Möglichkeit progressiver Veränderung fragt, notwendig rekurrieren muss. Das Charakterkonzept: Psychosexuelle oder ich-psychologische Erklärung? Trotz einiger Formulierungen wie der, dass die ökonomischen Bedingungen – als »primär formende Faktoren« – sich direkt im Charakter niederschlagen, wird in den Studien über Autorität und Familie eine Zwischenebene eingezogen – nämlich die familiäre Sozialisation. Dies ist der Ort, an dem psychoanalytische Erklärungsansätze beginnen in der Theorie eine Rolle zu spielen; mit ihnen wird der unter kontingenten historischen und sozioökonomischen Bedingungen ablaufende Vergesellschaftungsprozess genauer beleuchtet. Aber auch wenn sich in der Sozialisation prinzipiell kulturelle Spielräume im Umgang mit der materiellen und sozialen Lebenslage eröffnen, lässt Fromm keinen Zweifel daran, dass die erzieherischen Werte, welche Gestalt sie konkret auch annehmen, funktional an die Gesellschaft angepasst sind: »die Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft.«42 Fromm verbindet hier zwei Stränge der theoretischen Erklärung. Zum einen findet sich hier die Vorstellung, dass die familiäre Erziehung die Ein-
41 E. Fromm: »Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie«, S. 31. 42 Ebd., S. 27.
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gliederung in das System gesellschaftlicher Arbeitsteilung, darüber hinaus aber auch in die Klassenverhältnisse vorbereite. Das wird hier zum anderen mit der psychoanalytischen Theorie zur moralischen Entwicklung verbunden, die die Entwicklung von Identität und moralischem Bewusstsein mit den unbewussten Quellen der Persönlichkeit zusammenschließt. Das Konzept übersetzte die allgemeine Forschungsfrage des Projekts nach der Passung von Individuum und Gesellschaft in die psychologische Frage nach der frühkindlichen Prägung. Die schichtspezifische Prägung findet nach dieser Vorstellung schon in der frühesten Erziehung statt – bereits da entscheide sich also, ob ein Mensch eine an die bürgerliche oder proletarische Klassenlage angepasste Charakterstruktur ausbildet. Jede Schicht, so nimmt Fromm folglich an, habe einen für sie typischen »Gesellschaftscharakter«,43 der sich aus ihrer Funktion innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen ergibt. An dieser Stelle lassen sich bereits einige Probleme des Ansatzes hervorheben. Zunächst legt dieses Konzept die Vorstellung nahe, dass die Differenzierung sozialer Schichten sowie die soziale Integration von Individuen vor allem funktionalen Kriterien folgt. Gesellschaften wären dann etwa mit Ameisenstaaten vergleichbar, da jedes Einzelexemplar eine klare Funktion für das Ganze erfüllt, die durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Kasten beziehungsweise Klassen bestimmt ist. Diese simplifizierende Perspektive auf Prozesse der Sozialintegration und Vergesellschaftung bringt ein Folgeproblem für die übergeordnete Forschungsfrage mit sich. Denn mit ihr ist im Grunde die These aufgestellt, dass das progressive Potenzial im Bewusstsein der Menschen von ihrer Klassenzugehörigkeit abhängt. Damit ist nicht nur wenig gegenüber der klassischen Auffassung des historischen Materialismus gewonnen, die die revolutionäre Befähigung des Proletariats aus seiner Stellung im Produktionsprozess ableitet; auch die ersten Forschungsergebnisse ließen sich mit dieser Annahme nicht ohne Weiteres vereinbaren. Fromm schwankte daher in seiner Zeit als Mitglied des Instituts für Sozialforschung zwischen verschiedenen Erklärungsansätzen, mit denen das Problem gelöst werden sollte: einer psychosexuellen Erklärung der Charakterprägung, die sich noch hauptsächlich am freudianischen Charakterkonzept orientierte, und einer ich-psychologischen Erklärung, die in seinen späteren Arbeiten an Bedeutung gewann. Beide Erklärungsansätze zeigen aber grundsätzlich Schwierigkeiten, die glatte und funktionalistische Verknüpfung von sozioökonomischer Lage – der ›Klassenposition‹ – und der Persönlichkeitsstruktur zu plausibilisieren.
43 Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, München: DTV 2000, S. 200.
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Ursprünglich ging Fromm also noch von einer direkten »Anpassung des Triebapparates an die sozial-ökonomische Situation«44 aus. Das Charakterkonzept hatte zu dieser Zeit noch eine große Nähe zu Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung. Darin ist die Entwicklung der psychischen Struktur und der persönlichen Identität bekanntlich wesentlich mit der psychosexuellen Entwicklung verschränkt – und das betrifft nicht nur den Ödipus-Komplex, sondern auch die Entwicklung einiger markanter Charakterzüge. Die Charaktertheorie Freuds beschreibt den Charakter als das Resultat der libidinösen Fixierung an eine präödipale Stufe der sexuellen Entwicklung. Am deutlichsten wurde dies für den sogenannten Analcharakter herausgearbeitet.45 Charaktereigenschaften wie eine obsessive Ordnungsliebe, Sparsamkeit oder ein kauziger Eigensinn haben nach dieser Auffassung oft eine unbewusste Quelle in der sadistisch-analen Stufe der psychosexuellen Entwicklung.46 In dieser Phase entwickelt das Kleinkind ein auffallendes Interesse an seinen Körperausscheidungen, beginnt mit Kot zu spielen und zeigt dabei noch nicht die sozialüblichen Scham- und Ekelgefühle. Im normalen Verlauf, so die Theorie weiter, werden die konventionellen Ekelgrenzen infolge der elterlichen Sanktionen jedoch internalisiert und die libidinöse, lustvolle Besetzung geht auf die genitale Zone über. Im Falle des sogenannten Analcharakters kommt es jedoch zu einer Störung des Entwicklungsverlaufs. Die Ursache hierfür liegt in einer überstrengen Reinlichkeitserziehung der Eltern, die das Kind aus Angst vor harten Strafen dazu bringt, eine mechanische Reaktionsbildung gegenüber seinem Interesse an den Körperausscheidungen zu entwickeln. Die Furcht vor den scharfen Sanktionen der Eltern führt so jedoch lediglich zu einer Verdrängung der unerwünschten Triebregung. Dadurch bleibt diese aber im Unbewussten erhalten. Verstärkt werden könne diese regressive Libidobesetzung – die »Fixierung«47 – außerdem etwa durch eine strenge Sexualmoral, die im Erwachsenenleben keine ausreichende Sexualbefriedigung erlaubt und so die angestaute Triebenergie wieder auf prägenitale Organisationsstufen zurückleitet – was
44 E. Fromm: »Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie«, S. 31. 45 Vgl. Freud, Sigmund: »Charakter und Analerotik«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1906-1909, Frankfurt a. M.: Fischer 1966, S. 201-209; vgl. auch Abraham, Karl: »Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 9 (1923), S. 27-47. 46 Vgl. Freud, Sigmund: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1904-105, Frankfurt a. M.: Fischer 1968, S. 27-145, hier S. 99. 47 Vgl. Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, hier 154ff.
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ebenfalls die abwehrende Reaktionsbildung und damit die charaktertypische Pedanterie weiter verstärkt. Fromm zufolge beschreibt das psychoanalytische Konzept des Analcharakters die sparsame, reinliche und pedantische Charakterstruktur des kleinbürgerlichen Milieus – und wahrscheinlich spielen hier sowohl die strenge Erziehung als auch eine ebenso strenge Sexualmoral eine Rolle. Zugleich ist diese Charakterstruktur nach Fromm auch als eine Anpassung an die sozioökonomischen Lebensbedingungen des Kleinbürgertums zu verstehen. Da dieses mit geringen materiellen Mitteln seinen Status sichern muss, sind Eigenschaften wie Sparsamkeit, Selbstdisziplin, Pflichterfüllung und eine asketische Enthaltsamkeit für die Angehörigen des Milieus überlebenswichtig.48 In gewisser Weise verkörpert das Kleinbürgertum damit, so argumentiert Fromm an mehreren Stellen, ein Überbleibsel des alten kapitalistischen Geistes, der in Form der protestantischen Ethik den gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums begleitete. 49 Im entfalteten Kapitalismus sind diese Eigenschaften für weite Teile des Bürgertums jedoch obsolet geworden; sie erfüllen nur noch im kärglichen Kleinbürgermilieu eine essenzielle Funktion. Die Konzeption legt allerdings die fragwürdige These nahe, dass die proletarische Persönlichkeitsstruktur weniger neurotisch und damit emanzipatorischer sei, da Arbeiter*innenkinder im Schnitt keine derart strenge Reinlichkeitserziehung erhielten. Das wurde aber schon durch die vorläufigen Ergebnisse der Angestellten- und Arbeiterstudie widerlegt, die zeigten, dass eine autoritäre Charakterstruktur nicht nur im Kleinbürgertum, sondern auch unter Arbeiter*innen verbreitet war. Fromm rückt daher bereits in den Studien über Autorität und Familie zu Teilen von dem klassischen, psychosexuellen Charakterkonzept ab und beschreibt die autoritäre Charakterstruktur vorwiegend mit Defiziten in der Ich-Entwicklung. Dafür greift Fromm auf das späte Strukturmodell von Freud zurück. 50 Freud unterteilt hier den psychischen Apparat in drei funktional differenzierte Einhei48 Fromm erwähnt hier ebenfalls noch ein verdinglichtes Verhältnis zu anderen Menschen und scheint so eine psychologische Theorie des Verdinglichungskonzepts von Lukács anzubieten. Vgl. E. Fromm: »Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie«, S. 272, vgl. Lukács, Georg: »Geschichte und Klassenbewußtsein«, in: Georg Lukács Werke. Frühschriften II, Neuwied, Berlin: Luchterhand 1968, S. 161-517, Kapitel III. 49 Vgl. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus, Wiesbaden: Springer VS 2016. 50 Vgl. Freud, Sigmund: »Das Ich und das Es«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Jenseits des Lustprinzips/Massenpsychologie und Ich-Analyse/Das Ich und das Es, Frankfurt a. M.: Fischer 1967, S. 235-289.
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ten: in das Ich, das Es und das Über-Ich. Während das Ich und das Es weitgehend die Funktionen übernehmen, die in Freuds vorhergehenden Arbeiten durch das Paar Bewusstsein und Unbewusstes bezeichnet wurden, führt Freud mit dem Über-Ich erstmals systematisch eine innere Instanz ein, die die sozialen Verhaltenserwartungen, Verbote und Gebote vertritt. Das Ich hat als Sitz des Bewusstseins daher drei Aufgaben: Es muss zwischen den Ansprüchen der Außenwelt, denen des Es und denen des Über-Ichs vermitteln. Es muss in anderen Worten versuchen, die Triebansprüche des Es so zu befriedigen, dass sowohl den Möglichkeiten und Anforderungen der konkreten Handlungssituation, als auch den Vorgaben der verinnerlichten sozialen Normen des Über-Ichs Rechnung getragen wird. Die Komplexität der Aufgaben, die Freud für das Ich vorsieht, disponiert bereits zu Störungen. Und für Fromm ist es – seiner späteren Erklärung zufolge – gerade die Schwäche des Ichs in der eigenständigen Bewältigung dieser Anforderungen, die ein grundlegendes Merkmal des autoritären und patriarchalen Charakters darstellt. Auch hier liegen die Ursachen in der frühkindlichen Entwicklung; wobei Fromm vor allem auf das Verhältnis von Über-Ich und Ich abhebt. Das Über-Ich entwickelt sich, wie bereits weiter oben angeschnitten wurde, Freud zufolge durch eine Internalisierung der elterlichen Autorität und ihren Forderungen. In der patriarchalen Kleinfamilie ist dies vor allem die väterliche Autorität. Das Über-Ich wird dann in der weiteren Entwicklung durch neue Autoritätsbeziehungen angereichert – etwa durch Lehrpersonen, Vorgesetzte, politische Führungsfiguren oder sonstige Autoritätspersonen. Der Inhalt des Über-Ichs variiert allerdings mit den jeweils milieutypischen Wertmustern: Das Über-Ich des Bauernsohnes ist ein anderes als das des Sohnes eines Postbeamten. 51 Aber obwohl bereits die Entstehungsdynamik des Über-Ichs eine autoritäre Charakterstruktur nahelegt, ist ein starkes Über-Ich kein Kennzeichen eines autoritären Charakters, wie schon Freud bemerkt. 52 Der entscheidende Punkt betrifft das Ich: Ein autoritärer Charakter zeichnet sich durch ein schwaches Ich aus, das seine Ohnmacht und Orientierungslosigkeit durch Anlehnung an Autoritäten und Verachtung von Schwächeren zu kompensieren trachtet. 51 Das Strukturmodell Freuds gibt streng genommen nur die männliche Psyche wieder, da es auf dem Ödipuskomplex beruht – daher werden in den Beispielen nur Söhne erwähnt. 52 Freud bemerkt mehrfach, dass die Strenge des Über-Ichs nicht notwendig Aufschluss gibt über die Strenge der Erziehung, da die Härte des Über-Ichs aus den Schuldgefühlen entspringt, die gegenüber den Eltern bestehen. Diese sind erwartungsgemäß dann höher, wenn die Eltern geringen Anlass für Hassgefühle geben; wenn sie also weniger streng sind. Vgl. S. Freud: »Abriss der Psychoanalyse«, S. 137.
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Die Gründe für ein schwaches Ich liegen ebenfalls in einer strengen, versagungsreichen Erziehung. Auch hier entwickelt das Kind eine übergroße Angst vor dem Verlust der Liebe und Fürsorge der Eltern. Triebäußerungen, die von den Eltern mit harten Strafen geahndet werden, werden daher aus Verlustangst verdrängt. 53 Im Unterschied zur psychosexuellen Charakterkonzeption argumentiert Fromm nun aber, dass die Aufrechterhaltung der Triebverdrängung dem Ich Energien zu freien Entfaltung entziehe. Das Ich bleibt schwach, da es sämtliche Energien auf die möglichst rasche und umstandslose Verdrängung aller Regungen verwendet, die Strafen seitens der Eltern provozieren könnten.54 Das Ich der autoritären Persönlichkeit reguliert seine eigene Antriebsbasis auf diese Weise nicht bewusst. Unerwünschte Triebregung können nicht, wie von einem starken Ich, durch Reflexion und rationale Verurteilung abgewiesen werden, sondern werden auch im Erwachsenenalter noch mithilfe der Verdrängung aus Angst vor Autoritäten bewältigt – sowohl äußerer Autoritätspersonen, wie auch der inneren Autorität des Über-Ichs. Der autoritäre Charakter ist so durch eine infantile Angst vor dem Liebesverlust der Autorität gekennzeichnet und neigt dazu, Personen, die Stärke und Autorität ausstrahlen, zu überhöhen und sich diesen gegenüber wieder in eine infantile Position zu begeben. Auch das Über-Ich der autoritären Persönlichkeit bleibt daher noch in einem infantilen Zustand, sein Inhalt ist selbst im Erwachsenenalter noch in großem Maße durch Autoritätspersonen formbar: »Das Über-Ich ist eine Verinnerlichung der Autorität, die Autorität wird durch Projizierung der Über-Ich-Eigenschaften auf sie verklärt und in dieser verklärten Gestalt wiederum verinnerlicht.«55 Fromm macht an dieser Stelle das Maß an Triebverdrängung nicht mehr von Reinlichkeitsvorstellungen abhängig, sondern von der Verfügung über materielle Ressourcen. Ein hohes Maß an Versagungen, wie es in sozial schwachen Milieus zu finden ist, wird damit tendenziell eine autoritäre Charakterstruktur hervorbringen, da die ökonomische Situation einerseits geringere Bedürfnisbefriedigung erlaubt und andererseits dafür sorgt, dass Kinder zeitig als Produktivkraft betrachtet und für anfallende Arbeiten eingespannt werden. Deutlicher als in der ersten Charakterkonzeption zeigt sich hier, dass es daher vor allem proletarische und bäuerliche Milieus sind, die autoritäre Charakterstrukturen hervorbringen. 56 Fromm leitet daraus die typische Gesellschaftskritik ab, die fordert, dass die Lebensbedingungen aller nach den technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten so 53 Vgl. Horkheimer, Max: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Lüneburg: zu Klampen 1987, S. 96. 54 Vgl. ebd., S. 98. 55 Ebd., S. 85. 56 Ebd., S. 89.
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weit verbessert werden, dass eine weitgehend freie und ungehinderte IchEntwicklung stattfinden könne. Denn »unter gesellschaftlichen Bedingungen, die eine Erstarkung des Ichs über ein bestimmtes Maß hinaus verhindern, [kann] die Aufgabe der Triebverdrängung nur mithilfe der irrationalen Gefühlsbeziehung zur Autorität und ihren innerseelischen Repräsentanten, dem Über-Ich, geleistet werden«.57 Die autoritäre Struktur der Kultur und der Psyche ist somit eine Widerspiegelung der objektiven Not, die gesellschaftlich je nach Klassenzugehörigkeit anders verteilt ist. Die so entwickelte Konstruktion eines Zusammenhanges zwischen materieller Not und autoritärer Anpassung legt jedoch die These nahe, dass gerade die sozialen Schichten, die am stärksten unter sozialer Ungleichheit leiden, auch am nachhaltigsten an diese angepasst sind58 – sie kehrt somit lediglich die ursprüngliche Vermutung, dass die proletarische Charakterstruktur progressiver sei, um. Es ist dieser These zufolge daher eher dem großbürgerlichen Milieu zuzutrauen, unangepasste und progressivere Charaktere hervorzubringen, da es sich eine liberale Erziehung und Bildung leisten kann. An dieser Stelle wird offenbar, dass die Charakterstruktur nicht ohne Weiteres auf die ökonomische Sozialposition und der damit einhergehenden materiellen Versagung zurückgeführt werden kann; andere Faktoren der sozialisatorischen Interaktion scheinen hier eine ebenso wichtige Rolle zu spielen. Die Erfahrungen mit der Massen- und Konsumkultur in Amerika zur Zeit des New Deals brachten die These, dass es vorwiegend die durch materielle Not befeuerte Triebunterdrückung ist, die autoritäre Persönlichkeitsstrukturen hervorbringt, weiter ins Wanken, da hier der Lebensstandard für einen Großteil der Bevölkerung stieg und die unvermittelte materielle Not für breite Sozialschichten nachließ. Diese Beobachtung fiel mit einer sukzessiven Verabschiedung von der psychosexuellen Erklärung der Charakterbildung als Triebunterdrückung zusammen. Diese begann schon in den Studien über Autorität und Familie; fünf Jahre später, in Die Furcht vor der Freiheit sind die Überbleibsel des psychosexuellen Charakterkonzepts dann weitgehend aus Fromms Theorie verschwunden. Die Charakterprägung wird nun ausschließlich über die Konstitution des Ichs und dessen Objektbeziehungen erklärt. Das geht letztlich auch mit einer Reformulierung des autoritären Charakters einher. Nicht mehr die direkte Triebunterdrückung wird für die Schwäche des Ichs verantwortlich gemacht, sondern ein gefühlskaltes und teilnahmsloses Klima innerhalb der Familie. Das löse beim infantilen Ich ein profundes Gefühl der Unfähigkeit und Ohnmacht aus, da es so nicht die Erfahrung machen kann, dass seine Wünsche und Bedürfnisse zählen – eine autoritäre Orientierung ist hier eine Flucht aus der Ohnmachtsemp57 Ebd., S. 110. 58 Tatsächlich legt Fromm eine solche These nahe. Vgl. ebd., S. 88f.
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findung.59 Mit dem Gefühl der Ohnmacht60 konstruiert Fromm ausgehend hiervon eine entsprechende phänomenologische Beschreibung der sozialen Wirklichkeit. In der fordistischen Konsum- und Massengesellschaft drehte sich der psychische Grundkonflikt nicht mehr schlicht um Selbstentfaltung und Repression, sondern um ein authentisch-produktives Leben in einer komplexen und potenziell überfordernden sozialen Realität.61 Es bleibt aber weiterhin unklar, inwieweit diese Beschreibung an den konkret empfundenen Leiderfahrungen und den durch sie implizierten normativen Forderungen anknüpfen kann.
1.4 DIE STUDIEN ÜBER AUTORITÄT UND FAMILIE: EIN FRAGMENT Die theoretischen Schwierigkeiten lassen sich auch an der Durchführung des Forschungsprojekts selbst nachvollziehen. Die vergesellschaftungstheoretische Psychoanalyserezeption schlug sich deutlich im Untersuchungsdesign des sozialpsychologischen Teils der Studien über Autorität und Familie nieder. Zwar war geplant, in diesem auch abweichende Persönlichkeitstypen zu erforschen und die theoretisch hergeleitete These der funktionalen Anpassung zu erweitern. Aber da der bis dahin entwickelte theoretische Rahmen kaum Ansatzpunkte bot, um Thesen über widerständige Charakterstrukturen auszuarbeiten, wäre hier weitere konzeptionelle Arbeit notwendig gewesen. Diese konnte allerdings nicht mehr geleistet werden, da die Studien noch während der ersten Erhebungsphase abgebrochen wurden. Der Abbruch der Arbeiten lag zum einen an der Emigration des Instituts für Sozialforschung zunächst in die Schweiz, dann nach Amerika, in deren Folge aus organisatorischen und finanziellen Gründen die wesentlichen Vorhaben nicht mehr weitergeführt werden konnten. Zum anderen resultiert jener Abbruch aber auch aus der umfassenden Forschungsstrategie, die groß angelegte Befragungen und Interviews in verschiedenen europäischen Ländern vorsah und diese mit kultur-, gesellschafts- und geschichtstheoretischen Ausarbeitungen ver-
59 Vgl. E. Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, Kap. 5. 60 Vgl. Fromm, Erich: »Zum Gefühl der Ohnmacht«, in: Rainer Funk (Hg.), Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 133-157. 61 Damit gab Fromm nicht nur das Stichwort für David Riesmans einflussreiche Arbeit Die einsame Masse, sondern beeinflusste auch die Gesellschaftsdiagnose von Adorno. Vgl. Riesman, David: The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Haven: Yale University Press 1988.
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binden wollte. Dieser Arbeits- und Organisationsumfang konnte unter den verschärften politischen Bedingungen schlicht nicht mehr geleistet werden. Erschwerend hinzu kam, dass anfänglich, wie Horkheimer zugab, »die wissenschaftlichen Erfahrungen auf diesem Gebiet gering waren«.62 Jedoch lässt sich in den als Zwischenbericht erschienenen Studien über Autorität und Familie, den »ersten Mitteilungen«63, in etwa die Gestalt des interdisziplinären Forschungsprogramms ablesen. Während der erste Teil der Arbeit die Thematik theoretisch entwickelt, widmet sich der zweite, von Fromm betreute Teil der empirischen und sozialpsychologischen Untersuchung des Problems. Der dritte Teil umfasst schließlich verschiedene Arbeiten aus anderen Fachdisziplinen zum Themenkomplex von Autorität und Familie. Die von Fromm redigierten Studien beschäftigen sich allesamt mit dem bereits ausgeführten Zusammenhang zwischen ökonomischer Situation und der vorherrschenden Einstellung zu Sexualität und Autorität. Neben einer Erhebung unter Arbeiter*innen und Angestellten, Untersuchungen über die Veränderung der Sexualmoral und einer Expertenbefragung (Ärzten, Psychologen, Hochschullehrern und so weiter) nimmt die Erhebung unter Jugendlichen einen großen Raum ein – vor allem, da diese auch am weitesten gediehen war. Zentrale Bedeutung kam zunächst der Überprüfung und Weiterentwicklung der theoretisch aufgestellten Typologien zu. Fromm bringt die entsprechenden methodologischen Überlegungen wie folgt auf den Punkt: »Schon bei der Mittelstandsenquête haben wir uns nicht damit begnügt, die Antworten auf jede einzelne psychologisch relevante Frage mechanisch zusammenzustellen und zu vergleichen, sondern versuchten, aus der Gesamtheit der Antworten je eines ganzen Fragebogens die Charakterstruktur des Antwortenden zu erschließen und diese Strukturen miteinander zu vergleichen«64
Da einzig der autoritäre Charakter als »theoretisch fundierter Strukturtypus«65 ausgearbeitet wurde, ist die Konstruktion der Fragebögen sowie deren Auswertung deutlich auf diesen zugeschnitten. Neben der autoritären Charakterprägung wird in den Studien über Autorität und Familie zwar ein auflehnender Charaktertyp erwähnt. Aber dieser fungiert lediglich als Negativ zur autoritären Prägung 66 62 M. Horkheimer: Studien über Autorität und Familie, S. X. 63 Ebd., S. XII. 64 Ebd., S. 235. 65 Ebd. 66 Es werden zwar vereinzelt noch »Zwischentypen« angenommen, diese liegen aber auf einem Kontinuum zwischen Autorität und Auflehnung. Vgl. ebd., S. 404.
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und wurde darüber hinaus nicht zu einem eigenständigen Typus weiterentwickelt. Hinzu kam, dass die theoretische Grundlage des Charakterkonzepts selbst, wie weiter oben skizziert wurde, noch Widersprüche aufwies. Die Untersuchungen konnten daher, und aufgrund der vorläufigen Natur sowie des geringen Auswertungsgrades, kaum etwas zur Weiterentwicklung der Typologie beitragen; sie nehmen, mitsamt den vorläufigen Ergebnissen, lediglich eine provisorische Explikation der theoretischen Vorannahmen vor. Allerdings ist es denkbar, dass diese Schwächen des Untersuchungsdesigns unter anderen Umständen und bei einer längeren Fortführung des Projekts hätten behoben werden können. Schließlich erwecken sämtliche in dem Band veröffentlichten Studien einen äußerst provisorischen Charakter, der überdies dadurch verstärkt wird, dass die Untersuchungsdesigns selbst noch erprobt werden mussten. Die Studien befanden sich daher noch in der Pilotphase, in der neben der Ausarbeitung der theoretischen Überlegungen zunächst ein Gefühl für den Gegenstand, aber auch für die verwendeten Methoden gewonnen werden sollte. 67 Fromm gesteht entsprechend: »Bei unseren bisher vorliegenden Untersuchungen handelt es sich freilich noch nicht so sehr um Anwendung dieser Prinzipien als um Experimente zur Verbesserung und zum Ausbau der Methodik.«68 Horkheimer hebt darüber hinaus die Bedeutung der Arbeit auch für die theoretischen Aussagen vor: »Sie sollten uns mit den Tatsachen des täglichen Lebens in Verbindung halten und jedenfalls vor weltfremden Hypothesen bewahren«.69 Ob eine weitere Ausarbeitung der Studien aber tatsächlich dazu geführt hätte, nonkonforme Charaktertypen zu beschreiben und zu erfassen, ist aufgrund der objektivistischen Tendenz der Theorie dennoch fraglich. Denn das hätte es erforderlich gemacht, die Theorie offener für nonkonforme, das heißt subjektive Strategien in der Auseinandersetzung mit sozialen Konfliktkonstellationen zu machen. Von einer einfachen Verschaltung von Charakterstruktur und sozialer Lage hätte dann Abstand genommen werden müssen.
67 Vgl. ebd., S. X. 68 Ebd., S. 237. 69 Ebd., S. X.
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1.5 ANPASSUNG ALS SCHICKSAL? DAS SCHEITERN DES MATERIALISTISCHEN FORSCHUNGSPROGRAMMS Dass die Limitierungen des charaktertheoretischen Ansatzes, der lediglich erklären kann, wie sich die sozioökonomischen Rahmenbedingungen dem individuellen Habitus und Bewusstsein aufprägen, nicht offenbar wurden, lag jedoch nicht nur daran, dass die Arbeiten aufgrund der Verschärfung der politischen Lage in Europa nicht fortgeführt werden konnten. Die Ausbreitung des Faschismus in Europa schien die vorläufigen Ergebnisse zu belegen und dem ausschließlichen Fokus auf autoritäre Anpassung recht zu geben. Zusammen mit den politischen Ereignissen nährten die vorläufigen Ergebnisse der sozialpsychologischen Studien daher die Zweifel daran, ob in der damaligen Gesellschaft progressive und widerständige Gruppen anzutreffen waren. Trotz seines Elends schien das Proletariat offenbar so weit ideologisch integriert zu sein, dass es kaum mehr als fortschrittliches, historisches Subjekt gelten konnte. Damit gingen nicht nur die Adressaten einer kritischen Sozialforschung verloren; auch die Überzeugung, dass in der sozialen Wirklichkeit progressive Potenziale vorhanden sind, auf die sich eine immanente Gesellschaftskritik beziehen kann, wurde so ernsthaft infrage gestellt. Damit musste sowohl die Methode, als auch die normative Basis der kritischen Gesellschaftstheorie neu bestimmt werden – das geschah allerdings nicht in einer Weiterentwicklung des Untersuchungsansatzes, sondern in einer Radikalisierung der theoretischen und normativen Grundannahmen.70 An dieser Stelle ist es sinnvoll, noch einmal an die Vorannahmen zu erinnern, von denen die Theorie und Forschung des Instituts für Sozialforschung in den frühen 1930er Jahren getragen wurde. Zu Beginn des interdisziplinären Projekts schien die Kluft zwischen dem objektiven Interesse an einer besseren Gesellschaft und den konkreten, politischen Interessen der ausgebeuteten Schichten noch nicht unüberbrückbar. Horkheimer und seine Kollegen gingen daher noch davon aus, dass die normative Orientierung der Wissenschaftler zumindest mit der unterschwelligen Interessenstruktur der Individuen übereinstimmt, die unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leiden. Horkheimer erschien das Leiden der Menschen an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen noch so offensichtlich, dass er in Anlehnung an Schopenhauer das Mitleid als das Motiv progressiver Politik, und wohl auch der eigenen Forschungsbemühungen, ausgab: »Wir sehen die Menschen nicht als Subjekte ihres Schicksals, sondern als Objek-
70 Vgl. H. Dubiel: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S. 66f. Vgl. dazu Kapitel II.
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te eines blinden Naturgeschehens, und die Antwort des moralischen Gefühls darauf ist Mitleid.«71 Zu diesem Zeitpunkt galt es daher noch als sicher, dass neben dem empathisch geteilten Leid auch ein geteiltes politisches Interesse an einer vernünftigeren Gesellschaftsordnung vorherrschte: »Dieser Teil der Menschheit, der durch seine Lage notwendig auf diese Veränderung [hin zu vernünftigen Verhältnissen, F.S.] hingewiesen ist, enthält bereits Kräfte und zieht immer neue an, denen es im Ernst auf die Verwirklichung der besseren Gesellschaft ankommt. Er ist auch psychologisch dazu vorbereitet, denn seine Rolle im Produktionsprozess verweist ihn weniger auf die doch aussichtslose Vermehrung von Eigentum als auf den Einsatz seiner Arbeitskraft. Die Erzeugung von Charakteren, in denen die Eigentumsinstinkte nicht ausschlaggebend sind, wird unter diesen Bedingungen erleichtert.«72
Dass aber nicht ohne Weiteres von den sozioökonomischen Lebensbedingungen auf das emanzipatorische Potenzial der Charakterstruktur geschlossen werden kann, wie Horkheimer vermutete, zeigen schon die Unsicherheiten in der Erklärung der Autorität: Zunächst legte die Theorie nahe, in den proletarischen Lebensbedingungen den Keim progressiver Einstellungen zu finden; später hingegen sollen diese den Ausschlag für eine autoritäre Prägung geben. Außerdem waren die sozialpsychologischen Untersuchungen daher nicht in der Lage, Anknüpfungspunkte für eine revolutionäre Politik im Alltagsbewusstsein der Menschen zu finden oder zumindest die normativen Aspekte der Leiderfahrungen zu rekonstruieren. Die vorwissenschaftliche Anteilnahme am Leiden der Menschen verlieh den normativen Vorannahmen eine vermeintliche Evidenz, die eine weitere Erforschung der Frage, weswegen und in welcher Form Menschen an der Gesellschaft leiden nicht nötig machte. Da materielle Ungleichheit und das aus dieser hervorgehende Elend in der modernen Gesellschaft in besonders krassem Gegensatz zu den technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten stehen, schien sich die Perspektive einer kritischen Gesellschaftstheorie nicht mehr sozial ausweisen zu müssen. In Übereinstimmung mit dem empathisch wahrgenommenen Leiden richtete sie sich auf die Abschaffung jeglicher Entbehrungen, die auf soziale Ungleichheit zurückgeführt werden können und damit nicht rational zu rechtfertigen sind. »Es dahin zu bringen, daß dieser Zustand für die Gesellschaft kennzeichnend werde, ist die Aufgabe nicht bloß des Soziologen, sondern der vorwärtstreibenden Kräfte der Menschheit 71 M. Horkheimer: »Materialismus und Moral«, S. 136. 72 Ebd., S. 144.
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insgesamt. Und so schlägt das Bemühen des Soziologen, zu exakter prédiction zu kommen, in das politische Streben nach Verwirklichung einer vernünftigen Gesellschaft um.«73
Wie ernst es Horkheimer und seinen Kollegen damit war, zeigt sich etwa auch daran, dass Friedrich Pollock am Institut einen Arbeitskreis zur Planwirtschaft betreute. »Die Freiheit der Individuen bedeutet heute«, so gibt Horkheimer die damalige Orientierung zu Protokoll, »die Aufhebung ihrer ökonomischen Selbständigkeit in einem Plan.«74 Schon von Beginn an schien daher das materialistische Forschungsprojekt weniger die kritischen Potenziale im Alltagsbewusstsein bergen zu wollen – das Projekt und die damit verbundene Theorie sollten in letzter Konsequenz eine Möglichkeit finden, das kritische Alltagsbewusstsein stimulieren.75 Die sozialphilosophische Reflexion und Verarbeitung einzelwissenschaftlicher Untersuchungen sah sich daher noch in der Nähe zu fortschrittlichen sozialen Bewegungen; Horkheimer sprach ihr gar eine aufklärende und in gewissem Sinne auch anleitende Funktion zu, »weil manche seelische Fessel, unter der die Menschen heute Leiden, aufspringt, wenn das treffende Wort ertönt, und weil dieses Wort auch die gewaltsame Isolierung der Menschen voneinander, die der gegenwärtigen Periode eigentümlich ist, weitgehend aufheben kann.«76 Das setzt aber voraus, dass die Menschen einerseits an den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten als solchen leiden und anderseits, dieses Leiden auch als eines an der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit wahrnehmen. Die politischen Entwicklungen in Europa, und die Erfahrung der amerikanischen Massengesellschaft, aber auch die eigene deterministische Forschungsperspektive erschütterten diese vortheoretischen Gewissheiten. In der Folge konnte in dem theoretischen Rahmen weder davon ausgegangen werden, dass ein ›schlechtes Leben‹ als solches notwendig in einem physischen Sinne Leid erzeugt, noch schien dieses Leiden ein Interesse an einer besseren Gesellschaftsordnung hervorzurufen. Die politischen Ereignisse offenbarten die Schwächen einer Gesellschaftskritik, die auf die soziale Wahrnehmbarkeit der Gesellschaftspathologie vertraute, ohne jene Pathologien und das Leiden an dieser in sozialer Alltagsinteraktion selbst beschreiben zu können. Damit wurde offenbar, dass der Ankerpunkt der kritischen Gesellschaftstheorie in der damaligen Gesellschaft illusorisch war – daraus zogen Horkheimer, Adorno und Marcuse 73 Horkheimer, Max: »Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 19311936, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 150-157, hier S. 157. 74 M. Horkheimer: »Materialismus und Moral«, S. 137. 75 Vgl. H. Dubiel: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, S. 66f. 76 M. Horkheimer: »Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie«, S. 218.
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bekanntlich die Konsequenzen und theoretisierten die normativen Grundlagen ihrer Gesellschaftstheorie. Von dem Projekt einer interdisziplinären, empirischen Erforschung von Bewusstseinsstrukturen wurde schließlich abgelassen. In der Literatur zur frühen Kritischen Theorie kann es als ein Gemeinplatz gelten, auf die Bedeutung der politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen hinzuweisen, die die Mitglieder des Instituts zur Verabschiedung der kritischen Sozialforschung bewegten. Die so einsetzende Desillusionierung war allerdings auch dem systematischen Schwachpunkt der Theorie geschuldet, da diese die Forschungsperspektive auf dem Boden einer linkshegelianischen Verwirklichungstheorie entwarf. Geschichte wurde hier als eine konfliktreiche, dialektische Verwirklichung der menschlichen Freiheit verstanden. Leidenserscheinungen sind für eine darauf aufbauende Gesellschaftskritik nur dann relevant, wenn sie sich als solche an den unverwirklichten menschlichen Potenzialen, die aber auf dem geschichtlichen Entwicklungsstand prinzipiell als erreichbar gelten können, lesen lassen. Diese abstrakte Formulierung macht deutlich, dass die Theorie dem Leiden der Menschen ein quasi-geschichtliches Bewusstsein zuspricht, oder anders ausgedrückt: Es ist das reflektierte Leiden von Marxisten, die eine Theorie der Geschichte besitzen, und nicht das der Alltagshandelnden. Der Ansatz umging daher systematisch die Frage, ob und wie das Leiden der Menschen als eines an sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen zu dechiffrieren sei. Denn soziales Leiden entzündet sich nicht an unausgeschöpften Potenzialen, sondern an Erfahrungen der Kränkung, Zurücksetzung und Gewalt, die im Kontext konkreter Sozialinteraktionen und vor dem Hintergrund lebensweltlicher Überzeugungen gemacht werden. Was dieses mit Gesellschaft zu tun hat, ob es als ein Leiden an Gesellschaft gelesen werden kann, kann nicht postuliert, sondern muss erst rekonstruiert werden. Diese Ignoranz des Eigensinns sozialer Alltagspraxis führte in Kombination mit der objektivistischen Gesellschaftstheorie dagegen zu einer sozialpsychologischen Forschungsperspektive, die allein Anpassung an makrosozial vorgegebene Notwendigkeiten ideologiekritisch beschreiben konnte. Daher ruhten etwa die politischen Hoffnungen des frühen Fromm auch weniger auf dem politischen Handeln der Menschen, sondern ganz klassisch auf einer Zuspitzung der gesellschaftlichen Lage und auf einem revolutionären Umschlag der historischen Situation: »Mit dem Wachsen der objektiven Widersprüche innerhalb der Gesellschaft, mit der beginnenden stärkeren Zersetzung einer bestimmten Gesellschaftsform treten auch gewisse Veränderungen in der libidinösen Struktur der Gesellschaft ein; traditionelle, die Stabilität der Gesellschaft erhaltende Bindungen verschwinden, traditionelle Gefühlshaltungen ändern sich. Libidinöse Kräfte werden zu neuen Verwendungen frei und verändern damit ihre
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soziale Funktion. Sie tragen nun nicht mehr dazu bei, die Gesellschaft zu erhalten, sondern sie führen zum Aufbau neuer Gesellschaftsformationen, sie hören gleichsam auf, Kitt zu sein und werden zu Sprengstoff.«77
77 E. Fromm: »Über Methode und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie«, S. 35.
Verarbeitungsversuche: Adorno und Marcuse
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Gesellschaftskritik als Vernunftkritik bei Adorno
Die Einsamkeit der Kritischen Theorie Adornos Arbeiten lassen sich in gewisser Weise als Verarbeitung dessen lesen, was in den 1930er und 1940er Jahren vom gescheiterten interdisziplinären Forschungsprojekt übrigblieb. Horkheimers Hoffnung, dass durch sozialpsychologische Untersuchungen und die Reflexionsleistung einer materialistischen Philosophie Elemente eines fortschrittlichen Bewusstseins in der Gesellschaft rekonstruiert werden können, erwies sich aufgrund der theoretischen Beschränkungen des Ansatzes, aber auch im Hinblick auf die damaligen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen als illusorisch. Allerdings zogen die Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung nicht die Konsequenz, die theoretischen Grundannahmen zu überdenken, welche – wie etwa der objektivistische, geschichtsphilosophische Erklärungsrahmen – es unmöglich machten, systematisch die normativen Aspekte der Alltagspraxis in den Blick zu nehmen, auf die die interdisziplinäre Forschung abhob. Stattdessen bildete die Kritische Theorie zunehmend das Bewusstsein aus, gesellschaftlich und historisch isoliert zu sein. Diese theoretische »Einsamkeit«1 der Gesellschaftskritik prägte wohl die Schriften von Adorno am nachhaltigsten. Exemplarisch zeigt sich die Neubestimmung des Standortes der kritischen Sozialwissenschaft und ihres theoretischen Rahmens schon in einem programmatischen Aufsatz, den Horkheimer gegen Ende der 1930er Jahre verfasste – und
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So schreibt etwa Adorno in der Minima Moralia: »Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag.« (Adorno, Theodor W.: »Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 27).
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der erst die Bezeichnung Kritische Theorie prägte.2 Horkheimer distanziert sich darin nicht explizit vom interdisziplinären Forschungsvorhaben, gibt aber deutlich zu erkennen, dass eine »kritische Theorie« sich nicht auf progressive Gruppen innerhalb der Gesellschaft verlassen könne, sondern die normative Bestimmung ihrer Arbeit in stärkerem Maße unabhängig von diesen vornehmen müsse. Zwar lässt Horkheimer weiterhin eine solidarische Bezugnahme auf das objektive Interesse des Proletariats erkennen; aber er vertritt nun deutlicher die Auffassung, dass dieses Interesse den betroffenen Gruppen aufgrund ihrer sozialen Zersplitterung und gesellschaftlichen Integration selbst vollkommen unzugänglich geworden ist. Daher schlussfolgert Horkheimer, »daß gerade das aktuellste, die geschichtliche Situation am tiefsten erfassende Denken es mit sich bringt, seine Träger zu isolieren und auf sich selber zu stellen.«3 Mit der Isolation und Abgrenzung, selbst gegen die Orientierung der Arbeiter*innen, sollte das emanzipatorische Interesse vor Korrumpierung bewahrt werden: »Eine Haltung, welche seine [des Proletariats, F. S.] wahren Interessen und damit auch die der Gesellschaft im ganzen nicht auch ihm selbst entgegenzusetzen imstande wäre, sondern ihre Richtschnur von Gedanken und Stimmungen der Massen bezöge, geriete selbst in sklavische Abhängigkeit vom Bestehenden«4
Obwohl die grundsätzliche Orientierung auf eine gerechtere Gesellschaftsordnung von Horkheimer noch geteilt wurde, verschiebt sich der Fokus der theoretischen Arbeit somit auf die Verteidigung eines kritischen Standpunkts gerade gegen jene soziale Wirklichkeit, die ihm keinen Halt mehr zu geben schien. Die Kritische Theorie erfüllt damit die Funktion eines konservierenden Platzhalters, so lange wie eine kritische Praxis gesellschaftlich unmöglich ist: »In dieser Zeit, in der eine saubere Elite von Wirtschafts- und anderen Führern sich verschwört, um die Massen mit Blindheit und die Intellektuellen mit dem unentwegten Sinn fürs Grosse zu schlagen, ist die Theorie mit dem Versuch identisch, bei dem Verstand zu bleiben, zu dem die Menschheit kommen muss, wenn sie nicht von vorne anfangen soll.«5
2
Vgl. M. Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie«.
3
Ebd., S. 188.
4
Ebd.
5
Horkheimer, Max: »Die Philosophie der absoluten Konzentration«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Gesammelte Schriften. Schriften 1936-1941, Frankfurt a. M.: Fischer 1988, S. 295-307, S. 295–307.
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Damit verstärkten sich auch die deterministischen Tendenzen der Theorie. Horkheimer, und mit ihm auch Adorno und Marcuse, gingen immer mehr davon aus, dass die zunehmende Integration der Individuen in die Gesellschaft diesen kaum Raum lässt, um mehr zu sein als bloße »Funktionen des ökonomischen Mechanismus«6. Mit der These der totalen Integration der Menschen in die herrschenden Verhältnisse erübrigten sich sozialpsychologische Untersuchungen weitgehend, da diese ohnehin nur die unvermeidliche Anpassung würden feststellen können. Der Fokus der theoretischen Arbeit verschob sich daher zunehmend auf allgemeine kulturtheoretische und philosophische Reflexionen. Die Diagnose der totalen Integration, die bei Adorno auch mit dem Begriff der »verwalteten Welt« gefasst wird, nährte aber auch die Zweifel an der normativen Tragfähigkeit des Vernunft- oder Rationalitätsbegriffs selbst. Noch während der materialistischen Phase der Kritischen Theorie wurde davon ausgegangen, dass technischer und produktiver Fortschritt – letztlich also ein Zuwachs an Naturbeherrschung – die Voraussetzung für eine freiere Gesellschaft bilde und es nur darauf ankäme, eine Gesellschaftsordnung zu etablieren, in der die Verteilung der so gewonnenen Mittel gerecht vonstattengeht. Aufgrund der politischen Ereignisse gelangten Horkheimer, Adorno und später auch Marcuse jedoch immer mehr zu der Überzeugung, dass Technologie und die ihr immanente instrumentelle Vernunft den Herrschaftsverhältnissen nicht neutral gegenüberstehen. Nicht nur schienen die amerikanische Massendemokratie, der Stalinismus in der Sowjetunion und der Faschismus in Europa zu zeigen, dass technologischer Fortschritt auch bisher nicht gekannte Herrschafts- und Vernichtungstechniken hervorbringt. Die okzidentale Vernunft schien bereits aus sich heraus ein Selbst- und Weltverhältnis zu implizieren, das die Befreiung vom Naturzwang mit zunehmender innerer und äußerer Kontrolle erkaufte. Ab den 1940er Jahren bringt die Kritische Theorie eine Rationalitätskritik zum Ausdruck, die an Arbeiten Max Webers, Georg Lukács’, aber auch Friedrich Nietzsches anknüpfte. Vor allem Nietzsches Einfluss macht sich in der Reformulierung geschichtsphilosophischer Grundannahmen bemerkbar: Geschichte wurde nicht mehr als eine von Klassenkämpfen verstanden, in der sich tendenziell stets vernünftigere Verhältnisse herausbilden. Geschichte schien nunmehr vorwiegend eine Geschichte der Herrschaft – oder besser: der Rationalisierung von Herrschaft – zu sein. Aufgrund ihres Festhaltens an den Ansprüchen einer aufgeklärten Moderne zwang sich die Kritische Theorie daher nicht nur in die gesellschaftliche Isolation; dieser Rückzug wurde außerdem von einer radikalen Selbstkritik der Aufklärung begleitet. Der von Horkheimer formulierte Versuch »bei Verstand« zu bleiben, begegnet damit äußeren, gesellschaftlichen Grenzen, ebenso wie inneren, die die Machbar6
M. Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie«, S. 211.
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keit einer vernünftigen Gesellschaftskritik infrage stellten. In gewisser Weise setzte die programmatische Neuausrichtung der Theorie gegen Ende der 1930er Jahre damit nicht nur den Ton für Adornos, Horkheimers und Marcuses Arbeiten, sondern auch für die Bemühungen von Habermas und später Honneth: Durch die Vernunftkritik eingeleitet stand fortan die Rechtfertigung der normativen Perspektive sowie der Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie im Fokus der theoretischen Arbeit.7
2.1 DEUTENDE PHILOSOPHIE: VORBEMERKUNGEN ZU ADORNOS METHODE DER DARSTELLUNG UND KRITIK Die knapp skizzierten Entwicklungen bilden den Hintergrund, vor dem Adorno seinen theoretischen Ansatz weiter ausarbeitet. Zwar vereint Adornos Theorie ebenfalls verschiedene Disziplinen – neben der Philosophie sind es Gesellschaftsund Kulturtheorie, eine ästhetische Theorie und sogar sozialpsychologische Untersuchungen im Stil der von Fromm angeleiteten Studien. Doch Adorno beabsichtigt nicht, wie noch Horkheimer, die verschiedenen Disziplinen unter dem Dach einer materialistischen Sozialphilosophie zu vereinen. Ihm steht schon früh eine Analyse- und Kritikstrategie vor Augen, in der mithilfe der verschiedenen disziplinären Perspektiven ein prägnantes Bild der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit gezeichnet werden sollte, das in seiner schlagenden Deutlichkeit deren Unrecht vor Augen führt.8 Diese »philosophische Deutung«9 7
Der Zwiespalt Adornos, einerseits an der Idee einer aufgeklärten und vernünftigen Moderne festzuhalten, andererseits aber in der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit keine systematischen Anknüpfungspunkte hierfür mehr zu sehen, bereitete wesentlich Habermas’ und Honneths rekonstruktive Methode der Gesellschaftskritik vor (vgl. M. Iser: »Gesellschaftskritik«). Mit dieser soll gerade das normative Fortschrittspotenzial, das durch offenkundige Sozialpathologien konterkariert wird, wieder sichtbar gemacht werden.
8
Die hier verfolgte Interpretation von Adornos Arbeiten orientiert sich in ihren Hauptargumenten an der Studie The Origin of Negative Dialectics von Susan Buck-Morrs (Buck-Morss, Susan: The Origin of Negative Dialectics. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, and the Frankfurt Institute, New York: Free Press 1979). Dieser Zugang wurde gewählt, da viele der zeitdiagnostischen Thesen Adornos in ihrem soziologischen Gehalt schon im damaligen historischen Kontext als zu undifferenziert und überstiegen erscheinen müssen. Diese Zuspitzung kann – durchaus zutreffend – auf die
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bedarf keiner systematischen wissenschaftstheoretischen Integration der verschiedenen Perspektiven, sondern lediglich deren konstellative Ausrichtung, durch die die betrachteten Phänomene in einem bestimmten Licht erscheinen – und dadurch erschlossen werden können.10 Auch wenn Adorno dieses Vorgehen in Zusammenhang mit materialistischer Theorie bringt, 11 verfolgt er damit einen eher reflexionsphilosophischen Ansatz, dessen kontemplative Grundausrichtung sich im Rückblick weitaus besser zur Theorieperspektive der Kritischen Theorie als noch zum Materialismus des frühen Horkheimer fügt. 12 Nicht nur kommt Adornos Kritikstrategie der philosophischen Deutung ohne klare gesellschaftliche Träger des Fortschritts aus; gegenüber Horkheimers Ansatz hat diese Methode auch den Vorteil, dass sie sich auch mit einer radikalen Selbstkritik der geschichtlichen Vernunft verträgt. Aber auch wenn sich Adornos Methode von den frühen Arbeiten am Institut für Sozialforschung absetzt, teilt er grundlegend ebenfalls
schockhafte Erfahrung des Faschismus, der Shoa, des Stalinismus und der apathischen Konsumgesellschaft zurückgeführt werden. Zugleich finden sich dafür aber auch theoretische und methodologische Gründe, denen hier bevorzugt nachgegangen werden soll. Adorno reagiert – im Einklang mit der Richtungsänderung des Instituts – nicht als Soziologe auf die historischen Gegebenheiten, sondern als Philosoph, dem es um eine schlagende Skizzierung gesellschaftlicher und historischer Grundtendenzen geht – und darum, wie trotz der pessimistischen Skizze noch an der Idee einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft festgehalten werden kann. Zu Adornos Methodologie vgl. etwa auch Bonß, Wolfgang: »Empirie und Dechiffrierung von Wirklichkeit. Zur Methodologie bei Adorno«, in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.), AdornoKonferenz 1983, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 201-225, Honneth, Axel: »Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform. Skizze der Gesellschaftstheorie Adornos«, in: Axel Honneth (Hg.), Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 70-92, Schmid Noerr, Gunzelin: »Die Krankheit der Gesunden. Adorno und die Psychoanalyse«, in: Psyche 71 (2017), S. 981-1007. 9
Adorno, Theodor W.: »Die Aktualität der Philosophie«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Philosophische Frühschriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 325-344, hier S. 338.
10 Vgl. ebd., S. 335. 11 Vgl. ebd., S. 336. 12 Vgl. Bonß, Wolfgang: »Warum ist Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen«, in: Alex Demirovic (Hg.), Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie, Stuttgart: Metzler 2003, S. 366-392, hier S. 375.
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den geschichtsphilosophischen Ansatz – und damit eine strukturell ähnliche Perspektive auf psychisches Leiden. Dieses theoretische Selbstverständnis zeigt sich am deutlichsten in seinen frühen Arbeiten13 – die darin geäußerten Grundintentionen sind über die Jahre erstaunlich konstant geblieben und bieten einen noch weitgehend schnörkellosen Einblick in Adornos theoretische Arbeitsweise.14 Adorno lässt hierin – wie erwähnt – erkennen, dass in der philosophischen Deutung der Schlüssel zum Verständnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit liegt. Allerdings lehnt Adorno die idealistische und metaphysische Spekulation ab, die versucht, die Wirklichkeit allein durch den subjektiven Geist zu erschließen. Ebenso wenig tauge die direkte Hinwendung zur gegebenen Realität zu ihrer Erkenntnis – hier stimmt er mit Horkheimers Doppelkritik an Positivismus und an Metaphysik überein. An der Stelle der wissenschaftstheoretischen Lösung Horkheimers greift Adorno jedoch auf ein Konzept Walter Benjamins zurück, um das Dilemma aufzulösen: auf die Konstruktion von Konstellationen.15 Über die Gruppierung von empirischen Einzelphänomenen und über ihre bewusste Anordnung – der Bildung einer Konstellation – soll die Idee des gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhangs aufscheinen.16 Adorno vergleicht das mit einer Dechiffrierungsarbeit17 oder mit der Anfertigung eines Schlüssels: »Es kommt der deutenden Philosophie darauf an, Schlüssel zu konstruieren, vor denen die Wirklichkeit aufspringt.«18 Mit dieser Art der Dechiffrierung könne in einzelnen, vermeintlich alltäglichen oder nebensächlichen Phänomenen die Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Ganze sichtbar gemacht werden.19 Diese Analyseform entfaltet sich – »materialistisch« – an Einzelphänomenen und führt in ihnen die Spuren der gesellschaftlichen Totalität vor Augen. Interessant ist an dieser Stelle, dass die Konstruktion von Konstellationen Adorno zufolge es einerseits erlauben soll, den zur »zweiten Natur« erstarrten gesellschaftlichen Schein intellektuell zu transzendieren, ohne 13 Vgl. T. W. Adorno: »Die Aktualität der Philosophie«, S. 338; vgl. ebenso Adorno, Theodor W.: »Die Idee der Naturgeschichte«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Philosophische Frühschriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 345-365, S. 345–365. 14 Vgl. S. Buck-Morss: The Origin of Negative Dialectics. 15 Vgl. ebd., S. 93. 16 Vgl. ebd., S. 96. 17 Vgl. T. W. Adorno: »Die Idee der Naturgeschichte«, S. 360. 18 T. W. Adorno: »Die Aktualität der Philosophie«, S. 340. 19 Damit ist ein Hinweis auf Lukács‹ gegeben, für den ebenfalls aus dem Einzelnen die Struktur der gesellschaftlichen Totalität abgeleitet werden kann. Vgl. G. Lukács: »Geschichte und Klassenbewußtsein«, S. 334f.
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ein metaphysisches Hinterreich anzunehmen.20 Andererseits scheint damit die Forderung realer Transzendenz, also gesellschaftlicher Veränderung, auf. So behauptet Adorno, dass »aus der Konstruktion der Figur des Wirklichen […] allemal prompt die Forderung nach ihrer realen Veränderung«21 folgt. Hieraus lässt sich auch Adornos spezifisches Verständnis des Materialismus ablesen: Anders als Horkheimer lässt Adorno die historische Praxis im Unklaren; ihm geht es, wenn er von Materialismus spricht, vor allem um eine Deutung, die ihren Ausgangspunkt in der sozialen und geschichtlichen Wirklichkeit nimmt und deutend über die ›bloße‹ Wirklichkeit hinaus verweist.22 Zwar wich der noch optimistische und fast schon programmatische Ton aus Adornos späteren Arbeiten; nichtsdestoweniger folgen diese aber den hier knapp skizzierten methodischen Überlegungen.23 Das Anliegen von Adornos Kritik war es stets, mit der »Konstruktion der Figur des Wirklichen«,24 wenn nicht so sehr schon seine Veränderung zu fordern, als überhaupt ihre normative Fragwürdigkeit vor Augen zu führen und damit die zur zweiten Natur geronnenen Weltbezüge der modernen Menschen zu durchkreuzen. Treibendes Motiv jener konstellatorischen Analyse ist das Leiden der Menschen: »Worin der Gedanke hinaus ist über das, woran er widerstehend sich bindet, ist seine Freiheit. Sie folgt dem Ausdrucksdrang des Subjekts. Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.« 25
Wenn nun Adorno davon spricht »Schlüssel zu konstruieren, vor denen die Wirklichkeit aufspringt«, so kann vermutet werden, dass es vor allem das Leiden an der heteronom sich verhärteten Gesellschaft ist, das dabei aufspringen soll. Die kritische Darstellung zielt daher einerseits darauf, jenes Leiden überhaupt erst intelligibel und als solches erkennbar werden zu lassen, andererseits aber auch in ihm die grundlegende Gesellschaftsdiagnose zum Ausdruck zu bringen.
20 Vgl. T. W. Adorno: »Die Idee der Naturgeschichte«, S. 359. Die Bedeutung der »zweiten Natur« in Adornos Denken wird von ihm ebenfalls früh – und mit Bezug auf Lukàcs wie auch Benjamin – betont. 21 T. W. Adorno: »Die Aktualität der Philosophie«, S. 338. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. A. Honneth: »Eine Physiognomie der kapitalistischen Lebensform«. 24 Adorno greift hiermit Max Webers Konzept des Idealtypus auf, vgl. ebd., S. 75f. 25 Adorno, Theodor W.: »Negative Dialektik«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 29.
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Adornos Überlegungen zur Psychologie fügen sich in dieses Projekt ein. Auch in ihnen versucht Adorno eine bestimmte Idee der Wirklichkeit zu rekonstruieren. Es erscheint daher nur auf den ersten Blick so, als ob die empirischen Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit, zur Manipulationstechnik demagogischer Radioprediger wie auch von Horoskopen, die Adorno in den 1940er Jahren durchführte, im Widerspruch zu seinen philosophischen Spätschriften stehen. Anders als in den Arbeiten von Fromm spielt Psychoanalyse darin weniger die Rolle eines diagnostischen Instruments. Mit ihr soll stattdessen auf der individualpsychologischen Ebene zentrale Prinzipien der modernen Vergesellschaftung zur Darstellung gebracht werden – in einzelnen Erscheinungen spiegelt sich hierbei stets die grundlegende Gesellschaftsdiagnose. Das Konkrete oder Besondere, von dem Adornos Analyse ausgeht, und das neben sozialpsychologischen Feststellungen auch Alltagsbeobachtungen26 oder soziologische Problemstellungen sein können, ist daher durch die grundlegende Gesellschafts- und Geschichtsdiagnose – das »Ganze« – geprägt. Gerade das drückt Adorno in mannigfachen Varianten stets auf das Neue aus. Der Gesellschaftsdiagnose zufolge habe sich das Identitätsprinzip, das sich etwa im kapitalistischen Tausch, aber auch der instrumentellen und kalkulierenden Rationalität zeigt, im Spätkapitalismus systematisch und allumfassend gesellschaftlich institutionalisiert. Die Menschen werden so zu Objekten in einer rational und planmäßig verwalteten Welt, die ihre spontanen Regungen und Bedürfnisse verkümmern lässt. Ihr Leiden und die konkrete Dynamik seiner Entstehung sind damit Ausdruck der totalisierten Heteronomie. Adornos Gesellschaftskritik zielt auf die Darstellung dieses Verdinglichungszusammenhangs; in diesem schwingen aber auch stets Andeutungen eines Nichtidentischen, Unpassenden und Noch-Nicht-Integrierten mit. Zwar vermeidet es Adorno, ausgehend hiervon eine klar umrissene normative Grundlage zu explizieren; doch ist für ihn klar, dass die Unterdrückung jenes Nichtidentischen, oder anders ausgedrückt: die totale Integration der Subjekte, das normativ relevante Leiden der Menschen darstellt. Der Begriff des Leidens bezeichnet daher nicht nur das Motiv der Kritik, sondern verbürgt auch, dass in den Subjekten ein Rest von Unangepasstheit übriggeblieben ist, der den subversiven Effekt der philosophischen Deutung ermöglicht. Das Verständnis des Leidens wird jedoch durch die grundsätzliche Diagnose der Verselbstständigung der instrumentellen Vernunft vorgegeben. Die sozialpsychologischen Untersuchungen Adornos, wie auch der Bezug auf Psychoanalyse explizieren dementsprechend lediglich die theoretische Pathologiediagnose – sie tragen aber wenig Substanzielles zu ihr bei. Der auf den ersten Blick unsystematische Zug von Adornos Theorie erschwert eine umfassende und erschöpfende Darstellung der Bezüge auf Psycho26 Vgl. T. W. Adorno: »Minima Moralia«.
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analyse und auf psychisches Leiden. Daher sollen hier vor allem wesentliche theoretische Positionen Adornos rekonstruiert werden, zwischen denen sich der Bezug auf soziale Ursachen von psychischem Leiden abspielt. Ausgangspunkt bilden zunächst die sozialpsychologischen Untersuchungen, die dann in einem zweiten Schritt in den Zusammenhang der Diagnose der verwalteten Welt gestellt werden (2.2). Diese wird dann in einem weiteren Abstraktionsschritt mit der geschichtstheoretisch getragenen Vernunftkritik verbunden, um so zu zeigen, dass Adorno trotz der radikalen Kritik weiterhin an einem geschichtsphilosophischen Erklärungsrahmen festhält (2.3). Da weder die gesellschaftliche Wirklichkeit, noch die aufgeklärte Vernunft einen Ansatzpunkt bieten, um eine normativ gehaltvolle Gesellschaftskritik zu entfalten, ist Adorno gezwungen, sich in seiner Kritik auf einen negativen Standpunkt zurückzuziehen. Im letzten Abschnitt, wird gezeigt, dass dies notwendig zu einem Bruch mit der sozialen Wirklichkeit führt. Adornos eigenwilliges Beharren auf Versöhnung verdeutlicht hier, dass er an der Idee der Verwirklichung der normativen Potenziale der menschlichen Lebensform festhält, diese aber nur noch gegen die Geschichte, nämlich als Erlösungsvorstellung denken kann. Adorno zeigt zwar wie kein zweiter die Grenzen von modernen Aufklärungstheorien, die die westliche Geschichte als eine zunehmende Verwirklichung eines normativen Vernunftprinzips lesen. Aber er kommt dennoch nicht umhin, psychisches Leiden an Gesellschaft lediglich abstrakt aus dem Scheitern jener Vernunftverwirklichung zu erklären: Soziales Leiden ist für ihn Leiden an einer Gesellschaft, aus der die Möglichkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung gewichen ist. Es steht daher auch für ihn unter der allgemeinen, theoretisch begründeten Diagnose und bleibt in seiner Eigendynamik unterbelichtet.
2.2 DIE GESELLSCHAFTSDIAGNOSE: SUBJEKTIVE OHNMACHT UND VERWALTETE WELT Die subjektive Seite der Pathologiediagnose: Ohnmacht, Stereotypie und autoritäre Kompensation Schon die Arbeiten, die Erich Fromm am Institut für Sozialforschung begann, entwarfen die psychische Struktur der Menschen vor allem in Hinblick auf ihre objektive Position innerhalb der Gesellschaft. Zwar war für den weiteren Verlauf der Studien noch die Konstruktion und Untersuchung eines non-konformen Charaktertyps geplant; aber dies konnte aufgrund der Emigration und dem Ausscheiden Fromms aus dem Institut sowie der konzeptuellen Schwierigkeiten nicht mehr bewerkstelligt werden. Welche theoretischen Defizite das Charakterkonzept
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zum damaligen Zeitpunkt aber auch hatte, die politischen Veränderungen schienen der Fixierung auf Anpassung Recht zu geben. Dies spiegelte sich zu der Zeit, als Adorno seinen Beitrag zu den Studies in Prejudice erarbeitete, schon in der veränderten gesellschaftlichen Standortbestimmung der Kritischen Theorie sowie in der radikalisierten Modernisierungskritik, der zufolge die totale Anpassung an das Bestehende nahezu unvermeidlich geworden war. Daher ist es wahrscheinlich, dass außertheoretische Gründe letztlich den Anstoß für die Untersuchungen gegeben haben – denn eine weitere Erforschung der psychischen Strukturen versprach unter den Voraussetzungen keinen substanziellen Erkenntnisgewinn. 27 Dennoch erhellen die sozialpsychologischen Schriften von Adorno die psychologische Seite seiner Gesellschaftsdiagnose, die sonst aus eher vereinzelten Bemerkungen hätte rekonstruiert werden müssen. Darüber hinaus werfen sie auch ein Licht auf die weiterentwickelte Position, mit der Adorno und seine Kolleg*innen nun die Anpassung an das Bestehende erklärten: Sie erfolge nicht mehr allein aus Angst vor Strafe durch Autoritäten, sondern auch infolge der Gefühle der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit sowie einem grundlegenden Erfahrungs- und Beziehungsverlust, mit denen die »verwaltete Welt« die modernen Menschen schlägt. The Authoritarian Personality ist – wie auch schon Fromms Studien und andere von Adorno durchgeführte – dabei von der Auffassung getragen, dass die Ausprägung von Weltbildern und -anschauungen von tieferliegenden psychischen Faktoren mitbestimmt wird, die als Persönlichkeit oder Charakter ein zusammenhängendes und weitgehend stabiles, wenn auch nicht widerspruchsfreies Muster bilden. Wie schon bei Fromm wird die Bereitschaft, bestimmte Ansichten zu akzeptieren oder zu vertreten, so in Zusammenhang mit psychischen Bedürfnissen und Wünschen gebracht – hinter den politischen Meinungsäußerungen liegt gleichsam eine verborgene Struktur, die die Befriedigung bestimmt, die Menschen aus jenen ziehen. Die Forschungsgruppe um Adorno – außer ihm umfasste sie Else Frenkel-Brunswik, Daniel Levinson und Nevitt Sanford – entwirft aber ein nuancierteres Modell als Fromm, das es erlaubt, zwischen der aktuellen Einstellung und der zugrundeliegenden Persönlichkeitsstruktur zu differenzieren. Der Charakter stellt demnach bloß eine Disposition dar, also die Bereitschaft gewisse Anschauungen zu übernehmen wie auch den Grad der Bindung an sie, oder wie
27 Horkheimer versuchte mit dem Forschungsprojekt die schwierige finanzielle Lage einerseits des Instituts, andererseits seiner Mitglieder zu bessern. Vgl. Jay, Martin: The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923-1950, Los Angeles: University of California Press 1996, S. 220.
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Adorno es ausdrückt: »The forces of personality are not responses but readinesses for response«28. Insofern ist die konkret vertretene politische Haltung vielfältigen sozialen Einflüssen ausgesetzt – etwa der politischen Einstellung des sozialen Umfelds oder politischen Konjunkturen allgemein. Die geäußerte Meinung ist psychisch gesehen eher ein Oberflächenphänomen und weitaus wandelbarer als die Persönlichkeitsstruktur. Sie lässt so nur bedingt Rückschlüsse darauf zu, wie sich die Personen angesichts sozialstruktureller und politischer Veränderungen – etwa erstarkender antidemokratischer Bewegungen – positionieren würden. In den Worten von Adorno und Horkheimer ausgedrückt: »dafür, ob einer dazu neigt, schwächere Gruppen zu verfolgen, und auf die entsprechende Haßpropaganda anspricht, ist es viel entscheidender, ob er ein Mensch von bestimmter Charakterstruktur ist, als ob etwa seine Ansichten konservativ und im üblichen Sinn ›reaktionär‹ sind.«29 Entscheidend für das politische Handeln ist also weniger die Zugehörigkeit zu einer politischen Gruppierung, sondern die Bedürfnisse, die mit der Zugehörigkeit individuell befriedigt werden. Die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei schließt somit nicht aus, dass die betreffende Person zu einem hierarchischen Gesellschaftsmodell neigt und Genugtuung dabei empfindet ›Abweichler*innen‹ zu verfolgen. Damit ist auch das Erkenntnisinteresse der sozialpsychologischen Untersuchungen von Adorno umrissen: Welche psychischen Merkmale bringen Menschen dazu, eine repressive und antidemokratische Politik zu unterstützen; was sind »die unbewußten seelischen Bedingungen […], unter denen Massen für eine Politik gewonnen werden können, die ihren eigenen vernünftigen Interessen entgegengesetzt ist«30? Das Ziel der Untersuchungen lag daher weniger darin, den theoretischen Ansatz zu überprüfen und weiterzuentwickeln, oder gar soziale Ursachen für psychische Leidenserfahrungen zu finden, sondern es sollte der mögliche Erfolg faschistischer Bewegungen in den USA abgeschätzt werden, um so etwaige Gegenmaßnahmen seitens der demokratischen Öffentlichkeit in die Wege zu leiten.31 28 Adorno, Theodor W.: »Studies in the Authoritarian Personality«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften II.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 144-509, hier S. 154. 29 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: »Vorurteil und Charakter«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften II.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 360-373, hier S. 365. 30 Ebd., S. 361. 31 Die Wendung auf die praktische Anwendbarkeit scheint dem Ansinnen des Sponsors der Studie, dem American Jewish Commitee, geschuldet zu sein, aus den Ergebnissen
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Ausgehend hiervon wurden in der umfangreichen Studie, in deren Verlauf 2099 Fragebögen32 ausgewertet und 150 Menschen interviewt 33 wurden, verschiedene Charaktertypen entworfen, die für antidemokratische Propaganda anfällig sind. 34 Die Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden ergibt sich aus dem Anliegen, hinter dem oberflächlichen Meinungsbild die bestimmenden Persönlichkeitszüge zu rekonstruieren, wobei gleichzeitig ein hohes Maß an Generalisierbarkeit gewahrt werden sollte.35 Deutlich zeigt sich die Absicht, auf unbewusste Faktoren der Persönlichkeit zurück zu kommen, in den qualitativen Interviews, die sich Techniken bedienten, die aus der psychoanalytischen Behandlung stammen.36 Aber jene Absicht schlägt sich auch im Fragebogen und der Art und Weise, wie Charaktersyndrome konstruiert werden, nieder. Diese versuchen ganz ähnlich wie ursprünglich auch Fromm in den Studien über Autorität und Familie ein zugrunde liegendes Muster der Persönlichkeit zu reproduzieren; und zwar so, dass einzelne Items durchaus als Indikatoren für einen bestimmten Persönlichkeitstypus stehen können, aber ihre Bedeutung sich erst im Zusammenhang mit anderen Items ergibt.37 In dem Versuch systematische Muster – gleichsam Ideen – in der Meinungsäußerung zu rekonstruieren, lässt sich einerseits Adornos konstellatorisches Denken wiederentdecken.38 Damit ist andererseits auch der Einfluss der theoretischen Vorüberzeugungen auf die Bildung der F-Skala, die faschistische Persönlichkeitsmuster abbilden sollte, angezeigt: »the interpretation of the material of the present study was guided by a theoretical orientation that was present at the start. The same orientation played the most crucial Schlussfolgerungen für die politische Arbeit zu ziehen. Sie steht in einem paradoxen Verhältnis zu den Grundannahmen der Studie selbst, nämlich dass die Persönlichkeitsstruktur ein recht stabiles Gebilde sei und zudem zu Adornos anderen Arbeiten, in denen ein Bewusstseinswandel, wie er hier ins Auge gefasst wird, unmöglich erscheint. Die erzieherischen Prozesse, die von Adorno und Horkheimer angesprochen werden, scheinen angesichts der Diagnose der »verwalteten Welt« kaum vorstellbar zu sein. Noch weniger überzeugt der Vorschlag, mithilfe von Broschüren und Rundfunkbeiträgen aufzuklären. Dennoch soll die Studie helfen, auf diesem Weg faschistischer Propaganda den Boden zu entziehen. Vgl. ebd., S. 364, S. 373. 32 Vgl. T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 177. 33 Vgl. ebd., S. 184. 34 Diese lauteten: conventional type, authoritarian type, rebel/psychopath, crank und manipulative type. Vgl. ebd., S. 471ff. 35 Vgl. ebd., S. 163f. 36 Vgl. T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Vorurteil und Charakter«, S. 367. 37 Vgl. T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 211f. 38 Vgl. S. Buck-Morss: The Origin of Negative Dialectics, S. 181f.
