Leiblichkeit und Gottesbeziehung: Eine Strukturanalyse ausgehend von Fichte und Levinas 9783495817551, 9783495488492


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German Pages [969] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung in die Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
1. Die religiöse Bedeutung der Leiblichkeit bei Johann Gottlieb Fichte
1.0 Einleitende Bemerkungen zur Textbasis
1.1 Transzendentalphilosophische Grundlegung der Ableitung des Leibes und der Entfaltung der Religionsphilosophie ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre und der Anweisung zum seligen Leben
1.1.0 Vorbemerkungen
1.1.0.1 Fichtes philosophischer Anspruch und seine Methode
1.1.0.2 Der Ansatzpunkt der Erlanger Wissenschaftslehre und die Gliederung ihres Vorgehens
1.1.1 Erste Stufe: Das gedachte Absolute – Überwindung des Verhaftetseins an das Dingliche
Die ersten Argumentationsschritte und ihre Methode
Problematisierung des verdinglichenden Realismus und Idealismus der ersten Stufe
Die Problematisierung der objektiv auffassenden Existenz in der Nichtfolge
1.1.2 Zweite Stufe: Das Licht als Absolutes – Fichtes transzendentalphilosophischer Standpunkt
Die Hinführung zum höheren Standpunkt
Das Licht
Die intellektuelle Anschauung und das empirische Auffassen
Möglichkeiten und Grenzen der Ableitung aus dem Licht
Rückblick auf den Ertrag und die Methode der zweiten Stufe
1.1.3 Dritte Stufe: Das Absolute des Glaubens – Der Ansatzpunkt für Fichtes Religionsphilosophie
Mit dem Idealismus zum Realismus
Glaube
Dunkel und Grundsein als Bedingungen des Glaubens
Das Wissen als Erscheinung des Absoluten – Herleitung des Als
Das Ich als der unmittelbare Repräsentant des Absoluten
Einheit mit Gott und Selbständigkeit gegenüber Gott
Methodenreflexion
Die Gliederung des Ganges über vier Absolute und ihre Entsprechung zu den fünf Weltansichten
Konsequenzen für die Religionsphilosophie
1.1.4 Vierte Stufe: Die Wissenschaftslehre und das Absolute als Gesetz – Der Ansatzpunkt für die Ableitung der Gestalt des Daseins
Abgrenzung und Bestimmung der höheren Stufe
Gott als Gesetz
Das Gesetz im Existieren
Die Einheit der Form und der Ansatz für die Ableitung
Methodenreflexion
1.2 Die Ableitung des Leibes – der Leibbegriff
1.2.1 Das faktische Selbstbewusstsein und seine Materialisierung in eine objektive Körperwelt nach der Erlanger Wissenschaftslehre
Die Argumentation
Zum Begriff des Körpers
Die Relativierung der Körperlichkeit ausgehend von der subjektiven Konstitution
1.2.2 Der Leibbegriff nach der frühen Sittenlehre von 1798
1.2.2.1 Zum systematischen Zusammenhang und zur Wahl der Textbasis
1.2.2.2 Prinzip und Methode der Ableitung
1.2.2.3 Ableitung des Leibes
Begrenzte Tätigkeit als Tiefendimension der Körpererscheinung
Der Leib als unmittelbar gegebener und gefühlter Trieb
Die Leiblichkeit des Leibes
Der Leib als organisiertes Naturprodukt
1.2.2.4 Der Leib im freien Erkennen und Handeln
1.2.2.5 Der Leib als Medium der Interpersonalität
1.3 Die religiöse Bedeutung des Leibes
1.3.1 Die Bedeutung des Leibes auf dem Stand der frühen Sittenlehre
1.3.1.1 Die Eignung der Naturtriebe für das ethische Leben
1.3.1.2 Die Möglichkeit der Vereinigung von Naturtrieb und Vernunft
Sympathetische Antriebe
Somatisierung des Gewissens
Ästhetischer Sinn
1.3.1.3 Negative Aspekte der Leiblichkeit
Unethische Handlungsmöglichkeiten und negative Aspekte der Triebhaftigkeit
Trägheit als radikales Übel
Hemmung und perennierendes Sollen
Unmoralische Leidenschaften
1.3.1.4 Der Glaube an die Realisierbarkeit von Ethik als religiöser Glaube
1.3.1.5 Die Bedeutung des Leibes in der Ethik anhand der ihn betreffenden Pflichten
Pflichten in Bezug auf den eigenen Leib
Die Pflichten in Bezug auf den Leib des Anderen
Die Pflichten in Bezug auf die Natur außerhalb von Vernunftwesen
1.3.2 Die Bedeutung des Leibes auf dem Stand der Anweisung
1.3.2.1 Entwicklungen des Leibbegriffs zwischen der Zeit der frühen Sittenlehre und der Zeit der Anweisung
1.3.2.1.1 Die Problematik der Konstitution der begrenzten Tätigkeit
Das Prädestinationsmodell zur Zeit der frühen Sittenlehre
Das Modell in der Bestimmung des Menschen
Selbstverleiblichung Gottes?
1.3.2.1.2 Die Konstitution der begrenzten Tätigkeit im Modell zur Zeit der Anweisung
1.3.2.1.3 Die Ausdifferenzierung auf der Ebene der Interpersonalspaltung
Fichtes späterer Interpersonalitätsbeweis
Die Konstitution von individuellen Berufungen
Die Aufwertung des Qualitativen
1.3.2.1.4 Die Ausdifferenzierung auf der Ebene der Natur
Die Entstehung der faktischen Qualitäten der Welt
Die Erklärung der gemeinsamen Weltwahrnehmung
Die Weltgestalten als Gestalten Gottes?
Der Realitätsstatus der Natur
Naturmystik?
1.3.2.1.5 Das Verhältnis beider Ebenen zueinander
1.3.2.1.6 Die Veränderungen im Leibbegriff
1.3.2.1.7 Methodenreflexion
1.3.2.2 Die veränderte Bedeutung des Leibes auf dem Standpunkt der höheren Moralität
Die konkrete Bestimmtheit des Leibes und die Qualität des göttlichen Lebens
Natürliche Antriebe zu einem ethischen Leben
Entsprechungen zwischen der Vollzugsform der Leiblichkeit und der Form des Lebens der höheren Moralität
1.3.2.3 Die Veränderungen in der religiösen Bedeutung des Leibes
Materialität und Gotteserkenntnis
Der Stellenwert der Erkenntnis und der Betrachtung Gottes
Nicht mehr ein Hindernis
Gelassene Wertschätzung des Leiblichen
Die Bedeutung von Leid und Misserfolg
Der Leib und die göttliche Ökonomie
Das leiblich Begegnende als Wille Gottes? – Zur Theodizeefrage
Geschichtliche Offenbarung
1.3.2.4 Rückblick auf den Ertrag
2. Die religöse Bedeutung der Leiblichkeit bei Emmanuel Levinas – im Vergleich mit Fichte
2.0 Einleitende Bemerkungen zur Textbasis, zum Vorgehen der Interpretation und zum Vergleich
2.1 Der philosophische Ausgangspunkt: die Beziehung zum Anderen
2.1.1 Die Zentralstellung der Ethik – eine Hinführung im Dialog mit Fichte
2.1.1.1 Die Frage nach der Begründung des Wissens
2.1.1.2 Die transzendentale Phänomenologie als Ausgangspunkt und ihre Problematisierung
Die Zweideutigkeit des Phänomens
Levinas’ Auseinandersetzung mit Husserls Intentionalitätskonzept und dessen Analyse der Sinnlichkeit
Kritische Anknüpfung an die transzendentalphänomenologische Methode Husserls
Eine Begründung des Wissens aus der praktischen Vertrautheit mit der Welt?
Erste Klärungen für den Leibbegriff
Vergleich mit Fichtes Gedankengang in der Erlanger Wissenschaftslehre und mit seiner Methode
2.1.1.3 Das Es-gibt als Bruch der transzendentalen Apperzeption und die möglichen Auswege aus ihm
Die Zweifelhaftigkeit des Cogito
Das Es-gibt als zentrales Ausgangsproblem des levinasschen Denkens
Die vorläufige Befreiung aus dem Es-gibt durch den Genuss
Die Befreiung durch den Anderen in Eros, Fruchtbarkeit und Verantwortung
Die scheinbare Befreiung durch die universale Vernunft
Vergleich mit Fichte
2.1.1.4 Die ethische Forderung als Grund des Wissens
Rekapitulation der bisherigen Argumentation
Diesseits der objektiven Gewissheit
Vergleich mit Fichte
2.1.2 Die Auslegung des ethischen Beanspruchtseins
2.1.2.1 Der Andere als Ursprung des Sollens
Phänomenologische Weichenstellungen für die Auslegung des Sollens
Die sinnliche Begegnung mit dem Anderen als Ausgangspunkt und Verstehensvoraussetzung
Die Infragestellung im Gesicht des Anderen
Asymmetrisches Betroffensein durch den transzendenten und exterioren Anderen
›Phänomene‹ der asymmetrischen Ethik
Zur Bewertung von Phänomenen einer symmetrischen ethischen Beurteilung
Die Verantwortlichkeit des Anderen und die ursprüngliche Form von Gemeinschaft
Rekapitulation der Gründe für Levinas’ Interpretation des Sollens
2.1.2.3 Die Unterschiede zu Fichtes Interpretation des Sollens
Zu den Entsprechungen in der Beschreibung der ethischen Beziehung zum Anderen
Erster Hauptunterschied: Vorgängigkeit zur Auto-nomie
Worauf bezieht sich die Abhängigkeit vom Anderen?
Zur Frage nach der Möglichkeit einer der Autonomie vorgängigen Heteronomie
Zur Entfaltung der Autonomie auf der Basis der Heteronomie
Zu Levinas’ ausdrücklichen Bezugnahmen auf Fichte
Zweiter Hauptunterschied: Vorgängigkeit zur Auto-nomie
2.1.3 Die Konsequenzen für die philosophische Methode
Phänomenologie des Bruches der Phänomenalität
Transzendentalismus des Ethischen jenseits der transzendentalen Apperzeption
… jenseits des autonomen und universalen Denkens
… jenseits des Seins
… jenseits von Metaphysik?
Vergleich mit Fichte
2.2 Die Religionsphilosophie
2.2.1 Die Beziehung zur Transzendenz als Begehren des Unendlichen
2.2.2 Religionsphilosophische Rechtfertigung jenseits eines Gottesbeweises
2.2.3 Das Unendliche als Schöpfer?
2.2.4 Die verschiedenen Aspekte der Beziehung zum Unendlichen
Fordernde Güte
Vaterschaft
Unendlichung durch Fruchtbarkeit
Mutterschaft
Geschichtliches Wirken Gottes – angesichts des Leids und der Offenbarungsbedürftigkeit?
Messianismus und Eschatologie
2.2.5 Uneigentliche Beziehungen zur Transzendenz
Heidnische Naturgötter
Sakralität
Verschmelzungsmystik
Ritualisiertes Gebet
Kunst-Religion
Interessengeleitete Formen von Gottesbeziehung
2.2.6 Vergleich mit Fichtes Religionsphilosophie
2.3 Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge
2.3.1 Vorbemerkungen zur methodischen Herangehensweise
2.3.2 Leiblichkeit als Genießen
Der Rückgang hinter das Können
Phänomenologie des Genusses
2.3.3 Materie und Elementales
Phänomenologie des Gegenstandes der Genussintentionalität
Die Nacktheit der Dinge
Eigenwirklichkeit des Materiellen, des anderen Menschen und der anderen Lebewesen
Das Materielle und die naturwissenschaftliche Perspektive
2.3.4 Das getrennte Subjekt und der Genuss
2.3.4.1 Das vom Genuss her verstandene Subjekt
2.3.4.2 Die Momente der Spontaneität im Genuss
Eine ursprüngliche Form von Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein
Eine ursprüngliche Praxis
Eine ursprüngliche Form des Strebens
Zur Einbindung der drei Momente in den Genuss
2.3.4.3 Der Zusammenhang von Spontaneität und Abhängigkeit
»Wir haben die Spontaneität des Lebens nicht in Zweifel gezogen.«
Zur Vermeidung des Kausalitätsbegriffs
Abhängigkeit im Sein – das konstituierte Subjekt
Abgrenzung von inadäquaten Interpretationen der Konstitution des Subjekts
Abhängigkeit von der Nahrung, Schöpfung und Fruchtbarkeit
Zeitlichkeit der Konstitution und Unmittelbarkeit des Subjekts zu sich
Abhängigkeit von der Nahrung und Abhängigkeit vom Anderen
Zu transzendentalphilosophischen Anfragen an die Theorie der leiblichen Konstitution des Subjekts
2.3.4.4 Zur Bedeutung des Genusses im Geschehen der Trennung
2.3.5 Leiblichkeit als Wohnen
2.3.6 Das mütterliche und erotisch ›Weibliche‹
2.3.7 Der Leib als Ich-kann (Besitzen und Arbeiten) und die Konstitution des Dinges
2.3.8 Der Leib und das Vorstellen
2.3.9 Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe
2.4 Die Bedeutung des Leibes in der ethischen Beziehung zum Anderen
Zur Unterscheidung zwischen leiblicher und ethischer Beziehung
Der leibliche Genuss als bleibendes Ereignis der Getrenntheit des Subjekts
Die leibliche Passivität als Öffnung für die Exteriorität des Anderen
Zur Bedeutung des Leidens
Leib-Phänomene der Passion für den Anderen
Die Leiblichkeit des Anderen in der ethischen Aufforderung
Leiblichkeit und Selbstgabe
Die Dinge in der Beziehung zum Anderen
Kunstwerke in der Beziehung zum Anderen
2.5 Die religiöse Bedeutung des Leibes
2.6 Die verschiedenen Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes – im Vergleich mit Fichte
Die Dimension des Unendlichen zwischen Leiblichkeit und Geistigkeit
Alles entfaltet sich ausgehend vom Leib
Wirklichkeit und Leib – Leibhaftigkeit
Zu den negativen Aspekten der Leibverhaftetheit
Naturvergötterung – Naturmystik?
Gott und die Natur – die übersehene Natur
Ein erster Schritt heraus aus der Absurdität und dessen bleibende Bedeutung
Der Bezug der Gestalt und der Haltung des Leibes auf das Unendliche
Die Unabhängigkeit des ethischen Lebens vom Leib – und wie er sie zulässt
Kein Hindernis
Die bleibende Bedeutung der leiblich-selbstbezogenen Konstitution des Subjekts
Genuss als Erleben der Güte Gottes?
Interleiblichkeit
Transzendierende Passivität
Leiden
Ein Sinn in der Sinnlosigkeit des passiven Konfrontiertseins mit dem Materiellen?
Die Begegnung mit dem Gesicht – die ethische Leiblichkeit des Anderen
Ausdruck des Unendlichen
Authentizität des Leibes
Schönheit und Leiblichkeit
Zur Leiblichkeit der Kunst
Geben und Dienst – der Tätigkeitsleib
Unwillkürliches Leben – Korrektur der Freiheit
Selbstzweckliches, spielerisches Leben
Leiberleben und Gotterleben
Die wesentliche Konkretion oder Bestimmtheit des Lebens im Leib
Die Dinge und Gott
Leibliche Endlichkeit und der Schritt zur Unendlichkeit Gottes
Hat Gott einen Leib? Kann er einen haben?
Schöpfung, Nahrung und Fruchtbarkeit
Fruchtbarkeit und Unendlichkeit
Der Leib und die Vorsehung
Leiblichkeit und Theodizee
Eschatologische Leiblichkeit
Offenbarung und Leib
Zur Leiblichkeit des Gebets
3. Die religionsphilosophische und fundamentaltheologische Relevanz der Ansätze von Fichte und Levinas sowie ihrer Beiträge zur Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit
3.1 Zu Levinas
3.1.1 Philosophische Kritik
3.1.2 Rezipierbar für eine christliche Fundamentaltheologie?
3.2 Zu Fichte
3.2.1 Philosophische Kritik
3.2.2 Möglichkeiten und Grenzen der fundamentaltheologischen Rezeption
3.3 Ertrag und Relevanz der Gegenüberstellung beider Beiträge
4. Ausblick auf eine Anwendung der Ergebnisse – Leiblichkeit in Eucharistie und kontemplativem Gebet
Literatur
Siglen
Namensregister
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Leiblichkeit und Gottesbeziehung: Eine Strukturanalyse ausgehend von Fichte und Levinas
 9783495817551, 9783495488492

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SCI EN T IA

REL IGIO

Stephan Trescher

Leiblichkeit und Gottesbeziehung Eine Strukturanalyse ausgehend von Fichte und Levinas

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817551

.

B

Stephan Trescher Leiblichkeit und Gottesbeziehung

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

SCI EN T IA

REL I G IO

Band 15

Herausgegeben von Markus Enders und Bernhard Uhde Wissenschaftlicher Beirat Peter Antes, Reinhold Bernhardt, Hermann Deuser, Burkhard Gladigow, Klaus Otte, Hubert Seiwert und Reiner Wimmer

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Stephan Trescher

Leiblichkeit und Gottesbeziehung Eine Strukturanalyse ausgehend von Fichte und Levinas

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Stephan Trescher Corporeality and the Relation to God An Analysis based on Fichte and Levinas What significance does the dimension of the body have in the religious and with which concepts can it be described? Two of the most promising discourse partners in this question are Johann Gottlieb Fichte and Emmanuel Levinas. Their contributions are explored, questioned in their philosophical plausibility and brought into a dialogue with each other. The categories developed in this process are examined in their fundamental suitability for a Christian-theological reflection and applied as examples to two practical fields: the Eucharist and contemplation.

The Author: Stephan Trescher completed his PhD in the Department of Fundamental Theology in Freiburg, Germany, received a M. Phil and is currently working for the Episcopal Officialate of Münster in Vechta where he is a speaker for spiritual exercises and spirituality. He also works as a lecturer at the local university.

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Stephan Trescher Leiblichkeit und Gottesbeziehung Eine Strukturanalyse ausgehend von Fichte und Levinas Welche Bedeutung kommt der Dimension des Leibes im Religiösen zu und mit welchen Begriffen lässt sie sich beschreiben? Zwei der aussichtsreichsten Diskurspartner in dieser Frage sind Johann Gottlieb Fichte und Emmanuel Levinas. Ihre Beiträge werden erschlossen, auf ihre philosophische Plausibilität hin befragt und in einen Dialog miteinander gebracht. Die dabei erarbeiteten Kategorien werden in ihrer grundsätzlichen Eignung für eine christlich-theologische Reflexion überprüft und exemplarisch auf zwei Praxisfelder angewendet: Eucharistie und Kontemplation.

Der Autor: Stephan Trescher, Dr. theol., M. A. phil., wurde 2014 am Lehrstuhl für Fundamentaltheologie in Freiburg i. Br. promoviert und ist derzeit als Referent für Exerzitien und Spiritualität im Bischöflich Münsterschen Offizialat Vechta und als Lehrbeauftragter an der dortigen Universität tätig.

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer: 324112126

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48849-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81755-1

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Einführung in die Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

1.

Die religiöse Bedeutung der Leiblichkeit bei Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1.0

Einleitende Bemerkungen zur Textbasis . . . . . . . .

41

1.1

Transzendentalphilosophische Grundlegung der Ableitung des Leibes und der Entfaltung der Religionsphilosophie ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre und der Anweisung zum seligen Leben . . . . . . .

44

1.1.0 1.1.0.1 1.1.0.2 1.1.1

1.1.2

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fichtes philosophischer Anspruch und seine Methode Der Ansatzpunkt der Erlanger Wissenschaftslehre und die Gliederung ihres Vorgehens . . . . . . . . . Erste Stufe: Das gedachte Absolute – Überwindung des Verhaftetseins an das Dingliche . . . . . . . . . Die ersten Argumentationsschritte und ihre Methode . . Problematisierung des verdinglichenden Realismus und Idealismus der ersten Stufe . . . . . . . . . . . . . Die Problematisierung der objektiv auffassenden Existenz in der Nichtfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Stufe: Das Licht als Absolutes – Fichtes transzendentalphilosophischer Standpunkt . . . . . Die Hinführung zum höheren Standpunkt . . . . . . . . Das Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

44 44 49 58 58 59 63 66 66 68 A

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

7

Inhalt

Die intellektuelle Anschauung und das empirische Auffassen Möglichkeiten und Grenzen der Ableitung aus dem Licht . Rückblick auf den Ertrag und die Methode der zweiten Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.1.3

1.1.4

76 76 79 81

. . . .

82 86 89 91

. .

92 99

. . . . . .

101 101 103 105 109 112

. . . . . .

114

Vierte Stufe: Die Wissenschaftslehre und das Absolute als Gesetz – Der Ansatzpunkt für die Ableitung der Gestalt des Daseins . . . . . . . . Abgrenzung und Bestimmung der höheren Stufe . . . Gott als Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gesetz im Existieren . . . . . . . . . . . . . . Die Einheit der Form und der Ansatz für die Ableitung Methodenreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

Die Ableitung des Leibes – der Leibbegriff

1.2.1

Das faktische Selbstbewusstsein und seine Materialisierung in eine objektive Körperwelt nach der Erlanger Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . Die Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Begriff des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . Die Relativierung der Körperlichkeit ausgehend von der subjektiven Konstitution . . . . . . . . . . . . . .

1.2.2.2 SCIENTIA

75

. . . .

1.2

1.2.2 1.2.2.1

8

Dritte Stufe: Das Absolute des Glaubens – Der Ansatzpunkt für Fichtes Religionsphilosophie Mit dem Idealismus zum Realismus . . . . . . . . . . Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dunkel und Grundsein als Bedingungen des Glaubens . Das Wissen als Erscheinung des Absoluten – Herleitung des Als . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ich als der unmittelbare Repräsentant des Absoluten Einheit mit Gott und Selbständigkeit gegenüber Gott . . Methodenreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gliederung des Ganges über vier Absolute und ihre Entsprechung zu den fünf Weltansichten . . . . . . Konsequenzen für die Religionsphilosophie . . . . . .

71 72

. . .

114 114 122

.

123

Der Leibbegriff nach der frühen Sittenlehre von 1798 Zum systematischen Zusammenhang und zur Wahl der Textbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzip und Methode der Ableitung . . . . . . . . .

127

RELIGIO

127 129

Stephan Trescher https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Inhalt

1.2.2.3

. .

132

1.2.2.4 1.2.2.5

Ableitung des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . Begrenzte Tätigkeit als Tiefendimension der Körpererscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Leib als unmittelbar gegebener und gefühlter Trieb Die Leiblichkeit des Leibes . . . . . . . . . . . . . Der Leib als organisiertes Naturprodukt . . . . . . . Der Leib im freien Erkennen und Handeln . . . Der Leib als Medium der Interpersonalität . . .

. . . . . .

. . . . . .

132 142 144 147 156 168

1.3

Die religiöse Bedeutung des Leibes . . . . . . . . . .

175

1.3.1

Die Bedeutung des Leibes auf dem Stand der frühen Sittenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Eignung der Naturtriebe für das ethische Leben . Die Möglichkeit der Vereinigung von Naturtrieb und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sympathetische Antriebe . . . . . . . . . . . . . . . . Somatisierung des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . Ästhetischer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Negative Aspekte der Leiblichkeit . . . . . . . . . . Unethische Handlungsmöglichkeiten und negative Aspekte der Triebhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Trägheit als radikales Übel . . . . . . . . . . . . . . . Hemmung und perennierendes Sollen . . . . . . . . . . Unmoralische Leidenschaften . . . . . . . . . . . . . . Der Glaube an die Realisierbarkeit von Ethik als religiöser Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des Leibes in der Ethik anhand der ihn betreffenden Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . Pflichten in Bezug auf den eigenen Leib . . . . . . . . . Die Pflichten in Bezug auf den Leib des Anderen . . . . . Die Pflichten in Bezug auf die Natur außerhalb von Vernunftwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.3.1.1 1.3.1.2

1.3.1.3

1.3.1.4 1.3.1.5

Die Bedeutung des Leibes auf dem Stand der Anweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.1 Entwicklungen des Leibbegriffs zwischen der Zeit der frühen Sittenlehre und der Zeit der Anweisung . . . 1.3.2.1.1 Die Problematik der Konstitution der begrenzten Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Prädestinationsmodell zur Zeit der frühen Sittenlehre .

176 176 180 180 182 183 185 185 185 189 190 191 198 198 203 206

1.3.2

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

210 210 214 214 A

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

9

Inhalt

1.3.2.1.2 1.3.2.1.3

1.3.2.1.4

1.3.2.1.5 1.3.2.1.6 1.3.2.1.7 1.3.2.2

1.3.2.3

1.3.2.4

10

SCIENTIA

Das Modell in der Bestimmung des Menschen . . . . . . . Selbstverleiblichung Gottes? . . . . . . . . . . . . . . Die Konstitution der begrenzten Tätigkeit im Modell zur Zeit der Anweisung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ausdifferenzierung auf der Ebene der Interpersonalspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fichtes späterer Interpersonalitätsbeweis . . . . . . . . Die Konstitution von individuellen Berufungen . . . . . . Die Aufwertung des Qualitativen . . . . . . . . . . . . Die Ausdifferenzierung auf der Ebene der Natur . . . Die Entstehung der faktischen Qualitäten der Welt . . . . Die Erklärung der gemeinsamen Weltwahrnehmung . . . Die Weltgestalten als Gestalten Gottes? . . . . . . . . . Der Realitätsstatus der Natur . . . . . . . . . . . . . . Naturmystik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis beider Ebenen zueinander . . . . . . . Die Veränderungen im Leibbegriff . . . . . . . . . . Methodenreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die veränderte Bedeutung des Leibes auf dem Standpunkt der höheren Moralität . . . . . . . . . . Die konkrete Bestimmtheit des Leibes und die Qualität des göttlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürliche Antriebe zu einem ethischen Leben . . . . . Entsprechungen zwischen der Vollzugsform der Leiblichkeit und der Form des Lebens der höheren Moralität . . . Die Veränderungen in der religiösen Bedeutung des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Materialität und Gotteserkenntnis . . . . . . . . . . . . Der Stellenwert der Erkenntnis und der Betrachtung Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht mehr ein Hindernis . . . . . . . . . . . . . . . . Gelassene Wertschätzung des Leiblichen . . . . . . . . Die Bedeutung von Leid und Misserfolg . . . . . . . . . Der Leib und die göttliche Ökonomie . . . . . . . . . . Das leiblich Begegnende als Wille Gottes? – Zur Theodizeefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtliche Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . Rückblick auf den Ertrag . . . . . . . . . . . . . . .

RELIGIO

216 218 220 221 221 228 230 232 232 236 238 241 250 254 268 269 270 271 275 278 291 291 294 300 301 305 308 312 316 320

Stephan Trescher https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Inhalt

2. 2.0 2.1 2.1.1 2.1.1.1 2.1.1.2

2.1.1.3

2.1.1.4

Die religöse Bedeutung der Leiblichkeit bei Emmanuel Levinas – im Vergleich mit Fichte . . . . . . . . . . .

323

Einleitende Bemerkungen zur Textbasis, zum Vorgehen der Interpretation und zum Vergleich . . . . . . . . .

323

Der philosophische Ausgangspunkt: die Beziehung zum Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

Die Zentralstellung der Ethik – eine Hinführung im Dialog mit Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage nach der Begründung des Wissens . . . . Die transzendentale Phänomenologie als Ausgangspunkt und ihre Problematisierung . . . . . Die Zweideutigkeit des Phänomens . . . . . . . . . . . Levinas’ Auseinandersetzung mit Husserls Intentionalitätskonzept und dessenr Analyse der Sinnlichkeit . . . . . Kritische Anknüpfung an die transzendentalphänomenologische Methode Husserls . . . . . . . . . . . . . Eine Begründung des Wissens aus der praktischen Vertrautheit mit der Welt? . . . . . . . . . . . . . . . Erste Klärungen für den Leibbegriff . . . . . . . . . . . Vergleich mit Fichtes Gedankengang in der Erlanger Wissenschaftslehre und mit seiner Methode . . . . . . Das Es-gibt als Bruch der transzendentalen Apperzeption und die möglichen Auswege aus ihm . . . . Die Zweifelhaftigkeit des Cogito . . . . . . . . . . . . . Das Es-gibt als zentrales Ausgangsproblem des levinasschen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die vorläufige Befreiung aus dem Es-gibt durch den Genuss Die Befreiung durch den Anderen in Eros, Fruchtbarkeit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . Die scheinbare Befreiung durch die universale Vernunft . . Vergleich mit Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ethische Forderung als Grund des Wissens . . . Rekapitulation der bisherigen Argumentation . . . . . . Diesseits der objektiven Gewissheit . . . . . . . . . . . Vergleich mit Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

329 329 332 332 333 344 351 352 354 359 359 361 367 372 388 389 394 395 396 400

A

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

11

Inhalt

2.1.2 2.1.2.1

2.1.2.3

2.1.3

12

SCIENTIA

Die Auslegung des ethischen Beanspruchtseins . . . Der Andere als Ursprung des Sollens . . . . . . . . Phänomenologische Weichenstellungen für die Auslegung des Sollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die sinnliche Begegnung mit dem Anderen als Ausgangspunkt und Verstehensvoraussetzung . . . . . . . . . Die Infragestellung im Gesicht des Anderen . . . . . . . Asymmetrisches Betroffensein durch den transzendenten und exterioren Anderen . . . . . . . . . . . . . . ›Phänomene‹ der asymmetrischen Ethik . . . . . . . . . Zur Bewertung von Phänomenen einer symmetrischen ethischen Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verantwortlichkeit des Anderen und die ursprüngliche Form von Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . Rekapitulation der Gründe für Levinas’ Interpretation des Sollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unterschiede zu Fichtes Interpretation des Sollens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Entsprechungen in der Beschreibung der ethischen Beziehung zum Anderen . . . . . . . . . . . . . . Erster Hauptunterschied: Vorgängigkeit zur A u t o -nomie . Worauf bezieht sich die Abhängigkeit vom Anderen? . . . Zur Frage nach der Möglichkeit einer der Autonomie vorgängigen Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . Zur Entfaltung der Autonomie auf der Basis der Heteronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Levinas’ ausdrücklichen Bezugnahmen auf Fichte . . . Zweiter Hauptunterschied: Vorgängigkeit zur Auto-n o m i e Die Konsequenzen für die philosophische Methode Phänomenologie des Bruches der Phänomenalität . . . Transzendentalismus des Ethischen jenseits der transzendentalen Apperzeption . . . . . . . . . . … jenseits des autonomen und universalen Denkens . . … jenseits des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . … jenseits von Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . Vergleich mit Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . .

RELIGIO

401 402 402 403 405 413 421 429 432 436 438 439 443 446 453 462 474 476

. .

489 489

. . . . .

489 492 510 513 519

Stephan Trescher https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Inhalt

2.2

Die Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . .

522

2.2.1

Die Beziehung zur Transzendenz als Begehren des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

522

Religionsphilosophische Rechtfertigung jenseits eines Gottesbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . .

541

2.2.3

Das Unendliche als Schöpfer? . . . . . . . . . . . .

553

2.2.4

Die verschiedenen Aspekte der Beziehung zum Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fordernde Güte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vaterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unendlichung durch Fruchtbarkeit . . . . . . . . . . . Mutterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichtliches Wirken Gottes – angesichts des Leids und der Offenbarungsbedürftigkeit? . . . . . . . . . . . Messianismus und Eschatologie . . . . . . . . . . . . .

2.2.2

2.2.5

Uneigentliche Beziehungen zur Transzendenz Heidnische Naturgötter . . . . . . . . . . . . Sakralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschmelzungsmystik . . . . . . . . . . . . . Ritualisiertes Gebet . . . . . . . . . . . . . . Kunst-Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . Interessengeleitete Formen von Gottesbeziehung

2.2.6

Vergleich mit Fichtes Religionsphilosophie

2.3

. . . . . . .

. . . . . . .

565 569

. . . . . . .

585 585 589 590 593 594 601

. . . . .

603

Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge . . . . . . . . . . . . .

610

Vorbemerkungen zur methodischen Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

610

2.3.2

Leiblichkeit als Genießen . . . . . . . . . . . . . . Der Rückgang hinter das Können . . . . . . . . . . . . Phänomenologie des Genusses . . . . . . . . . . . . .

612 612 616

2.3.3

Materie und Elementales . . . . . . . . . . . . . . Phänomenologie des Gegenstandes der Genussintentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nacktheit der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . .

622

2.3.1

. . . . . . .

558 558 559 562 563

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

622 626 A

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

13

Inhalt

Eigenwirklichkeit des Materiellen, des anderen Menschen und der anderen Lebewesen . . . . . . . . . . . . Das Materielle und die naturwissenschaftliche Perspektive .

2.3.4 2.3.4.1 2.3.4.2

2.3.4.3

2.3.4.4

14

Das getrennte Subjekt und der Genuss . . . . . . . Das vom Genuss her verstandene Subjekt . . . . . . Die Momente der Spontaneität im Genuss . . . . . Eine ursprüngliche Form von Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine ursprüngliche Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . Eine ursprüngliche Form des Strebens . . . . . . . . . . Zur Einbindung der drei Momente in den Genuss . . . . Der Zusammenhang von Spontaneität und Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Wir haben die Spontaneität des Lebens nicht in Zweifel gezogen.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Vermeidung des Kausalitätsbegriffs . . . . . . . . . Abhängigkeit im Sein – das konstituierte Subjekt . . . . . Abgrenzung von inadäquaten Interpretationen der Konstitution des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeit von der Nahrung, Schöpfung und Fruchtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitlichkeit der Konstitution und Unmittelbarkeit des Subjekts zu sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeit von der Nahrung und Abhängigkeit vom Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu transzendentalphilosophischen Anfragen an die Theorie der leiblichen Konstitution des Subjekts . . . . . . . Zur Bedeutung des Genusses im Geschehen der Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

627 630 633 633 636 637 643 646 649 651 651 656 657 659 664 666 671 674 675

2.3.5

Leiblichkeit als Wohnen . . . . . . . . . . . . . . .

690

2.3.6

Das mütterliche und erotisch ›Weibliche‹

. . . . . .

693

2.3.7

Der Leib als Ich-kann (Besitzen und Arbeiten) und die Konstitution des Dinges . . . . . . . . . . . . . . .

700

2.3.8

Der Leib und das Vorstellen . . . . . . . . . . . . .

705

2.3.9

Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

713

SCIENTIA

RELIGIO

Stephan Trescher https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Inhalt

2.4

Die Bedeutung des Leibes in der ethischen Beziehung zum Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Unterscheidung zwischen leiblicher und ethischer Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der leibliche Genuss als bleibendes Ereignis der Getrenntheit des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die leibliche Passivität als Öffnung für die Exteriorität des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Bedeutung des Leidens . . . . . . . . . . . . . . . Leib-Phänomene der Passion für den Anderen . . . . . . Die Leiblichkeit des Anderen in der ethischen Aufforderung Leiblichkeit und Selbstgabe . . . . . . . . . . . . . . . Die Dinge in der Beziehung zum Anderen . . . . . . . . Kunstwerke in der Beziehung zum Anderen . . . . . . .

735 744 759 765 774 778 782

2.5

Die religiöse Bedeutung des Leibes . . . . . . . . . .

789

2.6

Die verschiedenen Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes – im Vergleich mit Fichte . . . . . . . . . Die Dimension des Unendlichen zwischen Leiblichkeit und Geistigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alles entfaltet sich ausgehend vom Leib . . . . . . . . . Wirklichkeit und Leib – Leibhaftigkeit . . . . . . . . . . Zu den negativen Aspekten der Leibverhaftetheit . . . . Naturvergötterung – Naturmystik? . . . . . . . . . . . Gott und die Natur – die übersehene Natur . . . . . . . Ein erster Schritt heraus aus der Absurdität und dessen bleibende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bezug der Gestalt und der Haltung des Leibes auf das Unendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unabhängigkeit des ethischen Lebens vom Leib – und wie er sie zulässt . . . . . . . . . . . . . . . . Kein Hindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die bleibende Bedeutung der leiblich-selbstbezogenen Konstitution des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . Genuss als Erleben der Güte Gottes? . . . . . . . . . . Interleiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transzendierende Passivität . . . . . . . . . . . . . . . Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

728 728 734

803 803 804 805 806 810 811 813 815 817 818 821 821 823 824 828

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Inhalt

Ein Sinn in der Sinnlosigkeit des passiven Konfrontiertseins mit dem Materiellen? . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begegnung mit dem Gesicht – die ethische Leiblichkeit des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdruck des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . Authentizität des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . Schönheit und Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . Zur Leiblichkeit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . Geben und Dienst – der Tätigkeitsleib . . . . . . . . . . Unwillkürliches Leben – Korrektur der Freiheit . . . . . . Selbstzweckliches, spielerisches Leben . . . . . . . . . . Leiberleben und Gotterleben . . . . . . . . . . . . . . Die wesentliche Konkretion oder Bestimmtheit des Lebens im Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dinge und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leibliche Endlichkeit und der Schritt zur Unendlichkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hat Gott einen Leib? Kann er einen haben? . . . . . . . Schöpfung, Nahrung und Fruchtbarkeit . . . . . . . . . Fruchtbarkeit und Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . Der Leib und die Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . Leiblichkeit und Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . Eschatologische Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . Offenbarung und Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Leiblichkeit des Gebets . . . . . . . . . . . . . . .

3.

16

832 833 835 840 841 842 844 850 855 856 858 860 865 866 867 870 870 873 876 877 880

Die religionsphilosophische und fundamentaltheologische Relevanz der Ansätze von Fichte und Levinas sowie ihrer Beiträge zur Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit . . . . . . . . .

885

3.1

Zu Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

886

3.1.1

Philosophische Kritik

. . . . . . . . . . . . . . . .

886

3.1.2

Rezipierbar für eine christliche Fundamentaltheologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

893

SCIENTIA

RELIGIO

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Inhalt

3.2

Zu Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

901

3.2.1

Philosophische Kritik

. . . . . . . . . . . . . . . .

901

3.2.2

Möglichkeiten und Grenzen der fundamentaltheologischen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . .

910

Ertrag und Relevanz der Gegenüberstellung beider Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

927

Ausblick auf eine Anwendung der Ergebnisse – Leiblichkeit in Eucharistie und kontemplativem Gebet .

939

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

945

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

962

Namensregister

965

3.3 4.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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»[W]ir sehen ihn als Stein, Kraut, Thier, sehen ihn, wenn wir höher uns schwingen, als Naturgesetz, als Sittengesetz, und alles dieses ist doch immer nicht Er. [... E]r ist dasjenige, was der ihm ergebene, und von ihm begeisterte thut. Willst du Gott schauen, wie er in sich selber ist, von Angesicht zu Angesicht? [...] Schaue an das Leben seiner Ergebenen, und du schaust Ihn an; ergieb dich selber ihm, und du findest ihn in deiner Brust.« Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre

»Die Idee des Unendlichen im Bewußtsein ist ein Überfließen dieses Bewußtseins; die Inkarnation dieses Überfließens bietet einer Seele, die nicht länger paralysiert ist, neue Vermögen, das Vermögen zu empfangen und zu geben, das Vermögen voller Hände, das Vermögen der Gastlichkeit.« Levinas: Totalität und Unendlichkeit

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Vorwort

Welche Bedeutung kann die Leiblichkeit in der Gottesbeziehung einnehmen? Um einen ersten, erfahrungsbezogenen Zugang zur vorliegenden Untersuchung anzubieten, möchte ich kurz beschreiben, was mich selbst in meinem religiösen Erleben dazu veranlasst hat, dieser Frage genauer nachzugehen. Da waren zunächst Aufenthalte an Orten wie Jerusalem oder Kafarnaum, die mich in einen Kontakt zur Realität der biblischen Zeugen aus der Vergangenheit gebracht haben. Ohne diese örtliche Verbindung ist es leicht möglich, sie in eine Nebenwelt einzuordnen, die nicht ganz die eigene und nicht ganz real ist. Die Bedeutung von leibhaftigem Kontakt – im doppelten Sinne – zeigte sich ähnlich in der Eucharistie. Es ist ein Unterschied erlebbar, ob man sich der Gegenwart Gottes nur gedanklich versichert oder ob sie in der Eucharistie wie in einer Fortsetzung der Fleischwerdung sinnlich greifbar wird. Auch dass die Worte bei Hochgebet und Kommunion für mich immer mehr in den Hintergrund traten zugunsten einer gestischen und körpersprachlichen Kommunikation, lenkte die Aufmerksamkeit auf das leibliche Geschehen und warf Fragen nach dessen Wirkweise auf. Den deutlichsten Anstoß gaben Erfahrungen mit kontemplativem Gebet. Hier kann sich durch die bloße Ausrichtung auf die Präsenz in der Leibwahrnehmung mit der Zeit ein spürbarer und wirksamer Kontakt zur Gegenwart Gottes einstellen, ohne dass dabei Vorstellung und Sprache in der Weise eine vermittelnde Rolle spielen wie in den sonstigen Gebetsformen. Besonders für die Deutung dieser erstaunlichen mystisch-kontemplativen Wirkung des Leiblichen fand ich in den Kategorien, die mir bis dahin im Studium theologischer Autoren an die Hand gegeben wurden, keine befriedigende Hilfe. Das ließ mich auf die Suche gehen. Bei Fichte und Levinas fanden sich Konzepte von Leiblichkeit und Transzendenzbezug, von denen aus sich ein differenziertes Deutungsraster für religiöse Phänomene wie die beschriebenen entwickeln ließ. Die vorliegende Untersuchung wurde 2014 an der Albert-LudLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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Vorwort

wigs-Universität Freiburg für den Arbeitsbereich Fundamentaltheologie als Dissertation eingereicht. Für das Erstgutachten und die Betreuung bedanke ich mich herzlich bei Prof. Dr. Magnus Striet. Von seiner Art, Fundamentaltheologie zu betreiben, von seinen kritischen Anfragen und dem anregenden Austausch habe ich viel profitiert. Dass er mein Projekt auch durch alle Wandlungen und Ausweitungen hindurch mit großem Vertrauen begleitet hat, weiß ich sehr zu schätzen. Herzlich danke ich auch Prof. DDr. Markus Enders für die Erstellung des Zweitgutachtens und die detaillierten Rückmeldungen zu meiner Untersuchung. Dankbar bin ich ihm zudem für die wertschätzende Aufnahme in die Reihe Scientia et Religio. Mein Dank gilt dafür auch dem Mitherausgeber Prof. Dr. Bernhard Uhde. In diesem Zusammenhang möchte ich außerdem Herrn Lukas Trabert vom Alber-Verlag für die sehr freundliche Begleitung der Veröffentlichung danken. Das hier dokumentierte Forschungsprojekt wäre nicht möglich gewesen ohne finanzielle Unterstützung. An erster Stelle danke ich dem Cusanuswerk. Neben der ideellen Förderung gab mir das Promotionsstipendium den nötigen Raum zum konzentrierten Arbeiten. Die Drucklegung wurde ermöglicht durch eine Publikationsbeihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dankbar bin ich daneben auch der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für die Auszeichnung durch den Bernhard-Welte-Nachwuchsförderpreis. Es ist mir wichtig, an dieser Stelle Prof. Dr. Josef Schmidt SJ von der Hochschule für Philosophie in München meinen innigen Dank auszudrücken. Er hat als erster in mir ein Verständnis und eine Faszination für Fichtes Spekulationen geweckt. Daneben gilt mein Dank Dr. Franz Bader. In seinen Fichte-Lektüre-Seminaren an der LudwigMaximilians-Universität München hat er uns leidenschaftlich darin geschult, uns Fichtes Gedankengebäude lebendig anzueignen und kritisch weiterzubauen. Außerdem danke ich herzlich Prof. Dr. Hitoshi Minobe für die gemeinsame Lektüre von Fichtes Erlanger Wissenschaftslehre und den wertvollen Austausch. Auch in der Auseinandersetzung mit Levinas habe ich wesentliche Unterstützung erfahren. Mein Dank gilt besonders Prof. Dr. Dr. h. c. Josef Wohlmuth, Prof. Dr. Ludwig Wenzler und Prof. Dr. Dr. h. c. Bernhard Casper. Die Gespräche mit ihnen haben mich eindringlich mit den Potentialen des levinasschen Denkens konfrontiert und dazu bewegt, es nicht nur, wie ursprünglich geplant, in Teilkonzepten zu rezipieren und diese in einen transzendentalphilosophischen, stärker 20

SCIENTIA

RELIGIO

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Vorwort

von Fichte geprägten Ansatz einzubauen, sondern es für meine Fragestellung so weit wie möglich in seiner methodischen Fundierung und Stringenz zu rekonstruieren und von da aus in einen Dialog mit Fichte zu bringen. Nicht zuletzt möchte ich mich für die vielfältige fachliche und menschliche Unterstützung aus meinem Kollegen-, Verwandtenund Freundeskreis bedanken. Ausdrücklich danke ich Sylvaine Gourdain und Jan Roser für die Hilfe bei Übersetzungs- und Interpretationsfragen in Bezug auf die französischen Levinas-Texte. Namentlich nennen möchte ich außerdem alle, die mir formale und inhaltliche Rückmeldungen zum Manuskript gegeben haben: Sr. Monika Amlinger, Patrizia Baxla, Christoph Bruns, Clemens Carl, Adrian Giele, Richard Graupner, Johannes Lorenz, Gregor Scherzinger, Benedikt Schmidt, Christiane Schubert, Christian Schuck, Matthias Storch, Sylvia Tag, Anna-Lena Trescher und Melanie Wurst. Ein herzliches Dankeschön an alle! Vechta im Juni 2017

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Einführung in die Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung

Das Ziel dieser Untersuchung ist ein doppeltes. Zum einen soll auf philosophischem Weg versucht werden, die verschiedenen Funktionen oder Bedeutungsaspekte der Leiblichkeit des Menschen in seiner Gottesbeziehung in den Blick zu nehmen. Dies geschieht neben dem religionsphilosophischen Interesse als Teil einer fundamentaltheologischen Reflexion der christlichen Religion. Zum anderen sollen in der Auseinandersetzung mit der genannten Thematik zwei philosophische Traditionen, Transzendentalphilosophie und Phänomenologie, ausgehend von zwei ihrer Vertreter – Johann Gottlieb Fichte und Emmanuel Levinas, die beide für eine Grundlegung der Theologie schon rezipiert werden – in eine fruchtbare Kooperation gebracht werden. Zum ersten Ziel: Als Reaktion auf die jahrhundertelange Vernachlässigung der Dimension des Leiblichen im Christentum und in der westlichen Kultur überhaupt sowie durch die daraus folgenden Probleme kam es in den letzten Jahrzehnten zu einem Bewusstseinswandel. Man versucht heute nicht nur, den Leib abwertende Tendenzen, etwa in Form eines skrupulösen Umgangs mit der Sexualität oder einer übertriebenen Askese, zu überwinden, sondern man entdeckt, welche ungeahnten Potentiale in einer bewussten Integration der Leiblichkeit liegen – für ein erfüllteres Leben sowie eine erfülltere Gottesbeziehung. Dieser Wandel in der christlichen Lebenspraxis spiegelt sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wider. In den letzten Jahren finden sich in der Literatur der Praktischen Theologie verstärkt Impulse und Reflexionen zu einer solchen Integration für ganz verschiedene Felder der Glaubenspraxis. 1 In der ErschlieVgl. dazu etwa die Übersicht bei Julia Koll (2007, 17–19) über verschiedene neuere Arbeiten, welche die Rolle der Leiblichkeit z. B. in der Bibliodramaarbeit, in Frauenliturgien, in der Krankenhaus-Seelsorge oder in religiösen Bildungsprozessen analysieren. Koll selbst untersucht Formen des Körpergebets.

1

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Einführung

ßung eines reflektierten Verständnisses der Leiblichkeit und ihrer Rolle in den jeweiligen Bereichen wird teilweise auf philosophische Leibkonzepte zurückgegriffen. 2 Dies erscheint insofern erforderlich, als die Wissenschaftlichkeit einer solchen Deutung und Reflexion von Glaubenspraxis nicht zuletzt davon abhängig ist, dass die verwendeten Begriffe und Konzepte rational gerechtfertigt sind. Auch die Reflexionen über die Leiblichkeit in der systematischen Theologie knüpfen deshalb vielfach an philosophische Leibtheorien an. 3 Die Untersuchungen der vorliegenden Arbeit stellen sich in diese Linie und versuchen religionsphilosophische Grundlagenarbeit für die Würdigung der Leiblichkeit in der theologischen Reflexion zu leisten. Sie gliedern sich damit in den Forschungsbereich der Fundamentaltheologie ein. Sieht man die Aufgabe speziell dieser Disziplin, aber auch der systematischen Theologie überhaupt, darin, so weit wie möglich auf der Basis eines allgemeinen, von offenbarungsreligiösen Glaubenssetzungen zunächst unabhängigen rationalen Diskurses die Bedeutung der christlichen Glaubensinhalte zu erschließen und sie zu rechtfertigen bzw. kritisch zu prüfen, dann stellen in Bezug auf eine theologische Würdigung der Leiblichkeit und den dafür erfolgenden Rückgriff auf philosophische Leibtheorien besonders folgende Herausforderungen: Hildrun Keßler z. B. geht für eine Reflexion der Bibliodrama-Arbeit von Maurice Merleau-Ponty aus (1996). Auf denselben Denker stützen sich Stefanie Knauß in Bezug auf das Feld filmische und religiöse Erfahrung (2008) und Sybille Becker in Bezug auf Religionspädagogik (2005). Silke Leonhard macht für eine vergleichbare Reflexion der Religionspädagogik verschiedene philosophische Autoren fruchtbar (2006): Merleau-Ponty, Edmund Husserl, Gabriel Marcel und Eugene T. Gendlin, den sie in seinem leibphilosophischen Hintergrund analysiert. Sehr systematisch untersucht Julia Koll (2007) ausgehend von Hermann Schmitz das Themenfeld Körpergebet. Neben phänomenologischen Ansätzen werden auch andere Traditionen herangezogen. So bezieht sich etwa Matthias Beck (2003) für eine theologische Reflexion über den Bereich der psychosomatischen Medizin auf die philosophischen und theologischen Leibkonzepte Karl Rahners und Hans Urs von Balthasar. Marius Trzaski (2008) stützt sich für eine theologische Auseinandersetzung mit Aikido auf Thomas von Aquin. 3 Zur Rezeption von Levinas vgl. unten, Anm. 11; zu jener Fichtes vgl. Anm. 16. Für die Bezugnahme auf weitere Philosophen seien aus der Fülle von Literatur nur zwei Beispiele genannt. So bezieht sich etwa Saskia Wendel (2002, 283–291 u. 295–297) auf eine Vielzahl von phänomenologischen Autoren: auf Bernhard Waldenfels, Edith Stein, Gernot Böhme, Hermann Schmitz und Maurice Merleau-Ponty (ähnlich 1998, 210 f. u. 2004). Joachim Negel (2004, 67–71) etwa bezieht sich ebenso auf Schmitz und Merleau-Ponty. 2

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SCIENTIA

RELIGIO

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Einführung

1) Die rationale Rechtfertigung kann sich nicht nur auf den Begriff des Leibes richten, sondern muss auch die Beziehung des Menschen zu Gott religionsphilosophisch in den Blick nehmen und den Zusammenhang mit der Leibtheorie klären. 2) Da die Leiblichkeit alle Vollzüge der menschlichen Existenz bedingt und prägt, kann es nicht nur darum gehen, ihre Rolle in Bezug auf die dogmatischen Themen, in denen sie eine spezielle Bedeutung bekommt, wie etwa leibliche Auferstehung oder Sakramente, zu erhellen, sondern sie muss zunächst einmal ganz offen für den ganzen Weg des Menschen zu Gott untersucht werden. 3) Ein Charakteristikum der Leiblichkeit ist ihre Vieldimensionalität. Man sehe nur auf die Unterscheidung zwischen dem, was man philosophisch Leiblichkeit, und dem, was man Körperlichkeit nennt 4, oder auf den Unterschied zwischen dem Sensitiven und dem Triebhaften. Dazu kommt, dass sie ihre Bedeutung durch die vielen verschiedenen Bezüge erhält, in denen sie steht: die Beziehung zum freien rationalen Subjekt, dessen Leiblichkeit sie ist, die Situierung im Interpersonalverhältnis oder die Beziehung zu den lebensnotwendigen Mitteln wie Nahrung oder Luft. Dadurch kommt der Leiblichkeit auf ganz unterschiedliche Weise eine Bedeutung im Leben des Menschen zu. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird dies deutlich zeigen. Eine wichtige Herausforderung ist daher m. E., den Leib nicht verkürzt wahrzunehmen, etwa nur in seiner Bedeutung als Ausdruck für die geistigen Vollzüge des Menschen, sondern die Vielzahl seiner Funktionen in ihrem komplexen Zusammenspiel in den Blick zu bekommen. 4) Für eine begründete Erschließung dieser Funktionen muss die Theologie selbst philosophisch vorgehen und dafür in den Dialog mit der Philosophie treten. Sie kann dabei nicht einfach nur vorhandene Konzepte übernehmen, sondern muss sie in ihren Begründungen nachvollziehen und in ihrer Überzeugungskraft prüfen. Dabei impliziert eine philosophische Rechtfertigung auch eine Rechenschaft über die Fundamente dieser Rechtfertigung selbst, über die Methode und die Ausgangspunkte der methodischen Erschließung der Thesen. Mit der Behauptung dieses Erfordernisses soll nicht schon eine Vorentscheidung darüber gefällt werden, ob solch eine Fundierung überhaupt möglich ist, worin sie genauer zu suchen ist, wie stark sie zu einer Gewissheit führen kann oder wie sehr sie selbst auf Glaubens4

Vgl. dazu unten, S. 144 f.

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setzungen beruht. Auch welche Rolle dabei das autonome Urteilsvermögen des Subjekts spielt und wie es selbst genauer gefasst wird, ist damit noch nicht festgelegt, sondern dem philosophischen Diskurs überlassen. 5 Wie man sich jedoch in diesen Fragen auch immer positioniert – nach einem möglichst plausiblen philosophischen Ansatz zu suchen, kann eine Theologie, die sich um rationale Rechtfertigung bemüht, nicht unterlassen. Ein Vorgehen, das sich philosophischer Begriffe und Konzepte aus ganz verschiedenen Ansätzen bedient, ohne von einem Fundament aus ihre Integrierbarkeit zu klären, erscheint fragwürdig. 5) Neben der Frage nach der philosophischen Überzeugungskraft ist für die fundamentaltheologische Verwendung an so einen Ansatz die Anforderung zu stellen, dass er den wesentlichen Inhalten des christlichen Glaubens nicht widerspricht oder zumindest gemäß diesen modifiziert werden kann. Dies gilt natürlich ebenso für die Rezeption eines Leibbegriffs und einer Religionsphilosophie. Hier ganz unbesehen philosophische Begriffe und Konzepte für die Theologie aufzugreifen, ist ebenfalls als bedenklich zu betrachten. Für die Würdigung der Leibthematik in der systematischen Theologie ist es aus den dargelegten Gründen m. E. eine wichtige Aufgabe, nach philosophischen Ansätzen zu suchen, die einen plausiblen und ertragreichen Beitrag für eine Klärung des Begriffs des Leibes sowie seiner religiösen Funktionen enthalten und die in diesem Beitrag sowie im ganzen Ansatz als grundsätzlich vereinbar erscheinen mit den christlichen Grundüberzeugungen. Dieser Aufgabe versucht sich die vorliegende Untersuchung zu stellen. Sie knüpft dafür an schon erfolgte Suchbewegungen an. In der systematischen Theologie wurde schon auf verschiedene philosophische Autoren zurückgegriffen, die in dieser Frage vielversprechend sind. Hier werden zwei Das Verständnis von rationaler Rechtfertigung ist bewusst so offen formuliert im Blick auf die Probleme, die sich für Fichte und Levinas in Bezug auf eine solche Rechtfertigung ergeben. Mit diesem offenen Verständnis dürfte ich mich wohl auch noch mit dem treffen, was Thomas Freyer von Levinas her als das Erfordernis einer philosophischen Rechenschaft fasst (vgl. 1998, bes. seine Bezugnahme auf eine »m. E. berechtigte Forderung nach einer ›erstphilosophischen‹ Rückfrage« [49]), oder auch noch mit Carsten Lotz (2008) in seiner sich auf Levinas und Derrida stützenden Kritik an »Letztbegründungsstrategien«, die, wenn ich ihn recht verstehe, nicht auf eine Verabschiedung dieser Rechenschaft zielt, sondern nur auf eine kritische Erhellung der Bedingtheit der Inanspruchnahme eines »unhintergehbaren letzten Begriff[s] im transzendentalen Subjekt« durch den Glauben an seine Autonomie und ein bestimmtes, keineswegs so gewisses Verständnis dieser Autonomie (30).

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herausgegriffen und entsprechend den dargelegten Herausforderungen hinsichtlich der Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit untersucht. Zu den beiden Autoren: Sehr häufig, sowohl in der praxisbezogenen als auch der systematisch-theologischen Literatur, wird für die Reflexion der Leibthematik auf phänomenologische Autoren Bezug genommen. 6 Der Phänomenologie kommt von ihrer Methode her eine besondere Erschließungskraft für die Leiblichkeit zu. Auch waren es historisch vor allem Phänomenologen, die sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben. Einer der wichtigsten Bezugspunkte der theologischen Rezeption ist Emmanuel Levinas. 7 Sein Ansatz soll auf die Fragestellung dieser Arbeit hin untersucht werden. Sein Denken bietet sich für die theologische Reflexion auf den Leib dadurch besonders an, dass er nicht nur sehr eingehend einen Leibbegriff entfaltet, sondern diesen auch in den Kontext einer Religionsphilosophie stellt. In fundamentaltheologischer Perspektive empfiehlt er sich zum einen durch seine philosophische Überzeugungskraft und Aktualität, zum anderen, indem er als recht kompatibel mit dem christlichen Glauben erscheint. 8 Beides gilt es natürlich genauer zu besehen. Wie weit ist Levinas in der hier behandelten Thematik schon erforscht? Der Leibbegriff für sich wurde schon eingehend untersucht. Er findet aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Leiblichkeit in Levinas’ Philosophieren Beachtung in vielen Werken, die sich mit diesem auseinandersetzen. Es gibt auch ein paar kürzere Beiträge, die sich ihm mehr oder weniger direkt widmen. Vor allem aber existiert eine neuere Monographie allein zu diesem Thema. 9 Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes kommen dabei teilweise zur Sprache. Es findet sich aber noch keine Untersuchung, die dieser Frage systeVgl. oben, Anm. 2 u. 3. Vgl. unten, Anm. 11. 8 Es soll hiermit nicht behauptet werden, dass dies ein Alleinstellungsmerkmal von Levinas ist. Ähnlich lohnenswert wäre vermutlich eine Untersuchung der Beiträge etwa von Gabriel Marcel oder Michel Henry, die ebenfalls sowohl eingehende leibtheoretische wie religionsphilosophische Reflexionen bieten und dem Christlichen vielleicht noch näher stehen als Levinas (für Gabriel Marcel vgl. etwa Marcel, 1968 u. 1985; für Michel Henry vgl. Henry, 2002 u. Kühn 1992). Weniger ergiebig speziell für die Frage nach der religiösen Bedeutung des Leibes scheinen mir die Schriften von Maurice Merleau-Ponty, der vielfach wegen seiner breiten phänomenologischen Untersuchung der Leiblichkeit herangezogen wird, zu sein, weil er »eine rein mundane und ästhetische Phänomenologie« (Kühn, 2013, 175) der Leiblichkeit entwickelt. 9 Sirovátka, 2006. 6 7

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matisch nachgeht. Dasselbe Bild zeigt sich, wenn man auf die Literatur zur Religionsphilosophie von Levinas blickt, die ebenfalls schon eingehend erforscht wurde. 10 Mit einer Untersuchung der Frage, welche Rolle für Levinas der Leib speziell in der Beziehung zu Gott spielt, erbringt die vorliegende Arbeit einen innovativen Beitrag zur Levinas-Forschung. Ebenso trägt sie zu seiner theologischen Rezeption bei. Zwar ist Levinas’ Leibbegriff schon vielfach in der Theologie aufgegriffen worden und es kommen dabei schon verschiedene religiöse Bedeutungsaspekte zum Ausdruck 11, eine eingehende Untersuchung In der Literatur zu seinem Leibbegriff oder zu seiner Religionsphilosophie kommen einzelne Aspekte der religiösen Bedeutung, häufig zunächst einmal im Sinne einer ethischen Bedeutung der Leiblichkeit, etwa zur Sprache in Wenzler, 1984; Wenzler, 1987, 214–279; Wiemer, 1988, 100–117; Funk, 1989, 359–416, Esterbauer, 1992, 65–73; Dirscherl, 1996, 403–497; Sandherr, 1998, 93–123; Dickmann, 1999, 395–403; Casper, 1999 (bes. 168–170); Wyschogrod, 1999; Schwind, 2000, 231–233 u. 264–281; von Tippelskirch, 2002, 132–144; Sirovátka, 2006, 131–207 (bes. 204– 207); Bruckmann, 2006, 445–457 u. Purcell, 2006, 73–94 u. 135–154. 11 Josef Wohlmuth etwa sieht in Levinas’ Konzept des inkarnierten Subjekts und seines leiblichen Sichgebens Möglichkeiten einer tieferen Wahrnehmung der Gestalt Jesu und der Eucharistie (2007, 29 f. u. 197–201). Auch hat er versucht, von Levinas’ Beschreibung des inkarnierten Subjekts her die ›Auferstehung im Tod‹ als ein den ganzen Menschen umgreifendes Geschehen zu verstehen (2005, 183 f.). Erwin Dirscherl sieht bei Levinas Potentiale, Geist und Leib als gleichursprünglich anzusehen und vom Leib her die Selbsttranszendierung des Subjekts zu denken (1996, 499). Auch kann er von Levinas ausgehend die Bedeutung der Sinnlichkeit für die Erfahrung der Nähe Gottes herausstellen (2006, 200–208). Für Georg Schwind ist die Beschreibung dieses Zusammenhangs entscheidend wichtig dafür, die Geschichtlichkeit der Offenbarung in einem inkarnierten Gott einsichtig zu machen (2000, 30883 u. 309). Für Saskia Wendel besitzt Levinas’ Konzept einer ethischen Leiblichkeit jenseits des Hedonismus Bedeutung für die Frage, wie sich der unbedingte Anspruch Gottes konkretisieren kann (1996, 170–173). Hansjürgen Verweyen kann mit Hilfe des levinasschen Begriffs der Sinnlichkeit den Menschen als immer schon geöffnet zum sich letztlich entziehenden Anderen begreifen (2002, 167 f.), was ein wichtiges Element seines Ansatzes darstellt. Thomas Freyer sieht in Levinas’ Konzept der leiblichen Passivität Chancen für eine Theologische Anthropologie, die den Menschen akzentuierter in seiner Offenheit für die Transzendenz Gottes wie des Anderen begreifen kann (2009, 24–32). Im selben von Freyer herausgegebenen Band kommen noch verschiedene weitere theologische Perspektiven auf den levinasschen Leibbegriff zur Sprache: seine Bedeutung für ein Verständnis der staurologisch und eucharistisch vermittelten Erlösung des Leibes wie der nur leiblich und noch nicht selbstbewusst existierenden Wesen (Lotz, 2009, v. a. 100 f.), für ein Verständnis irrational maßloser Hingabe in der karitativen Praxis (Fuchs, 2009, 132–136) sowie für die Wahrnehmung der Bedeutung des praktisch leibhaftigen Zeugnisses über alle inhaltliche Bezeugung des Glaubens hinaus (Kirschner, 2009, 145–172). Bernhard Casper arbeitet bei Levinas den zunächst nicht sehr auffälligen Aspekt des Sich-geschenkt-Seins in der leiblichen 10

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der Erschließungspotentiale seiner Philosophie in dieser Frage findet sich jedoch noch nicht und ist gerade durch die schon verschiedentlich erfolgte Rezeption von Interesse. Als zweiter Autor soll Johann Gottlieb Fichte untersucht werden. Seinem Denken kommt wie dem von Levinas für einige Autoren in der Systematischen Theologie grundlegende Bedeutung zu und zumindest in Ansätzen ist auch schon auf sein Leibkonzept Bezug genommen worden. 12 Dies verdient jedoch in weit größerem Umfang zu geschehen, denn Fichte präsentiert nicht nur einen Ansatz, der, wenn auch teilweise etwas sperrig im Verhältnis zum christlichen Glauben, doch in modifizierter Form eine sehr überzeugende Grundlage liefern kann für die fundamentaltheologische Reflexion, sondern erschließt transzendentalphilosophisch auch ein sehr detailliertes Konzept der Leiblichkeit, das über die Einbindung in seine vielfältigen religionsphilosophischen Überlegungen einen reichen Beitrag für die Fragestellung dieser Untersuchung liefern kann. In seiner Monographie über Fichtes Leibbegriff bemerkt Harald Schöndorf: »Man darf Fichte wohl als den ersten großen Philosophen der Moderne bezeichnen, der eine ausführliche Philosophie des Leibes entwickelt und dem Leib in manchen seiner Werke sogar eine ganz zentrale Stellung einräumt.« 13 Fichte findet dazu ausgehend von offengebliebenen Fragen in der kantischen Philosophie, an die er anknüpft, in der er die Materialität aber mehr oder weniger nur auf der Ebene der objektiven Erscheinungswelt analysiert findet. Die Frage nach der Herkunft des sinnlichen Gehaltes führt ihn zu einem Verständnis des Subjekts als eines selbst in der Sphäre des Materiellen Tätigen und dabei Begrenzten. 14 Die Frage nach der Anwendung des kategorischen Imperativs und seiner Konkretisierung in bestimmte Pflichten lässt ihn einen Begriff des Leibes als Sphäre der Selbstverwirklichung des Subjekts und der zwischenmenschlichen Interaktion entwerfen. 15 Für die Frage Bedürftigkeit heraus (1999, 66–169) und denkt infolgedessen auch in seinen eigenen theologischen Überlegungen sehr stark die religiöse Bedeutsamkeit des Leibes (2010, 33–37). Daneben kann er von Levinas her die Bedürftigkeit auch als Moment der ethischen Beziehung zum Anderen bestimmen, in der sich die Gottesbeziehung ereignet (2010, 37–46). 12 Zur Rezeption Fichtes in der Systematischen Theologie vgl. unten, S. 33. Zur Rezeption seines Leibbegriffs vgl. unten, Anm. 16. 13 Schöndorf, 1982, 12. 14 Vgl. unten, S. 132–141. 15 Vgl. unten, S. 129 f. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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nach der religiösen Bedeutung des Leibes ist vor allem seine Spätphilosophie aufschlussreich, da Fichte hier anstrebt, alle wesentlichen Momente des menschlichen Daseins, und dazu gehört auch die Leiblichkeit, als Bedingungen für die Verwirklichung der Beziehung zum Absoluten zu erhellen. Fichtes Beitrag zur Forschungsfrage dieser Arbeit ist bisher noch kaum erschlossen. Es finden sich zwar bereits vereinzelte Rezeptionen von Fichtes Leibbegriff in der Theologie 16 und der Leib wird dabei in seiner religiösen Bedeutung thematisiert. Eine genauere Untersuchung dazu, welche Funktionen des Leibes in der Gottesbeziehung von Fichte her greifbar werden können, findet sich jedoch noch nicht. In der Fichte-Forschung ist seine Religionsphilosophie schon eingehend analysiert worden, dem Thema der Leiblichkeit wird hierbei jedoch nur selten Beachtung geschenkt. 17 Es hat sich, soweit ich sehe, noch keine Untersuchung eingehender der Frage nach der religiösen Saskia Wendel (1996, 166–168) arbeitet in einem fundamentaltheologischen Beitrag von Fichte her besonders die beiden Aspekte des Leibes heraus, dass er einerseits sinnliche Vorstellung und sinnlicher Trieb ist, von dem es sich zu lösen gilt für die Entsprechung zur Erscheinung Gottes im unbedingten sittlichen Sollen, andererseits aber gerade das Medium der Verwirklichung der gesollten interpersonalen Anerkennung darstellt. Hansjürgen Verweyen deutet für seinen Versuch, »die Sinnenwelt […] in abstrakten Kategorien als notwendige Möglichkeitsbedingung für die Freiheit als Bild des Absoluten« zu begreifen (2002, 175–185), eine Bezugnahme auf die Leibdeduktionen Fichtes, speziell in der Wissenschaftslehre im allgemeinen Umrisse, an (175107 ). Von dessen Ideen lassen sich bei ihm finden: wie bei Wendel das Verständnis der Sinnenwelt als Medium interpersonaler Anerkennung und zugleich als Trieb, zu dem für diese Anerkennung ein freies Verhältnis gefunden werden muss. Daneben die Idee, die Natur über die mechanistische naturwissenschaftliche Perspektive hinaus als eine sich auf Freiheit hin entwickelnde zu verstehen. Er greift kritisch auf Fichtes Überlegungen zur Notwendigkeit von Eigentum zurück. Und als zumindest von Fichtes früher Religionsphilosophie inspiriert ist es m. E. zu betrachten, wenn für ihn die Unverfügbarkeit der leiblichen Sphäre und die Möglichkeit, dass sie für das Bildwerden des Absoluten gar nicht geeignet ist, nach Gott verlangt. In der 1. Auflage seines Grundrisses lässt sich in seinen Ausführungen zur Materialität m. E. im Hintergrund die fichtesche Lehre von den fünf Stufen der Weltsicht und von der jeweiligen Bedeutung des Leibes wahrnehmen (1991, 252–254). Stefan Gnädinger (2003, 136–142) möchte die fichtesche Auseinandersetzung mit dem Vorsehungsgedanken fruchtbar machen für ein mögliches Verständnis eines göttlichen vorsehenden Wirkens in der materiellen Welt und für einen religiösen Umgang mit eigenem Leid. 17 Einen guten Forschungsüberblick zu Fichtes Religionsphilosophie bietet Björn Pecina (2007). Er selbst geht in seiner Monographie nicht auf das Thema der Leiblichkeit ein. Innerhalb der religionsphilosophischen Literatur finden sich Bemerkungen dazu etwa in Janke, 1993, 395–431; Wilhelm, 1997, 234–254; Gnädinger, 2003, 84–87 u. 119–123 u. Wladika, 2008. 119–121. 16

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Bedeutung des Leibes bei Fichte gewidmet. In der Erforschung seines Leibbegriffs wird zwar, da er ihn sehr stark innerhalb der Ethik entfaltet, vielfach auf seine sittliche Bedeutung eingegangen, und diese ist auch für die Gottesbeziehung relevant, ausdrücklich kommen aber Aspekte seiner religiösen Bedeutung nur selten zur Sprache. 18 Fichtes Leibbegriff ist schon vielfach erforscht worden. Eine systematische Rekonstruktion seiner Leibtheorie im Rahmen seines Ansatzes zur Zeit um 1806, auf den hier Bezug genommen wird, da erst in ihm die Religionsphilosophie zu ihrer Entfaltung gekommen ist, findet sich jedoch noch nicht. 19 Neben einem Beitrag zur möglichen FichteRezeption in der Theologie kann die vorliegende Untersuchung somit auch einen Beitrag zur Fichte-Forschung erbringen, sowohl in Bezug auf Fichtes Leibkonzept als auch die Frage nach der religiösen Bedeutung des Leibes. Weshalb wird auf zwei Autoren Bezug genommen? Diese Frage leitet zum zweiten Ziel der Arbeit über, sie lässt sich aber zunächst einmal auch in Bezug auf das erste beantworten. Es soll der Leib in der Vielzahl der Weisen, wie er religiös bedeutsam wird, möglichst weit in Aspekte der ethischen Bedeutung kommen in fast allen Untersuchungen des fichteschen Leibbegriffs zur Sprache (vgl. unten, Anm. 19). Zumindest Hinweise auf die religiöse Bedeutung finden sich etwa in Girndt 1990; Maesschalck, 1993, 671–675; Ivaldo, 2006 u. Traub, 2006, 179–193 u. 319–328. 19 Die erste große Untersuchung von Harald Schöndorf aus dem Jahr 1982 betrachtet vor allem den frühen Fichte und geht dann nur kurz auf die späteste Zeit ein. Auch die 2011 erschienene Monographie zu Fichtes Leibbegriff von Benedetta Bisol behandelt neben der frühen Zeit nur die späten Berliner Jahre. Sie stellt ausführlicher als Schöndorf die weitestgehende Kontinuität im Leibdenken heraus (vgl. auch 2007, 58–64), was als Bestätigung auch meiner Untersuchung gelten kann, die eine Kontinuität in der Beschreibung der Form des Leibes zwischen der frühen Zeit und der um 1806 herausarbeitet. Eine Bestätigung dafür sehe ich auch in Reinhard Lauths systematischer Darstellung der fichteschen Naturlehre von 1984, die auch Aspekte der Leibtheorie enthält und ohne eine Beschreibung einer diachronen Entwicklung sich auf Schriften aus allen Zeiten Fichtes stützt. Neben der Kontinuität in der Form des Leibes werde ich freilich auch wichtige Entwicklungsschritte von der frühen zur späteren Zeit in der Sicht auf die Konstitution des Leibes erschließen. Sonst geht die Literatur, die sich auf Fichtes Leibbegriff bezieht, soweit ich sehe, entweder fast ausschließlich auf den frühen Fichte ein (Grätzel, 1989, 61–65; Rohs, 1991; Maesschalk, 1993; De Pascale, 1994; Clam, 1996; Kottmann, 1998; López-Domínguez, 1999; Zöller, 2001; Binkelmann, 2006; Cesa, 2006; Zöller, 2007 u. Stache, 2010, 145–198) oder thematisiert zumindest nicht die Entwicklung des Leibbegriffs bis zur Zeit um 1806 (Schulte, 1969; Maesschalck, 1993; Hoffmann, 2003 u. 2003a, 488–509; Kühn, 2003; Bisol, 2006 u. Ivaldo, 2006). 18

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den Blick gebracht werden. Erschöpfend wird dies nie gelingen. Mit zwei Autoren ist zumindest eine Ausweitung der Perspektive erreicht. Es wird sich zeigen, wie sich Fichte und Levinas hier sehr fruchtbar ergänzen können, indem sie das Grundereignis der menschlichen Existenz schon vom Ansatz her verschieden beschreiben – Fichte als Tätigkeit und Freiheit, Levinas als passives Betroffensein durch den Anderen – und entsprechend die Bedeutung der Leiblichkeit in verschiedene Richtungen herausarbeiten. Eine Ergänzung für die jeweils andere Theorie kann dies dadurch sein, dass sekundär für Levinas auch Tätigkeit und Freiheit und für Fichte Passivität und Interpersonalität von Bedeutung sind. Die Bezugnahme auf zwei Autoren kommt dem ersten Ziel außerdem insofern entgegen, als es dezidiert um eine in Begründung und Methode ausgewiesene philosophische Rechtfertigung des Leibdenkens geht und dafür m. E. der Diskurs zwischen verschiedenen Ansätzen nötig ist, um die Verhaftung an vorschnellen Selbstverständlichkeiten und methodische Einengungen zu überwinden. Auch hier ist eine umfassende Berücksichtigung der Diskursbeiträge natürlich nicht möglich. Mit Fichte und Levinas als Vertreter zweier großer Traditionen, der von Kant ausgehenden Transzendentalphilosophie und der von Husserl initiierten Phänomenologie, ist zumindest ein Anfang gemacht. Sie sind sich so nahe, dass eine Basis der Verständigung gegeben ist, sind sich aber gleichzeitig fern genug, um sich gegenseitig etwas zu sagen zu haben. Dass von ihnen aus mehr oder weniger dieselben Aspekte der religiösen Funktionen der Leiblichkeit greifbar werden, diese aber zum Teil im Gesamtzusammenhang des jeweiligen Verständnisses der Beziehung zu Gott eine sehr verschiedene Bedeutung bekommen, kann dafür sensibilisieren, wie sehr die Bestimmung dieser Bedeutung von einer keineswegs selbstverständlichen ethischen und religiösen Grundintuition abhängt. Im Blick auf die Methodenunterschiede kann man die phänomenologische Beschreibung der Leiblichkeit als Ergänzung zu Fichtes transzendentalen Konstruktionen ansehen, da sie sehr viel anschaulicher deren Erleben erschließt. Insofern die Transzendentalphilosophie immer an die Beschreibung von Bewusstseinsgegebenheiten anknüpfen und die erschlossenen Bestimmungen an ihnen überprüfen muss, kann sie dieser m. E. auch ein gewisse rechtfertigende Bedeutung zugestehen. So können die phänomenologischen Analysen von Levinas, insofern sie zu denselben Ergebnissen kommen – und dies trifft für die meisten Elemente des Leibbegriffs zu –, eine Bestätigung, und, wenn zu anderen, eine Ergänzung zu oder eine 32

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kritische Anfrage an seine Theorie darstellen. Umgekehrt kann der durch Fichte geschulte Blick für die transzendentalphilosophischen Möglichkeiten der Erhellung des Leibbegriffs zu einer deutlicheren Wahrnehmung des Moments des Transzendentalen in der phänomenologischen Erschließung bei Levinas führen. Dies kann zudem auf eine konsequentere Explikation der häufig eher implizit behaupteten Bedingungsgefüge und Funktionszusammenhänge drängen, in denen die Leiblichkeit steht und die gerade für die Analyse der religiösen Bedeutung des Leibes wichtig sind. Mit einem von Fichte her geschärften Bewusstsein für die Notwendigkeit einer in sich konsistenten Erhellung der transzendentalen Bedingungsgefüge stellen sich, wie sich zeigen wird, zunächst gewichtige Anfragen an den levinasschen Ansatz, vor allem in Bezug auf das Zusammenspiel von Heteronomie und Autonomie, die leibliche Konstitution des Subjekts und die Widerspruchsfreiheit seiner Methode. Sie drängen zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dessen Rechtfertigung, zu einer Herausarbeitung der Lösungsansätze für diese Anfragen, die sich von Levinas selbst her ergeben, und somit zu einem tieferen Verstehen seines Denkens. Diese Hinweise mögen zunächst als Erklärung dafür genügen, wie der Vergleich beider Denker und der Dialog, in den sie dadurch gebracht werden, eine Erhöhung der kritischen Rechtfertigungspotentiale ihrer Beiträge erbringen kann. Beide Denker, und damit ihre Traditionen, in eine Kooperation zu bringen, empfiehlt sich daneben auch aus einem innertheologischen Grund. Dieser stellt den Hauptanlass dar für dieses zweite Ziel der Untersuchung. Sowohl auf Fichte als auch auf Levinas wird vielfach für eine philosophische Grundlegung systematisch theologischer Aussagen zurückgegriffen. Es lassen sich in der gegenwärtigen theologischen Landschaft verschiedene Richtungen beobachten, wobei eine eher transzendentalphilosophisch und eine andere phänomenologisch vorgeht, sich auf entsprechende Autoren und dabei auch besonders auf Fichte bzw. Levinas stützt. Es finden natürlich zahlreiche Überschneidungen statt, man integriert häufig Elemente der anderen Seite oder befindet sich zumindest in einem kritischen Austausch. Mit der Rede von einer transzendentalphilosophischen, sich vielfach direkt und indirekt an Fichte orientierenden Richtung sind Autoren wie etwa Thomas Pröpper, Hansjürgen Verweyen, Magnus Striet, Klaus Müller oder Saskia Wendel gemeint, um ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Namen zu nennen, auf die hier Bezug genommen wird. Von einer phänomenologischen, sich stark auf Levinas Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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stützenden Richtung kann man m. E. in Bezug etwa auf die Autoren Bernhard Casper, Ludwig Wenzler, Josef Wohlmuth, Thomas Freyer oder Erwin Dirscherl sprechen. Zwischen beiden Richtungen ist eine rege Diskussion im Gange. Dies zeigt besonders eine Debatte zwischen Klaus Müller und Thomas Freyer in den 1990er Jahren 20, aber auch die späteren Stellungnahmen zu ihr 21 und die vielfältigen sonstigen Bezugnahmen auf die jeweils andere Richtung. 22 Um der Bedeutung der verhandelten Sache willen verdient sie es, fortgesetzt zu werden. Der Beitrag der vorliegenden Untersuchung zu dieser Auseinandersetzung um die Frage nach dem philosophischen Ansatz, mit dem man theologische Fragen angehen möchte, wird nicht darin bestehen, dass diese direkt die verschiedenen heute vertretenen Modelle in ein Gespräch bringt, sondern wird nur indirekt über ein Gespräch zwischen Fichte und Levinas geleistet. Dabei wird sie jedoch die Anfragen, die in der bisherigen Auseinandersetzung an Fichte oder Levinas oder an ein in ihrer Tradition stehendes Denken formuliert wurden, zu berücksichtigen versuchen. Indem, hauptsächlich in Anmerkungen, auf sie Bezug genommen wird, vor allem aber durch die am Ende der Untersuchung erfolgende und diese Anfragen aufnehmende kritische Betrachtung der philosophischen Überzeugungskraft und der fundamentaltheologischen Relevanz der Ansätze von Fichte und Levinas und deren Beitrag zur Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit wird sie sich zur bisherigen Debatte in ein Verhältnis setzen. Eine Herausforderung besteht darin, weder in eine vorschnelle Harmonisierung zu verfallen, welche die eigentlichen Spitzen der beiden Ansätze einebnet, noch in solche polemische Abgrenzungen, die diese Spitzen in Extreme treiben, welche der zugrunde liegenden Intention schon gar nicht mehr entsprechen oder die den gegnerischen Ansatz zu einem Pappkameraden verfremden. Die hier erarbeitete Interpretation versucht zunächst, ob es möglich ist, den jeweiligen Ansatz als in sich konsistent, wohlbegründet und als fähig zu verstehen, den verschiedenen an ihn gestellten Anfragen Stand zu halten. Dies lässt sich für Fichte wie für Levinas sehr weitgehend zeiVgl. Freyer, 1992; 1996; 1997 u. 1998 sowie Müller, 1997 u. 1998. Vgl. Grümme, 1998; Sandler, 1999; Schwind, 2000, 321 f.115 u. Lotz, 2008, v. a. 136– 143. 22 Vgl. etwa Schwind, 2000, v. a. 216–224 u. 315–324; Wohlmuth, 2002, 43 f. u. 157 f. u. 2006; Dirscherl 2006a, 254 f.; Lotz, 2008, v. a. 51–143 u. 339–365; Verweyen, 2008, 104; Freyer, 2009; Pröpper, 2011, 709–712 o. Striet, 2013. 20 21

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gen. Mit gewissen Modifikationen sind beide auch geeignet, zu einer philosophischen Grundlegung der Theologie herangezogen zu werden. Die Gründe für die Ablehnung einer der beiden Ansätze beruhen häufig auf Missverständnissen. Es wird versucht, diese an den entsprechenden Stellen aufzuzeigen. Für welchen der beiden man sich entscheidet, kann der hier vorgetragenen Interpretation nach weniger an der Einschätzung der philosophischen Überzeugungskraft noch der Zusammenstimmung mit christlichen Glaubensinhalten hängen, sondern daran, welcher ethischen Grundintuition, die bei beiden Ansätzen den eigentlichen Aufhängepunkt der Begründung darstellt, man in einem letztlich kaum mehr verhandelbaren persönlichen Akt mehr Plausibilität zugesteht. Nicht zuletzt mit diesem zur Diskussion gestellten Ergebnis und dem daraus folgenden begründeten Verzicht, sich für einen Ansatz auszusprechen, nimmt die vorgelegte Untersuchung eine Position in der gegenwärtigen Debatte ein. Neben der Interpretation und der systematischen Rekonstruktion des Beitrags der beiden Denker für die hier behandelte Fragestellung werden sie auf die Weise dahingehend in ein Gespräch gebracht, dass sie verglichen und mit den sich vom Anderen her ergebenden Anfragen konfrontiert werden. Die Herausforderung ist dabei zunächst, zwischen zwei ziemlich verschiedenen Denk- und Sprechwelten Übersetzungsarbeit zu leisten, um die sachlichen Berührungspunkte und überhaupt die Vergleichspunkte herauszufinden. Zudem kann es nicht nur darum gehen, lediglich die Resultate zu vergleichen. Zu einer fruchtbaren Kooperation, in der es eventuell möglich sein soll, Einsichten des Anderen verantwortet zu integrieren, ist ein Nachvollziehen der Begründungen vorausgesetzt, die zu diesen Resultaten führen. Deshalb wird versucht zu zeigen, wie weit sich Fichte und Levinas in Argumentationen bewegen, die der Andere anerkennen könnte, und wo genau sich ihre Wege trennen. Dafür sowie für die Übersetzungsleistung kann sich diese Arbeit zum Teil auf das bereits in der genannten theologischen Auseinandersetzung zur Sprache Gebrachte stützen, teils auch auf philosophische Untersuchungen. In der Philosophie hat eine Erforschung des Verhältnisses von Fichte und Levinas bis jetzt freilich nur in wenigen Aufsätzen stattgefunden. 23 Der Vergleich der beiden Autoren in der Frage nach der religiösen Bedeutung des Leibes, der einen Vergleich ihres LeibVgl. Olivetti, 1984; von Manz, 1994; Wendel, 1996; Lumsden, 2000; Scribner, 2000; Dalton, 2006; Senigaglia, 2010 u. Radrizzani, 2010. Eingehender wurde Levinas be-

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begriffs, ihrer Religionsphilosophie sowie ihres philosophischen Ansatzes und seiner ethischen Grundlegung impliziert, kann so einen Beitrag zur philosophischen Forschung erbringen. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, Fichte und Levinas in Bezug auf die spezielle Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit zu vergleichen. Da sich gerade im Leibbegriff sehr viele Übereinstimmungen zwischen beiden finden, aber vor allem in dessen Einbindung in die Religionsphilosophie die Unterschiede zwischen den Ansätzen auch deutlich zu Tage treten, eignet sich diese Fragestellung in besonderer Weise für ein Gespräch zwischen ihnen. Sie ist zudem geeignet, gängige Vorurteile infrage zu stellen, etwa das Vorurteil, Levinas würde nur Phänomene beschreiben, ohne transzendentalphilosophisch nach deren Bedingungen rückzufragen. Er kann seinen Leibbegriff nur erschließen, indem er hinter das unmittelbar phänomenal Gegebene transzendental zurückgeht. Auch kann er die ethische sowie die religiöse Bedeutung der Leiblichkeit nur erhellen, wenn er sie im Bedingungsgefüge der anderen Dimensionen der menschlichen Existenz betrachtet. Infrage zu stellen gilt es daneben etwa das gängige Vorurteil gegen Fichtes Transzendentalphilosophie, sie tue sich schwer damit, die Dimension des Leiblichen zu erschließen und zu integrieren. Diese findet sich seltsamerweise besonders bei Autoren, die sich sonst auf Fichte stützen und sich aber für eine philosophische und theologische Würdigung der Leiblichkeit vor allem auf phänomenologische Autoren beziehen. 24 reits mit Kant verglichen. Aufgrund der Verbindung zwischen Fichte und Kant werde ich etwa auf Fischer/Hattrup, 1999; Gates, 2002 u. Fischer, 2005 Bezug nehmen. 24 So verwundert die Bemerkung Hansjürgen Verweyens, der Fichte sehr gut kennt, dass dessen Ansatz der Materie als Moment christlicher Sinnerfahrung nicht gerecht würde: »Diese kann im Lichte der Fleischwerdung Gottes ihrem Wesen nach weder ein durch die Vernunft prinzipiell zu Überschreitendes sein, noch der bloße Stoff für die Praxis. Materie ist vielmehr der Ort, wo Göttliches letztgültig transparent wird.« (1983, 211) Meiner Untersuchung zufolge trifft diese Kritik nicht zu. In der 1. Auflage von Verweyens Gottes letztes Wort wird das fichtesche Leibdenken lediglich als im Hintergrund stehend greifbar (1991, 252–254), in der überarbeiteten Auflage weist er darauf zumindest am Rande hin, ohne aber sein eigenes Verhältnis zu ihm genauer zu bestimmen (2002, 175107 ), und rekurriert für seinen Begriff des inkarnierten Subjekts vor allem auf Levinas (167 f.). Klaus Müller (1997, 177) spricht von einem »Schwachpunkt der klassisch-neuzeitlichen Konzeptionen, die sich von ihrem Ansatz her mit einer wirklichen Integration des Leiblich-Materiellen schwer tun«. Er sagt zwar auch, dass es ihnen nicht unmöglich ist, als Beleg führt er aber nur Robert Reininger an und nicht, was m. E. das Naheliegendste wäre, Fichte, dessen detailliertes Leibkonzept in der philosophischen Forschung schon seit längerer Zeit gewürdigt

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Zum Aufbau der Untersuchung: Aus ihrer Zielsetzung ergibt sich, dass sie sich nicht damit begnügen kann, lediglich den jeweiligen Leibbegriff und seine Einbindung in die Religionsphilosophie darzustellen, sondern die philosophische Rechtfertigung von beidem durchsichtig machen und dafür die Fundamente, auf die diese Rechtfertigung sich stützt, darlegen muss. Abgesehen davon sind bei beiden die Begriffe und Thesen ohne den Nachvollzug ihrer Begründung auch in ihrer Bedeutung nicht verstehbar. So wird sowohl für Fichte, der entsprechend der Chronologie in einem ersten Teil behandelt wird, als auch für Levinas in einem zweiten Teil die Darstellung ihres Beitrags zur Fragestellung mit einer Analyse ihrer von unmittelbaren Bewusstseinsgegebenheiten ausgehenden transzendentalphilosophischen bzw. transzendentalphänomenologischen Rückfrage nach diesen Fundamenten begonnen. Der zentrale Aufhängepunkt ist bei beiwird (vgl. bes. Schöndorf, 1982; Lauth, 1984; Grätzel, 1989). Verwunderlich ist es auch, wie Saskia Wendel es einerseits für möglich hält, »hinsichtlich der Bedeutung des Leibes für die Subjektphilosophie […] Transzendentalphilosophie und Phänomenologie miteinander ins Gespräch zu bringen bzw. bestimmte Motive beider Konzepte miteinander zu vernetzen« (2002, 283 f.144 ), andererseits aber trotz ihrer Kenntnis des fichteschen Leibdenkens (vgl. 1996) an der Einschätzung festhält, dass in »der dominanten subjektphilosophischen Tradition« der Leib »entweder gar keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle« spielt und sich deswegen »kaum Reflexionen zum Verhältnis von Subjektivität und Leiblichkeit« finden (2002, 283). Sie bezieht sich deshalb für die Verbindung von Subjekt- und Leibdenken lediglich auf phänomenologische Leibanalysen (283–291). Die Momente, die sie von da ausgehend beschreibt, lassen sich, wie die Darstellung des Leibbegriffs von Fichte zeigen wird, genauso bei diesem finden. Sie weist nur ganz am Rande in einer Anmerkung und nur in Bezug auf den Symbolcharakter des Leibes auf Fichte hin (290176 ). Von daher verwundert es nicht, wenn Thomas Pröpper, der sich stark auf Wendel stützt, im Thema der Leiblichkeit »die vielleicht wichtigste Nahtstelle zwischen den transzendentalphilosophischen und phänomenologischen Arbeitsfeldern« sieht (2011, 578), worin ihm ja nicht zu widersprechen, wozu aber zu fragen wäre, ob die Transzendentalphilosophie nicht auch lediglich mit ihrer eigenen Methode in dieser Frage sehr weit kommen könnte. Dass dies so wenig gesehen wird, könnte m. E. mit der Zurückweisung des fichteschen deduktiven Vorgehens, das aus transzendental erschlossenen Bedingungen wiederum die Tatsachen ableitet, zu tun haben (517 u. 576 f.). In der frühen Sittenlehre etwa deduziert Fichte den Leib aus dem Prinzip der Sittlichkeit. Diese Deduktion könnte man m. E. aber auch deuten als am Faktum des Selbstbewusstseins der Freiheit anknüpfende reduktive Erschließung seiner Bedingungen. Wie dem auch sei – zumindest zeigt Pröpper, wie in seinem transzendentalen Ansatz, ausgehend von seinem Konzept der Verwiesenheit des transzendentalen Subjekts auf einen Gehalt, grundsätzlich der Übergang zur Leiblichkeit und zu einem leiblichen Sichspüren aufgezeigt werden kann (578 f.), bevor er sich dann für deren genauere Beschreibung auf Wendels Rezeption von phänomenologischen Konzepten stützt (581 f.). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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den ein im weiteren Sinne ethisch zu verstehendes Sollen. Insofern die Leiblichkeit für beide zu einem großen Teil über die Ethik ihre religiöse Bedeutung bekommt, ist damit zugleich ein wichtiges Element für deren Analyse gewonnen. Ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit der Erhellung des Ansatzes steht bei ihnen die Religionsphilosophie. Indem sich die Analyse der Leiblichkeit für beide wesentlich von der Ethik sowie der Religionsphilosophie her bestimmt, erfolgt die Erschließung des Leibbegriffs erst nach deren Interpretation. Zum Schluss wird dieser noch einmal ausdrücklich in ein Verhältnis zu ihnen gestellt und geklärt, was sich aus dem jeweiligen Ansatz für dessen religiöse Bedeutung ergibt. Die Gliederung des Levinas-Kapitels bestimmt sich darüber hinaus durch den Versuch, die genannten thematischen Einheiten jeweils direkt mit Fichte zu vergleichen. Der Vergleich im Leibbegriff in Kapitel 2.3.9 wird so angelegt, dass er zugleich eine Übersicht über die beiden Leibkonzepte liefert und so einen Teil des Ergebnisses der Untersuchung vorstellt. Der Vergleich von Levinas und Fichtes Beitrag zur Frage nach der religiösen Bedeutung des Leibes in Kapitel 2.6 wird so angelegt, dass er sich entlang von einzelnen Gesichtspunkten bewegt, in denen diese Bedeutung greifbar wird. Dies dient nicht nur dem zweiten Ziel der Arbeit, dem Gespräch zwischen beiden Autoren, sondern auch dem erstgenannten Ziel, sich aus diesem philosophischen Gespräch heraus der Komplexität der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit durch ein differenziertes Spektrum an Bedeutungsaspekten anzunähern. In einem eigenen dritten Teil soll es darum gehen, die beiden Ansätze und ihre Beiträge zur Frage nach den religiösen Funktionen der Leiblichkeit auf ihre philosophische Überzeugungskraft und ihre fundamentaltheologische Relevanz hin kritisch zu sichten. Auch welcher Ertrag sich aus dem Vergleich ergibt und welche Relevanz ihm somit zukommt, wird hier betrachtet und dabei ein Resümee hinsichtlich der Zielsetzung der Arbeit gezogen. Der kurze Schlussteil versucht in Bezug auf zwei Felder der christlichen Glaubenspraxis einen Ausblick auf eine mögliche Anwendung der erarbeiteten Kategorien zu geben. Die vorliegende Untersuchung möchte sowohl zur philosophischen Erforschung von Fichte und Levinas als auch zu deren theologischer Rezeption beitragen. Hierzu eine Leseanleitung. Der erste Teil lässt sich als reine Fichte-Interpretation lesen. Im zweiten Teil wird versucht, soweit es möglich ist, den Vergleich zwischen Levinas und Fichte von der Interpretation Levinas’ abzuheben, sodass diese auch 38

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für sich gelesen werden könnte. Im dritten Teil wird jeweils unterschieden zwischen der rein philosophischen Würdigung und der sich auf den Gehalt der christlichen Offenbarung stützenden Untersuchung, wieweit der jeweilige Ansatz zum christlichen Glauben passt und dementsprechend als philosophische Grundlegung der Theologie geeignet sein kann. Die Bezugnahmen auf die innertheologische Debatte um diese Frage finden sich neben diesem dritten Teil vor allem in den Anmerkungen des zweiten Teils.

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1. Die religiöse Bedeutung der Leiblichkeit bei Johann Gottlieb Fichte 1.0 Einleitende Bemerkungen zur Textbasis

Um herausfinden zu können, welche Aspekte der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit in Fichtes Denken greifbar werden, ist es nötig, sich auf die Phase seines Denkens zu beziehen, in der seine Religionsphilosophie zur Entfaltung gekommen ist. Schon beim frühen Fichte gibt es eine Religionsphilosophie, sie entwickelt sich aber, nicht zuletzt ausgelöst durch den gegen ihn erhobenen Vorwurf des Atheismus, weiter und wird von ihm in der ausführlichsten Form 1806 in der Anweisung zum seligen Leben vorgetragen. Daher bildet diese Schrift die Ausgangsbasis und den ständigen Bezugspunkt der vorliegenden Untersuchung. Weil in ihr freilich weder befriedigend die Argumentation, in der Fichte die Fundamente seines Denkens klärt, noch der Leibbegriff zur Sprache kommen, wird es nötig sein, weitere Schriften zu konsultieren, die diese Mängel ausgleichen. Für die Entfaltung seines Ansatzes ist es m. E. das Sinnvollste, auf den der Anweisung zeitlich am nächsten liegenden, von Fichte bei seinem Aufenthalt in Erlangen im Jahr 1805 gehaltenen Vortrag der Wissenschaftslehre zurückzugreifen. Neben der zeitlichen Nähe zeichnet dieser sich durch verschiedene inhaltliche Parallelen zur Anweisung aus. Der zumindest den Hauptargumentationsstrang verfolgende Nachvollzug seines Gedankengangs wird zeigen, wie von hier her nicht nur die Begründungen und deren Methode greifbar werden, die hinter dem in der Anweisung oft nur thetisch Vorgetragenen stehen, sondern wie vieles davon so erst richtig verständlich wird und wie dadurch einige Missverständnisse, die sich von der Anweisung her nahelegen, vermieden werden können. Neben der Einführung in Fichtes Methode und in seinen spezifischen transzendentalphilosophischen Standpunkt auf der Basis einer intellektuellen Anschauung und neben der argumentativen Hinführung zu dem Prinzip, von dem aus er ableitend die verschiedenen Dimensionen der Wirklichkeit, u. a. auch die Leiblichkeit, bestimmt, erschließt der Gang der Erlanger Wissenschaftslehre zudem den für Fichtes Leibbegriff wesentlichen Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Schritt über ein dingliches Verständnis der Wirklichkeit hinaus sowie die Grundzüge seiner Religionsphilosophie. Aus diesen Gründen eignet sich der Nachvollzug der verschiedenen Argumentationsstufen dieser Wissenschaftslehre besonders gut für die Erschließung von Fichtes Beitrag zur Fragestellung dieser Untersuchung. Da Fichte zur Zeit der Anweisung auf sein Konzept der Leiblichkeit nur sehr wenig eingeht, wird es nötig sein, auf Schriften aus der frühen Phase seines Denkens, in der er dieses sehr ausführlich entfaltet hat, zurückzugreifen, vor allem auf das System der Sittenlehre von 1798. Es wird freilich geprüft werden müssen, inwiefern Fichte an dem hier vertretenen Konzept später noch festhält, wieweit es in seinen späteren Ansatz passt und in welchen Punkten es sich weiterentwickelt hat. Als sinnvoll wird es sich erweisen, schon für die frühe Zeit zu fragen, welche Aspekte der religiösen und der ethischen Bedeutung der Leiblichkeit – Religion realisiert sich für Fichte zu einem großen Teil in Ethik – greifbar werden, da Fichte hier ebenso in Bezug auf diese Thematik einiges in einer Deutlichkeit sagt wie später nicht mehr. Indem auch hier geprüft werden muss, inwieweit dies im späteren Ansatz und im weiterentwickelten Konzept von Religion und Ethik für Fichte noch Gültigkeit haben kann, ergibt sich so – eher unbeabsichtigt – eine Perspektive auf die Entwicklung seines Denkens im Hinblick auf die hier untersuchte Fragestellung zwischen der frühen und der späteren Phase um 1806. Dies kann von Vorteil sein für die Frage nach einer möglichen Rezeption des fichteschen Leibdenkens in der Theologie, da manche Theologen sich bewusst eher auf den frühen Fichte beziehen. – Die späte Berliner Zeit wird hier so gut wie nicht berücksichtigt. Das Textmaterial Fichtes ist für jede Phase seines Denkens so groß, dass es nicht darum gehen kann, es erschöpfend zur Kenntnis zu nehmen. Auf weitere Schriften über die genannten hinaus wird Bezug genommen, je nachdem, wie dies für die Fragestellung sinnvoll erscheint. Fichtes Manuskripte, etwa zu den Erlanger Vorlesungen, sind zum Teil nur sehr skizzenhaft. Erfreulicherweise sind sie trotzdem aufs Genaueste in der Gesamtausgabe veröffentlicht, deren Fassung deshalb hier für alle Texte zugrunde gelegt werden soll. Man muss sich an der Skizzenhaftigkeit mancher Zitate nicht stören. Sie werden, auch wenn sie manchmal grammatikalisch gebrochen sind oder keinen vollständigen Satz ergeben, verständlich sein. Der Herausgeber hat nur sehr spärlich Ergänzungen vorgenommen und auch 42

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Einleitende Bemerkungen zur Textbasis

hier wird damit sparsam umgegangen werden. 25 Die Kursiv- und Gesperrtschreibung aus der Gesamtausgabe, welcher in den Handschriften eine einfache oder doppelte Unterstreichung entspricht, wird unverändert beibehalten, auch wenn sie manchmal eher verwirrend ist. Besonders darf man sich nicht durch die oft seltsame Interpunktion und durch unerklärliche Groß- oder Kleinschreibungen Fichtes verwirren lassen.

Der Herausgeber hat seine Ergänzungen in eckigen Klammern beigefügt. Sie werden hier mit großen spitzen Klammern »h i« wiedergegeben. Eckige Klammern »[ ]« enthalten eigene Ergänzungen. Beides wird ebenso für Levinas-Texte beibehalten, in denen die Übersetzer ebenfalls bereits eckige Klammern verwendet haben. Mit den kleinen spitzen Klammern »< >« hat der Herausgeber der Fichte-Texte die unklaren Lesarten markiert. Veränderungen des Herausgebers direkt im Text sind von ihm durch eine andere Schriftart gekennzeichnet worden.

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1.1 Transzendentalphilosophische Grundlegung der Ableitung des Leibes und der Entfaltung der Religionsphilosophie ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre und der Anweisung zum seligen Leben 1.1.0 Vorbemerkungen 1.1.0.1 Fichtes philosophischer Anspruch und seine Methode Fichte tritt mit einem sehr gewichtigen philosophischen Anspruch auf. Es geht ihm um Aussagen über die Wirklichkeit, die durch ihre Begründung und die Rückführung der Gründe auf letzte evidente Prinzipien mit Gewissheit erkannt werden – und in diesem Sinne um wissenschaftliches Wissen. Vermutlich empfiehlt sich ein Denker in den Augen von vielen nicht unbedingt, wenn er ein solches Ziel verfolgt. Man teilt vielleicht noch die Auffassung, dass dies eigentlich das Ideal von Wissenschaftlichkeit wäre, hält es jedoch für uneinlösbar oder fürchtet, dass totalitäre praktische Konsequenzen aus einem solchen Erkenntnisprojekt erwachsen. Mit der ersten Anfrage sieht sich Fichte selbst konfrontiert und möchte ihr gleich zu Beginn der Erlanger Wissenschaftslehre begegnen: »Ob nun die Auflösung der aufgestellten Frage, d. i. W.L. möglich sey, oder jene Frage unter die unbeantwortbaren gehöre, kann man nur dadurch erfahren, daß man sie versucht. Wird sie gelöst, – die Lösung wirklich, so ist sie freilich möglich. Wem sie nicht wirklich wird (u. sie läßt sich nicht in Bausch u. Bogen, und stellvertretend für das ganze Menschengeschlecht verwirklichen, sondern jeder muß es in eigner Person, wenn es für ihn wirklich werden soll.) der hat nie ein Urteil über die Möglichkeit. Wir z. B. behaupten, wir hätten sie wirklich gemacht, u. laden jeden, der Lust u. Kraft hat, ein, das stets zu wiederholende Experiment mitzumachen.« (W181 f.) Aus diesem Text geht zugleich hervor, wie für Fichte die eigene Gewissheit keineswegs dazu führt, die autonome Erkenntnis des Anderen und überhaupt dessen Willen zum Versuch dieser Erkenntnis zu übergehen. Dies hängt nicht zuletzt daran, dass sich für ihn der Vollzug der Autonomie selbst als notwendiger Bestandteil dessen erweist, was er als das Ziel der menschlichen Existenz 44

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Vorbemerkungen

bestimmt. Auch ist für ihn die Erkenntnis der tiefsten Prinzipien nur etwas im lebendigen Akt des Erkennens Verständliches. Es nützt dem Anderen nichts, diese Erkenntnis als Satz präsentiert zu bekommen, ja für einen selbst ist er in bloß dieser Form unverständlich. Diese Erkenntnis ist immer neu zu versuchen. Zudem wird sich zeigen, dass für Fichte in den grundlegenden Einsichten keine objektive Gewissheit erreicht werden kann, sondern sie angewiesen sind auf einen Glauben, der sich auf eine bestimmte Sollensintuition stützt. Die Setzung dieses Glaubens ist jedermanns freier Entscheidung zu überlassen. Der Vergleich mit Levinas wird zwar verdeutlichen, wie Fichtes Auslegung des Sollens und damit die Richtung, die für ihn dem Glauben gegeben werden kann, weniger selbstverständlich ist, als er selbst gemeint hat. Für ihn war jedoch schon völlig klar, dass die Weise des Philosophierens daran hängt, »was man für ein Mensch ist« 26, d. h., zu welcher Lebensweise man sich entschieden hat. Vom Ziel her, in den letzten Fundamenten begründete, gewisse Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, erklärt sich Fichtes Methode. Er bezeichnet seinen Ansatz als Wissenschaftslehre – zu verstehen als Lehre über das wissenschaftliche Wissen. 27 Diese baut auf Kants Grundeinsicht auf, dass sich wissenschaftliche Erkenntnis über die Wirklichkeit nicht erreichen lässt ohne eine Untersuchung, wie es zum Wissen kommt und was Erkenntnis ist. Auch wenn die Bezeichnung ›Wissenschaftslehre‹ dies nicht direkt zum Ausdruck bringt, zielt die Erkenntnistheorie bei Fichte letztlich auf eine Metaphysik – verstanden als eine Lehre nicht nur über das Wissen, sondern über die Wirklichkeit. In seiner zeitgleich in Erlangen gehaltenen Vorlesung über Metaphysik erklärt Fichte: »[D]ie W.L. ist die durch Benutzung der Ktk. u. nach den Gesetzen der Ktk. entstandene Metaphysik« (I155). Mit »Ktk.« meint Fichte hier entweder konkret Kants Kritik der reinen Vernunft (eventuell auch alle drei Kritiken) oder, was vom Kontext her wahrscheinlicher ist, das von Kant hierin entfaltete Projekt philosophischer Kritik. Mit dem Begriff »Kritik« bezeichnet Kant eine besondere, von ihm so eingeführte Wissenschaft, die sich nicht direkt mit einer Metaphysik, sondern mit einer »bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen« 28, also mit den Erkenntnisbedingungen für wissenschaftlich gewisse meta26 27 28

GA I,4, 195. Vgl. W180: »Wissenschaftslehre. Ganz was das Wort sagt. Theorie des Wissens«. AA 3, 43.

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physische Einsichten beschäftigt. Die lediglich auf die Erkenntnis selbst bezogene Erkenntnis nennt Kant »transcendental«. 29 Fichte sagt ausdrücklich, dass er allein durch Kant zur transzendentalen Erkenntnisweise und in ihr zu seiner Wissenschaftslehre gefunden hat (W205). Will man Fichtes Theorie in ihrem Argumentationspotential erfassen, muss man ihm auf den Spuren dieses erkenntniskritischen Projekts folgen. Die Anweisung zum seligen Leben – die für die Fragestellung dieser Arbeit wichtigste Schrift – ist dafür als Hauptquelle nicht geeignet. Fichte hat sie nicht zu Unrecht – trotz ihres zum Teil sehr hohen Argumentationsniveaus – zu seinen populären, d. h. nicht wissenschaftlichen, Schriften gezählt (A47 u. 67–72). Der Grund liegt darin, dass er hier keine methodisch konsequente, transzendental auf die Erkenntnisbedingungen reflektierende Beweisführung entfaltet. Seine Erlanger Wissenschaftslehre geht diesen Weg und soll als Grundlage für das Folgende dienen. Durch ihre zeitliche und konzeptuelle Nähe zur Anweisung lässt sie sich sehr gut als deren unmittelbarer wissenschaftlicher Hintergrund lesen, wie einige Seitenblicke zeigen werden. Wie kommt Fichte mit dieser Methode aber zu einer Metaphysik? Für ihn ist die transzendentale Kritik, wie sie Kant durchgeführt hat, selbst noch nicht Metaphysik. Auch ist er der Auffassung, man könne Kants Untersuchung der theoretischen Vernunft so interpretieren, dass sie die Unmöglichkeit von Metaphysik zum Ergebnis habe. Von der Kritik der praktischen Vernunft her, wie der Kritik der Urteilskraft, ergebe sich aber als Resultat der Kritik durchaus die Möglichkeit von Metaphysik, und er selbst finde entsprechend in seiner Wissenschaftslehre zu einer solchen (I154 f.). Wie sich im Argumentationsgang der Erlanger Wissenschaftslehre zeigen wird, ergibt sich zwar auch für Fichte die Möglichkeit der metaphysischen Seinserkenntnis erst ausgehend von der praktischen Vernunft. Er geht jedoch in diese Richtung bereits in der Untersuchung der theoretischen Vernunft über Kant hinaus. Während dieser eine nichtsinnliche, eine intellektuelle Anschauung der Dinge an sich dem Menschen abgesprochen hat 30, sieht Fichte im Bezug des Denkens auf seine eigene reale Tätigkeit eine solche Anschauung gegeben. Auch wenn sie ohne den praktischen Anteil der Vernunft in Bezug auf die Wirklichkeit des 29 30

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AA 3, 43. Vgl. AA 3, 212 u. AA 8, 389.

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Vorbemerkungen

angeschauten Seins noch in Zweifel bleiben muss, handelt es sich für Fichte um einen realen Selbstbezug. 31 Nachdem die Wirklichkeit der sinnlichen Erscheinungswelt für ihn wegfällt – dies wird als ein zentrales Moment seines Leibbegriffs noch zu untersuchen sein –, findet er hier wieder einen unmittelbaren Zugang zu realem Sein. Mit dem Begriff eines transzendentalen, auf das Denken selbst gehenden Denkens fasst Fichte deshalb nicht nur die Untersuchungsweise der Erkenntniskritik, sondern ebenso die der Metaphysik. Das »transscendentale Denken = energisches = identisches in die Sache überfließendes, u. die Sache selbst seyendes, Denken« (W205), also die Fähigkeit, sich im Denkakt auf sich selbst zu beziehen, weil das Objekt, um das es geht, nirgends anders als in diesem aktuellen Selbstvollzug gefunden werden kann, ist für ihn die Bedingung für das Verständnis seiner Wissenschaftslehre (W179 f.). Mit diesem Denken findet Fichte unmittelbar durch die Erkenntniskritik zur Metaphysik, durch die Untersuchung der Erkenntnis zur Realität im unmittelbaren Sichwissen des Wissens. »Hauptgedanke: Nicht im gewussten, sondern im Wissen selbst die Realität zu suchen. Dieser, die Metaphysik berechtigende Gedanke (soweit Kant) wurde zugleich ihr Fundament. W.L.« (I155). Wissenschaftslehre als eine Theorie des Wissens ist von daher unmittelbar Metaphysik und umgekehrt. Als Grundfrage für die gesamte Untersuchung der Erlanger Wissenschaftslehre kann Fichte deshalb angeben: »Was ist das Wissen an sich« (W180; vgl. auch W184)? Es geht somit weniger darum, erkenntniskritisch Metaphysik zu betreiben, sondern darum, erkenntniskritisch nach dem Wesen des Wissens zu fragen. Es wird sich im Folgenden zeigen, wie sich daraus von selbst eine Metaphysik ergibt. Der Rückgang auf den letzten Grund, aus dem sich das Wesen des Wissens bestimmt, wird auf ein absolutes Sein stoßen. Und das endliche Sein in seinen notwendigen Strukturen ergibt sich unmittelbar, wenn Fichte daran geht, die notwendige äußere Gestalt des Wissens abzuleiten. Die vom sich selbst durchsichtigen Wissen eingesehenen Strukturen sind dann auch die der endlichen Wirklichkeit. Metaphysik bestimmt Fichte als die Wissenschaft von dem »Theil der Weltbeschaffenheit, der durch die Erkenntniß der Gesetze des Wissens sich erkennen läßt: die Welt oder das Seyn, in wiefern es durch das Denken bestimmt ist« (I154; vgl. auch I46). Konkret wird in der Erlanger Wissenschaftslehre diese Ge31

Vgl. zu dieser Sicht schon beim frühen Fichte etwa S42 f.

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stalt der Welt dann entfaltet, wenn das Wissen in seiner höchsten Form – der Wissenschaftslehre, weil diese auch Theorie ihrer selbst sein muss (W228 u. 238) – sich selbst in seinen notwendigen Strukturen erschließt und ableitet. In der folgenden Darstellung der verschiedenen Reflexionsstufen der Erlanger Wissenschaftslehre wird jeweils nach der Darlegung der Argumentationsschritte deren Methode analysiert. Dabei wird deutlich werden, dass Fichte zunächst analog dem kantischen Verständnis einer transzendentalen Untersuchung nach der Erkenntnistätigkeit und ihren Momenten als Bedingungen des objektiv Gedachten zurückfragt. Diese Methode legt er selbst ausdrücklich offen. 32 Irgendwann kommen als Bedingungen zudem – entsprechend dem erweiterten fichteschen Verständnis des transzendentalen Denkens – das Sein der idealen Tätigkeit des Subjekts, von welcher die Erkenntnis ausgeht, und seine praktische Tätigkeit sowie deren vom Anderen ausgehende Begrenzungen in den Blick. Am Ende richtet sich die So analysiert er etwa in der vierten Vorlesungsstunde in einem Rückblick den bisherigen Gang auf seine Methode hin. Zunächst wird auf das, was als Tun des Subjekts Bedingung des objektiv Gedachten war, reflektiert und dieses als faktisch Vollzogenes herausgestellt. Dann wird versucht, dieses ausgehend von dem, was als höchstes Prinzip genommen wird, als notwendige Bedingung für dessen Vollzug zu erweisen. »Was war der gestrige Satz: sein Inhalt, eben das, was wir früher gethan hatten; faktisch – als schlechthin nothwendig abgeleitet.« (W196) Der Inhalt des Theorems der dritten Stunde war, dass die Existenz sich als solche im Unterschied zum Sein – und damit durch die Unterscheidung vom Sein – verstehen muss. Vollzogen worden ist dieses Als und das Durch schon vorher, beim Gewahrwerden der Existenz in der zweiten Stunde, dort aber nur faktisch. In der dritten Stunde ist es als notwendig eingesehen worden. Ganz entsprechend analysiert er den weiteren, noch darzustellenden Gang: »Was aber thaten wir da, waren wir eigentlich so recht innerlich: – eben die Objektivirung, und das Intelligiren der Existenz, als absolutes objektivirt.« (W196) Durch erneute Reflexion auf wiederum diese Einsicht der Notwendigkeit wird deutlich, dass dafür die Existenz faktisch als absolute objektiviert worden ist. Dieses Tun ist dann weiter betrachtet worden und es hat sich gezeigt, dass die Existenz sich nur von einem Höheren her absolut nehmen kann, sie sich also gegenüber diesem auch relativieren muss. Dieses Höhere müsste genauer in den Blick genommen werden, damit die Notwendigkeit des Sich-absolut-Nehmens der Existenz erwiesen werden könnte. Die Klärung dieser Frage sei »zum Theil« schon angegangen und müsse nun in dieser Richtung entsprechend der bisherigen Methode fortgeführt werden: »Dies ist daher unser Weg. – . Objekt unserer nächsten Überlegung, und unsers Intelligirens wir zunächst vorher waren« (W196). In W230 spricht Fichte in Bezug auf diese Weise, zurückzufragen nach dem, was man selbst war und getan hat in einer bestimmten Erkenntnis, von den »Regeln der Kunst des transscendentalen Denkens«.

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Vorbemerkungen

Frage auf den Grund des Seins der geistigen Tätigkeit insgesamt. Wenn hier, Fichtes Sprachgebrauch frei aufgreifend, seine Methode transzendental genannt wird, dann ist damit eine Methode der Untersuchung der Bedingungen des objektiv Gedachten gemeint, die zwar zunächst auf die Erkenntnistätigkeit des Subjekts reflektiert, dann aber auch deren Bedingungen erhellt. In einem zweiten Schritt, nach der Frage nach der Möglichkeit des zunächst Gedachten, versucht Fichte zu klären, warum es auf der Basis des erschlossenen ermöglichenden Prinzips notwendig war, so zu denken. 33 Er versucht also immer wieder zu klären, wieweit eine Ableitung des zunächst faktisch Vollzogenen möglich ist. Indem die Prinzipiate als Bedingungen des Vollzugs des Prinzips erschlossen werden, kann man auch die Ableitung als von der transzendentalen Methode im weitesten Sinne, von der Analyse der Bedingungen, bestimmt ansehen.

1.1.0.2 Der Ansatzpunkt der Erlanger Wissenschaftslehre und die Gliederung ihres Vorgehens Um in die Suche nach einer Antwort auf die vorgestellte Grundfrage einzusteigen, betrachtet Fichte sie genauer: »Was ist das Wissen an sich« (W180)? Mit dem »was« ist nach der »Qualität«, der »innere [n] gediegene[n] Beschaffenheit« (W180) oder mit einem Begriff, den Fichte später vor allem verwendet, nach der Form des Wissens gefragt. Wenn diese zugleich in Bezug auf das »an sich« des Wissens untersucht werden soll, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass es nicht um die zufälligen Eigenschaften des Wissens geht – »ohne alle zufällige Bestimmung« –, sondern um die wesentlichen und zwar so, wie sie sich in ihrer Ganzheit – »im Ganzen u. Einen« (W180) – aus dem Wesen des Wissens notwendig ergeben. Erreicht werden könne dies nur durch eine Ableitung ausgehend vom höchsten Urgrund des Wissens, aus dem sich diese notwendige Form bestimme. »Diese Bestimmungheni müssen abgeleitet werden, in Einsicht; was nothwendig zu dem Punkte führt, wo es durchaus noch gar keine besondre Bestimmung giebt: in die Quelle, u. den Geburtsort aller Bestimmungen.« (W181) Fichte weist gleich zu Beginn darauf hin, dass die wissenschaftliche, die Bestimmungen des Wissens in ihrer Notwendigkeit erkennende Untersuchung für ihn letztlich ausgehen 33

Vgl. oben, Anm. 32.