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role in the preparation of the F scale.«39 Die Struktur der F-Skala40 verweist daher wenig überraschend auf Annahmen, die bereits in den Studien über Autorität und Familie als Merkmale der autoritärer Persönlichkeiten formuliert wurden, verbindet diese aber mit Überlegungen, die vor allem in der Dialektik der Aufklärung ausgeführt werden. Parallelen lassen sich auch zu Adornos anderen sozialpsychologisch zu nennenden Arbeiten ziehen, in denen einige der Hauptcharakteristika am konkreten Material – etwa an Radiopredigten von Martin Luther Thomas – entfaltet werden. Adorno legt in The Authoritarian Personality keine systematische Erklärung für die Herausbildung der Charakterstrukturen dar, gibt aber zu erkennen, dass er weiterhin annimmt, dass die entscheidende Prägung in der familiären Sozialisation geschieht: »According to the present theory, the effects of environmental forces in moulding the personality are, in general, the more profound the earlier in the life history of the individual they are brought to bear. The major influences upon personality development arise in the course of child training as carried forward in a setting of family life. What happens here is profoundly influenced by economic and social factors.«41
Die Familie fungiert auch hier als Vermittlerin zwischen Individuum und sozialer Wirklichkeit; aber anders als in den sozialpsychologischen Schriften von Fromm geht Adorno nicht von einer funktionalen Entsprechung von Klassenlage und Charakterstruktur aus.42 Stattdessen legt die Arbeit nahe, dass die sozioökonomischen Faktoren, die die Persönlichkeitsentwicklung mittelbar beeinflussen, keinen klassenspezifischen Charakter haben, sondern auf Merkmale der Gesellschaft als Ganze zurückgehen. Die Ohnmacht gegen einen autoritären Vater und der Zwang zur Triebunterdrückung infolge der prekären Lebenssituation, die Fromm noch in den Studien über Autorität und Familie als Ursachen für eine autoritäre Charakterstruktur vermutete, scheinen für Adorno nun direkter aus der modernen Gesellschaftsstruktur zu resultieren.43 An dem Umstand, dass die Charakterstruk39 T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 190. 40 Die thematischen Blöcke bestehen aus: Convenionalism, Authoritarian Submission, Authoritarian Aggression, Anti-Intraception, Superstition and Sterotypy, Power and ›toughness‹, Destructiveness and Cynicism, Projectivity, Sex. Vgl. ebd., S. 194. 41 Ebd., S. 155. 42 Vgl. ebd., S. 158. 43 Im Umfeld des Instituts für Sozialforschung wurde schließlich zunehmend die Ansicht vertreten, dass die klassische patriarchale Autorität der bürgerlichen Kleinfamilie infolge sozialstruktureller Veränderungen erodiert sei. Sie beruhte unter anderem näm-
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tur nicht mehr mit der Klassenlage erklärt wird, lässt sich der Bedeutungsverlust des historischen Materialismus, der sich auch in anderen Arbeiten des Instituts zeigt, nachvollziehen. Adorno teilt jedoch weiterhin den Befund, dass sich aufgrund der empfundenen Ohnmacht und Abhängigkeit kein starkes, zu rationaler Selbstbestimmung fähiges Ich herausbilde; Adorno greift hier vor allem auf Fromms Arbeit Zum Gefühl der Ohnmacht44 zurück, die die Lebenssituation in der amerikanischen Gesellschaft der 1930er und 1940er Jahre angemessener darstellt als die noch sehr europäischen Studien über Autorität und Familie. In den Beiträgen der anderen Autoren, besonders in denen von Else FrenkelBrunswik, lässt sich genauer nachvollziehen, mit welchen Sozialisationsbedingungen jene charakterlichen Grundtendenzen assoziiert sind. 45 Wie bereits zuvor in den Studien zu Autorität und Familie wird davon ausgegangen, dass eine autoritäre Persönlichkeitsstruktur durch eine autoritäre Erziehung hervorgebracht wird.46 In The Authoritarian Personality gewinnt jedoch noch ein weiteres Merkmal an Bedeutung: Die untersuchten Personen berichteten zugleich von einem desinteressierten, kühlen und eher ›geschäftsmäßigem‹ Verhältnis zu ihren Eltern. Die teilnahmslose Haltung der Eltern gegenüber den Regungen des Kindes sorgt dafür, dass dieses lediglich eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung ausbildet – es erlebt die Welt als gleichsam losgelöst, kalt und unbeeinflussbar, bleibt aber nichtsdestoweniger von dieser abhängig. Das verstärkt nicht nur den Eindruck der Willkür, den die elterlichen Erziehungsmaßnahmen bei den Kindern hervorrufen müssen. Es verleiht den Werten und Orientierungen, die die Eltern vorleben, zudem einen rein äußerlichen und konventionellen Charakter. Jene Orientierungen werden als etwas erlebt, dem es sich unterzuordnen gilt; sie erhalten so jedoch keinen lebhaften Sinn. Das geringe Selbstwirksamkeitsgefühl korreslich darauf, dass der Vater eine gesellschaftlich respektierte Position einnahm und das Einkommen der Familie sicherte. Infolge wirtschaftlicher Krisen und der Entwicklung zum »Monopolkapitalismus« hin, findet sich diese Situation immer weniger, so die These. Insbesondere das Kleinbürgertum habe hierunter stark gelitten. Die Autorität der Väter ist folglich nicht mehr von einer Autorität im sozialen Gefüge begleitet, sondern beruht nunmehr allein auf der physischen Überlegenheit gegenüber dem Kind, sie wird damit kompensatorisch und tyrannisch; sie ist weniger ein Ausdruck der väterlichen Autorität als der Schwäche des Kindes – was dieses auch so erfährt. Vgl. Horkheimer, Max: »Autorität und Familie in der Gegenwart«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M.: Fischer 1987, S. 377-395. 44 Vgl. E. Fromm: »Zum Gefühl der Ohnmacht«. 45 Vgl. Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. N.: The Authoritarian Personality, New York: Harper and Brothers 1950, S. 337-389. 46 Vgl. auch T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Vorurteil und Charakter«, S. 369.
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pondiert mit der Schwäche des Ichs, die Adorno hinter den beschriebenen Charakterstrukturen vermutet.47 Die äußerliche Unterordnung unter konventionelle Wertvorstellungen entspricht hingegen einem unterentwickelten, das heißt nur zu Teilen verinnerlichten Über-Ich.48 Was gut und was schlecht ist, kann daher nur in Anlehnung an äußere Autoritäten beurteilt werden – das können klassische Autoritätsfiguren sein, aber es kann sich auch um eine dominante soziale Gruppe handeln. Das konventionelle moralische Bewusstsein nähert sich damit dem sozialdarwinistischen Prinzip an, dass das gut und gerechtfertigt ist, was die Macht innehat. In anderen Worten neigen autoritäre Persönlichkeiten zur Angleichung an das, was faktisch gilt und sind nicht in der Lage, die ideelle Geltung von Normen und Verhaltenserwartung abzuschätzen. »There is some reason to believe that a failure in superego internalization is due to weakness in the ego, to its inability to perform the necessary synthesis, i.e., to integrate the superego with itself. Whether or not this is so, ego weakness would seem to be a concomitant of conventionalism and authoritarianism. Weakness in the ego is expressed in the inability to build up a consistent and enduring set of moral values within the personality; and it is this state of affairs, apparently, that makes it necessary for the individual to seek some organizing and coordinating agency outside of himself. Where such outside agencies are depended upon for moral decisions one may say that the conscience is externalized.«49
Zugleich lauern hinter diesem Firnis konventioneller Lebensführung eine tief empfundene Ohnmacht und Frustration über die Vernachlässigung seitens der Eltern. Die autoritäre Person lebt daher in ständiger Angst, von ihren Trieben und besonders der unterdrückten Aggression überwältigt zu werden. Daraus ergibt sich eine Abneigung gegen Introspektion und Reflexion: Der autoritäre Typ »sperrt sich gegen jegliche Selbstbestimmung, die seine falsche Sicherheit gefährden könnte, und verachtet alle eigentlich subjektiven Kräfte: die geistige Regung, die Phantasie.«50 Der inneren Anspannung wird sich einerseits durch Abreaktion an Schwächeren entledigt; andererseits erfordert sie aber eine starke innere
47 Diese Überlegung spielte auch schon in den Studien über Autorität und Familie eine bestimmende Rolle, wurde dort aber noch nicht so explizit mit einem Ohnmachtsgefühl assoziiert. 48 Vgl. T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 201f; vgl. auch E. Fromm: »Zum Gefühl der Ohnmacht«, S. 113; vgl. ebenfalls E. Fromm: Die Furcht vor der Freiheit. 49 T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 201f. 50 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Vorurteil und Charakter«, S. 368.
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Kontrolle, wie sie etwa in Freuds Konzept des Analcharakters beschrieben ist und die besonders die extremen Typen autoritärer Persönlichkeiten auszeichnet.51 Das von Stereotypie, Ohnmachtsgefühlen und unterschwelliger Aggression geprägte psychische Milieu macht also die »readiness for response« auf faschistische Propaganda aus, von der Adorno sprach. Deutlich lässt sich das an der psychischen Funktion des antijüdischen Vorurteils nachvollziehen, wie sie von Adorno geschildert wird. In der paranoiden Behauptung einer jüdischen Verschwörung findet die Ohnmachtsempfindung nämlich ihr logisches Gegenstück: Die fantasierte Allmacht der Juden korrespondiert mit der subjektiv empfundenen Machtlosigkeit. Das antisemitische Bild des ›Juden‹ besteht gewissermaßen in einem psychologischen Kurzschluss, durch den gerade jene Eigenschaften, die in der Fantasie der antisemitisch eingestellten Personen eine wesentliche Rolle spielen, einerseits Juden zugeschrieben werden – so etwa ein aggressiver Größenwahn, um ein Minderwertigkeitsgefühl abzuwehren. Andererseits ermöglicht diese Zuschreibung es nun, in ›Notwehr‹ gerade jene unbewusste Frustration auszuleben. In der Dialektik der Aufklärung heißt es dazu: »Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die Übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des Über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr.«52
Die tief empfundene Ohnmacht und unterdrückte Aggression, die auf dem Grund der paranoiden Verschwörungstheorien liegen, rühren somit aus der gegen die eigenen Bedürfnisse indifferenten Lebenswirklichkeit her. Auch dem kommt das antisemitische Vorurteil entgegen. Denn es erlaubt es nicht nur, die unterdrückte Aggression zu kanalisieren und auf eine vermeintliche »out-group« abzuleiten. Es bietet zugleich auch eine Orientierungsfunktion in der potentiell überfordernden und undurchdringlichen Wirklichkeit. Vorurteile und Stereotype ermöglichen, so Adorno, eine Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die deren Komplexität auf ein handliches Maß reduziert und somit ein Gefühl der Selbstermächtigung gibt: 51 T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 208f. 52 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 217
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»The objectification of social processes, their obedience to intrinsic supra-individual laws, seems to result in an intellectual alienation of the individual from society. This alienation is experienced by the individual as disorientation, with concomitant fear and uncertainty. […] Charging the Jews with all existing evils seems to penetrate the darkness of reality like a searchlight and to allow for quick and all-compromising orientation.«53
Die letzten Bemerkungen machen deutlich, dass die Charakterstruktur für Adorno nicht allein die Züge der Familienstruktur, sondern auch der Gesellschaft trägt. Wie im obigen Zitat wird die Schilderung der psychologischen Merkmale von ihm daher oft mit einer zeitdiagnostischen Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen verbunden. Die erfahrene Ohnmacht und ihre Kompensation in projizierten Allmachts- und Aggressionsphantasien korrespondieren mit einem gesellschaftlichen Zustand, in dem weder Raum für die Entfaltung der subjektiven Regungen besteht, noch die Realität selbst als solche versteh- und gestaltbar ist. In dieser Feststellung zeichnet sich Adornos Methode ab, aus Konstellationen von Einzelphänomen ein Bild des Ganzen zu extrapolieren. In der autoritären Persönlichkeit spiegeln sich, in anderen Worten, die Züge autoritärer Gesellschaftsordnungen, aber auch der verwalteten Welt: »The extremely prejudiced person tends toward ›psychological totalitarianism‹, something which seems to be almost a microcosmic image of the totalitarian state at which he aims. Nothing can be left untouched, as it were; everything must be made ›equal‹ to the ego-ideal of a rigidly conceived and hypostatized ingroup.«54
Zwanghafter Konformismus und stereotypes Denken weisen über die Diagnose der verwalteten Welt hinaus noch auf die grundsätzliche Vernunftpathologie hin. Auch in dieser sind die Abtrennung von einem lebendigen Verhältnis zur Welt und ein verknöchertes Identitätsdenken thematisch, durch das Anderes, Neues oder überhaupt Nichtidentisches ausgeschlossen wird.55 Das Denken in feststehenden Kategorien erschwert auf diese Weise nicht nur selbstständiges und spontanes Urteilen, sondern macht letztlich unfähig zu lebendiger Erfahrung, da diese wesentlich die Erfahrung von etwas Neuem oder Anderem ist. 56 Dieser Defekt 53 T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 284 54 Ebd., S. 302. 55 Das antisemitische Stereotyp erhellt sich so als die ausgeschlossene Erfahrung des Nichtidentischen, die vehement und immer wieder ausgeschlossen werden muss; zugleich werden Juden für eben jenen zwanghaften Ausschluss – das Unbehagen – verantwortlich gemacht wird. Vgl. ebd., S. 302f. 56 Vgl. T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Vorurteil und Charakter«, S. 369.
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äußert sich weniger als Störung objektiver Erkenntnis oder im Sinne eines Realitätsverlusts, sondern als Verdinglichung des Selbst- und Weltverhältnisses. Die Folgen, die das – abgesehen von einem tiefliegenden Entfremdungsgefühl – vor allem für die ethische Orientierung der Menschen hat, zeigen sich am deutlichsten im »Manipulative Type«, der laut Adorno für führende Nationalsozialisten kennzeichnend war. Aber in unterschiedlicher Ausprägung trifft dies auch auf die meisten anderen Charaktertypen zu, die Adorno konstruiert. 57 Die rigide Charakterstruktur ist die psychologische Seite, die verwaltete Welt die gesellschaftlichinstitutionelle Seite dieser Vernunftpathologie. In den sozialpsychologischen Arbeiten entfaltet Adorno anschaulicher als anderswo die subjektive Seite der mitunter sehr abstrakten Pathologiediagnose, wie sie etwa in der Dialektik der Aufklärung zu finden ist. So erhellen sich einige der sonst eher allgemein gehaltenen Beschreibungen oder lediglich en passant angeführten Bemerkungen zu den Erscheinungsformen und Ursachen des sozialen Leidens. Überdies kann der mithilfe psychoanalytischer Konzepte ausgearbeitete Typus der autoritären Persönlichkeit als die Konzeptualisierung einer bestimmten Form spätkapitalistischer Vergesellschaftung gelten. In ihm zeigen sich daher jene Aporien, die in analoger Weise auch an der Aufklärung als solcher nachvollziehbar sind, wie Horkheimer im Geleitwort zur Authoritarian Personality schreibt: »The central theme of the work is a relatively new concept – the rise of an ›anthropological‹ species we call the authoritarian type of man. In contrast to the bigot of the older style he seems to combine the ideas and skills which are typical of a highly industrialized society with irrational or anti-rational beliefs. He is at the same time enlightened and superstitious, proud to be an individualist and in constant fear of not being like all the others, jealous of his independence and inclined to submit blindly to power and authority. […] This book approaches the problem with the means of socio-psychological research.«58
Die Fassung des autoritären Charaktertyps als »anthropologische Spezies« deutet darauf hin, dass dieser – und mit ihm der moderne Antisemitismus – in letzter Konsequenz einem einseitigen Modernisierungsprozess entspringt. Er illustriert, dass all die technischen Errungenschaften, die »skills« der modernen Menschen, ihr Streben nach Selbstbestimmung und Individualität auf halber Strecke stehen geblieben zu sein scheinen; ihr Streben ist über Selbsterhaltung nicht hinausgekommen. Die darüber empfundene Ambivalenz ist es nun auch, die die pathische 57 Vgl. T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 466f. 58 T. W. Adorno/E. Frenkel-Brunswik/D. J. Levinson/R. N. Sanford: The Authoritarian Personality S. IX.
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Projektion des Antisemitismus motiviert. Horkheimer gibt so zu erkennen, dass das Problem, obwohl es hier mit sozialpsychologischen Mitteln untersucht wird, kein sozialpsychologisches ist. Auch Adornos Neigung, sozialpsychologische Beobachtungen recht unvermittelt mit gesellschaftsdiagnostischen Befunden zu erklären, weist darauf hin, dass es um primär um die Darstellung einer geschichts- und gesellschaftstheoretischen Problemstellung geht. Diese wird in den sozialpsychologischen Phänomenen und mitunter auch in Alltagsbeobachtungen anschaulich zur Erscheinung gebracht; besonders die Auswertungen der Einzelfälle zeichnen ein greifbares Bild der theoretischen Postulate. Da die Deutung der Befunde aber wesentlich durch die gesellschaftsdiagnostischen Annahmen vorgeprägt ist, gleitet sie oftmals über die kontextuellen und situativen Eigenheiten der Fälle hinweg. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das betrachtete Individuum unmittelbar durch die Gesellschaft bestimmt ist, dass also soziales und psychisches auf gesellschaftliches reduziert werden kann. Da, in anderen Worten, die sozialpsychologischen Arbeiten vorwiegend einen Vergesellschaftungstyp nachzeichnen, bleibt die normative Struktur der Fälle und die entsprechenden sozialen Vermittlungsglieder weitgehend unklar. Und damit bleibt ebenso im Dunklen, wie das spezifische Leiden an Gesellschaft im Einzelfall sich ausprägt. Das war, so kann eingewendet werden, nicht das Ziel der Studien. Dem ist zwar zuzustimmen, aber was für die frühen sozialpsychologischen Arbeiten von Fromm galt, gilt daher ebenso für The Authoritarian Personality: Die Studien eignen sich nur bedingt, um individualpsychologische Aspekte des Lebens und Leidens in modernen, kapitalistischen Gesellschaften nachzuzeichnen. Das wird mit Blick auf die gesellschafts- und vernunfttheoretischen Aspekte der Pathologiediagnose deutlicher werden. Die gesellschaftliche Seite der Pathologiediagnose: Verwaltete Welt Die geschilderten Phänomene der subjektiven Ohnmacht, der Entfremdung und der Beziehungslosigkeit gehen nach Adorno zwar auf Erfahrungen während der Kindheit, vor allem in der Interaktion mit den Eltern zurück. 59 Aber Adornos Be-
59 »The major influences upon personality development arise in the course of child training as carried forward in a setting of family life. What happens here is profoundly influenced by economic and social factors. It is not only that each family in trying to rear its children proceeds according to the ways of the social, ethnic, and religious groups in which it has membership, but crude economic factors affect directly the parents’ be-
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schreibungen zielen weniger auf die milieutypische Familiensituation, sondern auf die allgemeinen Bedingungen, unter denen die menschliche Vergesellschaftung in modernen Staaten überhaupt vonstattengeht. Die charakterliche Bereitschaft auf faschistische Demagogie anzuspringen, resultiert damit bereits aus der Gesellschaftsordnung selbst; es ist ein dysfunktionaler Versuch mit einer verhärteten Wirklichkeit umzugehen. Daher sind die Verbindungen, die Adorno zwischen subjektivem Erleben und Sozialstruktur zieht, oft sehr globaler Art – Gefühle der Ohnmacht und Bedrohung werden von Adorno nicht selten direkt mit der Gesellschaftsdiagnose der verwalteten Welt begründet: »The system thus characterized, the ›verwaltete Welt‹, has a threatening aspect per se. In order to do full justice to such needs as the one satisfied by astrology, one has to be aware of the ever-threatening impact of society. The feeling of being ›caught‹, the impossibility for most people to regard themselves by any stretch of imagination as the masters of their own fate, is only one of the elements of this threat. Another one, more deep-lying both psychologically and sociologically, is that our social system, in spite of its closedness and the ingenuity of its technological functioning, seems actually to move towards selfdestruction.«60
Grundsätzlich bezeichnet das Konzept der verwalteten Welt die Ausdehnung von bürokratischen Planungs- und Rationalitätsdispositiven, die ihren Ausgangspunkt zunächst in einem Prozess wirtschaftlicher und administrativer Rationalisierung nahmen, aber nach und nach sämtliche Lebensbereiche durchdrungen haben. Obwohl die These der verwalteten Welt einen zentralen Stellenwert in Adornos Gesellschaftstheorie einnimmt, lieferte er keine zusammenhängende Formulierung, die die verschiedenen Aspekte systematisch entwickelt. Aus den vielfältigen Variationen, die Adorno in seinen verschiedenen Texten dem Konzept gibt, wird aber deutlich, dass er hier eine auf Weber zurückgehende und von Lukács beeinflusste Rationalitäts- und Verdinglichungstheorie mit staats- und kulturtheoretischen Überlegungen verbindet, die er zusammen mit Horkheimer entwickelt. Hinter der Kombination der verschiedenen theoretischen Konzepte steht außerdem die bereits mehrfach erwähnte Vernunftkritik, der zufolge die historische Entwicklung sich in ihren Grundzügen bereits aus der verhängnisvollen Anlage der westlichen Vernunft selbst ergibt. havior toward the child.« (T. W. Adorno: »Studies in the Authoritarian Personality«, S. 155). 60 Adorno, Theodor W.: »Stars down to Earth«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften II.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 4-120, hier S. 110
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Der konzeptionelle Ausgangspunkt für die Gesellschaftsdiagnose liegt in einer bestimmten Interpretation der Weber’schen Rationalisierungstheorie. Weber beschreibt die Moderne vor allem als einen Prozess, in dem ein spezifischer Rationalitätstypus – die Zweckrationalität61 – gesellschaftlich zum Durchbruch gekommen ist und immer mehr Lebensbereiche durchdringt. Weber betrachtet hier aber vor allem die Rationalisierung des staatlichen und wirtschaftlichen Handelns sowie die Herausbildung des formalen Rechts, die jene notwendig begleitet – hier lässt sich Rationalisierung auch als Verbreitung rationaler Verwaltung beschreiben. Adornos Rede von der verwalteten Welt bezieht sich überwiegend auf diese Aspekte der Weber’schen Modernisierungstheorie – zugleich deuten aber die sozialpsychologischen Arbeiten noch auf eine weitere Erscheinungsform des okzidentalen Rationalismus hin: auf die protestantische Ethik. Auf die verdinglichte, genuss- und triebfeindliche sowie potentiell autoritäre Struktur der kapitalistischen Wirtschaftsweise haben vor Adorno besonders Fromm 62 und Marcuse63 hingewiesen. Der Terminus der verwalteten Welt hebt dagegen weniger auf kulturelle als auf institutionelle Strukturen ab. Weber zufolge institutionalisiert sich die sachliche, zweckrationale Handlungsorientierung am reinsten in der Bürokratie – in staatlichen Behörden und wirtschaftlichen Betrieben. Die Durchsetzung der Bürokratie wird hier vor allem durch die Komplexitätssteigerung in modernen Gesellschaften vorangetrieben – bedingt durch die kapitalistische Wirtschaftsform –, die eine effiziente Organisation erfordert.64 Die Pathologiediagnose Adornos, aber auch Webers eigene ambivalente Haltung zur Bürokratie knüpfen dabei an einer Eigenheit der »technischen Überlegenheit«65 bürokratischer Verwaltung gegenüber traditionelleren Organisationsformen an: an der Sachlichkeit beziehungsweise am Formalismus der bürokratischen Verfahren. Die Effizienz der Verwaltung hängt schließlich an ihrer formalen Verfahrenstechnik, die sie gleichgültig gegen ihre gesellschaftliche Zweckbestimmung macht. Bürokratie folgt somit einer formellen Eigenlogik und sieht von den Zielen, denen sie dient, ab.66 Hier zeigt sich Webers eigenwillige Verengung des Rationalitätsbegriffs al-
61 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen: Mohr 1985, S.13. 62 Vgl. E. Fromm: »Die psychoanalytische Charakterologie und ihre Bedeutung für die Sozialpsychologie«. 63 Vgl. Marcuse, Herbert: »Studie über Autorität und Familie«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 85-185, hier S. 85. 64 Vgl. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 561f. 65 Ebd. 66 Vgl. ebd., S. 570.
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lein auf die rationale Wahl der Mittel, bei der vom Zweck, der »materiellen« oder ethischen Bestimmung, des Handelns abgesehen wird.67 »Gerade an der SS aber läßt sich erkennen«, so wendet Adorno ein, »wie sehr der von Weber unterstellte formale Rationalitätsbegriff, beschränkt auf die Zweck-Mittel-Relation, das Urteil über die Rationalität der Zwecke selbst behindert; in Webers eigener Rationalitätstheorie mag man den Niederschlag von Verwaltungsdenken argwöhnen.«68
Weber selbst aber sah die Gefahr der Bürokratie weniger in dem Einsatz etwa für die planmäßige und ›rationale‹ Vernichtung von Menschen, wie im Nationalsozialismus, sondern eher in ihrer Verselbstständigung und Ausweitung – ihrer »Unentrinnbarkeit«.69 Weber hat hier buchstäblich die totale Integration der Menschen in einen bürokratischen Herrschaftsapparat vor Augen, 70 gegen die er lediglich an die Eingrenzung der Verwaltungskomplexe durch demokratische Parlamente appellieren konnte.71 Seine Charakterisierung des »Boss«72 als politischer Figur nimmt aber schon die später von Horkheimer und Adorno behauptete Verschmelzung politischer und wirtschaftlicher Eliten zu Rackets oder Machtcliquen vorweg, mit der gerade jene politische Kontrollfunktion ausgehebelt wird. Adorno betrachtet den Prozess der Bürokratisierung jedoch nicht nur auf der Ebene der verwaltungstechnischen Durchgestaltung gesellschaftlicher Institutionen, sondern zugleich als einen Vorgang, der auch das Bewusstsein der Menschen prägt. Hier kann er einerseits an die Überlegungen Webers zur asketischen und disziplinierten Lebensführung der protestantischen Ethik anknüpfen; prägender ist aber andererseits die von Lukács formulierte Verdinglichungsthese. Lukács verknüpft dabei die Weber’sche Theorie gesellschaftlicher Rationalisierung mit der These des Warenfetischs von Marx und behauptet, dass die rationale Zergliederung, Planung und Kalkulation des Arbeitsprozesses den Arbeitenden lediglich ein verdinglichtes Bewusstsein zurückspiegelt, durch das sie sich und ihre Eigenschaften tatsächlich als die Ware Arbeitskraft verstehen, als die sie in den rational geplanten Arbeitsprozess einbezogen werden. Die Arbeiter*innen 67 Weber bringt daher auch wiederholt die Sachlichkeit der Bürokratie in Gegensatz zum »Ethos«. Vgl. ebd., S. 565. 68 Adorno, Theodor W.: »Kultur und Verwaltung«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 122145, hier S. 124. 69 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 834f. 70 Vgl. ebd., S. 835f. 71 Vgl. ebd., S. 854. 72 Ebd., S. 846f.
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entwickeln so ein teilnahmsloses, lediglich beobachtendes Verhältnis zu sich und zur Welt, das zudem – so wie der Arbeitsprozess selbst – zersplittert ist.73 Die formale, kalkulierende Verwaltungslogik ist für Lukács folglich deutlich mit einer kapitalistischen Verwertungslogik verbunden. Und damit ist nun die Stelle der Zwecksetzung der Verwaltungsrationalität, die bei Weber weitgehend offenblieb, in der Gesellschaftsdiagnose besetzt: Es ist die des kapitalistischen Tauschs. Die Ausdehnung bürokratischer Komplexe sorgt dafür, dass nicht nur die Verwaltungslogik in sämtliche Gesellschaftsbereiche vordringt, sondern mit ihr auch jene Warenform – bis sie letztlich total geworden ist.74 Der Verlust an Sinn und Beziehungsfähigkeit der modernen Menschen, der bereits in den sozialpsychologischen Untersuchungen thematisch war, gehe damit, so Adorno, mittelbar auf einen Wandel im Weltbezug kontemporärer Gesellschaften zurück, der als eine Subsumierung sämtlicher Lebensbereiche unter eine bürokratische Rationalität des Warentauschs erscheine. Dadurch verschwinde die qualitative Differenz von Dingen, Menschen und Natur – sie alle kommen lediglich als Tauschobjekte in das moderne Bewusstsein. Adorno knüpft hier an Lukács’ Vorstellung an, dass die Warenform beziehungsweise die Verdinglichung sowohl materiell wie geistig total geworden sei.75 Daher spiegele sie sich in allen menschlichen Beziehungen und könne deswegen auch stets aus diesen durch konstellatorische Deutung extrapoliert werden.76 Der Prozess der Ausweitung und tendenziellen Verselbstständigung von Verwaltungsapparaten, bei gleichzeitiger Generalisierung der Warenform lässt sich jedoch für Adorno erst unter Zuhilfenahme einer Theorie der ökonomischen und politischen Machtkonzentration zur These der verwalteten Welt ausweiten: »Schwerlich erklärt die immanente Expansions- und Verselbständigungstendenz von Verwaltung als bloßer Herrschaftsform allein den Übergang von Verwaltungsapparaturen älteren Wortsinns in solche der verwalteten Welt; ihren Eintritt in früher nicht verwaltete Bereiche. Verantwortlich sein dürfte die Expansion des Tauschverhältnisses über das gesamte Leben bei zunehmender Monopolisierung.«77
Adorno bezieht sich hier zunächst auf die These der Monopolisierung kapitalistischer Produktion, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Marxist*innen
73 Vgl. G. Lukács: »Geschichte und Klassenbewußtsein«, S. 262. 74 Vgl. ebd., S. 270ff. 75 Vgl. ebd., S. 334. 76 Exemplarisch für eine solche Analyse vgl. T. W. Adorno: »Minima Moralia«, S. 15f. 77 T. W. Adorno: »Kultur und Verwaltung«, S. 125.
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verbreitet war.78 Damit ist vor allem die zunehmende Absorption der kleinteiligen wirtschaftlichen Einheiten, die eher für einen liberalen Konkurrenzkapitalismus kennzeichnend sind, von immer größeren Konzernen gemeint. Bestimmten ursprünglich die kleinen Unternehmer ganz im protestantischen Geiste, aber immerhin mit gewissen damit einhergehenden Freiheiten die Wirtschaft, werde diese nun durch umfassende Komplexe – von Monopolen – kontrolliert. Insbesondere kleinere Unternehmer und Selbstständige, also die mittleren und unteren Schichten des Bürgertums, erlebten in der Folge der Konzentration der Marktmacht auf Großkonzerne einen rapiden sozialen Abstieg und damit einen Statusund Bedeutungsverlust innerhalb der Gesellschaft. Neben den sozialen Folgen, die von Horkheimer und Fromm auch mit dem Verlust der väterlichen Autorität zusammengebracht wurden,79 ist es aber vor allem die zunehmende Konzentration und Verschaltung der bürokratischen Konzerne, die für die Gesellschaftsdiagnose relevant ist. Unter dem Einfluss der Theorie des Staatskapitalismus, wie sie von Friedrich Pollock formuliert wurde,80 gelangten Horkheimer und Adorno zunehmend zu der Auffassung, dass infolge der Krisenhaftigkeit der Wirtschaft enge Verbindungen zwischen politischen Eliten und wirtschaftlichen Monopolen entstehen. So bilden sich sogenannte Machtcliquen oder Rackets,81 die selbst die organisierte Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung in Form von Gewerkschaften und Parteien mitumfasst. Eine klare Trennung zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Staat sei so nicht mehr möglich – die verschiedenen Verwaltungskomplexe begrenzen sich nicht mehr gegenseitig, wie Weber noch behauptet hat, sondern verschmelzen, so Adorno, zu einem einzigen, bürokratischen Machtapparat. Die eher 78 Vgl. Grossmann, Henryk/Gumperz, Julian/Horkheimer, Max/Wittfogel, Karl A.: »Diskussion aus einem Seminar über Monopolkapitalismus«, in: Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Nachgelassene Schriften 1931-1949, Frankfurt a. M.: Fischer 1985, S. 417-435. 79 Vgl. M. Horkheimer: »Autorität und Familie in der Gegenwart«; vgl. E. Fromm: »Zum Gefühl der Ohnmacht«. 80 Vgl. Pollock, Friedrich: »Staatskapitalismus«, in: Helmut Dubiel/Alfons Söllner (Hg.), Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 81-109; vgl. dazu auch Brink, Tobias ten: »Staatskapitalismus und die Theorie der verwalteten Welt. Friedrich Pollock und die Folgen«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 10 (2013), S. 128-136. 81 Vgl. Horkheimer, Max: »Die Rackets und der Geist«, in: Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Gesammelte Schriften. Nachgelassene Schriften 1931-1949, Frankfurt a. M.: Fischer 1985, S. 287-291.
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abstrakte Theorie von Lukács, die sich vornehmlich auf Bewusstseinsphänomene konzentrierte, wird auf diese Weise von Adorno mit einem strukturellen Wandel des wirtschaftlichen und politischen Systems verbunden. So kann er zum einen konkrete gesellschaftliche Träger der Verdinglichungstendenzen angeben, zum anderen kann er so die These der Bürokratisierung deutlicher als eine Herrschaftstheorie darstellen: »Das Partikulare usurpiert vermöge der Allmacht seiner Durchsetzung das Ganze: im gesellschaftlich-totalen Aspekt des Kapitals terminiert der alte Fetischcharakter der Ware, der Beziehungen von Menschen als solche von Sachen zurückspiegelt. Zu solchen Sachen ist heute die ganze Ordnung des Daseins geworden. […] Die Gewerkschaften werden zu Monopolen und die Funktionäre zu Banditen, die von den Zugelassenen blinden Gehorsam verlangen, die draußen terrorisieren, loyal jedoch bereit wären, den Raub mit den anderen Monopolherren zu teilen, wenn diese nur nicht vorher in offenem Faschismus die ganze Organisation in eigene Regie nehmen.«82
Am deutlichsten zeigt sich die Verschmelzung wirtschaftlicher und politischer Bürokratien daher in den totalitären Staaten: im nationalsozialistischen Deutschland, aber auch in der Sowjetunion unter Stalin. Doch gilt die Diagnose der verwalteten Welt ebenso für die westlichen Demokratien – hier ist der verwaltungstechnische Herrschaftsapparat nur dezentraler strukturiert.83 Die verschiedenen Elemente – Bürokratisierung, Verdinglichung und Monopolisierung beziehungsweise Konzentration von Macht – werden auf die für Adorno typische, zugespitzte Weise in der Figur der verwalteten Welt zusammengefasst. Die allumfassende bürokratische Struktur mache Widerstand nicht nur aussichtlos, sondern zugleich auch undenkbar, da die soziale Wirklichkeit kaum noch Raum zur Entfaltung von Unpassendem und Nonkonformem lasse. Da es nichts außer ihr gibt, erzeugt die verwaltete Welt eine extrem integrative Wirkung: den Druck zur Angleichung, dem das Subjekt aus bloßer Selbsterhaltung nachkommen muss. Diese heteronom vermittelte Integration, die von Adorno oftmals als bloße Anpassung an einen kafkaesken Apparat geschildert wird, erklärt die Ohn82 Adorno, Theodor W.: »Reflexionen zur Klassentheorie«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 373-391, hier S. 381. 83 Adorno schreibt dazu: »Totalität ist in den demokratisch verwalteten Ländern der industriellen Gesellschaft eine Kategorie der Vermittlung, keine unmittelbare Herrschaft und Unterwerfung.« (Adorno, Theodor W.: »Zur Logik der Sozialwissenschaften«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 547-565, hier S. 549.).
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machtsgefühle, wie auch den Hang zu konformistischen Einstellungen und instrumentellen Handlungsorientierungen. Hiervon zeugen die mechanischen, stereotypen Ansichten und Verhaltensweisen der autoritären Persönlichkeiten sowie die Leb- und Beziehungslosigkeit, der Mangel an Spontaneität, die Adorno den Menschen im Spätkapitalismus diagnostiziert. Die Verwaltungstendenz dringe so selbst in die Subjekte ein, die zu ihren eigenen ›Verwaltern‹ werden. »Verwaltung aber wird dem angeblich produktiven Menschen«, so urteilt Adorno etwa über Kulturschaffende, »nicht bloß von außen angetan. Sie vervielfacht sich in ihm selbst. Daß eine Zeitsituation die ihr zubestimmten Subjekte hervorbringt, ist sehr buchstäblich zu nehmen.«84 Damit ist, wie Adorno an anderer Stelle ausführt, das bürgerliche Individuum, wie es sich während der liberalistischen Phase des Kapitalismus herausgebildet habe, in Auflösung begriffen: »Der Begriff des Individuums, historisch entsprungen, erreicht seine historische Grenze.«85 Die den autoritären Persönlichkeiten diagnostizierte Ich-Schwäche ist somit ein allgemeines Phänomen des gesellschaftlichen Strukturwandels: Es ist nicht mehr nötig, eine integrierende Instanz psychisch verinnerlicht zu haben, da gesellschaftliche Integration seither anders bewerkstelligt wird als über die Selbstbehauptung und Anerkennung der Person im klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Jene Integration werde zunehmend extern bewerkstelligt, so Adorno, wodurch der Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung hinderlich, wenn nicht gar gefährlich werden.86 Das Individuum werde zu einem Massenmenschen und seine Individualität werde zu der eines Typs. Die Oberflächlichkeit, die der Anpassung und auch der individuellen Typik folgt für Adorno daraus, dass nicht mehr soziale Anforderungen verinnerlicht werden, wie etwa Freud dies im Ödipuskomplex als Fundament der Identitätsbildung herausgestellt hat, sondern unmittelbare Identifikation mit den gesellschaftlichen An84 T. W. Adorno: »Kultur und Verwaltung«, S. 137. 85 Adorno, Theodor W.: »Individuum und Organisation«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 440-456, hier S. 449f. 86 Das hat einige Folgen für die Psychologie, wie auch Psychotherapie: »Psychologie als ein dem Außen gegenüber relativ selbständiges Innen ist einer Gesellschaft, die sie unablässig bemüht, eigentlich zur Krankheit geworden: daher trat Psychotherapie ihr Erbe an. Das Subjekt, in dem Psychologie als ein der gesellschaftlichen Rationalität Entzogenes überwog, galt von je als Anomalie, als Kauz; im totalitären Zeitalter ist seine Stätte das Arbeits- oder Konzentrationslager, wo es ›fertig gemacht‹, erfolgreich integriert wird.« (Adorno, Theodor W.: »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 42-92, S. 54).
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forderungen stattfindet. Wie schon mit Bezug auf den autoritären Persönlichkeitstyp dargestellt, werden diese Anforderungen nicht mehr individuell in der ÜberIch-Bildung angeeignet, was die Notwendigkeit, ihnen eine eigene Auslegung zukommen zu lassen, aufhebt; stattdessen werden sie lediglich wiederholt. Die Vollendung der Anpassung: Kulturindustrie und das Verschwinden des Individuums Die Angleichung an des Bestehende, die Adorno aus der Totalisierung einer partikularen, verwaltungsförmigen Herrschaft ableitet, ergebe sich jedoch nicht allein aus jenen Verwaltungstendenzen. Sie erfolge auch direkt durch eine Kulturindustrie, deren Produkte den Zwang zur Angleichung mit Konsum- und Kulturgenuss verbinden. Erst dadurch, dass die rationalisierte, verwaltungsförmige Herrschaft auch die Kultur in Beschlag nimmt, wird sie tatsächlich total. Das Theorem der Kulturindustrie kann in diesem Zusammenhang als eine Revision der ideologiekritischen Überlegungen verstanden werden, wie sie am Institut für Sozialforschung noch in den 1930er Jahren vertreten wurden.87 Diese basierten noch auf der Annahme, dass ideologische Bewusstseinsformen, wie sie etwa in der bürgerlichen Kultur zum Ausdruck gekommen sind, zwar eine herrschaftslegitimierende Funktion haben. Aber der bürgerlichen Kultur wurde dennoch zugestanden, dass sie in verzerrter Form ein Wahrheitsmoment enthalte, nämlich die Idee einer gerechteren oder besseren Gesellschaft. Was diese Vorstellung zur Ideologie macht, ist die Annahme, dass sie bereits Wirklichkeit geworden ist.88 So ist die Idee der Freiheit für sich gesehen kein falsches Bewusstsein. Zu diesem wird sie erst, wenn sie in der bürgerlichen Gesellschaft mit dem freien Markt identifiziert wird, wodurch letztlich die ökonomisch vermittelten Herrschaftsverhältnisse verschleiert werden. Insofern sind Ideen ideologisch, wenn sie, um beim Beispiel zu bleiben, Ausdruck eines Klasseninteresses sind und damit einerseits partikular und andererseits bloß abstrakt, das heißt unwirklich, bleiben. Diesen Status würden sie verlieren, wenn sie allgemein und praktisch wahr, also wirklich
87 Deutlich lässt sich dieses Verständnis an den frühen Arbeiten von Herbert Marcuse nachvollziehen, explizit in seiner Anmerkung zu Horkheimers Aufsatz »Traditionelle und kritische Theorie«, vgl. Marcuse, Herbert: »Philosophie und kritische Theorie«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 227-249. 88 Adorno, Theodor W.: »Beitrag zur Ideologienlehre«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 457-477, hier S. 473.
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geworden sind. Daher verweist Ideologiekritik mit der Entlarvung falschen Bewusstseins auf die Notwendigkeit einer praktischen Veränderung hin. Diese Konstellation habe sich, so die revidierte Auffassung, allerdings im entfalteten Kapitalismus geändert. Aus der Kulturindustrie ist jegliches transzendierende Element gewichen, das in verzerrter, ideologischer Form noch in der bürgerlichen Kultur enthalten war und an dem sich die Ideologiekritik abarbeitete. Mit dem Konzept der Kulturindustrie bezeichnet Adorno ganz konkret die serielle und planmäßige Produktion von Kulturgütern als Waren. Ermöglicht wird dies durch technische Innovationen. Das erlaubt nicht nur die standardisierte und kostengünstige Produktion von Kulturprodukten; sie sorge auch für eine immer breitere und lückenlosere Verbreitung derselben – etwa mittels Radio- und Fernsehgeräten oder etwa durch die flächendeckende Errichtung von Kinos, Sportstadien oder anderen Vergnügungsorten.89 Aber die Verwaltungslogik mache nicht bei der planmäßigen und rationalisierten Produktion halt, sie versuche auch zunehmend direkt die Bedürfnisse und Wünsche der Konsumenten zu erfassen und ihnen einen möglichst allgemeinen, typischen Ausdruck zu verleihen. 90 Die so einsetzende Typisierung der Kulturware wird einerseits von dem Interesse, dem Produkt möglichst weitreichenden Absatz zu sichern, gefordert, andererseits aber auch durch die Bedingungen einer standardisierten Produktion diktiert. Um für ein Massenpublikum im schnellen Rhythmus neue Kulturgüter zu schaffen, wird es notwendig, auf routinierte Abläufe und bewährte Kniffe zurückzugreifen – wenn nicht gar auf die kaum kaschierte Wiederholung von bereits etablierten kulturellen Formaten. Die Übertragung fordistischer Produktionsweisen auf Kunst und Kultur bringe auf diese Weise einen mit ideologischer Verblendung vergleichbaren Effekt hervor: »Die Kulturindustrie ging aus der Verwertungstendenz des Kapitals hervor. Sie hat sich unter dem Marktgesetz entwickelt, dem Zwang, ihren Konsumenten sich anzupassen, ist dann aber umgeschlagen zu der Instanz, welche Bewußtsein in seinen je bestehenden Formen, dem geistigen status quo, fixiert und verstärkt.«91
89 Aus den verschiedenen Beschreibungen Adornos wird erkennbar, dass es vor allem die Anfänge der modernen Unterhaltungsbranche sind, die für ihn als Kulturindustrie gelten: besonders das amerikanische Kino, aber auch Jazz und Populärmusik. Weniger zentral, aber immer wieder erwähnt werden dagegen Lifestyle-Magazine, Sportevents, Fernsehproduktionen aber auch die Bewerbung von Waren als Lifestyleprodukte. 90 Vgl. T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 144. 91 Adorno, Theodor W.: »Gesellschaft«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 5-19, hier S. 17f.
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Während klassische Ideologie aber Gründe und Ideen zitierte, um die herrschenden Verhältnisse zu legitimieren, sei die Kulturindustrie auf derartige quasirationale Rechtfertigungsstrategien nicht mehr angewiesen. Da Herrschaft ohnehin schon total geworden sei, genüge es, lediglich deren Omnipräsenz symbolhaft zu wiederholen. Die herrschende, spätkapitalistische Ideologie ist wesenhaft eine Verdopplung des vorherrschenden Lebens, so Adorno,92 und damit lediglich die in die ›Freizeit‹ hinein verlängerte Forderung nach Konformität. Zwar versprechen auf der einen Seite die Produkte der Kulturindustrie eine Kompensation und einen Ausgleich zum tristen Alltag. Aber das Versprechen des Ausbruchs kann im Rahmen einer standardisierten Produktion und Vermarktung von Kultur nur oberflächlich eingelöst werden. Auf dem Grund der Kulturproduktionen liege stets wieder das Immergleiche. Unterhaltung ist daher noch nicht einmal ein Ersatz für unterdrückte Bedürfnisse, Triebe und Wünsche, sondern im Wesentlichen lediglich die Wiederholung ihrer Unterdrückung. »Gesund ist, was sich wiederholt, der Kreislauf in Natur und Industrie. Ewig grinsen die gleichen Babies aus den Magazinen, ewig stampft die Jazzmaschine. Bei allem Fortschritt der Darstellungstechnik, der Regeln und Spezialitäten, bei allem zappelnden Betrieb bleibt das Brot, mit dem Kulturindustrie die Menschen speist, der Stein der Stereotypie.«93
Hier zeigt sich wieder ein Verknüpfungspunkt zum sozialpsychologischen Befund des stereotypen Denkens. Dem schematischen Denken steht eine stereotypisierte Kultur gegenüber, die durch die Wiederholung von Klischees lediglich die Unterwerfung unter das heteronome Ganze forciert und blind für die Erfahrung von etwas macht, das neu und nicht bereits kulturindustriell aufbereitet ist. Mit dem Verschwinden des Nichtidentischen aus Denken, Kultur überhaupt gesellschaftlicher Praxis geht also ein tiefsitzender Erfahrungsverlust einher.94 Allerdings geht Adornos Konzept der Kulturindustrie noch einen Schritt weiter. Kulturindustrielle Erzeugnisse orientieren sich nach Adorno nicht nur an bestehenden Bedürfnisse, sondern sie sind auch aktiv an ihrer Hervorbringung beteiligt – Bedürfnis und angebotene Befriedigung amalgamieren zu einem heteronom vermittelten Kultur- oder Konsumerlebnis. Mittels immer ausgeklügelter Reklametechniken und wissenschaftlich angeleiteter Marktforschung werde es möglich, direkter auf das Wollen der Menschen einzuwirken: »Stets waren die Bedürfnisse gesellschaftlich vermittelt; heute werden sie ihren Trägern ganz äu92 Vgl. T. W. Adorno: »Beitrag zur Ideologienlehre«, S. 476f. 93 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 166. 94 Mit Blick auf die weiter unten ausgeführte Vernunftkritik lassen sich hierin auch der Ausschluss und die Subordination der Natur wiederentdecken.
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ßerlich, und ihre Befriedigung geht in die Befolgung der Spielregeln der Reklame über.« 95 Die effiziente und ökonomische Produktionsweise verbinde sich so mit einer psychologischen Technik, die es erlaubt, menschliche Bedürfnisse zu kalkulieren und zu manipulieren, kurz: zu verwalten. 96 Die Unterwerfung der Genüsse und des Wollens unter das Verwaltungsdenken gehe nach Adorno sogar so weit, dass die Bedürfnisse »in wirtschaftlich relevanten Sektoren vom Profitinteresse selber erst hervorgebracht«97 werden.98 Kulturindustrie ist damit einerseits die warenmäßige Produktion von Kunst und Kultur und anderseits die planmäßige Verwaltung und Steuerung ihres Konsums. Die Typen, die sie bestrebt ist anzusprechen, scheinen so selbst erst Ergebnis der kulturindustriellen Prägung zu sein: »Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert. Die Belieferung des Publikums mit einer Hierarchie von Serienqualitäten dient nur der um so lückenloseren Quantifizierung. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten ›level‹ gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist.«99
Die bereits angesprochene Auflösung des Individuums beziehungsweise das Veralten bürgerlicher Psychologie wird mit dem Konzept der Kulturindustrie weitergeführt. Die kulturindustrielle Manipulation der Bedürfnisse sorge dafür, dass die Bewohner westlicher Gesellschaften total vergesellschaftet sind: »Die Anpassung der Menschen an die gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse, welche die Geschichte ausmacht und ohne die es den Menschen schwer geworden wäre, fortzuexistieren, hat sich in ihnen derart sedimentiert, daß die Möglichkeit, daraus ohne unerträgliche Triebkonkflikte auch nur im Bewußtsein auszubrechen, schrumpft. Sie sind, Triumph der Integration, bis in ihre innersten Verhaltensweisen hinein, mit dem identifiziert, was mit ihnen geschieht. Subjekt und Objekt sind, in höhnischem Widerspiel zur Hoffnung der Philosophie, versöhnt. Der Prozeß zehrt davon, daß die Menschen dem, was ihnen angetan 95 Ebd., S. 56. 96 Vgl. T. W. Adorno: »Beitrag zur Ideologienlehre«, S. 474. 97 Adorno, Theodor W.: »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 354-370, hier S. 361. 98 Anders als Marcuse hält sich Adorno aber mit der Definition einer Scheidung von richtigen und falschen Bedürfnissen zurück: »Über richtiges und falsches Bedürfnis wäre gemäß der Einsicht in die Struktur der Gesamtgesellschaft samt all ihren Vermittlungen zu urteilen.« (ebd., S. 365). 99 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 144.
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wird, auch ihr Leben verdanken. Die affektive Besetzung der Technik, der Massenappell des Sports, die Fetischisierung der Konsumgüter sind Symptome dieser Tendenz.«100
Angesichts der Radikalität von Adornos Gesellschaftsdiagnose, die den Menschen in den Immanenzzusammenhang einer sich totalisierenden partikularen Herrschaft eingebettet sieht, scheint die Frage nach etwas, das sich dieser Vereinheitlichung entzieht, vergebens. Dissens, Unzufriedenheit, überhaupt soziales Leiden seien aufgrund der so behaupteten totalen Integration kaum noch intelligibel.101 Das Ich aus Freuds Strukturmodell ist demnach nicht mehr als eine Instanz zur zwanghaften Aufrechterhaltung der Identität um der individuellen Selbsterhaltung willen. Alles tatsächlich noch Individuelle sowie die innere Natur der Menschen ereilt angesichts des Zwangs zur Anpassung und Integration jedoch das Schicksal der Verdrängung: Es muss als irrational erscheinen.102 Ausdruck findet das eigentlich Subjektive, wenn überhaupt, bestenfalls in der verzerrten Form psychopathologischer Symptome.103 Gesellschaftskritik hat mit dem Verlust des objektiven Geistes in der Kultur, aber auch im Individuum, seinen Ankerpunkt in der sozialen Wirklichkeit verloren. Adorno gibt auf diese Weise eine inhaltliche Begründung für seine weitgehende Ignoranz gegenüber konkreten Dynamiken des sozialen Leidens und bettet dieses in seine allgemeine Diagnose ein. Allerdings erweckt diese Erklärung den Eindruck, lediglich nachträglich etwas zu rechtfertigen, das bereits durch Adornos methodischen Zugang vorgezeichnet wird. Seine Bemühungen, die soziale Wirklichkeit als eine Chiffre darzustellen, die auf eine bestimmte Weise gelesen werden müsse, konzentrieren sich hauptsächlich darauf, im Einzelphänomen abstraktere und umfassendere Zusammenhänge sichtbar zu machen – letztlich also am Besonderen die Spuren des Allgemeinen, hier: der totalisierten Herrschaft, nachzuweisen. Das Konzept der Kulturindustrie soll zeigen, dass die Anpassung bereits Besitz vom Bewusstsein und vom Empfinden der Menschen ergriffen habe. Kultur, einst auch ein Gesellschaftsbereich, in dem ein transzendenter Möglichkeitsraum des gesellschaftlichen Lebens ausgelotet wurde, vollendet nun die 100 T. W. Adorno: »Gesellschaft«, S. 18. 101 Die Auffassung, dass selbst noch das Leiden verdrängt werden müsse, zeigt sich etwa im Aphorismus 36 aus Minima Moralia (T. W. Adorno: »Minima Moralia«, S. 65) – zusammen mit einer kritischen Einschätzung der damals aktuellen Psychoanalyse. 102 Vgl. T. W. Adorno: »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«, S. 54. 103 »Jeder Wahrheitsgehalt der Neurosen ist, daß sie dem Ich in sich am Ichfremden, dem Gefühl des Das bin ich doch gar nicht, seine Unfreiheit demonstrieren; dort, wo seine Herrschaft über die innere Natur versagt.« (T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 221).
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Totalität der gesellschaftlichen Heteronomie.104 Diesen Prozess des Verschwindens von Transzendentem, und das heißt auch das Unkenntlichwerden von Leiden, sieht Adorno aber bereits in der abendländischen Vernunft als solcher angelegt.
2.3 GESELLSCHAFTSKRITIK ALS VERNUNFTKRITIK Geschichte als Verwirklichung einer pathologischen Vernunft oder: Sozialpathologie als Vernunftpathologie An dieser Stelle kann schon vermutet werden, dass Leiden in Adornos Theorie wesentlich mit der Aussperrung des Nichtidentischen, der Unterdrückung der inneren und äußeren Natur zusammenfällt. Leiden wäre somit »Objektivität, die auf dem Subjekt lastet«.105 Auch wenn das nicht falsch wäre, so fehlt an dieser Stelle noch das vernunftkritische und geschichtsphilosophische Kernstück des Befunds, das in seinen wesentlichen Teilen in der Dialektik der Aufklärung entfaltet wurde. Darin nehmen Adorno, aber vor allem Horkheimer, weitgehend Abschied von den optimistischen Anklängen der am historischen Materialismus orientierten Geschichtsphilosophie, die Geschichte als einen dialektischen, sich über ökonomische Widersprüche entfaltenden Verwirklichungsprozess vernünftigerer Verhältnisse versteht. Um festzustellen, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«106 vertreten Horkheimer und Adorno nunmehr eine von Friedrich Nietzsche geläuterte Geschichtsauffassung. Behauptete Hegel noch, dass »Weltgeschichte […] der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« sei, »den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben«,107 so nehmen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung eine folgenschwere Einschränkung vor. Weltgeschichte mag als ein Fortschrittsgeschehen begreifbar sein, aber nicht mehr als eines, das im Bewusstsein der Freiheit sich vollzieht. Die Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte wird von Horkheimer und Adorno nunmehr als die Verwirklichung eines Verfallsprodukts jener Vernunft konzipiert. Damit ist eine instrumentelle und beherrschende Rationalität gemeint, die schon in den ersten, primitiven
104 Vgl. T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 146f. 105 T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 29. 106 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 11 107 Hegel, Georg W. F.: Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 32.
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Versuchen der Menschheit, sich durch zweckgerichtete Arbeit über den Naturzusammenhang zu erheben, aufkeimt. Zunehmende technische Möglichkeiten der Naturbeherrschung, die noch in der frühen Phase der Kritischen Theorie als Vorbedingung einer freieren Gesellschaft galten, werden so selbst verdächtig, den Herrschaftszusammenhang zu verfestigen, gar aus sich hervorzubringen und eine progressive Umgestaltung zu verhindern. Die verwaltete Welt ist damit lediglich der konsequente institutionelle Ausdruck einer pathologischen Vernunftstruktur; der autoritäre und manipulative Charaktertypus bildet die dementsprechende Charakterstruktur. Die Verdinglichung des Selbstverhältnisses und die Verhärtung des Ichs, die sich im starren, stereotypen Denken zeigen, und die von gesellschaftlichen Veränderungen wie etwa Monopolisierung der Wirtschaft, kommerzieller Kultur oder bürokratischer Herrschaftsformen getragen werden, überführen Adorno und Horkheimer auf diese Weise in der Dialektik der Aufklärung in den Rahmen einer radikalen Vernunftkritik. 108 Die beginnende Ernüchterung über das Scheitern der progressiv konzipierten Geschichtsphilosophie führte bereits in Horkheimers Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie zu einer Theoretisierung der kritischen Absicht. Kritische Theorie sollte, so das Anliegen, die Position des gesellschaftlichen Fortschritts besetzt halten, solange progressive Bewegungen gesellschaftlich marginalisiert sind. In den Jahren nach dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs, in denen die Dialektik der Aufklärung verfasst wurde, radikalisierte sich diese Perspektive dahingehend, dass die normative Basis jener widerständigen Theorie – nämlich eine normativ gehaltvolle Rationalität – selbst infrage gestellt wurde: »Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.«109
108 Die Kritik der instrumentellen Vernunft ersetzt, wie Seyla Benhabib bemerkt, somit das Paradigma der Kritik der politischen Ökonomie, das noch in der Frühphase des Instituts für Sozialforschung für dessen Mitglieder Verbindlichkeit beanspruchen konnte. Vgl. Benhabib, Seyla: Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M.: Fischer 1992, S. 79ff. 109 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 13.
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Nichtsdestoweniger halten Adorno und mit ihm Horkheimer an der gescheiterten Geschichtsphilosophie in zweierlei Hinsicht fest. Zum einen sehen sie in ihr und dem mit ihr verbundenen aufklärenden Denken, die normative Basis der Gesellschaftskritik. Diese bleibt selbst dann erhalten, wenn sich der geschichtliche Horizont selbst verdunkelt hat – oder anders gesagt: gerade dann. Zum anderen bildet eine hegelianisch geprägte Geschichtsauffassung weiterhin die Grundlage für die Erkenntnis der Geschichte, wenn auch unter umgedrehten Vorzeichen. Die Reflexion, die Adorno daraufhin zusammen mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung anstellt, bringt so eine äußerst pessimistische Einschätzung hervor. Das westliche Subjekt und die mit ihm assoziierte Vernunft tragen bereits seit seiner Herauslösung aus den vorgeschichtlichen, mythischen Lebenszusammenhängen die Ansätze zu der umfassenden Natur- und Selbstbeherrschung in sich, so die These, die über die sozialen und technischen Umwälzungen in den modernen Gesellschaften lediglich zur vollen, und fatalen, Entfaltung gelangt sind. Um diese »Urgeschichte der Subjektivität«110 zu verdeutlichen, greifen Adorno und Horkheimer auf Homers Odyssee zurück,111 wobei sie die Episoden des Abenteuers als exemplarische Instanzen der modernen Subjektwerdung lesen und damit als geschichtsphilosophische Folie für das Verständnis der Moderne anbieten. Entscheidend ist hierbei, dass die Stufen der Subjektgenese von Adorno und Horkheimer zugleich als Stufen der Herauslösung aus dem Naturzusammenhang verstanden werden – dabei trage die Emanzipation des Menschen von Anfang an einen zwiespältigen Charakter. Sie sei sowohl Fortschritt als auch Verlust. Zweifelsohne liege in der Bewältigung der Naturkräfte, die in Polyphem, Kirke und den Sirenen verkörpert sind, ein Moment der Befreiung, schließlich schaffen es Odysseus und seine Mannschaft den vielfältigen Gefahren zu entkommen und ihr Leben zu behaupten. Die Herauslösung aus dem Naturzusammenhang, die das Narrativ des Epos bestimmt, sichert dabei nicht nur das Überleben, sondern mittels der Genese rationaler Subjektivität auch Freiheitsgrade gegenüber der Natur. Aber dieser Sieg über die Mächte der Natur gelingt nicht ohne Preis. Denn die listige Ratio des Odysseus richte sich nicht nur gegen die äußere Gefahr, die Naturkraft des Poseidons, sondern auch gegen eine gleichsam innere, nämlich gegen die innere Natur und die Sehnsucht nach Versöhnung mit der Natur. So gelingt etwa der Widerstand gegen den Gesang der Sirenen, der letztlich naturhafte Lüste symbolisiert, Odysseus nur, indem er sich fesseln lässt – indem er sich also selbst
110 Ebd., S. 73. 111 »Kein Werk aber legt von der Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos beredteres Zeugnis ab als das homerische, der Grundtext der europäischen Zivilisation.« (ebd., S. 63).
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diszipliniert. Die abendländische Subjektivität, so die Schlussfolgerung, verbindet Naturbeherrschung mit Selbstbeherrschung. »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart. […] Der Gedanke des Odysseus, gleich feind dem eigenen Tod und eigenen Glück, weiß darum.«112
In der an Nietzsches Genealogie der Moral113 erinnernden Formulierung erweist sich Odysseus als Archetyp des bürgerlichen Subjekts, dessen Beherrschung der äußeren Natur nur durch Abtrennung der inneren Natur möglich ist – dessen Welt- und Selbstverhältnis, in anderen Worten, durch Arbeit gestiftet wird. Die Deutung verweist damit aber nicht nur auf die arbeitsame und asketische Lebensführung der protestantischen Ethik, sondern zugleich auf den spezifischen Rationalitätsbegriff, den Weber in der Moderne zur Durchsetzung kommen sieht – die Zweckrationalität. Denn indem sich das Subjekt im Dienste der Selbsterhaltung durch Arbeit sowohl der äußeren, wie inneren Natur gegenüber abhärtet und eine distanzierte, berechnende Haltung einnimmt, geht ihm der Zweck der Selbsterhaltung, nämlich das Glücksempfinden, selbst verloren. Odysseus’ List gegenüber den Naturgewalten endet so in einer Aporie: Selbsterhaltung geschehe so auf Kosten des Glücks, durch das sie allein sinnvoll wäre. Die Abspaltung von Fortschritt und Emanzipation, die letztlich das Umschlagen von Aufklärung in Herrschaft vorbereitet, geht also bereits auf die Geburtsstunde des Subjekts zurück: »In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon in der Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar.«114
Aus dieser Feststellung zieht Adorno mit Horkheimer nun verschiedene Konsequenzen. Da sowohl die westliche Subjektivität, als auch die Struktur der Ver112 Ebd., S. 50. 113 Nietzsche, Friedrich: »Genealogie der Moral«, in: Gorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, München: DTV 1999. 114 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 73.
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nunft genetisch auf eine Ablösung von der normativen Zwecksetzung verweisen, ist in ihr bereits der Keim zu ihrer Verselbstständigung angelegt. Die Ziele der Vernunfttätigkeit, ihre normative Bestimmung, bleiben dieser extern; und historisch gesehen waren diese Ziele vorwiegend die einer herrschenden Minderheit, wie etwa die Ausführungen zu Marquis de Sade, aber auch zu Nietzsches Genealogie eindrucksvoll zeigen. »Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben, hat den Haß entzündet, mit dem gerade die Progressiven Sade und Nietzsche heute noch verfolgen. […] Indem die mitleidlosen Lehren die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums.«115
Gerade die Herauslösung der rationalen Tätigkeit aus traditionellen und religiösen Lebenszusammenhängen, die in der Neuzeit mit der Verbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsweise auftrat, habe dafür gesorgt, dass sich die Ratio von ihren externen Fesseln frei gemacht habe und rationalisierte bürokratische Verfahren weitgehend ungehindert die Gesellschaft durchdringen konnten. Diese Entzauberung der Welt ermöglichte jedoch nicht nur den ungehinderten Einsatz der Rationalität als Machtmittel, im Sinne wirtschaftlicher oder bürokratischer Macht. Die konstitutive Abtrennung des rationalen Denkens sowohl von der inneren, als auch von der äußeren Natur komme einer Abtrennung des Subjekts der Erfahrung vom Objekt gleich. Diese Hypostasierung des subjektiven Erfahrungspols und die Degradierung des Objekts zu bloßem Material für die Tätigkeit des Subjekts führen zu einem Erfahrungsverlust und einer Selbstverdinglichung, die schon in den sozialpsychologischen Studien behauptet wurden. Der »Manipulative Type« aus der Authoritarian Personality scheint den instrumentellen Weltbezug am reinsten zu verkörpern.116 Schon Odysseus gelingt die Beherrschung der Naturkräfte nur, indem dieser sich ihren Gesetzen unterwirft.117 Denken und Sein reproduzieren in sich damit einen Zustand, den sie überwinden wollen, gerade um ihn zu überwinden. Auch das Subjekt verhärtet 115 Ebd., S. 140. 116 In diesem Kontext bekommt die autoritäre Neigung zur pathischen Projektion eine weitere Bedeutungsnuance: Sie kann als ein Versuch verstanden werden, die Erinnerung an die abgetrennte Natur wiederholt zu verdrängen beziehungsweise die Verdrängung aufrechtzuerhalten. Sie ist gewissermaßen der Verkehrung der ausgeschlossenen Mimesis. »Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht die falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich.« (Ebd., S. 167). 117 Vgl. ebd., S. 87.
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sich infolgedessen zum Objekt: »Die Ratio, welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote. Der subjektive Geist, der die Beseelung der Natur auflöst, bewältigt die entseelte nur, indem er ihre Starrheit imitiert und als animistisch sich selber auflöst.«118 Dieser Befund lässt sich auch im Kontext der Diagnose der verwalteten Welt wiederfinden: »Die Menschen werden nicht nur objektiv mehr stets zu Bestandstücken der Maschinerie geprägt, sondern sie werden auch für sich selber, ihrem eigenen Bewußtsein nach zu Werkzeugen, zu Mitteln anstatt zu Zwecken.«119 Die subjektive Vernunft habe sich so letztlich auch gegen ihre Träger, die Subjekte, verselbstständigt und wiederholt paradoxerweise die schicksalhafte Naturverfangenheit, aus der sich Odysseus mit ihrer Hilfe herausgewunden hat. Die fatale Dialektik der Aufklärung besteht darin, dass sie gesellschaftlich einen Naturzustand als zweite Natur, damit gleichsam als Mythos, wiedereinsetzt, den Aufklärung geschichtlich überwinden wollte. Adorno knüpft hier an ein frühes, von Benjamin entlehntes Konzept der Naturgeschichte an und entfaltet dieses in der Dialektik der Aufklärung als Verschlingung von Subjektivierung mit Verdinglichung. Kennzeichen des Mythos ist es, dass er unveränderlich und ewig gleich scheint, wohingegen Geschichte von Adorno als das Erscheinen von Neuem oder Nichtidentischem verstanden wird: »Es ist damit [mit dem Begriff des Mythos, F.S.] gemeint das, was von je da ist, was als schicksalhaft gefügtes, vorgegebenes Sein die menschliche Geschichte trägt, in ihr erscheint, was substantiell ist in ihr. Das, was mit diesen Ausdrücken abgegrenzt wird, ist das, was ich hier mit Natur meine. Die Frage, die sich stellt, ist die nach dem Verhältnis dieser Natur zu dem, was wir unter Geschichte verstehen, wobei Geschichte besagt jene Verhaltensweise der Menschen, jene tradierte Verhaltensweise, die charakterisiert wird vor allem dadurch, daß in ihr qualitativ Neues erscheint, daß sie eine Bewegung ist, die sich nicht abspielt in purer Identität, purer Reproduktion von solchem, was schon immer da war, sondern in der Neues vorkommt und die ihren wahren Charakter durch das in ihr als Neues Erscheinende gewinnt.«120
Gerade die Entfesselung der subjektiven Vernunft in der Aufklärung und ihre systematische gesellschaftliche Totalisierung führen zurück in den Mythos und damit zurück in eine zur Identität, zur Gleichheit erstarrten und verwalteten Welt. Adorno und Horkheimer folgen diesem Gedanken in der modernen Philosophie, besonders im Idealismus, im logischen Positivismus, in der Lebensphilosophie, 118 Ebd., S. 75f. 119 T. W. Adorno: »Individuum und Organisation«, S. 451. 120 T. W. Adorno: »Die Idee der Naturgeschichte«, S. 346.
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aber auch in der Ontologie nach. Die recht abstrakte Wendung auf die damals kontemporären Geistesströmungen orientiert sich an der frühen Doppelkritik Horkheimers an positivistischen Einzelwissenschaften und Metaphysik. Beide, sowohl der Positivismus, als auch die Metaphysik reproduzieren auf ihre Weise die Verselbstständigung einer subjektiven Vernunft gegen Mensch und Natur. Deutlich sei dies etwa in der idealistischen Philosophie, die die subjektive Vernunft zum System aufgespannt hat.121 Aber auch die Versuche, sich direkt wieder dem Konkreten zuzuwenden, müssen unter den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitern. So betreibe der Positivismus – »der Mythos dessen, was der Fall ist«122 – lediglich eine Angleichung an das bestehende Prinzip der Tauschwirtschaft und lasse dabei die erkenntniskritische Reflexion, die dem begrifflichen Denken des Idealismus noch eigen war, vermissen.123 Dem Positivismus wirft Adorno vor, dass er das Denken zur bloßen, operationalisierten Zwecktätigkeit erniedrigt habe und zieht hier wieder Parallelen zum verdinglichten Weltverhältnis autoritärer Persönlichkeitstypen und zum Faschismus.124 Geschichte wird, wie oft bemerkt wurde, in der Dialektik der Aufklärung nicht mehr als Verwirklichungs- sondern als Verfallsgeschichte gefasst. Es ist bemerkenswert, dass Adorno gerade in dieser Fassung der Geschichtsphilosophie eine Verweltlichung ihrer idealistischen Vorannahmen sieht: »Sie [die Geschichtstheorie, F.S.] säkularisiert die Metaphysik in der säkulären Kategorie schlechthin, der des Verfalls.«125 Die Diagnose des Verfalls basiert auf der vernunftkritischen Annahme, dass Subjekt und Objekt der Erkenntnis im Zuge der Modernisierung unversöhnlich auseinandergerissen wurden und sich der Subjektpol der Erkenntnis sowohl im Denken, als auch im gesellschaftlichen Institutionensystem verselbstständigt habe. Diese These bestimmt auch den Leidensbegriff, »denn die mit Herrschaft verknüpfte Rationalität liegt selbst auf dem Grunde des Leidens.«126 Damit ist nun bereits deutlich geworden, dass die Rekonstruktion des Leidens und des in ihm thematischen normativen Gehalts keine Sache der konkreten Untersuchung, sondern der philosophischen Rekonstruktion, genauer: der Vernunftkritik, ist.
121 Vgl. T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 40ff. 122 Ebd., S. 10. 123 Ebd., S. 42ff. 124 Vgl. ebd., S. 218f. 125 Adorno, Theodor W.: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 181. 126 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 195.
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Rückzug auf Vernunftkritik Die Genealogie der Vernunft korrespondiert in Adornos Theorie mit der sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung. Fortschritte im Denken und Wissen bringen neue Formen der gesellschaftlichen Institutionalisierung hervor – das elaborierteste Beispiel in Adornos Theorie findet sich im Verwaltungsapparat der modernen Gesellschaften –, zugleich befestigen und befördern sozialstrukturelle und wirtschaftliche Veränderungen Verdinglichungstendenzen, die bereits in der abendländischen Vernunft und im Subjekt angelegt sind. Adorno gibt damit nicht zuletzt eine zeitdiagnostische und vernunftkritische Erklärung dafür, weswegen das ursprüngliche Forschungsprojekt des Instituts scheitern musste, ohne jedoch die systematischen Schwachpunkte in den methodologischen und theoretischen Voraussetzungen zu untersuchen. Geschichte wird von ihm weiterhin als ein Verwirklichungsprozess der Vernunft gelesen. Aber der Eindruck, dass sich in der sozialen Wirklichkeit kein normativer Rückhalt für eine immanent ansetzende Gesellschaftskritik mehr finde, führte ihn zu der Annahme, dass die Verwirklichung der Vernunft normative Selbstbestimmung untergrabe, anstatt sie zu ermöglichen. Was sich in der Geschichte entfaltet, ist daher eine pathologisch verselbstständigte und instrumentelle Rationalität – so die Dialektik der Aufklärung. Unter diesen Voraussetzungen führt Gesellschaftskritik auf eine Vernunftkritik zurück. Tatsächlich lässt sich die wesentliche Pathologiediagnose Adornos in vernunft- oder erkenntnistheoretische Überlegungen übersetzen: Die verdinglichende Verselbstständigung rationaler Verfahren gegen die Natur, aber auch gegen die Menschen selbst, entspricht einer Ablösung des Subjekts vom Objekt der Erkenntnis. Anknüpfend an Nietzsche betrachtet Adorno das begriffliche Denken als einen gewaltsamen Akt gegen das unter ihm Begriffene und zugleich als einen identifizierenden Akt des »Gleichsetzen des Nichtgleichen«.127 Alles, was außerhalb der subjektiven Rationalität liegt, und damit auch die leiblichen Aspekte des Individuums, komme im Identitätsdenken lediglich als Objekt der subjektiven Verfügung ins Bewusstsein. In der Negativen Dialektik nimmt Adorno diese erkenntnistheoretische Fassung der Verdinglichungsproblematik zum Ausgangspunkt, um über eine Auseinandersetzung mit Kant und Hegel ein Erkenntnismodell anzudeuten, das nicht instrumentell verfährt und offen für das, was außerhalb des Subjekts liegt – das Objekt – bleibt. Der »Vorrang des Objekts«128, den 127 Nietzsche, Friedrich: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in: Gorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Die Geburt der Tragödie – Nachgelassene Schriften 1870-1873, München: DTV 1980, S. 873-897, hier S. 880. 128 T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 185.