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muss von einem Absoluten, als dem Urgrund, von dem her sich überhaupt alles bestimmt. Fichte verwendet an dieser Stelle zwar noch nicht den Begriff des Absoluten, aber er spricht von der »Quelle«, aus der allein abgeleitet werden kann, und bestimmt das »an sich« im Gegensatz zum »relativen« (W181), sodass klar ist, dass damit ein Begriff des Absoluten gemeint ist. Zuerst müsse es in der Untersuchung um die Entdeckung dieses wahren »an sich« gehen, noch nicht direkt um die Ableitung. »Ergiebt sich eine solche Ableitung, so ist es gut: vorjetzt aber ist sie nicht unser nächster Zwek.« (W181) Bei Fichte, wie auch sonst im Deutschen Idealismus, kehrt eine Grundidee der platonischen Philosophietradition wieder, philosophisches Wissen müsse sich letztlich aus dem Absoluten begreifen, zu dem es also zuerst aufzusteigen gelte. Er verwendet auch die platonische Terminologie von Aufstieg und Abstieg. 34 Mit der transzendentalen Methode der Untersuchung deckt sich dies insofern, als diese vom faktischen, über sich selbst noch unklaren Erkennen als einem Produkt und damit Relativen ausgeht und zurückfragt nach seinem Zustandekommen, um es aus dem Ursprung des Zustandekommens und seiner Genese in seiner Bedeutung zu verstehen und zu rechtfertigen bzw. auf seinen Wahrheitsstatus hin zu beurteilen. Entsprechend gliedert Fichte auch die Erlanger Wissenschaftslehre in Aufstieg und Abstieg. 35 Der Aufstieg reicht von den ersten Stunden bis zur 15. Stunde, in welcher der wahre Begriff des Absoluten transzendental erschlossen ist. Danach stellt Fichte grundsätzliche Überlegungen an über die Weise, wie von hier abgeleitet werden kann (16.–18. Stunde), und beschäftigt sich dann sehr lange damit, die inneren Gesetze der produktiven Tätigkeit des Wissens, die auf die Form des Wissens führen, in ihrer Einheit zu fassen, mit der von ihm so genannten »Formlehre« (W263), um dann in der letzten Stunde eine Ableitung vorzulegen. Fichtes Grundlegung der Ableitung durch den Erweis eines Absoluten hier zunächst genau nachzuvollziehen, bedarf einer kurzen W251 u. 295; hier werden die Wörter ›aufsteigen‹ und ›herabsteigen‹ zusammen verwendet; getrennt finden sie sich noch viel öfter. An der Verwendung dieser Ausdrücke zeigt sich die Nähe Fichtes zu Platon oder dem Platonismus allgemein, die er selbst auch offenbar wahrgenommen hat (W181). 35 Für den Beleg der Gliederung am Text vgl. unten, S. 92–99. Die einzelnen Unterteilungen der Gliederung werden jeweils auch am Anfang der Darstellung einer neuen Stufe begründet. Für die Gliederung der Ableitung und ihrer unmittelbaren Vorbereitung vgl. bes. S. 101–102 u. 105–107. 34

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Vorbemerkungen

Rechtfertigung. Ein wichtiger Entwicklungsschritt vom frühen zum späten Fichte ist, dass er die Rückfrage nicht nur – entsprechend der Terminologie der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre – bis auf das absolute Ich führt, sondern ausdrücklich auf ein absolutes Sein. Zwar trägt das absolute Ich schon Züge des Absoluten selbst, und Fichte fasst von ihm her die Idee des Absoluten 36, aber zunächst einmal ist es das Moment der unbeschränkten Vernunfttätigkeit des endlichen Ich. Problematisch an diesem Entwicklungsschritt ist, dass man ihn als nicht in der Weise zwingend, wie Fichte ihn ansieht, kritisieren kann. Gleichwohl kann man m. E., wofür im Zusammenhang mit der genaueren Thematisierung dieser Kritik im dritten Teil argumentiert wird, seinen Rückgang auf das Absolute, die von dort ausgehende Bestimmung des Verhältnisses des Endlichen zum Absoluten, die Ableitung der Leiblichkeit als Funktion dieser Beziehung und von daher die Bestimmung ihrer religiösen Bedeutung zumindest als Erschließung einer möglichen Beziehung zu Gott und einer möglichen Bedeutsamkeit der Leiblichkeit in ihr würdigen. Aufgrund dessen empfiehlt es sich, das Konzept des späten Fichte zu erschließen und sich nicht mit dem des frühen zu begnügen, in dem diese religiöse Bedeutsamkeit nicht in der Weise erhellt wird. Als ein Problem könnte man außerdem ansehen, dass, wie dies im Folgenden beschrieben wird, der Aufstieg von vornherein mit dem problematischen Begriff des Absoluten arbeitet. Meines Erachtens ergibt sich der die Argumentation des Aufstiegs bestimmende ›Kampf‹ zwischen Realismus und Idealismus jedoch ebenso, wenn man vom Gegenüber von Existenz oder Wissen zu Sein ganz allgemein, ohne dass es das absolute Sein sein muss, ausgeht. 37 Und man kommt so bis zum sich selbst verstehen sollenden Licht und damit zu einem Punkt, von dem aus Fichtes Ableitung nachvollzogen werden kann. Deshalb lohnt es sich, der Argumentation Fichtes in der Erlanger Wissenschaftslehre zunächst einmal zu folgen und dann später einen Blick darauf zu werfen, was davon als plausibel angesehen werden kann. Fichtes Grundgedanke, dass alles Relative letztlich ein Absolutes zu seiner Begründung voraussetzt, ist, auch wenn er als problematisch angesehen werden kann, zunächst einmal nicht weiter kompliziert. Er ist unmittelbar zugänglich – und mit ihm ein Begriff des absoluten Seins. In der Anweisung zum seligen Leben steigt Fichte 36 37

Vgl. unten, Anm. 166. Vgl. dazu unten, S. 82 f.

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am Beginn seiner Untersuchung direkt mit dem Aufweis dieses Begriffes ein. »Immer müssen Sie zuletzt auf ein Seyn kommen, das da Nicht geworden ist, und das eben darum keines andern für sein Seyn bedarf, sondern das da schlechthin Durch sich selbst, Von sich, und Aus sich selbst, ist.« (A85) Die Einsicht, die Fichte jedoch vermitteln möchte, ist, dass das wahre Absolute nicht dieses in einen Begriff gefasste Absolute sein kann, weil es begriffen werden kann nur im Gegenüber zum Relativen und so selbst ein Relatives ist. Auch hat man mit einem begriffenen Absoluten nur ein Faktum des Denkens und ist nicht an dem Punkt der Genese angelangt. Es kommt für ihn alles darauf an, in seinem Denken wirklich aufzusteigen in diesen inneren Urgrund des Denkens. Da die Anweisung als eine leichter verständliche, sich an ein größeres Publikum wendende Vorlesung konzipiert ist, kann Fichte mit seinen Zuhörern nicht den doch recht komplizierten, methodisch streng transzendental zurückfragenden Denkweg beschreiten, sondern muss sich damit begnügen, in ihnen durch verschiedene Hinweise ein Verständnis für die nicht begriffliche Fassbarkeit, die Nichtobjektivität und subjektive Lebendigkeit des wahren Absoluten am Grund des Wissens zu wecken. 38 Dies geschieht vor allem, wenn er direkt im Anschluss an die Einführung des Begriffs des Absoluten, des Seins, das Verhältnis zum sogenannten Dasein, zum Bewusstsein oder Wissen klärt, um von dort ausgehend dann in der vierten VorVgl. etwa den Hinweis auf die Lebendigkeit des Seins (A57), die Charakterisierungen des Absoluten in der Darstellung der fünf Standpunkte (vgl. v. a. in der fünften Vorlesung), und wie Fichte im Verlauf der dritten Vorlesung das Sein als Grund eines Wissens (A87 f.), der im lebendigen Vollzug des Wissens ganz anwesend ist, wie er in sich selbst ist (A88 f.), ausweist. Grundsätzlich stimme ich Hansjürgen Verweyen in seiner Kritik an Fichtes Einführung des Begriffs des Seins in der Anweisung, die er – m. E. zu Recht – als eine Art kosmologischen Gottesbeweis charakterisiert, zu: »Der kosmologische Gottesbeweis wurde von Fichte sonst nicht nur schärfstens kritisiert [er verweist auf Ü349 f.]. Er ist auch die mißlichste aller Hilfen, um ins transzendentale Philosophieren zu kommen.« Man werde so »nur mit großer Mühe den ›ursprünglichen‹, nicht transzendental gedachten Begriff vom Sein des Seienden wieder los. […] Man muß also schon den Hintergrund der Darstellungen der WL von 1804 und 1805 im Auge behalten, um hier Fehlschlüsse zu vermeiden.« (2001, XXXIV) Man muss zwar sehen, dass Fichte in der Wissenschaftslehre von 1805 diesen kosmologischen Beweis sehr positiv aufnimmt (ausdrücklich in der 14. Stunde, aber implizit schon zu Beginn in der dritten). Dass er allein für sich genommen aber zu Missverständnissen führt und dass man von ihm aus tatsächlich nur »mit großer Mühe« zum wahren Begriff des Absoluten kommt, zeigt der langwierige Aufstieg. Etwas Vergleichbares findet sich in der Anweisung nicht. 38

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Vorbemerkungen

lesung eine Ableitung zu entfalten. Er verwendet hier dieselben Argumentationsbausteine, mit denen er in der Erlanger Wissenschaftslehre arbeitet. 39 Ja, er führt sie dort auch gleich zu Beginn an. Der Unterschied ist jedoch, dass er sie in der Wissenschaftslehre nur als Aufhänger für einen weiteren transzendentalen Rückgang in den genetischen Urgrund des Denkens verwendet. Er wählt dort als Ansatzpunkt der Rückfrage gezielt nicht irgendeine faktische Erkenntnis, irgendwelche Denkfakten, sondern das gedachte Absolute (wie dann auch die Grundgedanken der Ableitung daraus); er beginnt sozusagen mit dem Fehler, um die Einsicht in den Unterschied zwischen dem wahren und dem bloß gedachten Absoluten in seinen Zuhörern deutlich entstehen zu lassen – wahrscheinlich auch um zu testen, ob seine Zuhörer der Unterscheidung und der Entwicklung der transzendentalen Rückwendung des Wissens in seinen Grund verstehend folgen können. Wie schreitet Fichte ausgehend vom Gedanken des absoluten Seins nun weiter fort? »Denken Sie das Seyn, schlechthin an sich, als Seyn: so denken Sie es als von sich selber, in sich selber durch sich selber, sich bestimmend; u. Sie haben dadurch diesen Gedanken aus gedacht. – . Diesem nach ist es durchaus in sich geschlossen, sich selbst genugsam, u. es geht aus diesem Gedanken, garnicht hervor, wie etwas ausser ihm seyn solle, vielmehr widerspricht eine solche Voraussetzung ganz u. durchaus dem Begriffe des Seyns. Nun aber geben Sie auf Ihr Denken selber Acht! Haben Sie nicht in demselben das Seyn hingestellt, projicirt. – . Also ein ist gehabt, Existenz, – ohne es ausgesprochen zu haben.« (W186) Die Begründung einer Ableitung muss für Fichte letztlich von einem Absoluten ausgehen. Es ist aber schon absehbar, dass sich daraus gar nicht unmittelbar ableiten lässt. Da es keines Anderen bedarf, folgt auch nichts notwendig aus ihm. Faktisch wird sich in uns aber etwas Anderes als das absolute 39 Sie finden sich schon in der dritten Stunde der Erlanger Wissenschaftslehre und dann auf einer höheren Ebene in der 14. Stunde und in den ihr folgenden Überlegungen zur Ableitung. Neben dem Gedanken des absoluten Seins und dem Begriff des aus ihm hervorgehenden Daseins geht es um folgende Thesen: Das Dasein kann nicht verstehen, wie es aus dem Sein entstanden ist, es kann sich nicht aus ihm folgern, es ist nur faktisch zu finden (Punkt 3, A86 u. Punkt 5, A88); es ist aber einsehbar, dass das Dasein Bewusstsein oder Wissen des Seins sein muss, da es nur vermittels dieser Relativierung des Wissens zu etwas Anderem als dem Absoluten kommen kann, sodass auf diese Weise notwendige Grundstrukturen des Daseins ableitbar werden (Punkt 4, A87 f.).

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Sein immer einstellen: das Denken dieses Seins, die begriffliche Objektivierung. Sie nennt Fichte hier Existenz, ausgehend vom Existenzurteil, vom Ist-Urteil, das aller objektivierenden Erkenntnis gemeinsam ist. 40 Später nennt er es auch Dasein, im Sinne einer Erscheinung, eines Da, des Seins. Das Wissen findet sich nur faktisch. Es kann jedoch einsehen, welche Grundform es haben muss. Denn erfasst werden konnte die Existenz nur, wenn sie als solche und durch den Unterschied zum Sein in sich verstanden worden ist. Die Existenz ist überhaupt nur etwas Eigenes gegenüber dem Sein in sich, wenn sie sich so erfassen kann. »Ohne diesen Gegensatz ist es eben das innere Seyn selber; nur der Gegensatz trägt die Existenz.« (W190) »Existenz ist Existenz, nur als Existenz; mit diesem Ausdruke, u. Ausspruche ihres innern Wesens, im Gegensatze gegen ein anderes.« (W190) Fichte zeigt hier die Grundstrukturen des Wissens auf: Etwas muss als etwas gewusst werden. Außerdem geschieht Wissen und Begreifen notwendig in Relationen: Etwas kann als etwas nur begriffen werden im Unterschied zu einem Anderen, und somit durch ein Anderes. Er nennt diese Charakteristika der Existenz meist abkürzend das »Als« (W210) und das »Durch« (W192). 41 Wichtig ist zu sehen, dass beide nicht irgendwie von außen, von etwas Anderem als dem Wissen, in das Wissen kommen, sondern dass sie ganz unmittelbar zum Wissen gehören und dieses sie selbst notwendig mit sich bringt. Er benennt sie auch als das Gegenüber von »Bewußtseyn« und »Wissen«, von »Vft. [= Vernunft]« und »Verstand« oder von »Intuition« und »IntelliDass Fichte das Wort ›Existenz‹ in diesem Sinn eines gewussten Seins und nicht für das Sein in sich verwendet, erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass er sich an die ursprüngliche lateinische Wortbedeutung anlehnt: exsistere – heraustreten, zum Vorschein kommen, erscheinen, sich zeigen. Wenn Fichte statt von Existenz von Dasein spricht (z. B. W189), dann ist dies ebenso zu verstehen als ein Sein, das offenbar ist (›da‹ also im Sinn von ›offenbar‹). Wenn er es vom Ist her erklärt, geht es ihm nicht um die Kopula, die Subjekt und Prädikat verbindet (gegen Ferrer, 2000, 265 u. Binkelmann 2009, 72 f.), oder das Ist der Identitätsaussage, sondern um das des Existenzurteils. So sagt Fichte in der sechsten Stunde: »[D]as kategorisch absolute ist haben wir gemeint, denn wir haben seine unmittelbare Berührung mit dem Existenten gepriesen« (W206). Mit dem Ist ist also das Urteil gemeint, mit dem unmittelbar die Existenz eines wirklich Existenten gefasst worden ist. Man könnte als Begründung auch anführen, dass er in der dritten Vorlesung der Anweisung als Beispiel für das Ist ein Existenzurteil nimmt: »[D]ie Wand i s t « (A86). 41 Er verwendet für sie auch die Symbole »—« und »�«, erstmals in W190. ›a | a‹ ist zu lesen als ›Existenz als Existenz‹ und ›a � b‹ als ›Existenz durch Sein‹. Oft werden die Zeichen auch untereinander geschrieben und miteinander kombiniert. 40

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genz« (W191–193), und zwar in ihrer Einheit: »Kein Wissen, ohne Bewußtseyn, und v. v. [= vice versa]« (W191), und: »Die Existenz […] ist die organische Einheit der Intelligenz, u. Intuition« (W193). Es sind damit die zwei ganz grundsätzlichen, verschiedenen, aber organisch zusammenwirkenden Seiten der Unmittelbarkeit und der Vermittlung im Wissen oder auch des Intuitiven und Diskursiven angesprochen. In einem weiteren Schritt kann Fichte ausgehend vom Als die Existenz dann als ein Ich bestimmen, weil für das Sichwissen des Wissens als Wissen ein ursprünglicher, nicht äußerlich erst vermittelter Selbstbezug in ihm liegen muss (W190). Das Erfordernis dieser Momente des Wissens erscheint hier zwar schon als plausibel, es handelt sich aber freilich erst um eine recht provisorische Ableitung, die später noch vertieft wird. 42 Auch wenn sich nichts notwendig aus dem absoluten Sein herleiten lässt, so ist schon erkennbar, dass sich immer das Wissen selbst faktisch finden wird als die Erkenntnis dieses Absoluten und dass es zumindest seine notwendige Form daraus erklären kann, was es für diese Erkenntnis des Absoluten benötigt. Das sind die Grundgedanken der Ableitung des Wesens des Wissens, die Fichte hier bereits zu Beginn präsentiert. Auf einen Punkt gebracht: »Ich sage: Das Wissen ist an sich die absolute / oder was das gleiche bedeutet, wie sich zeigen wird, des Absoluten Existenz. […] Frage beantwortet, u. die W.L. geschlossen. Dieser Eine, ganz einfache Gedanke ist’s, den ich – nicht zu beweisen – sondern in Ihnen zur Klarheit zu erheben habe.« (W185) Gegen Ende des Aufstiegs zum Absoluten und der Überlegungen, mit denen Fichte zur Ableitung übergeht, bringt er dieselben Grundgedanken vor, und sagt in einem Rückblick: Es »liegt die Schwierigkeit gar nicht darin, die Glieder dieses Beweises aufzustellen; sie sind, drum auch der Beweiß ist, vom Anfange unsrer Vorträge an sehr oft dagewesen […]; die Schwierigkeit ist, die Auffaßenden also zu bilden, u. vorzubereiten, daß es [das Pronomen kann sich vom Kontext her nur auf ›die Auffaßenden‹ beziehen und müsste heißen: ›sie‹] denselben in die rechte Stelle setze: d. i. daß es selbst an der rechten Stelle stehe, um ihn, und statt desselben nicht etwas Anderes zu erhalten. d h. eine Täuschung, u. Erschleichung hinwegzuschaffen, u. abzuhalten, innerhalb welcher wir bisher noch immer uns befunden haben« (W243). Die angesprochene Täuschung, wie sich im FolZum Beispiel in Bezug auf das Ich vgl. unten, S. 86 f., in Bezug auf die »organische Einheit der Intelligenz, u. Intuition« vgl. S. 71 f. u. 118 f.

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genden noch deutlicher zeigen wird, besteht darin, etwas als absolutes Sein zu nehmen, was selbst von der notwendigen Form des Wissens bestimmt ist, hier einem objektiv gedachten Absoluten, eigentlich nur ein Existentes innerhalb der Existenz, das nicht das Sein ist, wie es unabhängig davon in sich ist. 43 Über welche Stufen der Erkenntnis darüber hinaus zum wahren Absoluten fortgeschritten wurde, rekapituliert Fichte in der 13. Stunde, als Vorbereitung für den Beweis des Absoluten in der folgenden. Dort kommen drei Absolute zur Sprache, wobei das erste das anfangs gefasste, objektiv gedachte absolute Sein ist. Es wird im Folgenden darum gehen, diese Höherentwicklung in der Erkenntnis des Absoluten nachzuvollziehen. Anhand von den drei Ansichten des Absoluten lässt sich der Aufstieg gliedern und an diesem Gedankenfortschritt lässt sich auch am besten festmachen, was der Inhalt der ersten 15 Vorlesungsstunden ist. Innerhalb des Projektes der danach folgenden Ableitung wird zwar noch ein vierter Begriff des Absoluten zu erarbeiten sein. Dieser widerlegt jedoch den dritten nicht als einen falschen, sondern macht diesen zum Zwecke der Ableitung nur weiter durchsichtig. Ein Beleg meiner Interpretation der Gliederung am Text geschieht sinnvollerweise eigens für jeden Abschnitt am Anfang jeder neuen Stufe wie dann noch einmal im Ganzen ausgehend von Fichtes Bemerkung in der 13. Stunde innerhalb der dritten Stufe. 44 Beginnend mit dem Begriff des absoluten Seins ergibt sich der weitere Gedankengang aus der transzendentalen Methode der Reflexion auf die notwendigen Bedingungen des jeweils Erkannten. Die Maxime dieser transzendentalphilosophischen Methode kann auch so formuliert werden, dass bei keinem bloßen Produkt des Erkennens stehen geblieben werden darf, sondern weitergefragt werden muss (W308). Die reine Produktivität, die dadurch erreicht wird, ist der eine, einfache Einheitsgrund des Wissens, aus dem sich alle Differenzen ergeben. Ergibt sich etwas nicht aus ihm, sondern steht ihm vielmehr äußerlich gegenüber, bleibt es also in der Spitze noch bei einer Differenz, so ist eine Begründung des Systems noch nicht erreicht. Auf diese Weise gibt Fichte eine Falsifikationsmethode für sein Den-

Die mangelnde Klarheit des Satzes liegt m. E. also nicht nur darin, dass er noch nicht die ganzen Differenzierungen des Wissens zum Ausdruck bringt (gegen Asmuth, 2009, 54 f.), sondern im noch nicht verdeutlichten transzendentalen Verständnis von Sein und Existenz. 44 Vgl. unten, S. 92–99. 43

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Vorbemerkungen

ken an die Hand. Während des Aufstiegs deutet Fichte immer wieder an, was sich anknüpfend am bis dahin Erreichten ableiten lassen würde und was noch fehlt. 45 Für das Denken Fichtes, der vom kantischen System mit seinen noch unvereint gebliebenen grundlegenden Differenzen, etwa zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, ausgegangen war, ist die Suche nach dem Einheitsgrund, von dem her alles verstanden wird, zentral. 46 Wie die Analyse des Aufstiegs zeigen wird, bedarf es für diesen nicht einer Konfrontation des jeweils zunächst in den Blick genommenen Prinzips mit zufällig aufgegriffenen Fakten, sondern führt dessen transzendentale Analyse selbst jeweils auf ein Glied, das nicht aus ihm hergeleitet werden kann und in Entgegensetzung zu ihm steht. So kann die Methode auch beschrieben werden als fortschreitende Synthetisierung der aufgefundenen Gegensätze bis hinein in den letzten Grund aller Synthesis 47, der freilich nicht einfach nur postuliert werden darf, sondern in dem durch die energische transzendentale Rückwendung des Denkens selbst Standpunkt bezogen werden muss. In der Gestalt der aus dem Vernunftvermögen entspringenden »Vft. Maxime« der »Einheit« (W309) wird die Methodenmaxime am Ende der Erlanger Wissenschaftslehre abgeleitet und dadurch auch diese anfängliche Voraussetzung aufgelöst werden können. Die Wissenschaftlichkeit besteht in der dargestellten Methode. Und zwar ergibt sich für Fichte daraus ein in seiner Gestalt notwenVgl. etwa die Bemerkung in W227, dass das Erreichte nur dem notwendig einem bestimmten Gesetz folgenden Vollzug des Subjekts und noch nicht dem Phänomen der Freiheit, das sich dem Gesetz als einem Sollen gegenüber findet, gerecht wird. 46 Die Auseinandersetzung mit Kant wird gut greifbar in der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1798/99, im sechsten Abschnitt, wo Fichte Kant vorwirft, sich nicht die Frage gestellt zu haben, wie wir den Kategorischen Imperativ denn erkennen. Die theoretische Philosophie habe das nicht behandelt, weil sie das Praktische außen vor gelassen habe, die praktische nicht, weil sie sich nur mit dem Inhalt, aber nicht mit unserer Erkenntnis des Inhaltes beschäftigt habe (GA I,4 225). In der GWL versucht Fichte sehr deutlich, mit seinen drei Grundsätzen sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft grundzulegen. 47 Insofern schließe ich mit der Bestimmung der Methode der Erlanger Wissenschaftslehre bei Diogo Ferrer an (2000, 260 f.). Die Synthese muss dann m. E. genau das sein, was Fichte als »Träger unsrer Spekulation« (W212) bezeichnet – das jeweilige Absolute, aus dem abgeleitet wird. Insofern halte ich es aber nicht für überzeugend, dass Ferrer nach dem Licht als weitere Synthesis den Glauben angibt (261) und nicht das Absolute des Glaubens. Auch liegt m. E. die nächsthöhere Synthese im Absoluten als Gesetz und nicht im Begriff (261), der nur einen Teil, die Synthese des Daseins, angibt. 45

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diger Fortschritt, sodass er seinen Zuhörern den Rat geben kann, zur Vorbereitung schon selbständig vorauszudenken (W196 f.). 48 Im Folgenden soll es darum gehen, die wesentlichen Schritte dieses transzendentalen Gedankenganges nachzuvollziehen und dabei zu zeigen, wie entsprechend der Methode fortgeschritten wird.

1.1.1 Erste Stufe: Das gedachte Absolute – Überwindung des Verhaftetseins an das Dingliche Die ersten Argumentationsschritte und ihre Methode Die ersten Schritte des Aufstiegs sind bereits thematisiert worden. Wie ist Fichte hierbei entsprechend der transzendentalen Methode der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des objektiv Gedachten, auf eine bestimmte Denktätigkeit, vorgegangen? Der erste Schritt, überhaupt über das Sein hinaus der Existenz gewahr zu werden, ist schon eine solche Reflexion gewesen. Ausgerichtet bin ich zuerst immer auf ein objektives Sein. Die Existenz muss ich mir beHans Gliwitzky problematisiert die damit verbundene Behauptung Fichtes, es handle sich um eine vorhersehbare, also notwendige Gedankenentwicklung (1984, XLII). Er geht dabei aber nicht vom konkreten aufsteigenden Gedankengang, wie er sich im Text findet, aus, sondern von allgemeinen Überlegungen zur Frage nach der Vollständigkeit in der Entfaltung der konstitutiven Wissensmomente. Versuchsweise schlägt er vor, diese könne durch eine In-sich-Rückläufigkeit gewährleistet werden, in der man, beginnend mit einem beliebigen Moment des Wissens, das notwendig verschiedene Andere setzt, durch den Gang durch diese auf das erste wieder zurückkommt (XXXVI f.). Weil dabei beim Setzen des Anfangs und in der Wahl des Ganges durch die sich gegenseitig setzenden Glieder eine gewisse Freiheit besteht, stellt sich ihm die Frage, wie dann noch von einer gewiss vorhersehbaren Folge die Rede sein könne (XLI f.). Die angesprochene logische Struktur stellt Fichte selbst als die Struktur der Form heraus: Sie sei »ein durch Wechselwirkung mit sich selbst zusammengesetztes« (W267), »ein organisch zusammenhängendes Ganzes, dessen jeder Theil auf jeden andern Theil führen muß« (W273; vgl. dazu auch W306 u. unten, S. 69–71 zu Fichtes Beschreibung der organischen Struktur des Lichts). Man muss bedenken, dass er diese Struktur in Bezug auf die Form und den Gang ab der 16. Stunde herausstellt, dort ausdrücklich von einem freien Verfahren spricht (W251) und an manchen Stellen auch deutlich macht, dass und wie er anders hätte vorgehen können (W272, 279 u. 289). Die Existenzlehre davor folgt jedoch nicht dieser Struktur, sondern ist ein von faktischen Denkprodukten aus transzendental rückfragender Aufstieg zum Absoluten. Dass dieser entsprechend einer bestimmten Methode und in einer sich daraus vorhersehbar ergebenden Richtung erfolgt, zeigt Fichte selbst für die ersten Schritte (vgl. oben, Anm. 32) und wird hier in den Methodenanalysen noch weiter dargestellt werden können.

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wusst machen in einer Reflexion, denn meist ist sie ein »geheimes, u. sich selbst verstekendes Ist« (W186) und wird nicht als solche erfasst. Sie ist aber notwendig und konstitutiv für ein gedachtes Sein, wird also immer mitvollzogen und kann so durch Reflexion erhellt werden. Durch die Reflexion wiederum darauf, wie die Existenz als solche hat erfasst werden können, wird dann klar, dass dies nur möglich war, weil sie in sich selbst sich als solche wissen kann im Unterschied zu einem Anderen, also wesentlich ein Als, und zwar ein selbstbezügliches, und ein Durch in sich trägt. Die Reflexion holt das, was vorher faktisch vollzogen worden ist, ans Licht und kann so Stück für Stück die Voraussetzungen der anfänglichen Erkenntnis erweisen. Entsprechend dieser Methode geht Fichte in der vierten und fünften Stunde weiter. Was haben wir getan, als wir die notwendige Gestalt der Existenz eingesehen haben? Um zu sehen, was aus ihrem Wesen folgt, musste sie »als das absolute« genommen werden, andererseits wurde sie aber als ganze vor Augen gestellt und als Existenz und bloß Existenz charakterisiert (W194). Wie hat man sie auf diese Weise als ganze in den Blick nehmen können? Nur von einem Höheren her, das nicht die Existenz ist – also offenbar vom Sein her. Mit dieser Thematisierung der Existenz als ganzer geht notwendig eine höhere Perspektive auf das Sein einher (W198). Spätestens angesichts dessen ist klar, dass der Begriff des Seins vorher nur ein Sein in der Existenz gewesen ist, ein Existentes. 49 Aber: Das höhere Sein – haben wir es nicht auch wieder objektiviert, ist nicht auch das ein Begriff, ein Existentes in der Existenz? Und doch scheinen wir uns in der Erkenntnis des Wesens der Existenz auf etwas bezogen zu haben jenseits des Raumes der Existenz, in dem alles zu einem Existenten wird. Deren weitere transzendentale Erhellung wird, wie im Folgenden beschrieben wird, auf den nächsthöheren Standpunkt führen. Doch vorher noch ein Blick auf wichtige Konsequenzen der ersten Argumentationsschritte für die Thematik dieser Untersuchung. Problematisierung des verdinglichenden Realismus und Idealismus der ersten Stufe Diese ersten Schritte der Argumentation spannen ein Gegenüber von zwei möglichen Weltsichten auf: zuerst einer realistischen, die selbstvergessen das objektiv gedachte Sein als das eigentlich Reale nimmt, 49

Vgl. W198 in Bezug auf dieses Sein: »b. ist das existente«.

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und dann einer idealistischen, die das Gedachte als Gedachtes durchschaut und als nur subjektive Konstruktion ansieht. Wie Fichte an anderer Stelle genauer zeigt – dies wird noch thematisiert werden –, geschieht dieses objektivierende Denken nur vermittels der Erscheinungsformen von Raum und Zeit. 50 Das so Gedachte wird also immer als ein Sein im Raum ausfallen. Es ist das, was hier anknüpfend an Fichtes Sprachgebrauch die Körperlichkeit im Unterschied zur Leiblichkeit genannt werden wird. 51 Die ersten Schritte der transzendentalen Erhellung der Existenz sind insofern für das Leibthema wichtig, als sie fordern, dieses objektiv gedachte, räumliche Sein konsequent als bloße Erscheinung zu betrachten. Es ist jedoch nicht leicht, damit wirklich ernst zu machen. Fichte erklärt, wie trotz der Erhellung der subjektiven Konstitution ein Verhaftetsein an ein dingliches Seinsverständnis weiterbestehen kann. In der anfänglichen Vergessenheit der Existenz dachte man einen Begriff, in dem Sein und Existenz ungetrennt verschwimmen – die »beiden geschiedenen werden vermengt« (W198) –, und hat nicht gesehen, dass das Sein hier nicht das wahre Sein in sich, sondern nur Existenz ist. »In der gewöhnlichen, nicht transzendentalen, d. h. seichten und oberflächlichen Ansicht, wird die Existenz zum Seyn selbst gemacht« (W187). Fichte erklärt dies aus der natürlichen Vergessenheit der Existenz: »[D]aß nun bei einer solchen Vergessenheit das existente Objekt, das existent ist nur in Relation auf die Existenz, den Charakter des Seyns bekommt, ist klar« (W187). Wenn dann in einer Reflexion auf diesen Zustand das Bewusstsein als solches erkannt wird, kann die Vergessenheit darüber, dass das objektive Sein ganz abhängig von der geistigen Tätigkeit und durch sie konstituiert ist, durchaus fortbestehen, und dieses wird dann als ein unabhängig, außerhalb des Bewusstseins, aber so, wie es gedacht ist, für sich Seiendes vermeint. Das Bewusstsein oder die Existenz wird dann nicht als die Tätigkeit gedacht, die dieses objektive Sein erst hervorbringt, sondern als eine dieses objektiv Gegebene nur bewusstmachende und nachbildende Tätigkeit. Fichte nennt diese Tätigkeit eine bloß ein Vorkonstruiertes nachkonstruierende. 52 Eine die subjektiven BedingunVgl. unten, S. 118 f. Zu dieser Unterscheidung vgl. unten, S. 122 f. 52 Vgl. W190 zur Bezeichnung »Nachbildung, Nachconstruktion« und W191 zur Benennung des Gegenübers von »Vor- und Nachbildung«. In der 18. Stunde bestimmt Fichte dies deutlich als die Tätigkeit des bloß subjektiven Begreifens eines objektiv so an sich seienden Dinges: »Gegentheil: Begriff, u. Ding. Dasselbe zweimahl gesezt: im 50 51

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Erste Stufe: Das gedachte Absolute

gen des vorgestellten weltlichen Seins konsequent erhellende transzendentale Reflexion kann dabei nicht stehen bleiben, sondern muss zu einem Verständnis der subjektiven Tätigkeit vorstoßen, die auch diese Vorkonstruktion umfasst. Auf diese Tätigkeit weist Fichte bereits in der dritten Stunde hin und nennt sie die »Urbildung« (W191). 53 Ein genaueres Verständnis von ihr wird jedoch erst auf der zweiten Stufe erreicht. Dort, wie dann besonders auf der dritten, wird es zudem um die Frage gehen, ob und, wenn ja, wo dann noch ein reales Sein gefunden werden kann und wie dieses der subjektiven Konstruktion von Sein zugrunde liegt. Fichte wird es im lebendigen Tätigsein des Subjekts selbst finden, das sich begreift und dabei zu einem objektiven Sein macht. In der 19. Stunde, nachdem Fichte seine Zuhörer zu diesem Verständnis der Realität und ihrer Verwandlung im Begriff geführt hat, kann er ihnen gegenüber die Überzeugung äußern, »daß von Ihnen nunmehr gewiß keiner mehr in der Welt (dem Umkreise) des V. .[= Vorkonstruierens] das Ding an sich suchen, oder, wie es doch zu einem solchen Dinge kommen könne, wenn nicht wirklich, u. wahrhaftig eins sey, sich weiter wundern würde« (W268). Das eigentliche »Ding an sich« – Fichte greift hier die kantische Rede und zugleich die damit zusammenhängende, bei Kant noch ungeklärte Problematik auf – das wirkliche Sein, auf welchem die Erscheinung basiert, findet er im Tätigsein des Subjekts. Dieses Sein bezeichnet er freilich nicht mehr mit dem Wort ›Ding‹, das er, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entsprechend, wie auch das Wort ›Welt‹, für das als räumlich gedachte Sein verwendet. 54 Was in dieser Untersuchung Körper genannt wird, entspricht diesen Begriffen. Auf der ersten Stufe ergibt sich, dass dieses objektiv gedachte Sein wie auch ein diesem scheinbar zugrunde liegendes Sein, das außerhalb des Bewusstseins, aber so wie gedacht an sich existierend vermeint wird, zunächst einmal lediglich Produkte unserer subjektiven Konstitutionstätigkeit darstellen und somit in ihrem Realitätsstatus zumindest zweifelhaft sind. Auf den folgenden Stufen wird sich das objektiv gedachte Sein als Erscheinung des lebendigen Subjektseins Begriffe mit dem Zusatze der Durchdrungenheit, des innern quale, das aber im Dinge eben also sey; übrigens unterschieden wie Nachconstruktion, u. Vorconstruktion.« (W260) 53 In der 18. Stunde nennt er sie dann »construktion« (W260) und bestimmt sie als das Ursprünglichere zu Vor- und Nachkonstruktion. 54 So sagt er in der 19. Stunde, »daß V. [= Vorkonstruktion] die ganze absolute Welt sey« und »daß hier eben das Ding liege« (W268). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Transzendentalphilosophische Grundlegung der Ableitung des Leibes

erweisen, und zwar genauer der praktischen Tätigkeit in ihrer konkreten, aus dem Kontakt mit anderen Subjekten erwachsenden Begrenztheit. Diese Tätigkeit wird den Kern dessen ausmachen, was hier Leib genannt wird. Die Überwindung des Dingrealismus durch die Erhellung des Körperseins als Produkt der subjektiven Konstruktionstätigkeit führt bei Fichte nicht dazu, all das, was zum Phänomen der Leiblichkeit gehört, zu einer bloßen Erscheinung im Bewusstsein zu degradieren. Auch werden sich Wege zeigen, das Sein nicht auf die Wirklichkeit des eigenen Subjektseins zu beschränken, sondern auch andere Subjekte real sein zu lassen. Um Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, muss gesagt werden, dass Fichte in diesem ersten Schritt nur das erschließt, was in der Theorie, die am Ende seiner transzendentalen Analyse herauskommt, die Konstitution bloß der Form des Wissens und in ihr des objektiv gedachten Seins als einem ihrer Momente darstellen wird. Neben dem realen eigenen Sein knüpft für ihn diese Konstitution außerdem an einen bestimmten Gehalt an. Sie setzt für Fichte die räumliche Anschauung des Gehaltes, auch das, wie dieser sich qualitativ anfühlt, etwa als grün oder rot; aber dass grün und nicht rot gefühlt wird, entspringt für ihn einem passiven Bestimmtsein, welches nicht durch die Konstitution hervorgebracht wird. Da Fichte die transzendentale Rückfrage in der Erlanger Wissenschaftslehre nicht von einer sinnlichen Bewusstseinsgegebenheit ausgehen lässt, sondern vom Gedanken des realen absoluten Seins, nimmt die Reflexion nicht diesen Gehalt als Bedingung in den Blick. Er könnte freilich ausgehend vom Gedanken des absoluten Seins auch diese Bedingung erschließen, weil jedes Denken angewiesen ist auf Vorstellungen, deren Produktion wiederum bedingt ist durch ein Gegebensein, und zwar in Form von sinnlicher Erfahrung. Wie er auf das Erfordernis der sinnlichen Erfahrung reflektiert, wird hier anknüpfend an die frühe Sittenlehre dargestellt werden. In der Erlanger Wissenschaftslehre kommt es zu einer Thematisierung des sinnlichen Gefühls nur innerhalb der unmittelbaren Vorbereitung der Ableitung, und ohne dass dessen Ursprung aus einer passiven Begrenztheit geklärt würde. Der Aufstieg, in dem Fichte darauf abzielt, den Grund der Genesis aller Momente des Wissens, dem keines mehr äußerlich gegenüber stehen darf, zu erschließen, wird durch diesen Mangel jedoch nicht widerlegt, da sich diese Begrenzung und das aus ihr entspringende Gefühl für ihn nur innerhalb der Tätigkeit des einen, vom Absoluten gesetzten Daseins ergeben, welche jedes individuelle Subjekt mitvollzieht. 62

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Erste Stufe: Das gedachte Absolute

Wenn das gedachte Sein der ersten Argumentationsschritte als ein räumliches und in diesem Sinne materielles bestimmt wurde, dann gilt dies auch für das gedachte absolute Sein, mit dem die Argumentation geführt wurde. Wir unterliegen derselben Denkgesetzlichkeit, wenn wir ein Absolutes als Grund der Welt denken. Wenn wir es denken, ist es ein Gedachtes und wird uns unter der Hand zu einem Materiellen, weil wir ohne die Anschauungsformen nicht denken können. Die Bezugnahme auf das Absolute wird nie ohne diese Vergegenständlichung auskommen, diese ist aber als reine Erscheinung zu durchschauen, und es ist ein unmittelbarer Bezug auf das Absolute zu suchen. Die Problematisierung der objektiv auffassenden Existenz in der Nichtfolge Mit der transzendentalen Reflexion hat Fichte das Bewusstsein dafür geschärft, wie sehr wir den Denkgesetzen unterworfen sind und nicht aus dem Denken aussteigen können. Die Größe der Herausforderung, das schlechthin absolute, auch dieses Denken erst begründende Sein zu finden, ist augenfällig. Es kommt alles darauf an, Sein und Existenz zu sondern, indem alles, was zur Existenz gehört, als solches erfasst und nicht vorschnell schon für das Sein genommen wird (W197). Dass Sein und Existenz anfänglich verschwommen gefasst werden, bedeutet umgekehrt aber, dass in dem bloß Existenten dunkel auch schon ein höheres Sein vorweggenommen wurde, denn nur ausgehend von ihm konnte sich die Existenz als ganze begreifen und ihre notwendigen Wesensmomente erkennen. Gegenüber diesem Sein musste sie sich zugleich relativieren. Sie ist lediglich Existenz, Dasein eines Seins, das für sich absolut ist, sodass die Existenz nicht als notwendig daraus folgend erkannt werden kann, obwohl sie sich faktisch immer einstellt. Einerseits ergibt sich diese Einsicht, andererseits scheint sie jedoch sogleich dadurch widerlegt zu werden, dass das Sein, das wir ja faktisch in dieser Einsicht denken mussten, ein Sein in der Existenz ist. Oder gibt es eine andere Möglichkeit? Für die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs fährt Fichte fort mit der genaueren Erhellung dessen, was wir in dieser Einsicht getan haben. Versucht man zu verstehen, wie es möglich war, das anfängliche Verhältnis von Sein und Existenz zu denken, so wird deutlich, dass dazu nicht nur ein Als und ein Durch notwendig war, sondern ebenso die Einsicht, dass die Existenz nicht aus dem Sein folgt. Diese weitere Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Voraussetzung transzendental erhellend, geht Fichte im weiteren Gang der Überlegung von dieser Nichtfolge aus. Zunächst soll der Gedanke der Nichtfolge und die darin zuerst liegende Widersprüchlichkeit deutlich herausgestellt werden. Dies ist für unsere Thematik auch deshalb wichtig, weil in diesem Gedanken für Fichte bereits ein wichtiger Fortschritt liegt in der Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Relativem gegenüber der gewöhnlichen Verwendung dieser Begriffe. Man müsse sehen, dass auch diese als Begriffe gefasst werden, die sich durcheinander, in einem Durch, bestimmen. »Das Absolute selbst nemlich läßt sich nur Relation auf das Relative denken« (W189). Wenn es aber nur in diesem Unterschied bestimmt ist, ist es schon kein Absolutes mehr. »Wem die Absolutheit beigelegt wird, dem wird sie gerade dadurch genommen.« (W195) Das Problem liegt in dem Beilegen, und d. h. im Denken des Absoluten. Das wahrhafte Absolute kann nur gefunden werden in einem Hinausgang über das Denken. Auch von der Frage nach dem Wesen des Wissens her ist dieser Gang vorherzusehen: Will man das Wissen erklären, muss es einem letzlich gelingen, über dem Wissen zu stehen. 55 In der Verwendung der durcheinander bestimmten Begriffe wird dieses Erfordernis verdeckt. In der Erkenntnis der Nichtfolge steckt jedoch die Einsicht, dass das Wissen sich zwar faktisch immer einstellt, aber nicht gelten gelassen werden soll. Für den Ausdruck dieses Verhältnisses möchte Fichte die Begriffe Sein und Existenz verwenden. Und er drückt es dynamisch als ein zugleich vollzogenes Setzen der Existenz und ein Aufheben, d. h. Erklären der Nichtfolge der Existenz, aus. Denn »es läßt sich nicht nur Vgl. W229: »[F]ür eine Erung des Wissens in seinem wahren Wesen muß das Licht nicht in sich selber bleiben, sondern es muß ein Mittel finden aus sich selbst herauszugehen« (– das »muß […] nicht« ist in heutigem Sprachempfinden als ›darf nicht‹ zu lesen; Fichte verwendet es öfter in diesem Sinne). Vgl. hierzu auch die von Fichte bereits in der ersten Stunde angesprochene Problematik, dass das Wissen um das Wesen des Wissens selbst in der Angabe des Wesens enthalten sein, das Wissen sich also ganz einholen muss (W182 f.). Diesen Inhalt zu integrieren, ist nicht schwer, und mit der Charakterisierung der Existenz als einer, die sich selbst als solche versteht, schon grundsätzlich erreicht; und hierfür kann man innerhalb des Wissens bleiben. Die Schwierigkeit liegt für Fichte darin, dass die subjektive Form des Wissens nicht einholbar zu sein scheint. Es müsste ein Standpunkt erreicht werden, auf dem selbst diese subjektive Form überwunden ist. Da sie sich faktisch immer einstellen wird, müsste auf diesem Standpunkt gezeigt werden, wie man andererseits doch über diesem Faktum stehen kann und diese Faktizität somit nicht gültig ist. Diese Schwierigkeit wird erst auf der zweiten Stufe gelöst werden können.

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nicht denken, wie Existenz zu ihm [hat] kommen können, sondern der blosse reine Gedanke des Seyns schließt sogar aus, u. hebt auf desselben Existenz« (W195). Umgekehrt ist aber der Gedanke des Seins eben genau die Existenz selbst; »der Gedanke des Seyns ist daher ein die Existenz aufhebender, u. ausschließender Gedanke: – zugleich auch ein dieselbe setzender Gedanke« (W195). »Die Unterscheidung zwischen Seyn u. Existenz ersezt durch ein dynamisches Verhältniß das zwischen Absolutem, u. relativem« (W189). Dieser Begriff der Nichtfolge und des zugleichen Setzens und Aufhebens konnte nur gefasst werden ausgehend von einer unterschiedlichen Umgangsweise mit der faktisch sich immer einstellenden Existenz. Die Feststellung des unausweichlichen Sicheinstellens der Existenz geschieht in einem schlichten empirischen Auffassen. Die Feststellung der Nichtfolge und des Nichtgeltenlassens geschieht in einem Denken. Zwar können wir also faktisch nicht über die Existenz hinaus, wohl aber einsehend. Diese beiden subjektiven Tätigkeiten erschließt Fichte in der fünften Vorlesungsstunde. Wie hat die Nichtfolge gedacht werden können? Nur unter der Voraussetzung oder mit einem impliziten Vollzug des Denkens der Folge überhaupt. In diesem Denken der Folge überhaupt wird die Folge bloß als mögliche gedacht. »Die Existenz […] macht sich existent nur als möglich.« (W202) Sie »nimmt sich selbst als in sich selber durchaus indifferent, auf das Existent machen; als durch sich dazu nicht berechtigt, sondern erwarten müssend einen Grund ausser sich« (W201). Die Wirklichkeit der Folge kann sich nur von einem Grund her ergeben, es reicht nicht, sie einfach nur unmittelbar aufzufassen. Das geschieht zwar unweigerlich, die Existenz weiß sich unmittelbar als wirklich existent, aber aus der Perspektive der Forderung nach einer Rechtfertigung oder Genetisierung ihres Seins ist dieses faktisch aufgefasste Sein nun als ein bloßes Bild bestimmt, das in seiner Gültigkeit erst einmal dahingestellt und anzweifelbar ist, als »ein blosses Schema; welches nur dem erwarteten Grunde gegenüber steht, u. von ihm seine Gültigkeit erwartet« (W201). Die Existenz als Denken ist frei, das unmittelbar Aufgefasste als wirklich zu beurteilen. Erst von dieser jetzt erhellten genetischen Ansicht des formalen Seins der Existenz her konnte das faktische Auffassen als ein solches bestimmt werden (»beide sind durch einander zu erklären« (W201; vgl. auch W206). Die Existenz, wie sie anfangs verstanden worden ist und »den bisherigen Träger unsrer Spekulation« (W212), das Prinzip des transLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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zendental erschlossenen Bedingungszusammenhangs, ausgemacht hat, war solch eine sich selbst faktisch auffassende. Indem sich die Existenz nun über das faktische Auffassen hinaus als genetisches Intelligieren erwiesen hat, worin die Wirklichkeit nicht unmittelbar, sondern nur begründet erreicht wird, muss die bisherige Ansicht der Existenz als unvollständig fallen gelassen werden. Es deutet sich an, dass der neue Träger des Gedankens eine sich selbst intelligierende Existenz sein wird. Sie als solche genauer zu erhellen, beginnt Fichte in der siebten Stunde. Indem er sie dabei als neuen Ausgangspunkt erweist, der fähig ist, das bisher Erschlossene aus sich zu erklären, eröffnet er eine neue Stufe der Spekulation. Es wird dann auch möglich sein, aus ihr unmittelbar den Begriff des Seins herzuleiten, der bisher von der Überlegung immer noch äußerlich vorausgesetzt worden ist. Erst dadurch kann dann eine Weltsicht begründet erreicht werden, in der die subjektive Tätigkeit nicht mehr objektivistisch ein äußeres Sein voraussetzt, sondern das Sein in sich findet und das Denken dieses äußeren Seins aus sich selbst erklärt. Entsprechend findet die Existenz in sich einen nichtobjektivierenden Zugang zum Sein – diese höhere Perspektive hat sich schon angedeutet – und die bisherige Widersprüchlichkeit kann aufgelöst werden.

1.1.2 Zweite Stufe: Das Licht als Absolutes – Fichtes transzendentalphilosophischer Standpunkt Die Hinführung zum höheren Standpunkt In der sechsten Vorlesungsstunde versucht Fichte zwar weiter, ausgehend vom Gedanken der Nichtfolge die Existenz als genetisches Intelligieren zu erhellen. Er scheint aber gemerkt zu haben, dass der höhere Standpunkt der Spekulation, auf dem sich die Probleme des unteren lösen lassen, mehr oder weniger nur in einem Sprung zu erreichen ist. Deshalb kündigt er zu Beginn der siebten Stunde an, er habe vor, die Zuhörer »sogleich in den eigentlichen u. höchsten Standpunkt unserer Wissenschaft hineinzuversetzen« (W209). Die notwendige Sprunghaftigkeit hängt damit zusammen, dass die intellektuelle Selbstanschauung des Wissens, die den höheren Standpunkt ausmachen wird, nicht durch Reflexion erreicht werden kann, sondern man sie als ursprünglich sich vollziehend in sich finden muss. Fichte drückt es so aus, dass »das inwendige Auge durch keine äussere 66

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Kunst aufgerissen werden kann, sondern sich schon offen finden muß« (W210). Entsprechend gibt er direkt einführend zur siebten Stunde den Hinweis: »Hier kann nun durchaus nichts helfen, als intellektuelle Anschauung« (W209). Trotzdem knüpft er an die bisherigen Überlegungen an, und zwar konkret an das Erfordernis einer Ableitung des bisher für den Gedanken der Nichtfolge immer noch vorausgesetzten Begriffs des Seins. Er möchte die Richtung der Voraussetzung umkehren, und zwar durch einen Aufweis, dass sich die Nichtfolge aus der Existenz selbst ergibt, und dann von dieser Nichtfolge her der vorher vorausgesetzte Begriff des Seins hergeleitet werden kann. Da die Einsicht der Nichtfolge aus der Existenz selbst durch die höhere Ansicht der Existenz bedingt ist, versucht er, durch diesen Gedanken in sie einzuführen, ohne dabei freilich die Sprunghaftigkeit letztlich umgehen zu können. Zuerst die These: »[D]aß die Existenz in ihr selber nicht folge, ist absolute Bedingung ihrer eignen Existenz; u. wenn sie in ihr selber folgte (als eine Folge intelligirt würde) so würde sie dadurch völlig aufgehoben, u vernichtet« (W209). Für die Einsicht des Satzes ist es notwendig, die Existenz als eine Relation zu verstehen, die unmittelbar in sich selbst liegt und die deshalb auch ihre Glieder unmittelbar mit sich bringt. Die Relationalität ergibt sich aus der Als-Form: Die Existenz muss sich als solche verstehen. Die Unmittelbarkeit ergibt sich daraus, dass das Als wesentlich zur Existenz gehört und sie diese Form so auch nicht in einer Vermittlung in sich hineinbringen könnte: »[S]ie selbst ist in ihr selber […] unmittelbar, keinesweges durch Vermittelung; denn um sich zu vermitteln müste sie ja herausgehen aus sich selbst u. etwas anderes werden« (W210), also nicht Relation; das ist sie aber wesentlich. Sieht man nun, dass ein sich folgerndes Intelligieren eine solche Vermittlung wäre, so ist klar, dass dies nicht stattfinden kann, und zwar um des Wesens der Existenz selbst willen. Für diese Einsicht musste die Relation selbständig und in der Einheit ihres Wesens gedacht werden, oder, wie Fichte sagt, als »absolute Relation« (W211). Die Selbständigkeit der Relation kann er noch deutlicher machen, wenn er sie vom Sichverstehen der Existenz als Existenz her selbstbezüglich denkt: Indem die Relation sich selbst als solche versteht, ist sie Relation auf sich und von anderem unabhängig. Sie weiß sich selbst als ihre Glieder und dass sie nur durch diese Glieder ist, was sie ist, weiß aber auch die Identität der Glieder Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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in sich. Unzufrieden mit diesem Verfahren, nur verschiedene Momente eines Begriffs zusammenzufügen, ohne sie aus ihrer organisierenden Mitte heraus zu begreifen, fragt er: »Besitzen wir vielleicht den Begriff unmittelbar in seiner schen Einheit, u. Ungetrenntheit, und können ihn hinstellen: hat vielleicht die Sprache auch einen Namen dafür? […] Ich sage, die bis jezt beschriebne Beziehung in ihrer unmittelbaren concreten, u. organischen Einheit ist das L i c h t , das inwendige nemlich. Als der Form nach; Einsicht dem Wesen nach.« (W211) Dieser Begriff soll nun als der neue Träger der Spekulation dienen, aus dem sich alles Bisherige ergibt. Dieses diente als Hinführung zu diesem Begriff, er ist aber davon nicht abhängig, sondern bringt es, wie noch zu zeigen ist, in sich selbst stehend aus sich hervor. Fichte spricht deshalb von einer »Umkehrung der ganzen Richtung unserer Forschung« (W215). Das Licht Das Wort ist natürlich als eine Metapher zu verstehen. 56 Deshalb bestimmt es Fichte auch näher als »das inwendige«, also das geistige; gemeint ist die Einsicht (»Einsicht dem Wesen nach« [W211]). Genauer meint Fichte damit die auf sich selbst bezogene Einsicht des Wesens der Einsicht überhaupt, welche für jede einzelne Einsicht vorausgesetzt wird. Es kann etwas nur gewusst werden, indem implizit gewusst wird, was Wissen überhaupt ist. Da das Wissen für Fichte in der Weise ursprünglich bei sich ist, sich selbst im Einsehen, also inMit der Verwendung dieser Metapher stützt Fichte sich auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch, nach dem man z. B. davon spricht, dass jemandem ›ein Licht aufgeht‹. In der 22. Stunde sagt Fichte etwa selbst, dass er mit einem bestimmten Hinweis demjenigen Zuhörer, »dem hier noch Dunkelheit obwaltet[,] das helle Licht aufsteken« (W280) will. Fichte setzt diese Metaphorik bewusst ein, weil er sieht, dass das Übersinnliche im Grunde immer durch Metaphern ausgedrückt wird: »Die Sprache ist metaphorisch; durch ursprüngl. für sinnliche Gegenstände erfundene Zeichen bezeichnend das übersinnliche. . Muste ben so kommen, u. ist vortreflich. Das Wort giebt nicht nur einen Begriff, sondern zugleich ein erklärendes Bild.« (I152) Nach Fichtes Beobachtung gibt es in jeder Sprache auch eine »gewisse GrundRegel, wie die geistige Welt auf die Sinnenwelt zurükgeführt, u. in ihr mit Bildern versehen wird« (I152). Für die deutsche Sprache stellt er offenbar eine Vorliebe der Verwendung visueller Metaphern für das Geistige fest. Der Philosoph müsse diese hergebrachte Metaphorik der eigenen Sprache durchschauen, um sich möglichst verständlich ausdrücken zu können, ohne sich dabei aber zum Sklaven des Sprachgebrauchs zu machen. Das Wort ›Einsicht‹, womit Fichte ›Licht‹ erklärt, ist ebenso an sich solch eine visuelle Metapher. Fichte nennt es oft auch einfach »Sehen« (z. B. W212 o. 215).

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tellektuell, anschauen kann, kann es auch unmittelbar um seine notwendige Gestalt, etwa die Als-Form, wissen. Unmittelbar gewiss ist diese Gestalt im Wissen, weil es sie völlig selbständig in einer seinem inneren Wesen entsprechenden Tätigkeit aus sich hervorbringt. Es weiß sich überhaupt als produktiv in Bezug auf alles im Licht: »[A]us dem Lichte aber ist alles gemacht, was da gemacht ist, u. ausser ihm, ist nichts gemacht« (W211). Diese These wird Fichte dadurch begründen, dass er alle bisherigen Bestimmungen aus dem Licht ableitet. Dem Wesen nach ist das Licht Einsicht, der Form nach ein Als (»Als der Form nach« [W211]). Diese Form gehört ganz unmittelbar zum Licht, wie oben die Relation unmittelbar und wesentlich Relation war. Auf diese Weise kann Fichte den Beweis der Nichtfolge nun auch mit dem Lichtbegriff führen: »Das Licht ist in ihm selber absolut, ein absolutes quale, es kann sich selbst seinem innern Wesen nach in sich selber nicht weiter auflösen: denn es löst sich selbst in sich selbst auf heißt, es löst sich im Lichte, u. innerhalb des Lichtes auf – sodann aber ist es ja Licht, u hat dasselbe nicht aufgelöst. Es ist in sich selbst an sein Soseyn gebunden« (W211). Das »quale« und das »Soseyn« meinen die Lichtform des Als, die unmittelbar mit dem Licht einhergeht. Diese Unmittelbarkeit nennt Fichte hier zum ersten Mal das Gebundensein des Lichts. Die Folge daraus ist einfach: Die Einsicht kann nicht einsehend aus sich herausgehen, kann sich also auch nicht ableiten oder folgern, sondern muss sich immer schon in dieser Form vollziehen, auch wenn sie sie nun freilich nicht mehr nur faktisch auffassen, sondern aus dem eigenen Wesen genetisieren kann. Diese Genetisierung erfolgt aber nicht, indem das Licht aus sich herausgeht, sondern indem es unmittelbar in sich seine wesentlichen Elemente erkennt. Die Unmittelbarkeit des Lichts in sich bedeutet dabei einerseits dieses Unvermögen, aus sich heraus zu können, andererseits besteht darin gerade die völlige Sich-selbst-Durchsichtigkeit des Wissens und seine Absolutheit. Der wichtige Aspekt der Selbstbezüglichkeit des Lichts wird im weiteren Verlauf der siebten Stunde leider nur nebenbei an der Stelle deutlich, wo Fichte klarmacht, wie aus dem Licht zu folgern ist. Es müsse dazu der Begriff des Lichts absolut genommen, also nur von ihm ausgegangen und alles Andere aus ihm verstanden werden. Dann aber fragt sich: »Ist denn das, was wir sehen werden, etwas andres als unser eben es sehen« (W212)? Das kann nicht sein, denn es wird ja nur vom Licht ausgegangen. Es gilt, die Einsicht selbst einzusehen und darauf zu achten, in welchen Momenten sich dieser Akt vollzieLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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hen muss. Auf diese Weise ergibt sich zum Beispiel die Differenz von Subjekt und Objekt: »S. u. O. entsteht freilich, eben weil es Licht ist: demnach Duplicität: beide aber sind gleichfals, weil es Licht ist, schlechthin dasselbe; also Identität« (W212). Es entstehen notwendig Differenzen, weil es ein Einsehen ist, das sich einsieht, und Einsehen sich in Differenzen vollzieht. Alle Differenzen bleiben aber ebenso in der Einheit des Selbstbezuges geborgen. Und diese Einheit muss um ihrer Absolutheit willen wirklich differenz- und gegensatzlos gedacht werden. So ist sie »nicht einmahl Identität, die ja auch nur wieder ein Gegenbegriff der Duplicität ist, sondern innere Einheit« (W212). Auch gehen die Bestimmungen aus dem Licht nicht so hervor, dass sie aus der Einheit gelöst würden. Das Ganze ist in jedem Teil präsent und deshalb kann jeder Teil selbständig auf alle anderen führen. Eine solche Einheit nennt Fichte eine organische. Das Licht ist »allgegenwärtig ganz in allen seinen Theilen: wo in dieser Aufzählung, u. bei welchem Gliede […] Sie es fassen, da ist es ganz: denn alle übrigen Glieder müssen seyn, soll dieses seyn. Dies nenne ich organische Einheit: und eine organische Einheit ist nothwendig eine lebendige« (W218). Mit Lebendigkeit ist gemeint, dass eines aus sich immer eine Mannigfaltigkeit hervorbringt – sich also wandelt –, ohne aber die Einheit des Ganzen zu verlieren – dabei also ebenso, wie Fichte sagt, beharrlich ist. »Mannigfaltigkeit ohne Einheit ist tod. Einheit, die nicht quillt, u. sich regt, ist tod. Das Licht aber ist lebendig« (W218). Das Licht ist so »Mannigfaltigkeit in Einheit: Wandel in der Beharrlichkeit« (W218). Eine lebendige Einheit kann nur gegeben sein, wenn sie nicht irgendwie äußerlich erst zustande kommt. Einsicht ist nicht zu verstehen als etwas, was aus einander zunächst äußerlichen Momenten hergestellt wird, durch bestimmte geistige Operationen, etwa durch die Als-Relation, sondern sie muss als Einsicht in ihrer organischen Ganzheit ursprünglich sein, und die verschiedenen geistigen Vollzüge können sich erst aus ihr ergeben. 57 Sie ist entsprechend ein Akt des Wissens, der ursprünglich schon bei sich ist, der nicht erst in der Zeit durch eine Veränderung zu sich kommt. In diesem Sinne ist Beharrlichkeit zu verstehen. Fichte macht ausdrückHelmut Girndt verweist in seiner Analyse des Lichtbegriffs der Erlanger Wissenschaftslehre zur Verdeutlichung auf den infiniten Regress, der sich ergäbe, würde man das Wissen aus zunächst voneinander getrennten Momenten zusammengesetzt denken. Denn dann würde zur Vermittlung ein Vermittelndes vorausgesetzt, für dessen Vermittlung aber mit den zu Vermittelnden wieder ein Vermittelndes usw. (2009, 32–38).