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Adorno hier einfordert, soll den mimetischen und sinnlich-rezeptiven Aspekten der Erkenntnis, die das Andere – innerhalb und außerhalb des Subjekts – nicht unterdrückt, zu ihrem Recht verhelfen und damit Raum für normative Bestimmungen lassen. Aber ist damit ein Ausweg aus der theoretischen Sackgasse möglich? Lässt sich gar über einen Vorrang des Objekts eine Untersuchung konkreter Leidensphänomene vornehmen? Betrachtet man Adornos Vorschlag näher, so fällt auf, dass dieser zwar auch eine ethische Haltung umschreibt. Aber Adorno sieht weiterhin keine Möglichkeit, hiermit normative Aspekte der sozialen Wirklichkeit zu erschließen und verschiebt die Einlösung des Anspruchs, dem Objekt Vorrang zu gewähren, auf eine Utopie. Erste Eckpunkte des Erkenntnismodells finden sich schon in der Dialektik der Aufklärung: »Jeder Fortschritt der Zivilisation hat mit der Herrschaft auch jene Perspektive auf deren Beschwichtigung erneuert. Während jedoch die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist, das keineswegs proportional mit dem Anwachsen der Mittel zu seiner Abschaffung geringer wird, ist die Erfüllung der Perspektive auf den Begriff angewiesen. Denn er distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomische Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen. Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt.«129
Deutlich wird hier, dass Adorno und Horkheimer trotz ihrer Vernunftkritik an dem Anspruch rationaler und begrifflicher Erkenntnis festhalten. Denn die begriffliche Vermittlung soll erstens eine Distanzierung sowohl von der natürlichen, als auch von der gesellschaftlichen Umwelt ermöglichen. Das nicht leisten zu können, war schließlich der Vorwurf an den Positivismus – in ähnlicher Weise aber auch an den »Irrationalismus« und an die Ontologie.130 Zweitens soll aber auch der Fehler des philosophischen Idealismus vermieden werden, der die Wirklichkeit allein auf das begriffliche Denken reduziert und damit alles, was nicht subjektives Denken ist, als unwesentlich ausschließt. Um nicht denselben Fehler wie Hegel zu begehen, dürfe der Begriff oder das subjektive Denken daher nicht die Distanz und Differenz zum Gegenstand leugnen. Natur könne daher nicht positiv, sondern nur als negative Bestimmung im Begriff aufgehoben werden – als das, was fehlt. 129 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 57f. 130 Vgl. dazu etwa T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 92.
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»Eingedenken der Natur« meint auf diese Weise eine prinzipielle Offenheit für den Gegenstand der Erkenntnis und ein dialektisches Denken, das die einzelnen Momente des Erkenntnisvorgangs nicht aufeinander reduziert und das nichtidentische des Objekts bewahrt.131 Mit der erkenntniskritischen Formulierung eines »Vorrangs des Objekts« gibt Adorno der Offenheit schließlich eine Richtung auf die Parteinahme mit dem Nichtidentischen und Partikularen. 132 Adorno begründet dies auf der einen Seite mit einem erkenntnistheoretischen Argument: Erkenntnis benötige etwas, das außerhalb des Subjekts liege133 – sonst wäre sie selbstreferentiell und somit eigentlich keine wirkliche Erkenntnis von etwas mehr.134 Die ethischen Aspekte der erkenntnistheoretischen Frage zeigen sich hingegen daran, dass Adorno dem Objekt nicht nur in erkenntnistheoretischer Hinsicht Priorität einräumt, sondern auch in genetischer. Das Subjekt sei notwendig auf ein Objekt verwiesen, über seine leibliche Existenz sogar von diesem abhängig, ohne dass dasselbe für das Objekt gesagt werden könnte: »Zum Sinn von Subjektivität rechnet es, auch Objekt zu sein; nicht ebenso zum Sinn von Objektivität, Subjekt zu sein.«135 Den Objekten komme daher etwas Subjektives entgegen, da es – das Subjekt – schließlich selbst auch Objekt, oder ein Teil der Natur, sei. Die Erfahrung des Selbst als Objekt macht Erkenntnis in diesem Sinne erst möglich, denn »nur weil das Subjekt seinerseits vermittelt, also nicht das radikale Andere des Objekts ist, das dieses erst legitimiert, vermag es Objektivität überhaupt zu fassen.«136 In der Struktur des Erkenntnisvorgangs spiegelt sich für Adorno so eine elementare Struktur des menschlichen Weltverhältnisses. Menschen bedürfen ei131 Konkret lässt sich, wie es Adorno in Ansätzen vornimmt, daraus eine Form des Schließens und Urteilens ableiten, das seine Gegenstände nicht identifiziert und subsumiert. Adorno möchte das »ist« in propositionalen Aussagen (etwa in »Anne ist Arbeiterin«) lediglich als Copula wissen, als Verbindung von Subjekt und Prädikat, ohne dass sich das eine auf das andere reduzieren lasse. Da die Stammform von »ist« sein ist, entstehe irrtümlich der Eindruck, dass propositionale Aussagen eine Wesensbeziehung ausdrücken (dass Anne und das Arbeiterinnendasein wirklich identisch sind). Werde das »ist« hingegen nicht als Wesensbeziehung, sondern lediglich als Copula begriffen, sei Identität in der begrifflichen Synthese, als auch die Nichtidentität gewahrt. Vgl. ebd., S. 107ff; Vgl. dazu O’Connor, Brian: Adorno’s Negative Dialectic. Philosophy and the Possibility of Critical Rationality, Cambridge, London: MIT Press 2004, S. 65ff 132 Vgl. T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 185. 133 Vgl. ebd. 134 Vgl. ebd., S. 378f. 135 Ebd., S. 184. 136 Ebd., S. 185.
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nes mimetischen, sinnlich-ästhetischen und empathischen Bezugs zur Welt, da sie nur auf diese Weise – nämlich anteilnehmend – überhaupt erst zu Menschen werden. »Der versöhnte Zustand«, so schreibt Adorno daher, »annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.«137 Die Gesellschaft wäre so im versöhnten Zustand eine, die ihre Mitglieder ohne Zwang integriert und dabei deren Eigenständigkeit wahrt. Der Begriff der Versöhnung weist jedoch auf ein grundsätzliches Problem hin, das der erkenntnistheoretischen Selbstbescheidung der Vernunft, wie sie mit dem Vorrang des Objekts bezeichnet ist, anhaftet. Adorno gibt zwar einen methodologischen Hinweis darauf, wie sich begrifflich dem Objekt genähert werden könne – nämlich über die Bildung von sprachlichen Konstellationen.138 Aber da der konkrete Erkenntnisgegenstand – wie auch das erkennende Subjekt – immer noch Teil einer historischen und gesellschaftlichen Welt sind, kann das Objekt auch nur als Teil dieser Welt begriffen werden.139 Nicht so, wie es an sich sein könnte, sondern wie es geworden ist, tritt das Objekt ins Denken – auch ins kritische Denken. Die konkreten Untersuchungs- und Erkenntnisgegenstände tragen also, und das ist eine unvermeidliche Folge des totalisierten Verblendungszuammenhanges, die historischen Spuren der subjektiven und instrumentellen Vernunft. Volle, unbeschädigte Erkenntnis würde somit einen Bruch mit der historischen Kontinuität erfordern. Daher spricht Adorno von Versöhnung, oder auch von Utopie: »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.«140 Solange die gesellschaftliche Realität unversöhnt ist, kann die Hinwendung zum Objekt daher nur bedeuten, dieses als ebenso unversöhnt in den Blick zu nehmen – das Denken kann, wie es schon in der Dialektik der Aufklärung heißt, lediglich die Distanz zur Natur »ermessen«. Adornos Forderung des Vorrangs des Objekts, verstanden als ein mimetischer, rezeptiver und anteilnehmender Weltbezug, gibt so zwar die normative Richtschnur für seine Kritik. Er ist aber nicht verwirklichbar, da sich gemäß der Gesellschaftsdiagnose, in der das Identitätsprinzip der subjektiven Vernunft als
137 Ebd., S. 192. 138 »Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.« (ebd., S. 164f). 139 Vgl. ebd., S. 165. 140 Ebd., S. 21.
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total behauptet wird, keinen Ansatzpunkt hierfür bietet.141 Adornos Kritik kann in der bestehenden Gesellschaft daher lediglich den unversöhnten und pathologischen Zustand als solchen in abstracto vor Augen führen und in einer gemeinsamen Anstrengung von Philosophie und Kunst 142 darin Bruchstücke eines nichtverdinglichten Weltverhältnisses andeuten. Normative Aspekte – etwa von Leidensphänomenen – lassen sich so nicht erfassen. Aus der theoretischen Reflexion und Selbstkritik der Vernunft lässt sich kein systematisches Vorgehen für eine Untersuchung sozialer Leidphänomene ableiten.
2.4 LEIDEN ALS BEGRIFF DES UNVERSÖHNTEN ZUSTANDS? Bis zu diesem Punkt wurden Adornos Individualdiagnose, Gesellschaftsdiagnose und seine Vernunftdiagnose rekonstruiert. Auf den verschiedenen Ebenen bringt Adorno in variierenden Konstellationen ein Bündel an theoretischen Überzeugungen zum Vorschein, die sich in letzter Konsequenz auf die grundlegende Vernunftpathologie zurückführen lassen. Dieser Einschätzung zufolge bestehe die Crux moderner Rationalität darin, dass sie mit fortschreitender Verfügung über die Natur eine unwiderrufliche Verdinglichung des Selbst- und Weltverhältnisses hervorbringe. Mit jeder technischen Neuerung, mit jedem Fortschritt des abendländischen Denkens verfestige sich die Entfremdung von dem anteilnehmenden, mimetischen Weltbezug, der für ein gutes Leben unabdingbar ist. Diese Grundschicht der unterschiedlichen Diagnosen – die Abtrennung des anschmiegenden, rezeptiven Bezugs auf Menschen und Natur – bestimmt für Adorno so auch die typische Leidensform moderner Menschen. Dieses Leiden kann sich in Form
141 Dennoch hält Adorno an Veränderung der realen Verhältnisse als notwendiges Gegenstück zu seiner Kritik fest; diese möchte er nicht bloß als Verdinglichungskritik verstanden wissen. Vgl. ebd., S. 191. 142 Kunst kommt dabei die Aufgabe zu, die Versöhnungsperspektive negativ, als das, was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit davon übrigbleibt, unbegrifflich und anschaulich auszudrücken. Philosophie hingegen überführt diese Erfahrung, in der Bruchstücke des Nichtidentischen erscheinen, deutend in das begriffliche Denken. Vgl. dazu Wellmer, Albrecht: »Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Moderne«, in: Albrecht Wellmer (Hg.), Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 9-47, hier S. 13f.
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psychopathologischer Symptome äußern,143 aber auch viel banaler in einem verhärteten, verdinglichten Weltbezug und einem grundlegenden Gefühl der Ohnmacht. Darin spiegelt sich die Unterordnung der Natur, der inneren wie der äußeren, unter den instrumentellen Verfügungsrahmen, der schon in der Rationalitätsgeschichte und in der Gesellschaftstheorie zum Ausdruck kam. Adorno fällt es daher nicht schwer, die Ursachen des Leidens der Menschen in seinen philosophischen Schriften aufzunehmen; denn die Verhärtung der Subjekte gegen sich selbst und andere entspricht der Verhärtung der Gesellschaft gegenüber den Subjekten – und das wiederum lasse sich auf die Verhärtung der subjektiven Vernunft gegen objektives oder schlicht Nichtidentisches zurückführen. Jenes Leiden ist es daher auch, das das Streben nach Wahrheit im vollen – also normativen – Sinne motiviere: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.«144 Dieses »Beredt-Werden-Lassen« des Leidens kann für Adorno nur um Rahmen einer deutenden Philosophie geschehen. Da sich diese aber des begrifflichen Denkens bedient, das die subjektiven Leidensmomente jedoch stets wieder zu objektivieren droht, kann sie dies im Wesentlichen nur in Abwesenheit aussprechen. Daraus erklärt sich auch Adornos Methode, in Konstellationen und Sprachfiguren zu schreiben – er fährt fort: »Das mag erklären helfen, warum der Philosophie ihre Darstellung nicht gleichgültig und äußerlich ist, sondern ihrer Idee immanent. Ihr integrales Ausdrucksmoment, unbegrifflichmimetisch, wird nur durch Darstellung – die Sprache – objektiviert. Die Freiheit der Philosophie ist nichts anderes als das Vermögen, ihrer Unfreiheit zum Laut zu verhelfen.«145
Die Freiheit, das Leiden – die Unfreiheit – auszudrücken und zu reflektieren, damit auch die Bedingung von Wahrheit, ist der philosophischen Selbstkritik, und auf andere Weise dem künstlerischen Ausdruck, vorbehalten. Das Leiden der Menschen lasse sich in der Kunst, wie auch in der Philosophie, dadurch ausdrücken, indem jene die unversöhnte »Wirklichkeit im Lichte der Erlösung«146 darstellen – also negativ auf die Zerrissenheit der modernen Lebenswirklichkeit hinweisen. Damit ist Adornos Methode, ebenso wie der Leidensbegriff selbst und die Richtung der Kritik durch seine grundlegende These der Verschränkung von Sub143 Vgl. T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 221; T. W. Adorno: »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«, S. 55f. 144 T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 29. 145 Ebd. 146 A. Wellmer: »Wahrheit, Schein, Versöhnung«, S. 16.
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jektivität, Rationalität und Verdinglichung bestimmt. Die so gefasste Vernunftpathologie, die er verschiedenen Variationen zum Ausdruck bringt, verweist auf seine hintergründige Geschichtsphilosophie. Dieser zufolge ist die Verzerrung der emanzipatorischen Gehalte der westlichen Vernunft allerdings so weit fortgeschritten, dass aus ihr kein positives normatives Kriterium mehr zu gewinnen ist. Adorno reagiert auf das Scheitern der Geschichtsphilosophie, indem er sie zur Verfallsgeschichte umschreibt. Diese eigenwillige Fassung der Geschichte als Naturgeschichte lässt sich nichtsdestoweniger als ein Verwirklichungsgeschehen lesen; allerdings als eines, in dem die Verwirklichung der Vernunft und Emanzipation unversöhnlich auseinanderfallen. An der Hegelschen Geschichtsauffassung – »Universalgeschichte ist zu konstruieren und zu leugnen«147 – hält Adorno daher zum einen fest, um zu einer Erkenntnis von Geschichte zu gelangen, die ohne das Totalitätsdenken nicht möglich sei. Nach dem Scheitern des interdisziplinären Projekts und der Erfahrung des Faschismus wie der Shoah kann der Sinn der Geschichte aber nur noch gegen die Geschichte behauptet werden. Nicht umsonst beginnt die Negative Dialektik mit den Worten: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.«148 An den wenigen Stellen, wo Adorno von konkretem und physischem Leid spricht, kommt wenig verwunderlich der historisch-materialistische Ausgangspunkt der Verfallsgeschichte zum Vorschein, der an den frühen Horkheimer und an Marcuse erinnert – nämlich die Abschaffung des Leidens im Rahmen des technisch möglichen: »Alle Tätigkeiten der Gattung verweisen auf ihren physischen Fortbestand, mögen sie es auch verkennen, sich organisatorisch verselbständigen und ihr Geschäft nur noch beiher besorgen. […] Ihnen konfrontiert, verlangt der Zweck, der allein Gesellschaft zur Gesellschaft macht, daß sie so eingerichtet werde, wie die Produktionsverhältnisse hüben und drüben unerbittlich es verhindern, und wie es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens.«149
Dagegen ist das, was »bis heute, mit Atempausen, sich fortwälzt, teleologisch das absolute Leiden.«150 Allerdings bleibt durch die weiterhin bestehende Vormacht der geschichtsphilosophischen Normgrundlage unklar, wie sich jenes Leiden im 147 T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 314. 148 Ebd., S. 15. 149 Ebd., S. 203. 150 Ebd., S. 314.
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Bewusstsein und in der konkreten Sozialinteraktion darstellt. Mithilfe psychoanalytischer Konzepte verlängert Adorno lediglich die geschichtsphilosophisch getragene Gesellschaftsdiagnose in die individuelle Psyche hinein. Seine sozialpsychologischen Arbeiten bringen in den Typen autoritärer Persönlichkeiten die in der Dialektik der Aufklärung diagnostizierte – auch da unter Rückgriff auf psychoanalytische Figuren – Verdinglichung und Beziehungslosigkeit zum Ausdruck. Zugleich seien die modernen Menschen aufgrund der totalen Verwaltung und kulturindustrieller Manipulation oberflächlich integriert – mit dem Preis der Ohnmachtsempfindungen, dem Gefühl der Leere und einer unterschwelligen Aggression. Die verwaltete Welt löst gesellschaftlich schließlich das ein, was die Vernunft im Denken schon vollzogen hat: Identität. In der individuellen Sozialisation wiederholt sich so über die Verinnerlichung gesellschaftlicher Anforderungen jener Prozess der Distanzierung und Unterdrückung der Natur. Das heißt: Jeder Mensch wiederholt im Heranwachsen die Dialektik von Subjektivierung und Verdinglichung. Wie die Geschichte bringt auch die Sozialisation ein unterdrücktes Subjekt hervor. Die Doppeldeutigkeit der folgenden Aussage ist daher keine Zufälligkeit: »Wider den Willen ihrer Lenker hat die Technik die Menschen aus Kindern zu Personen gemacht. Jeder solche Fortschritt der Individuation aber ist auf Kosten der Individualität gegangen, in deren Namen er erfolgte, und hat von ihm nichts übriggelassen als den Entschluß, nichts als den je eigenen Zweck zu verfolgen.«151
Die Verweise auf die Kindheit, in der anfangs noch ein gewisses Maß an unverdinglichtem Weltbezug vorherrscht, zieht sich durch Adornos Werk. 152 Das Diktum, »alle Verdinglichung ist ein Vergessen«,153 weist ebenfalls darauf hin, dass in den frühen Kindheits- wie auch Menschheitserinnerungen noch Schichten einer authentischen und mimetischen Erfahrung erhalten geblieben seien. Insofern, so könnte man sagen, durchlebt das Kind nicht nur die Geschichte des Ödipus, wie Freud behauptet, sondern auch die des Odysseus. Adorno ist – wie Freud – 151 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 178. 152 Um einige Beispiele zu nennen: vgl. ebd., S. 50, S. 205, S. 245; T. W. Adorno: »Minima Moralia«, S. 64; T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 366f; Adorno, Theodor W.: »Ästhetische Theorie«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 109; Adorno, Theodor W.: »Die revidierte Psychoanalyse«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften. Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 20-41, hier S. 23f; T. W. Adorno: »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«, S. 75. 153 T. W. Adorno/M. Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, S. 262.
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zur Parallelisierung von geschichtlicher und individueller Entwicklung gezwungen, da seine Pathologiediagnose davon ausgeht, dass der westliche Weltbezug notwendig ein Verstoß gegen eine anthropologische Grundbedingung darstellt. Das Bedürfnis nach einem mimetischen, rezeptiven Bezug auf die Welt wird bereits von den philosophischen und gesellschaftstheoretischen Überlegungen als ein anthropologisches Merkmal mit normativer Bedeutung hingestellt. Als solches kann es aber nicht nur in der geschichtlichen Entwicklungsdynamik eine Rolle spielen, es muss sich auch direkt auf individualpsychologischer Ebene feststellen lassen. Dieser theoretischen Notwendigkeit kommt Adorno in den sozialpsychologischen Studien nach. Aber auch wenn diese die globalere Diagnose erhellen und im Einzelnen plausibilisieren können, erlauben sie keine systematische Beschreibung und Erklärung von psychischen Leidenserfahrungen sowie von ihren Ursachen. Da Adorno die gesellschaftliche, wie auch die individuelle Entwicklung unter derselben normativen Linse betrachtet, müssen ihm auch deren Pathologien als Facetten desselben Grundphänomens erscheinen. Individualdiagnose und Gesellschaftsdiagnose sind daher lediglich Vorder- und Rückseite derselben Medaille. Trotz der Anteilnahme Adornos am Leiden bleibt es daher ein abstraktes, theoretisches Postulat.154 Es ist ein Leiden an totaler Integration. Zwar gibt Adorno mit Bezug auf seine Gesellschaftsdiagnose eine Rechtfertigung für diese Einseitigkeit: In der verwalteten Welt werden »die Individuen zu bloßen Ausführungsorganen des Allgemeinen relegiert«.155 Aber auch wenn davon ausgegangen werden muss, dass Subjektives gesellschaftlich vermittelt ist, ist es nicht schon durch Gesellschaftliches determiniert. Die Formen des Leidens der Subjekte und die entsprechenden Vermittlungsglieder können nicht an der Gesellschaft, sondern nur an den Subjekten selbst abgelesen werden. Und hier zeigt sich Adornos Zugang als unscharf und trotz der Anteilnahme am Leiden als desinteressiert. Es ist kein ideologischer ›Nominalismus‹, sich den subjektiver Formen des Leidens an Gesellschaft zuzuwenden, ohne dieses zugleich der allgemeinen These zu subsumieren; ebenso setzt die Behauptung der subjektiven und sozialen Eigendynamik von Leiderfahrungen nicht subjektive Freiheit voraus.156 Besonders die Authoritarian Personality nähert sich in der Beschäftigung mit den jeweiligen Fällen an subjektive Erscheinungsweisen und Auseinandersetzungen mit dem alltäglichen gesellschaftlichen Leiden an. Auch der Blick auf psychische Symptome und ihre bio154 Zu den verschiedenen Facetten des Leidensbegriffs, der diesen mit einer hedonistischen Ethik zusammenbringt, vgl. Knoll, Manuel: Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie, München: Fink 2002. 155 T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 336. 156 Vgl. ebd., S. 307ff.
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graphischen Hintergründe, wie sie im therapeutischen Kontext beobachtbar sind, könnten hier aufschlussreich sein – wie Adorno auch selber anmerkt. Wenn er etwa in einem späten Zusatz zu seinem Aufsatz Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie davon spricht, dass »Psychologie nicht allein als Medium der Anpassung« bedeutsam sein kann, »sondern auch dort, wo die Vergesellschaftung im Subjekt ihre Grenzen findet«,157 stellt sich allerdings die Frage, wie dies mit seinem übrigen Ansatz vereinbar ist. Psychologie und damit Psychoanalyse hat darin lediglich den Platz einer Theorie dysfunktionaler, auf Verinnerlichung von Zwang basierender Vergesellschaftung.
157 T. W. Adorno: »Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie«, S. 92.
3
Der triebtheoretische Rettungsversuch von Marcuse
Herbert Marcuse teilte wesentliche zeitdiagnostische Einschätzungen mit Adorno und Horkheimer. Auch für ihn zeichnete sich die fordistische Massengesellschaft Mitte des 20. Jahrhunderts durch eine nahezu totale Integration der Gesellschaftsmitglieder aus, die kaum mehr Raum für Abweichendes ließ. Und auch Marcuse zeigte eine zunehmend ambivalente Haltung gegenüber Rationalisierungsprozessen und technologischem Fortschritt, da er hierin nicht nur eine Befreiung von Naturzwängen, sondern auch die Voraussetzung zu immer umfassender Kontrolle und Herrschaft sah. In der Lektüre von Marcuses Arbeiten machen sich aber auch wesentliche Differenzen zur Theorie von Adorno oder Horkheimer bemerkbar. Zum einen fällt etwa der recht aktivistische und revolutionäre Ton auf, der ihn gewissermaßen dazu prädestinierte, als ein Spiritus Rector der Studierendenproteste in den 1960er Jahren zu fungieren. Ungewöhnlich ist aber auch die theoretische Strategie, mit der Marcuse die normative Verankerung der Gesellschaftskritik nach dem Scheitern des materialistischen Projekts wiederherstellen wollte. Während Adorno auf die verdüsterte Gesellschaftsdiagnose mit einem Rückzug auf Vernunftkritik reagierte, nahm Marcuse genau an dieser Stelle Bezug auf die Psychoanalyse – und kippte ins gleichsam andere Extrem. Mithilfe der späten Triebtheorie Freuds versuchte Marcuse eine Tiefendimension des menschlichen Gesellschaftslebens zu erschließen, die selbst dann als normativer Orientierungspunkt einer Gesellschaftskritik dienen könne, wenn die gesellschaftliche Wirklichkeit kaum noch Nischen für abweichendes oder widerständiges Handeln bietet. Die psychoanalytische Triebtheorie verbindet Marcuse dabei mit anthropologischen Überlegungen, in denen sich der Einfluss des frühen Marx, aber auch der philosophischen Ontologie bemerkbar macht. 1
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Vgl. Schmidt, Alfred: »Herbert Marcuse – Versuch einer Vergegenwärtigung seiner sozialphilosophischen und politischen Ideen«, in: Institut für Sozialforschung (Hg.),
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Geschichte konnte von Marcuse so weiterhin als ein Entwicklungsprozess aufgefasst werden, in dem zunehmend die Vorbedingungen für ein gutes Leben geschaffen werden – auch wenn in den modernen Gesellschaften die Möglichkeit zur Ausschöpfung der Potenziale blockiert ist und die Menschen der Konsumund Massengesellschaften davon kaum noch etwas zu wissen schienen. Die Rezeption der psychoanalytischen Triebtheorie sollte es nun erlauben, hinter dem bequemen und leidfreien Leben der Menschen ein Regime der Disziplinierung und Triebunterdrückung zu rekonstruieren und so zu zeigen, dass auch die moderne Konsumgesellschaft systematisch Leiden erzeuge. Dieses Leiden ist nicht mehr das offensichtliche Leiden an blanker Not, sondern es ist ein unterschwelliges an der Unterdrückung der erotischen Triebkomponenten, die durch entfremdete Arbeit erfordert werde. Und, so lautet folglich die Kritik Marcuses, diese Unterdrückung sei bei dem erreichten technischen Niveau überflüssig. Die triebtheoretische Erweiterung der Geschichtstheorie bietet Marcuse die Möglichkeit, auch nach der Radikalisierung der Gesellschaftsdiagnose an den theoretischen Grundmotiven der Geschichtsphilosophie festzuhalten. Seine Theorie entrichtet hierfür aber einen Preis, der besonders aus heutiger Sicht ins Auge fällt: Sie basiert auf derart starken triebanthropologischen Vorannahmen, dass sie mitunter in Spekulation im schlechten Sinne abrutscht. Obwohl sich auch in den Schriften von Horkheimer und Adorno Hinweise auf anthropologische Figuren in der normativen Orientierung finden, ist dieser Zug in der ersten Generation der Frankfurter Schule nirgends so stark ausgeprägt wie bei Marcuse. Interessant ist die Betrachtung von Marcuses Werk dennoch aus mehreren Gründen. An seiner Theorie lassen sich die sozialutopischen Elemente des theoretischen Milieus nachvollziehen, aus dem auch andere Autoren der Frankfurter Schule schöpften, ohne dass jene Elemente bei ihnen so stark in den Vordergrund rückten. Gerade deswegen ist Marcuse aber in der Lage, seine Gesellschaftskritik explizit mit einer hedonistischen Ethik zu verbinden und so die Bedeutung sinnlicher Gratifikation für ein gelingendes Leben und damit für eine bessere Gesellschaft zu betonen.2 Allerdings führt dies nicht dazu, dass Marcuses Ansatz ein feineres Gespür für die konkreten Leiderfahrungen der Menschen entwickelt. Der Versuch, über eine Triebanthropologie wieder an verschüttete normative Potenziale der sozialen LeKritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 11-50. 2
Auch wenn vermutet werden kann, dass Marcuses Bezug auf hedonistische Ethiken am Institut für Sozialforschung nicht auf Ablehnung gestoßen sein dürfte, ist das mit ihnen verbundene materielle und leibliche Glücksversprechen in den Arbeiten von Adorno und Horkheimer nur implizit aufgehoben. Für eine Rekonstruktion der hedonistischen Aspekte in Adornos Theorie vgl. M. Knoll: Theodor W. Adorno.
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benspraxis zu gelangen, sorgt dafür, dass die Theorie Marcuses ebenfalls eine theoretische Abstinenz gegenüber konkreten Leidphänomenen entwickelt. Da für ihn die Entfaltung des Lebenstriebs gleichsam ein objektives Interesse darstellt, und für Marcuse klar war, dass auf dem damaligen technischen Entwicklungsniveau ein weit größeres Maß an Triebbefriedigung möglich war, schien es nicht mehr nötig zu sein, die konkreten, leidvollen Konflikte und die Auseinandersetzungen der Betroffenen zu untersuchen und in die Theoriebildung einzubeziehen. Marcuses Hauptwerke – Eros and Civilization und One-Dimensional Man – werden erst in den beiden Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg geschrieben. Wesentliche der darin enthaltenen Grundmotive lassen sich aber in statu nascendi schon in den Arbeiten nachvollziehen, die er in den 1930er Jahren als Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung verfasste. In dieser Periode ging Marcuse noch davon aus, dass soziale Leidphänomene in den meisten Fällen mit physischen und psychischen Entbehrungen zusammenfielen. Die Forderung nach Linderung der Not im Rahmen des technisch Möglichen schien damit – analog zu Horkheimer – auf der Hand zu liegen und als normatives Fundament der Gesellschaftskritik auszureichen; schließlich legte das offenkundige Elend vieler Menschen nahe, dass diese auch ein greifbares Interesse an seiner Abschaffung haben. Marcuses Arbeiten aus dieser Zeit versuchen daher noch hauptsächlich kulturelle Muster zu identifizieren, die Mühsal und Mangel rechtfertigen, die also jenes mit der Not gegebene Interesse an einem besseren Leben ideologisch beschwichtigten. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass Marcuse die sinnlichen Glücksmöglichkeiten in das Zentrum seiner Gesellschaftskritik stellt. Die Kritik an bürgerlichen Ethiken richtete sich etwa gegen die Vorstellung, dass Freiheit und Glück lediglich im Geistigen oder im Glauben zu erreichen seien, da somit implizit physisches Leiden gerechtfertigt werde. Marcuse nahm im Gegenzug Partei für einen kritischen Hedonismus und sprach damit die Überzeugung aus, dass Freiheit nicht ohne die Möglichkeit zu sinnlicher Befriedigung zu haben ist. 3 Zwar zweifelte Marcuse im Laufe der Jahre an der Wirksamkeit von Ideologiekritik; aber die Orientierung auf sinnliche Glücksmöglichkeiten prägte auch dann noch seine Gesellschaftskritik, als er davon ausging, dass Leiden an Gesellschaft aufgrund der totalen Integration der Menschen kaum noch bewusstseinsfähig ist. In den hedonistisch gefärbten, ideologiekritischen Frühschriften Marcuses macht sich außerdem noch ein anderer Zug bemerkbar, der für Marcuses Denken charakteristisch ist: Die theoretische Basis seiner Kritik wird durch einen ontologisch geprägten Zugang zu Geschichte fundiert, den er während seiner Freiburger Studi3
Vgl. Marcuse, Herbert: »Zur Kritik des Hedonismus«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 250-285.
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enjahre bei Heidegger erworben hat. Das macht sich nicht nur in seiner ›entschlossenen‹ Haltung während der Studierendenproteste bemerkbar, sondern prägte ebenso sein Verständnis der psychoanalytischen Theorie nachhaltig. Diese Motive – sinnliches Glück und eine ontologische Perspektive auf Geschichte – bereiteten den Boden, auf dem Marcuse nach Verschärfung der Gesellschaftsdiagnose eine triebtheoretisch getragene Gesellschaftskritik entwickelte. Die triebtheoretische Reformulierung der normativen Basis erlaubte es Marcuse wieder auf die unabgegoltenen Glücksansprüche der menschlichen Gattung Bezug nehmen zu können, ohne sich jedoch an dem als konsumistisch und repressiv wahrgenommenen ›Alltagsglück‹ der Menschen orientieren zu müssen. Der Eros aus Freuds Triebtheorie, verstanden als Lebenstrieb, bildete damit die anthropologische Grundlage, auf der Marcuse eine normativ gehaltvolle Geschichtstheorie entwerfen konnte. Linderung von Not und Mühsal bestimmte für Marcuse zwar weiterhin die Richtung gesellschaftlichen Fortschritts; diese ließ sich nun aber genauer als Entfaltung des Eros begreifen. Die Psychoanalyserezeption Marcuses füllt auf diese Weise eine Leerstelle, die entstand, als er feststellen musste, dass nicht jede Form von gesellschaftlichem Unrecht mit der Empfindung von Leid einhergeht; dass also eine gewisse Befriedigung auch in einer ungerechten Gesellschaftsordnung möglich ist. Die psychoanalytische Triebtheorie fungiert – in anderen Worten – gewissermaßen als Ersatz für die mangelnde Anbindung der Theorie an die soziale Wirklichkeit. Das grundsätzliche Problem, wie im Rahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie ein Bezug auf die normative Struktur von Leiderfahrungen möglich ist, wurde so aber nicht gelöst. In einem ersten Schritt sollen nun die Argumente der frühen Arbeiten genauer umrissen werden, die Marcuse in seiner späten Schaffensphase mithilfe der Psychoanalyse reformuliert und weiterentwickelt hat. 4 Hier lassen sich bereits prägende Motive nachvollziehen – die erwähnte Orientierung auf sinnliches Glücks4
Die Arbeiten aus den 1920er und frühen 1930er Jahren, in denen Marcuse noch stark von Heidegger geprägt war, werden hier nur erwähnt, sofern sie seine späteren Arbeiten beeinflussen. In ihnen versuchte Marcuse eine Synthese der der Heidegger’schen »Daseinsanalytik« und des historischen Materialismus, verließ diesen Weg aber spätestens mit dem Eintritt in das Institut für Sozialforschung. Diese frühe Beschäftigung hat aber ihre Spuren in dem anthropologischen Zug seiner Theorie, insbesondere der normativen Grundlagen, wie auch in der Kritik an Technik und Wissenschaft hinterlassen. Vgl. A. Schmidt: »Herbert Marcuse – Versuch einer Vergegenwärtigung seiner sozialphilosophischen und politischen Ideen«, S. 13ff; vgl. auch Wolin, Richard: »Introduction. What is Heideggerian Marxism?«, in: Richard Wolin/John Abromeit (Hg.), Heideggerian Marxism. Herbert Marcuse, Nebraska: University of Nebraska Press 2005, S. XI-XXX.
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empfinden sowie die eher ontologisch fundierte Gesellschaftskritik und Geschichtstheorie (3.1). Die normativen Grundlagen der frühen Arbeiten Marcuses wurden allerdings durch die radikalen politischen und gesellschaftlichen Einschnitte in den 1930er und 1940er Jahren untergraben. Die Spuren, die das in Marcuses Gesellschaftstheorie hinterlassen hat, sollen in Abschnitt 3.2 rekonstruiert werden. In einem dritten Schritt wird gezeigt, dass die Rezeption der Psychoanalyse als eine Reaktion auf das Scheitern der progressiven Hoffnungen gelesen werden kann, die Marcuse mit dem frühen Horkheimer teilte. Der Psychoanalysebezug restauriert die normativen und theoretischen Voraussetzungen der geschichtlichen Verwirklichungskonstruktion im Kontext der veränderten gesellschaftlichen Lage nach dem zweiten Weltkrieg (3.3).
3.1 LEITMOTIVE IN MARCUSES DENKEN: GLÜCK UND DAS WESEN DES MENSCHEN Kritik der bürgerlichen Bewusstseinsformen und die Orientierung auf einen kritischen Hedonismus Marcuses Arbeiten zeichneten sich schon zeitig durch einen emphatischen Bezug auf die sinnlichen Dimensionen der modernen Lebensweise aus. Für Marcuse gehört es zum Begriff eines guten Lebens, dass sich sinnliche Befriedigung und Entfaltung – im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten – zwanglos und autonom erlangen lassen. Diese Orientierung zieht sich durch sämtliche Schriften Marcuses und erfährt nach dem zweiten Weltkrieg eine markante, triebtheoretische Auslegung. Zunächst spielt die sinnliche Fassung des Begriffs des guten Lebens jedoch vorwiegend die Rolle eines normativen Korrektivs, mit dessen Hilfe er die ideologische Verengung des Freiheitsbegriffs im bürgerlichen Bewusstsein kritisierte. Freiheit wird darin, wie Marcuse in Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur und Philosophie nachweist, vor allem als eine geistige Freiheit verstanden, die die materielle Unfreiheit gezielt außer Acht lässt. 5 Dem Autonomiebegriff der bürgerlichen Gesellschaft entspricht folglich ein unglückliches Bewusstsein,6 da all die geistigen und technischen Errungenschaften eines nur ungenügend geleistet haben: nämlich die gesellschaftlichen Chancen zu mehren
5
Vgl. H. Marcuse: »Studie über Autorität und Familie«, S. 85.
6
Vgl. Marcuse, Herbert: »Über den affirmativen Charakter der Kultur«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 186-226.
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ein glückliches Leben zu führen. Wer hungert oder sich in einem eintönigen Alltag abplagt, darauf insistiert Marcuse, kann auch im Geiste weder frei noch glücklich sein. In der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Kultur und ihrer Vorläufer kritisiert Marcuse also stets, dass darin subjektive Erfüllung lediglich in einem jenseitigen und immateriellen Bereich zugelassen werde. So könne etwa sinnliche Befriedigung im sublimierten Kunstgenuss erfahren werden – im sozialen Alltag habe sie in der bürgerlichen Gesellschaft aber keinen Platz. Das versucht er einerseits an den aufklärerischen Gesellschaftsvorstellungen nachzuweisen, andererseits aber auch im bürgerlichen Kulturverständnis. Glück gewinnt in diesen Vorstellungen erst moralische Qualitäten, wird erst im eigentlichen Sinne vernünftig, wenn es die sinnliche Ebene hinter sich lasse. Sinnliches Glück dagegen werde zu einer bloßen Privatangelegenheit degradiert, die die Einrichtung der Gesellschaft nichts angehe und bei der vermutet wird, dass sie aufgrund ihrer ›triebhaften‹ Struktur gar der normativen Selbstbestimmung der Menschen im Wege steht. 7 Diese asketischen, unkörperlichen Züge der bürgerlichen Glücksvorstellungen erfüllen eine ideologische Funktion, wie Marcuse hervorhebt: »Auf die Not des isolierten Individuums antwortet sie [die bürgerliche Kultur, F.S.] mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die äussere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Hatten zur Zeit des kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft alle diese Ideen einen fortschrittlichen, über die erreichte Organisation des Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Masse mit der sich stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen und der blossen rechtfertigenden Selbsterhebung: sie verdecken die leibliche und psychische Verkümmerung des Individuums.«8
An dieser Stelle lässt sich schon erahnen, dass Marcuse bereits früh davon ausgeht, dass das Streben nach Glück einen transformativen und herrschaftskritischen Charakter besitzt. Ein wesentlicher analytischer Fokus von Marcuses Arbeiten liegt folglich darin zu klären, weswegen das Glücksbedürfnis der Menschen sich nicht in Kämpfen um eine ihm angemessenere Gesellschaftsordnung entlädt. Während Marcuse später die integrative Kraft der Konsumkultur für das Ausbleiben sozialer Kämpfe verantwortlich macht, gehe die bürgerliche Kultur in
7
Vgl. etwa Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg: Meiner 1990, S. 84ff.
8
H. Marcuse: »Über den affirmativen Charakter der Kultur«, S. 195.
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den Jahrhunderten zuvor einen anderen Weg: Sie legitimiere Mühsal und Mangel dadurch, dass sie ideologisch die Bedeutung sinnlichen Glücks herunterspiele. Exemplarisch lässt sich Marcuses frühe Kritik in seinem Beitrag zu den Studien über Autorität und Familie nachvollziehen. In diesem untersucht er das »unglückliche Bewusstsein« des Bürgertums und die damit verbundene Vorstellung von Innerlichkeit, die das Glück im Rückzug auf das Private und in einem erhabenen Kunstgenuss verortet, im Kontext der Gesellschaftsvorstellungen der Aufklärung. Die darin enthaltene Verbindung von gesellschaftlicher Unterordnung und privatem, sublimiertem Glück sieht Marcuse bereits mit dem Protestantismus aufkommen.9 Schon Luther versteht die Freiheit des Menschen vor allem als eine innere.10 Zugleich fordert Luther der weltlichen Autorität unbedingt Folge zu leisten, selbst wenn diese schlecht oder kritikwürdig ist – Ordnung soll der Ordnung wegen gewahrt werden. Wahre Freiheit kann im lutherschen Sinne schließlich nicht durch weltliche Werke gestiftet, sondern nur im Verhältnis zu Gott und das heißt lediglich in der Sublimierung zum Glauben erlangt werden.11 Freiheit bedarf hier keines Glückes, noch nicht einmal der physischen Freiheit. Interessant ist aber auch, dass der Rückzug aus der Welt nicht nur die Anerkennung der äußeren Unfreiheit in jener begründet, sondern die weltlichen Verhältnisse dadurch weitgehend von ethischer Relevanz befreit werden: Das Verhältnis zur Natur oder zu anderen Menschen besitzt über die Pflichterfüllung hinaus kaum noch normative Bedeutung. Luthers Freiheitsbegriff bereitet somit ein Weltverhältnis vor, das die Außenwelt und vor allem die Natur lediglich als Material der Aneignung betrachtet.12 An dieser Stelle ist jedoch wichtig, dass die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Glücksmöglichkeiten nicht nur eine religiös-asketische Lebensführung auszeichnet; sie sei darüber hinaus auch in die aufklärerischen Gesellschaftsvorstellungen eingesickert. Sowohl bei Kant als auch bei Hegel findet sich die Konzeption, dass sinnliches Glück als subjektives und vereinzeltes nicht im eigentlichen Sinne für eine vernünftige Gesellschaftsordnung von Belang ist, da diese schließlich Ausdruck einer Allgemeinheit sein müsse.13 Kant erweist sich etwa dahingehend als Nachfolger Luthers, dass die Freiheit der Person bei ihm in 9
H. Marcuse: »Studie über Autorität und Familie«, S. 159.
10 Vgl. ebd., S. 89. 11 Vgl. ebd., S. 91. 12 Auf dieses aktivistische und zugleich weltverneinende Selbstverständnis hat bereits Max Weber hingewiesen. Vgl. M. Weber: Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus, S. 163; vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 288f. 13 Vgl. H. Marcuse: »Zur Kritik des Hedonismus«, S. 267f.
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einem transzendentalen Sinne bereits gegeben ist. Sie wird als Freiheit des Willens unabhängig von äußeren Bedingungen vorausgesetzt. 14 Damit ist die Freiheit des Menschen als Vernunftwesen gemeint, sich ein allgemeines moralisches Gesetz – den kategorischen Imperativ – zu geben.15 Schon diese Fassung der allgemeinen Freiheit unter einem moralischen Gesetz gibt Zweifel auf, ob damit die individuellen Glücksansprüche mitumfasst sind. Deutlich wird die Verbindung von Freiheit und sinnlicher Entsagung aber vor allem dann, wenn Kant sich dem Rechtssystem zuwendet. Kant bestimmt das Recht als einen allgemeinen Zwang, der die Willkürfreiheit – so nennt Kant die Handlungsfreiheit in Abgrenzung zur Vernunftfreiheit – der Menschen einschränkt, um diese voreinander zu schützen und die öffentliche Ordnung zu wahren.16 Zwar soll die gesellschaftliche Ordnung ebenfalls sicherstellen, dass der öffentliche Ausdruck der moralischen Freiheit des Menschen, nämlich der öffentliche Vernunftgebrauch, uneingeschränkt möglich ist. Aber das betrifft vorrangig die Freiheit der Wissenschaften 17 und schließt nicht notwendig die Freiheit der konkreten Individuen und ihrer Ansprüche mit ein. Die Suche nach Glück bleibt hier eine Privatangelegenheit, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auch eingeschränkt werden könne. Kants Gesellschaftsverständnis – so versucht Marcuse nachzuweisen – zielt daher trotz der aufklärerischen Stoßrichtung nicht auf materielle Gleichheit und Freiheit, sondern vorwiegend auf den Schutz der Besitzverhältnisse und der darauf aufbauenden repressiven Sozialordnung.18 Auch Hegels Denken zeichne sich durch die eigentümliche Unterordnung der individuellen Freiheits- und Glücksansprüche unter die Allgemeinheit aus. Zwar kritisiert Hegel Kant dafür, dass dieser das Allgemeininteresse lediglich als allgemeine Einschränkung der Einzelinteressen versteht. Hegels Freiheitsbegriff geht dagegen davon aus, dass sich Freiheit in einem intersubjektiven, sittlichen Verhältnis entfalte.19 Freiheit kann sich daher nicht im Subjekt verwirklichen, sondern nur in einer außer ihm stehenden sozialen Struktur – und hier erfährt He14 Vgl. I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 33f. 15 Vgl. ebd., S. 39. 16 Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 338ff. 17 Vgl. H. Marcuse: »Studie über Autorität und Familie«, S. 112; Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg: Meiner 1965, S. 1-9, hier S. 3. 18 Vgl. H. Marcuse: »Studie über Autorität und Familie«, S. 120. 19 Vgl. beispielsweise G. W. F. Hegel: Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, S. 111; Hegel, Georg W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 292.
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gels Argumentation eine repressive Wendung: Denn dies ist für ihn der bürgerliche Staat.20 Trotz der kritischen Distanz, die Hegel zu Kant einnimmt, wiederholt sich hier die repressive Grundtendenz: »Das Individuum gehorcht den Gesetzen und weiß, daß es in diesem Gehorsam seine Freiheit hat.«21 Mit Marx schließt Marcuse, dass die Freiheitsbegriffe von Kant, aber auch von Hegel die reale, materielle Unfreiheit und Glücklosigkeit der Menschen, die aus der kapitalistischen Produktionsweise resultiere, vernachlässige und sie damit ideologisch rechtfertige.22 In der Auseinandersetzung mit Luther, Kant und Hegel sind vor allem zwei Punkte bedeutsam. Zum einen zeigt Marcuse hier, dass in der abendländischen Ideengeschichte Glück und Vernunft auseinanderfallen.23 Glück, Lust und Erfüllung werden ins Private verbannt; ihnen wird ein bloß partikularer Charakter beigemessen. Marcuse macht diesen Punkt auch in ähnlicher Weise mit Bezug auf das bürgerliche Kulturverständnis.24 Daraus ergibt sich für Marcuses Theorie nun die Aufgabe nachzuweisen, dass die Glücksansprüche der Menschen nicht etwa einer vernünftigen Gesellschaftsordnung im Wege stehen, sondern in sich bereits den Keim besserer Verhältnisse tragen. Das hebt Marcuse in seinen frühen Arbeiten etwa in der Auseinandersetzung mit dem philosophischen Hedonismus hervor. Später, nach Radikalisierung der Gesellschaftsdiagnose, wird er diesen Gedanken schließlich über eine Synthese von Schillers Überlegungen zur Ästhetik und Freuds Triebtheorie zu begründen versuchen. Die Betonung des vernünftigen Gehalts der sinnlichen Bedürfnisse weist aber noch auf einen zweiten wichtigen Punkt hin. Denn für Marcuse hat dieser Gedanke potenziell praktische Konsequenzen. Der erzwungene Verzicht auf sinnliche Befriedigung und das damit einhergehende Leid bilden schließlich ein Motiv zur Revolte gegen die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die ursächlich an der Verhinderung der Befriedigungsmöglichkeiten beteiligt sind.25 Dieses Motiv bestimmt auch die Perspektive, mit der Marcuse auf die materialistische Geschichtsauffassung blickt: »Die Theorie der Gesellschaft ist ein ökonomisches, kein philosophisches Problem. Es sind vor allem zwei Momente, die den Materialismus mit der richtigen Theorie verbinden: die Sorge um das Glück der Men20 Vgl. Taylor, Charles: Hegel and Modern Society, Cambridge: Cambrigde University Press 1979, S. 96; G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 399f. 21 Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Hamburg: Meiner 1955, S. 120. 22 Vgl. H. Marcuse: »Studie über Autorität und Familie«, S. 169. 23 Vgl. H. Marcuse: »Zur Kritik des Hedonismus«, S. 256f. 24 Vgl. H. Marcuse: »Über den affirmativen Charakter der Kultur«. 25 Vgl. H. Marcuse: »Zur Kritik des Hedonismus«, S. 262.
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schen, und die Überzeugung, daß dieses Glück nur durch eine Veränderung der materiellen Daseinsverhältnisse zu erreichen sei.«26 Eine materialistische Theorie schließt für Marcuse damit auch die Solidarität mit den Glücksbedürfnissen der Menschen ein. Und da die damaligen sozialen Verhältnisse noch recht ungeschönt vor Augen führten, dass jene Bedürfnisse für einen großen Teil der Menschen unerfüllt bleiben müssen, galt es noch als sicher, dass ihnen ein transgressives Moment innewohnt. Die aufkommende Konsumkultur und das Ansteigen des allgemeinen Lebensstandards in den 1940er und 1950er Jahren nahmen dem Versprechen eines leidfreien Lebens jedoch den revolutionären Charakter. Das machte es notwendig, die normativen Aspekte der ›promesse du bonheur‹ klarer zu rekonstruieren und es nicht nur negativ als die Abwesenheit von Not und Elend zu bestimmen. Marcuses ontologische Grundlegung der Geschichtstheorie: Der historische Möglichkeitsraum als Wesen des Menschen Marcuse versuchte schon in seinen früheren Arbeiten ein Kriterium anzugeben, um die Rationalität von Glücksansprüchen darzulegen. Dieses Kriterium ist in der Zeit, bevor Marcuse die psychoanalytische Triebtheorie aufgriff, zwar noch recht abstrakt gefasst. Nichtsdestoweniger lassen sich an diesem zwei Merkmale nachvollziehen, die auch die triebtheoretische Normativitätskonzeption der späteren Arbeiten noch prägen: Zum einen ist das Kriterium dezidiert geschichtlich bestimmt, zum anderen gibt ihm Marcuse auch einen ontologischen Status. Obwohl Marcuse in seinen Arbeiten versucht, die menschliche Suche nach Lebensglück im Rahmen einer sozialphilosophischen Reflexion zu ihrem Recht zu verhelfen, affirmiert er nicht jegliche Form der Befriedigung. Das Streben nach Befriedigung habe – wie bereits erwähnt wurde – nur dann eine rationale und progressive Struktur, wenn es auf die Verbesserung der Glücksmöglichkeiten aller ziele und damit eine progressive Stoßrichtung aufweise: »Das allgemeine Glück setzt die Erkenntnis des wahren Interesses voraus: daß der gesellschaftliche Lebensprozess in einer Weise verwaltet wird, durch die die Freiheit der Individuen mit der Erhaltung des Ganzen auf Grund der gegebenen objektiven geschichtlichen und natürlichen Bedingungen in Einklang gebracht wird.«27
26 H. Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie«, S. 227f. 27 H. Marcuse: »Zur Kritik des Hedonismus«, S. 281.
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Glück werde vernunftfähig, wenn es auf die allgemeine Ermöglichung eines guten Lebens, das heißt »auf die Schaffung einer gesellschaftlichen Organisation, in der die Individuen nach ihren Bedürfnissen gemeinsam ihr Leben regeln«28 zielt. ›Wahre‹ Bedürfnisse zeichnen sich für Marcuse also dadurch aus, dass sie auf die Potenziale und Möglichkeiten verweisen, die im aktuellen geschichtlichen Zustand gegeben sind. Sie verweisen damit auf die objektiven Möglichkeiten der Linderung von Leid, Not und Versagung. Falschen Bedürfnissen hingegen gehe dieses transgressive Element ab, sie bescheiden sich mit dem Genuss im Bestehenden.29 Es ist hier der historische Möglichkeitshorizont, und nicht die aktuelle Einrichtung der Gesellschaft, der den Rahmen und die Grenze der Glücksforderungen definiert: Die Vorbedingungen eines guten Lebens seien soweit allgemein zu verwirklichen, wie es das technische und gesellschaftliche Entwicklungsniveau erlaube. Mit dem utopisch konnotierten, aber geschichtstheoretischen Wahrheitsbegriff greift Marcuse die Forderung der Allgemeinheit auf, die schon bei Kant und Hegel formuliert worden war, versucht ihr aber den repressiven, herrschaftsstützenden Charakter zu nehmen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle außerdem, dass Marcuse dem geschichtlichen und normativen Wahrheitsbegriff einen ontologischen Status verleiht. In dem Aufsatz Zum Begriff des Wesens bezeichnet Marcuse den historischen Möglichkeitsraum auch als das historische Wesen des Menschen.30 Das, was Menschen eigentlich sind, ist somit dadurch bestimmt, was sie gemessen am historischen Möglichkeitsraum sein könnten. Ein Arbeiter, ebenso wie eine Unternehmerin sind dieser Konzeption nach lediglich eingeschränkte und verzerrte Erscheinungsformen des historischen Wesens der Menschen, da sie unter ökonomischen Herrschaftsverhältnissen aufgewachsen, von diesen geprägt sind und auch ihr alltägliches Leben in ihnen zubringen. Der Wesensbegriff, wie er von Marcuse dargelegt wird, fungiert auf diese Weise als ein normatives Konzept, mit dessen Hilfe gesellschaftliche Institution, kulturelle Werke, aber auch Lebensformen »an ihren realen Möglichkeiten gemessen« werden können und sich so »als die ›schlechte‹ Erscheinungsform eines Inhalts« erweisen, »der durch Auf28 H. Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie«, S. 234. 29 Vgl. H. Marcuse: »Zur Kritik des Hedonismus«, S. 276f. Marcuse hält an dieser Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen sowie Interessen in sämtlichen Arbeiten fest. Vgl. Marcuse, Herbert: »Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft«, in: Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 25f. 30 Marcuse, Herbert: »Zum Begriff des Wesens«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 45-84.
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hebung dieser Erscheinungsform gegen die mit ihr verbundenen Interessen und Kräfte zu verwirklichen ist.«31 Marcuse gibt dem Spannungsverhältnis zwischen Wesen und Erscheinung eine erkennbar marxistische Deutung. Denn die Trennung von Wesen – dem, was der Mensch sein könnte – und der Erscheinung – dem, was er unter gegebenen Verhältnissen ist – führt er schließlich auf die Klassenstruktur des Kapitalismus zurück.32 Wahre Bedürfnisse können daher nicht im Alltag befriedigt werden, sondern nur im Rahmen einer politischen Praxis, die die bestehenden gesellschaftlichen Widersprüche aufhebt – in sozialen Kämpfen. In diesem Rahmen bestimmt sich auch die Aufgabe der Kritischen Theorie: »Wenn […] die Theorie sich mit den vorwärts gerichteten Kräften der Geschichte verbindet, wird die Erinnerung an das, was eigentlich sein kann, zu einer zukunftsgestaltenden Macht. Die Aufzeigung und Festhaltung des Wesens wird zur Leitidee der verändernden Praxis.«33 Die Aufgabe der Kritischen Theorie besteht so verstanden darin, die utopischen Aspekte des Leidens an der unvollkommenen Wirklichkeit zu bergen und die Idee eines Besseren in Erinnerung zu rufen, um so fortschrittliche Bewegungen anzuregen.34 Das eigentliche Wesen des Menschen liege also in der Ausschöpfung des historischen Möglichkeitsraumes; und die normative Wahrheit von Kunstwerken, von Glücksversprechen, aber auch die kritische Funktion des Leidens und einer entsprechenden Kritischen Theorie bestimme sich darüber, inwieweit sie jenes 31 Ebd., S. 70. 32 Vgl. ebd., S. 80f. 33 Ebd., S. 74. Auch wenn die ontologischen Figuren aus Marcuses Argumentation nach und nach verschwinden, gebraucht er ähnliche Formulierungen auch später noch; so etwa in der Eindimensionale Mensch: »Das dialektische Denken versteht die kritische Spannung zwischen ›ist‹ und ›sollte‹ zunächst als einen ontologischen Sachverhalt, der der Struktur des Seins selbst zukommt. Die Erkenntnis dieses Seinszustandes – seine Theorie – intendiert jedoch von Anfang an eine konkrete Praxis.« (H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 149). 34 Die Kritische Theorie habe daher notwendig ›utopische‹ Züge: »Sie [die Wahrheiten, F.S.] erscheinen in ihr als ein Bewußtmachen der Möglichkeiten, zu denen die geschichtliche Situation selbst herangereift ist, und sie sind in den ökonomischen und politischen Begriffen der kritischen Theorie aufbewahrt.« (H. Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie«, S. 249). Marcuse nimmt dabei – und auch später noch – Bezug auf das Konzept der »konkreten Utopie« von Ernst Bloch, gibt dieser aber eine deutlich existentialistische beziehungsweise ontologische Wendung, die an Heidegger und Sartre gemahnt. Vgl. Fahrenbach, Helmut: »Das Utopieproblem in Marcuses Kritischer Theorie«, in: Institut für Sozialforschung (Hg.), Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 74-100.
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Wesen zum Ausdruck bringen.35 Diese Formulierung ist abstrakt, zeigt aber gerade in ihrer Abstraktheit die Probleme, die sich für Marcuses Ansatz ergeben und tatsächlich ergeben haben. Zwar ist davon auszugehen, dass die Reduktion von Not und die Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse – wie etwa Wohnen, Nahrung und physische Unversehrtheit – zum Programm der Verwirklichung des historischen Wesens des Menschen gehören. Darüber hinaus bleibt Marcuse aber vage und es bleibt unklar, welche Formen der Befriedigung in der Lage sind, das formulierte Glücksversprechen authentisch einzulösen. Nicht alle Lebensformen sind gleich gut geeignet, um jenes Versprechen zu realisieren. Das Konzept des geschichtlichen Wesens- oder Wahrheitskerns der menschlichen Lebensweise ist folglich zusätzlich noch auf eine substanzielle Konzeption eines guten Lebens angewiesen, mit der sich inhaltlich bestimmen lässt, ob darunter etwa die kulturindustriell erzeugten Konsumangebote oder doch etwas ganz anderes fällt. Marcuse lässt den Punkt an dieser Stelle allerdings offen. Zwar lässt er erkennen, dass ein gutes Leben sich durch die Möglichkeit zu sinnlicher Gratifikation auszeichnet und Leiden im Gegenteil auf einen Mangel an Gratifikation zurückzuführen ist. Aber er setzt hier noch voraus, dass Menschen Herrschaft – und in dem Fall vor allem ökonomisch vermittelte Herrschaft – als leidvoll empfinden. Das Problem gewinnt erst im amerikanischen Exil an Bedeutung. Schon in den späten 1930er Jahren zeichnete sich ab, dass das soziale Leiden der Menschen nicht zwangsläufig die offensichtlichen Formen von materieller Not annimmt; ebenso schien die kommerzialisierte Kultur zunehmende Befriedigungsmöglichkeiten zu bieten, die den transgressiven Charakter vermissen lassen, den Marcuse von ihnen erwartete.
3.2 RADIKALISIERUNG DER ZEITDIAGNOSE UND DIE ERSCHÜTTERUNG DER NORMATIVEN GRUNDANNAHMEN Trotz seiner Kritik am Freiheitsbegriff der idealistischen Philosophie und an der ideologischen Verewigung der Lebensnot bewahrt Marcuse in den Arbeiten vor dem Ende des zweiten Weltkrieges einen gewissen optimistischen Grundton. Zwar erweise sich das bürgerliche Denken gegenüber materieller Ungerechtigkeit als passiv und rechtfertigend. Auch betrachtet Marcuse die Ausdehnung techni-
35 Vgl. H. Marcuse: »Zum Begriff des Wesens«, S. 76.
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scher Verwaltungskomplexe zunehmend mit Sorge.36 Doch blieb es für ihn lange unzweifelhaft, dass einerseits die Menschen an der ungerechten Gesellschaftsordnung als solcher Leiden und das andererseits die zunehmenden technischen und produktiven Möglichkeiten ein besseres Leben für alle in Aussicht stellen. Da Marcuses Methode, über die Analyse der »Objektivationen des Lebens«37 in Kultur und Philosophie die kontemporären Formen des kritischen Bewusstseins zu rekonstruieren, nicht wie der frühe Horkheimer darauf angewiesen war, dass sich dieses Bewusstsein auch auf breiter Basis in sozialen Bewegungen nachweisen lasse, wurde die normative Grundlage von Marcuses Ansatz zunächst weniger erschüttert. Sie war von Beginn an theoretischer und konnte daher das Scheitern der Arbeiter*innenbewegung besser verarbeiten, solange in Kunst, Philosophie und Wissenschaft noch die Vision einer besseren Welt – das »Wesen« der Menschen – ideologiekritisch festzustellen war. Allerdings gelangte Marcuse nach und nach zu der Überzeugung, dass die Ausweitung der technologischen Naturbeherrschung nicht nur die in Kunst und Fantasie gegebenen Visionen eines leidfreien Lebens immer greifbarer werden ließ,38 sondern paradoxerweise eine Herrschaftsapparatur beförderte, die den Gedanken an gesellschaftliche Veränderung schon im Keim erstickte. Infolge der sozialstaatlichen Programme, die mit dem amerikanischen New Deal einsetzten, nahm das massenhafte Leid der Menschen zwar ab. Aber das führte nicht zu einer Befreiung der Menschen. Stattdessen beobachtete Marcuse, dass die Konsumkultur ein Glücksangebot machte, das von jedem kritischen Impetus gereinigt war. Marcuse übernahm zudem schrittweise die These von Horkheimer und Adorno, dass die mit der umfassenden Integration einhergehende Totalisierung von Herrschaft nicht erst durch die Verwendung der Technologie hervorgebracht wird, sondern schon im instrumentellen und technischen Weltbezug der menschlichen Arbeit selbst angelegt ist. Die marxistische Auffassung einer ökonomischen Herr-
36 Vgl. Marcuse, Herbert: »Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung 1934-1941, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 286-319. 37 Marcuses Methode scheint von Diltheys Hermeneutik geprägt zu sein. Vgl. Dilthey, Wilhelm: »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«, in: Bernhard Groethuysen (Hg.), Gesammelte Schriften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979, S. 146ff. 38 Ursprünglich schrieb Marcuse noch: »Die Grenzen der Phantasie sind so nicht mehr allgemeinste Wesensgesetze […], sondern in striktem Sinne technische Grenzen: sie sind durch den Stand der technischen Entwicklung vorgeschrieben.« (H. Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie«, S. 245.)
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schaft, die Marcuse in seinen frühen Schriften noch zeigte, 39 wandelte sich damit zur These der Herrschaft der technologischen Rationalität.40 Zwar hielt Marcuse auch später noch daran fest, dass die Befreiung der Menschen gerade durch die zunehmende technische Naturbeherrschung möglich gemacht werde; doch da die damals vorherrschende Kultur und Philosophie für Marcuse keinen Hebelpunkt für eine ideologiekritische Rekonstruktion progressiver Potenziale mehr bot, suchte er jenen außerhalb der Gesellschaftsverhältnisse – nämlich in der menschlichen Triebstruktur. Mit diesem Versuch, die normativen Grundlagen der geschichtsphilosophischen Gesellschaftskritik zu retten, verabschiedete sich Marcuse jedoch weitgehend davon, die Perspektive seiner Theorie in der sozialen Wirklichkeit auszuweisen. Im folgenden Abschnitt wird die Struktur von Marcuses Gesellschafts- und Vernunftdiagnose nachgezeichnet, die es notwendig machte, die progressiven Potenziale nicht mehr in den Leiderfahrungen der Menschen und deren Niederschlag in den Werken der Kultur, sondern in einer triebtheoretischen Tiefenstruktur zu suchen. Dabei wird zunächst die veränderte Gesellschaftsdiagnose rekonstruiert, mit der Marcuse nah an Adorno und Horkheimer ebenfalls von einer totalen Integration der Menschen spricht. In einem zweiten Schritt wird dann Marcuses Einschätzung moderner Rationalität und Kultur rekonstruiert. Anschließend lässt sich zeigen, dass die Rezeption der Psychoanalyse die theoretische Lücke schließen soll, die durch die veränderte Gesellschaftsdiagnose und durch die Technik- und Rationalitätskritik in die normative Grundlage seiner Gesellschaftskritik gerissen wurde. Eindimensionales Leben und das Verschwinden des Leidens Der Umschwung in Marcuses Denken setzt schon in den 1940er Jahren ein, führt aber erst in den 1960er Jahren zu einer systematischen Reformulierung der Gesellschaftsdiagnose. Angestoßen wurde der Wandel durch Überlegungen über die zunehmende Monopolisierung der Wirtschaft und der Ausweitung von Bürokratie. Marcuse folgt hier weitgehend der These der verwalteten Welt, in der Zentralisierung und Bürokratisierung der Machtapparate mit einer Verdinglichung der Lebensführung einhergehen.41 Die Standardisierung und Quantifizierung der Arbeitsprozesse, die Verbreitung von Massenkultur sowie die Entstehung von umfassenden Verwaltungskomplexen in Wirtschaft und Staat – kurz: das Aufkommen des Fordismus – schienen der Verdinglichungsthese von Lukács recht zu 39 Vgl. etwa H. Marcuse: »Zum Begriff des Wesens«, S. 82. 40 Vgl. H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 161. 41 Vgl. H. Marcuse: »Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie«, S. 290.
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geben. Die vielfältigen Konsequenzen, die dieser Prozess zeitigt, möchte Marcuse mit dem Begriff der Eindimensionalität fassen. Damit meint Marcuse einen gesellschaftlichen Zustand, in dem jede Erinnerung daran, dass es möglicherweise anders, und damit auch besser sein könnte, weitgehend aus dem Denken, aber auch aus der sozialen Lebenspraxis selbst gewichen ist. Marcuse schließt sich damit ebenfalls Adornos und Horkheimers Vernunftkritik an und vermutet, dass diese Entwicklung durch Rationalisierungsprozesse vorbereitet und vorangetrieben wurde. Das utopische Potenzial, das der technische Fortschritt eröffne, werde damit im selben Moment durch diesen aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verdrängt.42 Der beherrschende Weltbezug, der der Aneignung von Natur durch Arbeit innewohnt, gelange infolge der zunehmenden Rationalisierung und Technisierung in den westlichen Gesellschaften schließlich zur Vorherrschaft: »Das technologische Apriori ist insofern ein politisches Apriori, als die Unterdrückung der Natur die des Menschen zur Folge hat und als die ›vom Menschen hervorgebrachten Schöpfungen‹ aus einem gesellschaftlichen Ganzen hervor und in es zurückgehen. Dennoch kann man darauf bestehen, daß die Maschinerie des technologischen Universums ›als solche‹ politischen Zwecken gegenüber indifferent ist – sie kann eine Gesellschaft nur beschleunigen oder hemmen. […] Wird die Technik jedoch zur umfassenden Form der materiellen Produktion, so umschreibt sie eine ganze Kultur; sie entwirft eine geschichtliche Totalität – eine ›Welt‹«43
Und Marcuse lässt keinen Zweifel daran, dass sich das »technologische Apriori« tatsächlich totalisiert habe. Getragen von wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Neuerungen habe sich in den Nachkriegsgesellschaften ein allumfassendes System der Kontrolle entwickelt, dass Herrschaft mit einer sanften, aber nichtsdestoweniger totalen Integration verbinde. »Mit dem technischen Fortschritt als ihrem Instrument wird Unfreiheit – im Sinne der Unterwerfung des Menschen unter seinen Produktionsapparat – in Gestalt vieler Freiheiten und Bequemlichkeiten verewigt und intensiviert.«44 Marcuse spricht hier auch von neuen »Formen der Kontrolle«,45 deren Beschreibung stark an Adornos These der Kulturindustrie erinnert. Die neuartige Disziplinierung der Menschen geschehe nicht mehr notwendig mittels physischem Zwang und auferlegter Entbehrung, sondern finde zunehmend über massenmediale Unterhaltungsangebote und einer konsum-
42 Vgl. H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 17. 43 Ebd., S. 168f. 44 Ebd., S. 52. 45 Ebd., S. 21.
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orientierten Erzeugung von Lebensstilen und Identitäten statt.46 Zwar entlaste der gestiegene Lebensstandard die Triebunterdrückung und erlaube den Menschen ein sorgenfreieres Leben. Aber diese zahlen dafür den Preis der Anpassung an eine ungerechte und im Kern weiterhin repressive Gesellschaft. Den Prozess der institutionalisierten Erzeugung »falscher« Bedürfnisse47 bezeichnet Marcuse unter Rückgriff auf psychoanalytisches Vokabular als »repressive Entsublimierung«.48 Trugen die Kulturwerke der bürgerlichen Epoche noch das Bild einer besseren Welt – das Wesen der Menschen – in sublimierter Form in sich, verschwinde dieses transzendente Element aus dem Konsumgenuss der Massengesellschaft. Zwar erlaube dieser ein höheres Maß an unmittelbarer Befriedigung und Lust als die bürgerliche Kunst, aber die Perspektive der Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten sei im Konsum nicht mehr enthalten – Lust werde so zu einem konservativen Faktor. Marcuse zieht daraus folgende Konsequenz: Das unglückliche Bewusstsein der bürgerlichen Epoche weicht in der Massengesellschaft dem nicht minder unfreiem »glücklichen Bewusstsein«.49 Die Beschreibungen der modernen Industriegesellschaften in Marcuses späteren Arbeiten erinnern deutlich an Aldous Huxleys Brave New World. Diese veränderte Einschätzung macht es nun notwendig, den Fokus der Kritik zu verschieben. Nicht mehr die ideologische Rechtfertigung des offenkundigen Leidens wird von Marcuse angegriffen, sondern die konsumistische und vereinheitlichende Durchgestaltung der Lebensverhältnisse, die jenes Leiden unsichtbar macht. Der moderne Mensch leidet Marcuse zufolge in den Nachkriegsgesellschaften nicht mehr an physischen Entbehrungen, sondern subtil an einer Entfremdung und Deformierung seines Weltbezugs. Er gleiche sich selbst der maschinenhaften Wirklichkeit an, die ihn umgibt und werde Teil eines technologischen Herrschaftsapparates – und das sehr tiefgreifend: »Der maschinelle Prozeß im technologischen Universum zerstört die innerste Privatsphäre der Freiheit und vereinigt Sexualität und Arbeit in einem unbewußten, rhythmischen Au-
46 Marcuse wiederholt hier Adornos und Horkheimers Einschätzung, dass Individualität massenkulturell erzeugten Identitätstypen weiche. Vgl. Marcuse, Herbert: »Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 91f. 47 Vgl. Marcuse, Herbert: »Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze und Vorlesungen 1948-1969, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 41-59, hier S. 46. 48 H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 91ff. 49 Ebd., S. 95.
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tomatismus – ein Prozeß, der dazu parallel läuft, dass die Beschäftigungen einander ähnlich werden.«50
Marcuse geht hier so weit, eine direkte Identifikation mit der kommodifizierten Öffentlichkeit und maschinisierten Produktionssphäre zu behaupten.51 Nichtsdestoweniger bleibe die infolge der Taylorisierung immer monotoner werdende Arbeit eine Belastung, da sie es erfordert, während des Arbeitstages die eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Triebe zu unterdrücken. Marcuse modifiziert hier seine frühere Einschätzung und bestimmt nun konkreter, was die Mühsal der Arbeit ausmache: Das Entscheidende ist hier nicht mehr die physische Härte und körperliche Anstrengung, sondern die durch Selbstdisziplinierung geleistete Unterdrückung der erotischen und sinnlichen Anlagen der Menschen – kurz: der Sexualtriebe. Obwohl der Arbeitsprozess im Spätkapitalismus humaner vonstattengeht als in früheren Zeiten, ist er so weiterhin unlustvoll und fremdbestimmt. Marcuse fasst das auch unter dem Begriff der entfremdeten Arbeit, den er vom frühen Marx entlehnt und um triebtheoretische Überlegungen ergänzt. Der Entfremdungscharakter der Arbeit geht damit auf die Unmöglichkeit zurück, in ihr ein Stück der erotischen Triebnatur der Menschen zu verwirklichen. Der Kritik an den modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen liegt so die anthropologische Annahme zugrunde, dass sich authentische menschliche Praxis durch einen sinnlich-ästhetischen Weltbezug auszeichne. Dieses Weltverhältnis werde nun nicht nur während der Arbeitszeit unterdrückt; der Konsumgenuss in der Freizeit biete außerdem eine bloß magere Kompensation für den entfremdeten Arbeitsalltag. Freizeit – so hält Marcuse fest – forciere die Identifikation mit der heteronomen Wirklichkeit, statt eine Alternative zu dieser zu bieten.52 Die an authentischen Befriedigungsmöglichkeiten arme Lebensrealität steigere außerdem das Aggressionspotenzial der Menschen. Das Unbehagen an der maschinenhaften »Enthumanisierung«53 der Arbeits- und Lebensverhältnisse bleibt also für einen Großteil der Menschen weiterhin alltäglich, nur wird dieses aufgrund der Integration immer weniger als solches spürbar: »Der Einzelne weiß nicht wirklich, was vor sich geht; die überwältigende Maschinerie der Erziehung und Unterhaltung vereint ihn mit all den anderen in einem Zustand von Empfindungslosigkeit, von dem alle schädlichen Ideen möglichst ausgeschlossen bleiben. Und da das Wissen um die volle Wahrheit kaum zum Glück beiträgt, macht solch eine allgemeine 50 Ebd., S. 47. 51 Vgl. ebd., S. 29f. 52 Vgl. H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 48. 53 H. Marcuse: »Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft«, S. 50.
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Empfindungslosigkeit glücklich. Ist Angst mehr als eine allgemeine Malaise, ist sie ein existentieller Zustand, dann zeichnet sich dieses sogenannte ›Zeitalter der Angst‹ durch das Maß aus, in dem die Angst unsichtbar, ausdruckslos geworden ist.«54
Die gesellschaftliche Monokultur beschränke sich jedoch nicht nur auf den Arbeitstag und die kompensatorischen Freuden im Konsum; Marcuse zufolge bette sich dies in einen größeren Zusammenhang ein, in dem mittels politischer und kultureller Vereinheitlichung die Gedanken an Alternativen undenkbar werden. Die Vereinheitlichung des Denkens und der Lebensführung gehe in verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereichen vonstatten: Sie finde sich in den damals zeitgenössischen Wissenschaftsauffassungen, im philosophischen Denken, aber auch in der alltäglichen Lebenswelt und dem politischen Geschehen. Marcuse bemängelt etwa, dass öffentliche politische Debatten zunehmend der Reklametechnik gehorchen, in der nicht mehr die rationale Überzeugungskraft eines Arguments entscheidend ist, sondern allein die Fähigkeit, Bedürfnisse und Einstellungen manipulativ zu beeinflussen. Der politische Diskurs nehme so »Orwell’sche«55 und in gewissem Sinne auch faschistoide Qualitäten an. Getragen und befeuert werde diese politische und privatwirtschaftliche Manipulation durch die psychologische Erforschung, und gewissermaßen auch Planung, der Bedürfnisse. 56 Zugleich beobachtet Marcuse eine Angleichung der politischen Programme selbst von konkurrierenden Parteien, die von der Rivalität zum Ostblock befeuert wird und die etwa auch auf politischer Ebene zu einer zunehmenden Eingliederung der Arbeiterklasse führe.57 Die verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen konvergieren schließlich darin, so die Diagnose, dass der Gedanke an eine nichtverdinglichte, unentfremdete oder schlicht abweichende Lebensführung systematisch aus der Gesellschaft verschwindet; dass sie, in anderen Worten, eindimensional werde. Eindimensionales Denken und die Logik der Herrschaft Die Pointe der These, dass das gesellschaftliche Leben immer eindimensionaler werde und kaum mehr Freiräume neben dem technisierten Machtapparat existieren, liegt für Marcuse in der so erfolgenden Einengung des Denkens und des Weltbezugs. Doch was hier als Ergebnis des Ausbreitungsprozesses von Massen54 H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 93. 55 H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 107f. Marcuse übernimmt ebenfalls Adornos Ansicht, dass das eindimensionale beziehungsweise total integrierte Denken notwendig stereotyp und klischeehaft ist. 56 Vgl. H. Marcuse: »Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft«, S. 46. 57 Vgl. H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S.39ff
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kultur und Verwaltungskomplexen erscheint, ist für Marcuse schon in der technischen Rationalität als solcher strukturell angelegt. Die gesellschaftliche Eindimensionalität sei daher nur die äußerste Konsequenz der Ausweitung eines formalistischen und quantifizierenden Denkens, für das die Welt lediglich Stoff zur Kontrolle und Aneignung ist. Die formale Struktur moderner Wissenschaft und Rationalität sei schon von sich aus eine »Logik der Herrschaft«.58 »Zwischen dem naturwissenschaftlichen Denken und seiner Anwendung, zwischen dem Universum der naturwissenschaftlichen Sprache und dem des alltäglichen Sprechens und Verhaltens scheint eine engere Beziehung zu herrschen – eine Beziehung, worin sich beide unter derselben Logik und Rationalität von Herrschaft bewegen.«59
Diese »Logik der Herrschaft« resultiert für Marcuse aus der Selbstdisziplinierung, die einst durch die Lebensnot erzwungen wurde, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr verselbstständigt habe. Argumentativer Ausgangspunkt hierfür ist ein fiktiver Naturzustand, der vor allem durch Not und Mangel gekennzeichnet ist. Marcuse folgt Freud darin, dass die Überwindung des Mangels es erfordere, die Befriedigung von Trieben aufzuschieben, sich der Realität anzupassen und durch Arbeit möglicherweise nicht die volle Befriedigung der Triebe zu finden, aber immerhin eine gesicherte. Mühselige, entfremdete Arbeit ist somit eine zwangsläufige Reaktion auf die Lebensnot.60 Das hat zwei wesentliche Konsequenzen: Indem die äußere Not durch Selbstdisziplinierung überwunden wird, setzt sie sich in gewisser Weise durch einen inneren Zwang in den Subjekten fort. Mangel, Not und Entbehrung werden in dem Prozess einerseits verinnerlicht. Mit Freud lässt sich dieser Vorgang auch als Umstellung des Lustprinzips auf das Realitätsprinzip beschreiben.61 Aufgrund der Verinnerlichung des Realitätsprinzips folgt die Arbeit nicht mehr eigentlich einer äußeren Notwendigkeit, sondern einer inneren. Andererseits aber, und das ist besonders für Marcuses Kritik der Technologie relevant, verändere sich so auch der Weltbezug und das Denken der Menschen. Arbeit erfordere nicht nur Triebverzicht, sie bringe darüber hinaus auch einen instrumentellen Weltbezug hervor, der die Außenwelt danach wahrnimmt, was nützlich und der Selbsterhaltung dienlich ist – selbst der eigene Körper werde dabei zunehmend als Arbeitsinstrument aufgefasst.62 Schon hierin liege, so 58 H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 99. 59 H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 169. 60 Vgl. ebd., S. 38. 61 Vgl. ebd., S. 20. Vgl. S. Freud: »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«, hier S. 231f. 62 Vgl. H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 21.
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Marcuse in offenkundiger Nähe zur Odyssee in der Dialektik der Aufklärung, der Ursprung der kalkulierenden und technischen Rationalität, die moderne Wissenschaft und Technik ausmache. 63 Wie schon Adorno und Horkheimer legt Marcuse damit der westlichen Rationalität Webers Modell der Zweckrationalität zugrunde und schließt daraus auf die Verselbstständigung der rationalen Lebensführung gegen normative Zwecksetzungen. Marcuse verbindet diesen Weltbezug mit dem Bild des Prometheus, für den Mühsal und Selbstüberwindung zum Selbstzweck geworden sei.64 Arbeit, Pflichterfüllung, technologischer und produktiver Fortschritt – diese Vorstellungen sind für Marcuse mit einem prometheischen Prinzip der Bemeisterung und Beherrschung verbunden. Diesem zufolge ist die Natur »dem Ich als etwas ›gegeben‹, das bekämpft, erobert, selbst vergewaltigt werden mußte«.65 Dabei verbindet sich der Kampf gegen die äußere Natur mit dem gegen die innere: »Der Kampf beginnt mit der fortwährenden innerlichen Besiegung der ›niederen‹ Kräfte« und »gipfelt in der Eroberung der äußeren Natur, die beständig angegriffen, gebändigt und ausgebeutet werden muß, um sich den menschlichen Bedürfnissen zu fügen«.66 Die asketischen und autoritären Ethiken, in denen menschliche Glücksansprüche keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen, verbinden sich Marcuse zufolge mit der Intensivierung der Natur- und Selbstbeherrschung. Jenen strebsamen Geist sieht Marcuse auch im modernen Leistungsprinzip verkörpert, in dem sich der Kampf ums Dasein im Dienste von Herrschaftsinteressen verewigt habe: »Gerade der Fortschritt der Kultur und Zivilisation unter dem Leistungsprinzip hat einen Stand der Produktivität mit sich gebracht, angesichts dessen die Ansprüche der Gesellschaft auf Verausgabung von Triebenergie in entfremdeter Arbeit um ein Beträchtliches vermindert werden könnte. Infolgedessen erscheint die fortgesetzte unterdrückende Organisation der Triebe weniger durch den ›Kampf ums Dasein‹ erzwungen als durch ein Interesse der Verlängerung dieses Kampfes – ein Interesse der Herrschaft.«67
Wie oben gesehen wurde, verschleiern die protestantischen und bürgerlichen Ethiken diesen Zusammenhang. Doch bringt die Abtrennung der Arbeit von ihrem Zweck, wie erwähnt, nicht nur einen perpetuierten Arbeitszwang hervor; die Trennung von Mittel und Zweck erzeuge auch einen formalen, quantifizierenden 63 Vgl. ebd., S. 98. 64 Vgl. ebd., S. 140. 65 Ebd., S. 98. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 115.
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Weltbezug, in dem den qualitativen Merkmalen der Außenwelt keine Bedeutung zukommt. Das findet Marcuse bereits in der formalen Logik von Aristoteles verwirklicht: »Was auch immer in der ursprünglichen griechischen Idee des Logos als Wesen des Seins enthalten war, so hat sich der Ausdruck seit der Kanonisierung der aristotelischen Logik mit der Vorstellung einer ordnenden, klassifizierenden, herrschenden Vernunft eng verbunden. […] Die Vernunft muß durch immer wirksamere Umgestaltung und Ausnutzung der Natur die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten sichern. Aber in diesem Prozeß scheint der Zweck vor den Mitteln zurückzutreten: die der entfremdeten Arbeit gewidmete Zeit verschlingt die Zeit für individuelle Bedürfnisse – und charakterisiert zugleich die Bedürfnisse. Der Logos kündigt sich als Logik der Herrschaft an.«68
Der Bezug auf die formale Logik von Aristoteles ist nun der Hebel für Marcuses Kritik an der Dominanz moderner Naturwissenschaften, aber ebenso für seine Kritik am Positivismus, Behaviourismus und an der analytischen Philosophie. In diesen sei der quantifizierende, berechnende und ordnende – kurz der prometheische – Weltbezug zur Vorherrschaft gekommen. Dinge und Menschen werden dabei lediglich als Stoff der Aneignung betrachtet. »Die Prinzipien der modernen Wissenschaft waren a priori so strukturiert, daß sie als begriffliche Instrumente einem Universum sich automatisch vollziehender, produktiver Kontrolle dienen konnten; der theoretische Operationalismus entsprach schließlich dem praktischen.«69 Da der technologische Weltbezug in modernen Gesellschaften total geworden sei, verbleibe dieser Formalismus nicht nur auf der Ebene einer theoretischen Zugangsweise, sondern gehe in eine praktische Einstellung über, die das gesellschaftliche Handeln präge und notwendig zu einer Technisierung und Verdinglichung der menschlichen Verhältnisse führen muss. Marcuse fasst dies als die Dominanz eines bestimmten historischen Entwurfs auf: »Der technologische Zusammenhang bestimmt im vorhinein die Form, unter der die Objekte erscheinen. Sie erscheinen dem Wissenschaftler a priori als wertfreie Elemente oder Komplexe von Beziehungen, die der Organisation in einem leistungsfähigen mathematisch-logischen System zugänglich sind; und sie erscheinen dem gesunden Menschenverstand als Stoff der Arbeit oder Freizeit, der Produktion oder des Konsums. Die Objektwelt ist so die Welt eines spezifisch geschichtlichen Entwurfs und ist niemals außerhalb des ge-
68 Ebd., S. 99. 69 H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 172f.
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schichtlichen Entwurfs erreichbar, der die Materie organisiert, und die Organisation der Materie ist ein zugleich theoretisches und praktisches Unternehmen.«70
Marcuses Argumentation läuft darauf hinaus, dass die eigentlichen Zwecke der entbehrungsvollen Arbeit, nämlich die zukünftige Erfüllung und Befriedigung von Triebwünschen, somit aus dem Bewusstsein der Menschen und aus der Zielsetzung von Gesellschaft verschwindet. Arbeit und Produktion werden im Leistungsprinzip zum Selbstzweck. Die normative Spannung zwischen Sein und Sollen, Wesen und Erscheinung, die Marcuse vielfach betont, verflüchtigt sich daher aus dem Horizont der gesellschaftlichen Entwicklung. Übrig bleibe die Fixierung auf das Bestehende. Gegen diese Verschließung fordert Marcuse nun ein »negatives« Denken, das aus der Eindimensionalität ausbreche.71 Dieses muss aber in der Formulierung der normativen Grundlagen weitaus tiefer ansetzen. Es kann sich nicht mehr mit den Erzeugnissen der Kultur begnügen, und diese an ihren eigenen Ansprüchen messen, da die autonomen Tendenzen in ihnen zu schwach geworden seien. Stattdessen bildet nun die Psyche der Menschen die Grundlage von Marcuses Theorie, in deren tiefen Schichten das vermutet wird, was dem bewussten Leben der Menschen abhandengekommen sei – die Fähigkeit zu einem nichtbeherrschenden Welt- und Selbstverhältnis, und damit auch die Grundlage für eine normative Theorie der Gesellschaft.
3.3 DER TRIEBTHEORETISCHE RETTUNGSVERSUCH DER KRITIK Trotz der teils divergierenden Herleitung und Begründung, gleicht sich Marcuses Gesellschaftsdiagnose in wesentlichen Punkten mit der Adornos: Beide gehen von der totalen herrschaftsgemäßen Integration der Menschen aus, die in Verwaltungskomplexen und Kulturindustrie verkörpert ist, aber bereits im Werkverhältnis und der entsprechenden Rationalität selbst strukturell angelegt sei. Auch für Marcuse stellt sich daher die Frage, wie eine allgemeingültige und vernünftige Gesellschaftskritik möglich ist, die nicht die instrumentellen Züge der modernen Lebens- und Denkgewohnheiten reproduziert. Denn die Radikalisierung der Gesellschaftsdiagnose greift zwei wesentliche Eckpfeiler von Marcuses ursprünglicher Gesellschaftskritik an: Da das Unglück der Menschen für diese nicht mehr spürbar sei, kann sich eine kritische Gesellschaftstheorie erstens nicht mehr um-
70 Ebd., S. 230f. 71 Vgl. ebd., S. 266ff.
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standslos auf jenes berufen – sie muss die leidhaften Aspekte der modernen Lebenswirklichkeit erst rekonstruieren. Zweitens kann die Gesellschaftskritik nicht mehr davon ausgehen, dass der durch technische Neuerungen eröffnete historische Möglichkeitsraum als solcher in seiner Relevanz für die Glücksbedürfnisse der Menschen wahrgenommen wird. Marcuse muss eine stärkere Konzeption dessen entwickeln, was als ein gutes Leben und eine vernünftige Einrichtung der Gesellschaft verstanden werden kann, da er sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass die Idee einer besseren Gesellschaft allein durch technische und produktive Fortschritte gesellschaftlich hervorgebracht wird. Die Eigenheit in Marcuses Denken zeigt sich in der Antwort, die er auf diese doppelte Problemstellung gibt: Mit einer sozialphilosophischen Interpretation von Freuds später Triebtheorie versucht er den Glücksansprüchen der Menschen ein anthropologisches und sozialontologisches Fundament zu geben. Er expliziert so aber nicht nur die normative Begründung seiner Kritik, sondern sieht sich mit der triebtheoretischen Wendung auch in der Lage, ein alternatives und normativ gehaltvolles Vernunftmodell zu umreißen, das die sinnlich-ästhetischen Aspekte des menschlichen Lebens – die er nun triebtheoretisch fasst – in den Mittelpunkt stellt. Marcuse bleibt hier aber den Grundtendenzen seiner Arbeiten treu: Neben der Betonung der hedonistischen Züge in Kunst und Fantasie stellt er Überlegungen an, wie viel Verzicht in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und geschichtlichen Lage notwendig sei – und ab wann jener Verzicht selbstdestruktive Tendenzen entfalte. Der geschichtsontologische Verwirklichungsansatz bleibt damit weiterhin bestimmend. Die triebtheoretische Dimension der Gesellschaftsdiagnose Einen Anknüpfungspunkt findet Marcuses Theorie, die sich schließlich an der »Sorge um den Menschen«72 orientiert, ausgerechnet bei Freuds kulturtheoretischen Schriften, die den menschlichen Glücksmöglichkeiten bekanntlich skeptisch gegenüberstehen. Im Geist der innerweltlichen Askese, welche die bürgerliche Kultur nach Marcuse auszeichne, fällt Freuds Verdikt über die gesellschaftliche Entwicklung unerbittlich aus: Kultureller Fortschritt bedeute zunehmende Triebunterdrückung und damit ein zunehmendes »Unbehagen in der Kultur«,73 das sich in Schuldgefühlen und destruktiven Impulsen äußere. Marcuse folgt dem soweit, auch er betrachtet unterschwellige Unzufriedenheit und Aggression als ein Problem der modernen Gesellschaftsentwicklung. Doch wie schon die frühen Linksfreudianer betrachtet er diese Entwicklung nicht als alter72 H. Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie«, S. 234. 73 Vgl. S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«.
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nativlos; sie sei keine allgemeine Dynamik menschlicher Gesellschaftsentwicklung, sondern lediglich die der westlichen Gesellschaften. Das, was Freud beschreibt, sei das Unbehagen der Menschen mit der bereits beschriebenen Logik der Herrschaft, so Marcuse. Das Unbehagen sei eines am Ungenügen der Verhältnisse und der ihnen entsprechenden, entfremdeten Lebensform, nicht aber an der Kultur schlechthin. Zwar teilt Marcuse damit die Einschätzung der linken Psychoanalytiker, aber anders als diese lehnt er die späte Triebtheorie Freuds nicht als Ganze ab. Marcuses Lesart der Triebtheorie versucht gerade die Grundtendenzen der westlichen Gesellschaftsentwicklung triebdynamisch zu deuten und daraus eine progressive Perspektive abzuleiten. Daher liegt der Hauptunterschied zu Freud vor allem in einer Prämisse: Marcuse kritisiert Freuds Postulat, dass sich Kultur nur auf Kosten unmittelbarer Triebbefriedigung bilden könne und geht stattdessen von der fast diametral entgegengesetzten These aus, dass eine freie Kulturentwicklung die konsequente Entfaltung der Befriedigungsmöglichkeiten ermögliche und sogar voraussetze.74 Diese Umdeutung gelingt Marcuse, indem er den Eros aus Freuds später Triebtheorie nicht lediglich als Sexualtrieb, sondern zugleich als anthropologisches Prinzip liest, das der Entwicklung der Gesellschaft ein klares Telos vorschreibt: die Reduktion von Entbehrung und die Steigerung des Glücks. Der Eros ist für Marcuse ein kulturbildender Lebenstrieb. Die grundlegende Gesellschaftspathologie, die Marcuse beschreibt, lässt sich nach der so erfolgten Aneignung der Triebtheorie Freuds reformulieren: Aufgrund gesellschaftlicher Fehlentwicklungen finde mehr Unterdrückung des Eros statt, als notwendig, weswegen dieser seine kulturbildende Funktion nicht mehr erfüllen könne. Bevor die Schlussfolgerungen, die Marcuse aus dieser Einschätzung zieht, untersucht werden, sollen zunächst die Konsequenzen für seine Gesellschaftsdiagnose umrissen werden. Marcuses Referenzpunkt hinsichtlich der psychoanalytischen Theorie sind die Spätwerke Freuds, vor allem aber die ›spekulative‹ Triebtheorie, die in Jenseits des Lustprinzips eingeführt wurde. Darin stellt Freud seine zuvor lediglich behelfsmäßig durchgeführte Scheidung von Sexual- und Selbsterhaltungstrieben auf Sexual- und Todestrieb – oder Eros und Thanatos75 – um. Freud versucht mit der Reformulierung einige Schwierigkeiten innerhalb der psychoanalytischen Theorie
74 Vgl. H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 183. 75 Während schon Freud die Assoziation des Sexualtriebs mit dem Eros vorgenommen hat, ist die Identifikation des Todestriebs mit dem Thanatos der griechischen Mythologie eine spätere, wohl von Paul Federn vorgenommene.
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zu lösen,76 zugleich erweitert er aber auch den Geltungsbereich der Triebtheorie. Sexual- und Todestrieb sind nun für Freud »Grundtriebe«,77 die als solche nicht nur das psychische Erleben der Individuen bestimmen, sondern als widerstrebende Grundtendenzen des Lebens verstanden werden können. 78 Beiden ist gemein, dass sie Ruhe und Befriedigung anstreben. Doch geschieht dies auf unterschiedliche Weise: Der Eros strebt jene über Vereinigung und Bildung von Gemeinschaften an – daher wird er Lebenstrieb genannt –, der Todestrieb hingegen versucht die Ruhe über die Rückkehr zur anorganischen Materie zu erlangen, also über Zerstörung und Tod.79 Wie auch für Freud ist die kulturelle Entwicklung für Marcuse daher wesensmäßig vom Eros beziehungsweise den Lebenstrieben getragen. Während aber Freud davon ausging, dass dies durch Modifikation und Desexualisierung – also Sublimierung – der Sexualtriebe geschehe, stellt Marcuse die These auf, dass es sich bei der Sublimierung lediglich um einen notdürftigen und defizitären Modus der Kulturbildung handele. Kultur bedürfe dieses Umwegs nicht, sie könne unter günstigen Bedingungen direkt aus dem Eros erfolgen. Triebunterdrückung und Sublimierung seien nur so weit gerechtfertigt, wie es die materielle Mangellage erfordere. Dies ist nun die Stelle, von der aus Marcuse die bereits vorgestellten Überlegungen zur historischen Notwendigkeit von entfremdeter Arbeit und materieller Not triebtheoretisch reformuliert. Die durch Schutzlosigkeit gegenüber der Natur und durch die Bedürftigkeit des eigenen Körpers bedingte Not mache es erforderlich, tätig zu werden, um die Not zu überwinden. Diese Urszene wurde bereits erwähnt: Die Überwindung der Not durch Arbeit erfordere es, dass die Befriedigung der Triebansprüche zunächst hintangestellt wird. Für die Zeit der 76 Freud schlug sich zuvor fruchtlos mit dem Masochismus, dem Wiederholungszwang und der Beobachtung herum, dass die Moderne neben technischem und gesellschaftlichem Fortschritt auch Krieg und Vernichtung in einem bis damals unbekanntem Maße hervorbrachte. Diese Punkte ließen sich mit dem Todestrieb in die Theorie integrieren. 77 Freud, Sigmund: »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, London: Imago 1944 S. 115. 78 Freud spricht, wenn er von Lebens- und Todestrieben spricht, von Tendenzen, die allem Leben innewohnen. Vgl. Freud, Sigmund: »Jenseits des Lustprinzips«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Jenseits des Lustprinzips/Massenpsychologie und Ich-Analyse/Das Ich und das Es, Frankfurt a. M.: Fischer 1967, S. 1-69, hier S. 66, Fußnote. 79 Vgl. Freud, Sigmund: »Das ökonomische Problem des Masochismus«, in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke. Jenseits des Lustprinzips/Massenpsychologie und IchAnalyse/Das Ich und das Es, Frankfurt a. M.: Fischer 1967, S. 369-383, hier S. 376.
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Arbeit ist es notwendig, dass der Körper desexualisiert wird, dass also die sinnliche Gratifikation und die sinnlich-ästhetischen Aspekte des Weltverhältnisses suspendiert werden. Marcuse verknüpft so den Entfremdungsbegriff mit der psychoanalytischen Triebterminologie. Die vom Realitätsprinzip geforderte Arbeit zeichnet sich durch weitreichende Unterdrückung der erotischen Triebkomponenten – des Lustprinzips80 – und infolgedessen durch ein instrumentelles und entfremdetes Selbst- und Weltverhältnis aus.81 Das Lustprinzip finde unter dem Realitätsprinzip lediglich noch in einer normalisierten Form der »genitalen Sexualität«82 sowie in der Fantasie und in der Kunst Möglichkeiten des Ausdrucks, da diese eine stärkere Verbindung zum Unbewussten haben.83 Auch der Todestrieb erfahre in der gegenwärtigen Kultur Unterdrückung und Regulierung. Aggressions- und Destruktionstendenzen werden ebenso gehemmt wie sexuelle Impulse.84 Marcuse verbindet die Überlegungen Freuds zur Bedeutung der Sublimierung für die Gesellschaftsentwicklung nun mit dem bereits vorgestellten Konzept des Wesens des Menschen. Gegen Freud wendet er dabei ein, dass dieser nicht zwi-
80 Der Begriff stammt von Freud, wird aber – wie von vielen Autor*innen – von Marcuse abweichend interpretiert. Bei Freud bezeichnete das Lustprinzip nichts weiter als das Bestreben, einen physischen und psychischen Gleichgewichtszustand zu erhalten. Der Körper interpretiert demnach Erregung als Unlust – etwa Schmerz, Hunger und dergleichen. Um ihr zu entgehen, wird eine bestimmte Handlung eingeleitet – beispielsweise Nahrungsaufnahme. Die damit einhergehende Entspannung wird als Lust wahrgenommen. Lust ist nach Freuds Auffassung also die Reduktion von Reizspannung und damit lediglich eine Reaktion auf vorhergehende Erregung, also auf Unlust. Demgemäß könnte das Lustprinzip bei Freud auch Lust-Unlust-Prinzip heißen, wie er selbst schreibt (S. Freud: »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens«, S. 231). Dagegen erhält das Lustprinzip bei Marcuse eine andere Konnotation. Hier erscheint es als eine aktive Suche nach physischer Lust und Befriedigung, für die es keine vorhergehende Unlust bedarf; Erregung selbst hat hier etwas Lustvolles – es ist damit wesentlich hedonistischer als Freuds Konzept. Der Unterschied ist bedeutend, da Freuds Lustprinzip ein eher antagonistisches Verhältnis des Körpers zu seiner Umwelt nahelegt, Marcuses hingegen ein eher harmonistisches. Die Idee der Versöhnung, die bei Marcuse im Eros anklingt, wäre mit einer streng freudianischen Interpretation kaum denkbar. Zu Freuds Auffassung des Lustprinzips vgl. auch S. Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, S. 67. 81 Vgl. H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 48f, S. 74. 82 Ebd., S. 48. 83 Vgl. ebd., S. 126f. 84 Vgl. S. Freud: »Das Unbehagen in der Kultur«, S. 474f.
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schen herrschaftsvermittelter und historisch notwendiger Triebunterdrückung unterscheide – beides gehe bei ihm im Realitätsprinzip zusammen. »Der herrschende Mangel ist durch den gesamten Verlauf der Kultur hindurch so organisiert worden (wenn auch in höchst unterschiedlichen Weisen), daß die vorhandenen Mittel kollektiv nicht in Übereinstimmung mit individuellen Bedürfnissen kollektiv verteilt wurden, noch ist die Beschaffung der Güter für die Bedürfnisbefriedigung mit dem Ziel organisiert worden, die sich entwickelnden Bedürfnisse der Einzelnen in der besten Weise zu befriedigen.«85
Marcuse rekurriert hier auf die bereits erwähnte geschichtsontologische Argumentationsfigur. Er misst das Realitätsprinzip nicht daran, wie die Gesellschaft im gegebenen Zustand erscheint, sondern daran, wie sie sein könnte. Triebunterdrückung ist für ihn daher nur insoweit gerechtfertigt, wie sie gemessen an den objektiven Möglichkeiten der gesellschaftlichen Produktivität notwendig ist. »[W]ährend jede Form des Realitätsprinzips ein beträchtliches Maß an unterdrückender Triebkontrolle erfordert, führen die spezifischen historischen Institutionen des Realitätsprinzips und die spezifischen Interessen der Herrschaft zusätzliche Kontrollausübungen ein, die über jene hinausgehen, die für eine zivilisierte menschliche Gemeinschaft unerläßlich sind.«86
Freuds Realitätsprinzip bezieht sich für Marcuse auf eine gesellschaftliche Realität, die sowohl von sozialen Normen und Werten als auch von Machtverhältnissen durchzogen ist. Es fordert von den meisten Gesellschaftsmitgliedern eine »zusätzliche Unterdrückung«87 der Triebe, die – gemessen an den technischen Möglichkeiten – nicht erforderlich ist. Marcuse bezeichnet das bürgerlich geprägte Realitätsprinzip der modernen Gesellschaften daher auch als ein Leistungsprinzip.88 Das Über-Ich in der Theorie Freuds gebe die psychische Instanz an, die das verinnerlichte Leistungsprinzip gegen das Individuum selbst vertritt. Allerdings strebt Marcuse mit der Psychoanalyserezeption nicht lediglich eine psychologische Reformulierung seiner Grundthesen an; er möchte mit ihr auch Perspektiven aufzeigen, in der die Überwindung der vorherrschenden instrumentellen Weltbeziehung greifbar wird. Obwohl ihn die Erörterung von Freuds Konzepten gewissermaßen an die individuelle, ontogenetische Ebene bindet, ge85 H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 38f. 86 Ebd., S. 40. 87 Ebd. 88 Vgl. ebd., S. 45f.
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schieht Marcuses Freud-Interpretation vor dem Hintergrund geschichts- und vernunfttheoretischer Überlegungen. In anderen Worten ausgedrückt heißt das, dass Marcuse die bereits vorher in seinem Ansatz angelegte Verwirklichungserzählung, nach der die bisherige Geschichte eine lediglich deformierte Realisierung der Glücksmöglichkeiten erlaube, nun auf ein triebtheoretisches Fundament stellt. Geschichte wird von ihm nun als verzerrter Verwirklichungsprozess des Eros dargestellt. Die geschilderte Dynamik der Anpassung an die Realität, die über die Verinnerlichung von Verzicht vonstattengeht, liefert für Marcuse somit den Schlüssel zum Verständnis geschichtlicher Entwicklungen. Angelehnt an den historischen Materialismus und ausgehend von Freuds sozialanthropologischer These der Urhorde89 konzipiert Marcuse die Geschichte als stetes Oszillieren zwischen Herrschaft und Befreiung, wobei sich jedes Mal eine subtilere und in größerem Maße verinnerlichte Form der Herrschaft herausbilde: »[D]ie zweite Beherrschung ist nicht einfach eine Wiederholung der ersten; die zyklische Bewegung bedeutet einen Fortschritt in der Beherrschung. Vom Urvater über die Brüderhorde zum System institutionalisierter Autorität, wie sie charakteristisch für die reife Kultur ist, wird Herrschaft zunehmend unpersönlich, objektiv, universell und zugleich zunehmend rational wirksam, produktiv. Schließlich erscheint unter der Herrschaft des vollentwickelten Leistungsprinzips die Unterordnung als durch die soziale Arbeitsteilung selbst bewerkstelligt.«90
Bemerkenswerterweise sieht Marcuse auch in der modernen Verwaltung einen Abkömmling der ursprünglichen Autorität des Vaters: »Der innerhalb der Familie und in seiner individuellen biologischen Autorität beschränkte Vater wird, mit viel höherer Machtvollkommenheit, in der Verwaltung wieder aufgerichtet, in der Verwaltung, die das Leben der Gesellschaft erhält, und in den Gesetzen, die die Verwaltung schützen.«91
Rebellion gegen die Autorität wird damit immer schwieriger, sie wäre – ganz gemäß der These der totalen Integration – nun eine Rebellion gegen die Industriegesellschaft selbst. Marcuse zieht aus dieser triebtheoretisch gefassten Geschichtstheorie eine für seine Gesellschaftsdiagnose entscheidende Konsequenz. Wie Freud geht Marcuse 89 Vgl. S. Freud: »Totem und Tabu«, S. 171. 90 H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 80. 91 Ebd., S. 82f.
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davon aus, dass Eros und Thanatos im Normalfall gemischt sind, sich jedoch »entmischen«92, wenn der Eros für Arbeitszwecke sublimiert wird. Triebsublimierung setzt während des Arbeitstages notwendig Aggression – Ausdruck des entmischten Todestriebs – frei. Diese werde zum Teil durch das Über-Ich nach innen abgelenkt und äußere sich so als Gewissensstrenge und Schuldgefühl – dem Unbehagen in der Kultur. Theoretisch stünde außerdem der Weg offen, die Aggression in der Rebellion gegen die repressive Realität auszuleben. Da aber Herrschaft nicht mehr durch konkrete Autoritäten, sondern durch einen anonymen, technologischen Apparat ausgeübt werde, biete die soziale Realität kaum noch Angriffsfläche, um die unterschwellige Frustration zu artikulieren: »Die aggressiven Impulse stoßen ins Leere – oder genauer: der Haß trifft auf lächelnde Kollegen, geschäftige Konkurrenten, höfliche Beamte, hilfsbereite Fürsorger, die alle ihre Pflicht tun und alle unschuldige Opfer sind.«93 Die Aggression richte sich daher auf Außenseiter – etwa Juden – und äußert sich folglich in einem gewaltförmigen Konformitätszwang,94 Und damit steige auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Aggression in zivilisatorischen Katastrophen entlade.95 Eros als Grundprinzip menschlicher Vergemeinschaftung Obwohl der technische Fortschritt es erstmals in der Geschichte erlaubt, systematisch die Lebensrealität der Menschen zu verbessern und damit die menschlichen Anlagen weitgehend ungehindert zu entfalten, führt jener Fortschritt aufgrund der perpetuierten Triebunterdrückung im Gegenteil zu subjektiver Entfremdung und wachsender Aggression. Und diese treffen fatalerweise auf immer stärkere, durch moderne Technologie hervorgebrachte Destruktionsmittel. Der bürokratisch organisierte Massenmord an den Juden, aber auch die Blockbildung mitsamt dem atomaren Wettrüsten sind für Marcuse daher Ausdruck der schwindenden Kraft des Eros im geschichtlichen Ringen mit dem Thanatos. Beide, Lebens- wie Todestrieb, stellen für Marcuse »Lebensprinzipien«96 dar, die nicht nur dem einzelnen Sein zugrunde liegen, sondern auch der Zivilisation und ihrer Geschichte als Ganze; nicht zuletzt spricht Marcuse in diesem Zusammenhang auch von einer »Triebstruktur der Kultur«.97
92 S. Freud: »Das Ich und das Es«, S. 285. 93 H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 88. 94 Vgl. ebd., S. 90. 95 Vgl. ebd., S. 12, S. 90f. 96 Ebd., S. 32. 97 Ebd., S. 115.
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Damit sind nun die Voraussetzungen gegeben, um zentrale Motive der frühen Arbeiten aufzunehmen und zu reformulieren. Zum einen kann Marcuse mit dem Konzept des Eros das ›historische Wesen‹ des Menschen genauer bestimmen und so ein klares Grundprinzip der menschlichen Gemeinschaftsbildung angeben. Falsch sind repressive Kulturideale, triebfeindliche Ethiken, aber auch die moderne Konsumkultur daher nicht nur, weil sie die Glücksmöglichkeiten der Subjekte übermäßig beschneiden, sondern weil sie den Voraussetzungen der menschlichen Zivilisation selbst zuwiderlaufen. Das wird zum anderen von der Darlegung einer Idee des guten Lebens begleitet, die auf einem sinnlich-ästhetischen Weltbezug beruht. Marcuse verfügt so über einen normativen Bezugspunkt, mit dem er seine Gesellschaftskritik auch dann noch begründen kann, wenn die Menschen selbst nicht mehr bewusst an der Gesellschaft leiden. Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Triebverzicht, in der das Leben durch ästhetisches Schaffen bestimmt ist, fließt bei Marcuse zudem mit Überlegungen zusammen, in denen die Ästhetik die Rolle einer versöhnenden Vernunft spielt – hier nimmt Marcuse die Frage nach dem Verhältnis von Rationalität und Glück wieder auf. Das Konzept des Eros besetzt in der Theorie von Marcuse also drei wesentliche Punkte: Es bildet die normative Grundlage der menschlichen Lebensform jenseits des Triebverzichts (1), aus der sich ein Konzept des guten Lebens ableiten lässt, welches sich durch ein nicht-beherrschendes, sinnlich-ästhetisches Verhältnis der Menschen zur Welt auszeichnet (2). Darauf aufbauend kann letztlich ein alternatives, ästhetisches Vernunftkonzept skizziert werden (3). Als vierter Punkt ließe sich anführen, dass dadurch eine progressive politische Praxis, wie sie auch von Marcuse gefordert wird, durch die theoretische Erkenntnis der Conditio Humana eingeleitet werde. Damit kann Marcuse die früh geäußerte Überzeugung zur Rolle der Kritischen Theorie reaktualisieren. Die drei soeben erwähnten Punkte sollen im Folgenden noch einmal zusammengefasst werden. Kultur jenseits des Leistungsprinzips Ein wesentliches Anliegen von Marcuses Theorie ist es nachzuweisen, dass soziale Gemeinschaftsbildung nicht notwendig auf Selbsteinschränkung und Triebverzicht basiert. Entgegen Freuds Annahme, dass kultureller Fortschritt auf der zunehmenden Einschränkung der individuellen Triebansprüche beruhe, behauptet Marcuse, dass weiterer Fortschritt erst durch die Befreiung der Triebe ermöglicht werde. Eros steht in diesem Konzept sowohl für das individuelle Glück als auch für die Bildung und Weiterentwicklung von sozialen Gemeinschaften. Marcuse rekurriert in der Begründung auf Freuds Auffassung, dass die Sexualtriebe auf die Herstellung immer größerer, lebendiger Einheiten zielen.98 Aber entgegen Freud, 98 Vgl. ebd., S. 43f.
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für den die kulturbildende Funktion des Eros nur über den Umweg von Sublimierung und Ersatzbildung erfüllt werden kann und für den unsublimierte Sexualtriebe wesentlich asozial sind, stellt Marcuse die These auf, dass ein befreiter Eros sich gleichsam von selbst in Werke der Kultur, Wissenschaft und Technik umsetze. Denn Kultur ziele, ihrem eigentlichen und unverzerrten Zwecke nach, primär auf die Schaffung von Lust: »der erotische Antrieb, lebende Substanz zu immer größeren und dauerhafteren Einheiten zu verschmelzen, ist die Triebquelle der Kultur. Die Sexualtriebe sind Lebenstriebe: der Impuls, das Leben durch die Unterwerfung der Natur entsprechend den sich entfaltenden vitalen Bedürfnissen zu schützen und zu bereichern, ist ursprünglich ein erotischer Impuls. […] Der ›Kampf ums Dasein‹ ist ursprünglich ein Kampf um Lust: die Kultur beginnt mit der kollektiven Bemühung um dieses Ziel.«99
Da die technischen Errungenschaften zunehmend ein Leben ermöglichen, in dem Mühsal nicht mehr eine zentrale Stellung einnimmt, könnte bereits jetzt, darauf besteht Marcuse, die allgemein notwendige Arbeitszeit reduziert und erotische Triebenergie aus der Sublimierung befreit werden.100 Was würde dann aber mit der frei gewordenen Triebenergie geschehen? Marcuse geht davon aus, dass diese sich anschließend »selbst sublimiert«101 und dabei ihre kulturbildende Wirkung ungehindert entfalten könne. Selbstsublimierung bedeute »eine Transformation, eine Umwandlung von Libido: von der unter das genitale Supremat gezwungenen Sexualität zu der Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit.«102 Da der Körper somit nicht mehr allein als Arbeitsinstrument eingesetzt werden würde, wäre die Reduktion des Eros auf bloße fortpflanzungsrelevante Sexualität hinfällig. Lust würde damit ihren dezidiert genitalen und sexuellen Charakter verlieren und die sinnliche Rezeptivität des ganzen Körpers erhöhen.103 Die Beziehungen der Men99
Ebd., S. 110. Im englischen Originaltext kommt der ontologische Grundton deutlicher zum Ausdruck: »Being is essentially striving for pleasure.« (Marcuse, Herbert: Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston: Beacon Press 1974, S. 125)
100 Vgl. H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 172. 101 Ebd., S. 176. 102 Ebd., S. 173. 103 Marcuse bezieht sich hier stark auf Freuds Theorie der Erogenität. Dieser zufolge ist beim Kleinkind nahezu der gesamte Körper zu lustvollen Empfindungen in der Lage; infolge der Sexualerziehung schränken sich diese aber nach und nach auf den genitalen Bereich ein. Laut Freud sei der Verzicht auf das lustvolle Erleben des gesamten Körpers ein schmerzhafter Prozess, der nicht selten auch die Entstehung von Neuro-
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schen untereinander, aber auch zur Natur würden einen lustvollen Charakter annehmen und so bereits aus sich heraus – das heißt ohne externen Zwang – zu produktiver Tätigkeit anregen. »Das erotische Ziel, den gesamten Körper als Subjekt-Objekt der Lust beizubehalten, verlangt nach fortgesetzter Verfeinerung des Organismus, nach Intensivierung seiner Empfänglichkeit, nach Zunahme seiner Sinnlichkeit. Das Ziel schafft seine eigenen Pläne der Realisierung: Abschaffung der Mühsal, Verbesserung der Umgebung, Überwindung von Krankheit und Verfall, Beschaffung von Luxus. All diese Tätigkeiten entspringen direkt dem Lustprinzip und begründen gleichzeitig Arbeiten und Werke, die die Einzelnen zu ›größeren Einheiten‹ zusammenführen. […] So gibt es Sublimierung und infolgedessen Kultur; aber die Sublimierung geht in einem System dauerhafter und sich ausweitender libidinöser Beziehungen vor sich, die in sich selbst Werkbeziehungen sind.«104
Ein befreiter Eros wirke damit als Lebenstrieb kulturbildend auf die Entfaltung und Verfeinerung menschlichen Lebens und dränge so in die Richtung, die Marcuse in seinen früheren Schriften als das historische Wesen des Menschen bezeichnete: die Verwirklichung des historisch möglichen Glücks. Kultur liefe, in anderen Worten, auf die Entfaltung des Eros im Rahmen des historischen Möglichkeitshorizonts hinaus statt auf seine Einschränkung.105 Die kulturellen Werke, die durch den befreiten Eros gewirkt werden, verbinden dabei subjektive mit allgemeiner Befriedigung. Die Erfüllung, die Einzelne erfahren, wäre dann im Sinne aller. Ein derart eingerichtetes Gemeinwesen würde Allgemeingültigkeit nicht erst durch repressive Einsicht in seine Notwendigkeit erlangen – wie die referierten Gemeinschaftskonzeptionen von Luther, Kant und Hegel –, sondern wäre eo ipso schon der kollektive Ausdruck der inneren Antriebe der Menschen. Damit würde sich auch das Problem der Zunahme aggressiver Tendenzen lösen: Der befreite Eros könnte die Todestriebe des Menschen wieder absorbieren. 106
sen befördere (vgl. S. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 67ff). Die »Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit«, von der Marcuse spricht, versteht er unter anderem als Reaktivierung der erogenen Körperzonen. Vgl. H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 184. 104 Ebd., S. 181. 105 Vgl. ebd., S. 147. 106 Vgl. ebd., S. 200.
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Spiel und Schönheit als Prinzipien eines guten Lebens Die triebtheoretische Erweiterung seiner schon früh ausgebildeten theoretischen Intentionen erlaubt es Marcuse aber auch, seine Vorstellung einer freien menschlichen Praxis zu konkretisieren und der entfremdeten, leistungsorientierten Lebenswirklichkeit der Moderne positive Bilder eines herrschaftslosen und befreiten Verhältnisses von Subjekt und Objekt sowie Kultur und Natur entgegenzuhalten: Spiel und Schönheit, symbolisiert durch die »Urbilder« von Orpheus und Narziss. An ihnen lässt sich erahnen, was Marcuse unter einer Erotisierung der Gesamtpersönlichkeit versteht. Sie stehen für Sehnsucht nach ästhetischer Befreiung. Beide vermitteln eine harmonische Perspektive auf die Welt: Orpheus durch Gesang und Spiel, Narziss durch Schönheit und Kontemplation. In ihnen deute sich eine zwanglose Versöhnung an: »Die orphische und narzißtische Welterfahrung negiert die Erfahrungsform, die die Welt des Leistungsprinzips aufrechterhält. Der Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, ist überwunden. Das Sein wird als Befriedigung erfahren, die Mensch und Natur eint, so daß die Erfüllung des Menschen gleichzeitig ohne Gewaltsamkeit die Erfüllung der Natur ist.«107
Interessant ist, dass Marcuse, da er den Eros zugleich als Grundtendenz der Natur betrachtet, die Befreiung des Menschen zugleich auch als Befreiung der Natur darstellt.108 Das Telos der Kultur, die erotisch-ästhetischen Aspekte der menschlichen Lebensform zu verwirklichen, ist damit die Fortsetzung eines Naturtelos: »Der orphische und narzißtische Eros erwecken und befreien reale Möglichkeiten, die in den belebten und unbelebten Dingen, in der organischen und der anorganischen Natur enthalten sind – real, aber in der un-erotischen Realität unterdrückt und verdrängt. Diese Möglichkeiten umschreiben den telos, der in ihnen als ›einfach zu sein, was sie sind‹ enthalten ist, als ›Dasein‹, als Existenz.«109
Diese mit Orpheus und Narziss assoziierte Tendenz zur zwanglosen und lustvollen Entfaltung der inneren Möglichkeiten – und das heißt des Eros – habe sich im Unbewussten erhalten. Die Fantasie und Einbildungskraft knüpfe an die unbewusste Erinnerung an das entthronte Lustprinzip an:
107 Ebd., S. 144. 108 Vgl. ebd., S. 164. 109 Ebd., S. 144.
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»Als fundamentaler unabhängiger seelischer Vorgang hat sie [die Fantasie, F.S.] einen eigenen Wahrheitsgehalt, der einer besonderen, ihr eigenen Erfahrung entspricht – nämlich der Überwindung der feindseligen menschlichen Wirklichkeit. Die Phantasie sieht das Bild der Wiederversöhnung des Einzelnen mit dem Ganzen, des Wunsches mit der Verwirklichung, des Glücks mit der Vernunft.«110
Die frühen und tiefen Schichten der menschlichen Erfahrung liegen für Marcuse zunächst in den Erlebnissen der Kindheit, 111 aber sie weisen darüber hinaus sogar auf die archaische Erbschaft im Unbewussten112 – gewissermaßen der Erfahrung des Eros selbst. Tagträume und libidinöse Wünsche seien daher nicht per se regressiv; sie können auch Urbilder einer besseren Zukunft enthalten und damit wahr sein. Es wurde bereits erwähnt, dass es nun gerade dieser Bezug auf ein weniger repressives Dasein ist, der die Wahrheit des Hedonismus ausmache, aber auch der Fantasie und ebenso der Kunst.113 In der Kunst liegt nun auch ein Hinweis auf den praktischen Weltbezug, der sich aus der rezeptiven, sinnlichen Haltung ergibt. Mit Verweis auf Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen114 stellt Marcuse dar, dass das Spiel und die ästhetische Gestaltung die Formen einer nicht-beherrschenden Praxis umreißen. Das ästhetische Spiel vermittelt für Schiller zwischen passiver Sinnlichkeit sowie aktiver Formung der Umwelt und stellt so ein Gleichgewicht zwischen beiden Polen her.115 »Der Spieltrieb ist der gemeinsame Nenner für die beiden entgegengesetzten psychischen Prozesse und Prinzipien«116 – nämlich eine Vermittlung zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Im Spiel trete die Formung der Natur nicht mehr als Beherrschung auf, sondern bringe in freier Gestaltung deren Telos, »die Fülle ihrer zwecklosen Formen«117, zum Ausdruck. Marcuse gibt damit zu erkennen, dass auch die Arbeit in einer befreiten Gesellschaft den Charakter des Spiels trage und damit ebenfalls direkt sinnliche Befriedigung mit sich 110 Ebd., S. 126. 111 Vgl. ebd., S. 175. 112 Vgl. ebd., S. 126. 113 Vgl. Marcuse, Herbert: »Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte Marxistische Ästhetik«, in: Schriften. Konterrevolution und Revolte, Zeit-Messungen, Die Permanenz der Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 191-241. 114 Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart: Reclam 2006. 115 Vgl. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 161. ebd., S. 56f. Zu Schillers Verständnis des sinnlichen und des Formtriebs vgl. auch ebd., S. 46ff. 116 H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 167. 117 Ebd., S. 164.
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bringen müsse. Die Vorstellung eines guten Lebens, wie sie Marcuse entwirft, trägt damit die Züge des ästhetischen, fantasiebegabten Spiels, bei dem die Potenziale der Menschen im Einklang mit der inneren und äußeren Natur zur Entfaltung kommen. Ästhetik als Vernunft und Logik der Versöhnung Bereits die Formulierung der Selbstsublimierung des Eros, wie auch der von Marcuse proponierte sinnlich-rezeptive Weltbezug, der die inneren Anlagen der Menschen und der Natur entfalten soll, weisen darauf hin, dass der Wirklichkeit eine ontologische Struktur oder Ordnung zugrunde liegt, die mit den Strebungen des Eros konvergiert. Diese innere Ordnung bestimmt Marcuse als eine ästhetische Ordnung der Schönheit, was es möglich macht, ausgehend hiervon ein alternatives, ästhetisches Vernunftmodell zu umreißen. Hierzu greift er zunächst auf die Kritik der Urteilskraft von Kant zurück. Das ästhetische Urteil nimmt darin eine Mittlerposition zwischen der praktischen und der reinen Vernunft ein; das heißt zwischen Wille und Verstand, Begehren und Erkenntnis.118 In der Verbindung der beiden Pole könne so die Blaupause für eine zwanglose Versöhnung vermutet werden: »In der Kritik der Urteilskraft erscheint die ästhetische Dimension und das ihr zugeordnete Gefühl der Lust nicht nur als eine dritte Dimension und Fähigkeit des Geistes, sondern als sein Mittelpunkt, als das Medium, durch das die Natur empfänglich wird für die Freiheit, die Notwendigkeit empfänglich für die Autonomie.«119
Marcuse sieht daher in der Ästhetik eine Vermittlung zwischen dem Lustprinzip – der passiven Sinnlichkeit – und dem Realitätsprinzip – der Naturbeherrschung – und knüpft hier an die Überlegungen zu dem Spieltrieb, wie er von Schiller gefasst wurde an. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass das ästhetische Urteil zugleich allgemeinen Prinzipien unterworfen ist, die darüber entscheiden, ob etwas als schön erscheint. Mit Kant argumentiert Marcuse, dass der Begriff der Schönheit auf eine »objektive Ordnung«120 verweist. Schönheit ist somit nicht nur eine Frage des subjektiven Geschmacks oder individuellen Genusses, in ihm kommt etwas Objektives und Allgemeines zum Vorschein. Sinnlichkeit »schafft Lust und ist daher im wesentlichen subjektiv; aber insofern diese Lust durch die reine Form des Gegenstandes selbst hervorgerufen wird, begleitet sie die ästhetische Wahrnehmung allgemein und notwendigerweise – für jedes wahrnehmende Sub118 Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1989 [1970], S. 108. 119 Ebd., S. 152. 120 Ebd., S. 154.
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jekt.«121 Und das Objektive, was im ästhetischen Empfinden zum Ausdruck kommt, ist gleichsam das eigentliche Sein der Dinge. Marcuse fasst dies mit Kant als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«. 122 »Sie umschreiben über das Kantsche System hinaus das Wesen einer wahrhaft repressionsfreien Ordnung. Die erste Kategorie definiert die Struktur der Schönheit, die zweite die der Freiheit; ihre gemeinsame Eigenschaft ist die Befriedigung im freien Spiel der aus ihren Fesseln gelösten Möglichkeiten von Mensch und Natur.«123
Gegen die Sublimierung des Schönheitsbegriffs als weitgehend geistige, unkörperliche Empfindung in Kants Philosophie betont Marcuse allerdings, dass die Ästhetik hier mit sinnlicher Lustempfindung verbunden sei – Schönheit ist für Marcuse sinnlich und lustvoll.124 Da die Gegenstände in der ästhetischen Betrachtung und in der ästhetischen Tätigkeit als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, also ohne äußere Bestimmung, erscheinen sind sie, so Marcuse, zugleich frei sie selbst zu sein.125 Erst mit Bezug auf die ästhetische Ordnung ergeben der spielerische, sinnlich-ästhetische Weltbezug und die Selbstsublimierung des Eros in Kulturwerken einen vollen Sinn. Beide bringen auf je eigene Weise zwei Aspekte einer befreiten Ordnung zum Vorschein: Spiel und Kontemplation drücken die Freiheit im Rahmen der subjektiven Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit aus, die Entfaltung des Eros in der Kultur bringt dies im Rahmen der Gesellschaftsentwicklung zum Ausdruck. Es ist nicht schwer, hierin die Hegelsche Idee der Aufhebung von Individuum und Gesellschaft in einem Dritten wieder zu entdecken; allerdings ist es bei Marcuse nicht der Staat, sondern Schönheit und Ästhetik. 126 Mit Schiller schließt Marcuse daher, dass die ästhetische, sinnliche Ordnung eine zwanglose Harmonie von Individuum und Gesellschaft herstellen würde.127 Diese Ordnung wäre eine Ordnung der Fülle statt der Not.128 Marcuse ist sich zwar des utopischen Charakters dieser Gesellschaftsordnung bewusst. Aber er stellt sie dennoch 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 154. 124 Vgl. ebd., S. 160. 125 Vgl. ebd., S. 155. 126 Marcuse ist jedoch durchaus empfänglich für Schillers Idee des »ästhetischen Staates«. ebd., S. 165; vgl. F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 120. 127 Vgl. H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 165. 128 Vgl. ebd., S. 168.
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als das Ziel und das Telos seiner Geschichtstheorie vor. Unverkennbar trägt Marcuses Normativitätskonzeption hier die Züge einer geschichtsphilosophischen Verwirklichungstheorie nach Hegel’schem Vorbild. Die Befreiung des Eros würde auch den Charakter der Vernunft verändern. Sie wird selbst zu einer sinnlichen und ist daher durch die universalistischen Züge des Eros und des ihm zugehörigen Lustprinzips bestimmt – »Vernünftig ist nun«, so schreibt Marcuse über eine freie Gesellschaft, »was die Ordnung der Befriedigung unterstützt«.129 Und damit dürfte auch Marcuses eigenes Unterfangen einer Gesellschaftskritik im Dienste der unverwirklichten Glücksmöglichkeiten als Ausdruck einer sinnlich-ästhetischen Vernunftanstrengung zu lesen sein.
3.4 LEIDEN AN DEFORMATION DER EROTISCHEN GRUNDLAGEN DER KULTUR? Die Gestalt von Marcuses Theoriegebäude wird bereits in seinen frühen Arbeiten von einer Orientierung auf die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Glücksfindung bestimmt und trägt ebenso früh schon einen deutlich ontologischen Charakter. In diesen Arbeiten machte sich außerdem eine eher rekonstruktives, theoriegeschichtliches Verständnis der Sozialphilosophie bemerkbar. Anders als Fromm, Horkheimer oder Adorno hielt sich Marcuse daher nie mit empirischen Studien oder konkreten Forschungsarbeiten auf.130 Dennoch bezog er in seinen späten Arbeiten Stellung zu politischen Fragen und wurde daher auch als Ideengeber der sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren rezipiert. Schließlich betonte Marcuse stets, dass die Sorge um die Menschen im Zentrum der Kritischen Theorie stehe und nahm daher die Rolle eines avantgardistischen Intellektuellen ohne Weiteres an.131 Hinzu kam ein starker Zweifel an der Machbarkeit einer pro-
129 Ebd., S. 191. 130 Dies zeigt etwa Michael Walzer genüsslich auf, vgl. Walzer, Michael: »Herbert Marcuses Amerika«, in: Michael Walzer (Hg.), Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 232-260, hier S. 232f. 131 Hierin liegt etwa eine wesentliche Differenz zu Adorno, die auch Marcuse betont, vgl. Marcuse, Herbert: »Reflexionen zu Theodor W. Adorno«, in: Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Theodor W. Adorno zum Gedächtnis. Eine Sammlung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 47-51, hier S. 50. Später formuliert Marcuse dezidiert eine avantgardistische Position in Konterrevolution und Revolte, vgl. Marcuse, Herbert: »Konterrevolution und Revolte«, in: Schriften. Konterrevolution und Revolte, Zeit-
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letarischen Revolution, die Marcuse mit den anderen Mitgliedern des Instituts teilte, und aus der er schon früh die Konsequenz zog, dass eine Kritische Theorie notwendig utopisch Züge habe: »Wenn die Wahrheit nicht innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung realisierbar ist, hat sie ohnehin für diese den Charakter einer bloßen Utopie. Solche Transzendenz spricht nicht gegen, sondern für die Wahrheit. Das utopische Element war in der Philosophie lange Zeit das einzige fortschrittliche Element: so die Konstruktionen des besten Staates, der höchsten Lust, der vollkommenen Glückseligkeit, des ewigen Friedens. Der Eigensinn, der aus dem Festhalten an der Wahrheit gegen allen Augenschein kommt, hat in der Philosophie heute der Schrullenhaftigkeit und dem ungehemmten Opportunismus Platz gemacht. In der kritischen Theorie wird der Eigensinn als echte Qualität philosophischen Denkens festgehalten.«132
Wie unschwer zu erkennen ist, blieb Marcuse dieser frühen Charakterisierung seines Verständnisses von Kritischer Theorie in seinen Spätschriften treu. In dieses theoretische Milieu fällt nun auch Marcuses Interpretation der Psychoanalyse. Er rezipiert die Schriften Freuds dezidiert in einem sozialutopischen Sinne und versucht mit ihrer Hilfe jene fortschrittliche Wahrheit zu bergen, die seiner Diagnose zufolge aus der eindimensionalen Gesellschaft gewichen sei. Zugleich fasst Marcuse Freuds Triebtheorie im Rahmen einer Ontologie auf, die er aber mit einer direkten revolutionären Zielrichtung ausstattet. Der Eros nimmt damit in Marcuses Theorie nicht nur die Stellung eines normativen Prinzips ein, das die Begründbarkeit der Kritik sichert, sondern er erlaube es auch, die innere Logik von gesellschaftlicher Praxis und sogar die Struktur der Geschichte zu entschlüsseln. In seinen späten Schriften tendiert Marcuse schließlich dazu, diese ontologische Struktur unmittelbar in die biologische Anlage der Menschen hinein zu verlegen: »Vor jedem mit den spezifischen sozialen Maßstäben übereinstimmenden sittlichen Verhalten, vor jeder ideologischen Äußerung ist Moral eine ›Anlage‹ des Organismus, die wohl im erotischen Trieb ihren Ursprung hat, der Aggressivität entgegenzuwirken, ›immer größere Einheiten‹ des Lebens zu schaffen und zu erhalten. Wir hätten dann, diesseits aller ›Werte‹, ein triebpsychologisches Fundament für Solidarität unter den Menschen – eine
Messungen, Die Permanenz der Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 7-128, hier S. 52. 132 H. Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie«, S. 235.
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Solidarität, die gemäß den Erfordernissen der Klassengesellschaft wirksam unterdrückt wurde, nunmehr aber als Vorbedingung von Befreiung erscheint.«133
Marcuse geht aber mit seiner Triebontologie noch weiter. Er setzt sie so tief an, dass Eros und Thanatos nicht nur innere Tendenzen des Menschen ausdrücken, sondern zugleich allen Lebens. Befreiung der Menschen läuft damit auch auf Befreiung der Natur hinaus.134 In beiden Fällen geht es um die Erlösung des Lebens von Mühsal und Not, die für Marcuse mit instrumenteller Fremdbestimmung zusammenfallen. Da Freiheit für Marcuse das Befolgen der inneren Notwendigkeit meint, und die innere Tendenz des Lebens auf Glück und Befriedigung hinauslaufen, fallen Entfaltung des Eros und Befreiung des Menschen wie der Natur für ihn zusammen. Obwohl auch in Marcuses Geschichtsverständnis die Verfallsdiagnose überwiegt, folgt es in den Hauptpunkten einer linkshegelianischen Geschichtsphilosophie. Der Platz der Vernunft wird in ihr lediglich durch den Eros beziehungsweise durch eine sinnlich-ästhetische Ordnung eingenommen. Dieser Wiederbelebungsversuch gelingt Marcuse zwar nur durch die Wiedereinführung metaphysischer Elemente. Aber das Problem der Konzeption liegt nicht allein in ihrem utopisch-metaphysischen Charakter. Auch Marcuse spannt die Leidenserfahrung der Menschen hiermit in eine geschichtsphilosophische Konstruktion ein. Darin ist es kaum möglich, zu konkretisieren, wie sich das behauptete ›Leiden an Gesellschaft‹ konkret für die Menschen darstellt. Relevante Leidensphänomene ergeben sich für Marcuse schlicht aus Unterdrückung des Eros sowie der gleichzeitigen Freisetzung von Destruktivität. Leiden ist damit zugleich das Leiden an der noch ausstehenden, von Herrschaftsinteressen zusätzlich verzerrten Verwirklichung des erotischen Lustprinzips. Den Anschein von Konkretion kann Marcuse nur erwecken, da Glück und Lust Begriffe sind, die einen anschaulichen, körperlichen Beiklang haben. Da er aber zugleich daran zweifelt, dass wahres Glück wie auch das Leiden in kontemporären Gesellschaften für die meisten Menschen erfahrbar sind, erhalten jene Begriffe ihre eigentliche Bedeutung erst durch die geschichtsphilosophische Konstruktion. Glück und Leiden sind für Marcuse abstrakte Begriffe und es ist nur schwer vorstellbar, dass diese in der Form in der sozialen Wirklichkeit erfahren werden. Das zeigt sich besonders an der Differenz zwischen repressiver Entsublimierung und freier Entsublimierung, oder zwischen falschen und wahren Bedürfnissen. Das Kriterium der Wahrheit liegt beide Male 133 Marcuse, Herbert: »Versuch über die Befreiung«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Schriften. Aufsätze und Vorlesungen 1948-1969, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 236-317, hier S. 250. 134 Vgl. H. Marcuse: »Konterrevolution und Revolte«, S. 72f.
Der triebtheoretische Rettungsversuch | 151
in dem Verweis auf einen höheren Grad der Verwirklichung menschlicher Glücksmöglichkeiten – dem Verweis auf das geschichtliche Wesen des Menschen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob sich falscher und wahrer Genuss in ihrer sensorischen Qualität unterscheiden lassen. Das bringt Marcuse in die eigenartige Situation, dass er nicht erläutern kann, worin sich der repressive Charakter des »glücklichen Bewusstseins«,135 zu dem sich das unglückliche Bewusstsein in der modernen Massengesellschaft gewandelt habe, für die Subjekte selbst bemerkbar mache.136 Aus dem Umstand, dass das Verlangen nach einem bessere Leben unsichtbar geworden zu sein scheint, zieht Marcuse die erwähnte Konsequenz, dass das kritische Denken notwendig negativ und daher utopisch sein müsse. Andererseits sieht er das verändernde Potenzial nun vor allem in gesellschaftlichen Splitter- und Randgruppen, die vorgeblich nicht voll integriert sind: Studierende, die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die Antikriegsbewegungen.137 Psychoanalyse stellt in Marcuses Theoriekonstruktion zum einen die triebtheoretischen Konzepte zur Reformulierung der normativen und anthropologischen Grundannahmen. Zum anderen wird sie von Marcuse vor allem als Vergesellschaftungstheorie verstanden, mit der die Wandlung des Menschen vom Naturzum Gesellschaftswesen, das heißt die Verinnerlichung des Gesellschaftszwangs sowohl in der Onto- wie Phylogenese, beschrieben werden kann. Darüber hinaus kommt ihr in Marcuses theoretischem Entwurf keine Bedeutung zu. Konkrete Leidenserfahrungen, wie sie etwa in der Therapie bearbeitet werden, spielen in Marcuses Theorie keine Rolle; Marcuse verschmäht sie gar explizit. 138 Marcuse deduziert das, was er als soziales Leiden gelten lässt, direkt aus seiner geschichtstheoretisch getragenen Gesellschaftsdiagnose; gleiches gilt für die Ursachen für individuelles Leiden – sie liegen letztlich in der unvollkommenen Verwirklichung der historischen Möglichkeiten. Somit gibt er zwar klare normative und ontologische Kriterien für eine bessere Gesellschaft an, aber ob diese in der vorgefundenen sozialen Realität – besonders in den alltäglichen Orientierungen – eine Rolle spielen, bleibt vollkommen unklar. Die paternalistischen Züge einer Gesellschaftskritik, die auf die Befreiung ontologischer Tendenzen und nicht so sehr auf die der konkreten, handelnden und leidenden Menschen zielt, offenbaren sich
135 H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 95. 136 Vgl. M. Walzer: »Herbert Marcuses Amerika«, S. 238. 137 Vgl. H. Marcuse: »Versuch über die Befreiung«, S. 284; vgl. H. Marcuse: »Konterrevolution und Revolte«, S. 42. 138 H. Marcuse: »Triebstruktur und Gesellschaft«, S. 209.
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in der These, dass unter gegenwärtigen Bedingungen kritische Intellektuelle die ideologisch integrierten Massen zu erziehen haben.139
139 Vgl. H. Marcuse: »Der eindimensionale Mensch«, S. 60f; vgl. H. Marcuse: »Konterrevolution und Revolte«, S. 52.
Restaurierungsversuche: Habermas und Honneth
4
Kommunikatives Handeln und die hintergründige Geschichtsphilosophie bei Habermas
Die Moderne sei ein unvollendetes Projekt, behauptet Habermas in der Rede, mit der er den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt im Jahr 1980 entgegennahm. 1 Er widerspricht damit nicht ganz ohne Ironie einem Motiv, das das Werk des Namensgebers der Auszeichnung durchzieht: nämlich, dass die Moderne und die mit ihr verbundene Idee der Aufklärung weitgehend gescheitert sind. Habermas möchte dagegen den Weg fortsetzen, den Adorno und Horkheimer mit der Dialektik der Aufklärung, Horkheimer mit der Kritik der instrumentellen Vernunft2 und, wenn auch nicht explizit erwähnt,3 Marcuse mit One-Dimensional Man abgebrochen haben.4 Aufklärung, so sieht es Habermas, sei von Adorno und Horkheimer als gesellschaftliches Projekt unter dem Eindruck politischer Enttäuschungen und vor allem infolge theoretischer Beschränkungen vorschnell ad acta gelegt worden. Die Theorie des kommunikativen Handelns, die ein Jahr nach dem Vortrag erscheinen wird, stellt Habermas’ umfassenden Versuch dar, die
1
Vgl. J. Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«.
2
Vgl. Horkheimer, Max: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Gesammelte Schriften. ›Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‹ und ›Notizen 1949-1969‹, Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 21-186.
3
Eine Kritik an Marcuses One-Dimensional Man, die der an der Dialektik der Aufklärung vergleichbar ist, findet sich lediglich in den früheren Arbeiten von Habermas, vgl. Habermas, Jürgen: »Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1968, S. 45-103.
4
Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (= Band 1), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014a, S. 518.
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verschiedenen Stränge seiner theoretischen Arbeit in einer Theorie zu vereinen und nicht zuletzt der totgeglaubten Aufklärung wieder Leben einzuhauchen. Wenn Habermas von einer unvollendeten Moderne spricht, lässt sich bereits erahnen, dass die Kritik an seinen Vorgängern am Institut für Sozialforschung nicht in erster Linie auf die geschichtsphilosophische Erzählung abzielt, die trotz des Geschichtspessimismus in den Theorien von Adorno, Horkheimer und Marcuse als Folie für Verständnis und Kritik von Gesellschaften erhalten geblieben ist. Im Gegenteil bekennt Habermas, dass es ihm schon früh um eine »Theorie der Moderne, eine Theorie der Pathologien der Moderne, unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung, der deformierenden Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte«5 gegangen sei. Ebenso früh lässt sich auch die theoretische Figur ablesen, mit der das Projekt einer aufgeklärten Moderne in Form einer Gesellschaftstheorie revitalisiert werden soll: über die Figur eines rationalen Diskurses. Eine vernünftige gesellschaftliche Ordnung war für Habermas schon in Der Strukturwandel der Öffentlichkeit an die Institutionalisierung eines freien öffentlichen Räsonnierens gebunden. In dieser Öffentlichkeitskonzeption drückt sich der Anspruch aus, politische Machtausübung öffentlich zu debattieren, zu kritisieren, letztlich also durch die Betroffenen auf Basis rationaler Argumentation prüfen zu lassen. Die so angestrebte Diskursivierung der Macht würde damit zwangsläufig zu einer Rationalisierung, einer Vernünftigwerdung derselben führen.6 Zwar ist er an diesem Abschnitt seines Werkes noch mit Adorno einig, dass die Grundzüge dieser normativen Öffentlichkeitskonzeption nur flüchtig in der bürgerlichen Epoche sichtbar wurden; ihre Umrisse hätten seither infolge gesellschaftlicher Widersprüche und wirtschaftlicher Krisen zunehmend einer manipulativ verwalteten Öffentlichkeit Platz gemacht. 7 Doch das Motiv, Vernunft an kommunikative Prozeduren zu binden, zieht sich ab da durch die theoretischen Bemühungen von Habermas und bestimmte auch die Lösung, die er für die konstatierten Probleme der Theorien von Adorno, Horkheimer und auch Marcuse entwickelte. Im Laufe dieser Bemühungen wird Habermas immer mehr Grundannahmen der Geschichtsphilosophie verabschieden. Und doch bleibt die Perspektive auf soziale Pathologien und den ihnen entsprechenden Leiderfahrungen auch in seinen späteren Arbeiten noch von einer geschichtli-
5
Habermas, Jürgen: »Dialektik der Rationalisierung«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 167-208, hier S. 171.
6
Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 153.
7
Vgl. ebd., S. 343.