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lich darauf aufmerksam, dass es ihm um das Licht in seiner in diesem Sinne überzeitlichen Lebendigkeit geht, um einen Akt »ohne Veränderung« (W218). Erst später, in der Vorbereitung der Ableitung in der 27. Stunde, wird er zeigen, inwiefern die Existenz sich vermittels eines zeitlichen Verstehens vollziehen muss. 58 Durch die Einheit des Selbstbezuges wird die Problematik der ersten Stufe überwunden, dass immer nur eine besondere und beschränkte Gestalt der Existenz, nur etwas in der Existenz thematisiert werden konnte – auch das Ich nur in ihr, sodass immer noch ein anderes Subjekt blieb, was dieses thematisiert hat, ohne dass es sich ganz eingeholt hätte. Demgegenüber hat sich die Existenz im Licht ganz vor Augen bekommen: »Das vorher in einer beschränkten ExistentialForm aufgefasste Licht = Ich, bedurfte eines fden S. [= Subjekts]. Dieses S. ist in der höhern Form, welche die niedere vernichtet, im Lichte selbst, als absolut einheimisch gefunden.« (W211) Fichte nennt das Licht deshalb auch einen Akt »ohne ein agirendes« (W218), weil er kein gesondertes Agierendes mehr hat, das ihm im Rücken steht. Denn »hier ist der Akt selbst das agirende, denn es ist ja Akte« (W218). Der Akt kommt nicht erst sekundär zu einem Subjekt dazu, sondern dieses ist immer schon im Akt. Ja der Akt ist für Fichte sogar in einem gewissen, nicht zeitlichen Sinn ursprünglicher. Wie sich im Zusammenhang der Darstellung seiner Auffassung von Individualität und Interpersonalität noch zeigen wird, ist für ihn der Akt das primäre, und zwar als überindividueller. In ihm konstituieren sich erst die einzelnen Ich. 59 Die intellektuelle Anschauung und das empirische Auffassen In diesem Selbstbezug muss sich das Licht in seiner inneren Einheit oder auch seinem wirklichen Sein, das sozusagen in dieser Einheit liegt, irgendwie erfassen. Das dem unmittelbaren Sein entsprechende, dieses fassende geistige Vermögen wird gewöhnlich Anschauung genannt. Da es hier aber nicht die Anschauung eines empirischen objektiven Seins ist, sondern des Denkens, nennt Fichte diese im Anschluss an Kant »intellectuelle Anschauung« (W213). In dieser wird nur durch das Intelligieren angeschaut, wie auch umgekehrt nur durch das Anschauen der Einheit intelligiert wird: »beides schlecht58 59

Vgl. unten, S. 118–120. Vgl. unten, S. 221–228.

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hin durch einander« (W213). Die in der dritten Stunde von der Relationsgestalt der Existenz sozusagen noch von unten her geforderte »organische Einheit der Intelligenz, u. Intuition« (W193) lässt sich jetzt aus der Einheit des Lichts heraus verstehen. Mit dieser Einheit des Intelligierens und Anschauens ist nun die vorher bereits angezielte, aber noch nicht erreichte intelligierende Ansicht auf die Existenz erreicht, welche die Existenz und alles in der Existenz nicht nur faktisch als objektiviertes Sein auffasst, sondern deren Genese aus ihrem Wesen durchschaut. Schon in der sechsten Stunde hat Fichte das objektivierte stehende Sein bzw. die geistige Tätigkeit, die dazu führt, das bloße Auffassen, ein »unvollendetes, u nicht absolut gewordnes Intelligiren« (W207) genannt. Erst von hierher ist aber eigentlich verständlich, was damit gemeint ist. Es ist eine Anschauung, die nicht das Intelligieren anschaut, oder ein Intelligieren, das sich nicht auf die innere Einheit des Wissens bezieht: »Alle blinde Projektion (selbstvergessen, empirische Verwachsenheit, u. Nichttransscendhentialität) ist eben das sich nicht intelligiren, oder auch projiciren des Lichts.« (W213) Mit Verwachsenheit ist ein Gebundensein an ein faktisch gegebenes Objekt gemeint – auf eine Weise, dass dieses nicht auf die Bedingungen seines Zustandekommens, seine geistige Genese, hin durchschaut wird. Verwachsenheit ist eine Form der Unfreiheit, bei der man nicht erkennt, dass der Ursprung der Objekte in einem selbst liegt, man sich diesen also unterordnet und von ihnen abhängig macht. Erst mit dem Licht ist man in der geforderten »Urbildung« (W191) angelangt und hat sich vom materialistischen Realismus, dem auch die idealistische Sicht der vorigen Stufe noch verhaftet geblieben ist, gelöst. Möglichkeiten und Grenzen der Ableitung aus dem Licht Ausgehend von dem so gefassten Begriff des Lichts kann dann gezeigt werden, wie sich alle Wissensbestimmungen, die auf der ersten Stufe thematisiert wurden – auch das da noch vorausgesetzte Sein – aus ihm ergeben. In der achten Stunde geht Fichte durch, was aus dem Licht in seiner unmittelbaren Selbstanschauung folgt. Indem das Licht ein Sehen und Sichverstehen ist, vollzieht es sich in einem Als, in einem Durch und mit dem Gegenüber von Subjekt und Objekt. Im Sichintelligieren erkennt es sich als »ein an sich gebundnes in seinem Seyn«, es fällt also das Ist-Urteil, mit dem anfangs die Existenz verdeutlicht worden ist und welches das Beurteilen eines objektiv, fak72

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tisch gegebenen Seins, oder wie Fichte es hier nennt, der »wirkl. Existenz«, ist (W215). Damit ist das anfängliche Verhältnis der Vor- und Nachkonstruktion abgeleitet und das Licht als die höhere Urkonstruktion erwiesen. Weiter ist das Licht ein Sichsehen, eine Selbstanschauung, und damit ein Ich. Wichtig für den Fortgang ist vor allem die folgende Bestimmung: Das Licht sieht sich nicht nur, sondern »das Licht ist ein ersehen (sich ersehen, durch Sehen erwerben)« (W216), also in sich ein Grund-Folge-Verhältnis: »Ersehen; also Grund zur Folge« (W216). Es bringt selbst aus sich hervor, was es auf diese Weise an Momenten seiner Qualität an sich einsieht. Um sofort anzudeuten, dass dieses Sichersehen seine Grenze hat, fragt Fichte: »Inwieweit? daß es das ist, das intelligible daran[;] 60 das hat es durch sich: durch das Sehen ersehen. Was bleibt übrig: daseyn« (W216). Alles, was das Licht an sich intelligieren kann, bringt es auch hervor, es ersieht durch Sehen. Das Nichtintelligierbare hat es aber auch nicht selbst hervorgebracht, und das ist das Sein des Lichts. Das Ersehen erfolgt also nur durch das Sehen, genauso wie das Sehen umgekehrt nur produktiv in einem Ersehen erfolgen kann: »Das Licht ist die absolute organische Einheit dieses Sehens, u. Ersehens (beides schlechthin nur durch einander […])« (W216 f.). Anknüpfend an das Ersehen wird weiter fortgeschritten, zuerst zur Ableitung des auf der ersten Stufe noch vorausgesetzten Seinsbegriffs und dann über das Licht hinaus. Im Ersehen oder der »Erzeugung des Lichtes in ihm selber«, welche für Fichte »die höchste Lichtbestimmung in unserem Standpunkte ist« (W223), liegt der Begriff der Folge und die Einsicht, dass das Licht aus sich selbst nicht folgt. Diesen eben schon angesprochenen Gedanken, dass das Licht sich nur in Bezug auf das, was es intelligieren kann, nicht aber in Bezug auf sein Sein als erzeugend weiß, führt Fichte in der neunten Stunde weiter auf einen in diesem liegenden Begriff eines Seins, das unterschieden ist von der Aktivität des Lichts: »[D]ie sich selbst Anschauung – des Lichts in seinem Wesen: diese ist selbstErzeugung, der nur das sich erzeugende für Licht gilt, das übrige nicht: die daher in ihrem eigentlichen WurzelPunkte, in dem Punkte des absoluten Gebunden-

An dieser Stelle steht im Manuskript ein Fragezeichen. Das ist aber m. E. eine Verschreibung oder Fehlübertragung, denn die Worte davor geben genau die Antwort auf die vorige Frage, wie dann auch der Folgesatz diese Antwort voraussetzt.

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seyns an ihr Seyn, u. das seyn (über S |Ía) durch u. in sich selbst, sich vernichtet. sich nicht gelten läßt durch sich selbst, ihr Gesez; in sich selbst; in ihrem wirkl. u. wahren Seyn; […]. An sich = positive Selbstvernichtung des Lichts, in ihm selber. Beides sezt sich gegenseitig, u. ist wieder Ein organischer Schlag.« (W221) Der Text ist skizzenhaft, aber es lässt sich verstehen, wie Fichte argumentiert: Das Licht in seiner Selbstanschauung weiß, dass es wesentlich ein Sichdurch-Sehen-Erzeugen ist; das ist »ihr Gesez«. In Bezug auf das Sein in der inneren Einheit über den Differenzen von Subjekt, Als usw., welches es nicht durch ein Sehen hervorbringen kann, weiß es sich als nicht auf diese Weise erzeugend. Es ist das Sein des Lichts und zugleich ein Akt, der jenseits der gewöhnlichen Lichtaktivität sich vollzieht und den das Licht sich insofern nicht zuschreiben kann. Deshalb schreibt Fichte doppeldeutig »ihr Seyn, u. das seyn«. Das Verhältnis zwischen dem Licht und dem Sein ist hier noch nicht geklärt, dies wird erst im Folgenden geschehen. Zur Genese des Lichts gehört also über die »Selbstvernichtung« auch die Setzung des eigenen wirklichen Seins (des »Ansich«). Zum einen setzt es das Sein als das, was es nicht selbst ersehen kann, dessen Zusammenhang mit dem Ersehen des Lichts es nicht begreifen, sondern das es nur »in unmittelbarer Intuition« (W222) anschauen kann. Zum anderen setzt es das Sein doch mit einem Begriff, setzt es als ein nicht durch das Licht ersehenes, also – hier nun der vorher vorausgesetzte Begriff des absoluten Seins – ein »Seyn Von sich, durch sich, aus sich« (W222). Und es setzt es. Es besteht hier also eine Ambivalenz. Einerseits ist klar, dass das Ansich, wie es hier expliziert worden ist, in seiner Wechselbestimmung mit der Selbstvernichtung des Lichts, ein Begriff ist, »u. zwar ein Relationsbegriff, durchaus nur verständlich neben dem Nichtabsoluten […]. – Das Absolute ist sonach als absolutes, eben nicht absolut.« (W222) Es wäre wieder Selbstvergessenheit, dieses Absolute nicht als Begriff zu durchschauen und sich vorschnell damit zufriedenzugeben. Das Licht hat aus sich diesen Begriff hervorgebracht. Andererseits ist mit dieser Einsicht offensichtlich noch nicht abgetan, dass sich hier etwas angedeutet hat, was das Licht nicht aus sich erzeugen kann und was nun noch weiter zu erforschen sein wird. Immerhin ist jetzt der Begriff, aus dem zuerst die Nichtfolge verstanden worden ist, »derselbe Begriff, wie wir ihn oben voraussetzten […] abgeleitet« (W222).

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Zweite Stufe: Das Licht als Absolutes

Rückblick auf den Ertrag und die Methode der zweiten Stufe Was ist, um für die zweite Stufe ein Resümee zu ziehen, mit dem Begriff des Lichts erreicht? Dass er den zuerst aufgestellten Begriff der Relation ganz in sich fasst, dürfte deutlich geworden sein. Weiter ist klar, dass er das vorher vorausgesetzte Sein (und daneben die anderen vorherigen Bestimmungen der Existenz) aus sich hervorbringt, sich also von der Voraussetzung unabhängig macht und sich so als das neue Absolute erweist. Dabei hat sich dann auch schon angedeutet, wie weiter fortzuschreiten ist. Außerdem macht Fichte darauf aufmerksam, dass mit dem Licht das Problem, wie sich das Wissen in der Bestimmung seines Wesens selbst einholen könne (W182 f.), gelöst ist: »Hier ist daher, der schon in der ersten Stunde angekündigte Punkt, wo das Subjekt zwar nicht faktisch, u eben drum auch die durch den Gegensatz mit ihm herbeigeführte Objektivität nicht wegfällt, weil es dies zufolge der Lichtform nicht kann, intelligibel aber der ganze Unterschied nicht gilt / nicht geltengelassen, u. nicht an ihn geglaubt wird« (W212 f.). Auf der ersten Stufe wurde mit dem Als schon grundsätzlich das Wissen des Wissens in den Inhalt des Wesens des Wissens integriert. Die Einholung der Form stand aber noch aus. 61 Ihre faktische Unvertilgbarkeit ist jetzt aus der An-sich-Gebundenheit des Lichts und damit der Gebundenheit an seine Form erklärt. Das Licht weiß sich aber als diese Form hervorbringend und so über ihr stehend. Im Selbstbezug weiß es alles Objektive als Erscheinung seiner selbst, und somit auch alles diesem Objektiven gegenübergestellte Subjektive als an sich ungültig, als bloße Erscheinungsform des Lichts. Indem das Licht einen Standpunkt über dem Wissen erreicht hat, ist es nun fähig, dieses in seinem Wesen zu fassen. Während auf der ersten Stufe immer nur eine besondere und beschränkte Gestalt der Existenz, nur etwas in der Existenz thematisiert werden konnte, auch das Ich nur in ihr, sodass immer noch ein anderes Subjekt blieb, was dieses thematisiert hat, ohne dass es sich völlig eingeholt hätte, hat sich die Existenz im Licht ganz vor Augen bekommen. Fichte hat für den Weg zum Licht nicht ausdrücklich verdeutlicht, wie er methodisch vorgegangen ist, so wie er das auf dem ersten Standpunkt noch getan hat. Sieht man aber auf das Resultat, dass mit dem Licht der Quellpunkt aller vorherigen Vollzüge und Bestimmungen des Wissens gefunden wurde, dann ist nicht nur klar, dass dies 61

Vgl. oben, Anm. 55.

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eine Antwort ist auf das transzendentale Fragen nach den Bedingungen der Konstitution der Erkenntnis, sondern auch, dass hiermit die Gefahr dieser Reflexionsmethode überwunden ist, nämlich im Reflektieren das vorher Subjektive zu objektivieren und so unendlich weiter reflektieren zu können, ohne eine Klärung zu erreichen. Wie die Methode der transzendentalen Rückfrage ohne diese Form von Reflexion weiterführt und wieweit überhaupt über den Standpunkt des Lichts hinauszugehen ist, wird auf der nächsten Stufe zu klären sein. Auffällig ist zumindest, dass Fichte am Anfang der siebten Stunde angekündigt hat, mit dem Licht die Zuhörer nicht nur in einen höheren, sondern schon »in den eigentlichen, u. höchsten Standpunkt unserer Wissenschaft hineinzuversetzen« (W209).

1.1.3 Dritte Stufe: Das Absolute des Glaubens – Der Ansatzpunkt für Fichtes Religionsphilosophie Wie im Folgenden zu sehen sein wird, ist mit der Sich-selbst-Durchsichtigkeit des Lichts, das sich in seiner inneren Einheit zudem über alle Differenzen des Wissens hinaus in die Genese dieser Differenzen erhoben hat, schon auf eine Weise der höchste Standpunkt erreicht, auf dem das wahre Absolute zugänglich ist. Es wird sich gerade in dieser inneren Einheit, in der zugleich das Sein des Lichts liegt, finden, als Grund dieses Seins, der in ihm und damit im Licht aus sich heraustritt, der – selbst nicht Licht – als Licht existiert. Bis hierhin hat sich jedoch das Licht selbst als Absolutes genommen, worin es sich besonders dadurch bewährt hat, dass es das absolute Sein aus sich heraus abgeleitet hat. Genau dadurch gerät es freilich mit sich in Widerspruch. Fichte knüpft in der zehnten Stunde an diesen Widerspruch an, um bis zur 15. Stunde zum höheren Absoluten zu führen, das nicht mehr im Licht der Einsicht, sondern nur noch in einem Glauben erreicht werden kann. Es wird dabei weniger darum gehen, dass das Licht seinen Standpunkt verlässt, als dass es sich über sich selbst klar wird, indem es sich in seinem eigenen absoluten Sein gleichwohl als abhängig von einem höheren erfährt. Mit dem Idealismus zum Realismus Um welchen Widerspruch handelt es sich? Einerseits musste das Licht, um das Sein aus sich abzuleiten, sich selbst als Absolutes ver76

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Dritte Stufe: Das Absolute des Glaubens

nichten. Die Konsequenz daraus ist: »Nicht Gott existiert, weil das Licht ist; sondern das Licht existiert, weil Gott existiert, u. seine Existenz nothwendig das Licht ist, oder die Lichtform trägt.« (W224) Zur Formulierung dieser Einsicht ist als das höhere Absolute, das Fichte hier Gott nennt, aber nur wieder der Begriff des Absoluten verwendet worden. »Das absolute war selbst Glied einer Relation, mithin gar nicht absolutes: – sonach wäre das Licht im Lichte selber durchaus nicht das, wofür wir es ausgaben, – . Existenz des göttlichen oder Absoluten, sondern es wäre nur Existenz irgendeines relativen Seyns.« (W228) Der Widerspruch könnte gelöst werden, wenn gezeigt würde, dass wir einen Zugang zu einem nicht nur gedachten Absoluten haben. Fichte zielt dabei nicht darauf, das Absolute zu ergreifen »in seinem innern Seyn, was uns wohl durchaus unmöglich seyn dürfte ohne es selbst zu werden, sondern in seiner Existenz« (W229). Findet das Licht in sich etwas, was nicht Produkt des Lichts ist, und in dem ihm ein Zugang zum wahrhaften Absoluten eröffnet ist? Kann das Licht in sich über das Licht hinausgehen? Fichte untersucht nun entsprechend der bisherigen Methode zuerst, »ob wir dieses Herausgehen faktisch vollziehen können, wodurch desselben Möglichkeit bewiesen seyn würde: die Deduktion der absoluten Nothwendigkeit uns vorbehaltend« (W229). Für dieses Herausgehen muss zuerst geklärt werden, wo heraus eigentlich gegangen werden soll oder woran das Licht zu erkennen ist, aus dem herausgegangen werden soll. Das Problem bestand ja darin, dass das Absolute ein bloßes Resultat des Denkens war oder zumindest die Form, in der es gefasst wurde, von Denkprodukten geprägt war: Es wurde als solches, mit der Qualität eines Durch-Sich, im Unterschied zu einem Anderen erblickt. Wo das Licht, die Einsicht, ist, da sind diese Denkprodukte. Über diese Produkte hinaus ist man dort, wo das Licht erst entsteht und sich erzeugt. Hier ist Gott noch, wie Fichte es nennt, »unmittelbar im Existiren, als kräftigem Leben« (W229). Alles im Licht nennt Fichte demgegenüber die »Existenz«, in der Gott »lediglich noch in seinem Repräsentanten« und schon »ruhend, u. tod« ist; »da ist die unmittelbare Gegenwart Gottes erloschen« (W229). Leben bekommt hier zusätzlich zur oben genannten 62 noch eine weitere Bedeutung, nämlich als das aller Objektivierung zugrunde liegende nichtobjektivierbare Subjektive. Das Objektivierte ist das Tote. Daraus folgt für das lebendige Absolute: »Gott existiert nicht im 62

Vgl. oben, S. 70 f.

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Lichte; […] sondern Gott existiert als Licht; u. zwar als absolutes, sich selbst schlechthin erzeugendes Licht. Nicht in, sondern als – Sein Existiren ist erzeugen des Lichtes.« (W229 f.) Doch ist nicht auch hier wieder entsprechend der transzendentalen Methode der idealistische Gegeneinwand vorzubringen? Zwar haben wir dem Inhalt nach über das Licht hinaus in seine Erzeugung hineingedacht, »aber besinnen wir uns doch auf uns selber; sind es denn nicht wir, die diesen Gedanken gedacht haben; haben wir nicht das Absolute objectiviert, u. projiziert, was ja, als sehen, Produkt des stehenden Lichts ist[?] […] Wir können ferner einsehen […] daß es uns bei keinem ins unendliche wiederholten Versuche besser gehen wird. Einsehen wollen wir ja das Absolute, schlechthin als solches; dies aber können wir nicht ohne zu sehen« (W230 f.). Es kann nicht darum gehen, dieses Faktum, das im Grunde das Faktum der An-sichGebundenheit des Lichts ist, zu bestreiten: »[D]ie absolute Reflektierbarkeit steht uns fest, u. diese zu läugnen, wollen wir uns ja nie verleiten lassen« (W231). Sie zu bestreiten würde nämlich bedeuten, sich mit einem objektiv gedachten und so toten Absoluten zufrieden zu geben: »Aus Verzweiflung das Auge zuthun, damit man das verhaßte ewige Leben nicht sehe, sondern in den geliebten Tod hineinkomme.« (W231) Es kann sich die realistische Einsicht also nicht gegen dieses Faktum richten: »Sie widerspricht nicht […]; sie sagt nur, ich soll es als wahr nicht gelten lassen: ich soll es, ohnerachtet es faktisch bleibt, u. nimmer weicht, und ich allerdings die Augen öffnen soll, um dies zu sehen, für blossen Schein, u. Täuschung halten.« (W232) So ist zumindest gezeigt, wie diese Einsicht ohne einen Widerspruch der anderen übergeordnet werden könnte. Außerdem ist geklärt, dass die höhere Ansicht nicht erreicht werden kann ohne das Bewusstsein für die absolute Reflektierbarkeit, weil man sonst faktisch immer auf ein objektiv gedachtes Absolutes verfallen würde. Es stimmt zwar einerseits, wie Fichte deutlich schreibt, dass in dieser höheren Ansicht »auf immer, u. entschieden die idealistische Ansicht unter die realistische« (W240) untergeordnet wird. Andererseits muss eben gesagt werden, dass sie nur im klaren Bewusstsein der zum Idealismus verleitenden Absolutheit des Lichts und, wie sich noch deutlicher zeigen wird, in dieser das wahre Absolute erreicht und auf diese Weise den Idealismus in den Realismus integriert.

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Glaube Wieder reflektiert Fichte auf das, was wir, als das an sich gebundene Licht, im Nichtgeltenlassen des Lichts selbst getan haben. Wir konnten es nicht intelligierend hervorbringen wie die Lichtbestimmungen. Es wäre also ein »rein praktisches, reelles Machen, u anfangen aller Wahrheit durchaus per hiatum. Schlechthin frei, Ansicht nehmen, u Maxime machen. sich machen zu einem so sehen: aus keinem Sehen: indem alles andere Sehen das Gegentheil sagt –. […] Wie nennen wirs? Glaube« (W233). Von einem Glauben spricht Fichte, weil dieser Akt nicht von einem Wissen gestützt ist. Aber um was für eine Art von Glauben handelt es sich? Der Glaube wurde in der Situation des Widerspruchs zwischen Idealismus und Realismus gefasst. Die Alternative zum Glauben wäre nicht der Idealismus. Denn sich für ihn als nur die eine Seite des Widerspruchs zu entscheiden, wäre selbst ein Glaube – freilich einer, der darauf verzichten würde, der anfänglichen Argumentation für ein absolutes Sein ein Recht einzuräumen, ja, der darüber hinaus auch darauf verzichten würde, von einem realen Sein des Lichtes selbst auszugehen. Die Alternative wäre eine skeptische Haltung, die sich angesichts dieses Widerspruchs ganz jedes Glaubens enthält. »Dem sehenden, die absolute Reflektierbarkeit erblikenden Auge, müste, ohne Glauben, beides gleich gelten, u. er könnte nie zwischen ihren entgegengesezten Ansprüchen entscheiden; das Resultat wäre ein absoluter Skeptizismus.« (W240) Dem Skeptizismus und dem Idealismus gemeinsam ist aber, dass es für sie kein Erkennen eines wirklichen Seins, und in diesem Sinne kein Wissen und keine Wahrheit gibt. Den Glauben an den Realismus nennt Fichte deshalb ein »anfangen aller Wahrheit« (W233). Und er schreibt: »Er ist die Quelle Realität, u. seine Klarheit die Bedingung unsrer Einsicht, u. unseres wahrhaften Eindringens in das Wesen der Realität« (W234). Insofern ist er die Basis für die Wissenschaftslehre. Weil diese für Fichte das Wissen außerdem aus dem Absoluten begreifen muss, welches ebenfalls nur über diesen Glauben zugänglich ist, schreibt er: Es »ist eben der Glaube, durch welchen allein die W.L. zum Absoluten kommt, u. selber wird« (W238). Wenn ohne den Glauben von Wahrheit nicht die Rede sein kann, zeigt dies, dass dieser keineswegs einfach willkürlich gefasst ist. Fichte wendet sich ausdrücklich gegen den Begriff eines Glaubens, der aus Willkür, ohne sich vernünftig zu rechtfertigen, gebildet wird, »welche Willkühr in den Principien der Philosophie nicht stattfindet, u. nicht etwa Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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durch den abgeleiteten Glauben herbeigeführt seyn soll« (W235 f.). Freilich ist es auch nicht Glaube an etwas, was an sich erkennbar ist. Fichte wendet sich gegen die, welche meinen, das Absolute oder auch Sein überhaupt sei in einem Wissen zugänglich, und die deshalb von einem Glauben daran »einen sehr abgeschmakten Begriff haben« (W234). Es geht Fichte nicht um einen Glauben, der mangelndes Reflexionsvermögen ausgleicht, auch nicht um die Bedeutung der freien Zustimmung im Erkennen, die darin liegt, dass wir jeder Erkenntnis die eigene Zustimmung geben oder verweigern können. Es geht ihm um das Phänomen der Unmöglichkeit einer objektiven Erkenntnis des wirklichen Seins und demzufolge dessen Zugänglichkeit allein in einem Glauben, freilich einem Glauben, der nicht willkürlich gefällt wird, sondern aus einer Art tieferen Intuition, die vom objektiven Erkennen verschieden ist, lebt. Was in der Erlanger Wissenschaftslehre nicht so deutlich wird: Dieser Glaube stützt sich für Fichte letztlich auf praktische Gründe, er richtet sich nach einem Sollen oder einem Wollen. 63 Wie im folgenden Abschnitt dargestellt wird, lässt Fichte in der Erlanger Wissenschaftslehre den Glauben sich auf das Grundsein des Lichts stützen, in dem es sein eignes reales Leben lebt. Dieses Grundsein ist einerseits Setzung des Wissens, aber basaler noch Setzung des Wollens von diesem Grundsein, Wollen der Freiheit, um der Freiheit willen – das Grundprinzip der praktischen Philosophie Fichtes. Im Interpersonalverhältnis bedeutet dies: Wollen der eigenen Freiheit wie der des Anderen; im Verhältnis zum Absoluten: Wollen des göttlichen Lebens in mir, wozu es – dies zeigt Fichte in der Erlanger Wissenschaftslehre wieder sehr deutlich – eine Erkenntnis des Absoluten und eine Relativierung alles Relativen braucht. Von daher kann er in der Anweisung den Vollzug des Von daher würde ich zwar einerseits Diogo Ferrer (2000, 267) in seinem Urteil über den Gang der Erlanger Wissenschaftslehre zustimmen, dass »der Beweiswert seiner Letztbegründung von einer freien, aber nicht ungerechtfertigten Annahme« abhängt, halte die Bezeichnung »Annahme« aber für ein zu schwaches Wort für das von Fichte Gemeinte, eben weil sie sich auf schwer zu umgehende praktische Gründe stützt. Deutlich finden sich diese Zusammenhänge etwa bei Stefan Gnädinger (2003, 163) benannt: »Die Begründung dieses dezisionistischen Kerns in der Annahme eines Absoluten, also der Voraussetzung, daß Wahrheit sei, erfolgt im Rekurs auf die Erfordernisse der praktischen Vernunft«. In Günther Zöllers differenzierter Analyse des Glaubensbegriffs in der Wissenschaftslehre von 1805 wird diese praktische Seite zwar nur angedeutet, er arbeitet aber sehr klar die fundamentale Bedeutung des Glaubens für die Begründung des Wissens und insofern das Gewicht der Motivation des Glaubens heraus (2009, 212–219).

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Grundseins nicht nur als Wahrheit, sondern auch als das »Heilige, Gute und Schöne« bestimmen und den Glauben als die Ansicht, dass dieses »keinesweges unsre Ausgeburt, oder die Ausgeburt eines an sich nichtigen Geistes, Lichtes, Denkens, – sondern, daß es die Erscheinung des innern Wesens Gottes, in Uns, als dem Lichte, unmittelbar sey« (A110). Wenn der Glaube schon als Glaube überhaupt an die Sinnhaftigkeit der Rede von Wahrheit und entsprechend an eine grundsätzliche Zugänglichkeit der Wirklichkeit für unser Erkennen als ein schwer zu vermeidender Akt erscheinen musste, dann umso mehr, wenn man ihn als Glauben an die Gültigkeit des sittlichen Sollens versteht. Die wohl eindrücklichsten Beschreibungen der Konsequenzen, die entstehen, wenn man sich des Glaubens enthält, und die ihn als einen im Leben faktisch immer schon gesetzten und auch für die konsequente Reflexion kaum zu umgehenden Akt herausstellen, finden sich in Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen. Da sie besonders geeignet sind, um Fichte mit Levinas hinsichtlich dem zu vergleichen, was sich bei diesem als Entsprechung zum Glauben und zur Abgründigkeit des Nichtglaubens findet, werde ich auf sie in jenem Zusammenhang eingehen. 64 Dunkel und Grundsein als Bedingungen des Glaubens Für die Rechtfertigung des Glaubens und den Nachweis der Möglichkeit des wirklichen Herausgehens über das Licht muss gezeigt werden, dass dem Licht die wahre absolute Realität innerlich ist. Dass diese Realität nicht in der Helle des Sehens zu finden ist, ist schon ausreichend klargestellt worden; es ist also »Dunkelheit ihre absolute Bedingung« (W235). Von daher würde ein Nachweis des Punktes der Realität im Licht, »die Ableitung der Realität einerlei seyn mit dem Bheweiise der Nothwendigkeit, daß das Licht durchaus nicht in sich selber aufgehe, oder daß ein Unbegreifliches, nicht intelligibles, übrig bleibe« (W236). Fichte findet dieses Unbegreifliche darin, dass das Licht sich selbst erlebt als Grund des Lichts, also selbst dieser Grund ist, der über dem Licht liegen muss: »[D]as Licht ist Grund seyn […] außer allem Lichte […]. Dem Lichte unzugänglich, denn hierin alhliein ist es absolut, u. unerforschlich« (W236). Es ist nicht der als solcher gedachte Grund, sondern eben Grundsein. Als Grund nennt Fichte auch ein Durch und schreibt: Man muss »ein durch setzen, 64

Vgl. unten, S. 389 f.

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ohne durch«, ein »absolutes Durch« (W236) oder ein »unmittelbares durch« (W237). Es geht im Unterschied zum Licht in seinem fertigen Sein, in dem alles in der Lichtform des Als erscheint, wieder um das Licht in seinem Werden, in der Dunkelheit, oder wie Fichte es hier wegen der Selbständigkeit seines Grundseins, also seiner Absolutheit, auch nennt, um das absolute Licht. In diesem Grundsein findet Fichte im Licht einen Punkt, der geeignet ist, als Erscheinung des Absoluten gedeutet zu werden, in dem das wahre, lebendige und nicht nur gedachte Absolute zugänglich ist. Entsprechend dem realistischen Modell deutet er es als des Absoluten »unmittelbares Existieren« (W236). Das genauere Verhältnis zwischen Absolutem und Licht muss freilich noch geklärt werden. Nachdem das dingliche Sein – das gewusste wie auch das, so wie vorgestellt, hinter dem Bewusstsein für sich existierend vermeinte – als ein bloßes Produkt unserer Vorstellung ausgewiesen worden ist, stößt Fichte nun im Grundsein und im lebendigen Tätigsein des Lichts wieder auf ein wirkliches Sein. Wirklichkeit findet sich nur in der Praxis des Subjekts. Dies wird dann auch für den Leibbegriff von großer Bedeutung sein. Während die materielle Welt, wie wir sie uns vorstellen, zur bloßen Erscheinung degradiert wurde, wird Fichte als Moment dieses Tätigseins des Subjekts die Realität ausfindig machen können, die wir als unseren Leib erleben und die der körperlichen Erscheinung zugrunde liegt. Das Wissen als Erscheinung des Absoluten – Herleitung des Als In der transzendentalen Rückfrage auf das Grundsein ist die Möglichkeit des Glaubens aufgezeigt worden. Als nächstes ist Fichtes Aufweis von dessen Notwendigkeit zu betrachten. An diesem Übergang bietet es sich an, die eingangs bereits geäußerte Kritik an Fichtes Argumentation für ein absolutes Sein 65 aufzugreifen, denn m. E. ist dieses Argument erst ab diesem Punkt für den Aufstieg unverzichtbar. Bis hierher konnte der Gedankengang im Wesentlichen vollzogen werden auch ohne den Begriff des absoluten Seins – allein mit dem Begriff des realen Seins, auf welches sich das Wissen bezieht. Um dies für den letzten Gedankenschritt zu verdeutlichen: Der Widerspruch, der sich ergeben hat, könnte auch so formuliert werden: Einerseits führt die Einsicht in das Nicht-intelligieren-Können des eigenen 65

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Vgl. oben, S. 50 f.

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Seins das Licht zu einem Sein, das nicht durch es selbst gesetzt ist, andererseits setzt es dieses ja in dieser Einsicht. Aus dem Widerspruch kommt es heraus durch das Nicht-gelten-Lassen der Form des Erkennens und den Glauben an das eigene reale Grundsein. Man müsste dann nicht weiterschließen auf ein Absolutes. Zwar führt für Fichte über das eigene Grundsein hinaus nicht nur das problematische Argument, dass dieses ein absolutes Grundsein voraussetzt, sondern auch die Frage nach der Notwendigkeit des Glaubens. Diese könnte jedoch auch, wie in der Zeit der frühen Wissenschaftslehre, beantwortet werden durch die Voraussetzung eines Sollens der Realisierung der formal unbegrenzten Freiheit des Grundseins, welche ein Bewusstsein der Freiheit und dafür eben den Glauben voraussetzen würde. Man würde also beim Faktum des durch ein Nicht-Ich begrenzten Ich, dem aber seine absolut-ichliche Dimension als gesollte inhäriert, stehen bleiben. Im Gedankengang der Erlanger Wissenschaftslehre richtete sich der Glaube zwar auf das Absolute, aber das war nur möglich, wenn er zunächst als Glaube an das eigene Grundsein verstanden wurde, welches dann als unmittelbares Existieren des Absoluten oder als dessen Erscheinung gedeutet werden konnte. Der Glaube kann als motiviert verstanden werden durch den Gedanken des absoluten Seins, aber auch einfach durch die Idee des wirklichen Seins, auf welches uns letztlich ein Sollen oder ein Wollen verpflichtet. Und diese Motivation muss auch als Bedingung für den Glauben an das absolute Sein in der Erlanger Wissenschaftslehre angesehen werden und ist so in ihm enthalten. Wie führt Fichte die Argumentation nun in der Erlanger Wissenschaftslehre weiter? Ende der 13. Stunde macht er auf die Aufgabe aufmerksam, nach dem Aufweis der Möglichkeit des Herausgehens aus dem Licht und des Glaubens entsprechend seiner üblichen Methode auch noch dessen Notwendigkeit zu zeigen, freilich so, dass sie mit der Freiheit, in der dieser Glaube sich fasst, zusammen bestehen kann. Gemeinsam mit dieser Frage möchte er klären, wie genauer das Licht und das im Grundsein erreichte Absolute aneinandergekoppelt sind. Er vermutet, dass beide über das Ich verbunden sind, was aber genauer zu erweisen ist. Wenn das Absolute im Licht als es selbst erscheinen soll, wäre auch klar, dass Absolutes und Licht auf eine unmittelbare Weise zusammenhängen müssen. Was also ist der unmittelbare Repräsentant des Absoluten, in dem es selbst heraustritt und der gleicherweise unmittelbar das Licht hervorbringt (W243)? Für die Notwendigkeit des Glaubens müsste gezeigt werden, Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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dass das Absolute nur als Licht existieren kann und sich dieses Licht deshalb, damit das Absolute wahrhaft in ihm erscheint, nichtglaubend an seine äußere Form, glaubend an seine innere Realität zum wahrhaften Absoluten erheben muss. Damit es aber im Licht um die Einsicht des Absoluten geht, darf es nur das Absolute selbst sein, das existieren kann. Deshalb beginnt Fichte mit dem Aufweis, dass man das Existieren an keinem Relativen festmachen könnte, denn »ein relatives ist ein solches, das den Grund seines Seyns nicht in sich hat, drum nöthiget aufzusteigen« (W246). Nicht dieses Relative ist also das eigentlich Existierende, sondern sein Grund. »Würde nun in diesem aufsteigen durch lauter relative Glieder, aufgestiegen, ohne je zu einem absoluten zu kommen, so fände sich kein Grund des Seyns, mithin kein Seyn, mithin auch kein Existiren« (W246). Soll es ein Existieren geben, muss es also notwendig diesen letzten absoluten Grund des Existierens geben und muss es das Absolute sein, das existiert. Fichte schließt damit nicht aus, dass es auch eine Existenz von etwas Anderem geben könnte als dem Absoluten, er möchte nur zeigen, dass es ursprünglich das Absolute sein muss, das existiert. Als zweites möchte er darlegen, dass es in diesem Existieren des Absoluten zu einem glaubenden Wissen des Absoluten kommen muss. Er formuliert es so: »Es kann existiren, nur als solches« (W246). Er argumentiert zunächst dafür, dass das Existieren immer nur in einer Relation zum Sein erfolgen kann. Existieren muss etwas Neues oder Anderes als das Sein sein. Ohne Relation »wäre gar keine Existenz, sondern es wäre bei dem Seyn geblieben« (W246). Fichte stellt hier nicht die Frage, ob es ein Anderes zum Sein auch geben könnte, ohne dass es in einer Relation zu ihm steht. Dies scheidet für ihn wohl von vornherein dadurch aus, dass ja das Absolute das Relative gesetzt haben muss und so auf jeden Fall eine Relation zu ihm da ist. Fichte argumentiert dann weiter, dass diese Relationierung der Existenz zum Absoluten in ihr selbst liegen muss, denn wenn sie in einem Anderen läge, wäre dies die ursprüngliche Form der Existenz des Absoluten. Und diese Relationierung ist für Fichte unmittelbar das Als, und zwar, weil es letztlich das Absolute sein muss, das existiert, und weil die Frage gestellt ist nach der ursprünglichen Existenz, ist sie Als des Absoluten, wirkliches Erkennen des Absoluten. »Diese Relation nun ist das als = Form des Intelligirens, Nachconstruktion, Bild usw. Das Seyn ist in der Existenz nothwendig als. […] Ferner, als absolutes« (W246). Die Identifikation von Relationierung und Erkennen wird nicht näher begründet, es leuchtet aber ein, 84

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dass die Relation als ein geistiges Verhältnis verstanden werden muss, allerdings eben nicht als geistige Unmittelbarkeit bloß zur Einfachheit des Grundseins und darin zum Absoluten, denn hier wäre keinerlei Differenz zum Absoluten gesetzt, sondern neben dieser Unmittelbarkeit, die durchaus gegeben sein muss, wenn es wirkliche Erkenntnis des Absoluten sein soll, eine Differenz zu ihr. Man könnte sich nun fragen, ob diese Differenz unbedingt die Form einer Erkenntnis des Absoluten als Absoluten und einer Erkenntnis seiner selbst als nicht das Absolute haben muss oder ob sie nicht einfach in einer Bezogenheit auf Nicht-Ichlichkeit bestehen kann. Und tatsächlich findet in der menschlichen Existenz die Relationierung zunächst in dieser Form statt und nicht immer schon als eine ausdrückliche Erkenntnis des Absoluten, sondern diese ist zunächst unthematisch und verdeckt durch die Ausrichtung auf die gefühlte und dann objektivierte Beschränkung durch das Nicht-Ich. Dass sich dieses Unthematische jedoch entfalten kann und soll zu einem Erkennen des Absoluten, leuchtet ein. Und von daher ist es verständlich, dass Fichte hier die Relationierung unmittelbar mit dem Erkennen des Absoluten identifizieren kann. Im weiteren Gedankengang wird von ihm gezeigt, dass dieses anfangen muss in einer unthematischen Form und sich dann selbständig entfalten muss, dass also die erkennende Relationierung zum Absoluten etwas ist, was nicht von Anfang an da ist, sondern ein gesolltes Ziel darstellt. Auf diese Weise wird auch erst deutlich, wie der Glaube als integraler Bestandteil dieser Erkenntnis ein freier Akt sein kann. Mit dieser Argumentation zeigt Fichte, weshalb es ausgehend vom Absoluten und dem Setzen eines Anderen außerhalb von diesem zu einem Erkennen des Absoluten und deshalb zu einem Glauben kommen muss bzw. soll. Dass das Absolute überhaupt existiert, ist damit freilich noch nicht gezeigt. Das wird Fichte erst in der 16. Stunde ausdrücklich leisten, indem er aufweist, wie in uns dieses wahrhafte Existieren wirklich ist. Damit ist dann auch erst die Voraussetzung, unter welcher der erste Teil des Beweises stand, dass nämlich überhaupt ein Existieren ist, eingeholt. Man könnte diesen Punkt, dass das göttliche Existieren in uns wirklich ist, auch schon in der zwölften Stunde durch den Aufweis des Grundseins des Lichts geklärt sehen. Dass Fichte ihn noch einmal ausdrücklich in der 16. Stunde in Angriff nimmt, ist ein Zeichen für sein Bemühen um eine ganz sorgfältige Spekulation. Hier ist nun der Ort erreicht, an dem die Elemente des Beweises, Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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mit denen Fichte schon seine Vorlesung begonnen hat, ihren eigentlichen Platz haben und an dem sie angemessen verstanden werden können. Ausdrücklich weist Fichte auf die anfängliche Verwendung zurück und ermöglicht den Zuhörern einen Überblick über den Fortschritt und eine Selbstüberprüfung. Dass das Wissen vom absoluten Sein her zu verstehen ist als die Weise, wie etwas Anderes als das Absolute sein kann, und von daher im Kern als Wissen des Absoluten oder Erscheinung des Absoluten zu fassen ist, ist nun begründet und in seinem adäquaten Verständnis erhellt. Das Ich als der unmittelbare Repräsentant des Absoluten Ausgehend vom nun aufgewiesenen Als kann Fichte dann in der 15. Stunde das Ich als den unmittelbaren Berührungspunkt zwischen dem göttlichen Existieren und der Existenz herausarbeiten und damit die zweite, Ende der 13., Anfang der 14. Stunde in Angriff genommene Aufgabe lösen. Anknüpfend an den vorherigen Beweis stellt er fest: Das »als sezt voraus das sich fassen, u. da als selbst Ursprung des Lichts ist, ausserhalb allem Licht« (W248). Fichte versucht nun, dieses Sichfassen zuerst als nachkonstruierendes Intelligieren eines vorkonstruierten Seins zu fassen. Es zeigt sich aber, dass diese sich gegenseitig voraussetzen würden, sie also ihre innere Einheit voraussetzen, ein ursprüngliches Beisichsein. Ein vermittelndes, intelligierendes Sichfassen gegenüber dem Sein setzt ein unmittelbares Beisichsein voraus. Als ein solches hat Fichte bereits in der 14. Stunde das Ich beschrieben, dort jedoch noch nicht anknüpfend an das als notwendig erwiesene Als, sondern als das identische Subjekt der Lichtform, als welches wir uns haben begreifen müssen – also nicht in ableitender, sondern in aufsteigender Richtung. Zuerst haben wir uns in einem bloßen Auffassen faktisch als dieses Subjekt gefunden. Dieses Auffassen kann auf der Stufe des Lichts nicht gelten gelassen werden, sondern es muss sich aus dem Licht eine Begründung des Ich ergeben. Dieses Schauen eines Identischen muss im absoluten Wesen des Wissens seinen Grund haben und müsste von daher als die »absolute SichProjektion des Wissens« (W244) bestimmt werden, und zwar des Wissens schlechthin, nicht des Wissens als Wissen. Das Ich kommt »als solches schlechthin in keinem anderen Wissen, Repräsentation, intelligirenden Bilde vor: = unbegreiflich, unerforschlich: real, oder praktisch« (W245). Es ist so mehr ein Sein als eine Projektion. Es ist auf sich bezogen: »absolute Inversion, Rückkehr«, es stellt 86

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den Selbstbezug aber nicht erst in einer Projektion oder einer Reflexion her, also »nicht Akt, oder Veränderung von einem terminus a quo: Sondern seyn, nur in diesem Gekehrtseyn in sich selber, u. ausserdem gar nicht« (W245). Fichte macht auf die Schwierigkeit aufmerksam, dieses Ich überhaupt zu beschreiben: Die gewöhnlichen Begriffe, mit denen man versucht, diesen geistigen Selbstbezug auszudrücken, müssen korrigiert werden, weil sie das Missverständnis erwecken, es handle sich hier um einen Selbstbezug, der erst in einem geistigen Akt zustande kommt und nicht immer schon zustande gekommen ist. 66 Von diesem unsichtbaren Ich unterscheidet Fichte das sichtbare faktische Ich, das durch das Nichtglauben an die sich faktisch immer einstellende Form der Subjektivität vernichtet worden ist (W245). Er weist darauf besonders hin, weil er das Ich, von dem er in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre ausgegangen ist, von einigen als ein solches faktisch festgestelltes Ich missverstanden sieht (W207 f.). Es handle sich jedoch vielmehr um die innere Einheit des intelligierenden Sichwissens des Wissens. Die Grundlage steht für ihn also bereits auf dem hier entfalteten transzendentalen Standpunkt des Lichts. Das ist ein wichtiger Hinweis auf die Kontinuität der Wissenschaftslehre und damit für die Möglichkeit der Heranziehung früherer Schriften zur Explikation der späteren Theorien. Darin, dass das Selbstbewusstsein in seiner komplexen Gestalt ein ursprüngliches Beisichsein voraussetzt, besteht für Dieter Henrich die ursprüngliche Einsicht Fichtes. Wie Henrich diese Einsicht beschreibt, passt sehr gut zum hier dargestellten Lichtbegriff und kann diesen verdeutlichen: Während vor Fichte das Wesen des Selbstbewusstseins von der Reflexion her verstanden worden sei, in der sich ein Subjekt selbst zum Objekt mache, habe Fichte erkannt, dass dabei das Subjektsein, das Beisichsein, das erklärt werden soll, immer schon vorausgesetzt wird, Reflexion also zur Erklärung ungeeignet ist (1967, 10–17). Bei der Klärung und Beschreibung dessen, was Fichte stattdessen eingeleuchtet sei, sei es immer deutlicher zur Unterscheidung zwischen dem Wissen und dem Einheitsgrund, aus dem alles reflexive Wissen und reflektierende Begreifen lebt, gekommen (19 f. u. 25). Zuerst habe er diesen verstanden als die rein in sich stehende, freie Tätigkeit des Ich, die das Wissen erst hervorbringt. »Dann aber hat er sich davon überzeugt, dass es ein Tun ist, das immer schon wissend ist. So kann es nicht wissend werden durch sich.« (36 f.) Die Tätigkeit bewegt sich und lebt immer schon in einem diesem gegebenen Wissen. »Fichte hat in ihm [dem endlichen Erkennen der äußeren Welt] jenes andere Sehen gewahrt, das nicht in die Welt hinausgeht, sondern ein Licht im Auge selbst verbreitet, – ein Licht, das nichts erleuchtet, sondern sich selber hell ist. Dieses Licht können wir nicht anzünden. Denn wo wir sind, da brennt es schon. […] Nicht durch uns bewirkt, aber doch nur im Vollzug des ›Ich‹ ist es zu finden.« (1967, 36)

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Die Beschreibung der Weise, wie das Ich ursprünglich bei sich, wie es vor jeder Objektivierung ursprünglich bei seinem lebendigen Subjektsein ist, klärt nun auch, auf welche Weise ihm sein eigenes Grundsein zugänglich ist. Fichte bestimmt es als eine »SichProjektion des Wissens«, die sich aber nicht als Wissen begreift; sie kommt »in keinem anderen Wissen, Repräsentation, intelligirendem Bilde vor« und ist deshalb »unbegreiflich« (W244 f.). Später, in der 20. Stunde, nennt er diesen allem Sich-verstehen-als-solches vorgängigen ursprünglichen Selbstbezug auch eine Anschauung oder auch die Vernunft, die dem immer schon in Differenzen verlaufenden intelligierenden Verstehen vorausgeht (W274). Es ist die intellektuelle Anschauung in ihrer ursprünglichsten Form als Anschauung der inneren Einheit, des Seins und lebendigen Tätigseins des Wissens. Für Fichte ist das Grundsein des Lichts also in einer Anschauung zugänglich. Da sie jedoch rein auf die Einheit und das reale Tätigsein des Subjekts bezogen ist, kann hier kein lichtes Verstehen stattfinden und es bedarf deshalb eines Glaubens. Dieser Glaube stützt sich aber eben auf eine Anschauung des eigenen realen Tätigseins. Zurück zur Ausgangsfrage: Wie verbindet das Ich das Absolute und die Existenz? Zum einen kann das Ich gerade in seiner nichtobjektivierbaren, einfachen Unmittelbarkeit über dem Licht der Repräsentant des absoluten Seins sein: »Vermittelst dieses seines Seyns, unmittelbar […] ds unmittelbare repraesentans, u. die Repräsentation Gottes.« (W249) Zum anderen vollzieht es sich unmittelbar in einer äußeren Vermittlung, der Existenz. Auf diese Weise kann das Ich als der Berührungspunkt zwischen göttlichem Existieren und Existenz verdeutlicht werden. Zu dieser Bestimmung des Ich kommt es natürlich nur in der Existenz. Im unmittelbaren Existieren und dem einfachen Ich als dessen »Rükkehr in sich« (W249) erlebt sich das Ich als unmittelbar eins mit dem Absoluten. Zur Unterscheidung meines Ich vom Absoluten, das dabei selbst als ein Ich gedacht wird (»die Rükkehr des Absoluten selbst, unabhängig von seinem Existiren, in sich selber« [W249]), kommt es erst »dadurch, daß durch die erste Rükkehr […] das Existiren selbst ein stehender terminus a quo, also Existenz wird« (W249). Zum Ich des Existierens, der ersten Rückkehr, gehört unmittelbar, dass es sich selbst objektiviert, als solches begreift und zu einer stehenden Existenz verwandelt, von welcher (als terminus a quo) aus dann das davon unterschiedene, höhere Ich des Absoluten gesetzt werden muss. Dadurch wird dem Ich klar,

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dass »es nur diese Repräsentation Gottes, keineswegs aber Gott selbst« (W249) ist. Einheit mit Gott und Selbständigkeit gegenüber Gott Die Annahme einer unmittelbaren Einheit von Ich und Gott, die Annahme, dass Gott im Ich selbst wirklich erscheint, stützt sich an dieser Stelle noch auf den Glauben, mit welchem der Widerspruch zwischen der Einsicht in das absolute Sein und der Absolutheit des Lichts gelöst wurde und der implizierte, dass das Wissen das wirkliche Absolute erreicht. Dass es Realität erreicht, konnte zwar noch weiter plausibilisiert werden durch die Herausarbeitung des Grundseins des Lichts, aber die Annahme, dass in diesem auch ein Zugang besteht zum eingesehenen absoluten Sein, dass dieses also, wie es selbst ist, in ihm heraustritt, blieb weiter eine Annahme des Glaubens – freilich eine plausible, wenn Fichte nicht die Vernunft mit ihrem Ausgehen auf ein Absolutes in einem Widerspruch mit sich selbst belassen wollte und vor allem, wenn er davon ausgehen wollte, dass das Wissen ein Verständnis von Wirklichkeit erschließt, das für alle Wirklichkeit, auch die des Absoluten, gültig ist. In der Vorbereitung der Ableitung wird Fichte noch ein weiteres Argument für die Annahme anführen, dass im Grundsein des Ich das Absolute heraustritt wie es in sich ist. 67 Dieses hat freilich, da es aus der Nichtwahlfreiheit des Absoluten argumentiert, m. E. den Nachteil, von einem ganz bestimmten und diskussionswürdigen Gottesbegriff abhängig zu sein. Von daher ist es wichtig zu bemerken, dass Fichte schon unabhängig davon am Ende der 15. Stunde über die Einheit mit dem Absoluten schreiben kann: »[E]s ist zwischen seinem Seyn, u. seiner Existenz keineswegs, wie es oben schien, ein absoluter hiatus, wodurch der Existenz alles Leben, u. Seyn ausgehen würde, u. sie durchaus nicht gesezt wäre« (W250). Auf dem Standpunkt des Lichts, vom Sehen und Ersehen ausgehend, musste die Verbindung zum Absoluten durch den Glaubensakt, der ohne eine lichte Einsicht auskommen musste, wie ein »absoluter hiatus« erscheinen. Nachdem jetzt durch den Glauben im Leben über dem Licht Standpunkt bezogen wurde, kann angenommen werden, dass hier das wirkliche Sein, dass ursprünglich Gott selbst lebendig ist, auch von uns gelebt wird. Andererseits darf dies nicht so verstanden werden, dass das Ich nicht selbständig dieses Leben lebt. Nur in 67

Vgl. unten, S. 103–105.

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der eigenen Selbständigkeit, im Grundsein des Lichts, hat das Licht sich als das unmittelbare Existieren Gottes begriffen. Das wirkliche Eindringen in die Absolutheit Gottes setzte also die eigene absolute Selbständigkeit voraus. Der Standpunkt der Absolutheit des Lichts musste deshalb nicht verlassen werden, sondern in ihm musste das Höhere entdeckt werden. Auch konnte sich ja nur in der Selbständigkeit das Absolute zeigen, wie es in sich ist, nämlich absolut. Fichte hat schon am Anfang der 13. Stunde auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht: »Das Existiren des absoluten nur absolut: also eben Akt, Princip, Grund« (W238). Die Formulierung des Realismus in der zehnten Stunde, dass das Absolute als Licht existiert, muss von daher ergänzt werden durch die Aussage der Selbständigkeit des Lichts. Sie darf nicht im Sinne einer einfachen Identität zwischen Absolutem und Licht ausgelegt werden, die einen theologischen Determinismus zur Folge hätte. Die Wahrung der Freiheit des Endlichen ist dabei ein Resultat der Frage nach einem lebendigen Begriff des Absoluten, die sich wiederum aus dem Bewusstsein der absoluten Reflektierbarkeit ergeben hat – und somit letztlich aus dem transzendentalen Zurückfragen. Dieses eröffnet ein System der Freiheit. Vor diesem Hintergrund lassen sich die an sich sehr prägnanten und präzisen, aber widersprüchlich scheinenden Aussagen in der Anweisung über das Verhältnis des Menschen zum Absoluten besser verstehen. Dort erklärt Fichte die wahrhaftige Selbständigkeit des Daseins unmittelbar aus dem Durch-Sich des göttlichen Existierens (A96). Und sie wird dabei nicht dadurch aufgehoben, dass die Selbständigkeit aus Gott begründet ist. »Der Grund der Selbstständigkeit und Freiheit des Bewußtseyns liegt freilich in Gott; aber eben darum und deswegen, weil er in Gott liegt, ist die Selbstständigkeit und Freiheit wahrhaftig da, und keinesweges ein leerer Schein. Durch sein eigenes – D a s e y n , und zufolge des innern Wesens desselben, stößt Gott zum Theil, d. h. inwiefern es Selbstbewußtseyn wird, sein Daseyn aus von sich, und stellt es hin, wahrhaft selbstständig und frei« (A98). Neben der Einheit von Gott und seinem Repräsentanten besteht also zugleich eine Trennung oder, wie Fichte sagt, ein Ausstoßen. Durch die anderweitige negative Verwendung des Wortes ›Ausstoßen‹ macht er zugleich deutlich, dass es sich nicht um eine Trennung handeln kann, welche die ursprüngliche Einheit und damit den Zugang des Wissens zum Absoluten und überhaupt die Möglichkeit einer Verbindung mit dem Absoluten aufhebt – keine »Emanation, bei welcher er nicht dabei ist, sondern sein Werk verlässt; eine 90

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[…] Ausstoßung, und Trennung von ihm, die uns in das öde Nichts wirft, und ihn zu einem willkührlichen und feindseeligen Oberherrn von uns macht« (A119). Und vor dem Hintergrund der noch zu thematisierenden Vorstellung einer nicht willkürlichen, sondern aus dem eigenen Wesen hervorfließenden Schöpfung, in der das Absolute nicht äußerlich erschafft (›Schöpfung‹ und ›erschaffen‹ verwendet Fichte meist negativ in diesem äußerlichen Sinn 68), sondern es mit seinem eigenen Leben in seinem Dasein anwesend ist, schreibt Fichte: »[E]s erschafft nicht etwa eine Freiheit außer sich, sondern es Ist selber, in diesem Theile der Form, diese seine eigne Freiheit außer ihm selber; und es trennt in dieser Rücksicht allerdings Sich – in seinem Daseyn – von Sich – in seinem Seyn, und stößt sich aus von sich selbst, um lebendig wieder einzukehren in sich selbst« (A145). Diese Wahrung der Einheit mit dem Absoluten in der Schöpfung besitzt für Fichte religionsphilosophische Relevanz: Durch sie ist die Möglichkeit einer Vereinigung mit Gott offengehalten. Methodenreflexion Der Gedankengang der dritten Stufe folgte dem Zweischritt der von Anfang an verfolgten Methode, zunächst die Bedingung der Möglichkeit eines faktisch Gedachten zu klären und dann dessen Notwendigkeit zu begründen. Bedingung für den Gedanken eines realistisch verstandenen Seins, das nicht mehr durch die Reflexion auf die subjektive Tätigkeit des Denkens einem Idealismus untergeordnet wird, und damit für die Auflösung des Widerspruches zwischen Idealismus und Realismus war der Akt eines sich auf keine lichte Einsicht stützenden Glaubens an dieses Sein. Als Bedingung wiederum dieses Glaubens wurde das dunkle Grundsein des Lichts aufgewiesen. In Vgl. etwa A117–119. Daneben verwendet Fichte den Schöpfungsbegriff aber durchaus auch positiv. In der 29. Stunde der Erlanger Wissenschaftslehre sagt er etwa, das Absolute, als Gesetz, »erschafft schlechthin ein freies Ich« (W309). Und er greift hier m. E. zu Recht die christliche Rede vom Erschaffen auf, da auch er von einer Setzung des Endlichen durch das Absolute, und zwar einer Setzung als eines Selbständigen und somit vom Absoluten Unterschiedenen ausgeht. Zwar scheint mir Günther Zöller (2010, 47 f.) zu Recht als Differenz zum christlichen Schöpfungsverständnis herauszuarbeiten, dass Fichte keine freie Schöpfung und kein personales Verhältnis denkt. Zöller stellt aber m. E., vermutlich weil er bloß von den widersprüchlich scheinenden Aussagen der Anweisung ausgeht, nicht korrekt dar, dass für Fichte eine tatsächliche Unterschiedenheit zwischen Absolutem und Endlichem besteht und in dieser Hinsicht die Rede von einer Schöpfung berechtigt ist. 68

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einem zweiten Schritt wurde geklärt, warum es diesen Glaubensakt braucht, nämlich als Bedingung dafür, dass überhaupt etwas zusätzlich zum absoluten Sein sein kann. Dabei sind schon zentrale Gedanken der Ableitung benannt worden, deren Grundlagen dann ausführlich auf der vierten Stufe gelegt werden. Auf der dritten ging es Fichte vor allem um den Aufweis des wahren Verständnisses des Absoluten und des Punktes in der Existenz, in dem es in seiner ursprünglichen Lebendigkeit hervortritt. Die Bedeutung der transzendentalen Reflexion auf die subjektiven Bedingungen bestand auf dieser Stufe vor allem darin, dass sie das Bewusstsein für die Unausweichlichkeit der Lichtform oder die absolute Reflektierbarkeit wachgehalten hat, durch das es allein möglich war, den Glauben als den Zugang zum wahren und lebendigen Absoluten zu finden und nicht auf ein gedachtes Absolutes zu verfallen. Als Fichte in der elften Stunde die Überwindung dieser Gefahr in Angriff nimmt, bezieht er sich deshalb noch einmal ausdrücklich auf die transzendentalphilosophische Methode (W234). Die Gliederung des Ganges über vier Absolute und ihre Entsprechung zu den fünf Weltansichten Nach der hier dargelegten Rekonstruktion ist der Argumentationsgang bisher über drei Absolute fortgeschritten: ein objektiv gedachtes absolutes Sein, demgegenüber sich die Existenz zuerst als solche begreift und von dem das Licht wieder abhängig zu werden droht, wenn es diesen Begriff aus sich ableitet; dann das Licht als Absolutes genommen, und schließlich ein das Licht begründendes Absolutes, das im Ich existiert. Es wird noch ein vierter Begriff des Absoluten folgen, zunächst sei jedoch auf Fichtes eigene Thematisierung der Gliederung nach drei Absoluten aufmerksam gemacht. Sie findet sich in der 13. Stunde – wahrscheinlich, um die bis dahin erreichte Stufe, aus der heraus allein der Aufweis des absoluten Seins in der 14. Stunde richtig verstanden werden kann, durch Abgrenzung von den vergangenen zu markieren. 69 Durch diesen Rückblick gibt Fichte GelegenWie seine dortige Charakterisierung mit der hier vorgelegten Darstellung der Stufen und ihres jeweiligen Absoluten zusammenstimmt, bedarf einer Verdeutlichung. Das dritte Absolute etwa definiert er nur durch die entsprechende Einstellung des Glaubens (»ein drittes für den wirkl. Glauben« [W241]) und noch nicht durch das Ich, in dem es existiert, weil der Begriff des Ich dort so noch nicht gewonnen ist. Das zweite Absolute nennt Fichte eines »im Sehen« (W241), wodurch es mit dem Licht

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heit, den sonst leicht unübersichtlich werdenden Gedankengang zu gliedern. Von diesem Hinweis ist die in der vorliegenden Arbeit durchgeführte Rekonstruktion hier ausgegangen und hat seine Gliederung am Text bestätigen können. 70 identifiziert werden kann. Dieses zweite wird vor allem von seiner Funktion her bestimmt: Es ist »für die Einsicht der Nothwendigkeit des Glaubens« (W241), indem diese ja allein vom Licht und der absoluten Reflektierbarkeit her erreicht werden kann. Es ist auch dazu da, dass es »das erste Absolute als ein Relatives offenbart« (W241). Die Absolutheit des Lichts war von Anfang an der Grund für die idealistische Reflexion und vom Licht aus konnte das erste Absolute als ein Relatives abgeleitet werden. Nach seiner Absetzung wird das Licht bzw. Ich »zum absoluten Repräsentanten des wahrhaften Absoluten« (W241), dient also als dessen wahrhafte Erscheinung. Das erste Absolute kennzeichnet Fichte als eines, das allein nach den Gesetzen des Lichts im Licht sich ergibt (»innerhalb des schon nach seiner ganzen Gesetzgebung zu Stande gekommenen Lichts« (W241)), und kann von daher mit dem sich in der Form des Lichts notwendig ergebenden, bloß gedachten absoluten Sein identifiziert werden. Es ist »ein absolutes für die Blindheit« (W241), nämlich die Blindheit für das Licht und die absolute Reflektierbarkeit. Ohne diese Einsicht, in der Blindheit gefangen, wirkt es mit einer »der mechanischen gleichenden Gewalt« (W241), nämlich aufgrund der notwendigen Gesetze des Verstandes. 70 Für eine Gliederung entsprechend den von Fichte selbst genannten Begriffen des Absoluten optierte besonders Hans Gliwitzky (1984, LXV f.). Er deutet auch an, wo das von Fichte in Aussicht gestellte vierte Absolute angesprochen sei, und ebenfalls, wie man diese Reihe mit einem weiteren evtl. zur Fünffachheit runden könnte, belässt es aber bei wenig aussagekräftigen Mutmaßungen. Hier wird dafür argumentiert, dass nach den drei Absoluten nur noch ein weiteres kommt und dieses das Absolute als Gesetz ist; außerdem, wie trotzdem der Bezug zur Fünffachheit gegeben ist, indem nämlich der zweite Standpunkt schon auf der ersten Stufe mitthematisiert wird. – Wolfgang Janke, der den einzigen Kommentar zur Wissenschaftslehre von 1805 verfasst hat, wendet sich dagegen, dass sich die Argumentation deutlich nach der Fünffachheit gliedere. Seine Begründung bezieht sich freilich nur auf ein offensichtlich viel zu detailliertes, sich aus der Fünffachheit ergebendes 25er-Schema (1999, 86 f.). Mit Janke einig bin ich in der Aufteilung von Aufstieg und Abstieg (nur die 29. Stunde) und der Abgrenzung der Formlehre (ab der 19. Stunde) (V–VIII). Seine weiteren Unterteilungen richten sich zwar überzeugend nach gewissen argumentativen Einschnitten, aber ohne dass sich dadurch eine übergreifende, die ganze Argumentation erhellende Struktur ergeben würde, wie das durch die Gliederung nach den Ansichten des Absoluten geschieht. Insgesamt passt seine Beurteilung der Argumentationsstruktur nicht mit der hier ausgehend von Fichtes Rückblick vorgelegten zusammen. So charakterisiert Fichte den Gang über die drei Ansichten des Absoluten als Dreischritt von einem blinden Realismus über einen Idealismus hin zum spezifischen Realismus des Glaubens (W240 f.). Diese Beurteilung wird hier übernommen. Janke dagegen sieht den Gang bis zum Erreichen des Lichts idealistisch, den von der Umkehrung der Forschungsrichtung bis zur Einsicht des im Wissen existierenden Absoluten realistisch, und erst das Folgende durch die Vereinigung beider Seiten geprägt (83 f.). – Einig in diesem Punkt sehe ich mich dagegen mit der Interpretation von Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Den Fortgang über diese drei Absolute stellt Fichte auch in der zeitgleich in Erlangen gehaltenen Metaphysikvorlesung dar. Seine knappen und prägnanten Ausführungen dort können zu einer Verdeutlichung führen. Ähnlich wie im Vortrag der Wissenschaftslehre steigt er direkt mit dem Grundlegendsten der Realität ein: »Was an Hans-Peter Falk, der die Argumentation bis zur 15. Stunde sehr klar und nachvollziehbar ausgehend vom Gegenüber eines »realistische[n] Aspekt[s] von Wahrheit« und eines »Immanenzaspekt[s]« (1995, 51) – man könnte auch sagen: des idealistischen Aspekts – rekonstruiert. Er teilt den Gedankengang zwar nicht ausdrücklich nach drei Ansichten des Absoluten ein, der Sache nach gliedert und interpretiert er den Aufstieg jedoch im Wesentlichen in der Weise, wie dies auch hier geschieht. – Eine sich nach der Fünffachheit richtende Gliederung wurde neben Gliwitzky auch von Joachim Widmann vorgeschlagen. Ihr liegt die Idee zugrunde, bei der Erlanger Wissenschaftslehre handle es sich um ein streng nach den sich aus der Fünffachheit ergebenden und von Fichte am Ende der Wissenschaftslehre 18042 thematisierten 25 Momenten des Wissens konstruiertes »wunderbar symmetrisches Gebilde« (1981, 149). Als wichtiger Gliederungspunkt begründet wird aber lediglich das Ende der 15. Stunde (144). Man kann darin tatsächlich den Höhepunkt der »Gotteslehre« erblicken. Der Rest wird aber nur postuliert. Auf wenig überzeugende Weise wird dann noch begründet, warum es sich beim Beginn der Formlehre in der 19. Stunde nicht um einen wichtigen Einschnitt handelt (150 f.). Insgesamt passt die vorgeschlagene Gliederung nicht zu der hier erarbeiteten. Dies im Einzelnen zu zeigen, würde zu weit führen, und eine genauere Auseinandersetzung ist auch nicht möglich, weil der Vorschlag nicht näher begründet ist. – Ähnlich gilt dies für den Vorschlag von Diogo Ferrer. Dieser hat immerhin den Vorteil, dass er mit der Gliederung zugleich die Grundschritte der Argumentation aufzeigt. Dass, wie Ferrer behauptet, im Lichtbegriff die vorherige Differenz von Sein und Existenz ihre synthetische Einheit findet, und der Glaubensbegriff Widersprüche löst, die sich aus dem Licht ergeben (2000, 261), wird zwar nicht eigens begründet oder erklärt, passt aber zu dem hier Erarbeiteten. Die weitere Beschreibung des Ganges als Vereinigung von Differenzen erscheint mir demgegenüber aber nicht nachvollziehbar. Auch Ferrer versucht, das Schema der Fünffachheit wiederzufinden, wobei er aber eingesteht, dass sich für ihn eine Sechszahl ergibt (261). Bei ihm wie bei Widman besteht das Problem, dass nur mit der abstrakten Fünferzahl ohne eine inhaltliche Füllung der fünf Ebenen operiert wird. – Günter Meckenstock argumentiert für eine Fünfergliederung des Gedankengangs aus Analogien zur Wissenschaftslehre von 1804 und noch vager anhand von Bemerkungen Fichtes, die irgendwie auf einen Einschnitt schließen lassen, von denen es freilich unzählige gibt und die er in ihrer Bedeutung innerhalb der Argumentation völlig uninterpretiert lässt (1974, 169–171). Vor dem Hintergrund solcher Mutmaßungen ist das Urteil Jankes (unter Bezugnahme auf Meckenstock und Gliwitzky, welcher sich für die höheren Standpunkte auch mit bloßen Andeutungen begnügt), dass das Schema der Fünffachheit »nicht der Erlanger Wissenschaftslehre selbst zu entnehmen« (1999, 87) sei (welchem hier freilich begründet widersprochen wird), nur verständlich. In den neueren Untersuchungen zur Wissenschaftslehre im Band 34 der Fichte-Studien zu Fichtes Wirken in Erlangen wird auffälligerweise das Schema der Fünffachheit für die Erhellung der Argumentationsstruktur nicht mehr aufgegriffen.

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sich ist: – . Zweie an sich […]. Gott u. die Welt.« (I158) Soll das Wort ›Gott‹ einen Sinn haben im Unterschied zur Welt, muss Gott für Fichte als der Erklärungsgrund der Welt und somit als ein dem Verstand zugänglicher Gott angesehen werden. Auch sein Verhältnis zur Welt muss für ihn ein verstehbares sein, sie kann also nicht zufällig aus ihm hervorgegangen sein (I158 f.). Ähnlich wie in der Wissenschaftslehre die Begriffe Absolutes und Endliches, fasst er die Begriffe Gott und Welt als auf einander relative Begriffe im Verstand: »Absolute Verständlichkeit der Welt aus ihm: und seiner eben durch diese Erklärbarkeit der Welt« (I159). Ausgehend von diesem so gefassten Begriff des Absoluten, durch die Reflexion darauf, was ihm eigentlich zugrunde liegt, nämlich das Verstehen selbst, stellt Fichte fest: »Dies ist Gott: Ist er nur dies, so ist er keiner andern Existenz fähig ausser in einem Verstande; u. wiederum bedarf die Welt keines andern Daseyns, ausser in dem Verstande; u. sie ist gar keines andern Daseyns fähig: sie ist lediglich das zu verstehende aus Gott, im Verstandenwerden eben selber: – . Ist klar: ist der transscendentale Idealismus. – . Keine Welt an sich: daß wir unser Verstehen derselben ihrem Seyn an sich entgegensetzen, da Faktum uns nicht irren: es ist eben die Frage der Metaphys. ob wir diesem Faktum glauben sollen, oder ob es nicht etwa selbst aus den Gesetzen des Verstandes erklärbar ist.« (I159) Damit ist die Weltsicht der Stufe des Lichts dargestellt. In Bezug auf die Idee, dass die Welt, wie wir sie vorstellen, auch an sich existiert, ist Fichtes Philosophie ein transzendentaler Idealismus: Sie ist nach den Gesetzen des Verstandes aus ihm hervorgegangen. Und dasselbe Urteil trifft das vom Verstand gedachte absolute Sein, sodass sich ergibt: »Offenbar wird nun der Vstd der höchste Gott: das wahre absolute.« (I160) Es wird jedoch nicht bei diesem, zumindest für die damalige Mentalität, kaum tragbaren Satz bleiben, wie Fichte dann auch sofort ergänzt: »Hierbei nicht bleiben, sondern widerlegt werden; aber nicht heuchlerisch, sondern auf eine rechtliche Weise, aus ihm selber. Drum eben hingestellt, um an ihm herauf zu höherer Einsicht zu steigen.« (I160) Über den Verstand als Absolutes wird hinauszugehen sein, denn es »dürfte der Verstand selbst wieder verstanden werden, als nicht durch sich möglich, sondern voraushsietzend pp.« (I160; »pp.« bedeutet perge perge – usw.; sinngemäß zu ergänzen wäre: voraussetzend ein höheres Absolutes). So kann Fichte von der ersten Ansicht Gottes, dem Absoluten, das relativ zum Relativen begriffen worden ist (hier das Absolute der ersten Stufe), eine zweite (hier das Absolute der dritten Stufe) unterscheiden: »zwei Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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höchst verschiedne Ansichtheni von Gott: 1) wie die Welt durch ihn begreiflich ist 2.) wie das Begreifen der Welt selber aus ihm begreiflich ist durch ihn« (I160). Dadurch wird der Sinn der untersten Ebene, aus dem heraus diese überhaupt ist, erhellt: »Nun dürften diese beiden Theile wieder unter sich also zusammenhängen, daß eine Welt, u. die Begreiflichkeit derselben aus Gott, in der zweiten Gestalt [gemeint ist die oben unter 1) genannte Ansicht], lediglich da ist, um des Begreifens des Begreifens willen, aus Gott in der ersten, u. höchsten Gestalt [gemeint ist die oben unter 2.) genannte Ansicht]. Dieses Begreifen des Begreifens nun sind Wir, die vernünftigen Wesen; u. nur in wiefern wir uns zu diesem Begreifen erheben, sind wir, was wir seyn sollen, u. theilhaftig des Gottes in seiner ursprüngl. Gestalt. […] Gott in seiner wahrhaftigen Unmittelbarkeit tritt nicht ein in den fertigen, u. geschloßnen Objekten einer Welt, in der das Leben erloschen ist, sondern er tritt ein im Leben vernünftiger Wesen, als der ren u. eigentl. Welt: im gottähnlichen Denken und Handeln der Menschen. 71 Der Gott in der zweiten Gestalt aus dem pp ist nur ein vermittelter pp. an dessen Begriffe die Menschen sich herauf erheben sollen zum wahren. Der Fehler, daß man jenen WeltGott gelten läßt, mit ihm sich begnügt, u. zufrieden ist, u. ihn nicht da aufsucht, wo allein er unmittelbar u. in seinem ganzen zugegen ist, in unserm Herzen.« (I160 f.) Die untere Welt ist nur für die Entwicklung der höheren da, als notwendiges Moment des Sichselbst-Begreifens, und muss als ein solches und bloß als solches real angesehen werden. Das Sich-selbst-Begreifen ist wiederum für das wahrhafte Erfassen Gottes da. Das vollkommene Erscheinen Gottes im Herzen der Menschen, und zwar in deren lebendiger Tätigkeit des gottähnlichen Denkens und Handeln, ist das höchste Ziel der Menschen. Das Dass ihrer Existenz gesetzt, ergeben sich die Grundstrukturen der Welt als notwendige Mittel oder als notwendige Bedingungen zur Verwirklichung dieses Zieles und können auf diese Weise abgeleitet werden. Günther Zöller interpretiert dies in die Richtung lediglich einer »Identifizierung des wahren Gottes mit uns«: »Der wahre Gott liegt nicht immer schon vor, sondern tritt erst ein, kommt allererst zur Wirklichkeit in uns und durch uns.« (2009a, 373, vgl. auch 377) Demgegenüber muss m. E. vor dem Hintergrund der Argumentation der Erlanger Wissenschaftslehre zur Identität ebenso die Differenz dazugedacht werden. Zöller thematisiert zwar auch Fichtes Unterscheidung zwischen dem Existieren Gottes im Menschen und seinem inneren Sein, kann dieser Unterscheidung aber ausdrücklich keinen Sinn abgewinnen (378).

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So weit zur Rechtfertigung und Verdeutlichung der Gliederung des bisherigen Gedankengangs durch drei Ansichten des Absoluten. Wie sich auf der folgenden Stufe zeigen wird, muss das dritte Absolute des Glaubens zum Zwecke der Ableitung noch differenzierter gefasst werden, sodass es – darauf weist Fichte selbst hin – noch zu einer höheren Ansicht des Absoluten kommen wird. Es ist der Standpunkt der Wissenschaftslehre selbst, die sich nicht wie der Glaube mit der bloßen Einsicht des Absoluten begnügt, sondern die Wirklichkeit in ihrer differenzierten Gestalt ableiten möchte. Insgesamt lassen sich ausgehend vom aufsteigenden Gang der Erlanger Wissenschaftslehre her also vier Absolute und entsprechende Betrachtungsweisen der Wirklichkeit unterscheiden. Im absteigenden Gang leitet Fichte fünf mögliche Betrachtungsweisen her, die den Weg darstellen, auf dem sich die Freiheit zu ihrem höchsten Ziel, der Erkenntnis der Einheit mit Gott erhebt. Sie entsprechen den Stufen des aufsteigenden Ganges. 72 Es ist nicht verwunderlich, dass die Wissenschaftslehre selbst Diese These bedarf wegen der Skizzenhaftigkeit des Textes einer genaueren Rechtfertigung. Begründet wird die Fünffachheit dieser Standpunkte aus dem höchsten Ziel, für das alles gesetzt ist und das Fichte begreift als ein selbständiges Sichbilden als Bild des Absoluten. Die Vielzahl von Standpunkten ergibt sich daraus, dass dies einseitig idealistisch oder realistisch genommen werden kann und dass sich dabei das Ich als Prinzip des Verstehens durchschauen kann oder nicht. Durchschaut es sich nicht, kann es in der Einsicht der sich als Bild des Absoluten bildenden Freiheit einerseits realistisch vom Absoluten als Prinzip ausgehen und muss sich dann notwendig als bloßes Prinzipiat ansehen. Da es sich dabei nicht gleichzeitig durchschaut als Prinzip dieses notwendigen Denkens, so kann ihm das Absolute nur als das objektiv begriffene ausfallen – eben in genau der Weise, wie es auf der ersten Stufe gedacht worden ist. Andererseits kann die Freiheit auch »ausgehen vom Verstehen ihrer selber, als blossem Bilde, so führt die VerstandesEvidenz dieselbe zum erschließen eines in ihm abgebildeten UrPrincips. Idealismus.« (W310) Es handelt sich hier aber nur um einen niederen Idealismus, denn das Ich versteht sich noch nicht als das Prinzip überhaupt des Denkens, sondern lediglich als Bild des in ihm abgebildeten Seins. Es erkennt sich also nur als das Prinzip der Nachkonstruktion und setzt dabei ein ihm äußerliches Vorkonstruiertes voraus. Auf diese Weise kann es zwar einerseits in einen Idealismus verfallen und alles, was für es da ist, als sein Produkt ansehen, andererseits geht es immer von einem ihm äußerlichen, an sich seienden Sein aus. Erkennt sich das Ich nicht als die ursprüngliche, beide Seiten hervorbringende Tätigkeit, schwankt es immer zwischen diesen beiden Positionen, die sich ihm nach dem dargestellten Denkgesetz nahelegen: »Das Ichh,i diesem faktischen Gesetze hingegeben, verfährt bald auf diese, bald auf jene Weise, u. geräth dadurch in Widersprüche, u. Zweifel.« (W310) – Der zweiten Stufe entspricht in der Ableitung der 29. Stunde der dritte Standpunkt, der sich daraus ergibt, dass sich das Ich als Prinzip des Denkens erkennt und so über das Denkgesetz und die sich daraus ergebenden Seiten der scheinbar realen Objektivität und der diese abbildenden Subjektivität erhebt. Dass sich das Ich hier als Prinzip

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diesen Erkenntnisweg des Menschen gehen muss. Mit der Ableitung der fünf Weltsichten ist so auch der aufsteigende Gang der Wissenschaftslehre abgeleitet. Die unterschiedliche Anzahl erklärt sich daraus, dass die erste Stufe hier zwei mögliche Weltsichten umfasst. Das objektive Sein als Absolutes zu nehmen, läuft auf eine Art Materialismus hinaus, während die darauffolgende Reflexion auf die subjektive Denktätigkeit zu einem noch dem Dingrealismus verhafteten Idealismus führt. 73 durchschaut, bedeutet aber nicht automatisch einen Idealismus. Aus seiner Selbsterkenntnis kann in Bezug auf das Absolute Verschiedenes folgen. Einerseits kann es sich selbst als das Absolute ansehen. Das würde genau der zweiten Stufe entsprechen, auf der sich das Licht (sich selbst noch missverstehend) als das Absolute nimmt. Andererseits kann diese Selbsterkenntnis auch in einer realistischen Haltung in Bezug auf das Absolute Platz haben. Und diese Position würde genau dem höheren, das zum Idealismus verleitende Prinzipsein des Ich integrierenden Realismus des Glaubensstandpunktes entsprechen, auf dem das Ich unter Anerkenntnis der absoluten Reflektierbarkeit und seiner selbst als Prinzip des Denkens sich in sich selbst vernichtet und das wahre Absolute über dem Denken findet. Es ist nicht ganz leicht, diese Deutung an dem skizzenhaften Text festzumachen. Fichte schreibt: »Das Ich kann sich erkennen, so wie wir es eben vollbringen: als Princip des Realismus, oder des entgegengesezten; zwei neue, den Mittelpunkt zu jenen gebende Glieder« (W310). Die Formulierung »als Princip des Realismus« ist m. E. zu lesen eher im Sinne eines Genitivus subjectivus, im Sinn von ›als Prinzip innerhalb eines Realismus‹, und mit »Realismus« ist dann nicht der niedere Realismus gemeint (den Fichte hier anspricht als Standpunkt, der in den beiden höheren Standpunkten mit dem niederen Idealismus vereinigt wird, sodass sie »den Mittelpunkt« für sie darstellen), sondern der höhere. – Der fünfte Standpunkt ergibt sich für Fichte hier auf folgende Weise: »Endlich, das Ich in seiner Einheit soll seyn Princip der beiden Weisen zu verstehen, u. es versteht das vorliegende, u. sich selber vollkommen, nur inwiefern es sich also versteht. Das 5te Glied.« (W310) Dieser Standpunkt zeichnet sich gegenüber den vorigen, welche nur die niederen Standpunkte aus sich hervorgehen lassen, dadurch aus, dass auf ihm das Ich sich seiner ganzen Möglichkeiten bewusst ist, sich selbst also in seiner Mannigfaltigkeit versteht. Das würde nun insofern genau zur vierten Stufe der Wissenschaftslehre passen, als sie über die Erkenntnis des Absoluten hinaus auch das Endliche in seiner notwendigen Gestalt ableitet. Auf den ersten Blick scheint dieser Deutung zu widersprechen, dass ja auch der Glaube die Erkenntnis des Prinzipseins des Ich in sich integriert. Aber muss das schon bedeuten, dass er das Wissen um die Möglichkeit in sich integrieren muss, von daher einen idealistischen Standpunkt einzunehmen? Nein, er muss diese Möglichkeit noch nicht als notwendig gegebene ableiten; darum geht es erst der Wissenschaftslehre. Diese allseitige Selbsterkenntnis ist für Fichte hier die Bedingung dafür, die Wahrheit sicher zu erreichen, und sie ist deshalb gesollt: »[D]as Ich soll sich also verstehen: denn nur unter dieser Bedingung geht ihm die in ihm liegende Mannigfaltigkeit vollständig auf, so daß es durch keine einseitige Ansicht weiter getäuscht werde, oder diese für absolute Wahrheit halte« (W310). 73 Vgl. oben, S. 59–61.

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Dritte Stufe: Das Absolute des Glaubens

Diese fünf Stufen der Ansicht der Wirklichkeit stellt Fichte auch in der Anweisung dar, und zwar nicht nur als theoretische Ansichten (so in der fünften Vorlesung), sondern auch in ihrer praktischen Bedeutsamkeit (in der siebten bis zehnten Vorlesung). Die praktische Relevanz ergibt sich vor allem daraus, dass auf die Wirklichkeit, die auf einer Stufe für die eigentliche gehalten wird, auch das Streben geht. In dieser praktischen Relevanz werden die verschiedenen Weltansichten noch zu thematisieren sein, wenn die Bedeutung des Leibes ausgehend von der Anweisung bestimmt werden wird. Konsequenzen für die Religionsphilosophie Man kann den ganzen bisherigen Gang als einen Nachweis für Fichtes These lesen, dass ein gewusstes und gedachtes Absolutes nicht das wahre sein kann, sondern dieses über dem Wissen im Leben gefunden werden muss. Das Wissen objektiviert notwendig und tötet im Objektivieren, nur im Werden des Wissens, und wenn man Gott an dieser Stelle findet, ist er noch lebendig. Das Leben Gottes kann nur im eigenen Leben gefunden werden. Dabei kommt es jedoch darauf an, die Dimension des eigenen Lebens zu entdecken und zu vollziehen, die dem göttlichen ganz entspricht. Es braucht nicht nur einen denkenden, sondern auch einen existentiellen Aufstieg, einen im Leben. »Steigen wir – wir selber uns ändernd – also auf« (W229), fordert Fichte seine Zuhörer auf. In Entsprechung zur Objektivierung des Seins auf der ersten Stufe hätte man das Leben noch als ein rein naturhaftes betrachten können; in Entsprechung zur zweiten Stufe als Leben des bloßen Erkennens. Indem mit der Einsicht in die Notwendigkeit des Glaubens für dieses Erkennen die fundamentale Bedeutung des Wollens, und zwar eines sich auf die Wirklichkeit des Seins verpflichtet findenden Wollens, aufgewiesen wurde, konnte dieses Leben dann nicht mehr als auf das rein Theoretische beschränkt verstanden werden, sondern bekam eine im weitesten Sinne ethische Qualität. Weiter zeigt Fichte, wie dieses Leben im Kern das einfache göttliche Grundsein ist, welches sich im Endlichen freilich als solches erkennen und somit von Differenzen gezeichnet sein muss. Gerade vermittels der Erkenntnis – und besonders ihres entscheidenden Moments: des Glaubens – soll es jedoch diese Differenzen relativieren, sich über sie erheben und zur Realisierung des einfachen göttlichen Lebens kommen. Der Leib bekommt vor diesem Hintergrund, wie noch näher ausLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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Transzendentalphilosophische Grundlegung der Ableitung des Leibes

geführt werden wird, eine ambivalente Stellung. Er ist einerseits materieller Körper, und der ist für Fichte immer ein Zustand des Totseins (A74). Andererseits ist er ursprünglicher als seine Objektivierung zum Körper – wie sich noch zeigen wird – unser Vollzug des Lebens. Da ihm jedoch noch die Durchdringung durch die selbstbewusste Vernunft fehlt, ist er nicht schon unmittelbar das göttliche Leben. Das Selbstbewusstsein ist freilich vor diesem Hintergrund als ebenso ambivalent anzusehen. Denn nur in seinem innersten Vollzug ist es Leben, nicht aber in seinen Objektivierungen, in denen wir gewöhnlich verloren sind. Ganz entsprechend der Erlanger Wissenschaftslehre erklärt Fichte in der Anweisung, dass das Absolute wahrhaft und lebendig nicht in einem Begriff heraustritt, wie es in sich selbst ist, sondern nur in einer realen Einheit mit ihm – und diese verwirklicht sich in einer Praxis. Die Frage: »Wa s ist Gott, wird hier so beantwortet: er i s t dasjenige, was der ihm ergebene, und von ihm begeisterte t h u t « (A111). Und in der Anweisung klärt er sehr deutlich, an welcher Stelle das göttliche Leben in seiner ursprünglichen Form gefunden werden kann und wie für es die endlichen Weltgestalten überwunden werden müssen. »Mag es doch immer Gott selber seyn, der hinter allen diesen Gestalten lebet; wir sehen nicht ihn, sondern immer nur seine Hülle; wir sehen ihn als Stein, Kraut, Thier, sehen ihn, wenn wir höher uns schwingen, als Naturgesetz, als Sittengesetz, und alles dieses ist doch immer nicht Er. Immer verhüllet die Form uns das Wesen; immer verdeckt unser Sehen selbst uns den Gegenstand, und unser Auge selbst steht unserm Auge im Wege. […] erhebe dich nur in den Standpunkt der Religion, und alle Hüllen schwinden; die Welt vergehet dir mit ihrem todten Princip, und die Gottheit selbst tritt wieder in dich ein, in ihrer ersten, und ursprünglichen Form, als Leben, als dein eigenes Leben, das du leben sollst, und leben wirst.« (A111) Den Glaubensakt bestimmt Fichte in der Anweisung nicht nur in seiner theoretischen Seite als Glaube daran, dass nicht das Licht – wie auch alles im Licht – letztgültig ist, sondern das Absolute, das in ihm existiert (A93 u. 110). Er bestimmt diesen auch als eine praktische »Selbstvernichtung« (A149), als Aufgeben alles eigenwilligen wie überhaupt alles endlichen und beschränkten Wollens (A148 f.). Der Glaube kann zwar nur ein freier Akt sein, zu seiner Erfüllung kommt er aber nur, indem er seine Freiheit in ihrer endlichen Gestalt selbst aufgibt. Der Mensch kann weder das Absolute selbst noch das gött100

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Vierte Stufe: Die Wissenschaftslehre und das Absolute als Gesetz

liche Leben in sich hervorbringen. Es lebt schon ursprünglich in ihm. Er muss nur alles, was nicht dieses Leben ist, in seiner Nichtabsolutheit erkennen und die Ausrichtung seines Wollens darauf negieren. Dann kann es ganz hervorbrechen. Neben dieser speziell religionsphilosophischen Auslegung des Glaubens und der höchsten Tätigkeit des Daseins macht Fichte in der Anweisung auch die wissenschaftliche Seite deutlich: Jegliche metaphysische Erkenntnis muss letztlich an diesem höchsten Leben, an dieser Praxis und ihrer ursprünglichen, über die Reflexion hinausgehenden Selbstbeziehung – in der Anweisung benennt er sie als Liebe – festgemacht werden, da nur in ihr der eigentliche Kern der Wirklichkeit, ohne den kein Seinsmoment Bestand haben kann und von dem aus sich alles ausdifferenziert, greifbar wird (A166–168). Wie es genau zu verstehen ist, dass sich aus dieser Tätigkeit, in der wir ursprünglich eins sind mit dem Absoluten, das Dasein in seiner ganzen differenzierten Gestalt ergibt, wird im folgenden Kapitel zu erhellen sein.

1.1.4 Vierte Stufe: Die Wissenschaftslehre und das Absolute als Gesetz – Der Ansatzpunkt für die Ableitung der Gestalt des Daseins Abgrenzung und Bestimmung der höheren Stufe Um die Notwendigkeit des Glaubensaktes, in dem erst das reale Ich und darin das Absolute gefunden werden konnte, nachzuweisen, mussten zwar schon die Bedingungen dafür erhellt werden, dass noch etwas Anderes als das Absolute ist, mussten also schon die Grundgedanken der Ableitung thematisiert werden. Eigentlich ging es Fichte jedoch bis zur 15. Stunde lediglich darum, den wahren Begriff des Absoluten zu finden, so »daß diese ganze Abhandlung nur einen Theil des zu untersuchenden absoluten Wissens giebt; sie hat bloß auseinandergesezt den ursprünglichen Begriff des absoluten […] und diesem seinen lezten Grund gegeben, ein reales Ich« (W250). Der zweite Teil des »absoluten Wissens«, d. h. des Wissens des ursprünglichen Absoluten 74, wäre der Teil des Wissens: Nach dem Sein Dieselbe Sprechweise findet sich auch beim Begriff der »absolute[n] Reflexion«, welche deshalb absolut genannt wird, weil es die Reflexion auf das eigene Erkennen im Erkennen des Absoluten ist (W231).

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das Dasein; nach dem Aufstieg der Abstieg, die Ableitung der notwendigen Gestalt des Daseins. Wie sich im Folgenden zeigen wird, lässt sich aus dem erreichten Begriff des Absoluten nicht direkt ableiten. Man hat zwar schon einen unmittelbaren Zugang zum wirklichen Absoluten gefunden. Und dieser Zugang wird sich durch den Fortgang nicht noch einmal als falsch herausstellen. Man hat dieses Absolute jedoch noch nicht so weit als Prinzip des Daseins durchdrungen, dass daraus abgeleitet werden könnte. Nach einer Bemerkung über die bereits abgewiesenen zwei Begriffe des Absoluten kündigt Fichte in der 16. Stunde überraschenderweise an, dass »vermuthlich auch das dritte […] dasselbe Schiksal haben wird« (W251 f.). Deshalb folgt ein weiterer Aufstieg. Seine Hauptaufgabe ist es, wie sich zeigen wird, das Absolute als Gesetz zu erfassen, d. h. in seiner inneren Gesetzmäßigkeit, aus der sich die Gestalt des Daseins ergibt. Die Entfaltung dieses Begriffs umfasst die Stunden 16 bis 28. Der Abstieg selbst umfasst dann lediglich die 29. Stunde. Erst mit dem Projekt der Ableitung vervollständigt sich die Wissenschaftslehre, die ja auf eine Metaphysik zielt. Von daher, wie sich in der 29. Stunde, in der Herleitung der fünf möglichen Standpunkte der Sicht auf die Welt, über dem Standpunkt des Lichts und des Glaubens noch ein fünfter ergibt und dieser höchste durch sein Ausgehen auf eine allseitig verstehende Durchdringung des Seins in seiner Mannigfaltigkeit charakterisiert wird, legt es sich nahe, nach dem Glauben noch eine eigene Stufe folgen zu lassen und diese als die Stufe der Wissenschaftslehre zu bestimmen. In der Anweisung nennt Fichte die höchste Stufe ausdrücklich die der Wissenschaft (A112). Von einer neuen Stufe zu sprechen, rechtfertigt sich freilich auch dadurch, dass ein neuer Begriff des Absoluten erforderlich wird. Fichte selbst bemerkt über die Wissenschaftslehre: »Sie erfaßt das absolute als Gesez.« (W307) Die Argumentation, die Fichte von der 16. bis zur 28. Stunde entfaltet, ist sehr lang und verzweigt. Für die Zwecke unserer Untersuchung ist es wichtig, sie erstens insoweit zu betrachten, als sie die notwendigen Grundlagen schafft für die Ableitung, die dann insbesondere in Bezug auf den Leibbegriff dargestellt werden wird, und zweitens, insofern sie auf den höchsten Begriff des Absoluten führt. Beides hängt unmittelbar zusammen.

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Gott als Gesetz Die Einsicht auf der Stufe des Lichts, dass das Dasein sein eigenes Sein nicht erkennend ableiten kann, weil es dazu aus sich erkennend hinausgehen müsste, im Erkennen aber nicht aus sich herausgegangen wäre, hat auch für die Ableitung Gültigkeit. Das Dasein kann sich also nur faktisch vorfinden. Ausgehend von diesem Faktum kann es aber einsehen, dass es nicht durch einen willkürlichen Akt zum Dasein hat kommen können, denn das würde nach Fichtes Auffassung dem Wesen des Absoluten widersprechen. 75 »Das absolute […] kann existiren, keinesweges von ohngefähr, u. mit Willkühr, sondern falls es existirt, so ist dies zufolge seines innern Wesens. Ist zu fassen als Gesez: Sein Wesen ist ihm sonach in ihm selber Gesez eines objektiven Seyns in der Intuition; u. lediglich zufolge dieses Gesetzes ist sie, falls sie ist.« (W287) Auf diese Weise kann sich das endliche Sein doch als notwendig aus dem Absoluten hervorgehend ableiten, aber nur so, dass diese Ableitung bleibend abhängig ist von der Feststellung des Faktums dieses Seins (W307). Aus dieser These ergeben sich nun zwei wichtige Resultate. Die Voraussetzung eines gesetzmäßigen Grundes des Existierens in Gott führt auf einen Begriff Gottes als selbst eines Gesetzes. Denn es muss sich um ein Gesetz handeln, das in seinem Wesen liegt – ein »Inneres Gesez seines Wesens« (W308). Als äußerlich zwingendes kann es nicht verstanden werden, nur als eine Selbstgesetzgebung. Wie sich zeigen wird, weist Fichte auf, wie wir selbst auch in unserer Tätigkeit von einem Gesetz bestimmt sein können, ohne dass diese Tätigkeit aufhört, frei zu sein, weil nämlich das Gesetz einer Selbstgesetzgebung entspringt. Entsprechend ist es bei Gott zu denken. So kann Fichte begründet dies hier nicht weiter. Der Causa-sui-Begriff allein scheint mir als Grund nicht hinreichend zu sein. Meines Erachtens liegt der Grund für diese These eher darin, dass Fichte das Absolute von der sich in uns vorwahlfrei selbständig vollziehenden Vernunftautonomie her denkt und zeigen kann, wie es im Endlichen zu einer Wahlfreiheit kommt, ohne eine solche schon im Absoluten annehmen zu müssen. Dadurch ist m. E. freilich noch nicht streng eine Wahlfreiheit im Absoluten ausgeschlossen. Man könnte es trotzdem so denken, dass es sein Wesen nicht notwendig verwirklicht, sondern frei, wenngleich es sich wie selbstverständlich dazu entschließen würde. Auf diese Weise könnte man der bloßen grundlosen Willkürfreiheit einen höheren Stellenwert einräumen. Und in diese Richtung muss man wohl auch denken, wenn man das Absolute personal und seine Liebe zum Menschen personal denken möchte. Es ist jedoch hervorzuheben, dass Fichte, auch wenn er von all dem nicht ausgeht, doch zu erklären vermag, wie es zu einer wirklichen Wahlfreiheit im Endlichen kommt, die auch gegenüber dem Sittengesetz immer die Wahl behält.

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Fichte von der »Freiheit« des Absoluten sprechen, der zufolge es zum Faktum des Existierens kommt (W261). Zusammen mit obigem ist sie natürlich zu verstehen als eine Freiheit ohne Willkür. Gesetz und Freiheit – oder besser: Selbständigkeit – sind im Begriff einer aus dem eigenen Wesen kommenden Selbstgesetzgebung zusammen zu denken. Gott ist sich selbst Gesetz. Er ist also selbst Gesetz. Das Gesetz darf hierbei weder als ein Gesetz im Wissen verstanden werden noch als etwas irgendwie Abstraktes, das nicht selbständig existieren kann. Fichte nennt es »das absolute, nicht bloß im Wissen, sondern an sich existirende Gesez« (W309). Als zweites ergibt sich aus dieser These noch einmal eine weitere Begründung der Gewissheit der Wissenschaftslehre und zusammen damit der religionsphilosophisch bedeutsamen Möglichkeit einer Vereinigung mit dem Absoluten. Die wahrhafte Realität ließ sich nur erreichen, indem man im eigenen Existieren über dem Licht das wahrhafte Absolute entdeckt hat. Dass sich daraus nicht mehr relativierbare Wahrheit begründet, war zwar schon Inhalt des Glaubensaktes, hängt hier aber für Fichte zudem daran, dass es das Absolute selbst ist, das darin existiert, und dass es darin existiert, wie es in sich selbst ist, was sich nun, nachdem dies ebenfalls schon im Glauben impliziert war, – »von einer andern Seite« (W270) – für ihn daraus begründet, dass Gott nicht willkürlich existiert, sondern der Vollzug seines Existierens ein Akt ist, in dem er seinem inneren Wesen entsprechend lebt. »Gott existirt überhaupt, weil er ist, wie er ist, durch sein inneres Wesen gedrungen […]. Hier liegt der Grund aller […] Wahrheit u. heit: Nur das absolute existirt, […]. Es existirt schlechthin, wie es muß u. weil es muß: u. dieses Muß ist der reine formale Ausdruk seiner inneren Wesenheit […]. Wir aber sind ursprünglich sein unmittelbares Existiren selber, und können es auch in jedem Augenblike der Zeit wirklich werden, wenn wir nur wollen […]. Dies erst macht den Geist fest, u. bricht allem Skepticismus u allem Wahnglauben die Wurzel aus.« (W270) Von der These ausgehend, dass die Existenz aus dem Absoluten nach einem inneren Gesetz desselben hervorgeht, sodass dieses darin mit dessen eigenen Leben aus sich heraustritt und dieses uns mitteilt, dass es also im Grunde das Absolute selbst ist, welches sich in unserer Einsicht vollzieht, kann begründet werden, wie es möglich ist, mit unserem Erkennen grundsätzlich auf einem nicht mehr relativierbaren absoluten Standpunkt zu stehen. Es wird sogar gezeigt, dass wir auf ihm stehen müssen, ein anderes Denken also gar nicht sein könnte. Und hier ist 104

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Vierte Stufe: Die Wissenschaftslehre und das Absolute als Gesetz

jetzt auch der Punkt, an dem für Fichte die anfängliche Behauptung eingeholt ist, die Existenz des Absoluten sei wirkliches Wissen, und es müsse das Wissen als Existenz des Absoluten bestimmt werden. Obgleich nun freilich mit der Begründung des Wissens aus dem nicht willkürlichen Existieren des Absoluten eine weitergehende Rechtfertigung des Glaubensaktes und mit ihm der Wissenschaftslehre erreicht wurde, ist sie doch immer noch abhängig vom freien Glaubensakt und sie hebt nicht auf, dass dieser weiter sozusagen als Eingangstor zur Möglichkeit seiner Rechtfertigung erfordert wird. Neben der Bedeutung dieser Begründung für die Wissenschaft stellt Fichte auch ihre existenzielle Relevanz heraus: »Wir aber sind ursprünglich sein unmittelbares Existiren selber, und können es auch in jedem Augenblike der Zeit wirklich werden, wenn wir nur wollen« (W270). Dies ist besonders für die Religionsphilosophie wichtig. In der Anweisung erklärt Fichte, dass allein dann ein Weg zurück in die Einheit mit Gott und eine Seligkeit möglich sein kann, wenn Gott mit seinem eigenen Leben im Existieren schon immer dabei ist, und sieht sich dessen dadurch versichert, dass für ihn eine Willkür im Erschaffen ausgeschlossen ist (A117–119; vgl. auch A89 f. u. 143). Das Gesetz im Existieren Der Begriff des Gesetzes, das Gott selbst ist, hat eine wichtige Funktion in der Ableitung der 29. Stunde. Das Sein der Existenz lässt sich nicht anders erklären als daraus (W309). Er wird dort aber noch in einer anderen Funktion verwendet. Aus ihm wird nicht nur das Sein der Existenz, sondern auch ihre notwendige Gestalt erklärt. Wesentliche Gedanken, welche eine solche Ableitung grundlegen, haben sich schon unabhängig vom Gesetzesbegriff am Ende des Aufstiegs ergeben mit dem Wissen darum, wie der Punkt, an dem das Absolute in seiner Realität heraustritt, beschaffen sein muss: Soll überhaupt ein Sein außer dem Absoluten sein, dann muss dieses sich verstehen als solches und als nicht das Absolute. Da es dazu das wahre Absolute erfassen muss, muss in ihm ein Punkt sein, in dem dieses heraustritt, wie es in sich selbst ist. Um wahrhaft Bild zu sein, muss es ein selbständiges, freies, praktisches Grundsein der Existenz sein. Könnte es sich jedoch nicht als Bild verstehen, so wäre es nicht relationiert auf das Absolute, wäre es das Absolute selbst, wäre es also beim Sein geblieben und zu keinem Dasein gekommen. Zu Beginn des Abstiegs in der 29. Stunde stellt Fichte heraus, Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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dass diese beiden Gedanken die Grundlage abgeben für die Ableitung. Sie sind für ihn jedoch mit einem wesentlichen Mangel behaftet, den es durch den Gesetzesbegriff zu überwinden gelte. Daran, welches Problem er sieht und wie er es löst, lässt sich gut der Fortschritt begreifen, der durch den dazwischenliegenden Gedankengang erreicht wurde. Das Problem ist folgendes: »Unsere soeben ausgesprochnen Sätze sind Resultat eines Denkens; deswegen nicht absolutes Prinzip des Wissens, noch Anfangspunkt der W.L. Wir treiben uns im Zirkel. Wie nun über dieses Produkt hinaus. Ich sage, durch Voraussetzung eines absoluten Gesetzes also zu denken, wie wir gedacht haben: Eines Reflexionsgesetzes, auf Freiheit als Bild des absoluten, – an Freiheit. […] Dieses Reflexionsgesetz, so wie es beschrieben worden, ist einzusehen, als der Eine Grund des Wissens; durch welches gesezt wird, alles, was da gesezt wird; die einzige, u. ganze Weise, wie das absolute eintritt in das Wissen.« (W308) Schon am Anfang der vierten Stufe hat Fichte klargemacht, um welche Herausforderung es sich dabei handelt. Er geht dort aus vom Vollzug des Objektivierens, in dem wir uns immer schon finden und den wir selbst nicht wieder objektivieren können – »absolute u. reine Objectivität« –, also einen Vollzug, der sich über und unabhängig von einem Wissen in dieser Form vollzieht (W252–255). Damit konnte er einerseits zeigen, dass das unmittelbare Existieren in der Form, in der es vorher als hypothetisch notwendig erschlossen wurde, tatsächlich in uns wirklich ist – dass Gott also wirklich existiert. Andererseits konnte er von hierher die Grundeigenschaft der Existenz bestimmen, dass sie einerseits eine mit dem unmittelbaren Existieren Gottes einige Tätigkeit über dem Wissen ist, andererseits gerade durch diese Tätigkeit das Wissen hervorbringt, in dem es letztlich darum geht, in sich das Absolute und sich als nicht das Absolute zu erkennen. Dieses innerlich-äußerliche Erfassen des Absoluten nennt Fichte »Begriff« (W258). Er unterscheidet in der 18. Stunde zwischen der äußeren, schon ins Licht getretenen Form des Begriffs und der inneren Form als der inneren Gestalt des Formierens. Nicht in der Form, allein »in ihrer Formierung« (W298) tritt Gott unmittelbar heraus. Da diese eine bestimmte Gestalt hat, tritt er in einem »Wie« heraus (W268 f.). Eine Ableitung kann für Fichte nicht ausgehen von den äußeren Produkten. Dadurch, dass wir es jedoch selbst sind, die immer schon über der Form stehend, »in absolut ursprünglicher Formlosigkeit« (W264), die Form produzieren, können wir uns über die Produkte erheben, wie wir es im Glauben auch schon getan haben, und die innere Form 106

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Vierte Stufe: Die Wissenschaftslehre und das Absolute als Gesetz

des Produzierens analysieren (W264 f.). Nachdem Fichte ausgehend von der absoluten Objektivität die Grundbestimmungen des Begriffs bis zur 18. Stunde bestimmt hat, lässt sich die für die Ableitung zu leistende Aufgabe im folgenden, von ihm »Formlehre« (W263) genannten Teil klar als die »weitere Formierung des Wie« (W269) bestimmen. Hier vollzieht Fichte dann noch einmal anknüpfend an die beiden oben genannten notwendigen Grundbestimmungen der Form einen Aufstieg – über dieselben Stufen wie der erste Aufstieg –, um letztlich die innere Form im Begriff eines inneren Gesetzes, nach dem sich die Tätigkeit vollzieht, zu fassen. Geht die Ableitung von diesem inneren Gesetzesvollzug aus, dann stellt sie sich in den Ursprung, aus dem sich alles ergibt, und beginnt nicht mit Produkten. Ähnlich wie ein solches Gesetz in Gott vorausgesetzt wurde, so jetzt auch in der eigenen Tätigkeit. Der Unterschied ist, dass uns diese eigene Tätigkeit unmittelbar zugänglich ist. Im Grunde handelt es sich aber um dasselbe Gesetz wie das Gott innerliche. Es kommt ja nichts Anderes als Gottes eigenes Leben in die Existenz, also auch dessen Wesensgesetz. In der 18. Stunde hat Fichte herausgearbeitet, dass Gott im Begriff, natürlich nur in dessen innerer Form, heraustreten muss, wie er in sich ist. So schreibt er am Ende: Das Gesetz ist »die einzige, u. ganze Weise, wie das absolute eintritt in das Wissen« (W308). Und das Gesetz hat entsprechend auch denselben Inhalt: Es soll ein Bild des Absoluten sein, das aber nur sein kann in der Doppelung von unmittelbarem Bild und Bild als Bild. Schon in der 18. Stunde benennt Fichte die innere Form des Wesensvollzuges als eine »Gesetzmäßigkeit« (W261). Genauer eingeführt wird jedoch der Gesetzesbegriff erst in der 24. Stunde, und zwar zuerst als Begriff der inneren Gesetzmäßigkeit Gottes, wie er oben dargestellt worden ist. Weil dieses Gesetz als Folge die Freisetzung eines selbständigen Existierens hat, dem aber unmittelbar dasselbe Wesensgesetz zukommen muss, so ist das Gesetz ebenso das, was diesen freien Selbstvollzug des Existierens innerlich bestimmt. »Das Gesez, als ein blosses absolutes daß, sezt Selbstständigkeit seiner Folge.« (W288) Diese Folge muss entsprechend dem Inhalt des Gesetzes seine ganze Form selbständig vollziehen – »diese Folge ist absolute Selbstschöpfung« (W288) –, und zwar so, dass es sich dadurch als nicht das Absolute versteht. Auf die doppelte Funktion des Gesetzes, im Existieren, aber als Voraussetzung dafür und zuvor in Gott, weist Fichte im selben Zusammenhang hin: »[D]as Gesetz ist nicht nur […] als Gesez eines sich machens, sondern zugleich als Gesez eines Seyns: Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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beides schlechthin in Einem« (W289). In der Ableitung der 29. Stunde benennt Fichte diesen Sachverhalt als »eine doppelte Kausalität« des Gesetzes: »[E]s erschafft schlechthin ein freies Ich: u. in diesem u. durch seine Freiheit erschafft es ein, jenheis voraussetzendes sich selbst schaffen« (W309). In der zweiten Kausalität ist das Gesetz tätig als unsere freie Vollziehung desselben, in der ersten Kausalität ist es nur Gott, der tätig ist. Als gewusste (in Fichtes Terminologie auch ›gesetzte‹) Freiheit, ist sie nur durch unsere Tätigkeit. »Wird sie gesezt, so geschieht dies nicht durch Gott, sondern durch sie selbst: daß sie aber realiter, u. vor dem Geseztseyn voraus sich setzen kann, davon liegt der Grund in Gott.« (W309) Das Gesetz führt in der Existenz nicht nur zu einer so im Absoluten nicht vorkommenden äußeren Form. Auch der lebendige Vollzug selbst bekommt im gesetzmäßigen Formieren eine andere Gestalt als in Gott. In der 24. Stunde spricht Fichte bereits die Werdensgestalt des Sichschaffens der Form an – »im Gegensatze mit dem h/i nicht werdenden, sondern in sich selber absolute ruhenden Seyn des Absoluten« (W288). Wie ausgehend von der 27. Stunde noch gezeigt werden wird, kann sich das Sichbegreifen und die Negation seiner selbst gegenüber dem Absoluten nur vermittels des Übergehens von der Setzung eines Bildes zur Lösung von diesem Bild und zur Setzung eines dazu relativen Bildes vollziehen. 76 Daher erklärt sich der zeitliche Vollzug der Selbständigkeit oder Freiheit. Und so entsteht ihr Charakter des Übergehens von Möglichkeit zu Wirklichkeit. Aus den später noch genauer zu betrachtenden, durch die Verstandesstruktur sich notwendig ergebenden Momenten der Formierung der Form wird die Gestalt der Freiheit dann noch weiter bestimmt. Aufgrund der für das Als notwendigen Beschränkung wird der selbständige Vollzug nicht mehr vom Gesetz in seiner Ganzheit zu einer sittlichen und religiösen Tätigkeit bestimmt, sondern wird zu einem beschränkten Naturtrieb, in dem freilich das Gesetz des einen Daseins weiter prägend ist, indem es die Voraussetzungen wirkt für die Reflexion auf das ganze Sollen. Diese zwar selbständige, aber unwillkürlich sich nach ihrem inneren Gesetz sich vollziehende Tätigkeit, die trotz ihrer Vorbewusstheit als Vernunfttätigkeit verstanden werden muss, wird ein wesentlicher Bestandteil des Begriffs des Leibes sein. In ihr entstehen eine Vielheit von freien Individuen und eine Vielheit von empfundenen Handlungsmöglichkeiten dieser Individuen. In der 76

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Vgl. unten, S. 118–120.

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Vierte Stufe: Die Wissenschaftslehre und das Absolute als Gesetz

durch das im Hintergrund wirksame gegenwärtige Sollen selbst hervorgerufenen Differenzierung des wahrnehmenden Auffassens des Empfundenen löst sich das Erkennen als eigene ideale Tätigkeit immer mehr von der praktischen ab. Mittels des Bestehens und Gewahrwerdens von Alternativen wie mittels der schon mit der ursprünglichen Begrenzung erfolgten Distanzierung vom Sittengesetz, die auch in der freien Reflexion auf es erhalten bleibt, bekommt die selbständige Tätigkeit den Charakter der Wahlfreiheit. Aus dieser Distanzierung folgt außerdem, dass sich die Freiheit dem Sittengesetz als einem Sollen gegenübersieht. Diese Freiheit ist eingebunden in Naturtriebe, in eine begegnende Natur- und Interpersonalwelt. Schließlich bekommt die Freiheit ihre Gestalt durch den Selbsterkenntnisweg, der ihr vorgezeichnet ist: ausgehend vom ersten vorbewussten Vernunftvollzug hin zu einem bewussten und frei wählenden, um von da aus dann wieder zurückzufinden zur Verwirklichung der unwillkürlichen einfachen Lebendigkeit Gottes, die sie realisieren soll – nicht als bloß eigene, sondern als das Existieren des göttlichen Lebens. Man muss sich klar machen, dass für Fichte alles aus diesem selbstständigen, nach dem inneren Gesetz sich spontan wie auch wahlfrei verwirklichenden Vernunftvollzug besteht. Aus ihm geht alles hervor. Aus ihm lässt sich alles erklären. Er ist in allem gegenwärtig. Und da in ihm das göttliche Leben lebt, ist dieses in allem gegenwärtig. Die Einheit der Form und der Ansatz für die Ableitung Aufgabe der Formlehre ist es nicht nur, das Ausgehen von Produkten zu überwinden und so etwas wie den Begriff einer inneren Gesetzmäßigkeit zu entwickeln, sondern auch, diese Gesetzmäßigkeit in ihrer Einheit zu fassen, aus der sich alle notwendigen Bestimmungen der Form ergeben. Es wird dabei nicht behauptet, es könne alles, was überhaupt im Bewusstsein vorkommt, daraus abgeleitet werden. Ein Grund für die Annahme einer solchen Möglichkeit hat sich nirgends ergeben. Es hat sich sogar bereits in Bezug auf das Dass der Existenz eine grundsätzliche Beschränkung der Ableitbarkeit gezeigt. Wie später noch herausgearbeitet werden wird, hat für Fichte das göttliche Leben über die ableitbare Begriffsform hinaus noch einen nur faktisch aufzufassenden und nicht ableitbaren Gehalt. 77 Zusätzlich ergibt 77

Vgl. dazu v. a. Kap. 1.3.2.1.

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Transzendentalphilosophische Grundlegung der Ableitung des Leibes

sich Nichtableitbares aus der Wahlfreiheit des Existierens. Auf dieses »[F]reie, [Z]ufällige«, demgegenüber sich der Begriff »bescheidet«, macht Fichte bereits in der Vorbereitung der Formlehre aufmerksam (W261). Die Gesetzmäßigkeit, welche der Entfaltung der Begriffsform zugrunde liegt, beginnt Fichte in der 25. Stunde in der Tätigkeit des Verstandes, der für ihn selbst ein gesetzmäßiges Folgern ist, auszumachen, und zwar in seiner in Bezug auf das Ziel des Daseins höchsten Funktion: im Sich-selbst-Verstehen sich zu verstehen als nicht das Absolute. In den folgenden beiden Stunden versucht er, die notwendigen Grundmomente dieses Vollzuges in ihrer Einheit zu fassen. Sie stehen miteinander in Wechselwirkung, sodass eines das Andere voraussetzt und auf diese Weise das eine aus dem Anderen und so auch die Gesamtheit hergeleitet werden kann (W306). Zuerst einmal entfaltet Fichte argumentativ die Momente des Verstandes, der sich selbst versteht. Der Sache nach geht es um dasselbe wie beim Aufstieg in der Betrachtung des Lichts als des selbständigen Sichwissens des Wissens, das unmittelbar in sich seine notwendigen Momente erfassen kann. Nun wird aber eine weitere Voraussetzung betrachtet. Das reflexive Sichverstehen des Lichts geht immer von einem lichten Verstehen aus, es muss sein Sichverstehen an ein faktisches anknüpfen. Die besondere Herausforderung besteht hier also darin, zu rekonstruieren, wie es ursprünglich, vor dem reflexiven Sicherfassen, zu einem faktischen Verstehen, zu einem faktischen Licht kommt. Diese Rekonstruktion unternimmt Fichte in der 27. Stunde und zeigt dabei die notwendigen Formelemente des faktischen Selbstbewusstseins auf – das als faktisches sogar erst einmal nur ein Objektbewusstsein sein kann. Da sich hieraus dann der Ansatz der Erklärung von Leiblichkeit ergibt, wird diese Argumentation später noch genauer betrachtet werden. 78 In der 28. Stunde zeigt Fichte, wie sich vom Selbstverstehen aus die Erkenntnis des Absoluten entwickeln kann. Im Sichverstehen als Folge kann sich der Verstand als ein Faktum verstehen. Die innere Nichtigkeit dieses Faktums und die Wahrheit des wirklichen, nicht von ihm hervorgebrachten Seins muss er aber »vernehmen« (W306). Der Verstand muss hier eine ganz andere Funktion haben; »der Verstand ist in dieser Funktion Vft. Die absolute Wahrheit, die nicht der

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Vstd macht, sondern die sich selber durch sich selbst macht« (W305). Fichte spricht von einer Vernunfterkenntnis, die nicht in einem Verstehen, einem notwendigen, von einem anderen her folgernden Verstehen, stattfinden kann, sondern in der das Sein und von da aus die Nichtigkeit des Verstandes einfachhin vernommen werden. Er beschreibt es als etwas vom Sein Ausgehendes und vom Verstand passiv Empfangenes: Das Sein »kündigt sich durch sich selber an, das wahre, reale« (W305). Die Weise der Anschauung, auf die sich der Glaube stützt, wird so noch einmal genauer bestimmt. Fichte bezieht sich an dieser Stelle auch noch einmal zurück auf die Einsicht in die Begrenztheit des Verstandes und die Notwendigkeit des Glaubens, wenn er bemerkt, dass es zu einem »absoluten Scepticismus« (W305) führt, wenn man nicht von einer Vernunfterkenntnis als etwas Eigenem neben dem Verstand ausgeht. Die notwendigen Momente der Form erklären sich aus einer Wechselwirkung der Form mit sich selbst, aus einem inneren Zusammenhang der Verstandestätigkeit. »Dieser Zusammenhang der Glieder ist die Einheit der Form.« (W306) Das Absolute selbst tritt jedoch mit der Form nicht in Wechselwirkung, wodurch es wieder ein Relatives werden würde, sondern es bestimmt die Form nur durch das Soll: Es soll eine Erkenntnis des Absoluten sein. Als Gesetz oder Sollen kann dem Absoluten nicht in einem Wissen entsprochen werden, wodurch es sofort seine Absolutheit verlieren würde, sondern nur über dem Wissen in einem Glauben, der fähig ist, die Absolutheit zu wahren. Abgeleitet werden kann dann nur, indem von der Einsicht in die Wechselwirkung des Verstandes und zugleich vom Sollen ausgegangen wird. Denn aus dem Soll allein ergibt sich das Dass des Daseins, und von ihm her ist es nur möglich, das Verstehen selbst hin zur Vernunfterkenntnis des Absoluten zu überwinden. In der 29. Stunde leitet Fichte aus beidem ab. Zuerst lässt er unmittelbar durch das Gesetz dessen Resultat gesetzt sein: die Erkenntnis des Absoluten in der Selbsterkenntnis der Freiheit als Bild des Absoluten. Mittelbar ist aufgrund der Notwendigkeit des selbständigen Sichselbst-Bildens des Bildes der reale Vollzug dieser Freiheit gesetzt, der jedoch wiederum die Möglichkeit dieses Vollzuges, das unmittelbar von Gott gesetzte Dass der Freiheit voraussetzt. Letztlich getragen ist dieses Sich-selbst-Bilden zur höchsten Erkenntnis von der Vernunfterkenntnis des Absoluten, in der das Absolute selbst dem Endlichen in seinem Existieren immer als ein Sollen vorschwebt, das Anerkennung fordert. Wie Fichte zeigt, muss dieses eine Sollen selbst Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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jedoch in verschiedenen Gestalten gefasst werden, weil sich die Freiheit in den aus dem Verstand notwendig sich ergebenden mannigfaltigen Formen und Faktizitäten findet, aus denen heraus es sich zur Einheit der Vernunfterkenntnis erheben muss. Es lässt sich aus der notwendigen Mannigfaltigkeit ein Weg zur Einheit vorzeichnen, bei dem für jeden Schritt das Sollen eine eigene Gestalt annehmen muss. Wirklich sicher in der Einheit mit dem Absoluten ankommen kann das Dasein dabei nur, wenn es über das Erfassen des Absoluten im Glauben hinaus auch Klarheit darüber gewinnt, wie das Endliche von ihm ausgeht, über sein wahres Verhältnis zum Absoluten und die möglichen vorläufigen Perspektiven auf das Absolute, »so daß es durch keine einseitige Ansicht weiter getäuscht werde, oder diese für absolute Wahrheit halte« (W310). Auf diese Einsicht der Wissenschaftslehre zielt das Sollen in seiner umfassendsten Gestalt. Auch wenn sich Fichte in der Ableitung, wie er sie de facto dann vorstellt, mit dem Sollen der Einsicht des Glaubens als Gesetz begnügen kann – letztlich muss alles als Bedingung der Verwirklichung der Wissenschaftslehre abgeleitet werden. »Schlechthin dadurch, daß W.L. seyn soll, ist der ganze Verstand bestimmt, und dies ist sein Grundgesez.« (W307) Die Ableitung ist dadurch zugleich Ableitung der Wissenschaftslehre, die Wissenschaftslehre auch Theorie ihrer selbst. Methodenreflexion Die Aufgaben sind wieder vorgegeben worden durch die sich aus der transzendentalen Methode ergebende Maxime, nicht bei den Produkten des Erkennens stehen zu bleiben und aus ihnen irgendetwas zu begründen, sondern allein aus der Produktivität selbst. Der Einsicht der vorigen Stufen, dass diese nicht nur als eine subjektive, sondern durch ihr Stehen im Leben des Absoluten als ein realer Vollzug verstanden werden muss, ist man hier treu geblieben. Ja, über den Gesetzesbegriff konnte die spezifische reale Einheit mit dem Absoluten sowie die Differenz im Sichbilden deutlicher herausgearbeitet werden. Das Wissen um die An-sich-Gebundenheit des Lichtes schärfte zudem das Bewusstsein für die Grenzen der Spekulation. Letztlich kann sich das Dasein nicht ableiten oder zumindest nicht, ohne bleibend die Feststellung seiner Faktizität vorauszusetzen. Innerhalb dieses Faktums war es jedoch dem transzendentalen Denken, wie Fichte es schon im Licht erschlossen hat, möglich, in die Formierung der Form unmittelbar einzusteigen und sie in ihrer Einheit zu begreifen, 112

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in der ein Glied das andere voraussetzt, und somit der Gesamtvoraussetzungszusammenhang erhellt werden kann. Abschließend grundgelegt war die Ableitung erst, nachdem in der 28. Stunde diese Einheit der Form gefunden worden war. Indem dafür jedoch die verschiedenen Voraussetzungszusammenhänge bereits geklärt werden mussten, hat Fichte die wesentlichen Gedanken der Ableitung bereits bis dahin immer wieder thematisiert. Deshalb kann er in der folgenden 29. Stunde eine Ableitung zumindest in ihren zentralen Zügen in einem kurzen Überblick vorlegen. Auch hier sind bereits grundlegende Teile der Ableitung angesprochen worden. Im Folgenden wird es speziell um die Ableitung dessen gehen, was zum Begriff des Leibes gehört. Dabei wird sowohl auf Ausführungen der 29. Stunde als auch der Stunden davor Bezug genommen werden.