Kommunikatives Handeln | 157
chen Entwicklungstheorie getragen, die als eine säkularisierte oder »ernüchterte« Geschichtsphilosophie verstanden werden kann.8 In erster Linie zielt die Kritik von Habermas darauf, dass seine Vorgänger am Institut für Sozialforschung der materialistischen Theorie auf grundbegrifflicher Ebene zu unkritisch gefolgt seien und daher die moderne Subjektkonstitution mit der Aneignung von innerer und äußerer Natur durch Arbeit gleichsetzten. Es ist dann zwar konsequent, subjektive Vernunft als die Rationalität der Naturund Selbstbeherrschung zu verstehen und – dem folgend – gesellschaftliche Rationalisierung als Totalisierung technologischer und bürokratischer Herrschaftsapparate zu kritisieren. Aber diese Fassung verstelle nicht nur den Blick auf nicht-instrumentellen Aspekte der menschlichen Lebensweise, sondern bringe auch einen gravierenden Nachteil für die kritische Absicht selbst mit sich: Universelle Vernunftstandards können so nicht mehr das normative Fundament für eine Gesellschaftskritik bilden, da sie als Ganze verdächtig geworden sind. Das Dilemma, auf eine als instrumentalistisch diagnostizierte Vernunft nicht mehr rückgreifen zu können und doch nicht auf die normativen Ansprüche verzichten zu wollen, die mit dem Vernunftbegriff verbunden sind, kennzeichnet deutlich das Spätwerk von Adorno.9 Adornos Versuch einen Vorrang des Objekts anzudeuten, seine Verweise auf die ästhetische Theorie, aber auch Marcuses Verankerung der kritischen Intention in einem spekulativen Lebenstrieb deuten für Habermas auf die Unzulänglichkeiten eines Ansatzes hin, der die normativen Voraussetzungen seiner Theorie nicht mehr an der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausweisen kann.10 Die Idee einer vernünftigen Moderne konnte so nur noch gegen die soziale Wirklichkeit behauptet werden. Habermas rekonstruiert den Bruch zwischen gesellschaftlicher Praxis und den normativen Ansprüchen einer kritischen Gesellschaftstheorie, der sich durch Adornos und Marcuses Theorien zieht, damit erstmals auch als Defekt der theoretischen Konstruktion und verhandelt ihn nicht allein als Defekt einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich gegen alle transzendenten und nichtidentischen Momente verschlossen habe. Um dieses theoretische Defizit zu beheben, 8
Vgl. G. Lohmann: »Ernüchterte Geschichtsphilosophie«, Lohmann, Georg: »Kritische Gesellschaftstheorie ohne Geschichtsphilosophie? Zu Jürgen Habermas’ verabschiedeter und uneingestandener Geschichtsphilosophie«, in: Frank Welz/Uwe Weisenbacher (Hg.), Soziologische Theorie und Geschichte, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 197-217. Habermas hat sich jedoch stets dagegen gewehrt, dass seine Theorie evolutionärer sozialer Entwicklung als Geschichtsphilosophie bezeichnet wird.
9
Vgl. J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 154ff.
10 Vgl. J. Habermas: »Dialektik der Rationalisierung«, S. 177.
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stellt Habermas ein dialogisches Subjekt in das Zentrum seiner Theorie, dessen Selbst- und Weltverhältnis intersubjektiv in kommunikativen Verständigungsprozessen gebildet wird. Nicht Arbeit, sondern Kommunikation bilde den »Originalmodus«11 von Sozialinteraktion und könne daher nicht vollständig aus der gesellschaftlichen Realität weichen. Es ist zwar möglich, dass kommunikative Prozesse gestört werden, was Habermas etwa in der Diagnose einer verdinglichenden Kolonialisierung der Lebenswelt formuliert. Aber da Menschen nicht anders können, als kommunikativ zu handeln, und auch die materielle Reproduktion der Gesellschaft auf eine kommunikativ strukturierte Lebenswelt angewiesen sei, finden sich in modernen Gesellschaften, und selbst in totalitären Staaten, stets noch Sphären kommunikativer Verständigung. Und mit Karl-Otto Apel behauptet Habermas, dass sich in diesen Verständigungsprozessen schließlich formale Normkriterien rekonstruieren lassen,12 die selbst dann die normative Basis für eine Gesellschaftskritik bilden können, wenn der historische Horizont verdunkelt ist. Mit der intersubjektiven Neubestimmung der Grundbegriffe sieht sich Habermas aber nicht nur in der Lage, wieder an normative Strukturen der sozialen Wirklichkeit anzuknüpfen und so den von Marcuse und Adorno vollzogenen Bruch mit dieser rückgängig zu machen. Folgt man Habermas, so sei nach der intersubjektiven Wende auch das »Paradigma der Bewusstseinsphilosophie«13 und die geschichtsphilosophischen Annahmen seiner Vorgänger am Institut für Sozialforschung überwunden.14 Erlaubt der kommunikationstheoretische Ansatz nun also triftigere und kontextsensiblere Untersuchungen von sozialen Leidens11 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 388. 12 Vgl. Apel, Karl-Otto: Transformation der Philosophie. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (= Band 2), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 215. 13 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 530ff. Wie Joas richtig bemerkt, fällt die Überwindung des Bewusstseinsparadigmas allerdings nicht notwendig mit einer sprachlichen Interaktionstheorie zusammen. Damit ist im Umkehrschluss auch gesagt, dass eine Kommunikationstheorie nicht zwangsweise frei von bewusstseinsphilosophischen Motiven ist. Auch in Habermas’ Theorie finden sich daher Überbleibsel der Bewusstseinsphilosophie, die schließlich seine Psychoanalyserezeption beeinträchtigen – davon wird weiter unten die Rede sein. Vgl. Joas, Hans: »Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus«, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 144-176. 14 Vgl. Habermas, Jürgen: »Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 144-199, hier S. 154ff.
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phänomenen? Das Bekenntnis von Habermas, dass es ihm in seiner Theorie um die Erklärung der »deformierenden Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte«15 gehe, aber auch die Fassung der Moderne als ein »unvollendetes Projekt«16 weisen eher darauf hin, dass in der Kommunikationstheorie von Habermas eine verwirklichungstheoretische Fortschrittsfigur dominant geblieben ist, die gerade die Anbindung an die soziale Wirklichkeit in dem hier untersuchten Sinne verhindert. Nachvollziehen lässt sich das schon an der Struktur der Theorie des kommunikativen Handelns. In ihr soll durch eine grundbegriffliche Klärung der Handlungsbegriffe ein Konzept des kommunikativen Handelns entworfen werden, mit dem – als (sprach-)anthropologischem Fundament – dann die Geschichte der Moderne als weitgehend einseitige gesellschaftliche Institutionalisierung der menschlichen Rationalitätspotenziale beschrieben werden kann. Auf dieser Grundlage kann Habermas nun kritisch auf die volle Ausschöpfung des »im modernen Weltverständnis eröffneten Möglichkeitshorizonts«17 hindeuten, wobei die schon früh im Öffentlichkeitsbegriff enthaltene, diskursethische Idee der zwanglosen Verständigung als normatives Regulativ der Gesellschaftskritik fungiert. Habermas möchte daher mit der Theorie des kommunikativen Handelns klären, »wie die Entwicklung zum Spätkapitalismus objektiv die Bedingungen dafür erfüllt hat, daß wir erkennen können, daß in den Strukturen sprachlicher Verständigung Universalien stecken, die sogar die Maßstäbe für eine geschichtsphilosophisch nicht mehr zu begründende Kritik hergeben.«18 Die Theorie des kommunikativen Handelns verfolgt also ein paradoxes Unterfangen: Sie versucht die Intentionen einer geschichtsphilosophischen Kritik zu aktualisieren, ohne selbst geschichtsphilosophisch zu argumentieren. Das gelingt Habermas nur zum Teil; und aus der Perspektive der hier verfolgten Forschungsfrage, die wissen möchte, inwieweit das Theoriemodell Untersuchungen der sozialen und normativen Dynamik von Leiderfahrungen erlaubt, muss geschlossen werden, dass Habermas die grundsätzlichen Schwierigkeiten eines geschichtsphilosophischen Ansatzes wiederholt. Das soll im Folgenden dargestellt werden, indem zunächst das kommunikationstheoretische Modell umrissen wird, mit dem Habermas seine Theorie wieder an die soziale und institutionelle Wirklichkeit anbinden möchte (4.1). Das erlaubt es dann knapp die Gesellschaftstheorie von Habermas, wie auch die spezifische Diagnose nachzuzeichnen, die er für moderne Gesellschaften ausspricht – nämlich die einer Verdinglichung und Fragmentierung der kommunikativen Integrationskraft 15 J. Habermas: »Dialektik der Rationalisierung«, S. 171. 16 J. Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«. 17 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 306. 18 J. Habermas: »Dialektik der Rationalisierung«, S. 174.
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der Lebenswelt. In dieser Stelle lässt sich bereits erahnen, wie wenig der theoretische Entwurf von Habermas in der Lage ist, eine kohärente Bezugnahme auf psychische Leidensphänomene zu ermöglichen. Die Widersprüche, in die Habermas sich hierbei verwickelt, ergeben sich aus der ungeprüften Übertragung des sprachtheoretischen Modells auf psychische Konflikte. Das eigentliche normative Argument, mit dem Habermas seine Kritik absichert, liegt daher nicht in der Untersuchung sozialer Leidensphänomene; wiewohl deren Erwähnung bedeutsam ist, um zu zeigen, dass Störungen im kommunikativen Handeln auch die konkreten Handelnden etwas angehen. Die Kritik von Habermas zieht ihre Schlagkraft aus einer Rationalisierungstheorie, mit der er nachzuweisen sucht, dass in der Moderne bisher nicht voll realisierte Möglichkeiten zur Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft existieren. In Abschnitt 4.2 wird daher die Rationalisierungstheorie rekonstruiert und gezeigt, dass diese den Modernisierungsprozess nicht nur rekonstruieren möchte, sondern zugleich den normativen Aspekten der Theorie eine geschichtstheoretische Basis verleiht – das zeigt sich vor allem an Habermas’ Kritik an Weber. Die Rationalisierungstheorie erweist sich, wie sich unter Rückgriff auf einen früheren Theorieentwurf – Erkenntnis und Interesse19 – nachvollziehen lässt, damit als ›säkularisierte‹ Geschichtsphilosophie, mit der jene normativen Potenziale plausibilisiert werden sollen, auf die sich die Gesellschaftskritik von Habermas stützt. Diese normativen Potenziale fasst Habermas schließlich dezidiert in einer formalen Diskursethik zusammen, die als Telos der Geschichtsentwicklung verstanden werden kann: Sie drückt die Prinzipien einer rationalen Kommunikationsgemeinschaft aus (4.3). Die Rekonstruktion von Habermas’ Psychoanalysebezug erfolgt hier aus der Perspektive der Theorie des kommunikativen Handelns. Das mag verwundern, da Psychoanalyse in der Theorie des kommunikativen Handelns keine substanzielle Rolle mehr spielt, aber Habermas einige Jahre zuvor in Erkenntnis und Interesse noch eine umfassende Interpretation der psychoanalytischen Theorie anstellte, in der er das Reflexionsverfahren der psychoanalytischen Therapie als methodisches Modell für eine kritische Sozialwissenschaft empfahl. Dagegen nahm die Rezeption der Psychoanalyse in den späteren Jahren deutlich ab; Habermas schränkte den Erklärungsanspruch psychoanalytischer Konzepte wieder auf die individuelle Ebene ein. In dem hier interessierenden Punkt blieb der Bezug auf Psychoanalyse aber unverändert: Mit ihr verweist Habermas auch in der Theorie des kommunikativen Handelns auf die psychopathologischen Leidenszustände, die sich einstellen, wenn das geschichtliche Rationalisierungspotenzial nur gestört und verzerrt verwirklicht wird. Aus diesem Grund ist es nicht nur möglich, 19 Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.
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Habermas’ Rückgriff auf sozial verursachtes Leiden und Psychoanalyse aus der Perspektive der Theorie des kommunikativen Handelns zu rekonstruieren. Das hat außerdem den Vorteil, dass so auf eine Gesellschaftsdiagnose zurückgegriffen werden kann, mit der Habermas jene Leidenserfahrungen erklärt.
4.1 HABERMAS’ HANDLUNGSTHEORETISCH FUNDIERTE GESELLSCHAFTSDIAGNOSE: DIE VERDINGLICHENDE EROSION VERSTÄNDIGUNGSORIENTIERTEN HANDELNS Schon in dem frühen Öffentlichkeitskonzept formulierte Habermas die Idee, dass zwischen der Rationalität von politischen Entscheidung und ihrer diskursiven Begründung ein inniger Zusammenhang besteht: Politische Macht wird genau dann in einem rationalen Sinne ausgeübt, wenn sie sich vor einer kritischen Öffentlichkeit diskursiv rechtfertigen lässt.20 Die hier noch undifferenzierten Argumentationsfäden werden in den weiteren Arbeiten von Habermas zunehmend geschieden und einzeln begründet.21 Dabei handelt es sich nicht nur um eine Differenzierung der verschiedenen Aspekte, aus der sich das Bild der bürgerlichen Öffentlichkeit zusammensetzte, sondern der Fokus der Betrachtung verschiebt sich insgesamt, wenn auch die Grundintention – Vernunft in öffentlichen Aushandlungsprozessen zu suchen – erhalten bleibt. Habermas wird aber sukzessive den materiellen Aspekten gesellschaftlicher Reproduktion einen eigenständigen Status in der Gesellschaftstheorie reservieren und diese Scheidung durch eine handlungstheoretische Differenzierung begründen. An dieser Stelle soll die Kombination der mikrosoziologischen Handlungs- mit der makrosoziologischen Gesellschaftstheorie im Zentrum stehen, über die Habermas sowohl den kommunikativen, wie auch instrumentellen Anteilen menschlicher Sozialinteraktion systematisch Rechnung tragen möchte. Habermas’ Pathologiediagnose, die als ein dritter Punkt eingeführt wird, resultiert aus der Gegenüberstellung der Hand-
20 Vgl. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 153. 21 Darunter sind etwa die Diskurstheorie der Wahrheit, die Diskursethik, das Konzept einer symbolisch strukturierten Lebenswelt (vgl. Jürgen Habermas (Hg.): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984) und ihrer Gefährdung durch Profit- und Verwaltungslogiken (Vgl. Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979) zu zählen. Die argumentativen Stücke werden in der Theorie des kommunikativen Handelns schließlich gebündelt.
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lungsmodi und läuft darauf hinaus, eine Schwächung der gesellschaftlichen Integrationskraft von verständigungsorientiertem Handeln zu behaupten, die durch externe Bedrohung – etwa die Ausdehnung von instrumenteller Verwaltungslogik – und interne Fragmentierungserscheinungen der Lebenswelt herbeigeführt wird. Die normative Struktur der sozialen Wirklichkeit: Der Begriff des kommunikativen Handelns Gegen die problematisch gewordene normative Fundierung der Theorien von Adorno, Horkheimer und Marcuse führt Habermas die These ins Feld, dass sich die »Theorie des kommunikativen Handelns des vernünftigen Gehalts anthropologisch tiefsitzender Strukturen«22 vergewissern kann. Vernunft ist für den späten Habermas weder in einer geschichtsphilosophischen Konzeption, noch in einer konkreten geschichtlichen Gestalt – wie etwa der bürgerlichen Öffentlichkeit – greifbar, sondern er sucht sie in den »Strukturen des Handelns und der Verständigung, die am intuitiven Wissen kompetenter Mitglieder moderner Gesellschaften abgelesen sind.«23 Denn »Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne«,24 und kann daher als normatives Regulativ sozialer Interaktion und gesellschaftlicher Entwicklung fungieren. Das normative Kriterium, auf das Habermas abzielt, muss so in jeder Sprachinteraktion notwendig berücksichtigt sein; es hat einen gleichsam transzendentalen Status, da es von den Handelnden selbst nicht expliziert werden können muss: »Diskursteilnehmer brauchen sich auf dieses Fundament nicht erst zu einigen; ja, eine Entscheidung für die der sprachlichen Verständigung innewohnende Rationalität ist gar nicht möglich. Im kommunikativen Handeln orientieren wir uns immer schon an denjenigen Geltungsansprüchen, von deren intersubjektiver Anerkennung ein möglicher Konsens abhängt.«25
Diese abstrakte Verwurzelung der Vernunft in den Bedingungen der Rede hat laut Habermas zwei Vorzüge: Erstens soll mit der sprachtheoretischen Fundie-
22 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 561. 23 Ebd., S. 562. 24 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 387. 25 Habermas, Jürgen: »Replik auf Einwände«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 475-570, hier S. 488.
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rung gewährleistet werden, dass die normativen Kategorien nicht extern an die menschliche Lebensweise herantragen, sondern aus dieser extrapoliert werden. Die Menschen müssen also schon immer universelle Normativitätskriterien berücksichtigen, wenn sie miteinander kommunizieren wollen und die Theorie des kommunikativen Handelns versucht diese aus der Sprache zu rekonstruieren. Dieses immanente Begründungsprogramm birgt aber die Gefahr, dass substanzielle Annahmen etwa in Form einer Anthropologie und im Sinne einer objektiven Vernunft in die theoretische Grundlegung hineingetragen werden. Tatsächlich macht Habermas unverkennbar sprachanthropologische Grundannahmen. Diese versucht Habermas aber – zweitens – abzuschwächen, indem er betont, dass er lediglich formale Kriterien festhält, denen Sprachhandlungen genügen müssen. Es handele sich hier lediglich um abstrakte Vorbedingungen, die von den konkreten Intentionen der Sprechenden und Handelnden getrennt werden müssen. Sie werden daher von den Handelnden selbst unabhängig vom Inhalt der Sprachhandlung befolgt. Die normativen Voraussetzungen des kommunikativen Handelns enthalten also, so behauptet Habermas, keine inhaltlichen oder substanziellen Kriterien.26 Der zwanglose Zwang des besseren Arguments, der den Kern der normativen Struktur der Kommunikation ausmache, sei lediglich formal. Weiter unten werden die normativen Aspekte der Kommunikationstheorie explizit rekonstruiert; an dieser Stelle ist zunächst die Struktur bedeutsam, die Habermas in kommunikativem Sozialhandeln rekonstruiert sowie der Stellenwert, der diesem Handeln in der Gesellschaftstheorie zukommt. Im kommunikativen Handeln erheben Habermas zufolge die Sprecherinnen und Sprecher wechselseitig Geltungsansprüche auf die Wahrheit, normative Richtigkeit und/oder Wahrhaftigkeit von sprachlichen Ausdrücken. 27 Den geäußerten Geltungsansprüchen kann in zwei Weisen begegnet werden: »die zulässigen Reaktionen sind Ja/Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen«.28 Gesetzt dem Fall, dass die Kommunikation nicht abgebrochen wird, oder der Hörer bezie26 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 500ff. 27 Die These, dass sich sämtliche Sprechhandlungen auf Tatsachen, normatives Sollen und beziehungsweise oder auf eine Welt des inneren und subjektiven Erlebens beziehen, ist für Habermas’ Argumentation zentral (vgl. ebd., S. 65ff). Zugleich ist erkennbar, dass der Wahrhaftigkeitsanspruch im Vergleich zum Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch, in denen sich der Dualismus von Habermas’ Handlungs- und Gesellschaftstheorie spiegelt, einen eher marginalen Status hat. Vgl. Celikates, Robin/Pollmann, Arnd: »Baustellen der Vernunft. 25 Jahre Theorie des kommunikativen Handelns – zur Gegenwart eines Paradigmenwechsels«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 3 (2006), S. 97-113, hier S. 101. 28 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 65.
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hungsweise die Hörerin mit Enthaltung reagiert, stützen sich sowohl Zustimmung, als auch Ablehnung auf die Annahme, dass es für die jeweilige Reaktion gute Gründe gibt. Das Verhandeln von Geltungsansprüchen schließt folglich die Verpflichtung ein, im Zweifelsfall Gründe für die eigene Position angeben zu können. Bei unmittelbarer Zustimmung bleiben die Begründungen normalerweise latent. Wird aber seitens der Hörerin oder des Hörers widersprochen, müssen sie in einem Diskurs explizit gemacht werden. Das gilt auch für die widersprechende Seite: Nur ein begründbarer Widerspruch ist valide. Wird der Diskurs in dieser Form der begründenden Argumentation »nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt«, 29 würde, so nimmt Habermas an, früher oder später ein Konsens erreicht werden. Im Konsens erlangen Aussagen dann handlungsbindende Geltung; sie werden für die Subjekte damit verpflichtend. Hier deuten sich schon externe Beschränkungen der Diskursführung an, wie etwa Zeitmangel, weswegen komplexere Gesellschaften institutionelle Mechanismen zur Entlastung des Diskurses hervorbringen. Der Punkt wird noch in der Gesellschaftstheorie von Habermas eine Rolle spielen. Zunächst ist entscheidend, dass Verständigung grundsätzlich nicht durch Macht erzwungen werden kann, sondern rational motiviert ist: »Ja/Nein-Stellungnahmen zu Geltungsansprüchen« beinhalten, »daß der Hörer einer kritisierbaren Äußerung mit Gründen zustimmt oder nicht zustimmt; sie sind Ausdruck einer Einsicht.«30 Habermas geht also davon aus, dass alle Kommunikationsteilnehmer notwendig, sofern die Situation des kommunikativen Handelns gegeben ist, sich allein durch das bessere Argument überzeugen lassen und auch nur mit Argumenten zu überzeugen suchen – das ist die volle Tragweite der Behauptung, Verständigung sei das Telos von Sprache: »Argumentationsteilnehmer können der Voraussetzung nicht ausweichen, daß die Struktur ihrer Kommunikation […], jeden von Außen auf den Verständigungsprozeß einwirkenden oder aus ihm selbst hervorgehenden Zwang, außer dem des besseren Argumentes, ausschließt und damit auch alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche neutralisiert.«31
Wenn Habermas hier von einer Voraussetzung spricht, ist das durchaus im wörtlichen Sinne zu verstehen: Alle Kommunikationsteilnehmenden müssen sie 29 Ebd., S. 71. 30 Ebd., S. 65. 31 Habermas, Jürgen: »Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 53-126, hier S. 99.
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schon allein durch ihre Teilnahme an der Kommunikation akzeptiert haben. Sie bestreiten zu wollen, wäre ein performativer Widerspruch, da die*der Skeptiker*in damit stillschweigend und performativ die Voraussetzungen der Argumentation macht, um sie überhaupt kritisieren zu können.32 Die Alternative liege allein in der Verweigerung des kommunikativen Handelns, was nach Habermas’ Auffassung den nur schwer vorstellbaren Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft bedeuten würde33 – damit haben die Bedingungen der argumentativen Rede, quasi-transzendentalen, nach dem an Apel angelehnten Begriff: transzendentalpragmatischen, Charakter. 34 Bei genauerer Betrachtung des bisher Erwähnten fällt auf, dass das kommunikative Handeln auf drei Klassen von Voraussetzungen beruht, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1.) Geltungsansprüche müssen argumentativ begründet werden können (Produktionsaspekt), 2.) die Sprecher*innen müssen aufrichtig sein, das heißt einen kooperativen Diskurs führen (Prozeduraspekt) und 3.) dieser darf keinerlei äußeren Zulassungsbeschränkungen oder Zwängen ausgesetzt sein (Prozessaspekt).35 Der Prozessaspekt enthält damit offensichtlich die stärksten ethischen Annahmen, worauf hinsichtlich der Diskursethik zurückzukommen sein wird. Habermas entwirft die Bedingungen erkennbar nach dem Bild der theoretischen Argumentation und deren Voraussetzungen können in der durchschnittlichen sozialen Kommunikation kaum als erfüllt gelten. Trotz oder gerade wegen ihres normativen Gehalts müssen die »Argumentationsteilnehmer eine annähernde und für den Argumentationszweck hinreichende Erfüllung der genannten Bedingungen unterstellen, […] gleichviel ob und in welchem Maße diese Unterstellung im gegebenen Fall kontrafaktischen Charakter hat oder nicht«36 – sonst wäre das Unterfangen der Argumentation als solches sinnlos. Habermas deutet mit dem Verweis auf die kontrafaktische Qualität der kommunikativen Vorbedingungen deren normative Bedeutung an – denn hier zeichnet sich eine Spannung zwischen Sein und Sollen ab. Wie sich zeigen wird, spielt diese Spannung auch in der Geschichtstheorie von Habermas eine bedeutsame Rolle. Denn diese 32 Vgl. ebd., S. 91f. 33 Habermas, »Diskursethik«, S. 109f. 34 Das soll bedeuten, dass sie zwar ähnlich fundamentalen Anspruch haben, wie etwa die Kategorien Kants, anders als diese allerdings nicht auf dem Weg einer rein theoretischen, transzendentalen Deduktion gewonnen werden, sondern durch die Analyse von Sprechhandlungen. Diese Herleitungs- und Begründungsstrategie nennt Habermas auch formal- oder universalpragmatisch. Vgl. ebd., S. 90. 35 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 47f. Oder ausführlicher in J. Habermas: »Diskursethik«, S. 97ff. 36 Ebd., S. 102.
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führt aus, dass sich die Vorbedingungen des kommunikativen Handels immer reiner gesellschaftlich institutionalisieren – und daher ein Spannungsverhältnis zwischen dem historischen Möglichkeitsraum und der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsteht.37 Doch zurück zum Begriff des kommunikativen Handelns: Vom kommunikativen Handeln – dem »Originalmodus« des Sprachgebrauchs38 – grenzt Habermas unter Rekurs auf die Sprechakttheorie das teleologische Handeln ab.39 Dieses basiere nicht auf Verständigung, sondern auf Beeinflussung der*des Gegenübers, etwa durch Machtmittel oder Überredung. Verhandlungen mit dem Ziel eines Interessenausgleichs im Kompromiss zu erreichen, sind ein Beispiel hierfür, aber auch die mehr oder weniger klandestinen Versuche manipulativ Einstellungen und Handlungen von Menschen zu verändern. Strategisches und instrumentelles Handeln kennzeichnet also, dass es erfolgs- und nicht verständigungsorientiert verfährt.40 Handlungsmotivation wird hier nicht durch die Überzeugungskraft des Arguments intern hervorgebracht, sondern wird extern – sei es bewusst oder unbewusst – sanktioniert; entsprechend werden strategisches und instrumentelles Handeln nicht hinsichtlich der Wahrheit, Richtigkeit oder Wahrhaftigkeit beurteilt, sondern hinsichtlich ihrer empirischen Wirksamkeit;41 erkennbar ist, dass der Arbeitsbegriff der materialistischen Theorie vorwiegend instrumentelles Handeln umfasst. Allen Sprecher*innen sei es intuitiv möglich, zwischen erfolgs- und verständigungsorientierten Sprachhandlungen zu unterscheiden – neben der Konsensorientierung ist die Differenz zwischen teleologischem und kommunikativem Handeln – und damit zwischen Arbeit und Interaktion – eine bedeutende sprachtheoretisch eingeführte Voraussetzung für die Gesellschaftskritik von Habermas. 37 »Das normative Fundament sprachlicher Verständigung ist mithin beides: antizipiert, aber als antizipierte Grundlage auch wirksam.« (Habermas, Jürgen: »Wahrheitstheorien«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 127-183, hier S. 181). Habermas stellte ursprünglich außerdem die These auf, dass in der kommunikativen Situation ein »Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation« geschehe, »der zugleich Vorschein einer Lebensform ist« (ebd.) – später relativierte er aber die substanziellutopischen Anklänge. 38 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 388. 39 Vgl. ebd., S. 388f. 40 Vgl. ebd., S. 130f; Habermas, Jürgen: »Aspekte der Handlungsrationalität«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 441-472, hier S. 459f. 41 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 447.
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Die entscheidende Frage der handlungstheoretischen Fassung des Rationalitätsbegriffs ist es, wie Handlungen koordiniert werden – mittels Verständigung oder über äußere Anreize. Darin liegt die weiterführende Annahme, dass ein sprachlicher Konsens handlungsbindend ist, und dies intrinsisch qua der durch gute Gründe vermittelten Einsicht. Im kommunikativen Handeln geht die Handlungsverpflichtung damit aus der Rationalität des Einverständnisses hervor, sie ist also in gewissem Sinne vernunftvermittelt. 42 Klar zeigt sich die Handlungsbindung hinsichtlich normativer Aspekte: Einer Norm zuzustimmen heißt auch, sie im eigenen Handeln zu befolgen; nicht ganz so deutlich ist es bei Fragen der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit. Hier gilt das gleichsam schwächere und eher negative Konsistenzgebot, nach dem die Handlungen nicht den geäußerten Wahrheiten und subjektiven Überzeugungen, Wertungen und dergleichen zu widersprechen haben.43 Die handlungstheoretische Fassung der Kommunikation in Habermas’ Theorie ist von entscheidender Bedeutung; sie erlaubt es ihm, über sprachliche schließlich auch soziale Interaktion einzuholen und ausgehend hiervon eine Theorie der Gesellschaft zu konstruieren, in der die Typen der Handlungskoordinierung eine konstitutive Rolle spielen. Teleologisches und kommunikatives Handeln als Gesellschaftstheorie: System und Lebenswelt Die Differenzierung von erfolgs- und verständigungsorientiertem Handeln bildet nun den Grundstein für die Gesellschaftstheorie und -diagnose von Habermas. In modernen Gesellschaften haben sich dieser zufolge die beiden Handlungsmodi weitgehend entmischt und eigenständig in System und Lebenswelt instituiert. In diesen Bereichen herrscht jeweils ein Handlungstyp vor. Während sich das System – Wirtschaft und Staat – vorwiegend erfolgsorientiert und instrumentell reproduziert, findet die Reproduktion der sozialen Lebenswelt im Medium des kommunikativen Handelns statt. Habermas knüpft mit dem Systembegriff erkennbar an Webers Rationalisierungsthese an, die sich bekanntlich auf die Institutionalisierung zweckrationalen Handelns in staatlichen und wirtschaftlichen
42 Vgl. Habermas, Jürgen: »Was heißt Universalpragmatik?«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 353-440, hier S. 433. 43 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 407f; Habermas, Jürgen: »Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 571-606, hier S. 597.
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Bürokratien bezog. Auch wenn Habermas der These zustimmt, dass in der Moderne die Institutionen, die erfolgsorientiert operieren, dominant geworden sind und daher tatsächlich verdinglichende Effekte festzustellen sind, zieht er weniger radikale Schlüsse aus der Weber’schen Theorie als Marcuse, Horkheimer und Adorno. Gesellschaftliche Integration geschehe auch in modernen Gesellschaft nicht allein zweckrational mittels teleologischem Handeln. Sie geschehe immer noch vorwiegend verständigungsorientiert in der Lebenswelt, auch wenn die Tendenz zu beobachten sei, dass Menschen füreinander, aber auch für staatliche und wirtschaftliche Bürokratien, mehr und mehr zu Mitteln zum Zwecke partikularer Selbsterhaltung werden. Diese Verdinglichung ist aber, so die Pathologiediagnose, eine Interferenz teleologischen Handelns in kommunikative Bereiche der Gesellschaft, das heißt eine Gleichgewichtsstörung in der Institutionalisierung der Handlungsmodi, nicht aber eine Störung der Rationalität selbst. 44 Lebenswelt: Sozialintegration durch Verständigung In der Lebenswelt findet Habermas zufolge die soziale und kulturelle Reproduktion der Gesellschaft sowie die kulturelle und soziale Integration der Gesellschaftsmitglieder, also ihre Sozialisation, statt – dies alles über das Medium des kommunikativen Handelns.45 Habermas expliziert dies vor allem mit Bezug auf die soziale Handlungsfähigkeit von Subjekten: Lebenswelt stellt den Hintergrund des kommunikativen Handelns, wie auch die konkreten Inhalte und Deutungen, mit denen Subjekte eine Handlungssituation bewältigen. Wie schon der Begriff anzeigt, nähert sich Habermas der sozialen Interaktion somit vorwiegend über phänomenologische und hermeneutische Theorieansätze. 46 Schon einfache Sprachinteraktionen sind diesen zufolge nicht ohne ein Hintergrundwissen vorstellbar; in einem Gespräch machen die Teilnehmenden vielfältige Vorannahmen, bei denen sie davon ausgehen, dass der*die Partner*in diese ebenfalls teilen.47 Zwar handele es sich dabei stets um Unterstellungen, aber dass es nicht bloße Unterstellungen sind, verdankt sich der Lebenswelt. Diese stelle die ge44 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 532f. 45 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 212f. 46 Der Begriff der Lebenswelt verweist vor allem auf Edmund Husserl (vgl. Husserl, Edmund: »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie«, in: Walter Biemel (Hg.), Husserliana. Gesammelte Werke, Den Haag: Martinus Nijhoff 1954, S. 105ff) und Alfred Schütz (Vgl. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974). Deutlich ist aber auch der Einfluss Gadamers sowie Heideggers. 47 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 191.
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meinsamen und alltäglich gelebten Hintergrundüberzeugungen, auf deren Boden sich die Kommunizierenden treffen. In ihr vollziehe sich die kulturelle Überlieferung, mit der die Subjekte in die Lage gesetzt werden, Bestandteile der objektiven, subjektiven und sozialen Welt zu deuten und zu kommunizieren. Die Welt ist somit stets durch lebensweltliche Sinnstrukturen vorinterpretiert; daher ist die Lebenswelt von einer naiven Selbstverständlichkeit, die durch intersubjektive Deutungsprozesse stets erneuert wird. Sie sei mit einem Wort für Verständigung konstitutiv48 und aus diesem fundamentalen Charakter ergibt sich, dass sie nie als Ganze thematisiert werden oder aus ihr herausgetreten werden kann. Allenfalls könne ihre Selbstverständlichkeit als Ganze erschüttert werden – sie kann zerfallen.49 Die Lebenswelt reproduziert sich – wie bereits erwähnt – über das kommunikative Handeln und solange das gelingt, kann nicht von einem Zerfall gesprochen werden. Dabei stellt die kommunikative Handlung eine situative und punktuelle Aktualisierung lebensweltlichen Wissens dar. Die in der Handlungssituation möglicherweise problematisch gewordenen Selbstverständlichkeiten werden dann, wiederum mit Bezug auf den Fundus unproblematischer kultureller Überlieferungen, gemeinsam interpretiert und so bewältigt. Allerdings reicht das kulturelle Wissen allein zur Bewältigung nicht hin; zugleich ist die soziale Handlung auf basale Solidarität wie auch eine soziale Identität angewiesen. Zusammengefasst ergeben sich für das kommunikative Handeln daraus drei Aufgaben, von denen besonders die dritte – die Bildung von Identität – für die Frage nach den Ursachen und der Dynamik von sozialen Leiderfahrungen relevant ist: »Indem sich die Interaktionsteilnehmer miteinander über ihre Situation verständigen, stehen sie in einer kulturellen Überlieferung, die sie gleichzeitig benützen und erneuern; indem Interaktionsteilnehmer ihre Handlungen über die intersubjektive Anerkennung kritisierbarer Geltungsansprüche koordinieren, stützen sie sich auf Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und bekräftigen gleichzeitig deren Integration; indem die Heranwachsenden an Interaktionen mit kompetent handelnden Bezugspersonen teilnehmen, internalisieren sie die Wertorientierungen ihrer sozialen Gruppe und erwerben generalisierte Handlungsfähigkeiten. Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung der Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten.«50 48 Vgl. ebd., S. 192. 49 Vgl. ebd., S. 200. 50 Ebd., S. 208.
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Die Darstellung des Lebensweltkonzepts von Habermas ist im Vergleich zu anderen Theorieteilen verhältnismäßig nah an den Intentionen der Alltagshandelnden. Aber obwohl sich Habermas hierbei an der phänomenologischen Soziologie orientiert, was sich etwa auch in der Schilderung der Bauarbeiterszene niedergeschlagen hat,51 interessiert er sich weniger für die spezifischen Aspekte lebensweltlicher Sozialinteraktion und damit auch weniger für die Motive und Hintergründe konkret Handelnder. Ihm geht es eher darum, die konstitutive Bedeutung des Verständigungshandelns für die soziale Integration und Handlungsfähigkeit der sozialen Akteure aufzuzeigen. Das wird für seine Pathologiediagnose bedeutsam: Denn diese hebt auf eine systematische Störung der sozialen Integrationsfähigkeit der Lebenswelt ab – nicht aber, auf die sozialen Dynamiken der jeweiligen Leiderfahrungen. System: Materielle Reproduktion der Gesellschaft In der Auseinandersetzung mit Gadamer hat Habermas stets betont, dass – wiewohl er dessen grundsätzliches Argument anerkannte – sprachliche Überlieferung als Bezugspunkt für die Untersuchung von Gesellschaften nicht hinreiche. Hermeneutik allein könne schlicht die vielfältigen Machtbeziehungen, aber auch materielle Verhältnisse, die sich auch in der kommunikativen Praxis niederschlagen, nicht adäquat erfassen.52 Gesellschaft lasse sich nicht auf sprachliche Zusammenhänge reduzieren, was insbesondere für eine Analyse bedeutsam ist, die sich sensibel gegen die deformierenden Einflüsse von Herrschaft und System auf Sprache und soziale Praxis zeigen möchte. Habermas gibt dieser Intention später eine weniger herrschaftskritische Wendung, indem er, ausgehend von der Beschäftigung mit der Systemtheorie von Parsons und Luhmann, sie im Systembegriff aufhebt. Das System soll all die Prozesse abdecken, die für die materielle Reproduktion von Gesellschaften bedeutsam sind und steht damit neben der symbolisch strukturierten Lebenswelt. Habermas unterscheidet mit Weber zwischen zwei Subsystemen: Wirtschaft und Staat. Wirtschaft regelt über Märkte die Güterproduktion und den Warentausch, der Staat erfüllt hingegen eine gesellschaftliche Ordnungs- und Organisationsfunktion.53
51 Vgl. ebd., S. 185. 52 Vgl. dazu How, Alan: The Habermas-Gadamer debate and the nature of the social, Aldershot: Avebury 1995. 53 Vgl. J. Habermas: »Replik auf Einwände«, S. 564f.
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Beiden Bereichen ist gemeinsam, dass ihr Funktionieren nicht auf Verständigung angewiesen ist, sondern auf Wirksamkeit und Erfolg ausgerichtet ist. 54 Um diese Funktion erfüllen zu können, ist zwar auch sprachliche Interaktion notwendig, etwa zur Informationsübermittlung oder zur Aushandlung von Interessenausgleichen; aber Kommunikation ist hier nicht konstitutiv und wird überwiegend strategisch eingesetzt.55 Während die Lebenswelt sich nur mittels kommunikativem Handeln reproduzieren kann, lässt sich die systemische Reproduktion von Kommunikation ablösen, was es möglich macht, dass sich historisch die Steuerungsmedien Geld und Macht herausbilden, die die Sprache in der Koordination von Handlungen und Austauschprozessen substituieren.56 Das habe den evolutionären Vorteil, dass die Erhaltung der materiellen und institutionellen Ausstattung der Gesellschaft vom praktischen Diskurs – und das heißt auch von Normvermittlung – entlastet wird und so effizienter abläuft.57 Moderne Gesellschaften seien, variiert Habermas ein Argument von Luhmann, darauf angewiesen, dass sich die Systeme Wirtschaft und Staat von der Lebenswelt abkoppeln, um die mannigfaltigen Entscheidungsprobleme zu bewältigen und ihrer eigenen Komplexität Herr zu werden. Verdinglichung, so ließe sich auch sagen, ist in jenen Bereichen notwendig, um komplexe Gesellschaften am Leben zu halten. Die Trennung des Systems von der Lebenswelt ist jedoch nicht total, sondern wird durch eine Institutionalisierung systemischer Prozesse in der Lebenswelt vollzogen.58 Dies geschieht Habermas zufolge durch das moderne, positive Recht, das sowohl die staatliche Organisation als auch den privatwirtschaftlichen Verkehr regelt.59 Und das Recht ist nun auch eine der wesentlichen Einfallstore für die verdinglichenden Auswirkungen des Systems auf die Lebenswelt.
54 Vgl. J. Habermas: »Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns«, S. 577. 55 Vgl. ebd., S. 579. 56 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 273. 57 Vgl. ebd., S. 272. Hinsichtlich des Geldmediums vgl. auch ebd., S. 391f. 58 Vgl. ebd., S. 230. 59 Vgl. ebd.
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Die Pathologiediagnose: Erosion der Verständigungsbasis der Lebenswelt Habermas ist in der analytischen Trennung von teleologischem und kommunikativem Handeln erstaunlich rigoros. Er verfolgt sie bis in die Strukturen moderner Gesellschaften hinein und richtet auch die Rationalisierungstheorie stringent an jener aus. Damit ist die Scheidung der Handlungsmodi auch für seine Diagnose gesellschaftlicher Pathologien von grundlegender Bedeutung: Sowohl auf gesellschaftlicher, als auch auf individueller Ebene handelt es sich hier um ein Eindringen von teleologischem Handeln in Bereiche, die nur kommunikativ erhalten werden können. Habermas spricht hier auch von Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System60 und meint damit, »daß die Rationalisierung der Lebenswelt eine Art der Systemintegration ermöglicht, die mit dem Integrationsprinzip der Verständigung in Konkurrenz tritt und unter bestimmten Bedingungen ihrerseits auf die Lebenswelt desintegrierend zurückwirkt.«61 Dieser These nach unterhöhlen die in der kapitalistischen Moderne dominant gewordenen Systemfunktionen die normvermittelte und verständigungsorientierte Reproduktion der Lebenswelt, indem sie diese auf normfreie, durch die Medien Geld oder Macht vermittelte Austauschprozesse umstellen. Da die soziale Integration der Lebenswelt trotz der Rationalisierungs- und Differenzierungsprozesse aber um eine normative Verständigungspraxis zentriert bleibt, bedrohen die Kolonialisierungstendenzen kulturelle Überlieferung, gesellschaftliche Solidarität sowie personale Identität und rufen auf diesen Ebenen jeweils pathologische Folgeerscheinungen hervor.62 Begleitet und verstärkt werde die verdinglichende Kolonialisierung durch eine weitere Tendenz moderner Gesellschaften: nämlich durch die Verarmung der kulturellen Integrationskraft. Im Zuge der Differenzierung der Kultur- und Wissensbereiche und ihrer arbeitsteiligen, spezialisierten Reproduktion werden traditionale, aber auch ideologische Deutungsmuster entwertet, ohne dass der Verlust dieser holistischen Weltdeutungen kompensiert werden konnte. 63 Die nachlassende kulturelle Integrationskraft beklagt schon Horkheimer mit der These des
60 Vgl. ebd., S. 522. 61 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 459. 62 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 215. 63 Vgl. ebd., S. 520f; Zwar bieten Massenmedien die Möglichkeit einer vitaleren politischen und kulturellen Öffentlichkeit, so revidiert Habermas seine früheren, pessimistischeren Einschätzungen, aber er bleibt weiterhin ambivalent. Vgl. ebd., S. 573.
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Zerfalls der objektiven Vernunft.64 Habermas beschreibt analog dazu die Entstehung verselbstständigter Expertenkulturen und Lebensstile, die zwar nicht schlechthin inkommensurabel sind, da sie alle nach den Grundsätzen des kommunikativen Handelns operieren. Sie können aber in der Alltagspraxis nicht mehr substanziell synthetisiert werden. Es bilde sich ein fragmentiertes Bewusstsein,65 das wiederum die lebensweltliche Widerstandskraft gegen Kolonialisierungstendenzen schwächt. Die Wendung, die Habermas der Verdinglichungsthese in der Theorie des kommunikativen Handelns gibt, lässt die Radikalität der Zeitdiagnosen von Marcuse, Horkheimer und Adorno vermissen; auch umfasst sie kaum noch herrschafts- oder machtkritische Elemente. Die Abschwächung des Kritikanspruchs führt allerdings nicht dazu, dass die alltäglichen Formen des Leidens an Gesellschaft stichhaltiger beschrieben werden können. Zwar erweckt Habermas den Eindruck, durch die Verschaltung von Handlungs- und Systemtheorie einen erschöpfenden Theorierahmen zu Verfügung zu haben, der alle Ebenen sozialer und gesellschaftlicher Prozesse berücksichtigt.66 Aber es bleibt unklar, wie sich die Erscheinungen des Sinnverlusts – der Fragmentierung des Bewusstseins – und des Freiheitsverlusts – der verdinglichenden Kolonialisierung der Lebenswelt – konkret im Bewusstsein und Handeln der Menschen auswirken. Habermas’ Diagnose zielt daher eher auf ungleiche Entwicklungen auf der Ebene gesellschaftlicher Subsysteme, als auf eine Klärung der pathologischen Folgen für die Menschen selbst. Daher bleibt es auch fraglich, ob die Theorie des kommunikativen Handelns tatsächlich einen geeigneten theoretischen Rahmen für konkretere Untersuchungen von Alltagspathologien abgeben kann, wie Habermas behauptet.67 Nichtsdestoweniger gibt Habermas mehrere Beispiele und Andeutungen, auf welche Weise sich die pathologischen Verformungen lebensweltlicher Sozialinteraktion abspielen können; er behält in diesen aber stets die Makroperspektive bei. So zeigt er etwa die verdinglichenden Auswirkungen sozialstaatlicher Politik, durch die das Recht als Steuerungsmedium in Bereiche der Sozialintegration – etwa Schule und Familie – eindringe. Nicht mehr die Verelendung des Proletariats oder die technologische Verdinglichung der Lebenspraxis sei der Ursprung für mehr oder weniger subtiles Leiden der Menschen, sondern die spezifische Weise, mit der der Sozialstaat die kapitalistischen Krisentendenzen entschärfe
64 Vgl. M. Horkheimer: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«. 65 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 521. 66 Vgl. ebd., S. 554. 67 Vgl. ebd., S. 583.
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und auf lebensweltliche Bereiche abwälze.68 Wohlfahrtsstaatliche Bürokratien dringen so, um einerseits ihre Kontrollfunktion und anderseits die Aufgabe der Umverteilung zu erfüllen, unmittelbar in soziale Lebensweltbereiche ein und fördern die Verrechtlichung und Monetarisierung von Sozialbeziehungen. Sozialstaatlicher Politik wohnt damit das Paradox inne, dass sie die Integrität der Lebenswelt schützen möchte, indem sie sie in Abhängigkeit von monetären und administrativen Leistungen bringt und damit weiter untergräbt.69 Analoge Beispiele bringt Habermas hier neben dem Sozialrecht vor allem für die Bereiche des Schul- und Familienrechts.70 Die Gesellschaftskritik des späten Habermas fällt so vergleichsweise spezifisch und zurückhaltend aus. »Es geht darum, Lebensbereiche, die funktional notwendig auf eine soziale Integration über Werte, Normen und Verständigungsprozesse angewiesen sind, davor zu bewahren, den Systemimperativen der eigendynamisch wachsenden Subsysteme Wirtschaft und Verwaltung zu verfallen und über das Steuerungsmedium Recht auf ein Prinzip der Vergesellschaftung umgestellt zu werden, das für sie dysfunktional ist.«71
Habermas scheint hier ein Gesellschaftsmodell im Hinterkopf zu haben, in dem die Lebenswelt nicht nach den Erfordernissen wirtschaftlicher und staatlicher Krisenvermeidung reguliert wird, sondern in dem die Lebenswelt regulierend auf die Teilbereiche Wirtschaft und Staat einwirkt. Bevor auf diesen Punkt zurückgekommen wird, sollen noch einmal die individuellen Folgeerscheinungen der Kolonialisierung betrachtet werden, die Habermas trotz der Konzentration auf makrosoziale und gesellschaftliche Prozesse erwähnt – und erwähnen muss, wenn die kritische Gesellschaftstheorie eine Bindung zu den normativen Intentionen der Alltagshandelnden haben soll. Verdinglichung oder psychischer Konflikt? Ungereimtheiten in der Erklärung psychischer Leiderfahrungen Die Intervention monetärer und rechtlich-administrativer Steuerung in Sozialintegration störe nicht nur die kulturelle und soziale Reproduktion; auch die dritte Komponente der Lebenswelt, die Persönlichkeits- und Identitätsbildung, werde
68 Vgl. ebd., S. 515. 69 Vgl. ebd., S. 531. 70 Vgl. ebd., S. 540ff. 71 Ebd., S. 547.
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beeinträchtigt, da auch sie in der Sozialisation kommunikativ hergestellt wird.72 Dieser Punkt ist für eine Gesellschaftstheorie und -diagnose von Bedeutung, da ihre Überzeugungskraft als Kritik auch davon abhängt, ob die pathologischen Phänomene von den Subjekten als solche erfahren werden – auch wenn die Erfahrung nicht bewusst mit gesellschaftlichen Ursachen verbunden wird. Habermas lässt daher keinen Zweifel daran, dass die diagnostizierte Pathologie auch für die Menschen selbst belastende Folgen hat: »Die Verformungen einer reglementierten, zergliederten, kontrollierten und betreuten Lebenswelt sind gewiß sublimer als die handgreiflichen Formen von materieller Ausbeutung und Verelendung; aber die aufs Psychische und Körperliche abgewälzten und verinnerlichten sozialen Konflikte sind darum nicht weniger destruktiv.«73 Allerdings widmet er individuellen Beschädigungs- oder Leidenserfahrungen keine systematische Erörterung und weist lediglich en passant auf mögliche problematische Auswirkungen hin. Diesen Hinweisen ist zu entnehmen, dass individuelle Störungen als Einschränkungen der kommunikativen Handlungsfähigkeit zu verstehen sind: »Interaktive Fähigkeiten und Stile der Lebensführung bemessen sich an der Zurechnungsfähigkeit der Personen. Das zeigt sich bei Störungen des Sozialisationsvorgangs, die sich in Psychopathologien und entsprechenden Entfremdungserscheinungen manifestieren. In diesen Fällen reichen die Fähigkeiten der Aktoren nicht aus, die Intersubjektivität gemeinsam definierter Handlungssituationen aufrechtzuerhalten. Das Persönlichkeitssystem kann seine Identität nur noch mit Hilfe von Abwehrstrategien wahren, die eine realitätsgerechte Teilnahme an Interaktionen beeinträchtigen«.74
Habermas legt damit nahe, dass sich infolge der Kolonialisierung der instrumentelle Weltbezug, der dem teleologischen Handeln eigen ist und der die Systemintegration kennzeichnet, auf die Ebene der Persönlichkeit verschiebt. Die Kolonialisierung der Lebenswelt störe so mittelbar auch die Fähigkeit, die eigenen Antriebe und die der Mitmenschen zu deuten und zu kommunizieren. Daraus können sich Verdinglichungserscheinungen in die soziale Interaktion einschleichen; das wäre etwa der Fall, wenn Personen ihr Selbstverhältnis und das zu anderen Menschen allein aus einer utilitaristischen Perspektive, die an Tausch- und 72 Für eine überblicksartige Darstellung der Lebensweltpathologien in Tabellenform vgl. ebd., S. 215. Zu Habermas Verständnis der Identitätsbildung vgl. auch Habermas, Jürgen: »Moralentwicklung und Ich-Identität«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 63-91. 73 J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 117. 74 Ebd., S. 213.
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Rechtsverhältnissen orientiert ist, interpretieren. Strategisches Handeln würde hier kommunikatives ersetzen und die auf Verständigung angewiesenen Aspekte des Selbst verkümmern – ein Prozess, der notwendigerweise mit Formen des Leidens einhergeht. In diesem Punkt ist Habermas trotz der abweichenden Herleitung nahe an Adorno, Marcuse und Lukács. Die pathologischen Folgeerscheinungen der Moderne werden als Verdinglichung des Selbst-, Sozial- und Weltverhältnisses beschrieben. Aber auch hier stellt sich die Frage, wie sich die anhand geschichtlicher und gesellschaftlicher Makrostrukturen diagnostizierten Fehlentwicklungen in das sozial vermittelte, individuelle Erleben übersetzen und ob sich hier gar eine psychodynamische Erklärung geben lässt. Es ist Habermas nicht vorzuwerfen, wenn er in seiner Rolle als Gesellschaftstheoretiker an diesem Punkt vage bleibt; allerdings verstricken sich schon die nur angedeuteten Erklärungen, die er gibt, in Widersprüche. Anders als seine Vorgänger rekurriert Habermas nicht mehr direkt auf Freud, um eine Erklärung der Leiderfahrungen zu geben, stattdessen nimmt er einen Umweg über Alfred Lorenzers Theorie der Sprachverzerrung. Darin wird die Entstehung der psychopathologischen Symptome als Entstellung von Sprachspielen beschreiben: Konflikthafte Vorstellungen werden aus der alltäglichen Sprache ausgeschlossen und so auf die Verhaltensebene verschoben. Sie können dadurch nicht mehr kommuniziert, sondern allenfalls ausagiert werden.75 Habermas legt nun nahe, dass dieser Wechsel der Ausdrucksebene mit einer Verwechslung von verständigungsorientiertem und instrumentellem Handeln zusammenfällt: »Solche Kommunikationspathologien lassen sich nämlich als Ergebnis einer Konfusion zwischen erfolgs- und verständigungsorientierten Handlungen begreifen. In Situationen verdeckt strategischen Handelns verhält sich mindestens einer der Beteiligten erfolgsorientiert, läßt aber andere in dem Glauben, daß alle die Voraussetzungen kommunikativen Handelns erfüllen. Das ist der Fall der Manipulation, den wir am Beispiel perlokutionärer Akte erwähnt haben. Demgegenüber führt jene Art von unbewußter Konfliktbewältigung, die die Psychoanalyse mit Hilfe von Abwehrstrategien erklärt, zu Kommunikationsstörungen gleichzeitig auf intrapsychischer und auf interpersoneller Ebene. In solchen Fällen täuscht mindestens einer der Beteiligten sich selbst darüber, daß er in erfolgsorientierter Einstellung handelt und bloß den Schein kommunikativen Handelns aufrecht erhält.«76
75 Vgl. Lorenzer, Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973. 76 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 445f.
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Zwar mag es zutreffen, dass sich Symptomhandlungen zum Teil – da ihre Bedeutung unbewusst ist – als strategisches Handeln und damit als Selbst- und Fremdverdinglichung beschreiben lassen. Aber Habermas geht hierüber hinaus, indem er diese Beschreibung einiger Aspekte von psychischen Symptomen aus der Perspektive seiner Theorie zugleich auch als Erklärung für ihre Entstehung anbietet. »Wenn wir die epochalen Wandlungen der familiären Sozialisation mit einer Rationalisierung der Lebenswelt in Zusammenhang bringen, muß die sozialisatorische Interaktion den Bezugspunkt für die Analyse der Ich-Entwicklung bilden – und die systematische verzerrte Kommunikation, also die Verdinglichung interpersonaler Beziehungen, den Ausgangspunkt für die Erforschung der Pathogenese.«77
Habermas differenziert hier also nicht ausreichend zwischen einer formal zu beschreibenden Verwechslung von kommunikativem und strategischem Handeln und einem inhaltlich zu erklärenden Konflikt zwischen unvereinbaren Wünschen, wie sie in der psychoanalytischen Theorie behandelt werden. Dadurch vernachlässigt er, dass psychische Konfliktsituationen empirisch durch die Inhalte der widerstrebenden Vorstellungen, Wünsche oder Erwartungen bestimmt sind78 und nicht allein durch die formale Struktur der intersubjektiven Beziehung – auch wenn diese einen Einfluss haben mag. Konflikthafte und idiosynkratische Sprachentstellung unterscheiden sich daher von systemisch induzierter Verdinglichung, da die psychische Symptombildung von subjektiven Motiven angetrieben wird; psychische Abwehr ist ein motivierter und gerichteter Prozess, auch wenn er weitgehend unbewusst abläuft. Dagegen fehlt das subjektive Abwehrmotiv bei Verdinglichungserscheinungen – es ist daher ohne weitere Ausführungen nicht ersichtlich, weswegen Habermas Entfremdungserfahrungen und psychische Symptome in einem Atemzug nennt und suggeriert, dass sich beide auf gleiche Weise durch einen inneren Konflikt auszeichnen. Grundsätzlich ist es zwar plausibel, dass pathologische Sozialstrukturen zu sozialen und psychischen Konflikten beitragen. Aber um den Zusammenhang zu erleuchten, müsste der Ansatz zwei Punkte systematisch ergänzen: Zum einen wäre es notwendig explizit nachzuvollziehen, wie sich sozialstrukturelle Fehlentwicklungen auf soziale Interaktion auswirken. Die von Habermas beschriebene Sozialpathologie benennt lediglich einige veränderte Bedingungen, unter denen sich Sozialisation und Sozialinteraktion vollziehen; wie jedoch der all77 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 570. 78 Vgl. überblickshaft zur klassischen Konfliktauffassung in der Psychoanalyse, vgl. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 256f.
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tagspraktische Umgang mit den problematischen Bedingungen ausfällt und woran dieser Umgang scheitert, bleibt weitgehend offen. Habermas identifiziert in der Kolonialisierungsthese schlicht verdinglichende Dynamiken auf der Ebene gesellschaftlicher Entwicklung mit Verdinglichungserscheinungen auf der Ebene der Sozialinteraktion und im Selbstverhältnis der Subjekte. Zum anderen müsste die Theorie in der Lage sein, die normative Bedeutung möglicher Konfliktkonstellationen zu registrieren. In anderen Worten heißt das, dass die Theorie offener für Fragen eines »guten Lebens« sein müsste. Schließlich bilden sich leidhafte Konflikte nicht zwischen formalen Handlungsmodi, sondern zwischen normativ bedeutsamen aber widerstrebenden Ansprüchen und Forderungen heraus. Habermas’ Theorie ist also einerseits zu makroperspektivisch und fasst daher die subjektive Interaktionsebene nicht ausreichend und andererseits ist sie zu formal, um die normativen Intentionen der Handelnden wahrzunehmen. In Erkenntnis und Interesse lässt Habermas noch materielle, inhaltliche Konflikte als Ursache von Sprachverzerrung und psychischen Konflikten zu – in anderen Worten: Herrschaftsinteressen.79 Aber schon in den nicht zu Ende geführten Überlegungen zur Kommunikationspathologie versucht Habermas psychische Störungen allein mit einer Verwechslung instrumentellen und kommunikativen Handelns in der familiären Interaktion zu beschreiben. 80 Obwohl Habermas an dieser Stelle scheitert den Zusammenhang zu plausibilisieren und das Manuskript unvollendet blieb, setzt er diesen Weg in der Theorie des kommunikativen Handelns fort. Habermas übersah dabei offenbar, dass ohne eine inhaltliche Ebene die Interpretation von Sprachverzerrung als psychischer Konflikt nicht mehr plausibel zu machen ist. Allerdings gehen die deskriptiven und explanativen Schwächen in dem Bezug auf psychisches Leiden nicht erst auf den formalen Charakter der Theorie zurück. Sie ergeben sich schon aus der geschichtstheoretisch gefassten Diagnose gesellschaftlicher Pathologien, die der Beschreibung der Eigendynamik psychischer und sozialer Konfliktkonstellationen geringe Bedeutung zumisst und streng genommen dafür auch keinen Platz lässt. Zunächst bleibt aber zusammenfassend festzuhalten, dass die Kolonialisierung der Lebenswelt laut Habermas ein pathologisches Syndrom hervorbringt, das die Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder und damit der Lebensweltreproduktion systematisch auf allen Ebenen einschränkt. Die Alltagsverständi79 Vgl. J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 333f. Habermas ist hier noch erstaunlich nah an Marcuses Konzept der zusätzlichen Unterdrückung, versucht dieses aber mit einer sprachtheoretischen Emanzipationstheorie einzuholen. 80 Habermas, Jürgen: »Überlegungen zur Kommunikationspathologie«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 226-269.
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gung ist so nur zum Schein gewahrt, tatsächlich ist sie aber durch systemische und potenziell zerstörerische Konflikte gezeichnet.
4.2 DIE THEORIE DER RATIONALISIERUNG: EINE SÄKULARISIERTE GESCHICHTSPHILOSOPHIE Ausgehend von dem sprachtheoretischen Vernunftbegriff formulierte Habermas über eine entsprechend erweitere Handlungstheorie eine eigene Zeitdiagnose: Die prävalenten sozialen Pathologien sind als Störungen von lebensweltlichen Verständigungshandlungen zu verstehen. Schon der Status als Zeitdiagnose setzt einen geschichtlichen Horizont voraus, in dem sich die problematisierten Tendenzen verorten lassen müssen. Das schließt eine Perspektive auf die Zukunft ein, in der sich der bisherige Verlauf der Moderne als korrigierbar und damit als kontingent erweisen kann. Aber darin ist auch eine Perspektive auf Vergangenes enthalten, die aufzeigt, was am historischen Modernisierungsprozess nicht bloß kontingent ist. Zwar möchte Habermas sich von den geschichtsphilosophischen Annahmen seiner Vorgänger am Institut verabschieden, ganz möchte er auf den systematischen Erklärungsansatz einer Geschichtstheorie aber nicht verzichten. Eingelöst werden soll jener Anspruch nun mit einer Theorie der sozialen Evolution, die an soziologischen Theorien der Modernisierung orientiert ist – insbesondere an der von Max Weber – und so die metaphysischen Vorannahmen einer hegelianischen Geschichtstheorie vermeiden soll. Zugleich kommt ihr aber eine ähnliche Aufgabe zu, denn mit ihr soll dargestellt werden, »wie die Entwicklung zum Spätkapitalismus objektiv die Bedingungen dafür erfüllt hat, daß wir erkennen können, daß in den Strukturen sprachlicher Verständigung Universalien stecken, die sogar die Maßstäbe für eine geschichtsphilosophisch nicht mehr zu begründende Kritik hergeben.«81 Nicht bloß kontingent sind damit also die kommunikativen Rationalitätspotenziale, die sich in der Moderne abzeichnen und in ihr gleichsam »praktisch wahr«82 geworden seien. Das gibt den normativen Grundannahmen der Kommunikationstheorie zusätzlich zur sprachtheoretischen Konstruktion noch einmal eine geschichtliche Rückendeckung. Denn da sich, wie gezeigt werden soll, gesellschaftlicher Fortschritt als »sukzessive Freisetzung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotenzials«83 verstehen lässt, ist nicht nur eine andere Moderne vorstellbar, sondern auch eine
81 J. Habermas: »Dialektik der Rationalisierung«, S. 174. 82 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 593. 83 Ebd., S. 232.
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ganz bestimmte: Nämlich eine, in der das Rationalitätspotenzial auch tatsächlich ungehindert gesellschaftlich institutionalisiert und damit verwirklicht ist. 84 Fortschrittstheorie ohne Geschichtsphilosophie? Piaget und die Theorie sozialer Evolution Habermas behauptet also, dass das volle normative Potenzial der menschlichen Lebensweise in der Moderne greifbar geworden ist, auch wenn sich das nur in gestörter Gestalt in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit nachvollziehen lasse. Allerdings möchte er seine Theorie nicht als Geschichtsphilosophie verstanden wissen. Die Rationalisierungstheorie unterscheide sich von einer Geschichtsphilosophie, da sie lediglich formale Entwicklungsstufen nachkonstruiere und so keine Annahmen über inhaltliche Aspekte der Entwicklung mache und auch keinen bestimmten Entwicklungsverlauf a priori vorzeichne. 85 Das versucht Habermas zu erreichen, indem er sich methodisch an der entwicklungspsychologisch fundierten Erkenntnistheorie von Piaget orientiert. 86 Diese geht davon aus,
84 Darin steckt eine gewisse utopische Perspektive, die der späte Habermas aber stets dementierte. Besonders in früheren Arbeiten ließ er sich aber hinreißen zu behaupten, dass in der kommunikativen Rationalität schon die Merkmale einer zukünftigen Lebensform angelegt seien (vgl. J. Habermas: »Wahrheitstheorien«, S. 181; Habermas, Jürgen: »Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 11-126, hier S. 126). Es bereitete ihm in den folgenden Jahren durchaus Mühe, den so entstandenen Eindruck zu korrigieren – die Mühe resultiert dabei aber nicht aus hartnäckigen Fehldeutungen seiner Theorie, die aus einem sprachlichen Lapsus resultieren, sondern aus dem paradoxen Unterfangen, normative Aspekte der Theorie allein rekonstruktiv begründen zu wollen. Selbst lediglich formale Normativitätskriterien verlassen den Boden einer Rekonstruktion, da sie ihren normativen Gehalt allein an der, wenn auch bloß impliziten, Kritik an konkreten Lebensformen entfalten und hiermit mittelbar einen Entwurf auf die Zukunft formulieren. Die Rekonstruktion ist damit immer zugleich eine Konstruktion einer besseren Zukunft. 85 Vgl. J. Habermas: »Replik auf Einwände«, S. 526. Vgl. auch Habermas, Jürgen: »Einleitung: Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 9-48, hier S. 14ff. 86 Vgl. Piaget, Jean: »Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde«, in: Gesammelte Werke. Studienausgabe, Stuttgart: Klett 1991.
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dass in der Entwicklung des Kindes verschiedene voneinander unterscheidbare kognitive Entwicklungsstufen durchlaufen werden, und zwar stets in der gleichen Reihenfolge. Entscheidend ist dabei, dass zwar bei jedem gesunden Menschen das Potenzial vorhanden ist, alle Stufen zu durchlaufen, aber es von äußeren Bedingungen abhängt, wie schnell das geschieht und auf welchen Wegen die Entwicklung vonstattengeht. Es ist also nicht möglich, den Endpunkt der kognitiven Entwicklung a priori vorauszusehen; die Stufen seiner Entwicklung lassen sich nur rückblickend nachvollziehen, das heißt: rekonstruieren. In diesem Sinne benutzt auch Habermas den Begriff der Rekonstruktion: In der nachträglichen Untersuchung der Zeitläufe sollen universelle formale Merkmale der geschichtlichen Entwicklung identifiziert werden. Habermas entlehnt aber nicht nur einige methodische Überlegungen der Theorie von Piaget. Mit Piaget betont er ebenfalls, dass die Entwicklungsstufen lediglich eine formale Struktur haben und damit unabhängig von konkreten Bewusstseins- und Denkinhalten sind.87 Die rekonstruierten Bedingungen haben zwar einen allgemeingültigen Status, aber da sie vorwiegend strukturelle Aspekte des Lernens benennen, fällt dieser eher schwach aus. Das folgt für Piaget aus der Tatsache, dass Lernen und Entwicklung stets interaktiv stattfindet – die materiellen oder inhaltlichen Aspekte hängen also von kontingenten und von Fall zu Fall teils erheblich variierenden Umweltbedingungen ab. Die kognitive Entwicklung wird somit nicht allein über Wissensinhalte bestimmt, sondern vorwiegend darüber, wie dieses Wissen und die Umweltinteraktion mental strukturiert werden. Auf jeder Entwicklungsstufe stellen sich dem Kind jeweils strukturelle Probleme, die es nur lösen kann, wenn es seine eigenen kognitiven Schemata auf einer höheren Stufe reorganisiert. Diese werden damit notwendig formaler. Es findet daher eine Entwicklung von konkretistischer Umweltinteraktion hin zu immer differenzierteren und abstrakteren Denkstrukturen statt. Das gelte auch für Gesellschaften: Sie ›lernen‹ indem inhaltliche Herausforderungen durch ein strukturell höheres Organisationsniveau bewältigt werden, so Habermas. 88 Die Rationalisierungstheorie, verstanden als soziale Evolutionstheorie, soll folglich lediglich formale Rationalitätsstrukturen umfassen89 – sie soll die Logik der Entwicklung darstellen und von den konkreten, inhaltlichen Ereignissen, die die Entwicklungsdynamik ausmachen, abstrahieren.90 Auf diese Weise möchte Habermas einerseits gegen relativistische Positionen zeigen, dass sich in der 87 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 104. 88 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 464. 89 Vgl. J. Habermas: »Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus«, S. 154f. 90 Vgl. J. Habermas: »Replik auf Einwände«, S. 502; J. Habermas: »Einleitung: Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen«, S. 14.
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Moderne universelle, normativ gehaltvolle Rationalitätsstrukturen durchgesetzt haben, die zweifelsfrei als Fortschritt zu verstehen sind. Andererseits möchte sich Habermas aber auf keine konkrete inhaltliche Bestimmung jener Strukturen, also auf einen substanziellen Vernunftbegriff – oder auf eine Vorstellung des guten Lebens – festlegen lassen. Mit diesem Drahtseilakt versucht Habermas an einer normativen Fortschrittstheorie festzuhalten, ohne aber in eine unhaltbare Geschichtsphilosophie abzugleiten. Dieser Akt gelingt ihm nicht immer. Denn im Unterschied zu Piagets Entwicklungstheorie geht es Habermas nicht nur darum, experimentell gewonnene Ergebnisse theoretisch zu erklären und zu systematisieren. Habermas nähert sich geschichtlichen Entwicklungsverläufen stattdessen mit einer normativen Absicht. Das sorgt dafür, dass Habermas nicht nur Entwicklungen rekonstruiert, sondern auch konstruiert. Habermas konzipiert, in anderen Worten, Geschichte als Prozess, in dem das normative Potenzial kommunikativen Handelns immer reiner hervortritt und lässt im Unterschied zu Piaget 91 seine Rationalisierungstheorie auf einen klar umrissenen Endpunkt zulaufen: »die Konstruktion jeder Stufenhierarchie erfordert einen normativ ausgezeichneten Endpunkt, von dem her der jeweilige Entwicklungsprozess rückblickend als Lernprozeß beschrieben werden kann.«92 Zwar konstruiert Habermas keine Uni91 Dieser Unterschied ergibt sich bereits durch die Anwendung von Piagets Konzept auf Geschichte. Zentral für die Entwicklung kognitiver Strukturen ist für Piaget nämlich ein Interaktionsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt, Kind und Außenwelt. Ausgehend hiervon beschreibt Piaget die Entwicklung formal als ein stufenweise kalibriertes Gleichgewicht zwischen Innen- und Außenwelt, von Assimilation und Akkomodation, wodurch sich abstraktere aber damit flexiblere kognitive Strukturen etablieren. Wenn es bei Piaget so etwas wie ein normatives Konstruktionsprinzip gibt, dann ist es also das Gleichgewicht des kognitiven Systems. Für die gesellschaftliche Entwicklung müssen hingegen Zusatzannahmen gemacht werden. Das schon allein deswegen, weil – will man nicht wie in Geschichtsphilosophien ein Kollektivsubjekt annehmen – zwischen Gesellschaft und Natur kein Subjekt-Objekt-Verhältnis besteht. Entwicklungsprozesse können nicht allein als ein Gleichgewicht von Gestaltung der und Anpassung an die Umwelt konzipiert werden, sie scheinen daher eher auf interne Ungleichgewichte zu reagieren. Daher bedarf es eines anderen Entwicklungsprinzips, mit dem die Richtung der internen Problemlösung umrissen werden kann. Und das ist das in der Sprache angelegte Rationalitätspotenzial. Das führt Habermas’ Rationalisierungstheorie in die Nähe von Reifungstheorien; es macht aber auch die utopischen Untertöne des Entwurfs aus, die Habermas jedoch stets relativiert hat. Vgl. J. Piaget: »Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde«, S. 14ff. 92 Habermas, Jürgen: »Gerechtigkeit und Solidarität. Eine Stellungnahme zur Diskussion über Stufe 6«, in: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler (Hg.), Zur Bestim-
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versalgeschichte mehr, auch sieht er von substanziellen normativen Bestimmungen ab, aber das Rationalisierungsmodell der Theorie des kommunikativen Handelns folgt weiterhin dem Motiv der Verwirklichung eines normativen Potenzials in der Geschichte. Das zeigt sich besonders dann, wenn Habermas die Darstellungen Webers dafür kritisiert, dass dieser nicht den in der Moderne aufscheinenden Möglichkeitsraum in seiner Rationalisierungstheorie beachtet habe. Aber es lässt sich auch daran nachvollziehen, dass die These kommunikativer Rationalisierung in ihren Grundzügen älter ist, als der Versuch, sie mit einer formalen Entwicklungstheorie auszudrücken. Bevor mit einem Rückblick auf Erkenntnis und Interesse gezeigt wird, dass die von Piaget beeinflusste Rationalisierungstheorie in der Theorie des kommunikativen Handelns lediglich eine nachträgliche ›Säkularisierung‹ der Grundintention ist, sollen zunächst noch einmal kurz die Grundzüge der Rationalisierungstheorie wie auch Habermas’ Kritik an Weber skizziert werden. Rationalisierung: Versprachlichung der Lebenswelt und Entsprachlichung des Systems Wie Piaget in der individuellen Entwicklung geht Habermas bei der geschichtlichen Entwicklung davon aus, dass Fortschritte durch ein höheres Maß an Differenzierung und Formalisierung der Rationalitätsstrukturen gekennzeichnet sind. Das ermögliche es systemische Probleme und Krisen evolutionär auf einem höheren Organisationsniveau zu lösen: »Ein evolutionärer Schub ist, dieser Theorie zufolge, durch Institutionen gekennzeichnet, die die Lösung der jeweils krisenerzeugenden Systemprobleme ermöglichen, und dies aufgrund von Eigenschaften, die sich auf die Verkörperung von Rationalitätsstrukturen zurückführen lassen.«93 Diese umständliche Formulierung besagt, dass etwa die feudal-religiöse Organisation des Staates und der Wirtschaft im Mittelalter lediglich eine begrenzte ökonomische Produktivität erlaubte und daher beispielsweise dem Wachstum der Bevölkerung, wie auch dem allgemeinen Niveau der Lebensführung enge Grenzen setzte. Dieses »Systemproblem« wurde dann in der Neuzeit sukzessive durch technische, wirtschaftliche und staatliche Neuerungen gelöst – das aber unter Rückgriff auf kulturelle Wissensbestände, die sich schon in der Feudalzeit herausgebildet haben.94
mung der Moral. Philosophische und sozialwissenschaftliche Beiträge zur Moralforschung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 291-318, hier S. 291. 93 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 464. 94 Vgl. ebd., S. 465.