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1.2 Die Ableitung des Leibes – der Leibbegriff

Im transzendentalen Rückgang, dem Aufstieg, wurde ein Begriff des Absoluten und des idealen Verhältnisses des Menschen zu diesem herausgearbeitet. Beides konnte im Begriff eines Gesetzes gefasst werden. Der Mensch kommt zur Vereinigung mit Gott, wenn er dessen inneres Wesensgesetz verwirklicht. Dies ist dann zugleich der Ansatz zur Ableitung. Fichte versucht zu zeigen, dass alles, was sich überhaupt in der Welt findet, gesetzt ist als Moment dieser Verwirklichung. Als eines der notwendigen Momente wird auch der Leib abgeleitet. Dadurch steht er von Anfang an im Horizont seiner Bedeutung für die Beziehung zu Gott. Im Folgenden soll zunächst Fichtes Ableitung des Leibes nachvollzogen werden, bevor dann im nächsten Kapitel ausgehend vom Kontext dieser Ableitung dessen religiöse Bedeutung herausgearbeitet wird. Die Erlanger Wissenschaftslehre thematisiert den Leib nur indirekt, wie auch überhaupt Fichte zu dieser Zeit sehr wenig auf den Leibbegriff eingeht. Sie gibt jedoch zumindest wichtige Ansatzpunkte für seine Ableitung, die, um an die bisher erschlossene argumentative Grundlage anknüpfen zu können, zuerst dargestellt werden sollen. Für das Weitere muss dann auf frühere Schriften zurückgegriffen werden.

1.2.1 Das faktische Selbstbewusstsein und seine Materialisierung in eine objektive Körperwelt nach der Erlanger Wissenschaftslehre Die Argumentation Im vorigen Kapitel zum Ansatzpunkt der Ableitung wurde bereits angedeutet, in welchem Zusammenhang es in der Erlanger Wissenschaftslehre zur Begründung des Objektbewusstseins kommt, an 114

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welches sich grundsätzlich die Ableitung des Leibes anschließt: Fichte versucht ausgehend vom Gesetzesbegriff die Form in ihrer Einheit zu fassen. Das Dasein soll das Absolute und sich als nicht das Absolute verstehen. Die Frage, wie es zum Verstehen der eigenen Endlichkeit kommt, stellt Fichte zunächst einmal zurück und untersucht nur das dafür vorausgesetzte Sichverstehen des Verstehens – vor der Untersuchung der Vernunft zunächst die des Verstandes. Im Existieren ist das Gesetz nur vermittels dessen selbständigen Vollzugs Ursprung der Form. Fichte untersucht deshalb, was dazu nötig ist, dass dieses Sichverstehen des Verstehens – oder Ersehens, wie er es auch nennt – selbständig sein kann, d. h., dass wir nicht von außen noch etwas in es hineintragen. Als notwendig vorauszusetzendes Moment ergibt sich dabei das Bewusstsein einer Körperwelt. In der 26. Stunde beginnt Fichte mit der Untersuchung, welche Elemente für das selbständige Ersehen nötig sind. Ein bloßes Ersehen wäre kein selbständiges. Wir können es zwar denken, aber dann sind wir als Subjekt sein Träger. Um nicht von etwas Anderem abhängig und insofern unselbständig zu sein, kann es nur auf sich selbst bezogen sein. Es muss ein Ersehen sein, das sich ersieht. Die Analyse eines Ersehens des Ersehens zeigt Fichte dann, dass das Licht in ihm immer schon geteilt ist. »Das Licht, wie es beginnt zerspaltet sich, ohne EinheitsPunkt in sich selber, ohne Einheitspunkt der Theilung und Einung, den nur wir hineintragen.« (W297) Der Einheitspunkt kann deshalb nicht im bereits sich aktiv wissend vollziehenden Teilen und Einen des Lichts liegen, weil das Sichverstehen des Verstehens das lichte Verstehen als Objekt immer schon voraussetzt. Ein faktisch sich findendes, schon geteiltes und geeintes Licht ist also als Ausgangspunkt erforderlich, ein faktisches Selbstbewusstsein, von dem aus das Sichverstehen anheben kann und das diesem den Einheitspunkt gibt. Dies ist vorausgesetzt. Und es würde nun darum gehen, genauer nachzuvollziehen, wie es dazu kommt, wie der absolute Verstand als dieses faktische Selbstbewusstsein zustande kommt und wie in diesem ursprünglich und faktisch das Licht entsteht. Im Rückblick auf den Aufstieg lässt sich diese Einsicht so bestimmen, dass der Vollzug des Lichts, als eine Form des sich auf sich selbst energisch ausrichtenden Verstehens, ein faktisches, ein unmittelbares Verstehen voraussetzt, das zwar an sich nur Licht ist – also nicht als ein objektivistisches Verstehen eines unabhängigen Dinges betrachtet wird, auch wenn es sich selbst so betrachten mag –, sich aber noch nicht als solches versteht – eben ein Verstehen, wie es sich auf der ersten Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Die Ableitung des Leibes – der Leibbegriff

Stufe empirisch und faktisch aufgefasst hat. Es geht um einen präreflexiven, spontanen Verstandesvollzug, der für den reflexiven vorausgesetzt wird. Als ein solches faktisches Selbstbewusstsein konstruiert Fichte in der 27. Stunde dann den Verstand, und zwar mit Hilfe der Einsicht der vorigen Stunde, dass er nur in einem Selbstbezug absolut sein kann. Die erste Aufgabe ist, das Verstehen vor allen Differenzen des Wissens zu fassen: ein »Verstehen, das schlechthin sich nicht weiter versteht« (W300). Es muss in sich selbst bestehen, »absolutes ersehen, oder ein absoluter Verstand« (W299) sein, ohne angewiesen zu sein auf ein weiteres Verstehen, also ganz »ittelbar, und nie wieder in dieser Unmittelbarkeit zu vermittelnd« (W300). In der unmittelbaren Form des Verstehens muss es »befangen seyn« (W299), sodass man bleibend auf diese faktische Basis angewiesen ist und sie sich nicht auf eine Art auflösen lässt. Freilich, auch wenn ein absoluter Verstand in dieser Unmittelbarkeit sein muss, so kann er doch, wenn er ein Verstehen sein soll, nicht ohne irgendeine Form von Zweiheit in der Einheit und ohne einen Selbstbezug auskommen. Trotz dieser Unmittelbarkeit lassen sich also die Konstruktionsmomente angeben. Fichte macht dann darauf aufmerksam, dass sich das so abstrakt und erst einmal unanschaulich Erschlossene im Rückgriff auf die gewöhnliche Erfahrung und ihre Versprachlichung konkretisieren lässt. Es handle sich um das, was man gewöhnlich mit dem Wort ›Gefühl‹ benennt. Ein Gefühl ist eine Form von Verstehen, von ursprünglichem Verstehen, in dem zwar das Gefühlte auf eine Art aus dem Fühlenden heraustritt und aufgefasst wird, also anfanghaft die Erkenntnisdifferenz entsteht, sie jedoch so sehr in einer Unmittelbarkeit bleibt, dass noch keine Form von distanziertem und unterscheidendem Urteil stattfindet. Dadurch ist das Gefühl zunächst irrtumsunanfällig. 79 Und ebenso ist der Selbstbezug in der Bedeutung des Wortes enthalten. Gewöhnlich verwendet man ›Gefühl‹ eher für etwas, in dem sich das Subjekt selbst fühlt, während man für das Auffassen eines Anderen von ›Empfindung‹ sprechen würde. Eine philosophiehistorische Bemerkung Fichtes in diesem Zusammenhang weist auf die Anfänge der Wissenschaftslehre zurück (W300 f.). Von Anfang an hat Fichte das Verstehen vom unmittelDarauf macht Wolfgang Janke (1999, 124) aufmerksam. Für die Interpretation dieses Textabschnitts zum Gefühl stütze ich mich neben Janke auch auf die erhellenden Ausführungen von Petra Lohmann (2009, 312–315).

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baren Selbstgefühl ausgehen lassen. Für Kant war das Gefühl etwas lediglich Subjektives, nicht wahrhafte Realität Erschließendes, und deshalb unbrauchbar für die Philosophie. Ähnlich wie den Philosophen vor ihm war ihm das Gefühl ein Zweites. Es entstand für ihn ausgehend von der objektiven Vorstellung eines Gegenstandes als Ausdruck der subjektiven Zuneigung oder Abneigung gegen diesen. Fichte dreht dieses Verhältnis um. Im Gefühl zeigt sich dem Subjekt unmittelbar seine eigene Realität, indem ihm hierin die Beschränktheit und Bestimmtheit seiner Tätigkeit spürbar wird. Und erst von da aus kann es durch verstehende Auslegung zur objektiven Vorstellung des Beschränkenden kommen. Dass das Gefühl, an dem alle Theorie ansetzt, nur von der realen, praktischen Tätigkeit des Subjekts und deren Beschränkung her, also nur im Kontext der praktischen Philosophie, erklärt werden kann, wie unten noch genauer darzustellen sein wird 80, spricht Fichte an dieser Stelle nicht ausdrücklich an. Er betrachtet hier nur die ideale oder theoretische Tätigkeit, das Verstehen, und erschließt als deren Bedingung ein in sich stehendes, ursprüngliches, oder wie er auch sagt, absolutes Verstehen: das Gefühl. Das Gefühl ist die ursprünglichste Form von Verstehen, aber noch nicht das ganze Verstehen. Zwar liegt in ihm schon ein Selbstbezug, aber noch kein verstehender Selbstbezug. Wäre es nur in dieser Unmittelbarkeit, wäre das Selbstgefühl selbst noch kein Wissen und bedürfte dazu eines subjektiven Trägers außerhalb von ihm (W301). Unmittelbares Gefühl und ein Verstehen dieses Gefühls müssen also ursprünglich verbunden sein. Für dieses Verstehen muss sich das Fühlende das Gefühlte entgegensetzen, muss es objektivieren, anschauen. Nur so kann es das Sein des Gefühls setzen. Dafür muss das Licht entstehen, das freie geistige Objektivieren, das Bewusstsein, »der setzende Lichtstral« (W301). Das Licht muss im Gefühl im Ansatz seines Selbstverstehens entstehen, zwar selbst wesentlich frei oder selbständig, aber für uns als etwas notwendig immer schon Vollzogenes faktisch so zu finden und nicht bewusst hervorzubringen sein: »[S]ein Verstehen ist Schöpfer des Lichts: ursprünglich, rein: nicht wieder nachzuschaffen« (W302). Erst im Gegensatz zu dieser Freiheit des Lichts wird das Gefühl in seiner Gebundenheit verstanden. Und erst durch die Anschauung kann die Qualität des Gefühls hervortreten: »Dieser Akt ist schlechthin Eins mit dem materialisieren des Lichts.« (W302) Zwar ist im faktischen 80

Vgl. unten, S. 132–141.

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Selbstbewusstsein ein Selbstgefühl nie ohne Selbstanschauung und deshalb immer schon material oder qualitativ, aber hier geht es Fichte darum, diese immer schon in der Einheit der Momente vorgefundene Situation aus ihren Elementen zu konstruieren, und da lässt sich sagen, dass das Gefühl ohne Anschauung noch nicht in seiner Qualität hervortritt (W300). Wie im Folgenden noch deutlicher werden wird 81, ist die Qualität des Gefühls für Fichte ein Korrelat der Anschauung. Sie wird durch die Anschauung auf der Basis eines apriorischen Systems von Gefühlsqualitäten, ausgehend von einer bestimmten gefühlten Begrenzung der praktischen Tätigkeit, als Anschauung dieses Gefühls gesetzt. In einem dritten Schritt thematisiert Fichte ausgehend vom notwendigen Selbstbezug des Verstehens die frei ins Unendliche weiter reflektierende Tätigkeit. Das Verstehen schaut nicht nur das Gefühlte an und erfährt sich im Anschauen gebunden, sondern es ist ursprünglich bei sich als freies Folgern, als Durchsein. So reißt es sich aus der Gebundenheit der Gefühlsqualität immer zugleich los, eröffnet einen Freiraum für weitere Gefühle, bezieht sie aufeinander und versteht sie so erst wirklich. Diese das Mannigfaltige in einen verstandenen Zusammenhang fügende Tätigkeit ist aufgrund ihrer Freiheit unbegrenzt, geht unendlich weiter – »Unendlichkeit des Durch« (W302). Das zuvor erschlossene geistige Vermögen der Anschauung hat im Unterschied dazu die Eigenschaft, etwas auf einmal und damit in seiner begrenzten Bestimmtheit anzuschauen. Es setzt also die verstandene Mannigfaltigkeit immer in eine abgeschlossene Totalität. Wie Fichte bereits am Anfang der Erlanger Wissenschaftslehre thematisiert hat, muss sich Verstehen in diesen beiden Momenten vollziehen: der Anschauung oder Intuition und dem diskursiven Intelligieren. Diese vollziehen sich faktisch, wenn Verstehen ist. Wie er in der Fortsetzung der Überlegung in der 27. Stunde andeutet, beansprucht er, aus diesen beiden Vollzügen grundsätzlich nicht nur die Verstandesbegriffe, sondern auch die Anschauungsformen ableiten zu können, in denen die im Gefühl erscheinende Realität in eine Welt von Dingen im Raum verstehend entfaltet wird. Diese ist für ihn deshalb immer von beiden Momenten zugleich geprägt, Totalität und Unendlichkeit: die eine Welt, unendlich teilbar in mannigfaltige Objekte; das eine Ding, objektiv angeschaut auf der Basis eines GeVgl. unten die Ausführungen zum System der Sensibilität: S. 120 f. u. zur praktischen Herkunft des Gefühls: S. 132–141.

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fühls, durch die unendliche Tätigkeit ausgedehnt in den Raum und darin konstruiert. Von der Zeit spricht Fichte hier nicht ausdrücklich. Erst in der 29. Stunde bestimmt er die Welt als eine »im Raume, u. in der Zeit« (W311). Die Zeit liegt jedoch genau in der unendlich weitergehenden Tätigkeit, als deren Form. Verschiedene Bemerkungen aus der Phase von Fichtes Denken im Umkreis der Erlanger Wissenschaftslehre verdeutlichen, dass sich für ihn die Zeit ursprünglich aus dem Verstehen und dem Zusammenspiel seiner beiden Grundvollzüge ergibt, indem nämlich das Verstehen einerseits an ein Bild gebunden ist, sich davon aber zugleich lösen und zu einem Anderen, dazu relationalen Bild übergehen muss. 82 In Bezug auf den Raum wird zumindest so viel deutlich, dass dieser für ihn aus der objektiven Anschauung dieses Vermögens der Unendlichkeit entsteht. Fichte kann vom »Raume […] als dem stehenden Correlate der Zeit« (I141) sprechen. Sehr prägnant formuliert er später in den Tatsachen des Bewusstseins von 1810/11: »[D]ie Ausdehnung im Raume ist nichts anderes, denn die Sichanschauung des Anschauenden in seinem Vermögen der Unendlichkeit« (TB23). Wenn die Kraft des Subjekts, unendlich teilen oder auch ausweiten zu können, angeschaut wird, entsteht ganz grundsätzlich der Raum als stehende objektive Sphäre, die als unendlich teilbar und ausweitbar begriffen wird. Es finden sich bei Fichte vielfältige Überlegungen zur Bestimmung und Herleitung der Grundmomente der Räumlichkeit (Linie, Punkt, Dreidimensionalität, Kontinuität usw.). 83 Für die Zwecke dieser Arbeit genügt es nachzuvollziehen, wie es grundsätzlich zur Raumform kommt, und so zu verstehen, dass sie nur eine Form der Anschauung ist. Positiv kommt ihr die Bedeutung zu, eine differenzierte Erkenntnis des Lebens und der Tätigkeit des Subjekts zu ermöglichen. Wenn Fichte beschreibt, wie das Verstehen des Gefühls einzelne Objekte innerhalb der einen Welt begreift, dann kann dies als ein BeiEtwa in Notizen, die Fichte sich in Erlangen als Weiterführung seiner Vorlesung Die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre gemacht hat, bemerkt er, dass aus dem Zusammenspiel der beiden Vollzüge des Verstehens die Freiheit der Reflexion »u. mit ihr eben der eigentl. Grund der Zeit« zu deduzieren sei (GA II,9 12). Entsprechend findet sich in der Erlanger Logik die Aussage: »Das Verstehen der Welt ist Schöpfer der Zeit.« (I163) Recht deutlich beschreibt Fichte diese Entstehung der Zeit als Gestalt der freien Reflexion auch in der Anweisung (vgl. dazu unten, S. 232 f.). 83 Fichtes differenzierte Raumlehre ist bereits vielfältig erforscht worden. Vgl. bes. Simm, 1969; Lauth, 1984, 57–64; Horstmann, 1988 u. Csech, 1999. 82

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spiel für die im Verstehen auftauchenden Verstandesbegriffe genommen werden. Auch hier genügt die grundsätzliche Einsicht, dass diese, indem das Verstehen eines Objektiven von einem Selbstverstehen ausgeht, aus diesem entspringen. Und zwar entstehen sie in einem Entgegensetzen, in welchem das Verstehen sich allein vollziehen kann: Das Ich begreift sich etwa als Einzelnes im Gegenüber zum Nicht-Ich (Kategorie der Quantität) oder als bestimmend oder wirkend in Bezug auf das Nicht-Ich (Kategorie der Kausalität). 84 Zu unterscheiden ist dabei, ob mit einer Kategorie das tätige Ich selbst gefasst wird oder aber das dem Ich gegenüberstehende Objektive. In der Anweisung stellt Fichte heraus, wie aus dem ursprünglich im lebendigen Selbstvollzug erlebten Sein durch das Begreifen, und zwar speziell dadurch, dass alles Unterscheiden und Bestimmen »durch sich selbst das stehende und ruhende Seyn und Vorhandenseyn des charakterisirt werdenden« voraussetzt, der Begriff eines solchen unlebendigen Vorhandenseins entsteht (A97). Dies ist der Grundbegriff der Welt. Fichte spricht im Zusammenhang der Thematisierung dieser apriorischen Formen das Verstehen auch als »ein vollendetes System des Verstehens jenes Gefühls« (W302) an. Dies kann ganz allgemein gemeint sein, es ist aber wahrscheinlich, dass er sich dabei auf das bezieht, was er früher als das »System der Sensibilität« (WH65) benannt hat. 85 Die Erfassung des Gefühls, noch vor seiner EinglieEine solche Herleitung der Kategorien aus einem sich anderes entgegensetzenden und sich auf diese Weise vermannigfaltigenden Selbstverstehen des Ich findet sich etwa in der Wissenschaftslehre nova methodo WK485, und zwar hier in Bezug auf die Kausalitätskategorie. Zum Thema der Kategoriendeduktion insgesamt vgl. die eingehende Untersuchung von Wilhelm Metz (1991), für das beschriebene grundsätzliche Verständnis der Kategorien dort bes 248 f. u. 258 f. Zur Aufnahme des Gefühls in das Denken vermittels der Kategorien vgl. Lauth 1984, 34–47. Sehr prägnant findet sich die Kategoriendeduktion – ausgehend von der GWL – auch bei Thomas Pröpper (2011, 569 f.) beschrieben. 85 Diese Theorie findet sich vor allem in der Wissenschaftslehre nova methodo entfaltet. Zur Notwendigkeit einer Vielheit voneinander unterscheidbarer Qualitäten, etwa Farben und Tönen, vgl. WH58 f.; zur notwendigen Voraussetzung von einem »System der Sensibilität«, einem apriorischen System aller Gefühle, vgl. WH65 f.: »Durch das System der Sensibilität wird alles besondere gefühlt. Das System der Sensibilität wird nicht selbst gefühlt, sondern nur vermittels desselben, das an sich unmittelbar ist, wird das besondere gefühlt […], das besondere Gefühl ist ein B[estimm]tes insofern es dem System der Sensibilität oder dem B[estimm]baren entgegengesetzt ist. […] Die Vergleichung, die mit mehreren Gefühlen geschieht, geschieht also nur mittelbar; durch das System der Sensibilität, welches unmittelbar, 84

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derung in den Raum, die Zeit und die Kategorien, setzt für Fichte voraus, es zumindest dunkel von anderen Gefühlen zu unterscheiden. Es ist daher notwendig, dass ursprünglich eine Vielheit von Gefühlen da ist sowie dass diese Vielheit als ein System apriorisch schon gegeben und zumindest auf eine dunkle Weise zugänglich ist, um das einzelne Gefühl erfassen zu können. Es handelt sich bei dieser Erfassung um das, was oben innerhalb des zweiten Schritts des Gedankengangs der 27. Stunde als Materialisieren des Lichts oder als Hervortreten der Qualität des Gefühls beschrieben wurde. Davon zu unterscheiden sind das bloße passive Betroffensein, Beschränktsein und darin Bestimmtsein, aus denen das Gefühl erwächst, und das Fühlen in seiner noch nicht erfassten Qualität. Diese sind entsprechend noch unabhängig vom System der Sensibilität. So viel zu den apriorischen Formen des Verstehens. Der Gedankengang der 27. Stunde, soweit er bis hierher verfolgt wurde, hat noch nicht ganz geklärt, wie es zur objektiven Erscheinungswelt kommt. In einem vierten Schritt betrachtet Fichte, wie das verstehende Auslegen des Selbstgefühls auf rein faktische Weise geschehen kann. Es ist zwar ein Auslegen des Selbstgefühls und an sich ein Sichselbstverstehen. Als Faktisches kann es sich jedoch noch nicht als solches begreifen. Faktisch versteht es einfachhin, ist also verloren in sein Verstehen von Objekten. Es schaut einfach an, ohne auf die eigene, das Objektive hervorbringende Tätigkeit selbst frei zu reflektieren. Auf diese Weise ist das faktische Selbstbewusstsein immer das Bewusstsein einer objektiven Welt. Denselben Grundgedanken, dass das faktische Verstehen noch nicht ein Sichselbstverstehen als Prinzip des Verstehens sein kann, sondern verloren sein muss in das Verstehen der objektiven Welt, von dem aus es sich nur in einer freien Reflexion erheben kann, bringt Fichte in der Ableitung in der 29. Stunde, um auf die sozusagen äußerste Folge des Gesetzes zu schließen: »eine Welt, im Raume, u. in der Zeit« (W311). Auch in der Erlanger Metaphysikvorlesung findet sich dieses Argument, dass

immer dasselbe, u. als B[estimm]bares etwas leeres u. verworrnes ist […]. Dadurch wird nun dem Dogmatismus aller Vorwand genommen. Selbst die Gefühle kommen nicht von aussen in uns hinein, das System des Fühlens wird a priori als in uns schon vorhanden vorausgesetzt. Nur vermittels desselben entsteht ein Gefühl in uns.« Interessant ist, wie Fichte dieses System dann auch umfassender als apriorisches Organ des Affiziertwerdens überhaupt denkt und ausdrücklich mit dem Leib identifiziert (WH82 u. 131). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Die Ableitung des Leibes – der Leibbegriff

das freie Sichverstehen ein faktisches Sichfinden voraussetzt: 86 »[S]ich verstehen: Da sezt er sonach in einer faktischen Anschauung sich voraus« (I169). Hier wird noch deutlicher die Rolle der Anschauung hervorgehoben: »[D]ie Anschauung sezt das auf sich selbst beruhende, u. in sich verlohrne Seyn« (I169). Dabei gilt: Die »Anschauung ist selber Verstand, oder Durch; nur nicht sich als solcher verstehend« (I169). Beim Aufstieg wurde diese Form der Anschauung bereits thematisiert. 87 Sie ist nicht intellektuelle Anschauung, sondern empirisches Auffassen, eine Anschauung nicht des lebendigen subjektiven, sondern eines toten objektiven Seins. Gleichwohl hängt es immer von einem ursprünglichen, wenn auch nicht als solchen bewussten Selbstverstehen ab. Und es kommt zum empirischen Auffassen auch nur in einem Selbstvollzug. Dieser richtet sich nach festen Gesetzen, wenn diese auch nicht als solche bewusst werden; es ist »ein in sich selbst verlohrnes Verfahren nach diesen Gesetzen« (I169). Für das freie Verstehen ist also notwendig eine Form von Verstehen vorausgesetzt, die nicht frei, bewusst und im Gewahrsein der Gesetze des Denkens von uns gelenkt wird, sondern die sich unwillkürlich vollzieht. Gleichwohl darf sie auch nicht als unfrei in dem Sinn angesehen werden, dass sie irgendwie äußerlich gesteuert wäre. Die Verstandestätigkeit vollzieht sich aufgrund der eigenen inneren Gesetze. Und nur dadurch kann sich auf der Basis dieses faktischen Verstehens die freie Reflexion erheben. Zum Begriff des Körpers Durch die faktische Tätigkeit des Verstandes wird das unmittelbare Verstehen im Selbstgefühl entfaltet vermittels der Anschauungsformen von Raum und Zeit und der Verstandesbegriffe. Es wurde grundsätzlich nachvollzogen, wie es zu ihnen kommt, wie sich im Verstehen eine objektive Welt ergibt und wie Fichte so den Grundcharakter der uns vorfindlichen äußeren Welt herleitet: Sie ist ein räumlich, zeitlich und kategorial geordnetes Sein. Das soll hier im Anschluss an den sonst in der Philosophie üblichen Sprachgebrauch sowie an Fichtes eigene Verwendungsweise als Körper bezeichnet

86 Skizzenhaft findet sich in den Institutiones auch der ganze Gedankengang der 27. Stunde ausgehend vom Gefühlsbegriff (I166 u. 170). 87 Vgl. oben, S. 63–65 u. 71 f.

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werden – in Unterscheidung vom Leib. 88 Neben der Objektivierung und dem Verlust der Lebendigkeit des Subjektiven ist die Räumlichkeit, als äußere Anschauungsform, das Hauptcharakteristikum dieser Sphäre. Dass bis hierher nur ganz allgemein die Dingwelt und noch nicht der Körper eines Vernunftwesens abgeleitet wurde, passt ebenso zum Körperbegriff. Erst zum Begriff des Leibes gehört es wesentlich, dass er Leib eines Subjektes ist. Mit der Körperlichkeit ist sozusagen nur die Außenseite und somit lediglich ein Aspekt des Leibes hergeleitet. Eine Relativierung der Körperlichkeit gegenüber dem subjektiven lebendigen Vollzug, der als Kennzeichen der Leiblichkeit herausgearbeitet werden wird, hat sich schon unmittelbar aus der Ableitung ergeben, indem sie gezeigt hat, wie die objektive Erscheinung aus einer subjektiven Konstitution hervorgeht. Die Relativierung der Körperlichkeit ausgehend von der subjektiven Konstitution Auf die Dimension des individuellen Leibes in seiner Innerlichkeit vor der äußeren Körpererscheinung führt für Fichte auch der Begriff des Raumes selbst, indem er nämlich aus sich auf die subjektive Konstitution verweist. In seiner Erlanger Logikvorlesung macht er darauf aufmerksam, dass wir den Raum nie anders denken können als ausgehend von uns selbst. Konstruieren wir z. B. eine bestimmte Linie, dann bekommt diese ihren bestimmten Ort im Raum und ihre Richtung nur ausgehend von uns als einem ursprünglichen Ausgangspunkt des Raumes. »Ohne diesen Punkth,i an sich selber absolut unveränderlich, u. allgegenwärtig in der Unendlichkeit getragenh,i hat nichts einen Ort, u. man findet im unendlichen Raume nichts wieder.« (I129) Allein ein Punkt als Orientierungsmaß reicht jedoch nicht aus. Eine Linie kann in ihrer Richtung nur ausgehend von einer in ihrer Richtung festen ursprünglichen Linie bestimmt sein (I129 f.). In ihr muss ich ursprünglich verräumlicht sein. Wenn alle Raumbestimmung davon ausgehen muss, kann ich nicht erst sekundär mich selbst in den Raum bestimmen. Jeder Mensch in seiner subjektiven Perspektive »ist schlechthin wo er ist durch absolute Vft. [= Vernunft]; u. durch dieses sein absolutes Wo, geht ihm erst der Raum auf, und dieses Wo ist der Schöpfer des Raums« (I133). So ist durch die Betrachtung der Voraussetzungen der Raumbestim88

Vgl. unten, S. 144 f.

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mung erwiesen, dass sie nur ausgehend von einem Subjekt in dessen ursprünglicher Verortung geschehen kann. Das erste ist nicht die Körperwelt, sondern das erste bin ich in meiner Leiblichkeit. Und auch deren nichtobjektivierbare Innerlichkeit deutet sich von hier aus an. Da alle objektive Raumbestimmung von dieser ursprünglichen Verortung ausgehen muss, kann ich sie selbst nicht objektivieren, nicht äußerlich als Raumobjekt anschauen, sondern nur innerlich vollziehen. Das absolute Wo darf nicht als Punkt im Raum verstanden werden. Es ist meine Positionierung, die dadurch entsteht, dass ich mich ausgehend von meinem Selbstverhältnis, als einem absoluten und aus mir orientierten Ausgangspunkt, in bestimmten Relationen zu dem, was mich begrenzt, befinde – Relationen auf der Ebene des lebendigen Vollzuges, zwar als räumliche angeschaut, selbst aber vorgängig zum Nebeneinander des Raumes. Diese notwendige Rückgebundenheit des Verstehens aller Raumbestimmungen an das Subjekt 89 ist ein sehr deutlicher Hinweis auf die subjektive Konstitution der Raum- und damit der Dingwelt. Der Hauptbeleg ist für Fichte, dass er sie ableitet aus der subjektiven Tätigkeit als Moment ihres Selbstverstehens. Da es für das fichtesche System überhaupt, besonders aber für den Leibbegriff, sehr bedeutsam ist, die Dingsphäre lediglich als Erscheinung und nicht so, wie erscheinend, an sich seiend zu betrachten, ist es von Vorteil, neben dieser Ableitung und der beschriebenen transzendentalen Analyse der Raumvorstellung noch ein weiteres Argument dafür zu betrachten. Als einen der Gründe für die kopernikanische Wende Kants, nicht das Denken von an sich seienden Dingen, sondern die Dinge vom Denken bestimmt sein zu lassen, kann man die Entdeckung der Antinomien der reinen Vernunft ansehen. In seiner Erlanger Vorlesung über Logik und Metaphysik greift Fichte auf Kants erste Antinomie zurück, um die subjektive Konstitution zu belegen (I162 f.): Gleicherweise lässt sich a priori dafür argumentieren, dass die Welt Fichtes Gedanken hier können in Entsprechung gesehen werden zu sprachanalytischen Überlegungen zur Rückbindung von indexikalischen Ausdrücken an das Subjekt mit einer bestimmten Raum- und Zeitstelle, wie sie etwa im subjektphilosophischen Ansatz von Klaus Müller eine wichtige Rolle spielen (vgl. dazu Lerch, 2009, 99– 101). Dort wird der Sprachgebrauch auf das subjektive Verstehen der Raumbestimmung und dieses wiederum auf das Sichverstehen des Subjekts an einem bestimmten Ort zurückgeführt. Bei Fichte wird direkt, nicht ausgehend von der Sprache, für das Verstehen von Raumbestimmungen auf das Sichverstehen des Ich an einem Ort rekurriert und dieses noch näher als unmittelbare Verortung expliziert.

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räumlich unendlich wie dass sie endlich ist. Beides zugleich kann aber nicht wahr sein, wenn die Welt so, wie erscheinend, an sich ist. Sie kann nicht real zugleich endlich und unendlich sein. Versteht man sie jedoch lediglich als Erscheinung, dann handelt es sich dabei um zwei bloße Vorstellungsweisen. Der Widerspruch kann so bestehen bleiben und sogar erklärt werden aufgrund von verschiedenen Denkgesetzen, die einmal diesen, einmal den anderen Schluss erfordern: »Bald denken wir soh,i bald so: wie es kommt. / Diese absoluten Widersprüche […] sind eben die Beweise, daß es da nicht zu Ende ist; u. das höher treibende« (I162). Sie zeigen, dass hier nicht das wahrhafte Sein liegen kann. Es kommt dem Verstehen der Erscheinungswelt, dem »niederen Verstand«, dann freilich gerade in dieser Widersprüchlichkeit ein positiver Sinn zu: »[D]urch sein verwirrendes Spiel soll er uns herauf treiben« (I166). Sich, wie Fichte sagt, höher treiben zu lassen, die subjektive Konstitution zu durchschauen und die wahrhafte Realität allein in das lebendige Sein zu setzen, besitzt für ihn religionsphilosophische Relevanz. In der vierten Vorlesung der Anweisung referiert er deshalb aus der Argumentation der Wissenschaftslehre den Teil, der erklärt, wie es zur objektiven Welt kommt. Das Ziel ist dabei, ein Verständnis für die Einheit des Seins über den Differenzen des Wissens zu wecken. Fichte beginnt wie schon in der dritten Vorlesung mit dem Gedanken des absoluten Seins. Mit ihm ist alles Dasein und wir als das Dasein ursprünglich eins, »ohne eine zwischen beiden liegende Kluft, oder Trennung« (A94). Wir können es in uns finden und in diesem einen göttlichen Sein unsere letzte Erfüllung und Seligkeit. Zu ihm gelangt man aber nur, wenn man sich über die Äußerlichkeit des Gewussten und über dessen Mannigfaltigkeit erhebt und aufhört, diese Sphäre für das eigentlich Reale zu halten. Dies kann zwar allein durch einen festen Glaubensakt geschehen. Wer diesen Glauben jedoch noch nicht gefasst hat oder sich darin unsicher ist, für den ist es sehr hilfreich, zu wissen, wie es zum objektiven Weltsein in seiner Mannigfaltigkeit gekommen ist, und es lediglich als ein äußeres Vollzugsmoment des Geistigen zu begreifen. Grundsätzlich erklärt sich die Mannigfaltigkeit nicht unmittelbar aus dem absoluten Sein selbst, sondern nur aus dem mit ihm ursprünglich unmittelbar geeinten Dasein, und zwar genauer aus dem Erfordernis, dass es sich selbst als bloßes Dasein und nicht das Sein begreift. Dazu gehören die objektivierende Fassung in einem Bild, in einer Charakterisierung, und ein Verstehen derselben im Unterschied zu anderem. Das aber »setzt Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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durch sich selbst das stehende und ruhende Seyn und Vorhandenseyn des charakterisiert werdenden voraus« (A97). Mit dem Stehenden und Ruhenden meint Fichte die Unlebendigkeit des nicht Subjektiven. Er stellt heraus, dass es zunächst etwas dem objektivierten Sein noch Vorgängiges ist. Wie später deutlich werden wird, muss das Verstehen für ihn an eine Begrenzung der Praxis anknüpfen. In ihr ist genau diese ursprüngliche Unlebendigkeit zu finden, die dann zur Auffassung als objektiviertes Ding führt. So verwandelt sich für ihn im Begreifen, das sich an sich auf das lebendige Sein bezieht, dieses in ein stehendes, nicht mehr subjektiv lebendiges, sondern totes vorhandenes und dann objektiviertes Sein. »Jenes stehende Vorhandenseyn ist der Charakter desjenigen, was wir die Welt nennen; der Begriff daher ist der eigentliche Weltschöpfer, […] und nur für den Begriff, und im Begriffe ist eine Welt, als die nothwendige Erscheinung des Lebens im Begriffe« (A97). Die Mannigfaltigkeit erklärt Fichte hier genauso wie in der Erlanger Wissenschaftslehre aus dem Unterscheidenmüssen der Reflexion, die Unendlichkeit der Mannigfaltigkeit aus der Freiheit der Reflexion und die zugleich bestehende Totalität der einen Welt aus der Einheit des Begriffs. Deutlich bestimmt Fichte an dieser Stelle die Bedeutung der Körperwelt auf dem religiösen Weg des Menschen. Sie ist notwendiges Moment der begreifenden Rückkehr zum göttlichen Sein. Als deren faktischer Ausgangspunkt birgt sie jedoch immer die Gefahr, in ihrer Ansicht stehen zu bleiben und sie als die letzte Realität zu nehmen. In der Erlanger Metaphysik-Vorlesung charakterisiert Fichte dieses faktisch Gegebene, mit dem wir anfangen und von dem aus man nur durch die Freiheit der Reflexion und der entschiedenen Willensausrichtung zur Verwirklichung des wahren Seins und Lebens gelangen kann, deutlich als »Dunkelheit« (I169) und »Irrthum«: »Selbst ergiebt sich der Irrthum« – und erst »der Freiheit ergiebt sich die Wahrheit« (I167). Daraus sollte man jedoch nicht vorschnell schließen, dass die Sphäre des Leiblichen – abgesehen davon, dass sie notwendiges Moment des Begreifens ist und durch ihre Widersprüche über sich hinaustreibt – für Fichte eine nur negative Bedeutung im Religiösen hat. Es hat sich schon angedeutet, dass die Leiblichkeit tiefer liegt als die objektivierte Körperwelt. Wie im Folgenden deutlich wird, ist Letztere nur die äußere Erscheinung des Leibes, nur die durch das Denken objektivierte Leiblichkeit. Es wird sich zeigen, dass in der Leiblichkeit selbst das ursprüngliche Leben noch da ist und sie somit einen Zugangsweg zu ihm offenhalten kann. 126

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1.2.2 Der Leibbegriff nach der frühen Sittenlehre von 1798 1.2.2.1 Zum systematischen Zusammenhang und zur Wahl der Textbasis Im vorigen Kapitel fiel auf, dass Fichte in der Erlanger Wissenschaftslehre den Gefühlsbegriff nur im Zusammenhang einer Untersuchung des Erkennens entfaltet als die notwendig vorauszusetzende ursprüngliche Form des Verstehens. Wie es jedoch zum Gefühl kommt, wird nicht geklärt. Für Fichte ist dies allein in der praktischen Philosophie, der Untersuchung des Wollens und Tuns, möglich. Insgesamt wird der Leib in dieser Wissenschaftslehre lediglich von der theoretischen Seite her in seiner zunächst gefühlten und dann objektiv angeschauten und gedachten Form thematisiert. Ursprünglich ist er jedoch für Fichte ein praktischer Vollzug, keine ideale Tätigkeit und nicht deren Produkt, sondern reale Tätigkeit. Wie sich zeigen wird, wird der Begriff des Leibes in seiner umfassenden Bedeutung in Fichtes praktischer Philosophie entfaltet. Es ist verständlich, dass die Wissenschaftslehre als Lehre über das Wissen sich nicht unmittelbar, sondern nur insoweit auf die Praxis bezieht, wie es für ihre Zwecke nötig ist. Indem es in der Wissenschaftslehre von 1805 nur im praktischen Glaubensakt, der getragen ist von einem Sollen, zum wahren Begriff des Absoluten kommen kann, spielt die Praxis hier freilich eine wesentliche Rolle. Erst vom praktischen Glaubensvollzug her kann sowohl die Lehre über das Wissen als auch die sich daraus unmittelbar ergebende Lehre vom Sein ihre Begründung erhalten. In der Ableitung war die praktische Seite entsprechend präsent in der »reale[n] praktische[n] Freiheit« (W308) und in den sie führenden verschiedenen Stufen des Sollens. Die untergeordneten Vollzugsmomente wurden jedoch nur von der Theorie her entfaltet, auch der Begriff der Körperwelt in der 27. und 29. Stunde nur in einer Analyse der Bedingungen des Sichverstehens als Folge oder als »selbstständiges u. einfaches Princip des Verstehens« (W310). Man kann im Gegenstand dieser Analyse zwar den Ort angegeben sehen für die weitere Erschließung des Leibbegriffs auch in seiner praktischen Seite, es müssen dafür jedoch von ihr aus noch die weiteren Bedingungen des Fühlens erhellt werden und es muss dafür die Frage nach dem Sichverstehen als Prinzip eingebunden werden in die Frage nach der Realisation des Prinzipseins. Nachdem durch die Wissenschaftslehre mit der Einsicht in das GrundLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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gesetz des Daseins das Erfordernis dieser Realisation bereits erschlossen ist, besteht die Aufgabe in einer an sie anschließenden Untersuchung darin, ihre Bedingungen zu erhellen. Fichte fasst sie zusammen in einer eigenen Unterdisziplin: der Sittenlehre. Als Sphäre der Sittlichkeit hat er am Ende der 29. Stunde das Sich-selbst-Verstehen als Prinzip bestimmt, indem er dessen Soll als Sittengesetz benannt hat (W311). Und tatsächlich ist das Hauptthema seiner Sittenlehre die Untersuchung der Bedingungen der Verwirklichung und dafür der Erkenntnis der absoluten Selbständigkeit des Daseins. Wie das genauer mit dem zusammenhängt, was man sich gewöhnlich unter einer Sittenlehre vorstellt, einer Lehre über moralische Zwecke und Pflichten, wird sich zeigen. Der zur Erschließung des Leibbegriffs noch fehlende Systemteil findet sich also in der besonderen Wissenschaft der Sittenlehre. Existiert hierzu ein verlässlicher Text, der durchgehend argumentiert, also wissenschaftlich, nicht nur populär gehalten ist, und der zudem die Leibtheorie möglichst umfassend entfaltet? Wirklich geeignet ist dafür nur die Sittenlehre von 1798. 90 Auf sie muss hier zurückgegriffen Zwar finden sich auch in der Anweisung Ausführungen zur Sittenlehre bzw. zur auf dieser Stufe der Wissenschaft stehen bleibenden Wirklichkeitssicht (A107–110 u. 135–164), sie wird jedoch nicht systematisch entfaltet. Dies geschieht zeitnah in Fichtes Vorlesung über die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, hier jedoch nur in den Grundprinzipien. Über den Begriff des Leibes finden sich nur Andeutungen (vgl. etwa P480 f. o. 443–452). Im dritten Kurs der Wissenschaftslehre von 1804 thematisiert Fichte zwar den Leib als Moment des Sichverstehens als eines praktischen Handlungsprinzips (DW344–348 u. an weiteren Stellen). Doch auch dieser Text ist nicht hinreichend für eine Darstellung des Leibbegriffs. Er liefert freilich einige Anhaltspunkte für die Prüfung, inwiefern die Leibtheorie der frühen Phase in der späteren für Fichte noch Gültigkeit hat. Auf den dritten Kurs wird zu diesem Zweck zurückgegriffen werden. Eine eigene Sittenlehre hat Fichte zwei Mal in seinem Leben ausgearbeitet. Die spätere Sittenlehre von 1812 steht der Wissenschaftslehre zur Zeit der Anweisung näher und es würde sich deshalb empfehlen, hier für die fehlenden Systemteile auf sie zurückzugreifen. Doch auch in ihr wird der Leibbegriff nur rudimentär entfaltet. Wie sieht es mit Schriften in zeitlicher Nähe zur frühen Sittenlehre aus? Nur eingeschränkt geeignet ist Fichtes Herleitung des Leibes in der Grundlage des Naturrechts. Sie ist zwar sehr ausführlich, das Naturrecht befindet sich systematisch jedoch auf einem beschränkteren Standpunkt und klärt insbesondere nicht die Rolle des Leibes in Bezug auf das Sollen. Fichte fasst die Disziplin des Naturrechts so, dass es dort überhaupt nicht um ein Sollen an den freien Willen, sondern nur um den durch Naturnotwendigkeit bestimmten Willen geht (S234). Indem Letzterer auch in der Sittenlehre hergeleitet werden muss, ist sie die umfassendere Wissenschaft und erfordert eine tiefere Begründung (S77 u. 199). Sie liegt für Fichte sogar höher als jede andere besondere Wissenschaft (S199). Geeigneter für eine Darstellung von Fichtes

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werden. Da Fichte die Darstellung der Sittenlehre dieser Zeit jedoch in der Anweisung auf eine Stufe der Weltsicht einzuordnen scheint, die noch unterhalb dessen liegt, was er hier als die eigentliche Stufe der Sittlichkeit ansieht (A108), muss sehr genau untersucht werden, inwiefern sich Fichtes Denken später noch weiterentwickelt hat und was dies für den Leibbegriff bedeutet. Es werden sich noch Entwicklungsschritte zeigen, aber nicht derart, dass die Entfaltung des Leibbegriffs in der frühen Sittenlehre schlicht überholt wäre. Sie muss vielmehr nur ergänzt werden. 91

1.2.2.2 Prinzip und Methode der Ableitung Die Sittenlehre von 1798 zeichnet sich durch einen methodisch sehr genauen Ableitungsgang aus. Ausgehend vom Prinzip der Sittlichkeit werden Folgerungen gezogen, indem die Bedingungen seiner Realisation in einer ununterbrochenen Bedingungskette aufgewiesen werden (S83). Das Prinzip ist das Selbstbewusstsein der Freiheit, das sich selbst zugleich eine Aufforderung zur Verwirklichung der Freiheit ist. Durch die Erhellung der Bedingungen seines Vollzugs ergibt sich automatisch erstens die Sphäre, in der es sich verwirklicht und auf die es als Sollensprinzip seine Anwendung findet. Zweitens ergibt sich daraus, was konkret der Inhalt – Fichte spricht auch von der ›Realität‹ – des im Prinzip erst einmal ganz formal aufscheinenden Sollens ist. Die Analyse fasst Fichte deshalb unter den Titel »Deduction der Realität, und Anwendbarkeit des Princips der Sittlichkeit« (S73). Zum Leib führt ihn diese Deduktion als zu einem Teilmoment der VerTheorie des Leibes und seiner Bedeutung als die Grundlage des Naturrechts wären die zeitnah zur frühen Sittenlehre dreimal in Jena gehalten Vorlesungen über die Wissenschaftslehre. Sie gehen unter veränderter Methode im Vergleich zur Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre sehr stark von der praktischen Seite aus (deshalb unter der Bezeichnung Wissenschaftslehre nova methodo) und in ihnen kommt die Leibtheorie in den wesentlichen Elementen zur Sprache. Zum einen ist eine erneute Bezugnahme auf eine Wissenschaftslehre jedoch nicht nötig, nachdem hier die grundlegende Argumentation bereits von der Wissenschaftslehre von 1805 aus entwickelt worden ist. Und zum anderen findet sich hier keine durchgehende Entfaltung des Leibbegriffs, sondern die Vorlesungen enthalten nur verstreute Ausführungen, die zudem aufgrund ihrer Skizzenhaftigkeit und dadurch, dass es sich bei den Texten lediglich um Kollegsnachschriften handelt, weniger verlässlich sind. Ich beschränke mich deshalb im Wesentlichen auf die frühe Sittenlehre. 91 Vgl. dazu unten, S. 210–213. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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wirklichungssphäre sittlicher Freiheit. Dieser erscheint so zugleich in seinem Aufgabecharakter. Es wird im Folgenden also nicht nur der Leibbegriff entfaltet, sondern zugleich – zumindest in Ansätzen – dessen Bedeutsamkeit für den Weg des Menschen zur Sittlichkeit aufgewiesen. Indem dieser, wie sich zeigen wird, ein Teilmoment des religiösen Weges darstellt, ist damit zugleich ein wichtiges Element von Fichtes Beitrag zur Grundfrage der vorliegenden Untersuchung gewonnen. Die Methode der frühen Sittenlehre charakterisiert Fichte in seiner Erlanger Logik-Vorlesung als analytische Methode (I119 f.). Sie schließt vom Prinzip absteigend auf seine Folgen, analysiert diese also aus jenem heraus. Fichte gibt ihr deutlich den Vorzug in Bezug auf Wissenschaftlichkeit. Für populäre Zwecke hält er es jedoch für notwendig, die synthetische flankierend zu verwenden – ebenso in seinen Vorträgen der Wissenschaftslehre. Denn obwohl das höchste Prinzip an sich unmittelbar evident sein muss, so ist es dies gewöhnlich nicht für uns, und wir müssen von den uns unmittelbar evidenten Folgen des Prinzips erst zu ihm aufsteigen. Auch in der Erlanger Wissenschaftslehre kann Fichte nur in der letzten Vorlesung rein analytisch absteigen, während davor synthetisierend zum Prinzip der Ableitung erst aufgestiegen werden muss. Sowohl der synthetische wie auch der analytische Gang gehören freilich zur transzendentalen Methodik der Reflexion auf die Bedingungen. Im ersten wird das Prinzip als Bedingung des zunächst faktisch Vorgefundenen erschlossen, im zweiten absteigend dessen Folgen als notwendige Bedingungen seines Vollzugs aus ihm herausanalysiert. In der Sittenlehre folgt Fichte der zweiten Methode. Die ihr entsprechend genaueste Argumentation zur Ableitung des Leibes findet sich im genannten Kapitel der »Deduction der Realität, und Anwendbarkeit des Princips der Sittlichkeit« (S73). Daneben finden sich noch zwei weitere Begründungsgänge 92, die in der folgenden Darstellung ergänzend mit herangezogen werden sollen. Zuvor jedoch zum Ausgangspunkt der Ableitung: Auch die Grundbestimmungen des Prinzips der Sittlichkeit selbst, nicht nur die Folgerungen daraus, werden von Fichte analytisch aufgewiesen, und zwar, indem er sie aus der höchsten Einsicht des Selbstbewusstseins, wie sie die Wissenschaftslehre erschließt und wie sie letztlich Vgl. zum einen in der Einleitung S25–30 und dann in der systematischen Aufstellung der Bedingungen des Vollzugs des erschlossenen Prinzips S194–197.

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nur unmittelbar evident sein kann, folgert. 93 Um nur kurz den Grundgedanken anzudeuten: 94 Der ursprüngliche Selbstbezug des Vernunftsubjekts – Bezug nur auf sich, ohne Objekt, reine Tätigkeit, ohne Nichttätigkeit – kann sich nur bewusst fassen in einem Gegenüber von Tätigkeit zu Nichttätigkeit, Subjekt zu Objekt. Das Subjekt in Bezug auf das es nun beschränkende Objekt begreift sich als Freiheit, als Vermögen der Selbständigkeit. Da es jedoch ursprünglich Tätigkeit, sein ursprüngliches Objektives reine Tätigkeit ist, kann es sich nicht nur als Vermögen begreifen, sondern die Freiheit ist sich unmittelbar selbst Gesetz zu reiner Tätigkeit, in reiner Selbständigkeit. Da es Freiheit ist, ist das Gesetz ein Sollen und entspringt es einer Selbstgesetzgebung. Da die Selbständigkeit jedoch ihr Wesen ist, ist es ein absolutes Gesetz. Diese Kurzfassung des Gedankens soll hier mehr der Darstellung und weniger der Begründung dienen, da Fichtes wissenschaftliche Grundlegung bereits von der Erlanger Wissenschaftslehre her nachvollzogen wurde. Wichtig ist es für die Anknüpfung des Gedankens jedoch, genau zu zeigen, wie das hier aufgestellte Prinzip den Resultaten dieser Wissenschaftslehre entspricht. Als Teilmoment der Verwirklichung des Gesetzes wurde dort herausgearbeitet, dass sich das faktische Ich als »selbstständiges u. einfaches Princip des Verstehens« verstehen muss (W310). Es ist an sich absolut selbständig und in diesem Selbständigsein ist es unmittelbar Bild Gottes (W308). Auch ist es ursprünglich rein auf sich in diesem selbständigen Grundsein bezogen, ist es ein ursprünglich bei sich seiendes Ich. Hier tritt Gott außerhalb von sich wie er in sich ist, hier wird göttliches Leben gelebt. Deshalb gilt es dies zu erkennen und zu verwirklichen, auch

Vgl. S39 f.: Der Beweis des grundlegenden Theorems kann nur an unmittelbare Evidenzen des Selbstbewusstseins anknüpfen. Er entspricht damit, wie Fichte selbst klarstellt, der Wissenschaftslehre als grundlegender Disziplin – er steht »auf dem gemeinschaftlichen Grunde fest« (S41) und ist selbst Wissenschaftslehre (S35). Als besondere Wissenschaft erweist sich die Sittenlehre jedoch darin (S34), dass sie nicht den Zusammenhang des Selbstbewusstseins mit allen grundlegenden Bewusstseinsmomenten erörtert und klärt (S40 f.). Deshalb kommt es auch vor, dass Fichte im Gedankengang der aufs Praktische ausgerichteten Sittenlehre auf Ergebnisse dieser grundlegenden Erörterung, insbesondere in Bezug auf die theoretische Philosophie, zurückgreift (z. B. S77 u. 122 f.). 94 Für diese kurze Argumentation stütze ich mich auf S64, wo Fichte den vorher differenziert ausgebreiteten Gedanken noch einmal kurz und zugespitzt auf das, was sich von den Grundlagen seines Systems her ergibt, darstellen möchte. 93

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wenn das nur ein Teilmoment ist und es darüber hinaus darum geht, sich dabei als bloßes Bild Gottes zu verstehen. Die praktische Seite wird zwar in der Erlanger Wissenschaftslehre nicht so ausdrücklich benannt, sie gehört aber selbstverständlich dazu. Das Sicherkennen setzt nun ein faktisches Verstehen voraus (W310). Zum Sichverstehen kommt es von da aus aber nur durch Freiheit und es muss dies getragen sein von einem Sollen. Dieses Sollen nennt Fichte das Sittengesetz. Das bis dahin Aufgewiesene entspricht dem Prinzip der Sittlichkeit der frühen Sittenlehre. In ihm liegen ebenso die ursprüngliche absolute Freiheit und das an sie gerichtete Gesetz, sie zu erkennen und sich allein zum Zweck zu setzen. Das Sittengesetz in der Erlanger Wissenschaftslehre bekommt aber zusätzlich noch eine weitere wesentliche Bestimmung. Das liegt daran, dass hier sogleich die faktischen Bedingungen des freien Sichverstehens mit angegeben werden: eine faktische Mannigfaltigkeit von Ich, die in einer von Mannigfaltigkeit geprägten Welt erscheinen. Da das ursprüngliche Dasein des Absoluten die überindividuelle und über die weltliche Mannigfaltigkeit erhabene Vernunfteinheit ist, zielt das Soll auf die Erhebung aus der Mannigfaltigkeit in diese Einheit. In der Jenaer Sittenlehre wird diese spezielle Gestalt des Sittengesetzes am Anfang nicht thematisiert, weil die genannten Bedingungen erst später aus dem Prinzip entfaltet werden. Dann wird jedoch auch das Prinzip daraufhin konkretisiert. In der folgenden Ableitung kann der Aspekt der Erhebung zur Einheit erst einmal vernachlässigt werden und wird erst wieder aufgenommen, wenn es um die Herleitung der interpersonalen und sittlichen Bedeutsamkeit des Leibes geht.

1.2.2.3 Ableitung des Leibes Begrenzte Tätigkeit als Tiefendimension der Körpererscheinung Ausgehend von der 27. Stunde der Erlanger Wissenschaftslehre wurde gezeigt, wie Fichte das Bewusstsein der Körperwelt aus dem ursprünglichen Selbstverstehen im Gefühl und seiner unwillkürlichen Auslegung in den Anschauungsformen und Kategorien als notwendiges Moment des Verstehens, also innerhalb der theoretischen Philosophie, ableitet. Hier ergibt sich das Materielle nun als notwendig vorauszusetzendes Moment der Realisation von selbstbewusster Freiheit. Dabei wird seine praktische Tiefendimension erschlossen. Von 132

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ihr her wird auch erst erklärbar, wie es zum Gefühl kommt, von dem die Theorie bedingt ist. Wie begründet Fichte, dass Freiheit nur als Wirken in der Sinnenwelt gedacht werden kann, dass eine Sinnenwelt als Objekt der freien Tätigkeit vorausgesetzt werden muss? Der Gedankengang erstreckt sich über die §§ 4–7. Ausgehend von diesem Textabschnitt sollen im Folgenden die wesentlichen Schritte dargestellt werden. Fichte knüpft unmittelbar an das Prinzip der Sittlichkeit an und folgert daraus. Und zwar bezieht er sich zunächst auf den einen Teil des Prinzips: das Selbstbewusstsein des Vermögens absoluter Freiheit. 95 Die grundlegende Einsicht für den Aufweis einer Bezogenheit der Handlung auf die Sinnenwelt liegt für Fichte in § 4 darin, dass das Bewusstsein immer auf einen Gegenstand – ein Objektives, wie er es hier nennt – bezogen ist, oder, anders ausgedrückt, dass sich das Denken, soll es etwas Bestimmtes denken, immer auf etwas bezieht, das es denkt, und dieses Etwas sich, als dem Subjekt des Denkens oder auch der Tätigkeit des Denkens, gegenüberstellt. So auch, wenn es sich als frei denkt, d. h., nicht nur seine Freiheit intellektuell anschaut, sondern sich bestimmt denkt, mit der Fähigkeit zu wählen. Das Ich ist dabei auf etwas bezogen, das es nicht sich als idealer Tätigkeit zuschreiben kann. Es kann es aber auch nicht sich als realer Tätigkeit zuordnen, weil ja nur die Wahlmöglichkeit vorgestellt und noch nicht gewählt wird. Fichte setzt hier den Unterschied zwischen idealer und realer Tätigkeit, zwischen Erkennen und Wollen, zwischen Theorie und Praxis, wie er ihn im folgenden § 5 erklärt, voraus: Das Ich ist für ihn ursprünglich beides, Denken und Wollen. Beide sind als Selbsttätigkeit zu verstehen. Ihr Unterschied ist zu bestimmen immer in Bezug auf das Andere. Das Wollen, die reale Tätigkeit, ist das, was durch das Subjektive erkannt wird, dem es als Objekt gegenübersteht, und das Denken ist das, welchem, als Subjektivem, das Objektive vorschwebt, welches das reale Wollen erkennt. Näher erklärt werden kann es nicht. Hier nun soll sich das Subjektive nicht einfach auf das Wollen des Subjekts als Objekt beziehen, wobei es sich einfach um den rein unterschiedslosen Selbstbezug des Subjekt-Objekts handeln

Das Selbstbewusstsein des Vermögens wird bei Fichte nicht aus dem Sittengesetz abgeleitet, sondern es ist der eine Teil des Prinzips der Sittlichkeit selbst, der synthetisch vereinigt ist mit dem Gesetz. Das Besondere der fichteschen Fassung dieses Prinzips ist, dass nicht nur die Freiheit aus dem Sollen folgt, sondern auch das Sollen aus der Freiheit (S64 f.).