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»Mit der institutionellen Verkörperung von Rationalitätsstrukturen, die sich schon in der Kultur der alten Gesellschaft herausgebildet hatten, entsteht ein neues Lernniveau. Institutionalisierung bedeutet hier nicht das Verbindlichmachen von kulturellen Mustern, von Orientierungsinhalten; vielmehr geht es darum, daß neue strukturelle Möglichkeiten für die Rationalisierung des Handelns eröffnet werden.«95
Wiewohl Rationalisierungsprozesse sowohl im System als auch in der Lebenswelt ablaufen, nimmt die lebensweltliche, kulturelle Rationalisierung damit eine gewisse Führungsposition ein. Durch die Rationalisierung der Lebenswelt bilden sich die Bewusstseinsstrukturen aus, die in einem zweiten Schritt eine rationalere Institutionalisierung der Systembereiche erlauben.96 Strukturelle Krisen fungieren dabei als Schrittmacher: Sie stimulieren die Umsetzung lebensweltlicher Rationalitätspotenziale in systemischen Fortschritt. Obwohl Habermas etwa mit Bezug auf die protestantische Ethik andeutet, wie die Umsetzung kultureller Rationalitätspotenziale in die soziale Alltagspraxis vorstellbar ist, skizziert er diesen Prozess lediglich in groben Zügen.97 Rationalisierung der Lebenswelt, so wird nichtsdestoweniger deutlich, sei mit Durkheim als eine »Versprachlichung des Sakralen«98 zu verstehen, durch die eine Differenzierung der Weltbezüge und Geltungsbereiche im kommunikativen Handeln ermöglicht wird. Das bedeutet eine »Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotenzials«,99 da die lebensweltliche Reproduktion sich so zunehmend von der Einklammerung in religiöse und mythische Kontexte löst und auf sprachliche Aushandlung umgestellt wird. 100 Diesen Prozess lässt Habermas nahe an einem Naturzustand, nämlich in gering differenzierten Stammesgesellschaften beginnen. In diesen spielen »sich alle Interaktionen, die in einer solchen Gesellschaft möglich sind, im Kontext einer 95
Ebd., S. 464.
96
Vgl. ebd., S. 258f. Damit weicht Habermas von der marxistischen These (und seiner eigenen Überzeugung in Erkenntnis und Interesse) ab, dass gesellschaftlicher Fortschritt durch die Organisation und das Leistungsniveau der Wirtschaft bestimmt ist. Mit diesem Schritt, der auch mit der Hinwendung zur Systemtheorie zusammenfällt, vollzieht Habermas eine deutliche Distanzierung von einer marxistisch geprägten Geschichtsphilosophie, die in seinen früheren Arbeiten spürbar war. Vgl. J. Habermas: »Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus«; R. Celikates/A. Pollmann: »Baustellen der Vernunft«.
97
Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 299ff.
98
Ebd., S. 118.
99
Ebd., S. 119.
100 Vgl. ebd., S. 218f.
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gemeinsam erlebten sozialen Welt«101 ab, die durch religiöse Mythen und rigide Riten zusammengehalten wird.102 Das mythisch religiöse Weltbild sei hier derart dominant, dass die Lebenswelt in Stammesgesellschaften gleichsam total und weitgehend homogen ist – sie umfasst und regelt auch noch die materielle Reproduktion: das System. Habermas konzipiert den Rationalisierungsprozess daher zunächst so, dass sich System und Lebenswelt, Sach- und Geltungsfragen, in der traditionalen Gesellschaft trennen. Aber aufgrund der in traditionalen Gesellschaften dominanten Glaubenspraxis kann diese Differenzierung nicht systematisch reflektiert werden, sie bleibt somit weitgehend unbewusst.103 Im vollen Sinne reflexiv wird das kommunikative Handeln daher erst in der Moderne. Geltungsfragen können hier nicht mehr über eine religiöse Weltdeutung abgesichert werden; die Legitimation von Normen und die Bestimmung von Wahrheit werden hier systematisch auf das kommunikative Handeln, den Diskurs, übertragen. Dafür müssen die im kommunikativen Handeln angelegten Geltungsbereiche – Wahrheit, normative Richtigkeit und Authentizität – und Weltbezüge – beobachtend, teilnehmend, expressiv – schließlich systematisch im Denken differenziert werden. Dadurch können auch Teilaspekte der kulturellen Überlieferung in spezialisierten Diskursen verhandelt werden: Wissenschaft, Recht und Kunst bearbeiten zunehmend getrennt voneinander jeweils Teilbereiche des menschlichen Weltverhältnisses.104 Naturwissenschaften geben etwa Auskunft über die objektive Welt, Fragen der sozialen Welt werden von den Sozialwissenschaften und spezialisierten normativen Diskursen beantwortet; außerdem entwickelt sich mit der autonomen Kunst ein eigenständiger ästhetischer Bereich. Damit vollzieht sich die Reproduktion der Bereiche der Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit nun auch zunehmend über kommunikative Aushandlungsprozesse. 105 Sozialintegration kann daher nicht mehr durch einen religiös abgesicherten Grundkonsens geleistet, sondern sie muss kommunikativ eingeholt werden.106 Infolge der Rationalisierung »verwandelt sich die religiöse Glaubensgemeinschaft, die gesellschaftliche Kooperation erst möglich macht, zu einer unter Kooperationszwängen stehenden Kommunikationsgemeinschaft.«107 Der Prozess der Versprachlichung bringt also auch eine Differenzierung des Denkens und der kulturellen Sphären mit sich, die Habermas mit Piaget als »De101 Ebd., S. 234. 102 Vgl. ebd., S. 86, S. 237f, S. 287ff. 103 Vgl. ebd., S. 289f. 104 Vgl. ebd., S. 326f. 105 Zusammenfassend vgl. ebd., S. 108f. 106 Ebd., S. 106. 107 Ebd., S. 139.
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zentrierung«108 von Weltbildern bezeichnet, da deren Geltung nicht mehr von religiöser Gruppenzugehörigkeit gestiftet wird, sondern sich an universellen Kriterien messen lassen muss. Damit geht eine Formalisierung der Geltung einher. Wahrheits-, Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsansprüche können in der modernen Kommunikationsgemeinschaft zunehmend auf der Basis formaler Verfahren, also prozedural und unter Absehung von inhaltlichen Vorannahmen, verhandelt werden.109 Das ist einerseits für die Entwicklung des Rechtssystems und damit für das Funktionieren der Systeminstitutionen entscheidend. Andererseits scheint in der Idee einer formalisierten und differenzierten Kommunikation die Vorstellung eines herrschaftsfreien Diskurses auf, der die zuvor religiös gestützte Sozialintegration ersetzt: »Soweit der sakrale Bereich für die Gesellschaft konstitutiv gewesen ist, treten freilich weder Wissenschaft noch Kunst das Erbe der Religion an; allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann in dieser Hinsicht die Autorität des Heiligen substituieren.«110 Gesellschaftlicher Fortschritt ist für Habermas allerdings nicht auf Kultur und Lebenswelt beschränkt, sondern vollzieht sich ebenso im System – das heißt: außerhalb der Verständigung. Vom Standpunkt der Systemrationalisierung erscheint Fortschritt damit gewissermaßen als Entsprachlichung der materiellen Reproduktion. Interessanterweise bilden in diesem Prozess die lebensweltlichen Bewusstseinsstrukturen – wie erwähnt – das kognitive Potenzial, das in strukturellen Krisensituationen mobilisiert werden kann, um dadurch eine höherstufige Verarbeitungskapazität der staatlichen Administration und der Produktion zu erreichen und so strukturelle Krise zu überwinden.111 Damit ist paradoxerweise auch die Weiterentwicklung der systemischen Integration – also der materiellen Reproduktion und der Administration – mittelbar von Fortschritten in der kommunikativen Rationalisierung abhängig. Bedeutsam ist in diesem Kontext vor allem die Formalisierung des Denkens und des Rechts, die es erlaube, selbstständig operierende, von Geltungsfragen befreite Systembereiche – also Verwaltungen – zu institutionalisieren. Die lebensweltliche Entbindung normativer Diskurse von religiösen Vorgaben ermöglicht die Entwicklung eines formalisierten Rechts;112 dieses wiederum erlaubt es, die Handlungskoordinierung in den
108 Ebd., S. 106. 109 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 218f. Für ein Schema dieser Entwicklung, vgl. ebd., S. 287–293. 110 Ebd., S. 140. 111 Vgl. ebd., S. 464. 112 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 350.
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systemischen Bereichen der Gesellschaft auf entsprachlichte Kommunikationsmedien – Geld und Macht – zu übertragen.113 Das selektive Muster westlicher Rationalisierung oder: Das hintergründige Verwirklichungsmotiv Die pathologische Ausweitung staatlicher und wirtschaftlicher Bürokratien, die Habermas mit der Diagnose einer Kolonialisierung ausspricht, ist damit paradoxerweise erst durch die kommunikative Rationalisierung losgetreten worden. Die Entwicklung, die es einerseits prinzipiell ermöglicht, kulturelle und soziale Reproduktion auf der Basis eines herrschaftsfreien Diskurses zu vollziehen, treibt damit andererseits auch eine Entwicklung voran, die gerade verhindert, dass jenes Potenzial tatsächlich ausgeschöpft wird. Aber die Bedrohung des verständigungsorientierten Handelns in der Lebenswelt ist für Habermas keine rückwärtige Entwicklung oder Regression, sondern hat eher den Status einer Störung. Hinter der verdinglichenden Kolonialisierung bleibe stets ein geschichtliches Potenzial kommunikativer Rationalität lebendig. Wenn Habermas also einen Entwicklungsverlauf von seinem vorläufigen Ende her denkt und die Stufen auf dem Weg dahin rekonstruiert, so drängt sich an dieser Stelle der Gedanke auf, dass nicht die vorgefundene Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Ausgangspunkt der Rekonstruktion ist, sondern jenes normative, und bisher weitgehend unausgeschöpft gebliebene, Rationalitätspotenzial. Tatsächlich gibt Habermas an, dass ihm »die Konstruktion des unbegrenzten und unverzerrten Diskurses«114 als ein methodisches Instrument dient, um die historische Verflüssigung lebensweltlicher Zusammenhänge sichtbar zu machen. Der eigentliche Ansatzpunkt der entwicklungslogischen Rekonstruktion ist so eine diskursethische Idee kommunikativer Selbststeuerung, die den Möglichkeitsraum der Moderne umschreibt. Die Rationalisierungstheorie versucht damit also nicht nur zu zeigen, welche Entwicklungsstufen zum bisherigen Status Quo führen. Sie zeigt auch, dass das volle normative Potenzial noch nicht ausgeschöpft werden konnte und lediglich gestört und deformiert zu Verwirklichung kam. Diese »kontrafaktische«, verwirklichungstheoretische Figur zeigt sich besonders an dem Einwand, den Habermas gegen Webers Rationalisierungstheorie formuliert. Der Prozess der Verrechtlichung in Staat und Wirtschaft, den Habermas als Systemdifferenzierung abhandelt, wurde schließlich schon von Weber beschrie-
113 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 394. 114 Ebd., S. 163.
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ben, und Habermas folgt Weber auch in den wesentlichen Punkten.115 Doch habe Weber übersehen, dass hinter der Rechtsentwicklung und der durch sie ermöglichten Ausbreitung von staatlichen und wirtschaftlichen Bürokratien auch eine Rationalisierung der kommunikativen Grundlagen der menschlichen Lebensform stattgefunden habe. »Weber setzt also unmittelbar an den faktisch vorgefundenen Gestalten des okzidentalen Rationalismus an, ohne sie an den kontrafaktisch entworfenen Möglichkeiten einer rationalisierten Lebenswelt zu spiegeln.«116 Weber habe, so ließe sich die Kritik auch formulieren, Rationalisierung nicht als Verwirklichung des normativen Potenzials des kommunikativen Handelns begriffen, da er über keine kommunikationstheoretisch gestützte Diskursethik verfügte. Er habe das selektive Muster der westlichen Gesellschaftsentwicklung, in dem die systemischen Rationalisierungsimperative in Führung gehen, rekonstruiert, ohne es als selektives Muster zu durchschauen.117 Gegen Weber wirft Habermas daher mit Verweis auf seine Theorie weiter ein: »Gesellschaftliche Rationalisierung bedeutet dann nicht die Diffusion zweckrationalen Handelns und die Transformation von Bereichen kommunikativen Handelns in Subsysteme zweckrationalen Handelns. Den Bezugspunkt bildet vielmehr das Rationalitätspotential, das in der Geltungsbasis der Rede angelegt ist. Dieses ist niemals völlig stillgestellt; es kann aber auf verschiedenen Niveaus, die vom Grad der Rationalisierung des Weltbildwissens abhängen, aktiviert werden.«118
Die Rationalisierungstheorie erlaube es nun, auf das Niveau des »im modernen Weltverständnis eröffneten Möglichkeitshorizonts«119 zu schließen. Dieser Möglichkeitshorizont verleiht der Kritik an der Kolonialisierung eine schwache utopische Dimension, da er auf die konkrete Utopie einer Gesellschaft verweist, in der die zur Verselbstständigung neigende Systemintegration durch die Zielbestimmungen der kommunikativen Lebenswelt eingehegt werde. Habermas ist hierbei nah an der Kritikstrategie von Marcuse, da er die faktisch vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit an historisch bestimmten Rationalitätskriterien misst, versucht aber die starken ontologischen Annahmen zu umgehen, indem er sie aus einer formalen Sprachtheorie entwickelt.
115 Für Habermas’ Kritik an Webers Rechtssoziologie, vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 362. 116 Ebd., S. 306. 117 Vgl. ebd., S. 458f. 118 Ebd., S. 455. 119 Ebd., S. 306.
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»Mein theoretischer Ansatz läßt sich, nicht anders als die Marxsche Theorie, von der Absicht leiten, ein in den Formen der gesellschaftlichen Reproduktion selbst eingekapseltes Potenzial der Vernunft zu reklamieren. Dieses Potenzial soll, philosophisch gesehen, ohne ontologische Rückendeckung, ohne Rückgriff auf Aristoteles, d. h. ohne Rückfall hinter Kant eingeklagt werden.«120
Auch wenn Habermas die formalen Aspekte seiner Konzeption hervorhebt und betont, dass damit kein inhaltlicher Vorentwurf eines guten Lebens behauptet wird, wird hier deutlich, dass die Gesellschaftskritik von Habermas weiterhin dem Muster einer Verwirklichungserzählung folgt. Die normative Basis seiner Gesellschaftskritik ist daher das unverwirklichte Projekt einer demokratischen Moderne, das, so zeigt seine Geschichtstheorie »praktisch wahr«121 geworden sei. Deutlich lässt sich das etwa auch an Habermas’ Kritik am Poststrukturalismus und Postmodernismus nachvollziehen.122 Habermas versucht darin die historisch verfügbar gewordene Idee einer autonomen – das heißt durch Systemlogiken unbeeinträchtigten – Öffentlichkeit, die die Subsysteme Wirtschaft und Staat demokratisch moderiert, zu verteidigen.123 Pathologische Leiderfahrungen spricht Habermas in dem Kontext zwar immer wieder an, nicht zuletzt um aufzuzeigen, dass die theoretisch dargestellten Beeinträchtigungen auch spürbar sind, aber sie spielen keine Rolle für die Konstruktion der normativen Grundlagen der Theorie. Auch wenn Habermas die unterschiedlichen Stränge seiner theoretischen Begründung möglichst »ohne ontologische Rückendeckung«124 ausarbeitet, laufen sie so zusammen, dass sie das Bild einer zivilgesellschaftlichen Öffentlich-
120 J. Habermas: »Replik auf Einwände«, S. 479. 121 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 593. 122 So sagt er etwa In einem Interview über das treibende Motiv der Theorie des kommunikativen Handelns: »Das eigentliche Motiv, das ich 1977 hatte, als ich anfing, das Buch zu schreiben, war, mir selbst darüber klar zu werden, wie man die Kritik der Verdinglichung, die Kritik der Rationalisierung so umformulieren kann, daß man einerseits theoretische Erklärungen anbietet für das Brüchigwerden des sozialstaatlichen Kompromisses und für die wachstumskritischen Potenziale der neuen Bewegungen, ohne doch andererseits das Projekt der Moderne preiszugeben, ohne Rückfall ins Post- oder Antimoderne, ohne neukonservativ ›stramm‹ oder jungkonservativ ›wild‹ zu werden.« (J. Habermas: »Dialektik der Rationalisierung«, S. 184); vgl. auch J. Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«. 123 Vgl. auch J. Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 422. 124 J. Habermas: »Diskursethik«, S. 70f.
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keit umreißen. Diese, von Hannah Arendt125 inspirierte Vorstellung, beschäftigte Habermas schon in seinen früheren Arbeiten. Hier finden sich nicht nur stärkere geschichtsphilosophische Annahmen. Auch lässt sich hier deutlicher nachvollziehen, dass der Bezug auf Psychoanalyse und psychisches Leiden vor dem Hintergrund der geschichtstheoretischen Ausarbeitung stattfindet. Bevor die Diskursethik betrachtet wird, in der Habermas die normativen Aspekte, die in der Rationalisierungsgeschichte hervortreten, bündelt, soll noch einmal eine vorherige Version des Entwicklungsgeschehens und einer hierauf aufbauenden Gesellschaftskritik zur Sprache kommen. Darin versuchte Habermas die Entwicklungspotenziale noch nicht über eine Rationalisierungstheorie zur rekonstruieren, sondern über eine psychoanalytisch inspirierte Reflexionsmethode einzuholen. Eine frühere Version: Kritik als Reflexion des historischen Möglichkeitshorizonts Im früheren Theorieentwurf, in Erkenntnis und Interesse, assoziiert Habermas die Methode kritischer Sozialwissenschaften direkt mit der Reflexion auf die Möglichkeiten einer vernünftigen Moderne. Gesellschaftsentwicklung wurde hier noch als ein Bildungsprozess begriffen, dessen systematische Einschränkungen durch eine kritische Sozialwissenschaft reflektiert werden sollten. Verzerrungen im Entwicklungsverlauf führte Habermas hier noch ideologiekritisch auf Störungen der Kommunikationsfähigkeit durch Herrschaft zurück. Die Psychoanalyse Lorenzers und Freuds sollte das methodische Vorbild für das Vorhaben abgeben; den normativen Bezugspunkt finde eine solche Kritik an dem Emanzipationsinteresse, das der Rationalität innewohne.126 Unbewusst sei dieses emanzipatorische Vernunftinteresse schon in den Natur- und Geisteswissenschaften verkörpert: »In beiden Dimensionen ist jede neue Stufe der Entwicklung durch eine Ablösung von Zwang charakterisiert: durch eine Emanzipation von äußerem Naturzwang in der einen, von Repression der eigenen Natur in der anderen Dimension.«127 Aus diesem als Emanzipationsgeschehen verstandenen Geschichtsverlauf ergibt sich eine idealtypische Entwicklung, der zufolge sich der technische Fortschritt auf »die Organisation der Gesellschaft selber als Automaten« zubewegt, der soziale Fortschritt hingegen auf »die Organisation der Gesellschaft auf der ausschließlichen Grundlage herrschaftlicher Diskussion«.128 125 Vgl. Arendt, Hannah: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich: Piper 1994, S. 27–75. 126 Vgl. J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 349f; vgl. dazu auch J. Habermas: »Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹«. 127 J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 76. 128 Ebd.
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Trotz dieser behaupteten Geschichtstendenz bleiben die normativen Grundannahmen in Erkenntnis und Interesse vergleichsweise vage. Diese Vagheit ergibt sich daraus, dass es Habermas zu diesem Zeitpunkt vorwiegend um eine methodologische Klärung einer kritischen Sozialwissenschaft ging. Die normative Basis der Kritik stand dabei – anders als in der Theorie des kommunikativen Handelns – nicht im Mittelpunkt des Interesses und verrät dadurch noch deutlicher die Vorbilder: nämlich eine, wie Habermas es nennt, durch die existentialistische Spielart der Kritischen Theorie129 beeinflusste Marxinterpretation. Damit ist Herbert Marcuse gemeint. So werde etwa die Freisetzung des vernünftigen Potenzials verständigungsorientierten Handelns hier noch – nah an Marcuse – durch Fortschritte in der technischen Naturbeherrschung ermöglicht. 130 Habermas geht hier davon aus, dass die Unterdrückung innerer Antriebe zunächst durch Naturzwang erfordert, dann aber durch Herrschaft perpetuiert werde; 131 anders als Marcuse lässt Habermas die Unterdrückung aber hier im Medium der Sprache, nämlich als Sprachverzerrung, geschehen.132 Auch die Annahme eines emanzipatorischen Vernunftinteresses stellt im Vergleich zum formalen Verständigungstelos eine stärkere sozialontologische Annahme dar. Trotz der deutlicheren geschichtsphilosophischen Hintergrundannahmen ist aber erkennbar, dass die wesentliche Grundintention, eine normativ gehaltvolle Rationalitätskonzeption an eine Kommunikationstheorie zu binden, schon in Erkenntnis und Interesse vorhanden ist. Der später von Habermas in Anspruch genommene Formalismus erweist sich im Rückblick als mit Piaget versuchte Entzauberung dieser geschichtstheoretischen Grundintention. Vor dem Hintergrund der noch substanzielleren Fassung von gesellschaftlichem Fortschritt lässt sich ebenfalls die Rolle der Psychoanalyse wie auch des in ihr erscheinenden Leidens klarer nachvollziehen. Psychoanalyse wird von Habermas in dieser Phase als eine allgemeine Theorie von Bildungsprozessen – das heißt als eine Vergesellschaftungstheorie – verstanden,133 die als Vorbild für eine geschichtliche Theorie von Bildungsprozessen fungiert. 134 Die sozialwissenschaftliche Kritik könne daher analog zur psychoanalytischen Therapie folgendermaßen vorgehen: Ausgehend von einer allgemeinen Entwicklungstheorie, 129 Vgl. Habermas, Jürgen: »Interview mit den New Left Review«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 213-256, hier S. 216. 130 Vgl. J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 343. 131 Vgl. ebd., S. 80. 132 Vgl. ebd., S. 341ff. 133 Vgl. ebd., S. 316. 134 Vgl. ebd., S. 351.
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die Habermas auch allgemeine Interpretation nennt, würden sich Lücken, Aussparungen und Deformationen in der öffentlichen und in Subjekten verankerten Kommunikation entdecken lassen.135 Eine kritische Praxis könne diese Störungen dann adressieren; durch ihre Beseitigung würde schließlich wie in der Therapie die aufgehaltene oder abgelenkte Entwicklung fortgesetzt werden. Kritik ist hier noch die Reflexion einer Geschichte, in der das Emanzipationspotenzial nur verzerrt zu Verwirklichung gekommen ist. Leiden, das für eine kritische Gesellschaftstheorie relevant ist, wird damit auf Abweichungen von einem idealtypischen Entwicklungsverlauf zurückgeführt und so einem geschichtstheoretischen Verwirklichungsmodell einverleibt. Diesem Entwicklungsverlauf steht ein Ideal der unverzerrten Kommunikation vor, das Habermas auch in der subjektiven Sozialisation als maßgeblich erachtet. Das zeige sich etwa in psychischen Konflikten: »In Übereinstimmung mit meiner kommunikationstheoretischen Deutung der psychoanalytischen Grundannahmen [in Erkenntnis und Interesse, F.S.] setze sich diese topologisch gefaßten Bedingungen bewußter Konfliktverarbeitung in Beziehung zu Normalitätsbedingungen sprachlicher Kommunikation: bewußte Konfliktverarbeitung bedeutet Konfliktverarbeitung unter Bedingungen unverzerrter Kommunikation. […] Der Ausdruck ›unverzerrter Kommunikation‹ fügt dem der sprachlichen Verständigung nichts hinzu, denn ›Verständigung‹ bedeutet das der sprachlichen Kommunikation innewohnende Telos.«136
Habermas wird sich von den utopischen Untertönen, die etwa dem Begriff einer »unverzerrten Kommunikation« innewohnen, später distanzieren und allein auf die formaleren und kognitivistischeren Entwicklungstheorien von Piaget und Kohlberg zurückgreifen, um Geschichte sowie Sozialisation als Bildungsprozesse zu beschreiben. Die später entwickelte Rationalisierungstheorie löst aber mit anderen theoretischen Mitteln das hier vorgestellte Modell einer allgemeinen Interpretation geschichtlicher Entwicklungsprozesse ein, vor dessen Hintergrund Pathologien wie etwa die Kolonialisierung der Lebenswelt oder ihre Fragmentierung sichtbar werden. Damit geht auch ein Wandel im Kritikmodell einher: Vom Reflexionsmodell wechselt Habermas später auf das Rekonstruktionsmodell der Kritik über. Statt Deformationen durch Herrschaft bezieht sich dieses nun auf den formalen Möglichkeitshorizont. Die Diskursethik stellt darin nun das Kon-
135 Vgl. ebd., S. 318. 136 J. Habermas: »Überlegungen zur Kommunikationspathologie«, S. 232.
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zept, mit dem Habermas den Gedanken der »unverzerrten Kommunikation« modifiziert.137
4.3 VERNUNFT IN DER KOMMUNIKATION: DIE DISKURSETHIK Mit der Diskursethik fasst Habermas die normativen Aspekte, die hintergründig in der Handlungs-, Gesellschafts- und Rationalisierungstheorie präsent sind, systematisch zusammen. Sie stellt das normative Regulativ von Habermas’ Gesellschaftskritik dar. Es zeigte sich bereits, dass Habermas diese aus der Struktur von argumentativen Sprachhandlungen gewinnt und mit der Rationalisierungstheorie außerdem begründet, dass die Idee der Diskursethik in gewissem Sinne in der Moderne greifbar geworden sei. Mit ihr löst Habermas die frühe Intention ein, Vernunft in kommunikativen Prozessen zu verorten. Und wenn Habermas von einem Möglichkeitshorizont spricht, so zielt er damit auf die Möglichkeiten zur öffentlichen Instituierung eben jener Ethik. Die Diskursethik versteht Habermas als eine kommunikationstheoretische Aktualisierung der formalen Ethik Kants, bei der die Universalitätsforderung des kategorischen Imperativs nicht mehr allein durch das denkende Subjekt, sondern durch einen praktischen Diskurs gesichert werden soll. Dabei ist die Universalitätsforderung bereits in den Strukturen des kommunikativen Handelns angelegt – Habermas expliziert mit der Diskursethik lediglich das normative Potenzial, dass er schon im Verständigungsbegriff vorausgesetzt hat. Kommunikatives Handeln wurde bereits als die verständigungsorientierte, argumentative Wahrheitssuche dargestellt, in der allein die rationale Einsicht in die Geltung einer Behauptung Handlungsmotivation entfaltet; das ist der berühmte »zwanglose Zwang«138 des besseren Arguments. Zentral für die Diskursethik ist damit der sogenannte »Prozessaspekt« der Argumentation: nämlich die Voraussetzung, dass die Argumentation keinen externen Beschränkungen unterliegt.139
137 Instruktiv ist etwa der Vergleich zur Geschichtstheorie, die sich aus Apels Ansatz ergibt. Vgl. Brunkhorst, Hauke: »Zur Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft«, in: Andreas Dorschel/Matthias Kettner/Wolfgang Kuhlmann et al. (Hg.), Transzendentalpragmatik. Ein Symposium für Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 342-358. 138 J. Habermas: »Wahrheitstheorien«, S. 161. 139 Vgl. J. Habermas: »Diskursethik«, S. 98f; J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 47f.
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Die volle Bedeutung des Punktes zeigt sich aber erst in der Betrachtung der prozeduralen Aspekte des kommunikativen Handelns – der kooperativen Wahrheitssuche – und der Rolle, die diese für die Wahrheitstheorie von Habermas spielen. Denn nach Habermas wird die rationale Geltung von Aussagen im argumentativ erzeugten Konsens nicht bloß festgestellt, sondern überhaupt erst konstituiert.140 Von diesem Punkt aus konstruiert Habermas eine »Konsensustheorie der Wahrheit«141, die eine Lösung für das Problem anbietet, dass Wahrheit von einem logischen Standpunkt aus nur für deduktive Ableitungen zweifelsfrei behauptet werden kann – diese explizieren aber lediglich implizite Vorannahmen und können keine neuen Erkenntnisse hervorbringen. Für alle anderen Fälle, in denen die Richtigkeit oder Wahrheit neuer Aussagen geprüft werden soll, existiert kein derart zwingendes Verfahren.142 Stattdessen müsse zur Prüfung auf ein diskursives Verfahren zurückgegriffen werden, so Habermas, das die normative oder konstative Geltung von Aussagen über einen rational motivierten Konsens herstellt.143 Als wahr gilt eine Aussage nur dann, wenn in der kommunikativen Aushandlung ein Konsens über sie hergestellt werden kann: »Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen. Jeder andere müßte sich überzeugen können, daß ich dem Gegenstand das besagte Prädikat berechtigterweise zuspreche, und müßte mir dann zustimmen können. Die Wahr-
140 Vgl. J. Habermas: »Wahrheitstheorien«, S. 134f. 141 Ebd., S. 136. Die Konsenstheorie der Wahrheit wird von Habermas später auch als »Diskurstheorie der Wahrheit« bezeichnet (J. Habermas: »Interview mit den New Left Review«, S. 227). Damit geht ein Wechsel im Begründungsanspruch einher. Liegt der Fokus der Konsenstheorie tatsächlich auf der Möglichkeit eines Konsenses und beinhaltet sie somit eine Idee der idealen Sprechsituation, verzichtet Habermas auf diesen starken Unbedingtheitsanspruch später mit der Betonung des Verfahrens, also des Diskurses. Entscheidend ist hier also nicht mehr der Bezug auf das Ideal einer zwanglosen Einigung, sondern die Teilnahme an einem Diskurs, der zwar an der Zwanglosigkeit orientiert ist, der aber dessen kontrafaktischem Charakter konzediert. Zur Differenz der Unbedingtheitsansprüche von Wahrheit in den beiden Konzeptionen von Habermas vgl. Bonacker, Thorsten: »Ungewißheit und Unbedingtheit. Zu den Möglichkeitsbedingungen des Normativen«, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit »Erkenntnis und Interesse«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 107-143; vgl. dazu auch K.-O. Apel: Transformation der Philosophie, S. 311-329. 142 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 46f. 143 Vgl. J. Habermas: »Wahrheitstheorien«, S. 160f.
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heit einer Proposition meint das Versprechen, einen vernünftigen Konsensus über das Gesagte zu erzielen.«144
Das »Versprechen eines vernünftigen Konsensus« lässt sich wiederum nur dann einlösen, wenn das prozedurale Verfahren der Konsensfindung prinzipiell keinen Einschränkungen unterliegt – hier kommt also der Prozessaspekt wieder ins Spiel. Dieser wird nun gleichsam radikalisiert: Damit eine Aussage als wahr bezeichnet werden kann, reicht es nicht hin, dass in einem bestimmten Diskurs Einverständnis darüber erzielt wurde. Denn die Wahrheit einer Aussage beinhaltet zugleich die Annahme, dass alle weiteren Diskurse, die geführt werden können, zu demselben Ergebnis kommen, wenn sie nur lang und offen genug geführt werden. Habermas hält hiermit – das ist von großer Bedeutung – also in abgeschwächter Form an der Universalisierbarkeit von Wahrheit und normativer Richtigkeit fest. Von einem wahrheitsstiftenden Konsens kann in diesem Sinne nur dann gesprochen werden, wenn der theoretische Diskurs selbst universelle Züge annimmt.145 Damit ist allerdings nicht zwangsläufig gemeint, dass alle denkbaren Teilnehmer und Teilnehmerinnen tatsächlich auch am Diskurs beteiligt sein müssen. Die Klärung von Wahrheitsfragen kann spezialisierten, theoretischen Diskursen überlassen werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die »potentielle Zustimmung«, also das »Versprechen«, dass sich die Geltung einer Aussage im Fall der Kritik rational rechtfertigen ließe. Das verhält sich allerdings bei ethischen und normativen Fragen anders. Hier tritt der Punkt, dass Aushandlungsprozesse keiner äußeren Einschränkung unterliegen dürfen, aufgrund einer Eigenheit der normativen Sphäre in den Vordergrund. Zunächst behandelt Habermas normative Richtigkeitsfragen analog zu Wahrheitsfragen: »Die Wahrheit von Sätzen bedeutet auf ähnliche Weise die Existenz von Sachverhalten wie die Richtigkeit von Handlungen die Erfüllung von Normen.«146 Der Geltungsanspruch der Wahrheit bezieht sich jedoch bloß auf die Existenz eines Sachverhalts, der den Subjekten selbst äußerlich ist; im theoretischen Diskurs nehmen die Subjekte daher nur eine beobachtende Perspektive ein. Im praktischen Diskurs werden hingegen Sachverhalte an Normen gemessen, die durch die soziale Ordnung gestützt und damit durch die Subjekte mitkonstituiert werden.147 Subjekte sind Teilnehmer an der Ordnung, die die Geltung von Normen verbürgt und können – und müssen sogar – diese ebenso 144 Ebd., S. 137. 145 Vgl. J. Habermas: »Diskursethik«, S. 98f; J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 49f. 146 J. Habermas: »Diskursethik«, S. 69. 147 Ebd., S. 70f.
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problematisieren. Das hat nun zwei Folgen: Damit eine Handlung als richtig bezeichnet werden kann, muss also einerseits auch die Norm, nach der sie beurteilt wird, in einem praktischen Diskurs als richtig verteidigt werden können.148 Da die Norm für alle Mitglieder der betreffenden Gruppe Verbindlichkeit besitzen soll, kann sie andererseits nur dann rationale Geltung beanspruchen, »wenn die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können«.149 Die Diskursethik weitet also den Grundsatz der prozeduralen Wahrheitsfindung auf die Normen und damit auf die durch sie regulierte Sozialordnung selbst aus; Habermas möchte hiermit an Kants kategorischen Imperativ anknüpfen und diesen kommunikationstheoretisch als diskursethisches Prinzip umformulieren, demzufolge »nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).«150 Die geltende soziale Ordnung muss, wenn ihre Normen auf rationaler Basis überzeugen sollen – so die gesellschaftskritische Schlussfolgerung aus der Diskursethik –, auf der Legitimation mittels des praktischen Diskurses beruhen, in dem sich die Normen als Ausdruck eines Allgemeininteresses nachweisen lassen. Kann für eine normative Ordnung nicht nachgewiesen werden, dass sich alle Betroffenen rational auf diese einigen könnten, sie also allen betroffenen Interessen Rechnung trägt, so muss davon ausgegangen werden, dass sie repressiv ist. In der Diskursethik scheint somit abermals das Bild einer deliberativen Öffentlichkeit auf; praktisch verfügbar geworden sei es in der Moderne aufgrund der kulturellen Differenzierung der Geltungsansprüche wie auch der Etablierung eines post-konventionellen Moralbewusstseins.151 Zwar gilt auch für den normativen Diskurs, dass nicht alle Mitglieder der Sozialordnung faktisch an diesem teilnehmen müssen; aber das Versprechen, dass Normen im Fall der Kritik rational gerechtfertigt werden können müssen, erhält hier einen besonderen Nachdruck. Aufgeklärte Gesellschaften müssen sicherstellen, dass die Teilnahme an Aushandlungsprozessen und die Möglichkeit zur Kritik allen Betroffenen offensteht. »Nach dieser Lesart ist die Klärung politischer Fragen, soweit es ihren moralischen Kern betrifft, auf die Einrichtung einer öffentlichen Argumentationspraxis angewiesen.«152 Und diese Forderung hat auch Verbind148 Vgl. ebd., S. 72. 149 Ebd., S. 103. 150 Ebd. 151 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 291f. 152 J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 39f; vgl. hierzu auch Cortina, Adela: »Diskursethik und partizipatorische Demokratie«, in: Andreas Dorschel/
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lichkeit für Gesellschaftskritik: »in einem Aufklärungsprozeß gibt es nur Beteiligte.«153 Seine späte Theorie bleibt damit der früh geäußerten Intention treu, dass die geschichtlich sich verwirklichende Vernunft in der Institution des öffentlichen Diskurses reflexiv werde und seine Gesellschaftskritik spricht gerade die vielfältigen Beschränkungen aus, die die Etablierung eines reflexiven Diskurses in modernen Gesellschaften behindern. Auch später variiert Habermas damit den Gedanken des geschichtsphilosophischeren Marcuse, dass eine Gesellschaft sich an ihren historischen gegebenen Möglichkeiten messen lassen müsse; eine kritische Gesellschaftstheorie könne sich etwa auch ohne substanzielle Annahmen »auf historisch überflüssige Repression und auf jene unausgeschöpften Rationalitätspotenziale beziehen, die sich am jeweiligen Stand der Produktivkräfte, am Niveau der Rechts- und Moralvorstellungen, am Grad der Individuierung usw. ablesen lassen.«154 Aber kann so auch gesagt werden, dass Menschen an den unausgeschöpft gebliebenen Rationalitätspotenzialen leiden?
4.4 LEIDEN AN DER DEFORMIERTEN VERWIRKLICHUNG DER KOMMUNIKATIVEN VERNUNFT? Habermas’ Werk liest sich als eine sukzessive Sublimierung der Grundintention, Vernunft in kommunikativen Prozessen zu suchen und gegen gesellschaftliche Störungen zu vindizieren.155 Über die verschiedenen Theoriestadien wird die Intention immer tiefer gelegt: Erscheint für Habermas die kommunikative Vernunft in Der Strukturwandel der Öffentlichkeit noch in der geschichtlich konkreten Gestalt der bürgerlichen Öffentlichkeit, liegt sie in Erkenntnis und Interesse hingegen im kommunikativen Weltbezug, und kann über kritische Reflexion re-
Matthias Kettner/Wolfgang Kuhlmann et al. (Hg.), Transzendentalpragmatik. Ein Symposium für Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 238-256. 153 Habermas, Jürgen: »Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln«, in: Jürgen Habermas (Hg.), Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 9-47, hier S. 45. 154 J. Habermas: »Interview mit den New Left Review«, S. 237. 155 Vgl. Dews, Peter: »Die Entsublimierung der Vernunft als Habermas’ Leitgedanke«, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit »Erkenntnis und Interesse«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 144-174.
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konstruiert und zu Bewusstsein gebracht werden. In der Theorie des kommunikativen Handelns schließlich legt Habermas den normativen Bezugspunkt der kommunikativen Vernunft noch tiefer, nämlich in die formalen Strukturen der Sprache selbst. Stück für Stück wird der normative Rahmen so von einer konkreten, inhaltlichen Lebenspraxis auf die formalen Vorbedingungen der Sprachinteraktion verschoben. Zwar schafft es Habermas bis zu einem gewissen Punkt, starke anthropologische und geschichtsphilosophische Annahmen zu umgehen, aber auch in der formalisierten Version bleibt die Geschichtstheorie im Wesentlichen eine Theorie der geschichtlichen Verwirklichung der Vernunft. Mit der Aussage von Habermas, dass ihn schon früh die »deformierende Verwirklichung der Vernunft in der Geschichte«156 beschäftigt habe, ist daher die Perspektive umrissen, aus der er auf soziale Pathologien und Leidensphänomene blickt und aus der er ebenso die Psychoanalyse rezipierte. Diese Habermas-Lesart, die vor allem auf die normative Verankerung der Gesellschaftskritik schaut, möchte nicht beanspruchen, eine erschöpfende Darstellung seiner umfangreichen theoretischen Arbeiten zu geben. Sie macht aber jene systematische Aufgabe deutlich, die der Psychoanalyse zukommt: Mit den gelegentlichen Verweisen auf Psychoanalyse versucht Habermas Störungen im Alltagshandeln – psychische Symptome, Leiderfahrungen, Entfremdungserscheinungen – als Folgen grundlegender Pathologien in der sprachlichen Verständigungsfähigkeit zu benennen, die auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen zurückgehen. Psychoanalyse fungiert in der Theorie von Habermas so als ein vergesellschaftungstheoretisches Verbindungsstück zwischen einer normativ gehaltvollen Gesellschaftstheorie und dem praktischen Erleben von Alltagshandelnden. Zeitweise betrachtete Habermas in Erkenntnis und Interesse die psychoanalytische Sprachtherapie sogar als methodologisches Paradigma für eine kritische Sozialwissenschaft; später reduzierte er den theoretischen Anspruch der Psychoanalyserezeption wieder auf die individualtherapeutische Ebene.157 Trotz der Differenzen im theoretischen Bezugsrahmen und im Erklärungsanspruch, die zwischen der Psychoanalyserezeption in Erkenntnis und Interesse und der Theorie des kommunikati156 J. Habermas: »Dialektik der Rationalisierung«, S. 171. 157 Vgl. J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 1, S. 43. Für eine ausführliche Rekonstruktion und Einordnung des Psychoanalysebezugs in Erkenntnis und Interesse vgl. auch Schülein, Johann A.: »Von der Kritik am ›szientistischen Selbstmißverständnis‹ zum Verständnis psychoanalytischer Theorieprobleme. Überlegungen zur Weiterentwicklung von Habermas’ Psychoanalyse-Interpretation«, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit »Erkenntnis und Interesse«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 376-407.
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ven Handelns herrschen, behielt Habermas aber die grundlegende Perspektive bei. Auch in der späteren Theorie des kommunikativen Handelns schreibt er daher noch: »Die Theorie des kommunikativen Handelns bietet einen Rahmen, in dem das Strukturmodell von Ich, Es und Über-Ich reformuliert werden kann. An die Stelle einer Triebtheorie, die das Verhältnis von Ich und innerer Natur in bewußtseinsphilosophischen Grundbegriffen nach dem Modell der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt vorstellt, tritt dann eine Sozialisationstheorie, die Freud mit Mead verbindet, die Strukturen der Intersubjektivität zu ihrem Recht bringt und Hypothesen über Triebschicksale durch Annahmen über Interaktionsgeschichte und Identitätsbildung ersetzt.«158
Auch wenn in der Theorie des kommunikativen Handelns Psychoanalyse kaum noch vorkommt, umreißt Habermas hier deutlich, dass er an ihr weiterhin vorwiegend als Sozialisations- oder Vergesellschaftungstheorie interessiert ist. Psychische Leiderfahrungen nimmt Habermas daher über eine Entwicklungstheorie in den Blick und konzipiert sie als Hemmungen und Blockaden in einem idealtypischen Entwicklungsverlauf. Wie lässt sich aber ein idealtypischer Entwicklungsverlauf bestimmen? Da Habermas angibt, dass »die systematisch verzerrte Kommunikation, also die Verdinglichung interpersonaler Beziehungen, den Ausgangspunkt für die Erforschung der Pathogenese«159 bilden, wird deutlich, dass eine normale Entwicklung an den Rahmen einer weitgehend unversehrten Lebensweltreproduktion, und das heißt: Kommunikation, gebunden ist. Sie hängt, in anderen Worten, daran, ob das historische Rationalisierungspotenzial, das sich mit der Moderne eröffnet habe, gegen die Verdinglichungstendenzen wieder zur Geltung gebracht wird. Psychoanalyse füllte eine theoretische Leerstelle: Ihre Erwähnung soll deutlich machen, dass die Pathologien der Moderne sich tatsächlich auch in Leiderfahrungen bemerkbar machen. Systematische Sprachverzerrung störe, so wird nahegelegt, nicht nur die Verwirklichung der historischen Möglichkeiten, sondern auch die subjektiven Glücksmöglichkeiten. Ab wann von einer sozialen Pathologie zu sprechen ist, bestimmt Habermas aber nicht mit Bezug auf die individuellen Folgeerscheinungen, sondern mit Überlegungen zu einem gesellschaftlichen Gleichgewichtszustand von System und Lebenswelt. Obwohl Habermas einen systemtheoretischen Sollzustand als Maßstab für gesellschaftliche Pathologien ablehnt,160 liegt der Diagnose so ein anderer Ideal- oder Sollzustand zugrunde. Der Sollzustand bemisst sich nicht 158 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns 2, S. 570f. 159 Ebd. 160 Vgl. ebd., S. 554.
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mehr, wie noch in den frühen Schriften anklingend, in einer möglichst umfassenden kommunikativen und deliberativen Ausgestaltung gesellschaftlicher Prozesse, sondern in einem politisch und gesellschaftlich moderierten Verhältnis von System und Lebenswelt, das entsprechend des gesellschaftlichen Rationalisierungsniveaus strukturiert ist. Hier taucht gelegentlich eine gewisse, wenn auch schwache Utopie auf, unter der die psychischen Folgeerscheinungen der Modernisierung abnehmen, wenn nicht gar verschwinden würden. »Moderne Gesellschaften verfügen über drei Ressourcen, aus denen sie ihren Bedarf an Steuerungsleistungen befriedigen können: Geld, Macht und Solidarität. Deren Einflußsphären müßten in eine neue Balance gebracht werden. Damit will ich sagen: die sozialintegrative Gewalt der Solidarität müßte sich gegen die ›Gewalten‹ der beiden anderen Steuerungsressourcen, Geld und administrative Macht, behaupten können. Nun waren Lebensbereiche, die darauf spezialisiert sind, tradierte Werte und kulturelles Wissen weiterzugeben, Gruppen zu integrieren und Heranwachsende zu sozialisieren, immer schon auf Solidarität angewiesen. Aus derselben Quelle müßte aber auch eine politische Willensbildung schöpfen, die auf die Grenzziehung und den Austausch zwischen diesen kommunikativ strukturierten Lebensbereichen auf der einen, Staat und Ökonomie auf der anderen Seite Einfluß nehmen soll.«161
Habermas begründet diese Figur nicht allein mit der funktional differenzierten Gesellschaftstheorie; er stützt sie auch auf eine dezidiert geschichtstheoretische Herleitung moderner Rationalitätspotenziale, durch die jener demokratische Idealzustand sich schon aus inneren Tendenzen der historischen Entwicklung erschließen lässt. Das grundlegende Problem der Habermas’schen Erklärung für soziale Leiderfahrungen liegt damit darin, dass er eigentlich keine Erklärung für diese anbietet. Habermas überzieht den Erklärungsanspruch der makrosozial und geschichtstheoretisch begründeten Pathologiediagnose, indem er sie schlicht auf das individuelle Erleben ausdehnt. Wie wenig dieser theoretische Erklärungsrahmen zum Verständnis sozialer Ursachen von psychischen Leidensphänomenen beiträgt, lässt sich auf instruktive Weise nachvollziehen, wenn die von Habermas angebotene Erklärung aus der Perspektive konkreter Handlungs- oder Therapiezusammenhänge betrachtet wird. Es mag aus der Perspektive der Gesellschaftsdiagnose auf den ersten Blick plausibel erscheinen, dass Sprachverdinglichung Störungen im subjektiven Selbstverhältnis hervorbringt. Aber wie kann etwa in einer konkreten Therapiesituation erkannt werden, dass psychische Symptome auf soziale oder gesellschaftliche Ursachen zurückgehen? Dieser 161 J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 124f.
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Weg ist mit Habermas’ Theorie nicht gangbar – auch in Erkenntnis und Interesse nicht. Sein Ansatz zeigt damit, dass auch mit einer säkularisierten Geschichtstheorie, die keine Universalgeschichte mehr sein will, nur noch eine Logik der Entwicklung rekonstruieren und auch keine substanzielle Bestimmung eines guten Lebens in Aussicht stellen möchte, das ›Leiden an Gesellschaft‹ nur abstrakt gefasst werden kann. Die Beschreibung der pathogenen Dynamiken, wie auch die normativen Bezugspunkte der Theorie werden schließlich weiterhin in dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess gesucht. Außerdem bleiben Restzweifel, ob die normative Basis der Gesellschaftskritik von Habermas tatsächlich so formal ist, wie er behauptet. Wenn in der Geschichte eine Entwicklungslogik bloß rekonstruiert wird, kann die Rekonstruktion streng genommen keine normative Funktion erfüllen. Mit ihr kann – anders gesagt – keine Kritik begründet werden, da sie bloß eine nachträgliche Beschreibung von historischen Verläufen ist, aber nichts über einen Sollzustand aussagt. Interessanterweise werden einige der substanzielleren Annahmen an der Psychoanalyserezeption, wie unklar sie auch ist, deutlich: Wenn Menschen an einer Verdinglichung ihrer kommunikativen Welt- und Selbstbeziehung leiden, gibt die Diskursethik nicht nur das formale Verfahren vor, in dem inhaltliche Konzepte eines guten Lebens ausgehandelt werden, sondern sie stellt selbst eine wesentliche Bedingung für ein gutes Leben dar. Zwar ist diese unkonkret genug, um Raum für eine Vielfalt von Lebensentwürfen zu lassen; aber sie lässt keinen Raum für solche Lebensentwürfe und Weltbilder, die dem kommunikativen Handeln externe Einschränkungen auferlegen. Sprachverzerrungen stören also nicht nur die Logik sprachlicher Sozialinteraktion, sondern auch die menschlichen Glücksmöglichkeiten. Das Leiden der Menschen befeuert so ein Interesse an einer Einrichtung der Gesellschaft, in der jenes Leiden verschwindet – was Habermas in Erkenntnis und Interesse formulierte, kann daher auch für seine späte Theorie gelten, in der der Leidensbezug schließlich beibehalten wurde: »Aber wie in der klinischen Situation, so ist in der Gesellschaft mit dem pathologischen Zwang selbst auch das Interesse an seiner Aufhebung gesetzt. Weil die Pathologie der gesellschaftlichen Institutionen ebenso wie die des individuellen Bewußtseins im Medium der Sprache und des kommunikativen Handelns festsitzt und die Form einer strukturellen Verzerrung der Kommunikation annimmt, ist jenes mit dem Leidensdruck gesetzte Interesse auch im gesellschaftlichen System unmittelbar ein Interesse an Aufklärung – und Reflexion [eines historischen Entwicklungsverlaufs, F.S.] ist die einzig mögliche Bewegung, in der es sich durchsetzt.«162
162 Ebd., S. 349f.
5
Kampf um Anerkennung oder historische Verwirklichung der Sittlichkeit?
Die intersubjektivitätstheoretische Perspektive, die Habermas mit der Theorie des kommunikativen Handelns einnimmt, bildet auch den Rahmen für Axel Honneths theoretische Arbeiten; doch versucht Honneth mit dem Begriff der Anerkennung den von Habermas eingeschlagenen Weg in eine Richtung fortzusetzen, die mit einer gewichtigen Traditionslinie der Frankfurter Schule bricht: nämlich mit der Konstruktion der normativen Grundlagen der Gesellschaftskritik auf dem Boden einer Vernunft- oder Rationalitätstheorie. Auch Habermas unterfütterte seine Gesellschaftstheorie noch mit vernunfttheoretischen Überlegungen und konnte daher, so die Kritik Honneths, nie deutlich machen, in welcher Weise die am Vorbild rationaler Argumentation gewonnenen normativen Prinzipien im Alltagsempfinden überhaupt eine bedeutende Rolle spielen.1 Habermas begründete sein diskursethisches Programm lediglich über den formalen Nachweis, dass kommunikatives Handeln erstens konstitutiv für menschliche Vergesellschaftung ist und dass sich zweitens aus eben jenem Handlungsbegriff ein normatives Ideal der zwanglosen Konsensfindung reflexiv herauspräparieren lasse. Die normativen Intentionen der handelnden Subjekte seien so aber nicht getroffen: »Ein Prozeß der kommunikativen Rationalisierung der Lebenswelt mag sich geschichtlich vollzogen haben oder vollziehen«, so fasst Honneth seinen Haupteinwand zusammen, »in den Erfahrungen von menschlichen Subjekten spiegelt er sich als moralischer Tatbestand auf jeden Fall nicht.«2 Die Theorie des kommunikativen Handelns sei zu kognitivistisch und abstrakt, um die volle Bandbreite der normativen Intuitionen des Alltagshandelns aufzunehmen – und damit 1
Vgl. Honneth, Axel: »Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie«, in: Axel Honneth (Hg.), Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012, S. 88109, hier S. 96ff.
2
Ebd., S. 98.
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könne sie letztlich nicht erklären, welches Interesse die Subjekte daran haben, die gesellschaftliche Institutionalisierung von kommunikativer Rationalität voranzubringen. Dagegen soll nun die Theorie der Anerkennung in der Lage sein, die motivationale Beteiligung der Subjekte an historischen Fortschrittsprozessen einzufangen und so geschichtlichen Wandel mit der normativen Struktur alltäglicher Sozialinteraktion zu verbinden. Mit der Erwähnung von »moralischen Tatbeständen« weist Honneth bereits in die Richtung, in die sein Lösungsvorschlag geht. Zwar versucht er – ähnlich wie Habermas – auf normative Kriterien zu rekurrieren, die bereits implizit in der Alltagspraxis wirksam sind; aber im Unterschied zu Habermas soll dies nicht über den Umweg eine Sprachanalyse erfolgen, sondern direkt an der normativen Erwartung der Handelnden – sozial anerkannt zu werden – anknüpfen. Honneth versucht hier erstmals systematisch auf Leid- und Verletzungserfahrungen Bezug zu nehmen, da er davon ausgeht, dass sich in jenen Erfahrungen die Bedeutung von Anerkennung für das subjektive Selbstverhältnis zeige; unverkennbar orientiert Honneth seine Theorie damit wieder stärker an einer Idee des guten Lebens. Nichtsdestoweniger hält Honneth aber an der geschichtsphilosophischen Verwirklichungsfigur fest, die bereits die Theoriekonstruktion seiner Vorgänger am Institut für Sozialforschung prägte. Denn Anerkennung soll nicht nur den Stoff alltäglicher normativer Konflikte bilden, sondern sei darüber hinaus für menschliche Sozialinteraktion konstitutiv und präge auch gesellschaftliche Fortschrittsprozesse. Diese Doppelstruktur des Begriffs, sowohl Voraussetzung, als auch normative Entwicklungsrichtung gesellschaftlicher Reproduktion zu sein, erlaubt es nun Honneth, einzelne Sozialkämpfe in einen übergreifenden geschichtlichen Fortschrittsprozess einzubetten, in dem sich das normative Potenzial der Anerkennung immer ungebrochener in gesellschaftlichen Institutionen realisiere. Damit steht die Anerkennungstheorie vor der gleichen Aufgabe, an der sich bereits Habermas abarbeitete: Sie muss plausibel machen, wie sich die normativen Intuitionen des Alltagshandelns mit den grundsätzlicheren sozialanthropologischen und geschichtstheoretischen Überlegungen der Gesellschaftsund Fortschrittstheorie verbinden lassen. Und trotz der berechtigten Einwände, die Honneth gegen die Theorie des kommunikativen Handelns vorbringt, tendiert seine Theorie in eine ähnliche Richtung, indem sie ihre normativen Kategorien sozialanthropologisch begründet und geschichtstheoretisch ausarbeitet. Hier zeigt sich noch einmal, dass das Problem von Habermas’ Ansatz nicht allein darin bestand, dass er die normativen Intentionen von Alltagshandelnden mit seiner formalen Normativitätskonzeption nicht aufgreifen konnte. Die theoretische Marginalisierung konkreter sozialer Leiddynamiken war auch der geschichtsthe-
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oretischen Perspektive geschuldet, die die normative Struktur des Alltagshandelns vorwiegend als eine Instanz in einem geschichtlichen Entwicklungsprozess behandelte. Diese Perspektive nimmt auch Honneth ein; auch in seiner Theorie haben die konkreten Erfahrungen sozialen Leidens einen lediglich abgeleiteten Status. Das zeigt sich bereits an der Konstruktion, mit der Honneth die soziale Handlungsebene mit der Dynamik gesellschaftlichen Wandels verbindet. Honneth nimmt nicht direkt auf moralische Aspekte des Handelns Bezug, sondern rekonstruiert diese – ähnlich wie es bereits mit Levinas vorgeschlagen wurde – aus Missachtungserfahrungen. Die konstitutive Bedeutung und normative Verbindlichkeit von Anerkennung soll sich in Sozialsituationen erweisen, in denen auf bestimmte, als ungerecht wahrgenommene Handlungen mit Empörung reagiert wird und sich Gefühle sozialer Verletzung und des Leidens einstellen. »Die moralischen Erfahrungen, die menschliche Subjekte in derartigen Situationen typischerweise machen, möchte ich als Gefühle sozialer Mißachtung bezeichnen.«3 Anhand der sozialen, rechtlichen und persönlichen Missachtung werde klar, so Honneth, was in Habermas’ Theorie zwar stets vorausgesetzt, aber nie systematisch erörtert wurde, und was letztlich die sozialen Kämpfe und gesellschaftlichen Fortschritte antreibe: In den Erfahrungen des Unrechts und der Missachtung zeige sich die Erwartung – und auch die Forderung – nach sozialer Anerkennung der eigenen Persönlichkeit. In Empfindungen von Missachtung soll sich also einerseits die konstitutive Bedeutung der Anerkennung enthüllen, aber auch andererseits die normative Dynamik abzeichnen, die die Subjekte dazu motiviere, gemeinsam für umfassendere soziale Anerkennungsverhältnisse zu kämpfen. Diese Anerkennungsforderungen stellen gewissermaßen die guten Gründe dar, die für den Geltungsanspruch von Normen im Diskurs mobilisiert werden können und durch die eine normative Kommunikationstheorie erst Verbindung zur sozialen Realität erhalte.4 Allerdings untersucht Honneth nicht systematisch, ob sich soziale Verletzungserfahrungen tatsächlich als Missachtung von Anerkennungserwartungen verstehen lassen; auch wird nicht klar, auf welche Weise eine Verletzung bestehender Erwartungen eine innovative Etablierung neuer Anerkennungsroutinen ermöglichen soll. Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, als ob Honneths Theorie in der Lage wäre, die sozialstrukturelle Verursachung von Leiden in einer Weise zu 3
Ebd., S. 99.
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Damit sitzt der Diskurs sozusagen den vorgängigen Anerkennungsverhältnissen auf und macht diese reflexiv zugänglich; die normative Dynamik resultiert dabei aber aus dem »Kampf um Anerkennung«. Vgl. A. Honneth: »Zwischen Aristoteles und Kant«, hier S. 185f.
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entschlüsseln, wie es seinen Vorgängern nicht möglich war, zeigt sich bei einem weiteren Blick auf die Ausarbeitung des Anerkennungstheorems, dass es Honneth nicht gelingt, die Spannung zwischen der normativen Grundlage der Theorie und der Erfahrung konkreter sozialer Akteure aufzulösen. Letztere kommt in Honneths Theorie nur negativ als Verletzungserfahrung in den Blick; ihren positiven normativen Gehalt, die normativen Intentionen der Alltagshandelnden, expliziert Honneth dagegen bloß pauschal unter Rekurs auf ein letztlich sozialontologisches Anerkennungskonzept. Die konkrete soziale Dynamik der Verletzung sowie das Bewusstsein der betroffenen Menschen spielt in Honneths Theorie keine systematische Rolle. Die wesentliche Neuerung des Anerkennungskonzepts liegt daher vorwiegend darin, dass das normative Gerüst wieder stärker mit Bezug auf ein gutes Leben errichtet wird. Der Bezug auf Leidens- und Missachtungserfahrungen, mit dem Honneth insbesondere in seinen frühen Arbeiten das Anerkennungskonzept einzuführen pflegt, ist damit irreführend. Honneth rekonstruiert die normative Bedeutung von Verletzungserfahrungen mit Blick auf eine Theorie sozialen Fortschritts und nicht unter Rekurs auf das, was sich in der Lebenssituation der Betroffenen artikuliert. Die Kritik an Habermas führte Honneth, wie im Folgenden gezeigt wird, in diesem Punkt nicht zu einem Neuentwurf der Theoriearchitektonik. Er legt seiner Gesellschaftskritik weiterhin ein Normativitätsmodell zugrunde, das die Identifikation normativer Strukturen des Alltagshandelns nur im Rahmen einer Geschichtstheorie vollziehen kann. Darin erscheint Entwicklung, gesellschaftlich wie auch individuell, vorwiegend als Entfaltung eines vorbestimmten Entwicklungspotenzials. Das legt letztlich auch den Rezeptionsrahmen der Psychoanalyse wieder auf das Modell einer Vergesellschaftungstheorie fest; mit ihr soll das Hineinwachsen der Subjekte in die gesellschaftliche Anerkennungswirklichkeit dargestellt und zugleich die anthropologische Ubiquität intersubjektiver Anerkennung erwiesen werden. Daneben spricht Honneth zwar noch die Überzeugung aus, dass psychologische Untersuchungen die spezifischen Beschädigungen, die aus der Verletzung von Anerkennungsforderungen resultieren, dechiffrieren können5 – aufgrund des skizzierten Theorierahmens führt Honneth diesen Gedankengang aber nicht weiter aus und geht wie auch schon Fromm, Marcuse, Adorno und Habermas schlicht davon aus, dass psychische Belastungs-
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Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014, S. 227f; vgl. ebenso A. Honneth: »Die soziale Dynamik von Mißachtung«, S. 104 und Fraser, Nancy/Honneth, Axel: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015, S. 149f.
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und Leidenserfahrungen als Evidenz für die normativen Behauptungen zu verstehen sind. Im Folgenden wird zunächst noch einmal in einem ersten Schritt das Anerkennungskonzept von Honneth umrissen, wobei besonders die sozialkonstitutive und normative Bedeutung der Anerkennung von Interesse ist (5.1); in einem zweiten Schritt werden die gesellschaftstheoretischen Konsequenzen entwickelt, die Honneth daraus vor allem im Hinblick auf die Erklärung von sozialen Bewegungen zieht (5.2). In einem letzten Schritt lässt sich dann der marginale Stellenwert der sozialen Leidenserfahrungen innerhalb von Honneths Theorie zeigen und nachweisen, dass die Psychoanalyserezeption vorwiegend der sozialisationstheoretischen Absicherung der sozialontologischen Annahmen dient (5.3).
5.1 DER ANERKENNUNGSBEGRIFF Der Begriff der Anerkennung hat, wie bereits angedeutet wurde, in Honneths Theorie eine komplexe Aufgabe zu erfüllen. Er soll einerseits eine universelle Voraussetzung menschlicher Sozialinteraktion wie auch der Identität bezeichnen; Subjekte können nur sozial interagieren, wenn sie sich wechselseitig als Personen anerkennen. Individuelle Identität kann sich auf diese Weise nur als sozial anerkannte herausbilden. Andererseits nutzt Honneth den Begriff auch, um die kritische Ausrichtung seiner Theorie normativ zu untermauern. Dafür betont er, dass Anerkennung nicht ein für alle Mal hergestellt werden kann, sondern ständig performativ in sozialen Praktiken erneuert und aktualisiert werden muss.6 Anerkennungserwartungen sind daher stets mit der Möglichkeit konfrontiert, enttäuscht zu werden – etwa indem die Anerkennung von anderen Subjekten schlicht verweigert wird, aber auch etwa, indem persönliche Eigenschaften nicht in der erwarteten Weise anerkannt werden. Anerkennungserwartungen schießen in gewisser Weise über die prekären Bedingungen ihrer Erfüllung hinaus; an ihnen lässt sich eine Spannung von Sein und Sollen ablesen. Sie haben, in anderen Worten, einen normativen Kern, der sich in dem Gefühl ausdrückt, dass gesellschaftlich ein berechtigter Anspruch auf die Anerkennung der eigenen Person besteht – unabhängig davon, ob sie in jeder Situation gewährt wird. Welche Personengruppen und welche Eigenschaften auf welcher institutionellen
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»[D]enn nur die Teilnahme an solchen Interaktionen, zu deren normativen Voraussetzungen die reziproke Orientierung an bestimmten Anerkennungsprinzipien gehören, kann der einzelne die wiederholbare Erfahrung machen, daß spezifische Fähigkeiten seiner Person von dauerhaftem Wert für andere Subjekte sind.« (Ebd., S. 169).
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Ebene legitimen Anspruch auf Anerkennung haben, sind politisch umkämpfte Fragen, die Honneth mit der Formel »Kampf um Anerkennung« zu fassen sucht. Die hegelianische Doppelstruktur des Anerkennungsbegriffs, der als Konstitutionsprinzip und zugleich als normatives Regulativ von Sozialbeziehungen konzipiert ist, stellt Honneth deutlich in die Traditionslinie der Frankfurter Schule. Aber Honneth übernimmt nicht nur die Konstruktion der normativen Argumentation von Hegel, auch der Anerkennungsbegriff selbst stammt aus dem hegelianischen Begriffsschatz. Mit den Frühschriften Hegels, und später mithilfe seiner Rechtsphilosophie,7 behauptet Honneth, dass ein positives Selbstverhältnis nur über die Anerkennung durch andere Subjekte etabliert werden kann und dass sich außerdem über einen Kampf um Anerkennungen drei distinkte Weisen des Anerkennens institutionalisieren. Diese hegelianischen Kerngedanken nehmen in Honneths Theorie einen zentralen Stellenwert ein; ein wesentlicher Teil seiner Arbeiten beschäftigt sich mit dem Versuch, diese in einem kontemporären Theorierahmen zu reaktualisieren. Im ersten Teil sollen daher die theoretischen Grundintentionen zur Sprache kommen, die Honneth aus Hegels frühen Arbeiten entnimmt. Im Mittelpunkt steht hier die Verbindung von Sozialintegration und Identitätsbildung, die die normative Pointe von Honneths Sozialanthropologie bestimmt. Mit der Sozialpsychologie George H. Meads und in zunehmendem Maße auch mit der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie beabsichtigt Honneth das Programm des frühen Hegel zu aktualisieren. Vorrangig geht es hier um eine Klärung der Anforderungen, die sich aus dem Anerkennungskonzept für die individuelle Sozialisation ergeben. Damit soll aber nicht nur die sozialisatorische Routine ergründet werden, in denen Subjekte ursprünglich in Anerkennungsbeziehungen eingebunden werden. Honneth versucht hier auch, mit wechselnden Erklärungsansätzen die subjektiven Motive für einen Kampf um Anerkennung anzugeben. Dieser Kampf brachte schließlich in der Moderne drei distinkte Weisen der Anerkennung hervor, in denen je ein Merkmal der universellen Anerkennungsbedürftigkeit institutionalisiert wurde. In Honneths Theorie stehen diese auch für die drei Hauptaspekte der subjektiven Identität. Bevor auf Honneths Verständnis sozialer Missachtung und ihrer Bedeutung für gesellschaftlichen Fortschritt eingegangen wird, sollen daher die spezifischen Beiträge, die Honneth von den institutionalisierten Anerkennungsformen der Liebe, des Rechts und der Solidarität oder Wertschätzung für das subjektive Selbstverhältnis erwartet, umrissen werden – hier lässt sich bereits nachvollziehen, wie die systematische Intention Honneths zulasten der Rekonstruktion im Einzelfall geht. 7
Vgl. Honneth, Axel: Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Stuttgart: Reclam 2001.
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Individuierung durch Vergesellschaftung: Die hegelianischen Grundlagen des Anerkennungsbegriffs Die normativen Grundannahmen wurden in der Frankfurter Schule stets mit Bezug auf einen Begriff von Vernunft oder Rationalität entworfen. Diese rationalitätstheoretische Tradition lässt sich nicht allein auf den andauernden Einfluss der aufklärerischen Philosophie zurückführen; die Verbindung, die in den jeweiligen Theorien zwischen einem guten Leben und einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft gezogen wurde, sollte nicht zuletzt auch sicherstellen, dass die normativen Prinzipien der Gesellschaftskritik nicht lediglich partikulare Präferenzen des Theoretikers, einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder einer vorherrschenden Geistesströmung wiedergeben. Die Prinzipien sollen selbst universale Geltung haben und müssen daher für alle Betroffenen einsehbar und entsprechend begründbar sein – sie müssen sich also als vernünftig rechtfertigen lassen. Honneth bricht gewissermaßen mit dieser Traditionslinie, da er seine Normativitätsgrundlage nicht mehr explizit mit einem Vernunftbegriff zusammenbringt. Dennoch hält Honneth an dem universalistischen Anspruch fest, der mit jenem Vernunft- oder Rationalitätsbegriff verbunden ist. Um die universelle Verbindlichkeit seiner normativen Kategorien darzulegen, muss er Anerkennung daher unmittelbar als anthropologische Bedingung menschlicher Sozialität bestimmen. Und zugleich muss er zeigen, dass die anthropologische Prämisse noch genügend Spielraum für historische Differenzierung und normative Verbesserungen belässt. Deutlicher noch als bei Habermas richtet sich die Kritik daher gegen einen defizitären Modus der Sozialintegration. Ein gelingendes Selbstverhältnis, so die These Honneths, ist nur über die wiederholte Erfahrung sozialer Anerkennung zu erlangen,8 da Selbstverwirklichung mit Vergesellschaftung verschränkt sei. Interessanterweise vollzieht Honneth die Abkehr von der rationalistischen Normativitätskonzeption ebenfalls mit Bezug auf Hegel, der schließlich den Vernunftbegriff der Kritischen Theorie maßgeblich prägte. In Hegels lange unveröffentlichten Frühschriften entdeckt Honneth eine Intersubjektivitätskonzeption, die aus den späteren Arbeiten, mit denen Hegel bekannt wurde, wieder weitgehend verschwunden war. In den frühen Jenenser Schriften versucht Hegel sich deutlich von damals vorherrschenden liberalistischen Gesellschaftskonzeptionen abzugrenzen.9 So waren etwa naturrechtliche Konzeptionen des Gesell-
8
Vgl. N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 169.
9
Hier nennt Honneth vor allem Machiavelli und Hobbes. Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 14ff; vgl. dazu Hegel, Georg W. F.: Ȇber die wissenschaftlichen
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schaftsvertrages10 oder auch Kants Staats- und Gesellschaftsverständnis11 von der liberalistischen Annahme geprägt, dass Subjekte erst nachträglich in soziale Interaktionszusammenhänge eintreten und daher Gesellschaft etwas ist, das jenen Subjekten weitgehend äußerlich bleibe. Normative Aspekte von Sozialinteraktion erhalten im Rahmen dieses Modells fast mit Zwangsläufigkeit einen disziplinarischen und einschränkenden Charakter, da die Interessen der Subjekte und die Anforderungen der sozialen Gemeinschaft sich hier äußerlich bleiben. Normative Orientierungen können so nur über einen begründeten Zwang – etwa über einen Gesellschaftsvertrag – gesellschaftlich verbindlich gemacht werden. Honneth hebt dagegen die Bestrebungen des frühen Hegel hervor, intersubjektive Sozialbeziehungen nicht erst an das Ende der Subjekt- und Gesellschaftsbildung zu stellen, sondern bereits an deren Anfang – nämlich als eine anthropologische Grundsituation: »anders als in den atomistischen Gesellschaftslehren soll also als eine Art von Naturbasis der menschlichen Vergesellschaftung ein Zustand angenommen werden, der stets schon durch die Existenz von elementaren Formen des intersubjektiven Zusammenlebens gekennzeichnet ist.«12 Hegel charakterisiert nun diese Formen des Zusammenlebens genauer als Anerkennungsbeziehungen, für die Folgendes gilt: »stets wird ein Subjekt in dem Maß, in dem es sich in bestimmten seiner Fähigkeiten und Eigenschaften durch ein anderes Subjekt anerkannt weiß und darin mit ihm versöhnt ist, zugleich auch Teile seiner unverwechselbaren Identität kennenlernen und somit dem anderen auch wieder als ein Besonderes entgegengesetzt sein.«13 Die Herausbildung der Identität ist nach Honneths Hegellektüre also notwendig und von Beginn an auf Andere angewiesen, da Subjekte ihre besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten nur über die soziale Anerkennung erfahren und zu einem Teil ihres Selbstverhältnisses machen können. Zwar müssen basale Anerkennungsbeziehungen schon im menschlichen ›Naturzustand‹ gegeben sein; doch sind diese nach Hegel zu Beginn noch undifferenziert und ungenügend. Ausgehend von jenem fiktiven Ursprung konstruiert er Behandlungsarten des Naturrechts«, in: Hans Brockard/Hartmut Buchner (Hg.), Jenaer Kritische Schriften, Hamburg: Meiner 1983, S. 90-178, besonders S. 95-132. Hegel kritisiert hier etwa Rousseaus Rechtskonzeption als bloß empirisch; Kants Idee hingegen als zu formal. 10 Vgl. etwa Rousseau, Jean-Jacques: »Vom Gesellschaftsvertrag. Oder Prinzipien des Staatsrechts«, in: Martin Fontius (Hg.), Kulturkritische und politische Schriften, Berlin: Rütten & Loening 1989, S. 380-505. 11 Vgl. etwa I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 339. 12 A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 26. 13 Ebd., S. 30f.
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in seinen Jenenser Frühschriften in je verschiedener Weise einen teleologischen Stufengang der gesellschaftlichen und moralischen Entwicklung, der als Differenzierung und Entfaltung des natürlichen Sittlichkeitspotenzials zu verstehen ist.14 Angetrieben wird dieser Prozess durch das systematische Ungenügen der natürlichen Anerkennungsverhältnisse, in deren Folge Subjekte sich ihrer Identität nur rudimentär versichern können. Dabei nimmt Hegel den liberalen Topos des Kampfes zwischen den Individuen wieder auf, gibt diesem aber letztlich eine sozialintegrative Pointe: Die unvermeidlichen Verstöße gegen die natürlichen Anerkennungsweisen führen die Subjekte sowohl zu einem »Wissen um ihre eigene, unverwechselbare Identität«15, als auch zu einem »Wissen um ihre wechselseitige Abhängigkeit«.16 Verbrechen lassen sich, so lautet der Deutungsvorschlag von Honneth, als ein Protest gegen sozialstrukturell bedingte Beschränkungen von Anerkennung verstehen, in dessen Folge die Einseitigkeit der natürlichen Anerkennungsverhältnisse zum Vorschein kommt. Dieser Konflikt kann erst mit der Institutionalisierung eines anspruchsvolleren Anerkennungsniveaus, in dem die Sittlichkeit der Sozialbeziehungen wieder hergestellt wird, beigelegt werden.17 Hegel lässt diesen Prozess in einen utopischen Zustand der verwirklichten Sittlichkeit einmünden, den er später mit dem bürgerlichen Staat gleichsetzen wird und in dem die Besonderheit der Subjekte volle soziale Anerkennung erhalten soll – in dem also Individuum und Gesellschaft versöhnt sind.18 An dieser Stelle lassen sich bereits drei Hauptanregungen zusammenfassen, die Honneth Hegels System der Sittlichkeit entnimmt. Zum einen übernimmt Honneth die Vorstellung, dass subjektive Selbstverwirklichung nur über soziale Integration erreicht werden kann. Zum anderen findet Honneth hier eine Idee des sozialen Wandels, in dem die stete Ungenügsamkeit etablierter Anerkennungsverhältnisse zu einem Kampf um ihre Ausweitung – und damit zu einem Kampf um bessere Chancen der Selbstverwirklichung – führt. In den Worten von Honneth heißt das:
14 Vgl. Schmidt, Steffen: Hegels System der Sittlichkeit, Berlin: Akademie 2007; vgl. dazu auch G. W. F. Hegel: »Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts«; Hegel, Georg W. F.: »Naturphilosophie und Philosophie des Geistes«, in: Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Jenaer Systementwürfe, Hamburg: Meiner 1987, S. 204ff. 15 A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 42. 16 Ebd., S. 43. 17 Vgl. ebd., S. 89f. 18 Vgl. ebd., S. 43; vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 398.
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»Im Kern läuft meine Vorstellung auf die Hypothese hinaus, daß jede soziale Integration von Gesellschaften auf geregelte Formen der wechselseitigen Anerkennung angewiesen ist, an deren Unzulänglichkeiten und Defiziten sich stets wieder Empfindungen der Mißachtung festmachen, die als Antriebsquelle gesellschaftlicher Veränderungen gelten können.«19
Bemerkenswert ist hier die Gleichsetzung von ungenügenden Anerkennungsweisen und Missachtung – ein für Honneths Fortschrittstheorie zentraler Gedanke, der aber, wie weiter unten gezeigt wird, mit einigen Unklarheiten behaftet ist. Darüber hinaus steht Hegel noch für eine weitere konzeptionelle Säule in Honneths Anerkennungstheorie Pate, nämlich der Idee, dass sich die Anerkennungsweisen in modernen Gesellschaften in drei Sphären einteilen lassen. Hegel stellt die familiären Liebesbeziehungen an den Anfang der Ontogenese wie auch der Phylogenese. Hier lernt das Subjekt, was es heißt, in seiner besonderen Bedürftigkeit und Triebnatur anerkannt zu werden. Zur Beschreibung des gesellschaftlichen Verkehrs bietet das Liebesverhältnis allerdings eine zu dünne Basis, da es an die emotionale Nähe konkreter Anderer gebunden bleibt. Honneth benennt daher mit Hegel zwei weitere Anerkennungsformen, die das gesellschaftliche Leben strukturieren und die sich phylo- wie ontogenetisch differenzieren: die rechtliche Anerkennung der Person und die wertschätzende oder solidarische Anerkennung des besonderen Beitrages, den ein Subjekt zur gesellschaftlichen Reproduktion leistet. Die Anerkennungsform des Rechts stellt sicher, dass die Person in ihrer gesellschaftlichen Lebensgrundlage geschützt ist; die Anerkennungsform der Wertschätzung hingegen bietet dem Subjekt die positive Vergewisserung, dass seine besonderen Fähigkeiten und Leistungen gesellschaftlich wertgeschätzt werden.20 Während Hegel die Anerkennungsformen der Liebe und des Rechts explizit unterscheidet, vermutet Honneth die Sphäre der Wertschätzung in dessen Sittlichkeitskonzept.21 Honneth stellt sich nun die Aufgabe, die Thesen, die er in seiner Hegellektüre entwickelt hat, in einem zeitgenössischen und nachmetaphysischen Theorierahmen zu reformulieren. Dabei wird er sich zunehmend von den Hegelschen Formulierungen der Anerkennungsdynamik distanzieren 22 und immer mehr As19 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 282. 20 Zu den Formen der Anerkennung, die Honneth aus dem System der Sittlichkeit rekonstruiert vgl. die Tafel in A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 46. 21 Vgl. ebd., S. 97f. 22 Vgl. Honneth, Axel: »Vorbemerkung«, in: Axel Honneth (Hg.), Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015, S. 7-9, S. 7–9.
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pekte seiner Anerkennungstheorie unter Bezug auf aktuelle Forschungsansätze ausführen. Dabei wird klar werden, dass die drei hier zusammengefassten Kerngedanken, die Honneth Hegel entnimmt,23 nicht eigentlich Teil der Beschreibung sind, die Honneth für gesellschaftliche Phänomene anbietet, sondern stattdessen den Status von Prämissen haben, die er mit zeitgenössischen theoretischen Mitteln reformuliert. Noch bevor sich Honneth überhaupt mit historischen Sozialbewegungen beschäftigt, wird erstens von ihm Anerkennung im Anschluss an den frühen Hegel als eine fundamentale Notwendigkeit menschlicher Sozialinteraktion begriffen, in der Selbstverwirklichung und soziale Integration ineinandergreifen. Zweitens entfalte sich so zugleich eine konflikthafte Dynamik, die geschichtlich zu einer steten Ausweitung der institutionell zugesicherten Anerkennungsformen führe. Und drittens bleibt Honneth der These treu, dass sich in den Anerkennungsbeziehungen drei distinkte Formen unterscheiden lassen, die er als »Liebe«, »Recht« und »Wertschätzung« beziehungsweise »Solidarität« bezeichnet.24 Für das Verständnis von Honneths Theoriekonstruktion ist es außerdem instruktiv, dass in seinen Arbeiten ein weiterer Aspekt der Hegellektüre zum Tragen kommt, der den apriorischen Charakter der Hauptthesen unterstreicht. Honneth expliziert seine Gesellschaftstheorie stets mit Bezug auf eine utopische Sittlichkeitskonzeption, deren Grundzüge schon im frühen Hegel zu finden sind und die später in dessen Rechtsphilosophie wiederauftauchen. Mit dem formalen Sittlichkeitskonzept25 zieht Honneth ohne Umschweife die normativen und gesellschaftstheoretischen Schlussfolgerungen, die schon durch die Wahl seiner Prämissen nahegelegt werden – dadurch beweist er, dass der Gang über quasiempirische Verletzungs- und Missachtungserfahrungen für den Zusammenhang seiner Theorie entbehrlich ist. Honneth bemüht sich zwar, die hegelianisch geprägten Vorannahmen einzelwissenschaftlich zu begründen; doch ändert das – wie sich zeigen wird – nichts an ihrem transzendentalen Status. Es scheint daher so, dass der Rückhalt in der sozialen Wirklichkeit, den Honneth mit dem Verweis auf Verletzungs- und Missachtungserfahrungen herstellen möchte, nicht das hält, was er verspricht. Nicht das Leiden der Subjekte, sondern ein hegelia-
23 Auch Honneth identifiziert diese als die drei Kerngedanken seiner Hegelrezeption; vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 110ff. 24 Vgl. ebd., S. 148ff. 25 Das macht schon in seinem frühen Hauptwerk das Schlusskapitel aus, vgl. ebd., S. 274-287. Zusammenhängend gibt Honneth sein Sittlichkeitskonzept in der späten Monografie Das Recht der Freiheit Ausdruck, vgl. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013.
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nisch inspiriertes Sittlichkeitskonzept bildet die normative Grundlage für die Gesellschaftskritik. Aktualisierung des hegelianischen Rahmens: Mead und die Objektbeziehungstheorie Honneth entwickelt in seinen Arbeiten verschiedene Ansätze und Konzepte, mit denen die hegelianischen Grundintentionen seiner Sozialphilosophie untermauert und begründet werden sollen. Obwohl Honneth Hegel darin folgt, einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen der subjektiven Identitätsbildung und den institutionellen Anerkennungsverhältnissen anzunehmen, kann er nicht einfach den idealistischen Theorierahmen Hegels übernehmen, in dem beides weitgehend ungeschieden als Entwicklungsprozess der Sittlichkeit oder später des Geistes zusammen gedacht wird. Honneth muss daher in der angestrebten Aktualisierung der Hegelschen Intentionen die sozialisationstheoretischen Aspekte zunächst getrennt von der Theorie gesellschaftlicher Entwicklung abhandeln. Wie schon Habermas rezipiert Honneth anfangs Meads Sozialpsychologie, um eine klarere und zeitgenössische Vorstellung der intersubjektiven Entwicklung der Persönlichkeit zu gewinnen. Honneth führt darüber hinaus einige Konzepte aus der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie ein, um offengebliebene Fragen hinsichtlich der frühkindlichen Entwicklung zu klären und um die anthropologische Vorannahme einer konstitutiven Intersubjektivität für die Subjektgenese zu erhärten. Obwohl Meads Sozialpsychologie systematische Beiträge zu Honneths Vorhaben leistet, entwickelt er später Zweifel, ob die theoretischen Mittel Meads dafür tatsächlich geeignet sind. Einige der Überlegungen, die Honneth zunächst mit Mead ausführte, versucht er daher später mit der psychoanalytischen Theorie zu begründen – so etwa die moralischen Qualitäten der Anerkennung oder die subjektive Motivation für einen Kampf um Anerkennung. Aber die Zweifel bleiben bestehen, ob das Projekt der Aktualisierung des frühen Hegels überhaupt durchführbar ist; Honneth kann mit seinem Versuch weder der Systematik der Hegelschen Philosophie noch den Phänomenen ganz gerecht werden, die die rezipierten Einzelwissenschaften – darunter die Psychoanalyse – untersuchen.
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Meads Theorie der intersubjektiven Identitätsbildung Honneth ging in den ersten Arbeiten zur Anerkennungstheorie noch davon aus, in der Theorie von George H. Mead ein theoretisches Modell gefunden zu haben, mit dem sich die intersubjektive Genese des Subjekts in einem nachmetaphysischen Rahmen ausreichend neu bestimmen lässt. Und damit schien sich zugleich auch die Idee der konflikthaften Erweiterung der sozialen Anerkennungsverhältnisse konkretisieren zu lassen. Wie bereits erwähnt wurde, äußerte Honneth bald Bedenken daran, ob sich die Intersubjektivitätstheorie Meads bruchlos mit einer Anerkennungstheorie verbinden lasse, da Meads Ansatz zu formal sei, um die ethischen oder sittlichen Aspekte, die Honneth mit dem Anerkennungskonzept vor Augen hat, zwanglos zu erfassen.26 Nichtsdestoweniger blieb der konzeptionelle Einfluss Meads groß, was sich etwa daran zeigt, dass Honneth keinen systematischen Ersatz für Meads Theorie formulierte. Anfangs sieht Honneth aber in Meads Arbeiten noch die Hegelsche Idee verwirklicht, »daß die menschlichen Subjekte ihre Identität der Erfahrung einer intersubjektiven Anerkennung verdanken«.27 Honneth spielt dabei vor allem auf die Perspektivübernahme an, die Mead zufolge sprachliche Interaktion begleitet.28 Kommunikation sei demnach nur deshalb möglich, weil das sprechende Subjekt in sich die Reaktion hervorrufen kann, die es im Gegenüber auszulösen beabsichtigt. Dieser Gedanke ließe sich auch so formulieren, dass das Subjekt in Sprachinteraktionen die Perspektive der Interaktionspartnerin oder -partners einnehmen können muss. Honneth interpretiert an dieser Stelle die wechselseitige Perspektivübernahme noch als ein Anerkennungsverhältnis und folgt daher auch Meads Überlegungen zur Persönlichkeitsstruktur und ihrer Entwicklung: Mead geht davon aus, dass sich aus den Akten der Perspektivübernahme eine psychische Struktur herausbildet, in der zu dem subjektiven Bewusstsein im Laufe der Sozialisation die verinnerlichte Außenperspektive, also ein soziales Selbstbewusstsein, tritt.29 Nach dieser Vorstellung bildet sich das subjektive Selbstverhältnis erst durch die Anwendung der sozial erworbenen Kategorien auf das subjektive Innenleben heraus. »Alles, was wir als Gestalten der individuellen Selbstbeziehung zu beschreiben gewohnt sind, seien es moralische Gefühle, Willensakte oder Bedürfnisartikulationen, ist das Ergebnis von Interaktionen, die gleichsam nach innen verlagert worden sind und hier zur 26 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 312f. 27 Ebd., S. 114. 28 Vgl. Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft. Aus Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 129, S. 191. 29 Vgl. ebd., S. 235.
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Ausbildung von kommunikationsähnlichen aufeinander bezogenen Instanzen geführt haben.«30
Mead prägte für diese Instanzen die Begriffe I und Me. Durch die Teilnahme an vielfältigen sozialen Interaktionsbeziehungen bildet sich beim Kleinkind neben dem situativen und spontanen Ich-Bewusstsein des Subjekts – das I – noch ein sozial vermitteltest Selbstbild – das Me.31 Die Selbstbilder, die im Me organisiert sind, erwirbt das Subjekt mithilfe der Perspektivübernahme, indem es sich vorstellt, wie es durch die Interaktionspartner wahrgenommen wird und diese Vorstellung mit den Reaktionen der anderen auf es abgleicht. Das Selbstverhältnis des Subjekts orientiert sich aber nicht nur an den Reaktionen seiner Umwelt, sondern ebenfalls an den Bedürfnissen seines I, das auf die sozial erworbenen Kategorien des Me angewiesen ist, um seine Regungen in sozialen Interaktionen verständlich zu machen.32 Daher geht Honneth davon aus, dass sich die Psyche des Subjekts als ein innerer Kommunikationsraum verstehen lässt, in dem das Subjekt anhand der Reaktionen anderer Subjekte und seiner eigenen spontanen Regungen zu sich ein Selbstverhältnis herausbildet. Dieser Gedankengang ist für Honneths Theorie aus zwei Gründen bedeutsam. Einerseits legt er mit der Verinnerlichung dar, weswegen soziale Anerkennungsverhältnisse dem Selbstverhältnis logisch und zeitlich vorausgehen und konstitutiv für dieses sind. Andererseits soll darin nun auch die intrapsychische Spannung liegen, die Honneth zum Ausgangspunkt für das subjektive Aufbegehren gegen bestehende Anerkennungsweisen macht. Denn da die bloß reaktiv gebildeten Selbstbilder des Me stets zu grob sind, um die kreative und spontane Vielfalt des I abzubilden, strebt das I in der »kommunikationsähnlichen«33 Beziehung eine Korrektur und Verfeinerung des sozialen Selbstbildes an.34 Um Meads Konzept der Persönlichkeit als Aktualisierung der Anerkennungstheorie lesen zu können, muss Honneth allerdings noch einen Schritt weiter gehen und das Me zugleich als eine normative Instanz verstehen. Demnach 30 Honneth, Axel: »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«, in: Axel Honneth (Hg.), Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015, S. 138161, hier S. 147. 31 Vgl. G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 216ff. 32 Vgl. ebd., S. 253ff. 33 A. Honneth: »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität«, S. 147. 34 Später rekonstruiert Honneth die Herausbildung eines inneren Selbstverhältnisses mit den triebtheoretischen Überlegungen des Psychoanalytikers Hans Loewald. Vgl. ebd., S. 156f.
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erlernen Subjekte in der Perspektivübernahme nicht nur die Kategorien, mit denen sie sich ein Bild von sich selbst machen, sondern sie lernen auch die Erwartungen kennen, die andere Subjekte an ihr Verhalten richten. Honneth führt diese normative Interpretation der Intersubjektivitätskonzeption Meads mit Blick auf eine Sozialisationsdynamik ein. So verinnerlicht das Kind, indem es die Perspektive der Eltern übernimmt, auch deren »moralische Wertbezüge und wendet sie auf das praktische Verhältnis zu sich selber an«35 – das Selbstbild des Me ist damit auch normativ strukturiert. Die anfänglich noch an der Interaktion mit konkreten Anderen – etwa der Eltern oder sonstiger Bezugspersonen – internalisierten Verhaltensnormen werden im Laufe der Identitätsentwicklung zunehmend verallgemeinert und auf ein soziales System bezogen. An die Stelle der Erwartungen konkreter Anderer treten im Selbstverhältnis des Subjekts nach und nach gruppenvermittelte Rollenerwartungen. Mead verfolgt diese Entwicklung anhand des Spielverhaltens des Kindes: Während das Kind im »play« – dem Spiel mit sich selbst – in einzelne Rollen schlüpft, die es an konkreten Anderen kennengelernt hat, und diese spielerisch einübt, stellt der spielerische Wettbewerb – das »game« – bereits eine anspruchsvollere Stufe der Sozialintegration dar.36 In der regelvermittelten Kooperation des Wettbewerbs übernimmt das Kind eine auf die Mitspielenden abgestimmte Rolle und um dies tun zu können, muss es die Rollen aller anderen Beteiligten – eines »generalisierten Anderen« – ebenfalls virtuell einnehmen können: die Perspektive der sozialen Gemeinschaft. Honneth verfolgt hier zwei wesentliche Absichten. Zum einen liest er den Prozess der Verallgemeinerung der normativen Handlungserwartungen, den Mead beschreibt, als Blaupause für die sozialisatorische Differenzierung der drei Anerkennungssphären. Ausgehend von der konkreten Liebesbeziehung entwickelt das Kind demnach im »game« ein Verständnis für rechtliche Verhaltensregeln sowie eine grundsätzliche Idee der Wertschätzung. 37 Entscheidender ist aber noch ein zweiter Punkt, der bereits Erwähnung fand. Mead zufolge muss das Subjekt nicht nur die Verhaltenserwartungen der anderen Subjekte in sich – im Me – aufnehmen, sondern dabei gleichzeitig den spontanen und kreativen Regungen seines I gerecht werden. Der Rahmen, der sich daraus für den »menschlichen Sozilisationsprozeß ergibt, enthält die Idee einer Verschränkung von Individuierung und Vergesellschaftung«.38 Die Impulse des I können nur dann 35 A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 123. 36 Vgl. G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 194ff. 37 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 125f, S. 139f. 38 Honneth, Axel: »Das Ich im Wir. Anerkennung als Triebkraft von Gruppen«, in: Axel Honneth (Hg.), Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 261-279, hier S. 267.
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Eingang in die soziale Wirklichkeit finden, wenn sie sich in einer Weise verwirklichen lassen, die mit den moralischen Forderungen des Me vereinbar sind – oder vereinbar sein könnten. Honneth sieht mit Mead hier einen Hinweis auf die soziale Dynamik, nach der Subjekte auf die Erweiterung der sozialen Anerkennungsverhältnisse drängen – die Spannung im Selbstverhältnis der Subjekte setze sich also in eine soziale Spannung um: »Diese innere Reibung zwischen ›Ich‹ und ›Mich‹ stellt für Mead den Grundriß des Konflikts dar, der die moralische Entwicklung sowohl von Individuen als auch von Gesellschaften erklären können soll: das ›Mich‹ verkörpert in Vertretung des jeweiligen Gemeinwesens die konventionellen Normen, die das Subjekt von sich aus ständig zu erweitern versuchen muß, um der Impulsivität und Kreativität seines ›Ich‹ sozial Ausdruck verleihen zu können.«39
Allerdings steht eine derartige Aktualisierung der hegelianischen Grundintentionen in Honneths Theorie vor verschiedenen Problemen. Zum einen ist die so angedeutete Sozialisationstheorie zu dünn und zu abstrakt, um im Einzelnen wirklich klären zu können, wie die verschiedenen Anerkennungsweisen erlernt werden und wie die innere, konflikthafte Dynamik beschaffen ist, die die »moralische Entwicklung« von Individuen antreibt. Mead selbst kann – wie Honneth früh bemerkt40 – allenfalls eine klar umrissene Vorstellung rechtlicher Anerkennung entnommen werden, die zwar durch die Spannung zwischen I und Me unter dem Druck der Differenzierung steht, aus der aber kaum ein »Kampf um Anerkennung« im umfassenden Sinne abgeleitet werden kann. Für die Anerkennungsformen der Liebe und der Wertschätzung finden sich bei Mead schließlich keine systematischen Formulierungen. Schwerwiegender ist aber, dass die Perspektivübernahme Meads nicht ohne Weiteres mit einem Verhältnis der wechselseitigen Anerkennung gleichgesetzt werden kann. Honneth ist später der Ansicht, dass Meads Konzept zu kognitivistisch ausgerichtet ist, um tatsächlich die normativen Aspekte der Anerkennungstheorie begründen zu können.41 Damit steht auch in Frage, was die Dynamik in Gang setzt, mit der systematisch Anerkennungsverhältnisse in Richtung wachsender Chancen der Selbstverwirklichung erweitert werden. 42 Insofern kann zwar Mead ein interaktives Modell dafür bereitstellen, wie Subjekte ein soziales Selbstbild entwickeln. Da dieses aber substanziellen normativen Kriterien nicht 39 A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 132. 40 Vgl. ebd., S. 141f. 41 Vgl. ebd., S. 312. 42 Vgl. ebd., S. 313ff.
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ausreichend Aufmerksamkeit schenkt, kann mit ihm allein aber, anders als Honneth anfangs annahm, nicht der Schritt zu einer normativ gehaltvollen Anerkennungstheorie gegangen werden. Allerdings legte Honneth bis heute keinen alternativen Ansatz vor, mit dem sich die wesentlichen Punkte der Anerkennungskonzeption so systematisch verknüpfen lassen, wie es seine Lesart der Sozialpsychologie Meads erlaubt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Honneth trotz der Feststellung, dass Meads Perspektivübernahme nicht mit Anerkennung gleichzusetzen ist, dessen Modell der Persönlichkeitsentwicklung auch weiterhin gelegentlich heranzieht, um sein Anerkennungskonzept auszuführen.43 Es wurde aber immer deutlicher, dass die Theorie Meads wesentlicher Ergänzungen bedurfte, um im Sinne einer Anerkennungstheorie gelesen werden zu können; diese fand Honneth zunehmend in der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie. Mit ihr umreißt Honneth einerseits, wie die Anerkennungsform der Liebe beschaffen ist; zugleich soll andererseits hierdurch die Prämisse der anthropologischen Anerkennungsbedürftigkeit eine wissenschaftliche Stütze erhalten. Nicht zuletzt sieht Honneth hier auch einen Ansatz, um die moralische Qualität und Dynamik der Anerkennungsbeziehungen theoretisch zu fundieren, nachdem er in diesen Punkten von Mead Abstand genommen hat. Der Psychoanalysebezug: Die Ursprünge der Anerkennung in der konstitutiven Abhängigkeit des Säuglings Mit Mead stellt Honneth den Prozess der Identitätsentwicklung erst ab dem Moment dar, in dem das Kleinkind zu sprechen beginnt. Da Honneth der Anerkennungstheorie einen fundamentaleren, ja anthropologischen Anspruch zugrunde legt, kann er es nicht bei der Darstellung des Rollenverhaltens und der Perspektivübernahme belassen, die mit dem Spracherwerb einsetzen. Honneth muss nachweisen, dass die menschliche Existenzweise von Geburt an intersubjektive Züge trägt, an die die Anerkennungsbeziehungen und die soziale Identitätsbildung anknüpfen können. Diesen Punkt hofft er mit Bezug auf die Säuglingsforschung, vor allem aber auf die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie klären zu können. Anders als die Theorie von Mead bildet die psychoanalytische Kleinkindforschung einen gleichsam robusteren Versuch, die Hegelschen Intentionen in aktuelle Theoriekontexte zu übersetzen. Entsprechend versucht Honneth, einige Kernpunkte seiner Mead-Interpretation später mit Rückgriff auf psychoanalytische Konzepte zu begründen.44 43 Vgl. A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 266. 44 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 314f; A. Honneth: »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität«, S. 154f.
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Der Ausgangspunkt von Honneths Psychoanalysebezug wird von einer Prämisse bestimmt, die den Einfluss der philosophischen Anthropologie verrät: Wie Arnold Gehlen geht Honneth davon aus, dass der menschliche Säugling als »Mängelwesen«45 zur Welt kommt und daher auf eine lang andauernde, intensive Pflege und Fürsorge seitens der primären Bezugspersonen angewiesen ist. 46 In aller Regel wird die Fürsorge in den ersten Monaten vorwiegend von der Mutter übernommen,47 wodurch sich ein intensives Zweierverhältnis herausbildet, das Honneth mit der Objektbeziehungstheorie als symbiotisch bezeichnet. Zugleich folgt er Daniel Stern in der Annahme, dass diese Beziehung von Anfang an schon durch ein Interaktionsverhalten strukturiert ist, aus dem sich mittels der affirmativen und fürsorglichen Bezugnahme der Mutter auf die Bedürfnisse des Kindes die Keimform eines Anerkennungsverhältnisses herausbildet.48 Damit kann Honneth nun sein Konzept der Identitätsentwicklung vervollständigen: »In Synthetisierung von Forschungsergebnissen, wie sie einerseits von der Objektbeziehungstheorie, andererseits von der amerikanischen Sozialpsychologie in der Nachfolge Meads zutage gefördert wurden, gehe ich davon aus, daß sich die Ich-Bildungen des Subjekts über Stufen der Internalisierung eines sozialen Reaktionsverhaltens vollzieht, das den Charakter der intersubjektiven Anerkennung besitzt: Das Kleinkind lernt dadurch, daß es schrittweise die zustimmenden, ermutigenden und bekräftigenden Haltungen seiner Interaktionspartner auf seine eigenen, noch unorganisierten Erlebnisvollzüge bezieht, einen inneren Persönlichkeitskern auszubilden, der gewissermaßen aus Schichten einer positiven Selbstbeziehung besteht.«49 45 Gehlen, Arnold: »Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt«, in: KarlSiegbert Rehberg (Hg.), Gesamtausgabe, Frankfurt a. M.: Klostermann 1993, S. 16. 46 In diesem Sinne interpretiert Honneth etwa auch Freud, vgl. A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 271. Zur Bedeutung des Punktes für die Psychoanalyserezeption vgl. Honneth, Axel: »Aneignung von Freiheit. Freuds Konzeption der individuellen Selbstbeziehung«, in: Axel Honneth (Hg.), Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 157-179, hier S. 168. Zum Stellenwert der philosophischen Anthropologie in Honneths Arbeiten vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 307f. 47 Das heißt in westlichen Gesellschaften. 48 Vgl. Honneth, Axel: »Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von Anerkennung«, in: Axel Honneth (Hg.), Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015, S. 10-27, hier S. 16ff; vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 155; vgl. Stern, Daniel N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart: Klett-Cotta 1992. 49 A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 265.
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Anerkennung bezeichne demnach nicht nur die reziproke Spiegelung der jeweiligen Persönlichkeitsmerkmale, wie in der Perspektivübernahme, sondern müsse darüber hinaus noch eine evaluative und affirmative Bezugnahme auf die andere Person mitumfassen. Darin erst unterscheide sich »Anerkennen« von »Erkennen« – für sich allein genommen ist Meads Erklärung der Perspektivübernahme näher an einem Erkenntnismodell.50 Erst über die Internalisierung der anerkennenden Zuwendung durch andere werde ein positives Selbstverhältnis möglich. Das affirmative Verhältnis zur eigenen Bedürfnisstruktur, das nun das Kleinkind – wie Honneth mit Bezug auf die Psychoanalyse herausstellt – in der familiären Interaktion gewinnt, bringt Honneth auf den Begriff des Selbstvertrauens, der in der Anerkennungsform der Liebe zentral ist.51 Die Mutter-Kind-Interaktion hat darüber hinaus in der Anerkennungstheorie noch einen weiteren systematischen Stellenwert. Die ursprüngliche symbiotische Beziehung steht nämlich vor einer strukturellen Herausforderung, die für alle weiteren Anerkennungsbeziehungen prägend sein wird: Der Zustand der Verschmolzenheit, der die Mutter-Kind-Dyade auszeichnet, muss soweit aufgebrochen werden, dass in der Zweierbeziehung Raum für die Eigenständigkeit des Kindes, wie auch der Mutter entsteht – ohne dass aber die Beziehung selbst zerstört wird. Die Symbiose muss daher einer Beziehungsstruktur Platz machen, die Honneth mit der Formel einer »Balance zwischen Selbstständigkeit und Bindung«52 umreißt. Erst dann kann überhaupt von Anerkennung gesprochen werden und die Dynamik der Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen einsetzen. Eingeleitet wird der Herauslösungsprozess aus der dyadischen Verschmolzenheit zunächst durch die körperliche und kognitive Entwicklung und der damit anwachsenden Selbstständigkeit des Kleinkindes wie auch durch die zunehmende Wiedereinbindung der Mutter in das soziale Umfeld. Mithilfe der Arbeiten von Donald Winnicott betont Honneth, dass die Ablösung auch in der Interaktion zwischen Mutter und Kind thematisch ist und in dieser verarbeitet werden muss. Das Ablösungsgeschehen äußert sich zunächst in den häufigeren Abwesenheitszeiten der Mutter, durch die das Kind auf frustrierende Weise ihre Unabhängigkeit erfährt.53 Nach Winnicott reagiert das Kleinkind diese Frustration in aggressivem Verhalten gegenüber der Mutter – dem »Objekt« – aus.54 So er50 Vgl. dazu A. Honneth: »Unsichtbarkeit«, S. 15; Honneth, Axel: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Um Kommentare von Judith Butler, Raymond Geuss und Jonathan Lear erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2015, S. 48. 51 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 211. 52 Ebd., S. 154. 53 Vgl. Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart: Klett 1973, S. 20f. 54 Vgl. ebd., S. 104ff.
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fährt auch die Mutter das Kind als Wesen mit divergierenden Bedürfnissen und Erwartungen. Der entscheidende Schritt zur Herausbildung eines Anerkennungsverhältnisses wird dann vollzogen, wenn die zutage tretende Differenz weder geleugnet wird, noch zu einem Abbruch der Beziehung führt, sondern sowohl vom Kind als auch von der Mutter akzeptiert und schrittweise in die Zweierbeziehung integriert wird.55 Erkennbar wird die Aggression des Kindes von Honneth analog zum Verbrechen in Hegels System der Sittlichkeit verstanden: Durch die Verletzung bestehender Beziehungsstrukturen wird ein Entwicklungsprozess in Gang gesetzt, durch den die Einseitigkeit des bisherigen Arrangements auf einer höheren und differenzierteren Stufe überwunden wird. Zur Kennzeichnung der gelungenen Ablösung und der reifen Form der Liebe, die in einem Gleichgewicht von Abhängigkeit und Selbstständigkeit bestehe, verwendet Honneth daher auch ein Hegelsches Wort, demzufolge Liebe das »Seinselbstsein in einem Fremden« sei.56 Das Besondere an der Theorie der Ablösung von Winnicott ist allerdings die Rolle, die bestimmte Objekte und Vorstellungen aus dem Erlebnishorizont des Kindes in der Ablösung von der Mutter spielen. Nach Winnicott bewältigt das Kind die Herauslösung aus der Symbiosebeziehung mithilfe von sogenannten Übergangsobjekten.57 Bei ihnen handelt es sich um affektiv aufgeladene Gegenstände aus dem von Mutter und Kind geteilten Lebensausschnitt – etwa um Spielzeug, Teile des Kinderbettes und dergleichen –, mit denen sich das Kind eine symbolhafte Vertretung der Mutter schafft. Die Übergangsobjekte signalisieren dem Kind in Abwesenheit der Mutter gleichsam ihre Präsenz; wichtiger ist aber noch, dass das Kleinkind mit ihnen nicht nur die abwesende Mutter kompensiert, sondern etwa in aggressiven Handlungen gegen die Objekte auch die Veränderungen im Verhältnis zur Mutter erprobt und verarbeitet. 58 Die Übergangsobjekte sind sozusagen Zwischenglieder, mit denen das Kind das Aufbrechen der Symbiose symbolisiert und diese zugleich ersatzhaft präsent hält. Damit sind die zwei systematischen Beiträge bezeichnet, die das Konzept der Übergangsobjekte zu Honneths Anerkennungstheorie leistet. Zum einen helfen die Übergangsobjekte dem Kind, sich die Zuneigung der Mutter auch in ihrer Abwesenheit lebendig zu halten. Im vertieften Spiel mit den affektiv aufgeladenen Gegenständen lernt es sozusagen, mit sich allein zu sein ohne sich verlassen 55 Vgl. ebd., S. 110. Mit der Herauslösung aus der Dyade öffnet sich der Raum für die Triangulierung der Sozialbeziehungen und damit setzt dann nach psychoanalytischem Verständnis die ödipale Dynamik ein. 56 A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 154. 57 Vgl. D. W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, S. 13. 58 Vgl. ebd., S. 110.
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zu fühlen.59 Honneth deutet dies als Ursprung des Selbstverhältnisses, das er als Selbstvertrauen bezeichnet, da sich das Kind hier der Anerkennung seiner Bedürftigkeit selbst dann sicher sein kann, wenn es keine akute Bestätigung erhält. Zugleich fußt dieses Vertrauen auf der Erwartung, dass die Zuneigung der Mutter tatsächlich dauerhaft ist und wieder an das liebevolle Verhältnis angeknüpft werden kann, wenn sie zurückkehrt. Das Selbstvertrauen, das das Kind im Alleinsein mit sich selbst demonstriert, kann sich also nur über die Erfahrung der Dauerhaftigkeit der Zuneigung entwickeln – ebenso erhält das Selbstvertrauen nur dann Stabilität, wenn es in Freundschafts- und Liebesbeziehungen wiederholt wird. »Insofern ist die ›Fähigkeit zum Alleinsein‹ der praktische Ausdruck einer Form der individuellen Selbstbeziehung, wie sie Erikson unter dem Titel des ›Selbstvertrauens‹ zusammengefaßt hat: das Kleinkind gelangt dadurch, daß es sich der mütterlichen Liebe sicher wird, zu einem Vertrauen in sich selber, das es ihm ermöglicht, sorglos mit sich allein zu sein.«60
Mit dem Hinweis darauf, dass das Selbstvertrauen auf der Erwartung die Wiederanknüpfung der symbiotischen Erfahrung beruht, ist der zweite systematische Anknüpfungspunkt bezeichnet. Wie auch Winnicott geht Honneth davon aus, dass die von Omnipotenzgefühlen geprägte Symbioseerfahrung vom Subjekt nie ganz vergessen wird und die Ablösung aus der frühkindlichen Dyade eine lebenslange Aufgabe darstellt.61 Hinter gelingenden Anerkennungsverhältnissen, die ja durch eine Balance und reziproken Bekräftigung von Selbstständigkeit und Abhängigkeit ausgezeichnet sein sollen, schwebt also stets der Schatten der symbiotischen Verschmelzungserfahrung. Anfänglich betont Honneth dabei mit Jessica Benjamin vor allem die pathologischen Folgen, die aus einem Durchbruch ebenjener narzisstischen Impulse in Liebesbeziehungen folgen. 62 Auch scheint das Streben nach symbiotischer Unmittelbarkeit etwa hinter regressiven Gemeinschaftskonzepten zu stehen.63 Neben den pathologischen Gefahren, die 59 Vgl. ebd., S. 38. 60 A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 168. 61 Eine identische Formulierung findet sich in A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 273 und A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 166. 62 Vgl. ebd., S. 170f; vgl. dazu Benjamin, Jessica: Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern 1990. 63 Vgl. A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 277; A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 315f.
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aus der misslingenden Auflösung der Mutter-Kind-Beziehung entstehen können, vermutet Honneth später in dem Bedürfnis zur Verschmelzung jedoch auch eine mögliche Erklärung für die Revolte gegen bestehende Anerkennungsverhältnisse. Ursprünglich hatte Honneth die subjektive Motivation zur Erweiterung sozialer Anerkennung mit der unvollständigen Wiedergabe des I durch das Me erklären wollen; nachdem er aber zu der Überzeugung gelangt war, dass Meads Konzeption die evaluativen und affektiven Aspekte der Anerkennungsbeziehungen nicht adäquat erfasst, erklärt er das Streben nach Selbstverwirklichung und die entsprechende Revolte gegen institutionelle Schranken mit dem Bedürfnis nach Wiederherstellung jener Verschmelzung. Hier wird allerdings das Bedürfnis in die progressiven Bahnen gelenkt, die zu einer sittlichen Gesellschaftsordnung hintreiben, in denen Individuum und Gesellschaft weitgehend versöhnt sind. Weniger utopisch gesprochen heißt das, dass der Ablösungsschmerz die Subjekte dazu bringt, in einem Kampf um Anerkennung die institutionell zugesicherten Anerkennungsverhältnisse zu intensivieren und zu extensivieren. Statt die reziproke und intersubjektive Basis menschlicher Sozialität zu gefährden, kann die ursprüngliche Symbioseerfahrung also auch das Motiv für weitergehende Vergesellschaftung bei gleichzeitiger Selbstverwirklichung abgeben.64 Und in gewisser Weise stehen die Übergangsobjekte als Versinnbildlichung der Wiederherstellung der Symbiose durch ein drittes – also durch Gesellschaft oder Kultur. Interessant ist hier, dass Honneth damit die eigentliche Triebfeder des Kampfes um Anerkennung hinter die sprachlichen Interaktionsformen zurückverlegt. Die grundlegende Erfahrung der Anerkennung ist demnach schon dort ausgebildet, wo Honneth sie einst mit Mead beginnen lassen wollte, nämlich in der sprachlich vermittelten Perspektivübernahme. Diese kann inzwischen nur noch als Differenzierung der ursprünglichen Anerkennungserfahrung gelesen werden.65 Honneth geht sogar so weit, basale Anerkennungserfahrungen als den primären Weltbezug noch vor jeglichem objektiven Erkennen der Welt darzustellen.66 Mit einem so tief angelegten Anerkennungskonzept entsteht allerdings die Gefahr, dass es für eine Gesellschaftskritik unbrauchbar wird, da es schlicht
64 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 315. 65 Das zeigt sich etwa auch daran, dass Honneth später Freundschafts- und Liebesbeziehungen ein normatives Entwicklungspotenzial zuspricht; sein ursprünglicher Entwurf sah in der Anerkennungsform der Liebe noch keine normative Struktur, sondern lediglich den Vorläufer für diese. Vgl. N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 170f. 66 Vgl. A. Honneth: »Unsichtbarkeit«, S. 27; A. Honneth: Verdinglichung, S. 171.
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zu anthropologisch und damit zu unspezifisch ist.67 Deutlich wird dies etwa in dem Versuch, das Verdinglichungskonzept von Lukács anerkennungstheoretisch zu fassen, bei dem allerdings die Pointe von Lukács’ Verdinglichungskritik verloren geht. Honneth versteht Verdinglichung als vollständige Anerkennungsvergessenheit und setzt sie so faktisch mit Entmenschlichung gleich. Seine anerkennungstheoretische Verdinglichungskritik ist somit nur auf inhumane Situationen wie Sklavenhaltung, Konzentrationslager, Kriegssituationen und dergleichen anwendbar.68 Auch wenn solche Extreme durchaus eine Folge von Verdinglichung sein können, wie schließlich auch von Adorno und Horkheimer behauptet, ist die Perspektive von Lukács deutlich breiter. Sie bezieht sich auf soziale Lebensformen, in der sich die menschlichen Beziehungen so darstellen, als ob sie Beziehungen von Dingen wären und nicht erst auf deren extreme Folgen. Hier gerät eine menschliche Sozialpraxis infolge von – wiederum gesellschaftlich vermittelten – Pathologien des Denkens und Erkennens, also der Vernunft, in Widerspruch zu Bedingungen eines guten Lebens. In Honneths Theorie kann es hingegen keinen derartigen Widerspruch in der Sozialpraxis geben, da der normative Maßstab zugleich auch die notwendige Bedingung jener Praxis bezeichnet: Ohne Anerkennung wäre schließlich keine soziale Lebensform mehr möglich.69 Störungen von Anerkennungsverhältnissen kann er folglich nur dort diagnostizieren, wo nicht zugleich elementare Formen der Vergesellschaftung betroffen sind: im Recht oder in der Wertschätzung. Zugleich deutet sich hier noch ein anderes fundamentales Problem von Honneths Theorieansatz an, das durch die Einführung der Missachtungserfahrungen nicht gelöst, allenfalls verdeckt wird: Nämlich, dass die normative Grundlage der Kritik zu anthropologisch ist, um konkrete Sozialpraktiken qualitativ angemessen zu erfassen und zu kritisieren. Bevor aber auf diese Problemlage zurückgekommen wird, werden im Folgenden die drei distinkten Weisen der Anerkennung rekonstruiert, die Honneth in der Moderne feststellt und die für die Erfahrung der Missachtung maßgeblich sind.
67 Das wirft etwa Nancy Fraser Honneth vor, vgl. N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 237. 68 Vgl. A. Honneth: Verdinglichung, S. 176ff. 69 Honneth versucht das Problem zu lösen, indem später von Paradoxien und nicht von Widersprüchen spricht, vgl. Honneth, Axel/Hartmann, Martin: »Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung. Ein Untersuchungsprogramm«, in: Axel Honneth (Hg.), Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 222-248.
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Die Asymmetrie zwischen Liebe, Recht und Solidarität Unter Rückgriff auf Mead und Winnicott klärt Honneth vor allem Aspekte seines Anerkennungskonzeptes, die auf der handlungs- und sozialisationstheoretischen Ebene angesiedelt sind. Dabei zeichneten sich hier schon die Umrisse des Anerkennungsverhältnisses der Liebe ab, das aus der Abhängigkeit des Kindes von Fürsorgepersonen und besonders der Mutter resultiert. Da der Fokus von Honneths Theoriebildung jedoch auf der Dynamik liegt, in der Anerkennungsforderungen gesellschaftliche Entwicklungsprozesse anstoßen, muss Honneth die Sozialisierung von Anerkennungserwartungen mit Bezug auf einen institutionellen Rahmen beschreiben, der historisch kontingent und veränderbar ist. Das trifft besonders auf die Anerkennungsformen des Rechts und der Wertschätzung zu, die nicht, wie die Liebe, auf einem basalen, quasi-anthropologischen Fundament der Sorge um Nachkommen aufbauen können – sie sind vollständig von der Form der gesellschaftlichen Institutionalisierung abhängig. Diese Differenz macht es notwendig zu klären, wie die historischen Formen rechtlicher und wertschätzender Anerkennung motivational verankert werden. Allerdings belässt es Honneth hier lediglich bei knappen Skizzen in der institutionellen Differenzierung der Anerkennungsweisen. Offen bleibt hingegen, wie die historisch gewachsenen Modi der Anerkennung im subjektiven Selbstverständnis motivational eingebunden sind. Ursprünglich schien Honneth noch näher an einer anthropologischen Fassung zu sein, nach der alle drei Anerkennungsformen in Anlehnung an Hegel bereits in der natürlichen Ausstattung der Menschen angelegt seien. 70 Damit ließe sich zwar die Frage nach der motivationalen Verankerung der rechtlichen und wertschätzenden Anerkennung beantworten. Das geschähe aber mit dem Preis, die Theorie auf die schwer zu begründende Annahme aufzubauen, dass etwa rechtliche Anerkennung bereits in den menschlichen Anlagen vorgebildet ist. Später stellte Honneth den historisch-kontingenten Charakter der Anerkennungsverhältnisse explizit heraus und erteilte damit einer anthropologischen Begründung der rechtlichen und wertschätzenden Anerkennung eine Absage: »Während die menschliche Lebensform im ganzen durch die Tatsache geprägt ist, daß Individuen nur durch wechselseitige Anerkennung zu sozialer Mitgliedschaft und damit zu
70 An dieser Stelle zeigt sich wieder der Einfluss der philosophischen Anthropologie, insbesondere Schelers, Plessners und Gehlens, vgl. dazu A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 151f, S. 311.
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einer positiven Selbstbeziehung gelangen, verändern sich deren Form und Gehalte mit dem Prozeß der Ausdifferenzierung von normativ geregelten Handlungssphären.«71
Aus sozialisationstheoretischer Perspektive heißt das, dass die Differenzierung der verschiedenen Weisen der Anerkennung durch die Teilhabe an sozialen Institutionen erlernt wird. Die bereits erwähnte Mutter-Kind-Beziehung, in der das Kind die grundlegende Struktur von Anerkennungsbeziehungen verinnerlicht, wird in der Moderne durch die Institution der Kernfamilie abgesichert. 72 Diese bildet für Honneth den institutionellen Ort, in dem die Anerkennungsform der Liebe klare Konturen erhält und das Subjekt ein basales Gefühl des Selbstvertrauens in sich entwickelt. Der Begriff des Selbstvertrauens wird von Honneth in einem sehr grundsätzlichen Sinne gebraucht und bedeutet ein Vertrauen darauf, in elementaren psychischen und leiblichen Bedürfnissen bestätigt zu werden. Obwohl das Gefühl des Selbstvertrauens genetisch in der Eltern-Kind-Interaktion herausgebildet wird, bleibt es für Honneth nicht darauf beschränkt. Die frühen Erfahrungen der liebevollen Zuwendung bilden auch das Rohmaterial – auch hier ist Honneth nah an der Psychoanalyse – für Liebesbeziehungen im Erwachsenenalter und sogar für Freundschaftsverhältnisse.73 In jeder der Beziehungsformen kommen dabei andere Aspekte dessen zum Tragen, was Honneth als eine Anerkennung der physischen und psychischen Bedürfnisnatur bezeichnet. Für alle diese Spielarten der Anerkennungsform der Liebe gilt, was bereits mit Winnicott hervorgehoben wurde: Anerkennung balanciert hier stets zwischen Abhängigkeit und Selbstständigkeit. Das Selbstvertrauen bilde dann die Grundlage, auf der die weiteren Anerkennungsweisen aufbauen; es geht, so Honneth, »jeder anderen Form der reziproken Anerkennung sowohl logisch als auch genetisch voraus«.74 Daher gilt in sehr viel allgemeinerer Weise dasselbe für die Anerkennungsformen des Rechts und der Wertschätzung, was schon für die Liebe galt: Beide erlauben in Abhängigkeit von der Anerkennung durch andere Subjekte ein positives Selbstverhältnis. Honneth fasst dies wie folgt zusammen:
71 Ebd., S. 310; vgl. auch N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 162f. 72 Vgl. ebd., S. 163f. 73 Honneth benutzt also den Begriff der Liebe in einem sehr weiten Sinne, der etwa auch im anglo-amerikanischen Sprachraum üblich ist. Vgl. dazu A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 153. 74 Ebd., S. 172.
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»In Intimbeziehungen, die Praktiken der wechselseitigen Zuwendung und Fürsorge umfassen, vermögen sie sich als Individuen mit einer jeweils eigenen Bedürftigkeit zu begreifen; in jenen Rechtsbeziehungen, die sich nach dem Muster der wechselseitigen Einräumung von gleichen Rechten (und Pflichten) entfalten, lernen sie, sich als Rechtspersonen zu verstehen, denen dieselbe Autonomie wie allen anderen Gesellschaftsmitgliedern zukommt; und in den weitmaschigen Sozialbeziehungen schließlich, in denen es unter Herrschaft des einseitig ausgelegten Leistungsprinzips zur Konkurrenz um beruflichen Status kommt, können sie sich im Prinzip als Subjekte begreifen lernen, die Fähigkeiten und Talente besitzen, die von Wert für die Gesellschaft sind.«75
Während aber die Anerkennungsform der Liebe aus persönlicher Zuneigung und Abhängigkeit hervorgeht, bauen Recht und auch Wertschätzung auf einer allgemeineren und formelleren Grundlage auf: auf den Normen und Werten, die in den sozialen Gemeinwesen geteilt werden. Die Anerkennungsweisen des Rechts und der Wertschätzung inkorporieren so eine Vorstellung eines generalisierten Anderen und setzen ein Verständnis dafür voraus, welche Personeneigenschaften Mitgliedern einer Gesellschaft legitimerweise – sprich: normvermittelt – zukommen können.76 Beide Anerkennungsweisen bringen dabei nun unterschiedliche Aspekte dessen zum Vorschein, was es heißt, als ein anerkanntes Mitglied eben jener Gemeinschaft zu gelten. Die rechtliche Anerkennung umfasst vorwiegend negative Freiheitsrechte, da sie vor allem festlegt, in welchen Eigenschaften Personen geschützt sein müssen, um eigenständig und uneingeschränkt an gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen und teilhaben zu können. Das dementsprechende Selbstverhältnis bezeichnet Honneth als Selbstachtung;77 es institutionalisiert sich historisch mit dem bürgerlichen Rechtsstaat 78 und hat seither vor allem über die Sozialgesetzgebung weitreichende interne Differenzierungen wie auch Erweiterungen erfahren, die für Honneth eine wesentliche Errungenschaft vielfältiger Anerkennungskämpfe darstellen.79 Die Wertschätzung oder Solidarität bezieht sich dagegen auf positive Werte und Normen, die die Eigenschaften und Leistungen bestimmen, über die Individuen als wertvolle Mitglie75 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 168. 76 Das Konzept des »generalisierten Anderen« ist dabei deutlich näher an der Anerkennungsform des Rechts, vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 175f; das Prinzip, dass Anerkennung über ein gesellschaftlich geteiltes Normensystem legitimiert ist, gilt nichtsdestoweniger auch für die Anerkennungsform der Wertschätzung. 77 Vgl. ebd., S. 192. 78 Vgl. ebd., S. 177; vgl. auch N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 165. 79 Vgl. ebd., S. 176f; A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 188f.
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der einer sozialen Gemeinschaft anerkannt werden. Historisch differenzierten sich diese Werte aus den in feudalen Gesellschaften vorherrschenden Ehr- oder Würdevorstellungen, die noch an feste Standesgruppen gebunden waren, heraus.80 Infolge der bürgerlichen Revolution individualisierte und demokratisierte sich die Statuszuweisung, sodass alle Gesellschaftsmitglieder – zumindest prinzipiell, die Wirklichkeit sieht bekanntlich oft anders aus – auf Basis der selben Werte soziale Wertschätzung erfahren können.81 Diese Werte gruppieren sich in modernen Gesellschaften weitgehend um eine meritokratisch gefasste Berufsrolle und institutionalisieren sich in den jeweiligen Einrichtungen des Arbeitsmarktes sowie der damit korrespondierenden sozialen Vorsorge und Absicherung.82 Obwohl Honneth davon ausgeht, dass alle drei Anerkennungssphären unverzichtbar sind, ist es erkennbar die Wertschätzung, die für subjektive Selbstverwirklichung besonders relevant ist.83 Erst über die wertschätzende Anerkennung finden die besonderen Eigenschaften eines Subjekts eine generalisierte Bestätigung, die die bloß negative Anerkennungsform des Rechts und die bloß partikulare, auf emotionaler Nähe basierende Anerkennung der subjektiven Besonderheit in der Liebesbeziehung nicht leisten können. Honneth schildert die Anerkennungsformen des Rechts und der Wertschätzung allerdings vor allem mit Blick auf gesellschaftliche Institutionen und ihre geschichtlichen Hintergründe. Den sozialisatorischen Vorgang, über den jene Anerkennungsbeziehungen Teil des Selbstverhältnisses werden, führt er dagegen nur andeutungsweise aus; Honneth rekonstruiert diesen im Detail nur für die Anerkennungsform der Liebe. Ab diesem Punkt erwartet Honneth die Klärung des Sachverhalts allein von dem Verweis auf Meads Sozialisationstheorie, der zufolge das Kind die normativen Erwartungen einer wachsenden Bezugsgruppe internalisiert.84 Die wenigen Hinweise, die Honneth in diese Richtung gibt, deuten auf die recht grobe Vorstellung hin, dass sich aus den primären Anerkennungsbeziehungen nach und nach weitere Aspekte differenzieren und die Anerkennungsbasis so immer allgemeiner wird:
80 Vgl. N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 165f. 81 Wichtig ist hier die lediglich prinzipielle Garantie, der de facto aber starke materielle Hindernisse entgegenstehen. Für Honneth ist daher die Egalisierung der unterschiedlichen Ausgangslagen in der Erreichung sozialer Wertschätzung ein treibendes, wenn auch unverwirklichtes Motiv für die Sozialgesetzgebung gewesen. 82 Vgl. ebd., S. 166. 83 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 207. 84 Vgl. A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 266.
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»Überhaupt sollte diese Unterscheidung von drei Stufen der positiven Selbstbeziehung – dem Selbstvertrauen, der Selbstachtung und des Selbstwertgefühls – nicht im starken Sinn einer ontogenetischen Sequenz verstanden werden; vielmehr haben wir gute Gründe für die Annahme, daß sich alle drei Formen der Selbstbeziehung noch ungeschieden schon in der Internalisierung des elterlichen Fürsorgeverhaltens entwickeln können und erst später, im Prozeß der allmählichen Differenzierung der Interaktionspartner, als gesonderte Aspekte im eigenen Erleben erfahren werden.«85
Die asymmetrische Zweiteilung in der Darstellung der Anerkennungsformen – Liebe wird in einem Sozialisationsprozess eingeführt, Recht und Solidarität hingegen mit Blick auf einen geschichtlichen Prozess – lässt jedoch im Unklaren, wie genau rechtliche und wertschätzende Anerkennung in dem »elterlichen Fürsorgeverhalten« enthalten sind und welche subjektiven Bedürfnisse sich an jene heften. Das gibt Honneths Theorie ein Problem auf, das sich vor allem in der Darstellung des Kampfes um Anerkennung zeigt. Honneth kann zwar die Liebesbedürftigkeit mit Verweis auf die Abhängigkeit des Kleinkindes plausibilisieren. Die motivationale Verankerung der rechtlichen und wertschätzenden Anerkennung ist allerdings nicht in dieser Weise einsichtig; und Honneth versäumt es, in der groben Zusammenfassung des Sozialisationsvorgangs als »Differenzierung« auszuführen, wie ein eigenständiges Interesse der Individuen an rechtlicher und wertschätzender Anerkennung entstehen kann, das nicht in irgendeiner Weise auf leibliche Unversehrtheit und Bedürftigkeit, die die Anerkennungsform der Liebe kennzeichnet,86 rückgebunden ist. Wie Honneth später selbst bemerkt, ist Meads Theorie zu kognitivistisch, um die emotionalen und affirmativen Anteile, die notwendig in Anerkennungsbeziehungen eine Rolle spielen, theoretisch zu berücksichtigen. Mit Mead kann daher lediglich geklärt werden, wie Individuen Rollenkompetenz und Anerkennungsverhalten erlernen, nicht aber, weswegen Individuen der rechtlichen und solidarischen Anerkennung auch bedürfen. Die Anerkennungserwartungen, die auf diese Weise internalisiert werden, sind damit lediglich konventionell und nehmen die Form einer Gewohnheit an. Plausibel wäre es daher davon auszugehen, dass ein Verstoß gegen die Selbstachtung von Subjekten zunächst eher ein Gefühl der Irritation, wie es Störungen von Routinen begleitet, hervorruft und erst durch die damit eröffnete Möglichkeit der Gefährdung der leiblichen und psychischen Unversehrtheit als bedrohlich empfunden wird. Honneth kann dagegen in seinen Ausführungen zu den 85 Ebd., S. 266f. Honneth führt den Sozialisationsprozess auf den folgenden Seiten weiter aus, stellt hier aber lediglich allgemeine Überlegungen an. 86 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 214f.
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Anerkennungsformen nur andeuten, weswegen dieser Verstoß für sich selbst schon als Beschädigung oder Missachtung erfahren wird.87 Auf welche Weise ein subjektiv-lebhaftes Bedürfnis nach und eine Erwartung von rechtlicher oder wertschätzender Anerkennung entsteht, bleibt also eher vage. Dass Honneth diesen Punkt weitgehend im Unklaren lässt und in den Ausführungen zu Recht und Wertschätzung unmerklich von der individuellen Sozialisationsebene auf die Gesellschaftsebene wechselt, spiegelt eine Ambivalenz in der normativen Basis seiner Theorie wider: Empirische Verletzungserfahrungen stehen darin in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Grundintention, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt zu erklären. Wie im Hinblick auf Honneths Theorie des sozialen Wandels deutlich wird, ist es weniger die konstitutive Abhängigkeit und Verletzlichkeit der menschlichen Lebensform, sondern die in der Konzeption des Fortschritts aufgehobene Dialektik von Vergesellschaftung und Selbstverwirklichung, die das normative Fundament seiner Theorie bildet.
5.2 DER HISTORISCHE KAMPF UM ANERKENNUNG: MISSACHTUNGSERFAHRUNGEN UND DIE VERWIRKLICHUNG DER SITTLICHKEIT Das Konzept der Missachtungserfahrungen spielt auf den ersten Blick eine entscheidende Rolle für den gesellschaftstheoretischen Erklärungsanspruch, den Honneth mit seiner Anerkennungstheorie vertritt: Mit ihnen soll verständlich gemacht werden, was die motivationale Triebkraft von sozialem und gesellschaftlichem Fortschritt ist. Damit möchte Honneth nicht zuletzt das Hegelsche Programm einer immanenten, an den bereits verwirklichten Formen der Sittlichkeit anknüpfenden Gesellschaftskritik aus seinem metaphysischen Korsett herausholen und auf die sozialen Kämpfe der Moderne übertragen. 88 Wie auch schon Hegel versteht Honneth normativen Wandel als einen Prozess, der durch eine »Negation« der bestehenden Anerkennungsformen in Gang gesetzt wird. An der Stelle der Akte des »Verbrechens« wird diese Negation bei Honneth
87 Es scheint meines Erachtens eher so zu sein, dass mangelnde rechtliche und wertschätzende Anerkennung Subjekte anfälliger für physischen und psychischen Missbrauch macht, aber sozialstrukturelle Missachtung selbst noch keine tiefgreifenden Verletzungs- und Leidenserfahrungen hervorbringt. Fehlender Rechtsschutz macht angreifbar, ebenso fehlende Wertschätzung oder mangelnder Status, und wird dadurch erst als problematisch wahrgenommen. 88 Vgl. ebd., S. 11f.
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durch die Verletzung von Anerkennungserwartungen bestimmt – durch Missachtung.89 Es sind nach Honneth jene Gefühle des Unrechts und des Ausschlusses, die in sozialen Auseinandersetzungen einerseits die subjektive Motivation des Protestes angeben sollen, andererseits und zugleich aber auch die normative Substanz der darauf einsetzenden Aushandlungsprozesse ausmachen. Konkret sind es vor allem Fragen der rechtlichen und wertschätzenden Anerkennung, die in den normativen Diskursen der Moderne verhandelt werden.90 Schon im Hinblick auf die Sozialisation der rechtlichen und wertschätzenden Anerkennungserwartungen kamen Zweifel auf, ob die angebotene Erklärung tatsächlich plausibel machen kann, weswegen Menschen Missachtung als Beschädigung erfahren. Dass dieser Punkt im Unklaren bleibt, liegt – so kann vermutet werden – daran, dass Honneth primär gesellschaftliche Fortschrittsprozesse und nicht Missachtungserfahrungen in den Blick nehmen möchte. Aber auch hier bestehen Zweifel, ob Missachtungserfahrungen, so wie Honneth sie versteht, tatsächlich die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllen können – nämlich zu erklären, was sozialen Fortschritt antreibt. Bei genauerer Betrachtung konkurriert diese Erklärungsfigur für Fortschrittsprozesse in Honneths Theorie mit einer zweiten, die noch deutlicher an Hegel erinnert. Dieser zufolge drängen Anerkennungsverhältnisse schon deswegen nach ihrer steten Ausweitung hin, da sie immer zu beschränkt sind, um alle Aspekte der subjektiven Persönlichkeit zu erfassen. Hier resultiert also die normative Dynamik der Ausweitung von Anerkennungsverhältnissen aus den Limitierungen, die der reziproke Modus von Anerkennung notwendig jeder subjektiven Selbstverwirklichung auferlegt, unabhängig davon, ob ein Akt der Missachtung stattfindet. Schließlich, so behauptet Honneth mit Hegel, könne ein Aspekt der eigenen Individualität nur dann ein positiver Teil der Persönlichkeit werden, wenn er auf die anerkennende Resonanz anderer Subjekte stößt. Ausbleibende Resonanz auf besondere und innovative Lebens- oder Identitätsentwürfe würde hier die Motivation bilden, für erweiterte Anerkennungsverhältnisse zu kämpfen. Allerdings ist ausbleibende Resonanz auf innovative Identitätsentwürfe nicht mit Missachtung gleichzusetzen. 91 Zwar schließen 89 Wiewohl Hegel unverkennbar als Vorbild dient, übersetzt Honneth dessen Idee eines Fortschritts durch Negation und Aufhebung vorhergehender Stufen der Anerkennung eher frei. 90 Vgl. A. Honneth: »Die soziale Dynamik von Mißachtung«, S. 99. 91 Zur Schwierigkeit sämtliche soziale Belastungs- oder Entfremdungserfahrungen als Missachtungen zu deuten, vgl. auch Rosa, Hartmut: »Von der stabilen Position zur dynamischen Performanz. Beschleunigung und Anerkennung in der Spätmoderne«, in: Rainer Forst/Michael Hartmann/Rahel Jaeggi et al. (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, S. 655-671.
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sich die beiden Erklärungen nicht aus; aber sie sind nichtsdestoweniger auf einer anderen Ebene angesiedelt: Über Missachtungserfahrungen möchte sich Honneth phänomenologisch der Motivationsquellen sozialer Bewegungen nähern, die für gleiche gesellschaftliche Anerkennung kämpfen. Die Schlussfolgerung, dass historisch eine Tendenz zu innovativer Differenzierung der Anerkennungsverhältnisse vorliegt, zieht Honneth allerdings eher aus der hegelianischen Prämisse, dass Individualisierung und Selbstverwirklichung nur mittels Vergesellschaftung vollzogen wird. Da Honneth nicht nur erklären möchte, was sozial benachteiligte Gruppen dazu bringt, für gleiche Rechte zu kämpfen, sondern auch eine gesellschaftliche Fortschrittstheorie begründen möchte, kommt dem zweiten Erklärungsansatz Priorität in seiner Theorie zu. Das erklärt auch die sozialisationstheoretische Unklarheit hinsichtlich der rechtlichen und wertschätzenden Anerkennung. Nicht nur können Kämpfe um gleiche Anerkennung in Honneths Theorie keine eigentlich neuen Anerkennungsmuster hervorbringen; Honneth ist an ihnen außerdem nur insoweit interessiert, wie sie sich in das Narrativ zunehmender gesellschaftlicher Anerkennung einfügen lassen. Ihm geht es, wenn er sich auf politische Forderungen sozialer Bewegungen bezieht, daher lediglich um die Forderungen, die »ihrerseits nicht nur das Resultat zufälliger Konfliktlagen, sondern Ausdruck von unabgegoltenen Ansprüchen der menschlichen Gattung sind.«92 Hier machen sich die ungeklärten Reste der hegelianischen Systemphilosophie deutlich bemerkbar. Soziale Leidenserfahrungen spielen daher nur eine untergeordnete Rolle. Um diese These zu begründen, wird im Folgenden das Konzept der Missachtung skizziert und aufgezeigt, dass der so angestrebte Versuch, normative Fortschritte über Verletzungserfahrungen zu plausibilisieren, wesentliche konzeptuelle Mängel hat. Diese Unklarheiten sind aber nicht einer zufälligen Unachtsamkeit geschuldet, sondern dem systematischen Theorierahmen, der sich vor allem in Honneths Fortschrittstheorie nachvollziehen lässt. Darin haben sich die idealistischen Überreste der linkshegelianischen Tradition am deutlichsten erhalten, nach der die Menschheitsgeschichte als eine noch unabgeschlossene und konflikthafte Verwirklichung eines gattungsspezifischen Sittlichkeitspotenzials zu verstehen ist.
92 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 280.
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Die beschränkte normative Dynamik der Missachtung Die Konzeption von Missachtungserfahrungen hat in Honneths Theorie also einen eigenartigen Status. Die moralische Verletzung und Empörung, die Subjekte artikulieren, wenn sie soziales Unrecht erfahren, sollen belegen, dass der Anerkennungsbegriff auch die normativen Intuitionen der konkret handelnden Subjekte trifft: »jene Unrechtsempfindungen, die mit strukturellen Formen der Mißachtung einhergehen, stellen eine vorwissenschaftliche Tatsache dar, an der eine Kritik der Anerkennungsverhältnisse ihre eigene theoretische Perspektive sozial ausweisen kann.«93 Indem sie diese Alltagserfahrungen integriert, soll die Anerkennungstheorie auch in der Lage sein, die normative Struktur von geschichtlichen Kämpfen um soziale Teilhabe – ihre »Grammatik« – theoretisch zu reflektieren und ausgehend hiervon einen prinzipiellen Verlauf gesellschaftlichen Fortschritts zu skizzieren. Nach diesem Modell entzünden sich stets aufs Neue an der kollektiven Artikulation von Missachtungserfahrungen soziale Kämpfe um eine Ausweitung der institutionellen Basis von Anerkennung. Nun bestehen aber Zweifel, ob das Missachtungskonzept tatsächlich derart zwanglos mit einer Theorie gesellschaftlichen Fortschritts verbunden werden kann. Erste Schwierigkeiten zeigen sich schon in der Beschreibung der Verletzungserfahrungen, die Honneth mit dem Missachtungsbegriff fassen möchte. Da Anerkennung in Honneths Theorie die Rolle einer konstitutiven Voraussetzung für Sozialinteraktion und subjektiver Identität spielt, liegt es nahe anzunehmen, dass Anerkennungsbeziehungen in aller Regel einen lediglich impliziten Gehalt von Sozialinteraktion darstellen und von Subjekten meist intuitiv und unbewusst gehandhabt werden. Der Moment, in dem Anerkennungsfragen in das Bewusstsein der Subjekte eintreten, findet sich daher erst dann, wenn Anerkennungsbeziehungen gestört werden oder nicht im erwarteten Sinne zustande kommen. Das Gefühl, in der persönlichen Integrität verletzt worden zu sein, das nach Honneth oft in Scham und Wut zum Ausdruck kommt, zeigt den Subjekten an, dass sie auf die Anerkennung durch andere gerechnet haben, darin aber enttäuscht wurden.94 Die Enttäuschung der Anerkennungserwartungen bedeute zugleich eine Erschütterung und Beschädigung des Selbstverhältnisses; 95 und Honneth unterscheidet mit der Vergewaltigung, der Entrechtung und der Entwürdigung – den drei Klassen der Anerkennung entsprechend – auch drei Grundformen der Missachtung.96 Das Ausbleiben erwarteter Anerkennung kann 93 A. Honneth: »Die soziale Dynamik von Mißachtung«, S. 100. 94 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 219f. 95 Vgl. A. Honneth: »Zwischen Aristoteles und Kant«, S. 181. 96 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 211.
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nun, wenn sich die Erwartung als ungerechtfertigt herausstellt, der Ausgangspunkt sein, das jeweilige Selbstbild zu korrigieren oder aber, wenn die Anerkennungserwartung gerechtfertigt ist, Anlass dazu geben die ausbleibende Anerkennung kommunikativ einzufordern. Honneth ist offensichtlich besonders an der zweiten Option interessiert: Im Leiden an sozialer Missachtung soll ein kritisches Bewusstsein für die rechtmäßigen Formen der Anerkennung entstehen und sich in politischen Bewegungen artikulieren. 97 So geht Honneth davon aus, dass wiederholte und von vielen Menschen geteilte Missachtungserfahrungen die Motivation für den kollektiven Zusammenschluss und den Kampf um Anerkennung für die jeweilige Personengruppe bilden können. Dadurch werden die jeweiligen Anerkennungsformen entweder ausgeweitet oder intern differenziert, sodass mehr Menschen ein Recht auf Anerkennung institutionell geltend machen können.98 So wie Honneth den Fall der Missachtung konzipiert, entzündet sich die normative Dynamik also dann, wenn gegen eine sozialisatorisch erworbene und implizit wirksame Anerkennungserwartung verstoßen wird. Honneth umschreibt daher Missachtungserfahrungen oft auch als Entzug oder Wegfall von Anerkennung.99 Menschen werden folglich erst dann in einem anerkennungstheoretischen Sinne verletzbar, wenn sie durch wiederholte Teilhabe an gelingenden Anerkennungsbeziehungen entsprechende Erwartungen in ihr Selbstverhältnis integriert haben. Daher unterscheidet sich Missachtung auch von Unglück oder Unfällen; denn nur, wenn eine Forderung nach Anerkennung gewohnheitsmäßig für gerechtfertigt gehalten wird, kann ihr Ausbleiben als Unrecht wahrgenommen werden.100 Wenn Honneth von Missachtung spricht, dann meint er damit lediglich den ungerechtfertigten Entzug von zuvor geleisteter sozialer Anerkennung: »[D]as Individuum lernt, sich als ein sowohl vollwertiges als auch besonderes Mitglied der sozialen Gemeinschaft zu begreifen, indem es sich schrittweise anhand der befürwortenden Reaktionsmuster seiner generalisierten Interaktionspartner der spezifischen Fähigkeiten und Bedürfnisse versichert, die es als Persönlichkeit konstituieren. Insofern ist jedes menschliche Subjekt elementar auf einen Kontext an sozialen Verkehrsformen angewiesen, die durch normative Prinzipien der wechselseitigen Anerkennung geregelt sind; und der Wegfall solcher Anerkennungsbeziehungen hat Erfahrungen der Mißachtung oder 97
Vgl. ebd., S. 260.
98
Vgl. ebd., S. 270f.
99
Vgl. N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 205; vgl. ebenso A. Honneth: »Zwischen Aristoteles und Kant«, S. 181.