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könnte, sondern es soll ein mögliches Wollen vorstellen. Sein Objekt ist also nicht nur nicht der idealen, sondern auch nicht der realen Tätigkeit zuzuschreiben. Fichte bezeichnet es in diesem Sinne als NichtIch und als etwas außer dem Ich. Das Ich stellt zwar sich als wählend vor, muss sich jedoch auf eine Weise vorstellen, dass es sich dabei nicht rein auf sich, das lebendig tätige Subjekt selbst, bezieht, sondern auf etwas Objektives. Dieses Objektive in seiner ursprünglichen Form wird später der Leib sein. Es ist das Ich selbst, aber in der Sphäre der Objekte und somit weder ideale noch frei wollende reale Tätigkeit. In diesem Sinne ist hier zunächst einmal vom Nicht-Ich die Rede. Fichte bestimmt dieses dann weiter: Das Vermögen der Freiheit kann nur gedacht werden als Vermögen der Wahl, und eine Wahl nur als Wahl zwischen verschiedenen wirklichen und bestimmten Handlungen. Um verschiedene Handlungen entgegensetzen zu können, muss man sie auf ein Identisches beziehen. Dieses ist der Gegenstand überhaupt oder, wie Fichte sagt, die Objektivität, mit der allein das Denken möglich ist und die als Nicht-Ich bestimmt wurde. Dieses Nicht-Ich ist also ein identischer und in den Veränderungen unveränderlicher Stoff. Indem die reale Wirksamkeit nur vermittels dieses Stoffs gedacht wird, kann sie nie gedacht werden als ein Erschaffen oder Vernichten des Stoffs, sondern nur als dessen Formierung. Sie richtet sich also immer auf diesen Stoff und ist durch ihn beschränkt. Und indem unsere realen Handlungen nur durch etwas Reales beschränkt werden können, ist dieser Stoff als etwas Reales zu denken, das außerhalb des Ich Objekt des Handelns ist und dieses beschränkt. Auf diese Weise begründet Fichte die Grundthese von § 4: »Das Vernunftwesen kann sich kein Vermögen zuschreiben, ohne zugleich etwas ausser sich zu denken, worauf dasselbe gerichtet sey.« (S83) So muss ich es zumindest denken. Ob dieser Vorstellung auch ein realer Bezug auf dieses mich Beschränkende entsprechen muss, klärt Fichte erst in einem zweiten Schritt in § 5, wenn er dafür argumentiert, das Vernunftwesen könne sich kein »Vermögen der Freiheit zuschreiben, ohne eine wirkliche Ausübung dieses Vermögens, oder ein wirkliches freies Wollen, in sich zu finden« (S88). Bis dahin wurde für das Denken des Vermögens der Freiheit nur ein mögliches Wollen entworfen. Aber – wie Fichte den Gedanken weiterführt – ein solches Entwerfen ist nur möglich als Reproduktion eines ursprünglich erfahrenen wirklichen Wollens. Zwar gehört auch zu diesem wirklichen Wollen die freie Tätigkeit des 134

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Denkens, insofern ein Wollen nur dann frei ist, wenn es sich frei das Ziel bestimmt, also einen Zweckbegriff entwirft. Das wirkliche Wollen selbst darf dabei aber nicht Produkt der idealen Tätigkeit sein, sondern muss mir unmittelbar objektiv gegeben sein. Und ich muss dabei gebunden sein an seine Anschauung und darf nicht ein freies Entwerfen vollziehen. Diese Anschauung, weil es eine Anschauung der geistigen Tätigkeit selbst sein muss, ist intellektuelle Anschauung. Allein intellektuelle Anschauung – wie Fichte in § 6 den Gedanken weiterführt – schaut aber nur rein die Tätigkeit ohne deren wirkliche Bestimmtheit an. Durch Tätigkeit ist Tätigkeit nicht zu bestimmen, sondern nur durch ihr Entgegengesetztes, ihre Beschränktheit. Ein wirkliches Wollen kann also nur aufgefasst werden, wenn zugleich mit der intellektuellen Anschauung des Wollens dessen Begrenztheit aufgefasst wird. Ein solches Auffassen der bestimmten Begrenztheit muss also zusätzlich vorkommen. Fichte nennt es im Unterschied zur intellektuellen Anschauung Gefühl. 96 Und er sieht in dieser Auffassung der Begrenztheit das Phänomen des sinnlichen Gefühls abgeleitet. Ein einzelnes Gefühl reicht freilich nicht für die Wahrnehmung der Freiheit. Ein freies Wirken, eine Tätigkeit auf die Beschränkung, kann nur aufgefasst werden, wenn nicht lediglich Beschränkung, sondern Veränderung der Beschränkung in einer Sukzession von Beschränkungen gefühlt wird. Nur als eine solche zeitlich erstreckte Fichte bestimmt in § 5 deutlich den Zusammenhang: Das Wollen selbst, weil es einfach nur Tätigkeit ist, kann nicht gefühlt, sondern nur intellektuell angeschaut werden; nur dessen Begrenzung wird gefühlt (S91). Wie er in § 4 herausstellt, ist die intellektuelle Anschauung der Freiheit dabei auch nicht selbst als abhängig vom Gefühl zu betrachten. »Die Freiheit ist unser Vehiculum für die Erkenntniß der Objecte; nicht aber umgekehrt die Erkenntniß der Objecte das Vehiculum für die Erkenntniß unsrer Freiheit.« (S85) Zwar findet die wirkliche intellektuelle Anschauung, indem die Tätigkeit von uns endlichen Subjekten immer schon begrenzt ist, nie ohne ein Auffassen einer Bestimmtheit statt, und ist somit die in der philosophischen Reflexion erreichte intellektuelle Anschauung als eine Abstraktion zu betrachten (S60). Zwar ist das ausgehend von einer gefühlten Beschränkung erfolgende empirische Selbsterfassen immer die Bedingung für die reflexive Erfassung der intellektuellen Anschauung, weil ohne Beschränkung überhaupt kein Bewusstsein möglich ist. Die gefühlte Beschränkung und das von da aus gebildete Objektbewusstsein ist jedoch nicht Bedingung für das primäre und ursprüngliche Beisichsein des Wissens. Dieses ist vielmehr sowohl für alle sekundäre Reflexion auf dieses Beisichsein sowie für jedes Objektbewusstsein immer vorauszusetzen. Nur in dem Sinn ist es zu verstehen, wenn Fichte in § 6 schreibt: »Die intellectuelle Anschauung […] ist nicht ohne die sinnliche, und die letztere nicht ohne ein Gefühl möglich.« (S94)

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Kausalität in der Sinnenwelt kann ich ein wirkliches Wollen ursprünglich erfassen und mir von daher Freiheit zuschreiben. Auf diese Weise begründet Fichte die These von § 6: »Das Vernunftwesen kann keine Anwendung seiner Freiheit, oder Wollen in sich finden, ohne zugleich eine wirkliche Kausalität ausser sich, sich zuzuschreiben.« (S93) In § 7 untersucht Fichte weiter, unter welchen Bedingungen die aufgewiesene Zuschreibung einer wahrgenommenen Kausalität möglich ist: Die Wahrnehmung meiner Kausalität fällt in die Zeit, da sie nur als eine Veränderung von Beschränkung wahrgenommen werden kann. Und sie fällt in die Zeit, weil ich überhaupt nur in der Zeit etwas Bestimmtes denken kann. 97 Sie stellt dabei nicht nur einen Zeitpunkt dar, sondern eine Sukzession, wie überhaupt Zeitlichkeit nicht ausgehend von Zeitpunkten, als deren Aneinanderreihung, sondern nur von einer Dauer her gedacht werden kann. Zugleich ist jedoch die Dauer dadurch charakterisiert, dass sie durch Zeitpunkte unendlich abteilbar ist, und zwar durch solche, die einander äußerlich sind und in einer Reihe liegen. In einem Zeitmoment kann die Kausalität also nur wahrgenommen werden, wenn dieses als abteilbar durch einander äußerliche Zeitpunkte verstanden wird. Zwar liegt die Abteilung von verschiedenen Zeitmomenten in der Reflexion. Diese muss aber bereits eine abteilbare, d. h., von qualitativen Unterschieden geprägte Empfindung vorfinden. Auch wenn dies in der Empfindung noch als eine stetige Veränderung liegt, ohne Sprünge, wie auch die Zeit selbst stetig ist und nur durch die Reflexion Abteilungen erfährt, so ist sie doch selbst von einer auseinander liegenden Mannigfaltigkeit geprägt. Woher kommt sie? Die in der Abteilbarkeit liegende Mannigfaltigkeit kann nicht durch die ideale Tätigkeit gesetzt sein, weder darin, dass es sie überhaupt gibt, noch in ihrer bestimmten Reihung, denn sie soll ja wahrgenommen werden. Zugleich kann sie jedoch auch nicht durch die reale Tätigkeit gesetzt sein, denn das Wollen will ursprünglich nur Tätigkeit und eine begrenzte Tätigkeit nur, wenn sie ihm vorgegeben ist als Mittel, ihren eigentlichen Zweck zu realisieren. Fichte argumentiert hier auch ganz allgemein damit, dass in der Tätigkeit des Subjekts als solcher keine Mannigfaltigkeit liegt. Es muss also eine Mannigfaltigkeit auf der Seite der Beschränkung der Tätigkeit sein. Der Widerstand der Tätigkeit ist also ohne unser Zutun in einer Weise bestimmt, dass er unsere Tätigkeit 97

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Vgl. dazu oben, S. 118–120 zur Herleitung der Zeit.

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in einer Reihe begrenzt. Und indem, damit Freiheit möglich ist, mehrere Möglichkeiten der Kausalität in der Sinnenwelt gegeben sein müssen, müssen von jedem Punkt aus mehrere mögliche Widerstandsreihen unabhängig von uns bestimmt sein. Das so Abgeleitete entspricht unserer gewöhnlichen Erfahrung, auf die Fichte zur Vorbereitung des Beweises in § 7 aufmerksam macht. Unserem Handeln ist immer etwas vorgegeben. Wir können nicht Materie hervorbringen oder vernichten, sondern nur formen. Und auch die Formung knüpft an bestimmte vorgegebene Qualitäten an. Wir finden nicht nur einen Stoff überhaupt, den wir willkürlich bearbeiten könnten, sondern einen von sich her bereits bestimmten Stoff, der uns verschiedene Handlungs- und Empfindungsmöglichkeiten vorzeichnet. Unsere Zwecke können wir nur unter Berücksichtigung dieser vorgegebenen Mittel verwirklichen. Wir können sie deshalb auch meist nicht unmittelbar bewirken, sondern nur durch eine bestimmte Abfolge von Mittelgliedern hindurch. In diesem Zusammenhang führt Fichte den Begriff des Leibes ein (S99 f.). Den Punkt, an dem wir unmittelbar aktuell in der Widerstandsreihe stehen und in Bezug auf eine Begrenzung tätig sind, nennt Fichte den Leib. In ihm haben wir unmittelbar Kausalität in der Sinnenwelt. Zwar besteht der Leib, wie wir ihn aus der Erfahrung kennen und wie er später auch noch abgeleitet werden wird, nicht nur aus diesen unmittelbaren Eingriffspunkten. Auf solche muss sich seine Wirkung jedoch zurückverfolgen lassen und diese sind hier abgeleitet. Den Leib in diesem speziellen Sinn nennt Fichte hier schon den »articulirten Leib« (S100). Diese Benennung wird sich aber erst später erklären. 98 Von der bisherigen Ableitung her bleibt auch noch offen, ob nur einer oder ob mehrere solche Eingriffspunkte gegeben sein müssen. Zunächst ist von Fichte das Materielle hergeleitet worden als das, als was sich die ideale Tätigkeit das Nicht-Ich denken muss, als Stoff, auf den das Handeln sich bezieht. Das ist sozusagen der Leib, wie er selbst Materie innerhalb einer materiellen Welt ist. Dann ist das Nicht-Ich als die reale Begrenzung der Tätigkeit des Subjekts bestimmt worden, von der aus, vermittels eines Gefühls, die Vorstellung des Nicht-Ich gebildet wird. Und damit ist die Grundbestimmung des Leibes bei Fichte erreicht: Er ist unser beschränktes Tätigsein. Wir, als ursprünglich reine, unbegrenzte Tätigkeit, werden 98

Vgl. unten, 163 f.

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– ohne dass dadurch die Unbegrenztheit schlechthin verloren gehen würde – begrenzt. Begrenzung ist dabei zunächst zu verstehen als Einschränkung der ursprünglichen Tendenz des Ich rein zu Tätigkeit, als Einschränkung des vom sittlichen Willen her zu verstehenden Wollens, das rein um des Wollens willen will. Durch die Beschränkung wird die Tätigkeit ein Wirken auf die Begrenzung. Und sie wird somit auch Wirken auf das begrenzende Andere. Umgekehrt wird die Begrenzung zu einer Begrenzung des Wollens, das danach strebt und darauf hinwirkt, dass die ganze Wirklichkeit, auch außerhalb des eigenen Ich, nach dem reinen Willen bestimmt ist. Weil durch die Begrenzung die ursprüngliche reine Willensausrichtung verdeckt wird 99, verwandelt sich die Tätigkeit zudem – zumindest in einer äußeren Sphäre oder auf einer zweiten Ebene – in einen Willen, der einfach wirken will, dem es um Freiheit im Sinne der Macht geht. Und die Begrenzung wird eine Begrenzung dieser Macht. Dass wir dann diese Begrenzung unseres Wirkens auch als räumliche Begrenzung erleben, erklärt sich für Fichte aus den Gesetzen der Vorstellung. Die Räumlichkeit ist Erscheinung. Begrenzung ist zugleich als Bestimmung zu verstehen. Dafür wurde sie abgeleitet. Eine Erkenntnis der Tätigkeit kann nur als eine bestimmte entstehen, und Bestimmtheit bedeutet immer Begrenzung. Etwas ist nur im Unterschied zu anderem bestimmt. Als Bestimmtes kann etwas nicht mehr das Ganze sein, sondern nur ein Begrenztes. Die begrenzte Tätigkeit ist das Medium unseres Wirkens, und sie ist das Medium unseres Erkennens. Dazu reicht es nicht, dass eine Begrenzung stattfindet, sondern sie muss aufgefasst werden, und zwar, weil hier die Erkenntnis überhaupt anfängt und Freiheit ohne Erkenntnis sich nicht ereignen kann, unmittelbar. So gelangt Fichte in diesem Zusammenhang zum Gefühlsbegriff. Das Sinnengefühl in dieser Unmittelbarkeit ist bereits von der Erlanger Wissenschaftslehre her thematisiert worden als Bedingung und Ausgangspunkt des Verstehens. Auch in der Sittenlehre führt Fichte ableitend zum Gefühl durch eine Analyse der Bedingung des Erkennens, nun aber konkret – innerhalb der Frage nach der Möglichkeit der Realisierung der Freiheit – in einer Analyse der Bedingungen der Erkenntnis der Freiheit. Von da aus wird das Gefühl als Auffassen der bestimmten Beschränkung im Erleben des beschränkten Freiheitsaktes weitererklärt. Und indem Fichte alles Erleben als Erleben der eigenen Tätig99

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Vgl. dazu unten, S. 152 f.

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keit begreift, gilt diese Erklärung für jedes Gefühl. Das ursprüngliche Sichverstehen im Gefühl ist somit näher als ein Sichverstehen in der eigenen begrenzten praktischen Tätigkeit bestimmt. In dieser Beschränkung liegt der Ursprung des Gefühls und von ihm ausgehend der ganzen Erscheinung der Körperwelt. Abgesehen davon, dass Fichte das Ich ursprünglich als Praxis begreift und daher die Erkenntnis nur Erkenntnis der Praxis – und zudem für die Praxis – ist, lässt sich für ihn auch in einer Analyse des Erkennens allein die Möglichkeit des Zustandekommens von Erkenntnis ohne Einbeziehung der Praxis nicht erklären. Im Unterschied zur Erlanger Wissenschaftslehre thematisiert Fichte in seiner ersten Wissenschaftslehre, der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794, auch diesen fundamentalen Teil der Konstitution der Vorstellung und weist auf die Abhängigkeit des Theoretischen vom Praktischen hin. Wenn er in den Korollarien des § 7 der frühen Sittenlehre grundsätzlich über das Ich feststellt, es sei »für dasselbe ein Nicht-Ich lediglich unter der Bedingung, daß das Ich wirke; und in dieser seiner Wirkung Widerstand fühle« (S94 f.), und wenn er darauf hinweist, dass das Nicht-Ich nicht aus einer Wirkung des Nicht-Ich erklärt werden könne, so stehen im Hintergrund seine diesbezüglichen Überlegungen in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Nachdem sich dort in den ersten drei Grundsätzen ergibt, dass das Ich zwar ursprünglich rein auf sich bezogen sein muss, faktisch jedoch nie nur in dieser Unendlichkeit ist, sondern sich immer schon in einem Bezug zu Nicht-Ich und damit als endliches findet, versucht Fichte dies zu erklären. Idealistisch, d. h. durch eine rein subjektive Setzung, kann dies für ihn nicht geschehen. Aus einer rein ichlichen Subjektivität kann nicht ursprünglich frei ein Objekt hinaus projiziert werden. Es kann dazu aber auch nicht rein realistisch kommen in dem Sinn, dass ein Objektives unabhängig vom Ich in es gesetzt und fertig von ihm vorgefunden wird. Ein Objekt ist immer vom Subjekt selbst gesetzt. Wie ist es dann möglich? Das Bewusstsein kann zwar nicht durch ein von außen in es gesetztes fertiges Objekt bestimmt werden, wohl ist aber diese Bestimmung möglich, wie Fichte es formuliert, in Form einer »Aufgabe für eine durch dasselbe selbst in sich vorzunehmende Bestimmung« (GWL355). Die Lösung des Problems liegt für Fichte darin, die Passivität in Bezug auf das Nicht-Ich nicht auf der theoretischen, sondern auf der praktischen Ebene anzusiedeln, als eine Begrenzung der praktischen Tätigkeit. Zur Theorie kommt es, indem diese Begrenzung unmittelbar gefühlt Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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wird und zugleich eine Aufforderung darstellt, sich selbst zu bestimmen, d. h., die gefühlte Begrenzung aufzufassen. Diese Lösung ist vergleichbar mit der, welche Fichte – auf einer höheren Ebene – im Aufstieg der Erlanger Wissenschaftslehre findet: Wegen der Absolutheit des Lichts kann das absolute Grundsein und darin das Absolute nicht als eine fertige Erkenntnis von außen in es gesetzt werden, sondern nur in der Gestalt eines Sollens, dem in einem nicht erkennenden, sondern praktisch sich vollziehenden Glauben entsprochen wird. Die Vermittlung geschieht im Gefühl – hier einem Sollensgefühl –, das anfänglich kein Objekt ist. Das Gefühl liegt, wie Fichte dies in der Erlanger Wissenschaftslehre für das Sinnengefühl herausstellt, nicht nur vor dem Denken, sondern auch vor der Anschauung. Man könnte vielleicht argwöhnen, dass dadurch das Problem nur verschoben wird. Denn diese Begrenzung der praktischen Tätigkeit muss ja doch wieder als eine Wirkung von außen gedacht werden und so wird wieder der Geist in ein äußerliches Verhältnis gesetzt. Aber dabei würde man übersehen, dass man dies zwar so denken muss, dass dadurch aber die ursprüngliche Ebene schon verfehlt ist, in die man nicht denkend eindringen kann. Will man ihr gerecht werden, darf man das Verhältnis gerade nicht denken. Das Objekt kann nicht ins Subjekt gesetzt sein. Aber, wie Fichte in den genannten Korollarien herausstellt, kann genauso wenig die Begrenzung der praktischen Tätigkeit als eine Wirkung in es gesetzt sein. Sie kann nicht als eine im Subjekt vorkommende fremde Tätigkeit verstanden werden. Die selbständige Tätigkeit ist in sich nur selbständig. Die Begrenzung ist deshalb nur als ein Anstoßen der eigenen praktischen Tätigkeit an einen Widerstand zu denken. 100 »Wenn das Nicht-Ich auf uns einwirkt, so geschieht es nicht auf unserm Gebiete, sondern auf dem seinigen; es wirkt durch Widerstand, welcher nicht seyn würde, wenn wir nicht zuerst darauf eingewirkt hätten.« (S95) Erschlossen werden muss nachher zwar freilich eine aktive Wirkung des Nicht-Ich, und indem diese, wie sich zeigen wird, als wirklich von einem Selbständigen herkommend gefasst werden muss, hat diese Zuschreibung auch ihre Berechtigung. Aber gefühlt werden kann nur ein Anstoßen der eigenen Tätigkeit. 100 Mit dem Bild des Anstoßens versucht Fichte in der Grundlage das Gemeinte zu fassen. Es müsse lediglich »ein Anstoß für das Ich vorhanden seyn, d. h. das subjektive muß, aus irgend einem nur ausser der Thätigkeit liegenden Grunde, nicht weiter ausgedehnt werden können« (GWL355).

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Die Frage, wie der Zusammenhang zwischen meiner eigenen Tätigkeitssphäre und dem, was mich beschränkt, verstanden werden muss, ja woher sich überhaupt die bestimmte Beschränktheit erklärt, die ich für mein Handeln voraussetze, behandelt Fichte in der Sittenlehre zwar. Da sich gerade in diesem Punkt jedoch seine Theorie noch entscheidend weiterentwickelt auf dem Weg zur späten Wissenschaftslehre, soll auf diese Thematik erst in dem Kapitel eingegangen werden, das sich mit diesen Veränderungen beschäftigt. 101 Der Leibbegriff und die ethische und religiöse Bedeutung des Leibes können auch erst einmal unabhängig von der Klärung dieser Fragen bestimmt werden. Mit dem betrachteten Gedankengang aus der Sittenlehre konnte das Verständnis der Körperwelt, wie es ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre entwickelt wurde, als ein Raum, gefüllt mit Gefühlsqualitäten, die kategorial zu Dingen zusammengefasst sind, eine wesentliche Vertiefung erfahren. Der Raum ist ursprünglich gefüllt mit unserer Tätigkeit, mit unserer Kraft und mit der Begrenzung, auf die diese wirkt. Dabei geht nicht der Raum der begrenzten Tätigkeit voraus, sondern sie geht ihm voraus und wird, nachdem sie nur räumlich begriffen werden kann, in den Raum hineingedacht. Die eigene Tätigkeit wird daneben auch intellektuell angeschaut – anders als die Tätigkeit des Begrenzenden, die nur ausgehend vom Erleben der Begrenzung erschlossen und im selben Raum vorgestellt wird. Indem die Tätigkeit in ihrer Begrenztheit, wie sie unsere Leiblichkeit ausmacht, ausgehend von der Bestimmung des Subjekts überhaupt als Tätigkeit verstanden wurde, konnte sie zudem bereits grundsätzlich in ein Verhältnis zur Leiblichkeit gesetzt werden. Im Leib manifestiert sich, dass wir nicht reines Ich, sondern zugleich endliches sind. Er ist unser endliches Wirken, Wirken auf Beschränkung, Wirken auf die Welt. Endlich sind wir für Fichte, damit Bewusstsein und Selbstbewusstsein möglich sind. Der Leib ist die Basis für das bewusste Erkennen. Und er ist der ursprüngliche Ort der Erfahrung der eigenen Endlichkeit. Diese Aspekte werden im Folgenden noch deutlicher hervortreten.

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Vgl. unten, S. 210–270.

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Die Ableitung des Leibes – der Leibbegriff

Der Leib als unmittelbar gegebener und gefühlter Trieb Wie im vorigen Abschnitt dargestellt, erschließt Fichte nicht nur, dass wir uns einer wirklichen freien Tätigkeit nur bewusst werden können, wenn diese beschränkt ist, sondern dass damit überhaupt alles Erkennen anhebt. Vor diesem Hintergrund stellt sich für ihn jedoch die Frage, ob er mit dieser Analyse nicht in einen Zirkel gerät. Zur Erkenntnis kommt es nicht ohne Tätigkeit, die beschränkt ist. Aber wie soll es eine freie Tätigkeit geben ohne Erkenntnis? Sie ist nicht frei, wenn sich die Bestimmtheit des Wollens nicht gründet auf einen frei entworfenen Zweckbegriff. Die Erkenntnis wird also vorausgesetzt für die freie Tätigkeit, von der her dann wieder die Erkenntnis erklärt werden soll. Der Zirkel ändert jedoch nichts daran, dass beide Seiten notwendige Bedingungen des Selbstbewusstseins der Freiheit sind. Die Lösung kann also nicht darin bestehen, eine der Seiten aufzugeben, sondern nur darin, nach einem Begriff zu suchen, in dem beide ursprünglich synthetisch vereinigt sind, d. h. auf eine Weise, in der das Eine das Andere nicht mehr äußerlich voraussetzt. Zu Beginn des § 8 (Abschnitte I–III) stellt Fichte diese Antithese auf und führt sie einer Lösung zu. In welchem Begriff finden sich beide Seiten ursprünglich synthetisch verschmolzen? Wenn dieser Begriff noch nicht gefunden ist, kann die Suche nur darin bestehen, die beiden Seiten vereinigt zu denken und den sich ergebenden Begriff so lange zu analysieren, bis klar ist, was damit gemeint ist. Da Fichte dies jedoch an anderer Stelle, z. B. in seinem Naturrecht, bereits geleistet hat, kann er den gesuchten Begriff auch direkt vorstellen und nachträglich erklären, wie sich in ihm die gesuchte Synthese verbirgt. So präsentiert er direkt die Lösung: den Begriff des Triebes. Für diesen kann er außerdem zurückgreifen auf die Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit. Hier hat er den Triebbegriff bereits folgendermaßen aus dem Selbstbewusstsein des Ich analysiert: Denkt sich das Vernunftwesen überhaupt, dann muss es sich mit der Bestimmtheit einer Tendenz oder eines Triebes denken. Denn das Vernunftwesen ist nicht ein Sein, sondern eine Tätigkeit. Und Tätigkeit objektiv genommen ist Trieb. Subjektiv genommen ist Tätigkeit Freiheit. Und gegenüber dieser Freiheit muss das ursprünglich Objektive, die ursprüngliche absolute Tätigkeit, als ein Sollen zu solch freier Tätigkeit erscheinen. Dies ist oben bereits kurz dargestellt worden. Sondert man jedoch nicht das Subjektive ab und nimmt das Objektive in Bezug darauf, sondern nimmt man es unabhängig davon, betrachtet 142

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man das Ich überhaupt, dann ist es ganz fundamental eine Tendenz zu selbständiger Tätigkeit, ein Trieb. Fichte nennt ihn den Urtrieb. Bezieht man diesen nicht auf das Vermögen der freien Bestimmung der Objekte, sondern auf das theoretische Vermögen des Auffassens der Bestimmung der Objekte, dann wird dieser Trieb nicht nur überhaupt als eine unbestimmte Tendenz zur Freiheit aufgefasst, sondern als ein bestimmter Trieb gefühlt. Das Gefühl ist das unmittelbare Bewusstsein des Triebes, noch ohne freie Auslegung des Denkens. Es findet unmittelbar statt, sobald überhaupt das Vermögen der Intelligenz gegeben ist. Der Trieb, der gefühlt wird, ist nicht erst ein durch Freiheit bestimmter, sondern einer, der das Ich ursprünglich immer schon sein muss. Es ergibt sich also ein unmittelbares Bewusstsein einer Tätigkeit, die zwar eine Tätigkeit des Ich ist, aber nicht von einem frei entworfenen Zweckbegriff abhängig ist. Dadurch lässt sich in diesem Begriff die gesuchte Synthesis fassen. Die Tätigkeit, die vor aller Erkenntnis und Freiheit begrenzt ist und auf der, als in dieser Begrenzung unmittelbar gefühlter, sich die ganze Erkenntnis erhebt, ist also ein Trieb. In der Begrenzung ist es ein bestimmter Trieb und dieser kann bestimmter gefühlt werden. Da oben ein ganzes System von Begrenzungsreihen vorausgesetzt werden musste, muss es sich entsprechend um ein »bestimmtes System von Trieben und Gefühlen« (S108) handeln. In den unmittelbar und aktuell mir zugehörigen Trieben ist dies, nach der oben bereits erfolgten Benennung, mein (artikulierter) Leib. Alles, was »unabhängig von der Freyheit festgesetzt und bestimmt ist« (S108) fasst Fichte unter den Begriff der Natur. So kann er auch diesen Trieb als Natur bestimmen. Und er ist meine Natur. Zwar habe ich Grund dazu, alles, was ich nicht frei gesetzt habe, mir gegenüberzustellen als nicht zu mir gehörig. Aber doch bin ich es ja, der getrieben ist und sich fühlt, auch wenn das nicht in meiner Freiheit steht. Der Trieb ist eine ursprüngliche Tätigkeit des Ich, die der Freiheit vorausliegt. Indem er sich als solcher unserer Selbstanschauung unmittelbar aufdrängt, hat er mit der bewussten Freiheit auch dasselbe Ich als Subjekt. Sie müssen als in derselben »Substanz« vereinigt gedacht werden (S107). In einer späteren Rekapitulation dieses Gedankens streicht Fichte die Faktizität des Ich noch anschaulicher heraus: »Das (reflectirende) Ich muß sich selbst als Ich finden; es muß sich selbst gleichsam gegeben werden.« (S194). Das – aus der Perspektive des freien Ich – Gefundene und mir Gegebene, auf einer tieferen Schicht aber selbst Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Vollzogene, bin ich als Natur. Ich nehme mich hier so wahr, dass »ich auf irgend einen Punkt niedergesetzt werde, durch die Natur, und durch sie gleichsam der erste Schritt meiner gethan werde« (S208). Die Leiblichkeit des Leibes Es wurde als Bedingung der Vorstellung des Materiellen eine begrenzte Tätigkeit des Subjekts erschlossen und diese weiter bestimmt als unmittelbar gefühlter faktischer Trieb. Was bei der Entfaltung des Körperbegriffs angekündigt wurde, dass Fichtes Begriff des Leibes über die Erscheinung eines materiellen Körpers im Raum hinausgeht, ist nun dargestellt. Um die unmittelbaren Eingriffspunkte des Subjekts in seine Wirksphäre zu benennen, führt Fichte, wie wir gesehen haben, das Wort ›Leib‹ ein. 102 Auffällig ist dabei, dass er damit nicht nur die unmittelbaren Eingriffspunkte selbst fasst, sondern auch deren äußere sinnliche Anschauung. 103 Teilweise hat man den Eindruck, als verwende er den Begriff des Leibes so, dass damit nur die sinnliche Anschauung gemeint ist; an anderen Stellen identifiziert er den Leib aber durchaus mit dem Inneren, das äußerlich angeschaut wird. 104 Vgl. oben, S. 137. So schreibt Fichte hier: »[D]er Leib ist nichts anderes, als diese Punkte durch Anschauung dargestellt und realisirt« (S100). Andererseits nennt er die unmittelbaren Eingriffspunkte selbst Leib. 104 Ähnliches wie in der Benennung der Eingriffspunkte lässt sich auch in Bezug auf den Naturtrieb beobachten: Einerseits nennt er nicht den Naturtrieb unmittelbar Leib, sondern erst dessen notwendige Materialisierung in einer äußeren Anschauung: »organisierte Materie, die ein bestimmtes Ganze ausmacht. Mein Leib.« (S123) An anderer Stelle identifiziert er aber den Leib mit dem Naturtrieb, wenn er ihn als »Instrument aller unserer Kausalität« (S196) bestimmt. Dass die Identifizierung erst erfolgt, nachdem der Naturtrieb als notwendig materialisiert verstanden wurde, weist darauf, dass Fichte offenbar das Wort ›Leib‹ für beides verwendet. Er sagt auch, der Naturtrieb sei »selbst unser Leib in seiner Verkörperung« (S196). Der Leib ist nicht nur der Naturtrieb für sich, sondern dieser zusammen mit seiner äußeren Anschauung, die Fichte hier auffälligerweise mit dem Körperbegriff fasst. Mit ›Körper‹ meint er offenbar nur das Äußere. In der Sittenlehre verwendet er das Wort nur an dieser einen Stelle. Auch in der Wissenschaftslehre nova methodo, in der er sehr oft das Wort ›Leib‹ gebraucht, verwendet er es lediglich einmal – wieder nur als Ausdruck für die Materie im Raum, und zwar allgemein, nicht nur in Bezug auf den Körper des Menschen (WH103). Auch in der Grundlage des Naturrechts lässt sich beobachten, wie Fichte ›Leib‹ nicht nur für das äußere Materielle, sondern in einer weiteren Bedeutung verwendet. Geht es aber nur um dieses Materielle, benutzt er ›Körper‹ (GNR384 f.). Auffällig ist auch, wie er dort in der Herleitung des Leibes zuerst für 102 103

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Meines Erachtens muss man dies so interpretieren, dass Fichte mit ›Leib‹ das ganze innerlich-äußerlich gegebene Phänomen fasst. Im Unterschied dazu verwendet er das Wort ›Körper‹ eher nur für das äußerlich räumliche Materielle. 105 Ganz bewusst befolgt Fichte diese Unterscheidung zwar offenbar nicht, auch ist mir keine Stelle bekannt, in der er sie ausdrücklich einführen würde. Dass sie trotzdem recht konsequent beobachtbar ist, lässt sich daraus erklären, dass sie schon im deutschen Sprachgebrauch liegt. Da Fichte in etwa dieser Unterscheidung folgt, da es einen Fortschritt in der Differenzierung darstellt, den Leib, wie er äußerlich erscheint, wie er auch Objekt der Naturwissenschaft ist, und zusammen damit ganz allgemein das Materielle im Raum mit einem anderen Begriff zu bezeichnen als das ganze Phänomen des Leibes eines Lebewesens, und da sich dieser Sprachgebrauch vor allem ausgehend von der Phänomenologie in der Philosophie mehr oder weniger eingebürgert hat 106, sollen die Wörter ›Körper‹ und ›Leib‹ in dieser Unterscheidung hier verwendet werden. Vor diesem Hintergrund möchte ich das, was Fichtes Leibtheorie über die Körperlichkeit hinausgehend beschreibt, die Leiblichkeit des Leibes nennen. Der Leib ist nicht nur etwas im Raum sozusagen von außen objektiv Angeschautes, sondern intellektuell angeschaute und in ihrer Begrenzung vorgegenständlich gefühlte Tätigkeit. Er ist nicht nur totes Objektives, sondern lebendiger Vollzug. Er ist somit nicht nur herrenlose Materie, sondern Leib eines Subjekts. Ja er ist, indem das Subjekt lebendiger Vollzug ist und dieser letztlich nicht von ihm unterschieden werden kann, das Subjekt selbst. Fichte sagt nicht nur, dass ich einen materiellen Leib habe, sondern dass ich Materie und Leib bin (S123). 107 Indem das Subjekt die Dimension der ursprünglichen unbeein räumlich materielles Objekt und seine verschiedenen Eigenschaften unter Verwendung des Körperbegriffs argumentiert, dies dann am Ende aber – da es der Körper einer Person ist, in dem diese lebendig handelt – Leib nennt (GNR362–365). Neben der über das äußerlich Materielle hinausgehenden Innerlichkeit bestimmt die Verwendung des Wortes ›Leib‹ vermutlich, dass damit im allgemeinen Sprachgebrauch immer der Leib einer Person gemeint ist. 105 Vgl. oben, Anm. 104. 106 Vgl. etwa Wendel, 2003, 252–254. 107 Vgl. auch S107: »Ich, der ich fühle, und ich, der ich denke, ich, der ich getrieben bin, und ich, der ich mit freiem Willen mich entschließe, bin Derselbe.« Und vgl. S108: »Ich bin selbst in gewisser Rücksicht, unbeschadet der Absolutheit meiner Vernunft und meiner Freiheit, Natur; und diese meine Natur ist ein Trieb.« Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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grenzten Tätigkeit in der Begrenzung nicht verliert und indem ihm neben der leiblichen Tätigkeit auch die ideale Tätigkeit des Verstehens und die freie Lenkung dieser idealen Tätigkeit sowie des Wollens zukommen, ist das Subjekt freilich nicht einfach nur Leib. Der Leib steht in einem Verhältnis zu diesen beiden anderen Dimensionen. Vergleicht man das Verhältnis mit der traditionellen Leib-SeeleUnterscheidung, wie sie von Descartes Begriffen der res cogitans und der res extensa her getroffen wird, dann ist eine wesentliche Verschiebung zu beobachten. Die res extensa wird als die äußere Erscheinung des Leibes bestimmt. Und diese Unterscheidung wird sekundär gegenüber einer innerhalb des lebendig Subjektiven getroffenen Abgrenzung zwischen der sich vorfrei vollziehenden und vorgegenständlich erlebten leiblichen Tätigkeit und der idealen Tätigkeit des Denkens, in seiner spontanen und in seiner frei gelenkten Form, sowie dem freien Wollen. Fichte benennt diese Grunddichotomie als Leib im Unterschied zur Seele – oder auch im Unterschied zum Geist (vgl. etwa S241). Die Bezeichnungen für die geistige Seite werden von ihm jedoch nicht eindeutig gebraucht. ›Seele‹ verwendet er daneben auch ganz weit für die Innerlichkeit des Menschen überhaupt (S279 u. 289). Und ›Geist‹ gebraucht er ebenso für die reine Tätigkeit (S28 u. 125 f.), als den Kern des Subjekts, der weder Leib noch Geist im Sinne des freien Wollens und Denkens ist, sondern der sich in diesen beiden nur realisiert und in dem diese vereint sind. Dass Fichte die Leiblichkeit des Leibes in den Blick bekommt, liegt darin begründet, dass er diesen ausgehend von dem, was für ihn das Ich im Kern ist, ausgehend vom Tätigsein, ableitet. Die Deduktion erfolgt in einer Rückfrage nach den Bedingungen der Selbstzuschreibung einer Freiheit. Man kann dies genauso als reduktives Vorgehen betrachten. Und die Wahrnehmung der Leiblichkeit kann man entsprechend auch darin begründet sehen, dass Fichte nicht bei dem stehen bleibt, was zunächst empirisch greifbar gegeben ist, sondern konsequent nach dessen subjektiven Bedingungen zurückfragt. Auch im transzendentalen Aufweis einer unmittelbaren Verortung als Bedingung der Raumvorstellung deutete sich bereits die subjektive Lebendigkeit des Leiblichen an. Genauso in der Herleitung des vorgegenständlichen Gefühls. Die transzendentale Rückfrage erhellt bei Fichte nicht nur das Geistige, sondern erreicht ebenso eine vertiefte Sicht des Leiblichen. Auch führt es keineswegs zu einer idealistischen Auflösung der Leiblichkeit. Wie seine Transzendentalphilosophie generell nicht in einen subjektiven Idealismus gerät, so auch nicht in 146

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Bezug auf den Leib. Dieser wird nicht nur als subjektive Erscheinung bestimmt, sondern als die dieser Erscheinung zugrunde liegende reale beschränkte Tätigkeit. Der Leib als organisiertes Naturprodukt Der Leib ist bis hier hergeleitet als mein aktueller Trieb in seinem Wirken auf eine gegebene Begrenzung. Aufgrund seiner Faktizität wurde dieser Trieb als Natur bestimmt. Da die Begrenzung mich auf eine unabhängig von mir vorhandene Sphäre verweist, und da zudem ein unabhängig von mir vorhandenes System von Begrenzungsreihen erfordert wird, ist außer meiner Natur noch andere Natur anzunehmen. Im weiteren Verlauf des § 8 (Abschnitte V–VII) untersucht Fichte, was zufolge der Zuschreibung der eigenen Natur sowie des anzunehmenden Verhältnisses zu anderer Natur, notwendig mitgesetzt werden muss: »[U]nter welchen Bedingungen ist es möglich, uns eine Natur zuzuschreiben?« (S109) Im Zuge dieser Untersuchung wird das, was ich als meine Natur oder meinen Leib fassen muss, noch weiter bestimmt, und zwar über die Artikulation, das unmittelbare Eingreifen, hinaus als ein Trieborganismus, der als entstanden aus einem organischen Naturganzen gedacht werden muss. Fichte führt die transzendentale Argumentation auf folgende Weise fort: Meine Natur kann ich im Verhältnis zu anderer Natur nur setzen, wenn ich einerseits beide als Natur denke, andererseits sie aber einander entgegensetze, die eine bestimme als nicht die andere. Meine Natur hat also ihre Bestimmtheit aus dem Gegensatz mit der anderen Natur. Da ich in mir einen Teil aus der Natur abgrenze, kann ich offenbar überhaupt Teile in ihr abgrenzen. Die Bestimmtheit jedes Teils ergibt sich entsprechend der Grundgesetzlichkeit einer jeglichen Bestimmung aus dem Gegensatz gegen die Bestimmtheit aller anderen. Nun kann aber diese Bestimmung nicht nur die einer bloßen Negation sein. Wie ist sie dann zu begreifen? Gewöhnlich werden die Verhältnisse in der Natur mechanisch gedacht. Aber auch in dieser Weise kann ich die Bestimmung nicht denken, wenn Natur so etwas sein soll wie der Trieb, den ich in mir selbst finde. Ein Trieb ist nur als Selbstbestimmung zu denken, als auf sich selbst ausgerichtete Selbsttätigkeit. Um eine absolute Selbstbestimmung aus einer völligen Unbestimmtheit heraus, wie bei der Freiheit, kann es sich dabei jedoch nicht handeln, denn der Trieb soll ja gerade noch ohne Freiheit sein und er soll als Teil der Natur seine Bestimmung durch die BestimLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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mung aller anderen Teile erhalten. Die Tätigkeit muss sich hier zwar selbst, aber unwillkürlich, aus einer inneren Notwendigkeit heraus, bestimmen. Und da diese Notwendigkeit sich aus dem Verhältnis zu den anderen Teilen ergeben muss, kann die Tätigkeit auch nie unbestimmt sein wie die Freiheit. Wie ist also die Wechselbestimmung der Teile der Natur genauer als Trieb zu denken? Ein Teil hat seine Bestimmung nur in Bezug aufs Ganze. Dieser Bezug muss als Trieb gedacht werden, also ein Trieb auf das Ganze (wie er auch in der ursprünglichen Bestimmung des Ich als eines Triebes schon als Trieb aufs Ganze verstanden werden musste). Seine Bestimmung erhält dann jeder Teil des Ganzen nicht nur dadurch, dass er nicht die anderen Teile ist, sondern dadurch, dass er ein Trieb ist nach den anderen und ein so bestimmter Trieb, weil noch so und so bestimmte andere außer ihm sind, die er nicht ist. Jeder Teil muss also in einer inneren Einheit mit dem Ganzen stehen und sich selbst entsprechend dem, was im Ganzen ist, bestimmen. Ein solches Ganzes, dessen Teile ihre Bestimmtheit aus einer Selbstbestimmung erhalten, die jedoch bestimmt ist von der Bestimmtheit aller Teile durch sich selbst, nennt Fichte ein organisches Ganzes. Es findet sich hier derselbe Organismusbegriff, wie er ihn in der Erlanger Wissenschaftslehre verwendet. 108 Jeder Teil trägt das Ganze und die Lebendigkeit des Ganzen in sich und hat seine Bestimmung in Entgegensetzung gegen das Ganze. Bis dahin wurde ausgegangen von uns als einem Teil der ganzen Natur und von daher die Rechtfertigung genommen, Teile in der Natur abzusondern. Diese Absonderung war dann aber nur eine von uns beliebig gedachte und es wurde nicht betrachtet, wie sie aus einer realen Abteilung gerechtfertigt sein würde. Auf diese willkürliche Art können wir nicht nur beliebig Teile absondern, sondern die Teile selbst auch weiter teilen und diese Teile in einer organischen Ganzheit vereinigt denken. Nur das Ganze der Natur selbst kann nicht wieder als ein Teil genommen, muss also als ein reales Ganzes gedacht werden. Aber auch Teile der ganzen Natur müssen reale Teile sein, denn zumindest wir selbst müssen uns notwendig als einen Teil denken. 109 Es stellt sich also die Frage, auf welche Weise ein Teil der Na-

Vgl. dazu oben, S. 69–71. Man könnte an dieser Stelle zwar zunächst auch darauf rekurrieren, dass wir uns als Realität und als eine begrenzte Realität einfach erleben. Aber für Fichte müssen wir uns zusätzlich dazu auch als realen Teil des Ganzen begreifen können. 108 109

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tur nicht nur als beliebig gesetzter, sondern als realer Teil verstanden werden kann. Realität bedeutet, dass nicht beliebig gedacht wird, sondern dass das Denken sich gezwungen findet. Es müsste sich also beim Auffassen der Natur und beim Versuch, Teile in ihr zu denken, ein Denkzwang ergeben, sodass sich das Vorgegebene mit dem beliebig von mir gewählten Begriff nicht vereinigen lassen würde und ich nach einem anderen suchen müsste. Könnte ich allein mit dem Begriff, dass in jedem Teil der Natur eine bestimmte Realität und ein Trieb nach der anderen vorhanden ist, das Vorgegebene begreifen, könnte ich beliebig Teile und Ganzheiten setzen. An seine Grenze würde dies dann stoßen, wenn in einem Teil ein Trieb nach einer Realität wäre, die in ihm gar nicht fehlte, oder wenn ein Trieb nach einer Realität fehlte, die in ihm gar nicht läge. Fichte beschreibt diesen Vorgang als spezifische Tätigkeit der Urteilskraft: Im ersten Fall wirkt sie mechanisch, indem sie das Gegebene unter ihren Begriff einfach subsumiert. Im zweiten Fall wird dieses mechanische Tun unmöglich, und die Urteilskraft ist deshalb genötigt, frei zu reflektieren, um sich einen anderen, einen geeigneten Begriff zu geben. Sie geht dabei generell so vor, dass sie den ersten Begriff umdreht. So auch hier: nicht ein Trieb nach etwas, das fehlt, sondern umgekehrt nach etwas, das nicht fehlt. Und bei diesem Begriff nun wäre die Urteilskraft gezwungen, einen anderen Teil zu suchen, der dieser Realität ermangelt, und beide Teile als notwendig vereinigt anzusehen: Der eine strebt für den anderen. Und sie müsste so lange suchen, bis sie alle Teile beisammen hätte, die füreinander streben. Für jeden, der nach etwas strebt, was er selbst gleichwohl hat, müsste der Teil gefunden sein, für den er strebt, und für jeden, der nach etwas nicht strebt, was er nicht hat, der Teil, der für ihn strebt. Auf diese Weise ergäbe sich notwendig ein Ganzes von Teilen. »Kein Theil kann erklärt werden, ehe nicht alle Theile von X. aufgefaßt sind. Jeder Theil strebt, das Bedürfniß aller zu befriedigen, und alle streben hinwiederum, das Bedürfniß dieses Einzelnen zu befriedigen. Dasjenige, welches nur auf die angezeigte Weise begriffen werden kann, heiße vorläufig ein reelles organisches Ganze« (S116). Ausgehend vom ersten Organismusbegriff, mit dem noch beliebig geteilt und zusammengefasst werden konnte, ist nun der Begriff erschlossen, der ein notwendig zusammengefasst zu denkendes und deshalb reales Ganzes innerhalb der Natur begreift. Damit ist der Begriff gefunden, mit dem ich mich als reellen Teil der Natur denken Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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kann, und somit ein weiterer Schritt der Untersuchung der Bedingungen meiner Selbstauffassung geleistet. Für Fichte muss jedoch nicht nur die Bedingung des Begreifens, sondern auch die Bedingung des Seins geklärt werden: Dass ein solcher Organismus ist, muss einen Ursprung haben. Als Teil der Natur muss er sich aus der Natur als ganzer erklären lassen. »Es wird sonach durch die bloße Behauptung einer solchen Erklärbarkeit behauptet, daß es der Natur nothwendig sey, und in den ihr absolut zukommenden Eigenschaften liege, sich in reelle Ganze zu organisiren, und daß das vernünftige Wesen die Natur so, und schlechthin nicht anders zu denken genöthiget sey.« (S116) Es ist also ein Gesetz der Bildung von Organismen in der Natur vorauszusetzen. Dass Teile nicht nur für sich streben, sondern für andere, wie dies in einem Organismus der Fall ist, ist nicht nur als Faktum zu nehmen, sondern muss aus einem Trieb, der in der Natur als ganzer liegt, erklärt werden. Dieser Trieb ist dabei folgendermaßen zu denken: »[J]eder Naturtheil strebt sein Seyn, und sein Wirken mit dem Seyn und Wirken eines bestimmten andern Naturtheils zu vereinigen, und wenn man die Theile in den Raum denkt, auch im Raume mit ihm zusammen zu fließen. Dieser Trieb heißt der Bildungstrieb im aktiven und passiven Sinne des Worts; der Trieb zu bilden und sich bilden zu lassen« (S117). Allein aus diesem Trieb ergibt sich freilich noch nicht, dass er auch Kausalität hat. Es ist also von daher zunächst offen, ob es außer uns selbst noch andere reelle organische Ganzheiten gibt. Wir selbst können uns zufolge der Voraussetzung dieses Triebes nun aber als ein, wie Fichte es nennt, »organisirtes Naturproduct« (S118) ansehen. Mit dem Begriff des Leibes fasst er das so Abgeleitete zwar erst später, wenn er die äußere Materialisierung des Naturtriebes begründet hat. Man kann aber schon jetzt darauf hinweisen, dass mit dieser Ableitung der Leib über die unmittelbaren Eingriffspunkte hinaus als ein komplexer Organismus von aufeinander bezogenen Trieben weiter bestimmt ist. Der erschlossene Begriff passt dabei zu dem, wie wir unseren Leib tatsächlich erleben, als eine in der Natur evolutiv entstandene Einheit von zusammenwirkenden Teilen, deren Sinn jeweils nur vom Ganzen her verstanden werden kann. Aus den Begriffen des Organismus wie des Bildungstriebes kann Fichte noch verschiedene weitere Bestimmungen von uns als Natur folgern (S119 u. 123–125): Ein Organismus existiert dadurch, dass der Bildungstrieb Kausalität hat. Um fortzubestehen muss also der Trieb weiter Kausalität aufweisen und die vereinigten Teile in dieser 150

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Vereinigung erhalten. Der Bildungstrieb nimmt in einem entstandenen Organismus auf diese Weise die Gestalt eines Selbsterhaltungstriebes an. Darüber hinaus folgt für Fichte aus dem Bildungstrieb, dass diese Kausalität auch in der Form weiter bestehen muss, dass andere Teile mit dem Organismus vereinigt oder doch in ein bestimmtes Verhältnis zu ihm gebracht werden. Diese Folge scheint nicht so notwendig zu sein, wie Fichte behauptet. Eventuell hat ihn an diesem Punkt eher der Blick auf die faktischen Phänomene geleitet, das Phänomen der Abhängigkeit des Leibes von der Nahrung oder von bestimmten äußeren Umständen, z. B. einer gewissen Temperatur oder einem Raum, in dem der Leib sich bewegen kann. Der dargestellte Gedankengang zeigt, wie weitgehend Fichte die verschiedenen Bestimmungen der Leiblichkeit, wie sie sich tatsächlich finden, aus seinem Prinzip heraus begründen kann. Über die Notwendigkeit dieser Ableitung lässt sich an ein paar Punkten, wie hier sichtbar wird, jedoch streiten. Da der Selbsterhaltungstrieb auf einen Organismus zielt, kann es ihm, wie Fichte weiter folgert, nicht nur um die Erhaltung der Existenz überhaupt gehen, sondern um die Erhaltung dieser bestimmten Existenz des Organismus. »Bloße Existenz ist ein abstrakter Begriff, nichts concretes. Einen Trieb darnach giebt es in der ganzen Natur nicht. Ein vernünftiges Wesen will nie seyn, um zu seyn, sondern um dieses oder jenes zu seyn. Eben so wenig strebt und arbeitet ein vernunftloses Naturprodukt überhaupt nur zu seyn, sondern gerade das zu seyn, was es ist; der Äpfelbaum ein Äpfelbaum, der Birnbaum ein Birnbaum zu seyn, und es zu bleiben.« (S119) Und zwar zielt der Trieb, weil er sich noch unabhängig von Erkenntnis vollziehen muss, unmittelbar auf seine bestimmte Gestalt und die dazu nötigen Mittel. Seine Ausrichtung und seine Kausalität müssen unabhängig sein von einer Erkenntnis des Zieles und der dafür nötigen Mittel. Und so ist es auch noch, wenn er Organismus eines erkennenden Wesens ist. Auch hier ›weiß‹ der Trieb unmittelbar, was er braucht, und ist nicht auf die Erkenntnis angewiesen. In dieser Unmittelbarkeit kann er zudem auf nichts Anderes zielen als auf das, worauf er als dieser bestimmte Trieb geht, und erst das Vernunftwesen kann die Verwirklichung der Naturzwecke teilweise noch zu anderen Zielsetzungen nutzbar machen. Findet der Naturtrieb sein Objekt, dann hat er deshalb auch unmittelbar Kausalität. Ein Sichzurückhalten könnte ja nur stattfinden um anderer Zwecke willen. Und er geht deshalb auch nur auf etwas gegenwärtig Erfordertes. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Ausgehend von der Unmittelbarkeit, in welcher der Naturtrieb auf seinen Zweck bezogen ist und durch die er sich nicht über diese Ausrichtung hinaus auf einen anderen Zweck orientieren kann, ergibt sich für Fichte, dass der Trieb seinen Zweck rein um seiner selbst willen verfolgt und sich auf diese Weise befriedigt. Diese »Befriedigung um der Befriedigung willen« nennt er »bloßen Genuß« (S123). Das Vernunftwesen, das den Trieb fühlt, fühlt auch seine Befriedigung – als eine »Lust« – »und diese Lust ist sein letzter Zweck. Der natürliche Mensch ißt nicht, mit der Absicht, seinen Körper zu erhalten und zu stärken; sondern er ißt, weil der Hunger ihn schmerzt, und die Speise ihm wohlschmeckt.« (S124) Da die Lust das Gefühl ist, das aus der Befriedigung des Naturtriebes erfolgt, muss sie aber de facto, auch wenn dies nicht ausdrücklich angestrebt wird, mit einer Verbesserung der Organisation einhergehen. Wenn Fichte aufgrund der Genussorientierung von einer »Absolutheit des Naturtriebes« (S123) spricht, dann ist damit nicht ausgeschlossen, dass neben ihm weiter der andere Teil des Urtriebes, die »Tendenz der Vernunft, sich schlechthin durch sich selbst […] zu bestimmen« (S125), besteht. Auf diesen im folgenden Kapitel noch genauer zu betrachtenden »reine[n] Trieb« (S134) und damit auf einen sittlichen Zweck über die bloße Genussorientierung hinaus kann der Naturtrieb nur bezogen werden, wenn das Subjekt auf ihn reflektiert. Vor diesem Hintergrund ist es auffällig, dass Fichte die Genussorientierung des Naturtriebes nicht einfach aus der noch fehlenden Erkenntnis des reinen Triebes begründet. Dies hängt damit zusammen, dass für ihn im Grunde der Bezug auf den reinen Trieb auch gar nicht fehlt. Zumindest hintergründig betrifft er das Subjekt immer schon. 110 Die Genussorientierung entsteht primär aus der Beschränkung des Triebes auf einen bestimmten Zweck, wodurch er nicht mehr einfachhin die Vernunfttendenz ist, die der Urtrieb im Grunde 110 Vgl. zum reinen Trieb unten, S. 160–162. Wenn man Fichte so interpretieren würde, dass für ihn die Verwirklichung des Vernunfttriebes per se ausdrückliche Erkenntnis voraussetzt, würde dies dem widersprechen, wie er auch in der Zeit der frühen Wissenschaftslehre schon Gott vom reinen Ich her als reine Vernunfttätigkeit ohne Beschränkung und ohne Bewusstsein denkt (vgl. unten, Anm. 310). Mit dieser Interpretation fügt sich das Leibdenken zur Zeit der frühen Sittenlehre auch gut in den späteren Ansatz, der ganz entschieden von einem lebendigen göttlichen Sein ohne Bewusstsein ausgeht und der das Bewusstsein nicht herleitet als Erfordernis der Verwirklichung des reinen Grundseins, sondern als Erfordernis für die Selbstrelationierung des Daseins gegenüber dem Sein.

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darstellt. Ähnlich wie die Begrenzung für Fichte die reine Tätigkeit von Trägheit geprägt sein lässt – wie im Folgenden noch herausgearbeitet werden wird 111 –, muss man die Begrenzung m. E. als eine die Vernunfttendenz und die darin liegende Ausrichtung auf Freiheit unterdrückende Bindung an einen bestimmten Zweck verstehen, die so stark ist, dass der reine Trieb erst dadurch wieder zum Bestimmungsgrund der Handlung werden kann, wenn ausdrücklich auf ihn reflektiert und er mit freier Entschiedenheit zum Zweck gesetzt wird. Die Naturtriebe selbst behalten freilich auch dann ihren Charakter. Bestehen bleibt ebenso die ursprüngliche aus der Begrenzung erwachsende Distanz zum reinen Trieb. Fichte hebt zwar hervor, dass es dem Subjekt im deutlichen Bewusstsein seiner Pflicht nicht möglich ist, nicht nach ihr zu handeln, aber die Aufrechterhaltung dieses Bewusstseins bedarf der beständigen Aufmerksamkeit der freien Reflexion und der freien Überwindung der Trägheit zur Reflexion (S176 f.). Aufgrund der Trägheit setzt, sobald in der Aufmerksamkeit eine Nachlässigkeit oder eine Umlenkung stattfindet, eine Verdunkelung ein. Da diese Trägheit auch jeder Kraft zukommt, mit der versucht wird, die Trägheit zu überwinden, kann dies nie vollkommen erfolgen. So kann der Mensch nie eine reine Heiligkeit erreichen. Wenn Fichte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam macht, dass wegen dieses Erfordernisses der freien Reflexion auf das Sittengesetz überhaupt die Freiheit der Wahl diesem gegenüber bestehen bleibt, wird deutlich, dass in der ursprünglichen Begrenzung auch der Grund dafür gesehen werden muss, dass sich die Selbständigkeit nicht unwillkürlich nach dem Sittengesetz bestimmt, sondern diesem gegenüber selbständig und in dem Sinne frei ist. 112 Vgl. unten, S. 166 u. 185–189. Das wird auch deutlich, wenn man darauf schaut, wie Fichte es hier, in S176 f., begründet, dass eine Entscheidung gegen das Sittengesetz im deutlichen Bewusstsein desselben nicht möglich ist. Begründet wird nur, dass es nicht möglich ist, sich um des Sittengesetzes willen gegen es zu richten, und es wird dabei vorausgesetzt, dass die Freiheit des Menschen im Grunde nur die Selbständigkeit des Vernunftwillens ist, der, einmal erhellt, nicht noch ein davon unabhängiges Vermögen der freien Willkür hat, sich dagegen zu bestimmen. Wahlfreiheit entsteht nur als Folge einer Verdunkelung. Und da die Reflexion aufgrund der Endlichkeit und der Trägheit nie vollkommen erfolgen kann, muss de facto im Endlichen immer die Möglichkeit bestehen, sich in Distanz zum Sittengesetz zu halten. Von daher scheint mir (gegen Pedro, 2006, 177 f.27 ) die Interpretation dieser Stelle von Marco Ivaldo (1991, 159 f.), dass sich die Freiheit immer bewusst für oder gegen das Sittengesetz entscheiden kann, nicht problematisch zu sein. Sie macht m. E. nur zu wenig deutlich, dass dies eine Möglichkeit 111 112

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Erst wenn das Vernunftwesen auf seine Freiheit und das in ihr liegende Gesetz reflektiert hat, kann es den Trieb auch nicht um der Befriedigung, sondern etwa um der Pflicht der Selbsterhaltung willen befriedigen. In einem Vernunftwesen wäre Ersteres als eigennützig zu qualifizieren. Der Naturtrieb für sich kann aber nicht als eigennützig bewertet werden (S182), weil in ihm ein Bewusstsein des sittlichen Anspruchs und das Vermögen, diesem zu entsprechen, noch gar nicht vorkommen. Er ist von daher weder unmoralisch noch moralisch, sondern außermoralisch. Entsprechend würden wir es – so Fichte – ja auch »natürlich, und in der Ordnung« finden, wenn »das stärkere Thier das schwächere frißt, und das schwächere das stärkere überlistet« (S186). Aus dieser Neutralität folgt für ihn, dass der Mensch von Natur aus zunächst einmal nicht von einer besonderen Neigung gegen das Sittengesetz geprägt ist. Eine solche ergibt sich erst durch eine frei zugezogene Gewöhnung an sittlich schlechtes Verhalten. Fichte kann deshalb von einer natürlichen Reinheit sprechen, einer Art natürlicher Unschuld, welche jedoch seiner Vermutung nach – er stützt sich hierbei auf seine noch darzustellenden Überlegungen zum Ursprung des Bösen 113 – kaum mehr irgendwo vorhanden sein dürfte. 114 Im ganzen Gedankengang zur Explikation des Naturbegriffs wurde von der Natur – auch außerhalb des Bereichs meines Naturtriebes – als von einem realen Triebgeschehen gesprochen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für Fichte transzendentalphilosophisch dieser Bereich außer mir erst einmal gar nicht zugänglich ist. Entsprechend konnte die ganze Untersuchung nur von der Natur in mir ausgehen und nach den Bedingungen dafür fragen, mir eine solche zuzuschreiben (S108 f.). Aber führen diese Überlegungen dann nicht zur notwendigen Annahme einer realen Natur außerhalb von mir? Verweisen diese ganz bestimmten Begrenzungen, die voder Freiheit der Reflexion ist. Aber das Nachlassen der deutlichen Reflexion kann ja gerade bewusst geschehen und es wäre sonst auch nicht zurechenbar. 113 Vgl. unten, S. 185–189. 114 In Bezug auf den apriorischen Teil der Ethik, der den Menschen in seinem Allgemeinen und Notwendigen und nicht in so etwas wie einem frei zugezogenen Hang zum Schlechten betrachtet, sagt Fichte etwa: »Die Moral empfängt ihn ganz rein aus der Hand der Natur.« (Asc59; vgl. auch Asc68 f.) Zugleich muss die Ethik für ihn jedoch um die Anwendung auf das wirkliche Leben bemüht sein und, »da das reine Naturleben sich wohl nirgends mehr finden möchte« (Asc60), dann auch solche empirischen Zustände berücksichtigen.