100 Ebd., S. 180.
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Demütigung zur Folge, die nicht ohne schädliche Konsequenzen für die Identitätsbildung des einzelnen Individuums sein können.«101
Damit ist Missachtung aber nur als Ausnahmefall in sonst gewohnheitsmäßig gelingenden Anerkennungsbeziehungen plausibel, da die betroffenen Subjekte sonst überhaupt kein Sensorium für die jeweiligen Unrechtserfahrungen ausbilden könnten – subjektive Verletzungen müssten ihnen dann als Unglück und nicht als Unrecht erscheinen. Die moralische Kränkung wäre nach Honneths Theorie als Regelfall subjektiv nicht intelligibel; etwas, das gewohnheitsmäßig nicht vorhanden ist, kann auch nicht wegfallen oder entzogen werden. Mit dem Missachtungskonzept kann daher nur erklärt werden, wie sich die subjektive Motivation herausbildet, ein einmal etabliertes Anerkennungsniveau zu verteidigen, aber nicht, wie historisch neue und innovative Anerkennungsweisen, und damit: Identitätsmöglichkeiten, erkämpft werden.102 Soziale Kämpfe, die sich an Missachtungserfahrungen entzünden, hätten damit keinen progressiven, sondern lediglich einen konservativen Charakter. Überhaupt lässt sich fragen, weswegen Minderheiten, die bisher systematisch von bestimmten Anerkennungsverhältnissen ausgeschlossen waren, diesen Ausschluss als Missachtung erfahren. Denn streng genommen könnten diese Gruppen keine entsprechende Erwartungshaltung ausbilden und in ihr logischerweise auch nicht enttäuscht werden. Mithilfe der negativen Beweisführung über einen Entzug von Anerkennung kann Honneth also nur einen Ausschnitt des anvisierten Programmes begründen.103 Mit ihr allein ist ein wesentliches Erklärungsziel von Honneths Theorie, »daß es nämlich ein Kampf um Anerkennung ist, der als moralische Kraft innerhalb der sozialen Lebenswirklichkeit des Menschen für Entwicklungen und Fortschritte sorgt«,104 nicht zu leisten, da die Darlegung der Missachtungserfahrungen lediglich die Einklage eines gewohnheitsmäßigen Anerkennungsniveaus erklärt. Außerdem bleibt für die Anerkennungssphären des Rechts und der Wertschätzung unklar, weswegen deren Missachtung subjektiv als Leiden und Be101 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 205. 102 Das scheint Honneth stellenweise selbst zu sehen, vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 272. 103 Honneths Ausführungen sind überdies konzeptioneller Art und es bleibt ausgehend von diesen noch unklar, ob die Unrechtserfahrungen, die den Ausgang für soziale Bewegungen bilden, in der Weise zu erklären sind. Honneth bezieht sich hier auf Untersuchungen von Barrington Moore und Edward P. Thompson, um seinen Punkt zu bestärken, gesteht aber auch zu, dass weitere empirische Forschung nötig wäre, vgl. N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 154f. 104 A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 227.
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schädigung wahrgenommen wird. Dass Honneth diese Punkte nicht systematisch klärt, lässt darauf schließen, dass die hegelsche Anerkennungskonzeption von ihm nur zum Teil aktualisiert wurde. Missachtungserfahrungen mögen zwar die These des Kampfes um Anerkennung plausibilisieren, aber sie sind nur bedingt in der Lage, das von Hegel inspirierte Fortschrittsprogramm zu tragen. Daher sind Honneths Überlegungen zur Missachtung hauptsächlich dann einsichtsreich, wenn er Anerkennung nicht als systematisches Fortschrittsmotiv, sondern als ein moralphilosophisches Konzept verhandelt, das in sozialen Interaktionen zur Geltung kommt – Missachtungserfahrungen ließen sich damit moralpsychologisch als Verstöße gegen etablierte Normen des zwischenmenschlichen Umgangs lesen und auch entsprechend zwanglos mit den Überlegungen Meads zum Erlernen von normativen Verhaltenserwartungen zusammenbringen.105 Auch Honneths Überlegungen zur Rolle von narzisstischen Allmachtsgefühlen, die für seine spätere Psychoanalyserezeption bedeutsam sind, fügen sich hier gut ein.106 Insofern kann Anerkennung als Pflicht verstanden werden, die egozentrischen Bestrebungen einzuschränken, um konkrete Andere in ihrem Selbstvertrauen, ihrer Selbstachtung und in ihrem Selbstwertgefühl nicht zu verletzen. Honneth formuliert das sogar explizit als moralisches Postulat: »Aller negativen Bestimmungen entkleidet lautet die entsprechende Formulierung dann, daß die Moral den Inbegriff der Einstellungen darstellt, die wir wechselseitig einzunehmen verpflichtet sind, um gemeinsam die Bedingungen unserer persönlichen Identität zu sichern.«107 Damit ist Anerkennung, wie Honneth mit Blick auf Hegel formuliert, »die wechselseitige Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen.«108 Das an Missachtungserfahrungen gewonnene Anerkennungskonzept erlaubt auf diese Weise eine phänomenologische Ergründung sozialer Unrechtserfahrungen und gibt seinen moralphilosophischen Überlegungen eine psychologische Tiefe.109 Um aber soziale 105 Vgl. ebd., S. 123f. 106 Vgl. ebd., S. 315. 107 A. Honneth: »Zwischen Aristoteles und Kant«, S. 185. 108 Honneth, Axel: »Von der Begierde zur Anerkennung. Hegels Begründung von Selbstbewußtsein«, in: Axel Honneth (Hg.), Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 15-32, hier S. 32. 109 Interessant ist in dem Zusammenhang, dass Honneth, indem er Anerkennung so die Bedeutung der Selbsteinschränkung gibt, den intersubjektiven Anspruch seiner Theorie abschwächt. Anerkennung nimmt hier die Gestalt einer wechselseitigen Verpflichtung an, die egozentrische Akteure gegenseitig von sich erwarten dürfen. So formuliert hätte sie lediglich den Status eines negativen Freiheitsrechts, ohne dass Honneth aber explizit von rechtlicher Anerkennung spricht. Dabei geht die Bedeu-
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Leidenserfahrungen systematisch zu erschließen oder gar ausgehend hiervon eine Skizze gesellschaftlichen Fortschritt zu entwerfen, ist das Missachtungskonzept in der Form ungeeignet. Das systematische Fortschrittsmotiv: Selbstverwirklichung durch Sozialintegration Honneth vertritt nichtsdestoweniger die volle These, dass Fortschritt über einen Kampf um Anerkennung angestoßen wird. Um dies zu plausibilisieren, vertraut Honneth nicht allein auf die negative und fragile Beweisführung, die in Leidenserfahrungen die indirekte Bestätigung für die Notwendigkeit von sozialer Anerkennung vermutet. Er formuliert zugleich ein positives, anthropologisches Kriterium, das eine gelingende Lebensführung auszeichne: nämlich, dass Selbstverwirklichung nur mittels Vergesellschaftung durch Anerkennung möglich sei.110 Dieses Prinzip übernimmt Honneth, wie gesehen wurde, von Hegel; und ebenso wie für Hegel spielt es für Honneth eine entscheidende Rolle in der Entwicklung gesellschaftlicher Lebenszusammenhänge, da die auftretenden Störungen im Anerkennungsverhalten eine Einsicht in die Beschränkungen des bestehenden Anerkennungsniveaus stiften und so ein Stimulus zur Ausweitung derselben bilden können. Es wurde bereits angesprochen, dass Honneth hierbei allerdings eher unterstellt als begründet, dass Leidens- und Verletzungserfahrungen stets auf ein höheres Anerkennungsniveau verweisen. Störungen in Anerkennungsverhältnissen sind für ihn vor allem dann relevant, wenn sie als Hindernisse oder Anreize eines Strebens nach Selbstverwirklichung gelten können. Diese Unterstellung ließ sich allein mit Verweis auf Missachtungs- oder Verletzungserfahrungen nicht plausi-
tung verloren, die die wechselseitige Anerkennung bei Hegel noch besitzt, nämlich dass die Anerkennung einer anderen Person auch für die anerkennende Person ein größeres Maß an Selbstverwirklichung ermöglicht. Denn die Anerkennung, die ich von einem Menschen erhalte, den oder die ich selbst nicht anerkenne, ist wertlos. Daher ist Anerkennung im vollen Sinne nur als reziproker Prozess unter (formal) Gleichen denkbar. Vgl. die Interpretation der Herr-Knecht-Dialektik von Kojève, Alexandre: Hegel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 36. 110 In einer als Nachwort zu seiner Arbeit Kampf um Anerkennung veröffentlichten Stellungnahme zu Kritiken unterscheidet Honneth deutlicher zwischen den zwei Erklärungen des Kampfes um Anerkennung, löst ihr Verhältnis – insbesondere hinsichtlich der systematischen Beiträge zu seiner Theorie – allerdings nicht auf. Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 316, S. 340.
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bilisieren; verständlich wird sie erst, wenn die Dialektik von Selbstverwirklichung und Vergesellschaftung als anthropologisches Grundprinzip hinzugenommen wird. Honneth ist dann in der Lage, den Kampf um Anerkennung auch ganz ohne Bezug auf Missachtungserfahrungen zu umreißen: »Eine erklärungsrelevante These ergibt sich aus dieser allgemeinen Prämisse [Anerkennung als Konstitutionsbedingung sozialer Identität und Interaktionen, F.S.] freilich erst dadurch, daß in sie ein Element der Dynamik einbezogen wird: jener im sozialen Lebensprozeß verankerte Imperativ wirkt als ein normativer Zwang, der die Individuen zur schrittweisen Entschränkung des Gehaltes der wechselseitigen Anerkennung nötigt, weil sie nur dadurch den stets nachwachsenden Ansprüchen ihrer Subjektivität gesellschaftlich Ausdruck zu verleihen vermögen. Insofern ist der gattungsgeschichtliche Prozeß der Individuierung an die Voraussetzung einer gleichzeitigen Erweiterung der Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung gebunden. Zum Baustein einer Gesellschaftstheorie kann die damit umrissene Entwicklungshypothese jedoch nur in dem Maße werden, in dem sie auf Vorgänge innerhalb der sozialen Lebenspraxis systematisch rückbezogen wird: es sind die moralisch motivierten Kämpfe sozialer Gruppen, ihr kollektiver Versuch, erweiterten Formen der reziproken Anerkennung institutionell und kulturell zur Durchsetzung zu verhelfen, wodurch die normativ gerichtete Veränderung von Gesellschaft praktisch vonstattengeht.«111
Statt Missachtung ist es hier das Streben nach der je eigenen und unverwechselbaren sozialen Identität, das den Kampf um Anerkennung antreibt und nach und nach zu feingliedrigerer und weiter gefasster Institutionalisierung von Anerkennungsweisen führen soll. Missachtungserfahrungen können diese Entwicklung nicht erklären, da sie, so wie Honneth sie versteht, lediglich als eine konservative Verteidigung von einmal etablierten Anerkennungsniveaus plausibel sind. Dass Honneth dieses Problem aber übergeht, lässt vermuten, dass das Konzept der Missachtung theorieintern eine ganz andere Aufgabe erfüllt: Es soll nachträglich die Absicherung jener »Entwicklungshypothese« in der sozialen Wirklichkeit leisten, die Honneth schon der hegelschen Philosophie entnimmt. Diese Hypothese bezeichnet die Entwicklung hin auf die Verwirklichung eines Sittlichkeitsverhältnisses, in dem Selbstverwirklichung und Sozialintegration in zwangloser Anerkennung verschränkt sind. Dieses Telos bildet das eigentliche Motiv von Honneths Theorie des sozialen Fortschritts: »Die Bedeutung, die den partikularen Kämpfen darin [in dem geschichtlichen Bildungsprozess, F.S.] jeweils zukommt, bemißt sich demnach an dem positiven oder negativen 111 Ebd., S. 148f.
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Beitrag, den sie in der Realisierung von unverzerrten Formen der Anerkennung haben übernehmen können. Ein solcher Maßstab ist freilich nicht unabhängig von einem hypothetischen Vorgriff auf einen kommunikativen Zustand zu gewinnen, in dem die intersubjektiven Bedingungen personaler Integrität als erfüllt erscheinen.«112
Obwohl sich Honneth darum bemüht, soziale Verletzungs- und Missachtungserfahrungen in sein Theoriemodell zu integrieren und diesem so einen Rückhalt in der sozialen Wirklichkeit verleihen möchte, entfalten jene hier aber keine normative Eigendynamik. Sie haben nur dann eine Relevanz, sofern sie als Instanzen im historischen Verwirklichungsgeschehen gelesen werden können. Um genauer zu erklären, auf welche Weise sich Anerkennungsformen institutionell ausdifferenzieren, greift Honneth auf ein Konzept zurück, das er als »Geltungsüberhang«113 bezeichnet. Damit ist gemeint, dass die Anerkennungsprinzipien grundsätzlich weiter gefasst sind, als die jeweilige gesellschaftliche Anerkennungspraxis faktisch einlöst. Rechtliche Gleichheit, um ein Beispiel zu nennen, mag zwar als Prinzip in der Moderne allgemein anerkannt sein; in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist sie dennoch nicht vollständig verwirklicht. Auf diese Spannung konnte sich schließlich die Schwulenbewegung, die Frauenbewegung oder die schwarze Bürgerrechtsbewegung berufen, um ihre Forderung nach Gleichstellung zu begründen. Das Konzept des Geltungsüberhanges bezieht sich jedoch nicht nur auf die ungleiche und diskriminierende Anwendung sozialer Normen, denn damit würde – wie beschrieben – nur bestehendes Niveau in der Instituierung von Anerkennung verteidigt oder verallgemeinert werden. Darüber hinaus soll es auch die Grenzen, die die bestehenden Anerkennungsverhältnisse der subjektiven Selbstverwirklichung und Sozialintegration für alle auferlegen, erweitern. In den Anerkennungsverhältnissen selbst stecke also schon ein transzendierendes Moment. Die Pluralisierung von Lebensstilen, durch die sich Subjekten vermehrte Möglichkeiten einer individualisierten Lebensführung bieten, bei gleichzeitig gestiegenen Chancen der sozialen Teilhabe und der politischen Mitbestimmung,114 sieht Honneth als Indiz dafür, dass sich die westliche Modernisierung auf diese Weise stets selbsttranszendiere. Die soeben angesprochene Gleichstellung ist daher nur ein Element in einer sich selbst überbietenden Dynamik der Ausweitung von Selbstverwirklichung: »Dabei gehe ich für moderne Gesellschaften von der Prämisse aus, daß das Worumwillen der sozialen Gleichheit die Ermöglichung der persönlichen Identitätsbildung für alle Ge112 Ebd., S. 273. 113 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 220. 114 Vgl. ebd., S. 298f.
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sellschaftsmitglieder zu sein hat; für mich ist diese Formulierung gleichbedeutend mit der Aussage, daß es die Ermöglichung von individueller Selbstverwirklichung ist, die das eigentliche Ziel der Gleichbehandlung aller Subjekte in unseren Gesellschaften ausmacht.«115
Instruktiv ist hier besonders Honneths Lesart der sozialphilosophischen und soziologischen Theoriegeschichte, in der die problematischen Formen der Individualisierung und Vergesellschaftung als prägendes Thema hervorgehoben werden.116 Nicht zuletzt vermutet Honneth in desintegrativen Individualisierungsprozessen zudem eine pathologische Entwicklung in spätkapitalistischen Gesellschaften.117 Diese Überlegungen zu einer normativen Lesart der Moderne und ihrer Pathologien kommen nämlich ohne systematischen Bezug auf Leidens- und Missachtungserfahrungen aus. Honneths normative Geschichtstheorie übernimmt damit deutlich einige apriorische Züge der hegelschen Systemphilosophie. Honneth schließt mitunter direkt von dem anthropologischen Prinzip, nämlich dass Individuierung nur über Vergesellschaftung möglich sei, auf einen hypothetischen Zielpunkt der Gesellschaftsentwicklung, den er mit Bezug auf Hegel als demokratische oder formale Sittlichkeit bezeichnet.118 »Insofern besitzt auch die Anerkennungstheorie, insofern sie nun als eine teleologische Konzeption sozialer Gerechtigkeit verstanden wird, nur den Status eines hypothetisch generalisierten Entwurfs des guten Lebens: darin wird unter Verwendung konvergierender Wissensbestände festgehalten, welcher Formen der wechselseitigen Anerkennung die Subjekte heute bedürfen, um ihre Identität möglichst intakt entwickeln zu können.«119
Zwar betont Honneth stets, dass die normative Zielrichtung seiner Geschichtstheorie lediglich hypothetisch und formal sei, nicht den Inhalt von Selbstverwirklichung festlege, sondern allein die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen umreiße.120 Doch entwickelt er die normative Stoßrichtung seiner Theorie nicht
115 Ebd., S. 209f. 116 Vgl. A. Honneth: »Pathologien des Sozialen«, S. 58ff. 117 Vgl. A. Honneth: »Organisierte Selbstverwirklichung«, S. 217f; A. Honneth/M. Hartmann: »Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung«, hier S. 235. 118 Vgl. dazu auch A. Honneth: Das Recht der Freiheit. 119 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 213. 120 »Formal ist diese ethische Hintergrundkonzeption in dem Sinn, daß nur die sozialen Voraussetzungen der menschlichen Selbstverwirklichung, nicht aber deren Ziele
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aus einer Analyse von sozialen Leidenserfahrungen und noch nicht einmal aus sozialen Anerkennungskämpfen, sondern aus der anhand des frühen Hegels gewonnen theoretischen Prämisse, dass subjektive Freiheit und Selbstverwirklichung nur mittels intersubjektiver Kooperation erreichbar sind. Ob damit nun Honneths Theorie als Ganze näher an dem Alltagsbewusstsein sozialer Akteur*innen ist, als Habermas’ Idee einer zwanglosen Prozedur der Konsensfindung, ist damit zweifelhaft.
5.3 LEIDEN UND DIE VERWIRKLICHUNG DER SITTLICHKEIT? Der Abriss der Anerkennungstheorie machte deutlich, dass Honneths theoretische Vorstellung von sozialem Leiden eher ungeeignet ist, um konkrete Leidenszustände, psychische Pathologien oder Ähnliches hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Gehalts zu dechiffrieren. Was Leiden ist, ergibt sich hier vor dem Hintergrund des sozialontologischen Prinzips, das mit dem Anerkennungsbegriff bezeichnet ist und in dem Selbstverwirklichung und Sozialintegration verschränkt sind. Gegen diese hier entwickelte These kann eingewendet werden, dass Honneths Aussage, soziale Unrechtserfahrungen zu »entschlüsseln«121 nur solche Erfahrungen meint, die von Subjekten als Unrecht wahrgenommen werden und es ihm gar nicht um eine generelle Klärung von sozialen Leidensphänomene geht. Die Beispiele, die Honneth aus der Forschung und aus der Literatur vorbringt, um seinen Standpunkt zu untermauern, deuten ebenfalls in die Richtung: Sie beziehen sich hauptsächlich auf Fälle, in denen Missachtungserfahrungen von Einzelpersonen oder sozialen Bewegungen bereits mit impliziten oder expliziten Anerkennungsforderungen verbunden sind. Die sozialen Leidenserfahrungen, die hier thematisiert werden, stehen im klaren Bezug zu Fragen, die mit sozialer und politischer Teilhabe und Anerkennung zu tun haben. Obwohl diese Annahme plausibel scheint, widerspricht ihr die breite Anlage von Honneths Theorie, wie auch sein eigener Sprachgebrauch: »Soziales Leid und Unbehagen besitzen, wenn das Adjektiv des ›Sozialen‹ mehr besagen soll, als daß sie bloß in der Gesellschaft vorzukommen pflegen, einen normativen Kern: Es handelt sich um die Enttäuschungen oder Verletzungen von normativen Erwartungen,
selber normativ herausgehoben werden sollen.« (A. Honneth: »Pathologien des Sozialen«, S. 58). 121 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 157.
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die an die Gesellschaften zu richten von den Betroffenen als gerechtfertigt betrachtet wird; mithin decken sich solche Empfindungen des Leidens oder Unbehagens, insoweit sie als ›sozial‹ bezeichnet werden, mit der Erfahrung, daß von seiten der Gesellschaft etwas Unrechtes, etwas nicht zu Rechtfertigendes vollzogen wird.«122
Honneth scheint daher tatsächlich ein breites Spektrum von sozial verursachten Leiderfahrungen mit dem Missachtungsbegriff fassen zu wollen – wie etwa Verdinglichung,123 aber auch beispielsweise Vergewaltigung. 124 Die leidhafte Qualität von Missachtungserfahrungen ergibt sich für Honneth daraus, dass dabei universellen Bedingungen der menschlichen Vergesellschaftung gestört werden. So führt Honneth in diesem Zusammenhang etwa an, dass psychische Symptome soziale Ursachen haben können,125 führt diese aber ebenfalls auf Störungen in der Sozialisation von Anerkennung zurück. 126 Der Bezug auf Leiderfahrungen erfolgt daher stets über vergesellschaftungstheoretische Überlegungen. Psychoanalyse wird dementsprechend in Gestalt der Objektbeziehungstheorie als Theorie der Vergesellschaftung rezipiert, die einige der Hegelschen Grundintentionen klären und aufzeigen soll, dass die normativen Prinzipien der Geschichtsentwicklung auch mit Prinzipien der Subjektkonstitution übereinstimmen. Zeugnisse von Betroffenen, Einschätzungen von Psychoanalytiker*innen wie auch empirische Untersuchungen werden daher nur angeführt, um nachträglich die empirische Triftigkeit jener Grundthesen zu erweisen. Der Schlüssel, den Honneth anbietet, um die normative Qualität von Leidenserfahrungen aufzuschließen, schließt diese also eher an eine normative Geschichtstheorie an. Der Eigensinn von Leiderfahrungen bleibt hingegen unklar.
122 Ebd., S. 152. 123 Vgl. A. Honneth: Verdinglichung. 124 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 218. 125 Vgl. ebd., S. 219; vgl. auch A. Honneth: »Zwischen Aristoteles und Kant«, S. 181 oder A. Honneth: »Organisierte Selbstverwirklichung«, S. 218ff. 126 Hier beruft sich Honneth vor allem auf Jessica Benjamins Rückführung der geschlechtsspezifischen Herrschaft auf gestörte Ablösungsprozesse (vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung, S. 171; J. Benjamin: Die Fesseln der Liebe, S. 76f). Mit Winnicott und Loewald deutet Honneth aber auch darauf hin, dass die Gefahr zur Verschmelzung pathologische Folgen haben könne (vgl. A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 277) – zugleich betont er aber auch in Anlehnung an Durkheim den gemeinschaftsbildenden und stabilisierenden Effekt der Verschmelzungserfahrungen (vgl. A. Honneth: »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität«, S. 159; A. Honneth: »Das Ich im Wir«, S. 279).
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An Honneths Theorie wird – wie schon bei Marcuse – deutlich, dass das Problem der so verfahrenden Gesellschaftskritik nicht darauf zurückgeht, dass ein ethisches Konzept des guten Lebens fehlt, wie Honneth Habermas vorwirft. Das Problem geht darauf zurück, dass das Konzept des guten Lebens lediglich aus den theoretischen Vorannahmen deduziert wird und daher der Blick für soziale Leiderfahrungen in deskriptiver, explanativer und auch normativer Hinsicht so weit präjudiziert wird, dass diese in ihrer Eigendynamik nicht wahrgenommen werden können. Insofern kann bezweifelt werden, dass Honneth wirklich über die die Idee eines objektiven Interesses hinausgekommen ist, wie er behauptet: »[D]enn ohne eine kategoriale Erschließung der normativen Gesichtspunkte, unter denen die Subjekte selber die gesellschaftliche Ordnung bewerten, bleibt der Theorie jene Dimension sozialen Unbehagens vollkommen versperrt, auf die sie sich gleichzeitig doch immer wieder soll berufen können. Weder die Idee des zurechenbaren Interesses, die aus marxistischen Quellen stammt, noch die theorielose Bindung an permanent ›neue‹ Sozialbewegungen helfen hier in irgendeiner Weise weiter; vielmehr bedarf es an dieser Stelle […] der Umstellung der Grundbegriffe auf die normativen Prämissen einer Anerkennungstheorie, die im Entzug von sozialer Anerkennung, in Phänomenen der Demütigung und der Mißachtung, den Kern aller Unrechtserfahrungen ausmacht.«127
Der normative Maßstab für gesellschaftlichen Fortschritt und soziale Pathologien ist infolge der anthropologischen Herleitung nicht darauf angewiesen, die empirischen Interessen der Betroffenen einzuholen. Das ermöglicht es Honneth, die mit Hegel formulierte intersubjektive Anlage der menschlichen Lebensweise, der zufolge das subjektive Selbstverhältnis nur über die kooperativen und unterstützenden Reaktionen der Mitmenschen möglich ist, zu einer teleologischen Verwirklichungstheorie zuzuspitzen. Soziale wie auch subjektive Pathologien werden dabei als Abweichung von dem durch die anthropologischen Prämissen vorgezeichneten Programm verstanden. »Insofern«, verdeutlicht Honneth, »stellt eine ethische Vorstellung von gesellschaftlicher Normalität, die auf die Ermöglichungsbedingung von Selbstverwirklichung zugeschnitten ist, den Maßstab dar, an dem soziale Pathologien gemessen werden.«128 Eine pathologische Störung liegt für Honneth auch in der Spätmoderne vor: Die sich historischen Fortschritten verdankenden Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung werden im neoliberalen Kapitalismus zunehmend als Produktivkraft in Beschlag genommen, wodurch das Band zur Sozialintegration, das jener Selbstverwirklichung erst subjektiven Sinn verleiht, durchtrennt wird. Der Preis sind Desintegrationser127 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 158. 128 A. Honneth: »Pathologien des Sozialen«, S. 58.
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scheinungen, die sich etwa an der Zunahme von Erschöpfungssymptomen oder gar Depressionen bemerkbar machen – interessanterweise spielt Missachtung hier aber keine Rolle mehr.129 Die Orientierung auf den frühen Hegel, mit der Honneth Gesellschaftsentwicklung nicht mehr als Rationalisierungsgang konzipiert, sondern als zunehmende Ermöglichung eines selbstbestimmten aber zugleich auch solidarischen Soziallebens, verhindert nicht, dass Honneth die alltäglichen sozialen Konflikte entgleiten, obwohl seine Theorie auch explizit mit dem Anspruch antritt eben jene zu erfassen. Im Gegenteil: Der starke Einfluss Hegels in der Konstruktion der Theorie führt dazu, dass Honneth die Kernelemente von sozialen Leiderfahrungen schon geklärt hat, bevor er den Blick auf sie richtet. Die erwähnten Sozialpathologien sowie die sozialen Kämpfe sind damit lediglich Schrittmacher in der Entfaltung der schon im Anerkennungsbegriff vorgezeichneten Sittlichkeitskonzeption. Die Ignoranz gegenüber der Eigendynamik sozialer und psychischer Konflikte wurde nicht nur vonseiten der Psychoanalyse kritisiert – die Orientierung auf ein formales Sittlichkeitsmodell als Telos der Gesellschaftsentwicklung scheint generell zu übermäßig idealisierten Beschreibungen von sozialen Kämpfen zu führen.130 Besonders deutlich werden die harmonistischen Untertöne des Anerkennungskonzepts in Honneths späteren Arbeiten, in denen er das utopische Sittlichkeitskonzept der Rechtsphilosophie Hegels aufgreift. Soziale Leidenserfahrungen sind darin lediglich die Auslöser für eine Korrektur der Anerkennungsverhältnisse und gesteigerter Sozialintegration – sie bleiben damit sowohl in ihrer ursächlichen wie normativen Struktur weiterhin undeutlich.
129 Vgl. A. Honneth/M. Hartmann: »Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung« oder A. Honneth: »Organisierte Selbstverwirklichung«. 130 Vgl. Celikates, Robin: »Nicht versöhnt. Wo bleibt der Kampf im ›Kampf um Anerkennung‹?«, in: Georg W. Bertram/Robin Celikates/Christophe Laudou et al. (Hg.), Socialité et reconnaissance, Paris: L’Harmattan 2007, S. 213-228; vgl. auch Whitebook, Joel: »Wechselseitige Anerkennung und die Arbeit des Negativen«, in: Psyche 55 (2001), S. 755-789.
Schluss
In einer seiner letzten Arbeiten, die auf Deutsch als das Elend der Welt erschienen ist, drückt Pierre Bourdieu einen Gedankengang aus, der mit dem hier verfolgten verwandt ist: »[I]ndem man die große Not zum ausschließlichen Maß aller Formen der Not erhebt, versagt man sich, einen ganzen Teil der Leiden wahrzunehmen und zu verstehen, die für eine soziale Ordnung charakteristisch sind, die gewiß die große Not zurückgedrängt hat […], im Zuge ihrer Ausdifferenzierung aber auch vermehrt soziale Räume […] und damit Bedingungen geschaffen hat, die eine beispiellose Entwicklung aller Formen kleiner Nöte begünstigt haben.«1
Auch wenn Bourdieus Lösung des Problems nicht als exemplarisch hingestellt werden soll, so ist seine Einsicht bemerkenswert, dass das Leiden der Menschen nicht primär mit Blick auf die soziale Makrostruktur verständlich wird, sondern erst im Kontext der mikrosozialen Räume, in denen die Menschen ihr alltägliches Leben zubringen. Wenn die knappe Rede von einem Leiden an Gesellschaft zulässig ist, dann konzentrierte sich die Arbeit der Frankfurter Schule vorwiegend darauf zu klären, was eine Gesellschaft auszeichnet, die systematisch Leid hervorbringt. Über die – nicht gering zu bewertende – Beschäftigung mit der »großen Not« wurden allerdings die »kleinen Nöte« vernachlässigt, die die Erscheinung jenes Leidens schließlich bestimmen. Obwohl die Frankfurter Schule erkennbar dem Muster einer immanenten Kritik folgt und stets auch Bezüge auf aktuelle Leiderfahrungen der Subjekte vornahm, setzt sie nicht bei den Erfahrungen der Verletzung, des Missbehagens oder der Irritation an. Der eigentliche Ansatzpunkt der immanenten Gesellschaftskritik ist, wie ich zu zeigen beabsichtigte, nicht das Leiden der Menschen, sondern eine Rekonstruktion der normati-
1
Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK 2002, S. 19, Herv. i. O.
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ven Potenziale und der Stand ihrer geschichtlichen Verwirklichung – eine geschichtsphilosophische Verwirklichungsfigur. Und das selbst noch bei Axel Honneth, der gerade dieses Defizit beheben wollte. Ob das alltäglich empfundene Leiden der Menschen tatsächlich eines an der diagnostizierten Gesellschaftspathologie ist, kann so nicht begründet werden. In gewisser Weise verbleiben die Ansätze der Frankfurter Schule damit auf einer begrifflichen Ebene; sie klären vorwiegend, was Leiden an Gesellschaft als Begriff ausmacht. Die begriffliche Konstruktion selbst ist wiederum – wie erwähnt – durch geschichtsphilosophische Annahmen geprägt und damit sehr nah an die gesellschaftsdiagnostischen Überlegungen angebunden. Daraus ergibt sich in der Beantwortung der eingangs erwähnten Fragen 2 eine deduktive Gangart, die konkrete Sachverhalte – das Leiden – aus allgemeinen Annahmen – Gesellschafts- und Geschichtstheorie – ableitet. Welche sozialen Dynamiken sorgen dafür, dass Menschen an ihren Lebensverhältnissen leiden und welche Form nimmt das Leiden an (a)? Welche dieser leidhaften sozialen Dynamiken lassen sich wiederum mit gesellschaftlichen Strukturmerkmalen erklären und so verallgemeinern (b)? Und welche normativen Forderungen werden durch diese Leiderfahrungen und durch die Zunahme bestimmter Diagnosen implizit gestellt (c)? Die geschichtsphilosophisch geprägte, begriffliche Zugangsweise klärt zunächst die Fragen über die relevante normative Struktur der menschlichen Lebensform (Punkt c) und wie diese im Rahmen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Institutionensystems Berücksichtigung findet (Punkt b). Erst danach erfolgt – wenn überhaupt – die Hinwendung zu konkreten Phänomenen des Leidens an Gesellschaft und zu Störungen, die hierdurch hervorgerufen sein mögen (Punkt a). Zwar betonen etwa Habermas und Honneth wiederholt die Offenheit ihrer Theorie für empirische Erforschung. Doch blieben solche Untersuchungen nicht nur weitgehend aus; sie würden zudem Gefahr laufen, in Leiderfahrungen lediglich die theoretischen Vorentscheidungen hinein zu projizieren. Die deskriptiven und normativen Aussagen der Theorien, die mit der Frankfurter Schule assoziiert sind, verbleiben so auf einer begrifflichen und gesellschaftstheoretischen Ebene und können daher Leiderfahrungen, die immer kontextspezifisch sind, nicht adäquat erfassen. Das, was von Menschen als Verletzung, Zurücksetzung oder als Entfremdung erfahren wird, ist von etwa biografisch bedingten Erwartungen geprägt und kaum von diesen abtrennbar. Selbst wenn es zuträfe, dass alle normativ relevanten Leiderfahrung in irgendeiner Weise etwa mit dem Anerkennungsbegriff umschrieben werden können, wäre damit weder etwas über die soziale Dynamik der Erfahrung selbst gesagt, noch darüber, ob gesellschaftliche Pathologien der Anerkennung auch subjektiv als Anerkennungsstörungen erfahren 2
Siehe Einleitungskapitel.
Schluss | 249
werden. Der Anerkennungsbegriff suggeriert lediglich, dass die normativen Grundannahmen von Honneths Theorie in konkreter Sozialinteraktion eine Rolle spielen. Deskriptiv liegt die Priorität hier aber – wie in der gesamten Kritischen Theorie – klar auf einer theoretischen Beschreibung der hierfür bedeutsamen Gesellschaftsstruktur und der historischen Wandlungsprozesse, in die jene eingebettet ist. Normativ orientiert sich die Kritische Theorie an anthropologischen Interessen, und darauf, wie diese schließlich in jene Wandlungsprozesse eingehen. Die anfangs vorgeschlagene Differenzierung zwischen kontextsensiblen und kontexttranszendierenden Aspekten in der Beschreibung und normativen Beurteilung von Leiderfahrungen wird daher durch theoretische Anlage systematisch unterlaufen. Und das, obwohl das ursprüngliche Forschungsprojekt mit der Aufgabe antrat, eben jene Doppelstruktur zu berücksichtigen und sich besonders durch das Werk Adornos eine anhaltende Sorge um das Besondere, Einzelne und Nichtidentische zieht. Damit ist nicht gesagt, dass die gesellschaftstheoretischen und -kritischen Überlegungen der Frankfurter Schule per se ihr Ziel verfehlen. Denn Honneth kann, um bei dem Beispiel zu bleiben, durchaus plausibel darstellen, dass Anerkennung als ein wesentlicher normativer Gesichtspunkt in das moderne Institutionensystem eingegangen ist – ähnliches könnte auch für Habermas und in modifizierter Form für Marcuse und Adorno gesagt werden. Allerdings sind Erwägungen, die das gesellschaftliche Institutionensystem betreffen nicht geeignet, um die normativen Gehalte sozialer Interaktion systematisch zu erfassen und zu erklären. Die normative Struktur von Sozialinteraktion – und damit: von Leiderfahrungen – muss von der normativen Struktur der Gesellschaftsordnung analytisch unterschieden werden, auch wenn beide in einem gewissen Kontinuum stehen. Aus welchen Gründen sich bestimmte Verletzungserfahrungen nicht sinnhaft in die Lebenspraxis der Betroffenen integrieren lassen, muss, in anderen Worten, vor dem Hintergrund der normativen Strukturen ihrer Lebenswelt rekonstruiert werden – und kann nicht aus einer Geschichts- oder Gesellschaftstheorie abgeleitet werden. Da in der Frankfurter Schule diese Differenzierung nicht hinreichend vorgenommen wird, muss das Leiden der Menschen eines an der verzerrten und deformierten Verwirklichung eines anthropologischen Prinzips sein; es ist somit das Leiden an der gesellschaftlichen Abweichung von einem universellen, aber historisch gebrochenen Vernunft- oder Normstandard. Psychoanalyse spielte im Rahmen dieser theoretischen Argumentation stets die Rolle einer allgemeinen Vergesellschaftungstheorie, mit der sich beschreiben ließ, wie die menschliche Bedürfnisstruktur im Zuge des Aufwachsens in einer defizitären Gesellschaft gestört wird. Dieses Vorgehen ist darauf festgelegt, im Einzelfall das zu finden, was es bereits im Allgemeinen behauptet hat.
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All das spricht dafür, dass eine sozialwissenschaftliche Betrachtung sozialer Leidensphänomene die kontextübergreifende Beschreibungsebene ergänzen und so mit der geschichtsphilosophischen Hintergrundargumentation brechen muss, um eine adäquate Einordnung der Phänomene zu ermöglichen. Bevor diese methodologischen Überlegungen weitergeführt werden, sollen aber abschließend noch einmal die Ergebnisse der Arbeit in Form einer Rezeptionslinie der Psychoanalyse zusammengefasst werden. Die Rezeptionslinie der Psychoanalyse: Vergesellschaftungstheorie im Rahmen geschichtlichen Verwirklichungsdenkens In der Arbeit ließ sich nachzeichnen, dass sich die Dominanz kontexttranszendierender Überlegungen und das hiermit assoziierte linkshegelianische Verwirklichungsmotiv durch sämtliche Theoriegenerationen der Frankfurter Schule ziehen und Psychoanalyse daher vor allem als Vergesellschaftungstheorie rezipiert wurde. Anfangs war das Motiv noch marxistisch beeinflusst: Die gesellschaftliche Pathologie wurde wesentlich als Klassenherrschaft beschrieben, die das normative Potenzial der menschlichen Lebensform – nämlich ein Leben ohne natürlichen oder gesellschaftlichen Zwang – nur teilweise verwirklichte. Die materielle und psychische Not des Proletariats wurde darin einerseits als Beleg für die defizitäre Struktur der Gesellschaft, andererseits aber auch als Beleg für die normative Triftigkeit der Kritik verstanden. Mithilfe der psychoanalytischen Theorie sollte der Vergesellschaftungsprozess als ideologische Anpassung beschrieben, aber – auch wenn das nicht durchgeführt werden konnte – hinsichtlich revolutionärer Anteile untersucht werden. Aufgrund der Dominanz des historischen Materialismus konnten die sozialpsychologischen Arbeiten aber lediglich Anpassung feststellen – für die Eigendynamik mikrosozialer Prozesse und damit auch für die normativen Aspekte etwa von Leiderfahrungen, war daher in der Forschungsarbeit kein Platz. Die damaligen politischen Ereignisse verstärkten diesen Eindruck und es schien so, dass in der sozialen Wirklichkeit tatsächlich keine normativen Potenziale mehr auffindbar waren, an denen eine kritische Gesellschaftstheorie hätte ansetzen können. Da die Defizite der Theorie allerdings als Defizite der sozialen Wirklichkeit verhandelt wurden, konnte der theoretische Ansatz nicht adäquat verändert und offener für die mitunter mikroskopischen Formen von Leiden und Widerständigkeit gestaltet werden. Die folgenden Theoriestadien hielten an dem verwirklichungstheoretischen Motiv fest und wiederholen dieses Problem schlichtweg – wenn auch mit anderen theoretischen Mitteln.
Schluss | 251
So blieben Adorno und Marcuse der Beschreibung zunächst weiterhin treu. Auch sie gingen noch davon aus, dass die wesentliche Pathologie in partikularen und ökonomisch getragenen Herrschaftsverhältnissen lag. Sie nahmen allerdings den Punkt, dass sich mit dem Ansatz weder das tatsächliche Leiden der Menschen noch die normativen Aspekte desselben erfassen ließen – kurz: dass ihre Theorie keinen Ankerpunkt in der sozialen Wirklichkeit hatte – in die Pathologiediagnose auf. Leiden sei aufgrund der Totalisierung der Herrschaft kaum noch bewusstseinsfähig und daher sei der Kritik der gesellschaftliche Boden entzogen. Die Radikalisierung der Gesellschaftsdiagnose resultiert damit zum Teil aus den methodologischen Schwächen des ursprünglichen theoretischen Rahmens. Die grundsätzliche Fassung der normativen Grundlagen wurde jedoch beibehalten, musste aber, da das pathologische Leiden als solches schließlich infolge der totalen Integration nicht mehr bewusstseinsfähig war, tiefer gelegt werden. Marcuse bestimmte die normative Basis seiner Kritik noch nah an der ursprünglichen Konzeption als Entfaltung der menschlichen Glücksmöglichkeiten, sah diese nun aber in den unterirdisch wirkenden Lebens- und Sexualtrieben verkörpert. Adorno, hier weniger ontologisch, sprach lediglich von einem mimetischen, nichtbeherrschenden Verhältnis zur Natur. Klar war jedoch sowohl für Adorno als auch für Marcuse, dass die normativen Aspekte durch die soziale Pathologie systematisch und umfassend in ihrer Verwirklichung eingeschränkt werden. Und Psychoanalyse kam in dem Rahmen die Aufgabe zu, die pathologischen Auswirkungen im Vergesellschaftungsprozess, die Verinnerlichung des gesellschaftlichen Zwangs, zu erklären. Da Marcuse und Adorno davon ausgingen, dass das diffuse Unbehagen, die Entfremdung und Kargheit des Alltagslebens aufgrund der totalen Sozialintegration nur für wenige Individuen als Leiden an Gesellschaft intelligibel war, hatte die Normativitätskonzeption eine hintergründige, mitunter auch schlichtweg metaphysische Gestalt. Aber auch sie mussten voraussetzen, dass Menschen an den Verhältnissen leiden und sahen im kulturindustriell unkenntlich gewordenen Leiden der Menschen eine Bestätigung ihrer deskriptiven Aussagen und normativen Thesen, ohne dies jedoch systematisch nachweisen zu können. Die prekäre Situation der Theorie, die in der sozialen Wirklichkeit kaum noch eine Nische sah, in der sich ein kritisches Bewusstsein ausbilden und an dem sie anknüpfen konnte, versuchte Habermas mit einer intersubjektiven Reformulierung der Grundbegriffe zu überwinden. Allerdings nahm die verwirklichungstheoretische Figur weiterhin einen zentralen Stellenwert in der Bestimmung der normativen Grundlagen ein. Sie wurde nun jedoch in den Begriffen einer intersubjektiven Kommunikationstheorie gefasst; später konzipiert Honneth diese auch als intersubjektive Anerkennungstheorie. Habermas geht davon
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aus, dass die für eine kritische Gesellschaftstheorie relevante normative Orientierung in der Notwendigkeit zwangloser Verständigung liegt. Diese werde aber durch eine Gleichgewichtsstörung in der gesellschaftlichen Institutionalisierung untergraben. Und das bringe letztlich soziale Leidenserfahrungen hervor. Auch in der reifen Theorie des kommunikativen Handelns soll Psychoanalyse Leiden als gestörte sprachliche Vergesellschaftung plausibel machen. Zuvor trat Psychoanalyse sogar noch expliziter als Vergesellschaftungstheorie auf: Habermas empfahl sie als Methode einer Sozialwissenschaft, die herrschafts- und ideologiekritisch Hindernisse in der Entfaltung rationaler Verständigungsverhältnisse herausstellen sollte. Leiden wird auch hier als Beleg für die Beschreibung, aber auch für die normativen Grundannahmen der Pathologiediagnose konzipiert. Honneth geht dabei kaum anders vor. Zwar versucht er die Ebene sozialer Leiderfahrungen direkt einzuholen, indem er die normativen Vorannahmen mit dem Anerkennungsbegriff wieder stärker ethisch bestimmt. Aber da er Anerkennung ebenfalls lediglich als allgemeines sozialontologisches Prinzip fasst und soziale Pathologien vorwiegend auf der makrosozialen Ebene formuliert werden, bleibt er den konkreten Leiderfahrungen weiterhin fremd. Leiden wird wieder lediglich als Bestätigung der kontextübergreifenden Thesen über die Natur der menschlichen Lebensform und Struktur des Institutionensystems verstanden. Und Psychoanalyse soll hierin wieder einmal verständlich machen, wie in der Vergesellschaftung der Subjekte die Grundlagen für jene Erfahrungen der Verletzung gelegt werden. Das Problem des interdisziplinären Projekts, nämlich dass es normativ nur ungenügend an die soziale Wirklichkeit angebunden war und überdies nur einen eingeschränkten Bereich sozialen Handelns verständlich machen konnte, wurde auf den verschiedenen Theoriestufen so nicht nachhaltig gelöst. Überhaupt scheint hier eine bestimmte Perspektive auf soziales Handeln prävalent zu sein; besonders in den ersten Jahrzehnten des Instituts für Sozialforschung wurde vorwiegend nur das Sozialhandeln als normativ relevant erachtet, das eine gewisse transzendierende Tendenz und zugleich das Potenzial besitzt, auf gesellschaftlicher Ebene strukturbildend zu wirken. In dem Handlungsbegriff scheint, hier zeigt sich wieder der Einfluss des historischen Materialismus, das Bild der revolutionären Praxis auf. Allerdings vernachlässigt ein so gefasstes Konzept des sozialen Handelns nicht nur die vielfältigen normativen Aspekte der Alltagsinteraktion, die keinen eindeutigen Bezug zum Projekt einer besseren Gesellschaft haben (aber haben könnten); auch ist so nicht nur der Begriff des Leidens einseitig an das Ausbleiben oder die Unmöglichkeit einer verändernden Praxis gebunden. Sobald sich die Perspektive historischen Fortschritts verdunkelt, muss außerdem der Eindruck entstehen, dass normative Erwägungen und gar das Leiden
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selbst aus dem Alltag vollkommen verschwunden seien – dabei ist es zunächst und überwiegend jener progressive Sinn, der verloren ging. Marcuses Versuch, die normative Basis der Kritik über eine triebontologische Basis wieder einzuholen, Adornos Methode über Konstellationen den zur zweiten Natur gewordenen Gesellschaftszusammenhang brüchig werden zu lassen, Habermas’ intersubjektive Reformulierung der handlungstheoretischen Grundbegriffe und letztlich Honneths Bemühen, durch Betonung der ethischen Komponenten des intersubjektiven Ansatzes an die Motivationsstruktur sozialer Bewegungen anzuknüpfen, konnten die Probleme nicht beheben, weil der Blick auf normative Aspekte des Handelns und Leidens stets durch die geschichtsphilosophische Normgrundlage vorbestimmt war. Daraus kommen nur solche Aspekte in den Blick, die in einer Linie mit der Entwicklungs- oder Fortschrittstheorie stehen. Möglicherweise sind es aber gerade solche Formen des Leidens und Handelns, die, verfangen im Dickicht alltäglicher Sorgen und Nöte, keinen eindeutigen Bezug zu jener Fortschrittstheorie haben, deren Erkenntnis für sie relevant ist. Abschließende Überlegungen Die Ursachen der Leiderfahrungen werden also zum einen allein auf der Ebene einer Gesellschaftstheorie beschrieben – nämlich als eine defizitäre Sozialstruktur. Die normativen Grundlagen der Theorie bestehen zum Zweiten in der Rekonstruktion einer anthropologischen Bedürfnisstruktur oder eines sozialontologischen Normprinzips. In der Frankfurter Schule werden diese allgemeinen Erklärungsebenen in typischer Weise durch ein linkshegelianisch geprägtes Verwirklichungsmotiv verbunden, das die Gesellschaftstheorie und die Normkonzeption in einer Fortschrittstheorie verschaltet. Psychoanalyse kann als Vergesellschaftungstheorie hier nur klären, wie sich die sozialanthropologie Grundlage der Theorie subjektiv unter den spezifischen historischen Möglichkeiten verwirklicht. Da jedoch Menschen nie an der Gesellschaft als solcher Leiden, sondern immer nur im Rahmen konkreter sozialer Interaktionen Leiderfahrungen machen, muss eine Untersuchung sozialer Leidensphänomene an den sozialen Interaktionen anknüpfen und darin die gesellschaftlichen Ursachen systematisch rekonstruieren. Das erfordert aber einen Bruch mit dem Verwirklichungsmotiv und dem damit einhergehenden, ausschließlichen Fokus auf soziale Makrostrukturen. Zwar findet soziales Handeln stets unter Bedingungen statt, die gesellschaftlich vorgegeben sind; aber es besitzt diesen gegenüber eine gewisse Eigendyna-
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mik und Unabhängig, einen »Eigen-Sinn«,3 der nicht beschrieben werden kann, wenn die Betrachtung auf der Makroebene bleibt – gesellschaftliche Strukturverhältnisse setzen sich nicht uniform und gleichartig in subjektive Leidenserfahrungen um. Sie sind von vielfältigen Faktoren abhängig, von denen nicht im Vorhinein festgelegt werden kann, welche wesentlich oder unwesentlich sind. Ebenso lassen sich zwar in verschiedenen Leidenserfahrungen normative Aspekte rekonstruieren; aber die komplexe normative Struktur sozialer Leiderfahrung geht verloren, wenn diese auf ein allgemeines und universelles Normprinzip heruntergebrochen wird. Die Eigendynamik sozialer Leidensphänomene lässt sich nur dann adäquat untersuchen, wenn ihnen nicht bereits die Folie einer Fortschrittstheorie untergelegt wird, auf der jene Leidensphänomene lediglich als Störungen eines idealtypischen Entwicklungsverlaufs erscheinen können. Ihre Untersuchung muss daher zunächst unabhängig von einer gesellschaftstheoretischen und normativen Einordnung stattfinden, um dann in einem weiteren Schritt mit diesen zusammengebracht zu werden. Wie wenig das bisher gelungen ist, zeigt ein kurzer Blick auf verschiedene sozialkritische und zeitdiagnostische Ansätze und Debatten. Ein Bruch mit der Geschichtsphilosophie würde beispielsweise nicht nur die hier behandelten Autoren betreffen. Eine ähnliche Figur findet sich etwa auch anderen Versuchen, die psychoanalytische Theorie mit marxistischer Gesellschafts- und Geschichtstheorie verbinden und die mitunter direkt von der Kritischen Theorie beeinflusst sind. Zwar konnte auf Autoren wie Helmut Dahmer, Reimut Reiche und Alfred Lorenzer im Rahmen der Arbeit nicht systematisch eingegangen werden; aber auch deren Theorie übernehmen die objektivistische und verwirklichungstheoretische Perspektive der marxistischen Theorie.4 Die Gefahr, die spezifische soziale und normative Dynamik von Leiderfahrungen zu überformen, besteht aber auch, wenn keine starken geschichtstheoretischen Vorannahmen getroffen werden. Ein ähnliches Problem haben auch die meisten Gegenwartsdiagnosen, die sozialen, gesellschaftlichen oder kulturellen Veränderungsprozessen bestimmte Zeitkrankheiten zuordnen – so auch die Burnout-Debatte. Zwar nehmen die Krankschreibungen wegen Depressions- und
3
Vgl. Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster: Westfälisches Dampfboot 2015.
4
Vgl. Reiche, Reimut: Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung, Frankfurt a. M.: Neue Kritik 1968; Lorenzer, Alfred: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973; Helmut Dahmer (Hg.): Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994.
Schluss | 255
Burnoutdiagnosen zu.5 Und auch die Erklärung, dass dies mit gestiegenem Leistungsdruck sowie Flexibilisierungsschüben zu tun habe, klingt zunächst plausibel. Bei genauerer Betrachtung ist das Verhältnis allerdings nicht mehr ganz so eindeutig: In epidemiologischen Studien ist jedenfalls kein eindeutiger Zusammenhang zwischen einem Anstieg psychischer Diagnosen und sozialstrukturellen Wandlungsprozessen feststellbar.6 Das heißt jedoch nicht, dass kein Zusammenhang besteht. Um diesen auszuweisen reicht jedoch der bloße Hinweis auf die Zunahme bestimmter Diagnosen nicht aus. Es ist ebenso notwendig, die jeweiligen Entstehungsdynamiken in konkreten Untersuchungen nachzuvollziehen – nur so kann stichhaltig nachgezeichnet werden, dass hier eine Beziehung besteht und welche Formen diese typischerweise annimmt. Das ist aber, so könnte man einwenden, nicht die Aufgabe einer Zeitdiagnose. Diese soll lediglich ein überspitztes, pointiertes Bild der Gegenwart entwerfen, um damit gerade auf problematische, aber bisher unterschätzte Tendenzen innerhalb der Gesellschaft hinzuweisen. Zeitdiagnosen wollen diesem Verständnis zufolge also weniger eine differenzierte Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse liefern. Ihr Anliegen ist es, pathologische Entwicklungen zu erschließen und einen gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess darüber anzuregen. 7 Diagnosen wie die »Angstgesellschaft«8 oder der »Müdigkeitsgesellschaft«9 mögen in dieser Hinsicht ihre Berechtigung haben; sie sollten aber in ihrer Erklärungs- und Beschreibungskraft nicht überschätzt werden. Das heißt, der Fokus auf allgemeine Strukturdynamiken bei Vernachlässigung der konkreten Zusammenhänge ist bei weitem kein alleiniges Problem einer geschichtsphilosophischen Normativitätskonzeption. Daher sind auch solche Ansätze nicht davor gefeit, die dezidiert essenzialismuskritisch auftreten und die anthropologischen Annahmen, die jeder Geschichtsphilosophie unterliegen, zurückweisen. Allgemeine Thesen über Leidstrukturen und eine vergesellschaftungstheoretische Psychoanalyserezeption lassen sich beispielsweise auch in der Theorie von Judith Butler finden. Butler greift Freuds Melancholiekonzept auf, 5
Viel beachtet wurde – um ein Beispiel zu nennen – etwa die Veröffentlichung des BKK Gesundheitsatlasses im Jahr 2015, der genau das behauptet. Vgl. Karin Kliner/Dirk Rennert/Matthias Richter (Hg.): BKK Gesundheitsatlas 2015. Blickpunkt Psyche, Berlin: MWV 2015.
6
Vgl. M. Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv?.
7
Vgl. Schimank, Uwe: »Soziologische gegenwartsdiagnose. Zur Einführung«, in: Uwe Schimank/Ute Volkmann (Hg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden: Springer VS 2007, S. 9-22.
8
Vgl. Bude, Heinz: Gesellschaft der Angst, Hamburg: Hamburger Edition 2014.
9
Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin: Matthes und Seitz 2010.
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um darzustellen, dass die Sozialisation in einem binären, heteronormativen Bedeutungssystem eine spezifische Erfahrung der subjektiven Beschädigung hervorbringe – nämlich Melancholie.10 Trotz der suggestiven Begriffswahl wäre es aber falsch, in dem Melancholiebegriff eine triftige Fassung der Leiderfahrungen, die von der Sozialisation in eine heteronormative Matrix hervorgebracht werden können, zu sehen. Butler rekonstruiert hier weniger die Strukturen der Leiderfahrungen, sondern skizziert mithilfe der Psychoanalyse einen bestimmten Modus der Subjektivierung. Diese theoretische Erörterung bleibt den konkreten Erfahrungen der Betroffenen gegenüber allerdings abstrakt. Diese schlaglichtartigen Bemerkungen sollen illustrieren, dass auch jene Ansätze durch einen problematischen Objektivismus und eine vergesellschaftungstheoretische Psychoanalyserezeption gekennzeichnet sind, die ohne eine starke Geschichtstheorie auskommen. Der Bruch mit den geschichtsphilosophisch getragenen normativen Grundannahmen reicht für sich gesehen daher nicht aus, er muss auch durch eine stärkere Hinwendung zu den subjektiven Erscheinungsformen gesellschaftlicher Konflikte ergänzt werden. Das spezifische Problem für einen – möglicherweise interdisziplinären – Ansatz stellt sich daher folgendermaßen: Auf welche Weise kann dieser einerseits kontextsensibel genug bleiben, um die besonderen Aspekte sozialer Leiderfahrungen aufzugreifen, andererseits aber auch fähig sein, diese hinreichend zu verallgemeinern und in einen gesellschaftskritischen Theoriezusammenhang zu integrieren? Der Bruch mit dem Verwirklichungsmotiv bedeutet also nicht ein Bruch mit der Gesellschaftstheorie. Sondern damit ist ein Bruch mit der Tendenz gemeint, subjektive Leiderfahrungen mit gesellschafts- oder vergesellschaftungstheoretischen Überlegungen zu überformen. Ziel sollte es sein, die Eigendynamik jener Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, statt sie deterministisch unter allgemeine Überlegungen zu subsumieren und paternalistisch für die Betroffenen zu sprechen. Es geht darum, den gesellschaftlichen Charakter – die gesellschaftliche ›Vermittlung‹ – des Leidens nicht nur zu konstatieren, sondern in seinem konkreten Gehalt auch zu bergen. Jene ›Vermittlung‹ von Individuum und Gesellschaft müsste, um es anders zu formulieren, in einer sozialwissenschaftlichen, interdisziplinären Forschungsarbeit eingeholt werden. Zwar kann an dieser Stelle kein Forschungsprogramm vorgestellt werden; aber einige abschließende Bemerkungen, wie die hier nachgezeichnete Leerstelle ausgefüllt werden kann, sollen nichtsdestoweniger gemacht werden. Aus dem bisher Gesagten lässt sich die methodologische Konsequenz ziehen, dass die Beschreibung sozialer Leidenserfahrungen zunächst 10 Vgl. Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2013.
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unabhängig von der Beschreibung sozialstruktureller Zusammenhänge erfolgen muss. So leidet etwa ein prekär beschäftigter Arbeitnehmer nicht unmittelbar am neoliberalen Rückbau sozialer Absicherung, sondern die Erfahrung von Unsicherheit dürfte sich eher in konkreten Sozialinteraktionen bemerkbar machen, in denen sich die betroffene Person weniger geschützt und daher verwundbarer erlebt. Diese Verwundbarkeit mag sich etwa im Umgang mit Vorgesetzten und Kollegen, der Zukunftsplanung aber etwa auch in der Bereitschaft niederschlagen, gegen eigene Präferenzen zu handeln, sofern dadurch das Sicherheitsempfinden verbessert wird. Zwar stehen all diese Verhaltensweisen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Aber die Auswirkungen von neoliberaler Flexibilisierungspolitik sind so in die Netze der alltäglichen Interaktion eingelassen, dass es wenig sinnvoll erscheint, ihr eine ubiquitäre Gestalt zuzusprechen. Hervorgebracht wird diese Vielfalt einerseits durch die jeweilige soziale Lage und damit durch die sozialen Felder, auf denen die Menschen interagieren – aber nicht nur.11 Sie geht andererseits auch aus dem Umstand hervor, dass sich Betroffene stets auch in einer Auseinandersetzung mit den sozialen Verhältnissen befinden und unterschiedliche Strategien des Umgangs, aber auch der Widerständigkeit mit ihnen entwickeln. Flexibilisierte Arbeitsverhältnisse müssen daher nicht notwendig »Arbeitskraftunternehmer«12 oder ein »unternehmerisches Selbst«13 hervorbringen und die damit assoziierten Leidensmomente müssen nicht in einen Burnout führen.14 Ebenso ist denkbar, dass Betroffene den gegenteiligen Weg wählen und Selbstverwirklichung wieder von Arbeitsverhältnissen abkoppeln, ganz bewusst beschäftigungslose Zeiten in Kauf nehmen oder sich an politischen Initiativen beteiligen und so gegenüber ›den 11 Bourdieus späte Hinwendung zu konkreten Äußerungsformen von sozialen Leiderfahrungen krankt an dem Umstand, dass diese Erfahrungen vorwiegend mit Bezug auf die Sozialstruktur und die Position der Betroffenen in dieser erklärt werden. Auch wenn das Vorgehen im Einzelnen gut illustriert, wie typische Leiderfahrungen aussehen mögen, schöpft Bourdieu das Potenzial des Ansatzes daher nicht voll aus. Seine Erklärung bleibt der subjektiven Dynamik weitgehend äußerlich und führt sie lediglich auf objektive Kriterien zurück. 12 Pongratz, Hans J./Voß, G. G.: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierung in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin: Sigma 2003. 13 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 14 Vgl. Voß, G. G./Weiss, Cornelia: »Burnout und Depression. Leiterkrankungen des subjektivierten Kapitalismus oder: Woran leidet der Arbeitskraftunternehmer?«, in: Sighard Neckel/Greta Wagner (Hg.), Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 29-57.
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Verhältnissen‹ Formen der Handlungsfähigkeit behaupten. Die Flexibilisierungsfolgen müssen daher nicht zwingend leidhaft sein, da ein Gefühl sozialer Resonanz auch außerhalb der Arbeitswelt erzeugt werden kann. Je nach der individuellen Lage und den damit einhergehenden Ressourcen sowie der normativen Orientierung der Betroffenen ergeben sich andere Formen der Bewältigung und damit auch andere Formen des Leidens an gesellschaftlichen Konfliktkonstellationen. Die mit prekären Beschäftigungsverhältnissen und sozialem Leistungsdruck assoziierte Unsicherheit muss nicht in allen Fällen als sinnlos und unvereinbar mit der eigenen Lebenspraxis wahrgenommen werden. Um auf Levinas zurückzukommen und damit den in der Einleitung liegen gelassenen Faden wiederaufzugreifen: Was als Leid erlebt wird, stellt sich damit in einer Handlungs- und Deutungsperspektive. Leid ist die Verletzung, der kein Sinn abgewonnen werden kann und der gegenüber das Subjekt passiv – also erleidend – verweilen muss. Leiden ist das Scheitern eines Handlungs- oder Deutungsvollzugs, eine Ohnmacht gegenüber lebensweltlichen Belastungen und Konflikten. Für das angesprochene Beispiel heißt das, dass hohe Arbeitsbelastung vor allem dann leidhaft erlebt wird, wenn mit ihr das Gefühl der Sinnlosigkeit verbunden ist. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass es das Gefühl eines Kontrollverlusts gegenüber den Arbeitsanforderungen und nicht die Arbeitsdichte selbst ist, das mit Stress und Gesundheitsrisiken assoziiert ist.15 Damit eröffnet sich nun ein möglicher Weg zur Erforschung des Verhältnisses. Dieser könnte darin liegen, typische Konfliktkonstellationen zu identifizieren, an deren sinnhafter Bewältigung ein signifikanter Teil der Menschen scheitert. Konflikte also, deren leidhafte Unauflösbarkeit von den Individuen nur maskiert, verschleiert oder verdrängt ertragen werden kann, die aber für sie selbst etwas unsinniges, überforderndes und damit rätselhaftes bleiben müssen. Das trägt auch dem Umstand Rechnung, dass Menschen an den Verhältnissen beteiligt sind, an denen sie Leiden. Und das wiederum, also der handelnde und deutende Umgang mit jenen Verhältnissen und das Scheitern daran, erklärt wiederum zu einem bestimmten Grad die idiosynkratische Vielfalt, in der strukturelle, gesellschaftliche Widersprüche in der individuellen Biografie Form annehmen – denn es ist damit auch immer ein individuelles Scheitern ›an‹ Gesellschaft. Leiden kann so als ein Scheitern verstanden werden, widrige Erfahrungen und Konflikte sinnhaft in den individuellen Lebensvollzug zu integrieren und zu verarbeiten. Leiden ist damit nicht einfach Ausdruck einer Belastung, sondern das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Aneignungsprozesses. Diese Formulierung 15 Vgl. Burisch, Matthias: Das Burnout-Syndrom. Theorie der inneren Erschöpfung, Berlin, Heidelberg: Springer 2014 S. 133ff, vgl. auch A. Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft, S. 399ff.
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ist noch sehr grob und bedürfte weiterer Ausführungen, die auf die feineren Implikationen dessen eingehen. Das muss aber auf eine zukünftige Arbeit verschoben werden. An dieser Stelle sollen lediglich noch zwei methodologische Konsequenzen hervorgehoben werden. Eine erste Konsequenz liegt darin, dass das ambivalente Involviertsein der Subjekte in ihre eigene Leidensgeschichte an einem zentralen Konzept der klinischen Theorie der Psychoanalyse anknüpfen kann. Die psychische Symptombildung wird darin nämlich als eine Reaktion auf einen inneren Konflikt verstanden, der vom Subjekt nicht eigenständig aufgelöst werden kann. Die pathologische Symptombildung setzt an dem Punkt ein, ab dem der innere Konflikt abgewehrt und damit dem Bewusstsein entzogen wird. Symptome sind daher Kompromissbildungen, die den verdrängten Inhalten Ausdruck geben, aber so verzerrt, dass der Konflikt als solcher latent und unbewusst bleibt. Strukturell pathologisch ist hieran also der Entzug eines Konflikts von bewusster Verarbeitung und seine repressive Stillstellung.16 Die Inhalte des Konflikts entstammen zwar stets der individuellen Biografie, sie sind aber sozial und gesellschaftlich vermittelt. In ihnen spiegelt sich daher das kulturelle und soziale Umfeld der Betroffenen. Das macht es möglich, in intrapsychischen Konflikten wiederum sozialen und kulturellen Aspekten auf die Schliche zu kommen – und damit möglicherweise auch solchen, die Ausdruck einer sozialen Pathologie sind. Diese gesellschaftlichen Aspekte psychischer Konfliktkonstellationen könnten mithilfe der klinischen Expertise der Psychoanalyse auf eine Weise erhellt werden, wie es einer vergesellschaftungstheoretischen Psychoanalyserezeption nicht möglich ist. Gerade also die unter dem Verdacht der Anpassung stehende Therapie ermöglicht einen Einblick in jene möglicherweise sozialtypischen Konfliktkonstellationen, die für eine Gesellschaftskritik relevant sind. Ebenso ließe sich durch den forschenden Einbezug eines klinischen Zugangs möglicherweise rekonstruieren, welche normativen Erwartungen und Orientierungen es sind, mit denen bestimmte Erfahrungen konfligieren, mit denen sich 16 Ernst Tugendhat schlägt daher vor, dass psychische Einschränkungen erst dann als Krankheit bezeichnet werden sollen, wenn sie einen zwanghaften Charakter haben und die flexible Bewältigung von auftretenden Situationen einschränken (vgl. Tugendhat, Ernst: »Antike und moderne Ethik«, in: Ernst Tugendhat (Hg.), Probleme der Ethik, Stuttgart: Reclam 1984, S. 33-56). Das greift Andreas Heinz auf und hebt die kreativen Aspekte in der subjektiven Auseinandersetzung mit psychischen Einschränkungen hervor. Psychische ›Krankheit‹ liege für ihn daher nur dann vor, wenn lebenswichtige Funktionen eingeschränkt sind und zugleich soziale Teilhabe verhindert wird oder signifikante Leidempfindungen bestehen – wenn also kein verträglicher Umgang mit psychischen Veränderungen gefunden werden kann (vgl. Heinz, Andreas: Der Begriff der psychischen Krankheit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014).
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also die Widrigkeiten im Rahmen der individuellen Biografie nicht versöhnen lassen. Soziale Leiderfahrungen bestehen damit nicht in einem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Sondern sie treten in Form eines inneren Konflikts auf, der schließlich gesellschaftlich geprägt oder vermittelt ist. Daraus ergibt sich eine zweite Konsequenz, die den Begriff der sozialen Pathologien betrifft. Soziale Pathologien wären demnach solche, die an Menschen widersprüchliche Erwartungen, Deutungen oder Handlungsanforderungen stellen, die in der subjektiven Lebenspraxis nicht ohne Weiteres integriert werden können und in Form eines inneren Zwangs erduldet werden. Das wäre dann der Fall, wenn Menschen keine Nischen in einem flexibilisierten Arbeitsmarkt finden, sich aber auch nicht aus diesem zurückziehen können, weil sie es entweder nicht wollen, oder tatsächlich nicht können, da beispielsweise Unterstützung und Wertschätzung nicht von alternativen Subkulturen bereitgestellt werden – also soziale, materielle oder kulturelle Ressourcen fehlen. Was als Symptom als Leiden zutage tritt, ist dabei nicht dem mechanischen Einfluss einer sozialen Pathologie geschuldet, sondern der Unmöglichkeit, im Rahmen der individuellen Voraussetzungen einen gelingenden und gestaltenden Umgang mit sozialen Konfliktlagen zu finden. Die Leidensdynamik ist nach diesem Verständnis zunächst also eine weitgehend individuelle und kontextspezifische Reaktion auf soziale und darüber vermittelt gesellschaftliche Anforderungen. Darin müssen sich aber mittelbar auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen nachvollziehen lassen, die aufgrund ihrer widersprüchlichen Struktur subjektive Handlungsfähigkeit strukturell überfordern oder die Ressourcen beschränken, die notwendig sind, um die komplexe Handlungs- und Lebenssituationen zu bewältigen. Auch wenn sich die Schilderung bis hier hin vorwiegend auf den subjektiven, kontextnahen Pol der Erklärung und Beschreibung bezogen hat, heißt das nicht, dass eine kontexttranszendierende, gesellschaftstheoretische Reflexion überflüssig ist. Im Gegenteil, sie ist unbedingt notwendig, um die Bedingungen zu erfassen, unter denen die soziale Interaktion von Menschen abläuft, ja, unter denen sich Menschen überhaupt erst sozial konstituieren. Die Betrachtung subjektiver Konfliktdynamiken muss damit notwendig in eine – hinreichend komplexe – Gesellschaftstheorie eingebunden werden. Nur so ist es möglich, Leiden als Leiden an Gesellschaft zu identifizieren und jenseits individueller Biografien strukturelle Problemlagen zu kritisieren. Diese makrosozialen und gesellschaftstheoretischen Überlegungen werden hier mit einem Konzept der konflikthaften Auseinandersetzung von Menschen mit sich und der Welt verbunden. Da aber gesellschaftskritische Bezugnahmen auf Leidphänomene eher daran kranken, die psychischen und mikrosozialen Aspekte der Kritik zu vernachlässigen und es
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hier außerdem darum geht, den gesellschaftlichen Gehalt subjektiver Leiderfahrungen zu rekonstruieren, fällt der Nachdruck an dieser Stelle auf Letztere. Auch auf normativer Ebene ist es notwendig, allgemeine Aspekte in die Betrachtung einfließen zu lassen. Bestimmte, gewissermaßen anthropologische Vorannahmen lassen sich daher nicht vermeiden. Sie bleiben aber eher schwach: Menschen würde hier zunächst lediglich ein formales Interesse unterstellt werden, nicht zu leiden. Wie die obigen Ausführungen deutlich gemacht haben dürften, wird dieses Interesse hier damit begründet, dass Menschen sich grundsätzlich handelnd und deutend zu sich und ihrer Umwelt verhalten. Und das heißt auch, dass sie handelnd und deutend Konflikte, Spannungen und Widersprüche bewältigen und da, wo das nicht gelingt, potenziell leiden. Diese Vorannahmen sind notwendig, um Leiden normative Relevanz zukommen zu lassen, es also als etwas zu fassen, das untersucht und diskutiert werden muss. Das, zusammen mit der Annahme, dass sich durch eine bessere Einrichtung der Gesellschaft jenes Leiden mildern oder gar abschaffen lasse, sind lediglich formale Vorannahmen. Welche normativen Forderungen darüber hinaus durch die Leiderfahrungen tangiert werden, wird und kann so nicht vorweggenommen werden. Diese müssen aus den Handlungskontexten selbst rekonstruiert werden. Fragen der Gerechtigkeit und Überlegungen darüber, was nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingungen für ein gutes Leben darstellen, können nicht schon durch eine soziologische Untersuchung sozialer Leidensphänomene vorweggenommen werden. Das – und die Beurteilung, ob die rekonstruierten normativen Aspekte verallgemeinerungsfähig sind – ist Aufgabe des politischen Diskurses. In diesem ist die Soziologie ein Teil. Aber eine Soziologie, die Bezug auf die Leidenserfahrungen und die psychischen Entstellungen der Menschen nehmen möchte, kann nicht stellvertretend für diese deren Interessen einfordern, sondern allein helfen, soziale Konflikte, die den Leidenserfahrungen zugrunde liegen, zu benennen und zur Debatte zu stellen – nicht also für die Leidenden reden, sondern das Leid – frei nach Adorno17 – beredt werden lassen.
17 Vgl. T. W. Adorno: »Negative Dialektik«, S. 29.
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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)
Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4
Andreas Reckwitz
Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4
Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9
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