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rauszusetzen sind, damit sich mein Organismus, der ja ein realer Trieb sein muss, konstituieren kann, nicht auf einen realen Naturprozess, aus dem sie hervorgehen? Dagegen hält Fichte ausdrücklich an der Unmöglichkeit fest, transzendentalphilosophisch über das Ich hinauszugehen zu einer Natur an sich und von daher die Begrenzungen zu erklären. Wir müssen dabei stehen bleiben, dass sie sich faktisch in uns finden. 115 Die notwendige Voraussetzung einer ganz bestimmten Gestalt von Begrenzung, ihre Ansicht als Produkt eines Naturprozesses, das generelle Verständnis der Begrenzungen als verursacht von einem Wirken außer mir – das alles ändert für ihn daran nichts. Bei der Natur außer mir kann es sich auch lediglich um etwas handeln, was ich denken muss, als ob es so wäre. Es muss nicht ein wirkliches Verhältnis stattfinden. Mein Organismus muss sich nicht real aus einem realen Naturprozess erklären. Dass notwendig Vernunftwesen außer mir angenommen werden müssen, dafür kann Fichte, wie nachher noch dargestellt wird, argumentieren. Auch müssen diese wie ich als Voraussetzung ihres Selbstvollzuges reale begrenzte Triebe haben. Für die Natur außerhalb von Vernunftwesen kann Fichte jedoch keinen solchen ›Interpersonalbeweis‹ anführen. Der Realitätsstatus der Natur bleibt für Fichte deshalb zu dieser Zeit letztlich dahingestellt. Dies kann durch verschiedene Texte, auch außerhalb der Sittenlehre, verdeckt werden, in denen Fichte scheinbar von einer ganz realen Naturentwicklung oder Naturproduktion und der Entstehung des Menschen aus ihr spricht. Eventuell geht er davon aus. Die systematischen Zusatzbemerkungen machen aber jeweils klar, dass dies für ihn transzendentalphilosophisch gesichert nicht erschlossen werden kann und dass alles zunächst unter dem Vorzeichen des Als-ob gelesen werden muss. 116 Vgl. S101 u. 127; vgl. auch unten, S. 214–216. Für die Sittenlehre ist bereits auf die wichtigen Stellen hingewiesen worden. Dass die Beschränkungen nicht von einer Natur an sich außerhalb des Ich in diesem Sinne gesetzt werden können, führt Fichte hier dahin, sie als überzeitlich schon im Ich liegend anzusehen (vergleiche dazu ausführlich unten, S. 214–216). Dieselbe Theorie steht im Hintergrund, wenn er in seiner Vorlesung über Metaphysik von 1797 – nach dem Zeugnis einer Hörermitschrift – sagt: »An sich entsteht die Welt nicht in der Erfahrung, in der Zeit; sie ist fertig. Für uns aber fällt ihr Fortgang u. die Entstehung neuer Produkte in die Zeit, u. wir müssen die Bildung der Welt auch in die Zeit setzen, wenn wir sie erklären wollen« (PlK409; vgl. auch PlK299). Dies erklärt, wie die realistischen Beschreibungen der Naturentwicklung und Naturproduktion in dieser Vorlesung (PlK297–300) zu verstehen sind. Auch in der Wissenschaftslehre nova methodo kann vielfach der Eindruck entstehen, Fichte gehe von einer realen Naturproduk-

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Dies ist zumindest der Stand der Theorie zur Zeit der frühen Sittenlehre. Die Veränderung bis zur Zeit der Anweisung wird noch zu untersuchen sein. 117

1.2.2.4 Der Leib im freien Erkennen und Handeln Zwar haben sich Leib und Natur nur als Bedingungen des Selbstbewusstseins und in Relation dazu ergeben, es wurde dann aber versucht, die Sphäre der Natur erst einmal für sich zu bestimmen. Der nächste Schritt besteht darin zu untersuchen, welche Rolle der Leib genau innerhalb des selbstbewussten und freien Erkennens und Handelns spielt. Er hat seine Funktionen im Menschen – auch seine religiösen – nicht unabhängig davon. Auch wird der Begriff des Leibes von daher noch weiter bestimmt werden. Der Naturtrieb bzw. der aus ihm bestehende Organismus meines Leibes ist zwar, wie bereits herausgestellt wurde, nur als Selbstbestimmung zu denken. Sie ist aber noch keine freie, sondern eine notwendig bestimmte. Freie Selbstbestimmung ist nur möglich mit Bewusstsein und Erkenntnis, oder, wie Fichte das freie, erkennende Aufmerken generell bezeichnet (A98), mit Reflexion. Das Subjekt der Reflexion ist zwar dasselbe wie das des Naturorganismus, zur Reflexion kommt es aber nicht zufolge einer Naturnotwendigkeit. Sie »ist kein Naturprodukt«, sondern »geschieht mit absoluter Spontaneität« (S120). Wenn es zu ihr kommt, ist ihr das Objekt freilich bereits notwendig gegeben: der Naturtrieb. Dem reflektierenden Subjekt kommt ja unabdingbar ein Naturtrieb zu. Und er muss unmittelbar auftauchen, denn der Trieb hat sich als unmittelbare Einheit von Tätigkeit und Bewusstsein der Tätigkeit ergeben. So liegt es nicht in der Freiheit der Reflexion, ihn zu fühlen oder nicht zu fühlen, sondern er wird unmittelbar gefühlt, sobald überhaupt ein Bewusstsein da ist. Dem Gedankengang der Ableitung entsprechend geht von dietion aus, etwa in den Ausführungen über die natura naturans (WH257 f.). Auch scheint dabei die Natur in den Vernunftwesen und in den Dingen auf einer Ebene behandelt zu werden. Man darf aber nicht übersehen, dass Fichte in dem Zusammenhang die Natur klar als Noumen bezeichnet. Und ein Noumen versteht er hier, wie er an anderer Stelle deutlich macht, als ein lediglich Gedachtes, als »etwas durch freyes denken hervorgebrachtes« (WH242). 117 Vgl. unten, S. 210–270.

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sem unmittelbaren Gefühl die ganze sinnliche Wahrnehmung aus. Sie ist dabei immer zunächst Selbstwahrnehmung, Wahrnehmung der Begrenztheit meines Triebes. Nur sekundär wird von ihr aus die Vorstellung vom mich begrenzenden Anderen konstruiert. Deshalb kann Fichte hier ganz generell sagen: »Der Leib ist Instrument aller unserer Wahrnehmungen, mithin, da alle Erkenntniß sich auf Wahrnehmung gründet, aller unserer Erkenntniß« (S196). Das Wort ›Instrument‹ ist hierbei nicht ganz glücklich gewählt. Denn für Fichte ist nicht etwas gemeint, das ich nicht selbst bin, sondern nur besitze, oder etwas, dessen ich mich frei bedienen würde. Und auch in Bezug auf die Wahrnehmung ist der Leib nicht nur ein äußeres Instrument. In ihm vollzieht sich selbst schon anfanghaft Wahrnehmung, wenngleich es zur Wahrnehmung im vollen Sinn nur kommt, wenn das leibliche Gefühl von der idealen Tätigkeit oder der Reflexion in seiner Qualität angeschaut und verstehend erfasst wird, und das Gefühl so innerhalb dieses Gesamtprozesses nur ein vermittelndes Moment und in diesem Sinne ein ›Instrument‹ darstellt. In der ursprünglichen Unmittelbarkeit des Fühlens kann der Trieb noch nicht in seiner Bestimmtheit bewusst werden, denn dazu muss er erst durch die Reflexion auf sein Objekt bezogen und von anderen Trieben mit anderen Objekten unterschieden werden. Das erste unbestimmte Gefühl des Triebes nennt Fichte ein Sehnen. »Es fehlt uns, wir wissen nicht woran.« (S120) Den in Bezug auf sein Objekt bestimmten Trieb nennt Fichte demgegenüber ein Bedürfnis (S122). Es kann nur als Folge einer Reflexion erscheinen. Der Trieb in Form eines bestimmten und zu einer bestimmten Handlung treibenden Bedürfnisses drängt sich also nicht unabhängig von der Reflexion auf, und sofern diese in einem gewissen Maß in der Freiheit steht, kann er deshalb durch Freiheit auch im Unbestimmten gelassen werden – durch Unterlassen der Reflexion oder Lenken der Reflexion auf einen anderen Gegenstand. Im Sehnen ist der Trieb in die Region des Bewusstseins versetzt, die in der Verfügung von mir als Bewusstseinssubjekt steht. Was der Trieb »in dieser Region wirke, steht in meiner Gewalt, oder bestimmter, er wirkt in dieser Region gar nicht, sondern ich wirke« (S121). Ich kann zwar nur mit der Kraft wirken, die mir die Natur in ihm zur Verfügung stellt, aber ich wirke nicht mehr zufolge des Triebes, sondern frei. Für Fichte versteht sich dieser Zusammenhang von selbst: »Jede Befriedigung des Triebes, in wiefern sie mit Bewußtseyn geschieht, geschieht nothwendig mit Freiheit« (S125). Dass mein Trieb Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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sich hier nicht weiter sozusagen über mich hinweg verwirklicht, gehört für Fichte zum Wesen des Bewusstseins sowie zu dem des bloß Naturhaften. In seiner Wesensbeschränktheit, seinem Unvermögen in Bezug auf den Bereich des bewussten und freien Tätigseins, liegt das Positive, dass sie einen Raum lässt für die Freiheit des Bewusstseins. 118 Der bewusst gewordene Trieb wird also nur durch die Freiheit kausal. Und indem es der sinnliche Trieb ist, der in meiner Gewalt steht, wirke ich durch ihn in der Sinnenwelt. Die Frage nach der Harmonie zwischen der bewussten Bestimmung und der Bestimmung in der Natur stellt sich für Fichte nicht, denn das Subjekt des Bewusstseins und das Subjekt des Triebes ist in der Ableitung von vornherein dasselbe. Eine Dualität von Ich-Substanz und Körpersubstanz wird vom Ansatz her unterlaufen. Der Trieb wurde nicht getrennt vom Selbstbewusstsein, sondern als mein Trieb gedacht und die ganze Natur nur ausgehend von ihm und in innerer Verbindung mit ihm. Möglich war dies freilich nur dadurch, dass der Trieb bereits als Selbstbestimmung verstanden wurde. Ein bloß äußerlich gedachter Mechanismus könnte kein Subjekt haben. Das Mechanische ist für Fichte nur eine äußere Erscheinungsweise oder Betrachtungsweise der Natur, die an sich im Ganzen als organischer Trieb zu denken ist. Erscheinen muss sie als notwendiger mechanischer Gang, weil die Selbstbestimmung des Triebes sich nicht frei, sondern zwangsläufig nach einem inneren Gesetz vollzieht. Auf diese Weise ist durch Fichtes Begriff des Triebes nicht nur von vornherein eine Trennung von Körper und Geist verhindert, sondern, indem er ihn als ein synthetisches Mittelglied zwischen Freiheit und Determination analysiert, auch eine Erklärung gefunden, wie Freiheit in einer nach Gesetzen verlaufenden Natur möglich ist (S113). 119 Die als Teil des Natur118 Diese positive Eigenschaft der Natur bringt Fichte in der Sittenlehre nicht direkt zum Ausdruck. Die Deutung findet sich aber etwa in der Darstellung der Wissenschaftslehre von 1801/2 (GA II,6 298). Hartmut Traub (2006, 192) hat auf diese interessante Perspektive Fichtes aufmerksam gemacht, das Sich-los-Reißen des Bewusstseins von der Natur genauso von einer Wesenseigenschaft der Natur her zu verstehen: als ein Loslassen des Bewusstseins. Er bringt diese Eigenschaft der Natur unmittelbar in Zusammenhang mit dem Freiheit und Vernunft ermöglichenden Wirken des Absoluten. Dies entspricht m. E. Fichtes Verständnis von Vorsehung als einer sinnvollen und zweckmäßigen Einrichtung der Welt durch das Absolute (vgl. dazu unten sowohl S. 191–198 zu seinem Konzept einer göttlichen Weltordnung in der frühen Zeit als auch S. 308–311 zu seinem späteren Vorsehungsmodell). 119 Welches Potential in Fichtes Ideal-Realismus für eine Klärung des Verhältnisses von Leib und Seele liegt, hat etwa Patrick Grüneberg (2007) herausgearbeitet und in

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mechanismus zu denkende Körperlichkeit des Leibes ist nur dessen äußere Erscheinung. Tiefer ist er Trieb eines Subjekts, das, als bewusstes, ihn, insoweit er bewusst wurde, unmittelbar in seine Gewalt bekommen hat. »Wir brauchen nur zu wollen, und es erfolgt in ihm, was wir wollten. Er enthält die ersten Punkte, von welchen alle Kausalität ausgeht […] Er ist in unserer Gewalt, ohne erst in sie gebracht werden zu müssen, wie alles übrige außer ihm. Ihn allein hat schon die Natur in unsere Gewalt gelegt, ohne alles unser freies Zuthun. […] er ist Instrument aller unserer Kausalität« (S196). Der Ausdruck ›Instrument‹ ist dabei wieder in einem unmittelbaren Sinn zu verstehen zur Bezeichnung von etwas, in dem ich mich immer schon selbst vollziehe. Indem der Trieb das alleinige Instrument ist, schränken sich unsere Möglichkeiten auf das ein, was in ihm liegt. Noch einen Diskurs mit naturalistischen Theorien gebracht. Darüber hinaus scheint mir Fichte auch ein recht aussichtsreiches Konzept bereitzustellen für die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit in einer den Naturgesetzen folgenden Welt. Es müsste natürlich eingehend geklärt werden, inwieweit Fichtes Naturphilosophie mit den Forschungsergebnissen der Physik zusammenpasst. Das kann hier nicht geleistet werden. Auf jeden Fall wäre dabei m. E. von Fichtes Seite gefordert, dass sich auch in der naturwissenschaftlichen Perspektive – indem diese sich auf dasselbe Objekt wie die Naturphilosophie bezieht und indem sie zwar nur Erscheinung, nicht aber bloßen Schein beschreibt – nicht ein reiner Determinismus ergeben darf. Es müsste in der naturwissenschaftlichen Beschreibung, damit diese zu Fichtes Ansatz passt, eine wirkliche Indetermination vorkommen. Es dürften nicht alle Ereignisse aus den vorhergehenden deterministisch folgen. Nach dem gegenwärtigen Stand der physikalischen Forschung ist dies möglich, ja legt sich von der Quantentheorie her sogar als eine Interpretation nahe. Abgesehen davon steht ohnehin infrage, ob die Physik als eine empirische Wissenschaft es jemals erreichen kann, eine lückenlose Determination aller Ereignisse zu belegen. Was für die äußere Betrachtung der Naturwissenschaft wie eine Indetermination aussehen würde, wäre transzendentalphilosophisch als Wirkung eines aus sich anfangenden, freien Subjekts zu deuten. Neben der Möglichkeit einer Indetermination deutet sich m. E. in der Physik auch an anderen Stellen eine Vermittlungsmöglichkeit mit Fichtes Sicht der Welt als einer Einheit von lebendigem geistigem Tätigsein an, etwa wenn sich in Bezug auf die Unschärferelation oder den Kollaps der Wellenfunktion in der Quantenmechanik eine Beobachterabhängigkeit andeutet oder wenn das Phänomen der Quantenverschränkung auf eine instantane Wechselwirkung zu verweisen scheint. Für diesen ganzen Komplex von Fragen nach dem Verhältnis von Fichtes Geistmetaphysik zur Naturwissenschaft wäre es m. E. lohnenswert, Fichte in ein Gespräch zu bringen mit dem Ansatz Whiteheads, der in seiner panpsychistischen Ausrichtung viele Ähnlichkeiten zu jenem von Fichte aufweist. Dieser wurde schon sehr eng im Dialog mit der modernen Naturwissenschaft entwickelt und spielt im gegenwärtigen Diskurs um das Verhältnis von Naturphilosophie und Physik eine wichtige Rolle. Eine Brückenfunktion könnte dabei der bei beiden beobachtbaren Affinität zu Leibniz (für Fichte vgl. dazu Lauth, 1996) zukommen. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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weiter sind sie dadurch begrenzt, dass nur das, was bewusst wird, unter unserer Verfügung steht. Und was von den Trieben unseres Organismus bewusst wird, liegt nicht an uns. Dass wir tatsächlich nicht aller Triebe gewahr werden, zeigt Fichte ausgehend von der Erfahrung der Unbewusstheit und Nichtsteuerbarkeit etwa der Verdauung oder des Blutkreislaufs (S121). Zwar ist für Fichte der Mensch durch das Bewusstsein als grundsätzlich frei anzusehen. Er bestimmt das Ausmaß dieser Freiheit bei der ersten Bewusstwerdung aber sehr differenziert. Obwohl der Mensch Subjekt des Triebes ist, sobald dieser bewusst wird, kann er zuerst nur diesem entsprechend handeln. Denn in der ersten Unmittelbarkeit taucht nur ein einziger unbestimmter Trieb auf, in dem sich letztlich der aktuell resultierende Trieb des Organismus ausdrückt (S131). Das Subjekt ist noch nicht seiner verschiedenen Wirkpotentiale gewahr. Und die Möglichkeit, den einen Trieb einfach nicht zu befriedigen und sich unbestimmt zu lassen, ist ebenso noch nicht gegeben, denn sie setzt eine Reflexion auf die eigene Freiheit voraus (S165). Deshalb ist, wenn das Subjekt bewusstes Subjekt des Triebes wird, seine Freiheit zuerst nur – wie Fichte es nennt – eine »formale Freiheit« (S129). Inhaltlich bestimmt ist sie nur vom Naturtrieb. Wie kommt es zu einem reflektierten Bewusstsein der Freiheit? Die Bedingung dafür ist das Bewusstsein einer Alternative. Nachdem zuerst die Alternative zwischen verschiedenen Naturtrieben nicht auftaucht, muss es sich offenbar auf die Alternative beziehen, dem Naturtrieb zu folgen oder ihm nicht zu folgen, indem man sich unbestimmt lässt. Setzt dies aber nicht schon das Bewusstsein der Freiheit voraus? Zumindest – das ist Fichtes Lösung – setzt das Auftauchen dieser Alternative voraus, neben dem Naturtrieb einen Trieb danach zu haben, nicht vom Naturtrieb bestimmt zu sein, einen »Trieb nach Freiheit um der Freiheit willen« (S132). Er nennt ihn den reinen Trieb (S134). Diesem kommt nicht in derselben Weise ein unmittelbares Bewusstsein zu wie dem Naturtrieb. Das Bewusstsein der Freiheit bedarf einer Reflexion. Er ist ein Trieb zu dieser Reflexion. Als solcher muss er freilich auf eine Art das Subjekt betreffen, die Freiheit muss dem Ich auf eine Art schon vorschweben. Es ist bereits thematisiert worden, dass für Fichte jede Reflexion auf sich schon einen ihr vorgängigen Selbstbezug voraussetzt und wie er einen solchen ursprünglichen vorbewussten Selbstbezug konzipiert. 120 Dass der in 120

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Vgl. oben, S. 86 f.

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diesem Selbstbezug der Freiheit auf sich liegende Trieb notwendig das Subjekt betrifft, sobald der Mensch überhaupt Subjekt des Bewusstseins wird, erklärt sich für Fichte aus dem Urtrieb, der Tendenz der Vernunft, sich schlechthin durch sich selbst zu bestimmen (S125). Wie schon in der Darstellung seiner Herleitung des Prinzips der Sittlichkeit hervorgehoben wurde, muss dieser für ihn gegenüber dem Vermögen der Freiheit unmittelbar als ein Sollen erscheinen. Die Reflexion soll also erfolgen. Zudem können, wie Fichte hier schon bemerkt, neben dem eigenen Trieb auch andere Vernunftwesen eine Veranlassung dazu geben (später argumentiert er dafür, dass es sogar deren Aufforderung braucht zu dieser Reflexion). Aber sie muss nicht erfolgen. Wenn sie erfolgt, dann nur durch die Freiheit (S165). Erst durch diesen Reflexionsakt taucht Freiheit dann über ihrem formalen Vorhandensein als inhaltliche Möglichkeit auf, wird sie »materiale Freiheit« (S132). Das Bewusstsein dieses Inhalts kann dabei verschieden deutlich sein. Fichte beschreibt den Fall, dass als Inhalt eigentlich nur die formale Freiheit bewusst wird: Ich bin frei und kann mich dadurch erst einmal vom Naturtrieb unbestimmt sein lassen und seine Befriedigung aufschieben. Selbst als ein möglicher Zweck muss die Freiheit dabei gar nicht wahrgenommen werden, sodass weiterhin als Zwecke nur die der Naturtriebe da sind. Eine Veränderung entsteht freilich insofern, als nicht mehr nur der aktuelle Trieb als einziger wahrgenommen wird, weil durch den Aufschub die Möglichkeit entsteht, dass weitere Naturtriebe auftauchen. 121 Auf dieser Basis muss ich mich dann auch nicht mehr an die Befriedigung halten, die gegenwärtig gefordert ist. »Wenn erst eine gewisse Summe der Erfahrung vorhanden ist, kann ich durch die Einbildungskraft gar wohl einen Genuß mir vorstellen, welchen gegenwärtig meine Natur nicht im mindesten fodert; und diesem Genusse alle Befriedigung der gegenwärtig in der That vorhandenen Triebe nachsetzen.« (S151 f.) Eine solche Reproduktion ist freilich nur möglich, wenn ich den Antrieb schon einmal gehabt habe. Auf diese Weise können nicht nur Naturtriebe verdrängt und geweckt werden, son121 Vgl. S151: »Werde ich mir bloß der formalen Freiheit bewußt, so erhalte ich, als Intelligenz, dadurch zuförderst das Vermögen, die Befriedigung der Natur aufzuschieben; und da, während dieses Aufschubs der Naturtrieb fortfahren wird, sich zu äußern, und auf eine mannichfaltige Weise sich zu äußern, erhalte ich zugleich das Vermögen, auf den Naturtrieb in den verschiedenen Ansichten, unter denen er jetzt sich mir darbietet, zu reflectiren, und unter den mehrern möglichen Befriedigungen desselben zu wählen.«

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dern es entstehen so auch neue Formen von Antrieben. Fichte verweist in dem Zusammenhang etwa auf den Geiz, bei dem für einen vorgestellten zukünftigen Genuss die gegenwärtigen Bedürfnisse zurückgestellt werden (S151 f.). Offenbar können sich wie beim Geiz auf der Basis der Lenkung der Einbildungskraft und des Willens durch Gewöhnung ganz neue Antriebe verfestigen, welche die Natur allein nicht hervorbringt – positive wie negative. Daneben wird durch die freie Tätigkeit der Einbildungskraft auch erst »Klugheit« möglich, als »eine verständige Wahl zwischen mehreren Befriedigungheni des Naturtriebes« (S152). Der Inhalt des reinen Triebes hat dafür erst einmal nur ganz unbestimmt aufgefasst werden müssen, nur als Vermögen der Freiheit, ohne dass die Freiheit selbst als Zweck angesehen werden musste. Die Möglichkeit einer verständigen, oder auch unverständigen, Wahl zwischen mehreren Naturtrieben kann also bestehen, ohne dass es zu einem reflektierten Bewusstsein von Sittlichkeit gekommen ist. Wegen der Möglichkeit verschiedener Grade der Deutlichkeit der Reflexion kann es für Fichte zudem sein, dass zwar die Selbständigkeit selbst als Zweck, aber dabei der reine Trieb in einer noch blinden und unsittlichen Form, mit dem bloßen Ziel der Herrschaft über alles und jeden, verfolgt wird (S171 f.). Wie deutlich reflektiert wird und auf welche Stufe des Bewusstseins sich der Mensch erhebt, lässt sich nicht voraussagen, denn es ist frei. Erklärt ist, wie es dazu kommen kann, dass verschiedene Triebe auftauchen. Die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Trieben steht für Fichte jedoch noch unter weiteren Voraussetzungen (zum Folgenden vgl. § 9 Nr. V.). Erstens müssen noch genauer die Bedingungen der Erkenntnis ihrer besonderen Bestimmtheit erhellt werden. Es wurde schon Fichtes Unterscheidung zwischen dem unbestimmten Sehnen und dem bestimmten Bedürfnis thematisiert. Ein Sehnen kann bestimmt werden nur im Unterschied zu einem Anderen. Dieser Unterschied lässt sich aber nur an einer Unterscheidung der Objekte des Sehnens festmachen. Diese Objekte sind Naturdinge. Erfasst werden können sie nur anknüpfend an ein Gefühl, das ausgelegt wird in eine räumliche und kategorial geordnete Erscheinung, nur als Dinge im Raum. Fichte setzt an dieser Stelle ausdrücklich eine Einsicht der theoretischen Philosophie voraus, die nicht in den Aufgabenbereich der Sittenlehre, als einer beschränkten Wissenschaft, fällt. Ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre wurden diese Erkenntnisgesetze in der vorliegenden Untersuchung bereits thema162

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tisiert. 122 Das ihnen zufolge als räumliche Dinge Begriffene möchte der Trieb mit sich vereinigen oder in ein bestimmtes Verhältnis zu sich setzen. Er muss deshalb selbst im Raum sein, denn zu etwas Räumlichem hat etwas nur ein Verhältnis, wenn dies ein räumliches Verhältnis ist. »Nun ist das, was im Raume ist, und denselben ausfüllt, Materie. Ich bin sonach, als Naturprodukt, Materie; und zwar nach dem obigen organisirte Materie, die ein bestimmtes Ganze ausmacht. Mein Leib.« (S123) Erst mit der Herleitung dieser äußeren räumlichen Erscheinung des innerlichen zu einem Organismus gebildeten Naturtriebes benennt ihn Fichte mit dem Wort ›Leib‹, das für ihn offenbar das innerlich-äußerliche Ganze meint. 123 Daraus, dass neben der Erkenntnis auch die Verwirklichung der Wahl oder die wirkliche Befriedigung eines der Naturtriebe unter einer noch zu erhellenden Voraussetzung steht, wird von Fichte zweitens noch eine weitere wesentliche Eigenschaft des Leibes hergeleitet. Da die Bestimmung des Verhältnisses nur räumlich geschehen kann, muss sie als Bewegung geschehen. Und zwar soll die Bewegung in meiner Freiheit liegen. Sie soll durch mich, nicht durch das Objekt und nicht zufällig erfolgen. Das erfordert, dass ich in Bezug auf die Natur außer mir beweglich bin. Fichte versucht dann konkret auch eine Beweglichkeit von Teilen meines Organismus zueinander zu begründen, und zwar ausgehend von einem Erfordernis einer durch mich geschehenden Vereinigung von Naturdingen mit Teilen meines Organismus. Warum diese auf jeden Fall durch mich geschehen und ich dafür in der Weise beweglich sein muss, ist m. E. zwar nicht unmittelbar einleuchtend. Mir scheint sich eine solche Beweglichkeit von Teilen meines Organismus aber auch schon als Bedingung für die Beweglichkeit relativ zur Natur außer mir zu ergeben. Nachvollziehbar ist wieder, dass die Beweglichkeit der Teile, »da diese Bewegung abhängen soll von einem frei entworfnen und ins unbestimmte modificirbaren Begriff, eine mannichfaltige Beweglichkeit seyn« (S123) muss. Die für die Freiheit erforderte Beweglichkeit des Leibes ist somit nur möglich, wenn es mehrere Punkte meines unmittelbaren Eingreifens gibt und diese, im Raum angeschaut, in einem Verhältnis zueinander stehen, das ich verändern kann. Dies nennt Fichte die Artikulation des Leibes. Der Begriff wurde früher bereits eingeführt, als sich die Notwendigkeit eines unmittelbaren Eingriffspunk122 123

Vgl. oben, S. 117–122. Vgl. oben, S. 144 f.

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tes in die Welt ergeben hat. 124 Nun ist gezeigt, dass es mehrere Eingriffspunkte braucht und sie durch mich in ihrem Verhältnis zueinander veränderlich sein müssen. Allein durch die Natur muss ein solcher Organismus gegeben sein, der bewegt werden kann. Die Verwirklichung und die nähere Ausbildung dieser Möglichkeit als freie Beweglichkeit kann jedoch nur durch die Freiheit geschehen. »Die Artikulation, als solche, als Werkzeug der Freiheit, ist nicht eigentlich Produkt der Natur, sondern der Übung durch Freiheit.« (S124) Viele Eigenschaften des menschlichen Organismus erklären sich für Fichte nur als Folge einer freien Bildung, etwa die Aufrichtung oder die Beweglichkeit der Lippen und Augen. 125 Offenbar kann die Freiheit die Triebe nicht nur so, wie sie sind, gebrauchen, sondern sie durch ihren freien Gebrauch verändern und sich so eine andere Basis für künftige Handlungen schaffen. Fichte begründet in der Sittenlehre diese Möglichkeit nicht eigens. Wie er in seiner Ascetik die freie Bildung von Trieb- und Verhaltensmustern auf die Möglichkeit der Assoziation von Vorstellungen zurückführt, vermag m. E. nicht einzuleuchten. 126 Dass grundVgl. oben, S. 137. Konkretere Überlegungen zur freien Bildung der Artikulation stellt Fichte in der Sittenlehre nicht an. Sie finden sich in der Grundlage des Naturrechts (GNR379– 383): Der aufrechte Gang etwa werde uns nicht durch einen Naturtrieb vorgeschrieben, denn dem Menschen sei es genauso möglich, auf allen Vieren zu laufen, sondern er entspringe einer freien Wahl. Ebenso die Ausbildung der differenzierten Beweglichkeit der Arme und Hände oder der feinen Wahrnehmungsfähigkeit der Finger. Fichte verweist hier auch auf die vom geistigen Handeln durchdrungene Beweglichkeit von Augen und Mund. Grundgelegt sei die freie Bildung dadurch, dass die Natur den Menschen in einer relativen Unbestimmtheit belasse im Vergleich mit den Tieren. 126 Fichte möchte hier die Entstehung allgemein von erlernten Fertigkeiten und Verhaltensmustern sowie speziell lasterhafter Verhaltensformen aus einer »Ideenassociation« erklären (Asc68 f.), also aus einer grundsätzlichen Möglichkeit, bestimmte Vorstellungen, die nicht schon logisch miteinander verbunden sind, in eine Verknüpfung zu bringen, wie dies etwa in der Erinnerung geschieht (Asc65 f.). Meines Erachtens müsste man jedoch deutlich unterscheiden zwischen einer Verknüpfung von Vorstellungen und einer Verknüpfung bestimmter leiblicher Vollzüge und Antriebe. Und letztere scheinen dann nicht aus ersteren erklärt werden zu können. Zudem müsste man sich m. E. sogar fragen, ob sich nicht umgekehrt die Verknüpfung von Vorstellungen, wie sie sich in der Erinnerung findet, aus einer Verknüpfung von Leibvollzügen erklären muss. Fichte hat dafür argumentiert, die Vorstellung als auf verschiedene Weise abhängig zu verstehen vom Leiblichen. Sie bekommt ihre geistige Kraft aus dem Leib. Und alle Bestimmtheit der Wahrnehmung sowie von da aus alle Bestimmtheit des Vorstellens und Erkennens überhaupt muss an die Bestimmtheit der gefühlten leiblichen Begrenzung anknüpfen. Zwar scheint es mir nicht nötig zu sein, 124 125

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sätzlich eine Möglichkeit der Bildung und Entwicklung des Organismus bestehen muss, kann man freilich schon in der Notwendigkeit einer Naturentwicklung als Folge der Wirkung eines Bildungstriebes gegeben sehen. Indem die Freiheit in die Wirkung der Triebe eingreift, führt sie diesen Bildungsprozess fort – nun freilich zu ihren frei gewählten Zwecken. In der Sittenlehre thematisiert Fichte diese Fähigkeit, wenn er von einer Pflicht der Bildung des Leibes zur Tauglichkeit für die freie Bestimmung überhaupt wie speziell für die pflichtmäßigen Zwecke der Freiheit spricht (S197). Wenn Bildung möglich ist, dann auch Verbildung. So folgt für Fichte negativ, nicht nur alles zu vermeiden, was den natürlichen Selbsterhaltungsprozess hindert (z. B. eine ungesunde Enthaltsamkeit), sondern auch, was die Triebstruktur gegen die Tauglichkeit für die Freiheit prägt (z. B. Unmäßigkeit und Völlerei) (S235). Wenn Fichte davon spricht, dass »ein Bedürfniß durch die Einbildungskraft erkünstelt« (S288) werden kann, dann geht er offenbar davon aus, dass nicht nur die Verwirklichung, sondern allein die Vorstellung eines Triebes oder seines Objekts einen Trieb wecken und prägen kann. Die bereits dargestellte Möglichkeit der Bewusstmachung und reflexiven Bestimmung des erst noch unbestimmten Sehnens in konkrete Bedürfnisse hätte von daher nicht nur Bedeutung für das aktuelle Bewusstsein, sondern ebenso für die Bildung oder auch Verbildung der Triebstruktur. Die Gestalt des Leibes hat sich für Fichte daraus ergeben, was als Bedingung für die Freiheit notwendig ist. Er hat gezeigt, wie von der unmittelbaren Leibwahrnehmung die sinnliche Erkenntnis sowie die Erkenntnis überhaupt ausgehen. Und er hat herausgearbeitet, wie allein durch den leiblichen Trieb ein bestimmtes Wollen und ein Handeln möglich sind. Daneben ist er aber noch auf eine weitere Art Basis der geistigen Vollzüge. Als eine Pflicht gegenüber dem eigenen Leib führt Fichte auf, dass er nicht vernachlässigt oder geschwächt werden die ideale Tätigkeit des Anschauens und des kategorialen Verstehens selbst wie das reale Handeln auf leibliche Vollzüge aufbauen zu lassen. Aber knüpft die ideale Tätigkeit, wenn sie nicht nur das aktuell Gefühlte auffasst, sondern auf der Basis der Erinnerung frei Vorstellungen produziert, nicht ähnlich wie im Wahrnehmen an etwas Gegebenes an, an etwas Fühlbares – wenn dieses auch nicht einer gegenwärtigen, sondern einer gespeicherten Erfahrung entspringt? Die transzendentale Analyse des Gedächtnisses müsste m. E. auf eine Art Speicher in der Form einer komplexen Struktur von leiblichen Vollzügen führen, in der sich bestimmte Erfahrungen niederschlagen und aus der diese durch die ideale Tätigkeit wieder ins Bewusstsein gehoben werden können. Man könnte hier dann aus einer transzendentalen Perspektive das beschrieben finden, was sich empirisch als Gehirn zeigt. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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darf, da der Geist in seiner »Thätigkeit vom Wohlseyn des Leibes abhängt«, und zwar konkret von seiner Kraft und Wachheit, dass der Leib »ihn unterstützen muß« (S235) und sogar, wie Fichte an anderer Stelle schreibt, »erhalten« (S245). Diese Abhängigkeit der Kraft des Geistes vom Leib, sowohl im Erkennen als auch im Wollen, ergibt sich innerhalb von Fichtes Rekonstruktion daraus, dass sich das freie Bewusstseinssubjekt erhebt innerhalb der Selbstbestimmung des Triebes und auf der Basis von dessen ursprünglicher Lebendigkeit. Die Herkunft unserer Kraft aus der Natur wirkt sich im Konzept Fichtes auch darin aus, dass für ihn die Kraft des Geistes geprägt ist von einer fundamentalen Eigenschaft der leiblichen Kraft, nämlich der Trägheit. Diese Eigenschaft der Natur, in ihrem Zustand beharren zu wollen und deshalb eine Gegenkraft gegen alle Veränderung zu stellen, erklärt Fichte aus ihrem Wesen, das Gegenüber zur reinen Tätigkeit, und deshalb von Nicht-Ichlichkeit, Nichttätigkeit gezeichnet zu sein (S183). Da die geistige Tätigkeit ihre Kraft aus der Natur schöpft – Fichte sagt hier sehr deutlich: »Unserer Kräfte sind Kräfte der Natur« (S183) –, ist sie von derselben Trägheit bestimmt. Reflexion bedarf deshalb immer einer Anstrengung. Und da der Mensch zum Bewusstsein seiner Pflicht nur vermittels einer Reflexion auf seine Freiheit gelangen kann, hat diese Trägheit, wie noch ausführlicher dargestellt werden wird 127, enorme Bedeutung für die Sittlichkeit des Menschen. Im Blick auf die Auswirkungen der Trägheit erscheint der Leib nicht nur positiv als Ermöglichung, sondern zugleich als Einschränkung des Geistes. Deutlich wurde dies auch schon daran, dass er der Freiheit nur ganz beschränkte Möglichkeiten der Wirksamkeit in der Sinnenwelt einräumt. Dasselbe gilt für die Möglichkeiten der Wahrnehmung. In seinem Triebcharakter stellt der Leib zudem nicht nur die Kraft des Geistes, sondern häufig ebenso eine Gegenkraft gegen das freie Wollen sowie die Beweglichkeit des Erkennens des Menschen dar, die für die Zwecke des Geistes gezügelt oder zumindest nicht zusätzlich anzutreiben ist. 128 Bei aller Bedingung und Beschränkung wirkt der Leib freilich nie

Vgl. unten, S. 185–189. Diese Bedingtheit des Geistes durch den Leib verdeutlicht Fichte etwa mit folgenden Beispielen: »Fasten schwächt ihn, und schläfert ihn ein. Unmäßigkeit, Völlerei, und besonders Unkeuschheit versenkt ihn tief in die Materie und nimmt ihm alle Fähigkeit sich emporzuschwingen.« (S235) 127 128

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direkt auf die Freiheit. Findet Freiheit statt, dann nur in reiner Selbstbestimmung. Umgekehrt wirkt aber die Freiheit auf den Leib. Neben der Möglichkeit, die Triebe, die bewusst werden, kausal werden zu lassen oder nicht, kommt ihr das Vermögen zu, Triebe zu wecken und die Triebstruktur selbst bleibend zu verändern. Welche Folgen das freie Vorstellen neben der Weckung und Bildung von Trieben auch dadurch hat, dass es die bewusste Erscheinung des Leibes prägt, ist ebenfalls bereits deutlich geworden. Die Innerlichkeit des Triebes erscheint in der Äußerlichkeit des Raumes. Selbstbestimmung erscheint als Mechanismus. Die Lebendigkeit des Leibes wird zu einem toten Objekt. Die Kontinuität und Grenzunschärfe, die der Innerlichkeit noch näher stehen, werden durch die Reflexion in feste Grenzen gefügt. Die Unbestimmtheit des Sehnens wird in die Bestimmtheit von Bedürfnissen verwandelt. Durch die Einbildungskraft löse ich mich aus dem reinen Gegenwartsbezug der Wahrnehmung. Dies alles hat seine positive Bedeutung, indem dadurch eine reflektierte, freie Selbstbestimmung ermöglicht wird, auf deren Basis es auch allein zu Sittlichkeit kommen kann. Es liegt darin jedoch auch eine Gefahr, nämlich über der Erscheinung den Bezug zur wahren Realität zu verlieren. Der Problematik der Verdeckung des eigentlichen Seins durch die Vorstellung der Körperwelt ist sich Fichte, wie dies von der Anweisung her sichtbar wurde 129, sehr bewusst gewesen. Gewöhnlich führt er als Ausweg die geistige Selbsterkenntnis an. Wie noch herausgearbeitet werden wird, finden sich jedoch bei ihm auch Beschreibungen eines Gewahrseins des Lebens und sogar der Einheit des göttlichen Lebens in einer Betrachtung der Natur und des eigenen Leibes. 130 Im leiblichen Leben ist zwar noch nicht direkt das vernünftige Leben zugänglich, es kommen ihm jedoch nicht die dargestellten Probleme der Körpererscheinung zu. Und auf der Basis von Fichtes Beschreibung der Vorgegenständlichkeit der intellektuellen Anschauung und des Fühlens der leiblichen Triebe kann die Leiblichkeit als wichtiger Zugang zum Gewahrwerden des Seins in seiner eigentlichen Lebendigkeit gewürdigt werden. In den dargestellten Reflexionen Fichtes über das Verhältnis der Leiblichkeit zum freien Erkennen und Handeln wurde auf verschiedene Weise deutlich, wie diese notwendigen Verwandlungen durch die freie Reflexion praktische Bedeutung bekommen. Zum einen wer129 130

Vgl. oben, S. 125 f. Vgl. unten, S. 244–248.

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den durch sie die Bedingungen meiner freien Entscheidung, die ja immer von meinem Bewusstsein abhängt, geprägt. So hat die Verdeckung des lebendigen Seins durch die räumlich-dingliche Erscheinungswelt ein gewisses praktisches Verlorensein an sie zur Folge. Oder durch die Bestimmung eines Begehrens durch die Reflexion drängt sich mir dieses in meinem Bewusstsein stärker auf. Zugleich kann ich mich durch vorgestellte Triebe wegbewegen von deren natürlicher und gegenwärtiger Notwendigkeit und sogar überhaupt sehr weitgehend den Kontakt zu meinen realen Bedürfnissen verlieren. Zum anderen ist die Reflexion praktisch dadurch bedeutsam, dass durch die Weise des Reflektierens auf die Triebstruktur selbst bildend eingewirkt wird.

1.2.2.5 Der Leib als Medium der Interpersonalität Der Leib hat seine Bedeutung für das Leben des Menschen im Zusammenspiel mit dem freien Erkennen, Wollen und Handeln. Diese sind hergeleitet worden als Bedingungen des Selbstbewusstseins der Freiheit und der Verwirklichung der Moralität. Eine weitere Bedingung ist die Beziehung zu anderen Vernunftwesen. Auch das Zusammenspiel mit dieser prägt die Bedeutung des Leibes und muss deshalb im Folgenden betrachtet werden. In § 18 der Sittenlehre leitet Fichte als dritte materiale Bedingung der Moralität nach dem Leib und dem Reflexionsvermögen den Interpersonalbezug her, und zwar in zwei Schritten: Zuerst argumentiert er dafür, dass das Ich sich nur als eine begrenzte Tätigkeit begreifen kann und deshalb innerhalb des gesamten unbegrenzten Horizonts der Vernunfttätigkeit nur als einen Teil oder, wie Fichte sagt, als ein bestimmtes Quantum. Dies impliziert, dass es sich anderen Teilen gegenüberstellt. Die anderen Individuen werden dabei erst einmal jedoch nur subjektiv gesetzt, als bloß mögliche, ohne dass dafür ihre reale Existenz vorausgesetzt werden müsste. In einem zweiten Schritt, von einem anderen Gedankengang her, können diese für Fichte aber durchaus als notwendig erwiesen werden: Ich kann mein Verstehen nicht überhaupt in einer freien Reflexion hervorbringen, sondern brauche als Basis ein faktisches Verstehen dafür. Soll ich mich verstehen, bedarf es eines faktischen Verstehens des Ich, und, weil ich ein Ich nur als freies bin, eines faktischen Verstehens meiner Freiheit. Ich muss »mich frei finden; mir als frei gegeben werden« 168

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(S200). Es kann dabei nicht darum gehen, dass die Selbstbestimmung selbst faktisch geschieht, denn das ist ein Widerspruch in sich. Es kann nur gefordert sein, dass die Selbstbestimmung im Verstehen vorkommt, in der idealen Tätigkeit, jedoch eben so, dass sie sich erst faktisch vollzieht und nicht selbstbewusst frei reflektierend. In dem Fall bildet die ideale Tätigkeit immer etwas Reales nach, was ohne ihr Zutun existiert. Ohne mein Zutun kann Selbstbestimmung nicht als eigene reale Selbstbestimmung, sondern nur als Begriff vorhanden sein, der mir real gegeben wird. Ein real gegebener Begriff kann nur etwas von einem anderen Vernunftwesen Herkommendes sein, denn ein Begriff kann nur von einem Wesen kommen, das des Begreifens fähig ist. Für das Verstehen meiner Freiheit ist also zumindest ein anderes Vernunftwesen vorausgesetzt, das mir auf irgendeine Weise einen Begriff meiner Selbständigkeit kommuniziert. Da die Reflexion auf meine Freiheit nur spontan erfolgen kann, nötigt mich dieser Begriff nicht dazu, aber ohne ihn könnte sie nicht erfolgen. Ohne es genauer zu begründen, fasst Fichte diesen gegebenen Begriff dann als eine Aufforderung. Diese Bestimmung ist durchaus geeignet. Denn in jeder Aufforderung ist, wenn auch nicht ausdrücklich, meine Selbstbestimmung notwendig miteingeschlossen. Wieso reicht aber nicht eine Feststellung, ein Ist, weshalb braucht es ein Soll der Selbständigkeit? Erklären ließe sich das eventuell damit, dass ein Verstehen der Äußerung eines Ist ein reflektiertes Bewusstsein des Gemeinten bereits voraussetzt, während in einer Aufforderung durch die notwendige implizite Thematisierung der Begriff der Selbstbestimmung unmittelbar gegeben wird. Ein Grund könnte auch sein, dass für Fichte, wie er im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem Bösen im Menschen beschreibt (S184–187), für das Zustandekommen der Reflexion auf die Freiheit nicht nur ein faktischer Begriff von ihr, sondern auch die Überwindung der Trägheit der Reflexion vonnöten ist. Er macht zwar deutlich, dass in der Freiheit allein die Kraft, diese Trägheit zu überwinden, schon vorhanden ist, beschreibt die Begegnung mit anderen dann aber nicht nur als Vermittlung eines Begriffs der eigenen Freiheit, sondern auch als Vermittlung eines Antriebes, als Wecken der Achtung gegenüber der Sittlichkeit und der Verachtung der eigenen Unsittlichkeit. Ein Soll würde über das Bild hinaus einen Gegenantrieb gegen die Trägheit liefern, der zwar nicht notwendig, aber doch hilfreich ist. Vermutlich spricht Fichte vor allem deshalb von einer Aufforderung. Neben dem Bild und der Freiheit selbst, die allein die Reflexion Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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setzen kann, bedarf es noch einer weiteren Bedingung. Die Aufforderung muss verstanden werden und das ist nur möglich, wenn sie an ein ursprüngliches Verstehen im Ich anknüpfen kann. Dieses notwendige Element der Konstitution des Freiheitsverstehens thematisiert Fichte zwar nicht an dieser Stelle, er ist darauf jedoch in der Sittenlehre schon in einem anderen Zusammenhang eingegangen und hat dafür, wie bereits oben dargestellt, den reinen Trieb postuliert und ihn aus dem Urtrieb abgeleitet: einen unmittelbar vorhandenen Trieb nach Freiheit um der Freiheit willen, in dem ein ursprüngliches Selbstverstehen der Freiheit sowie ein Sollen ihres ausdrücklichen Verstehens und ihrer Verwirklichung liegen. 131

131 Zum reinen Trieb vgl. oben, S. 160–162. Vor diesem Hintergrund wäre freilich umgekehrt zu fragen, weshalb dieser reine Trieb nicht reicht als faktische Basis für das Selbstverstehen. Eine Erklärung kann dies darin finden, dass, wie oben schon bemerkt wurde, der reine Triebe nicht in gleicher Weise wie der Naturtrieb in einem unmittelbaren, als Gefühl auftauchenden Bewusstsein gegeben sein kann. Indem sein Inhalt die geistige Selbständigkeit ist, kann er selbst nur intellektuell angeschaut werden, also nicht objektiv gegeben sein. In der Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit erörtert Fichte ausführlich, dass die Erscheinungsweise des Urtriebes gegenüber der Freiheit nicht ein Gefühl, sondern nur ein Gedanke sein kann, und zwar eine intellektuelle Anschauung (S57–60). Von daher wäre es nachvollziehbar, wie Fichte darauf kommt, dass der reine Trieb allein das erforderte faktische Objekt nicht liefern kann und für ihn nur im Zusammenspiel von innerlicher Aufforderung durch den reinen Trieb und der äußeren Aufforderung die hinreichenden Bedingungen dafür gegeben sind, dass die Freiheit sich spontan zur Selbsterkenntnis erheben kann. Dagegen wäre aber m. E. herauszustellen, dass das Erfassen des reinen Triebs, indem dieser sich immer schon begrenzt findet, durchaus neben der intellektuellen Anschauung mit einem Gefühl einhergehen muss. Und es erscheint vor diesem Hintergrund nicht als unmöglich, dass sich allein ausgehend von ihm dem Subjekt die eigene Freiheit aufdrängen und es zu einer ausdrücklichen Reflexion auf diese veranlasst werden kann. Für Fichte reicht der reine Trieb ja auch dazu, dass das Subjekt der Möglichkeit gewahr wird, sich unbestimmt zu lassen und dass auf dieser Basis eine Vielzahl von Trieben und in ihnen Alternativen der Freiheit auftauchen können. Es soll damit nicht bezweifelt werden, dass de facto in der Entwicklung des Freiheitsbewusstseins eines Kindes die Begegnung mit einem anderen Menschen eine zentrale Rolle spielt. Fraglich ist m. E. nur, ob sie notwendig nur durch diese erfolgen kann. Wie ernst es Fichte mit der Behauptung dieser Notwendigkeit ist, wird darin deutlich, dass sie für ihn konsequent zur Frage führt, wer das erste Menschenpaar erzogen hat (GNR347 f.). Er muss hier auf eine besondere Einwirkung eines nicht menschlichen Vernunftwesens rekurrieren: »Ein Geist nahm sich ihrer an, ganz so, wie es eine alte ehrwürdige Urkunde vorstellt« (GNR348). Diese Notlösung ist vermeidbar, wenn man es für möglich hält, dass auch der Freiheitstrieb allein die hinreichende Basis liefert für die Reflexion auf die Freiheit. In der späteren Zeit versucht Fichte die Frage nach der ersten Erziehung durch eine Urvolktheorie zu lösen (vgl. etwa St90–93 o. GGZ298 f.).

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Wie die notwendige Voraussetzung des reinen Triebes, so erklärt Fichte an dieser Stelle auch die anderen weiteren Bedingungen dafür, dass ein Verstehen der Aufforderung zustande kommen kann, nicht. Sie legen sich jedoch aus dem Bisherigen weitgehend von selbst nahe. Das faktische Verstehen der Aufforderung kann nur ein Verstehen der äußeren sinnenweltlichen Erscheinung sein, denn das ist die Sphäre der wirklichen Objektivität. Soll hier eine Aufforderung des Anderen erscheinen, muss sein Wirken mich begrenzen können. Allein daraus, dass der Andere ein Vernunftwesen sein muss, folgt, dass er wie ich einen natürlichen Leib besitzen muss. Die Möglichkeit der Begrenzung setzt zusätzlich voraus, dass wir derselben einen Natur angehören oder doch zumindest auf irgendeine Weise die Wirkung des Anderen zu mir gelangt. Wie ist es außerdem möglich, in dieser Sphäre der Objektivität eine Aufforderung als solche zu verstehen? Ich darf nicht etwa nur Laute, eine Bewegung der Hand oder der Augen, sondern ich muss sie als Aufforderung eines vernünftigen Wesens verstehen. Wie es grundsätzlich dazu kommt, dass eine Erscheinung unter einen bestimmten Begriff gefasst werden muss, hat Fichte in der Sittenlehre in Bezug auf den Organismus erklärt. 132 Wenn die Elemente der Erscheinung mit dem zunächst verwendeten Begriff nicht vereinigt werden können, sucht die Urteilskraft nach einem anderen und hält dann an dem fest, mit dem sie diese verstehen kann. Der Frage, auf welche Weise ein Zwang entsteht, eine Erscheinung als Vernunftwesen anzuerkennen, klärt Fichte zwar nicht in der Sittenlehre, er hat sich mit ihr aber bereits ausführlich zwei Jahre zuvor in der Grundlage des Naturrechtes auseinandergesetzt (GNR377–379). Das Verstehen als Organismus ist hier der erste Schritt. Der höhere Begriff zum Organismus entsteht ebenso durch eine Umkehrung. Alle Teile des Organismus verweisen lediglich auf den Organismus selbst als Zweck. Über diesen Begriff hinaus würde das Subjekt also getrieben werden, wenn ein Organismus auf einen anderen Zweck referiert. Dies wäre der Fall im Auffassen der Artikulation eines Organismus, und zwar dann, wenn diese sich nur als ein Möglichkeitsspielraum für unendlich frei zu bestimmende Bewegungen und Bildungen auffassen ließe. Sie würde dann aus sich heraus auf die Freiheit des Wesens verweisen. Es wurde schon thematisiert, dass Fichte die ausgebildete Artikulation als ein Merkmal des menschlichen Leibes nicht mehr auf die Organisation, sondern auf 132

Vgl. oben, S. 149.

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die Bildung durch die Freiheit zurückführt. 133 Auf diese Weise drückt sich die Freiheit auch notwendig im Körper aus und muss an ihm erkannt werden, wenn überhaupt ein Erkennen, bei dem die verschiedenen Teile in einem Begriff vereint werden können, stattfinden soll. Bis hierher ist freilich nur das Auffassen der Freiheit, noch nicht das einer Aufforderung erklärt. In Fortführung von Fichtes Gedankengang dürfte dazu die Auffassung des konkreten freien Verhaltens des Anderen nur sinnvoll möglich sein mit Hilfe des Begriffs eines Zwecks des Anderen, den er in mich gesetzt hat, und zwar in meine Freiheit. Idealerweise fordert mich der Andere dabei nicht nur zum bloßen Freisein auf, sondern zur Reflexion auf das in ihm liegende Gesetz sowie zu einer sittlichen Verwirklichung der Freiheit, und zwar am besten durch sein eigenes Vorbild. In diesem Fall müsste der Zweck, mit dem ich das freie Verhalten des Anderen verstehe, als sittlicher Zweck deutlich werden, als Zweck, in dem sich der Andere nicht nur die Befriedigung seiner natürlichen Triebe oder seines Freiheitstriebes, sondern die Freiheit überhaupt –meine, wie die der Anderen – als letzten Zweck gesetzt hat. Neben dem Drang zu begreifen und der sonst bestehenden Unmöglichkeit eines adäquaten Begreifens wird der Mensch für Fichte zum Begreifen des Vernunftwesens auch dadurch geführt, dass »ein natürlicher Trieb im Menschen [ist], so weit als es nur irgend wahrscheinlich ist, ausser sich Vernunft zu vermuthen« (GF140). Ein verstehendes Auffassen der begegnenden Gestalt des Anderen geschieht für Fichte ursprünglich nicht in einer freien Reflexion, sondern unmittelbar. Es wurde schon herausgearbeitet, wie sich für ihn die ideale Tätigkeit zunächst auf eine spontane Weise vollziehen muss. 134 Eine besondere Weise dieses unmittelbaren Empfindens der Freiheit tritt hervor, wenn Fichte es als ästhetisches Wohlgefallen beschreibt. Er nimmt darauf indirekt in der Sittenlehre Bezug im Zusammenhang mit dem Paragraphen über die Pflichten des Künstlers (S307–309). Das Schöne versteht Fichte als die Weise, wie von uns die Freiheit und die in ihr liegende Vernunftselbständigkeit unmittelbar empfunden werden. Das Schöne steht für ihn neben dem Wahren und dem Guten, die Ästhetik neben der Theorie und der moralischen Praxis. Ästhetisches Empfinden ist nicht ein begriffliches Verstehen der Freiheit noch ein frei nach Zweckbegriffen bestimmtes sittliches Wol133 134

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Vgl. oben, S. 163 f. Vgl. oben, S. 121 f.

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len der Freiheit, sondern die ohne Verstehen und freies Wollen sich vollziehende Reaktion des ganzen Gemüts eines Menschen auf die Begegnung mit der Freiheit in den verschiedenen Stufen ihrer Entfaltung, sei es mit der »kräftige[n] Fülle der Natur«, ihrem »Leben und Aufstreben«, oder im Höchsten mit dem sittlichen Leben der Vernunftselbständigkeit. Die Lebendigkeit weckt eine Empfindung des Wohlgefallens, und zwar besonders dann, wenn nur auf sie und nicht auf irgendeine Form von Begrenzung der Freiheit geachtet wird. In dieser Empfindung des Schönen kann man die unmittelbarste Form von Verstehen des eigenen Ziels an der Gestalt eines Anderen sehen, noch bevor dieses Ziel auf die eigene Freiheit als etwas Gesolltes bezogen, zum Zweck gesetzt oder überhaupt genauer begriffen wird. Diese Überlegungen sind für das Thema dieser Untersuchung wichtig, weil sie zeigen, wie die konkrete Leibgestalt dadurch, dass sie auf die in ihr liegende Lebendigkeit, auf die Freiheit und auf den von dieser Freiheit verfolgten Zweck hin verstanden werden kann, ein Ausdrucksmedium des sittlichen Lebens und seiner Kommunikation darstellt. Neben der hier erklärten Möglichkeit des Verstehens ist dafür zunächst natürlich vorausgesetzt, dass sich die Vollzüge des Subjekts leiblich ausprägen. Impliziert ist dies von vornherein darin, dass der Leib das Medium des Lebens und der Tätigkeit des Subjekts darstellt. Neben dem Leib ist auch die ihn umgebende Sphäre als ein Medium seines Selbstvollzuges zu betrachten. Und so kann für Fichte die freie Tätigkeit der Vernunft in der Sinnenwelt nicht nur erkannt werden an deren Auswirkung auf einen Leib, sondern auch auf die Naturdinge. Auch Kunstprodukte, wie er sie nennt, verweisen auf einen Zweck außerhalb von sich und deshalb auf ein Zwecke verfolgendes und so vernünftiges Handeln (S203). Von einem menschlichen Leib unterscheiden sie sich dadurch, dass sie nicht aus sich heraus organisiert sind (GNR378 f.). Die Anerkennung eines Dinges als eines Kunstproduktes setzt für Fichte schon voraus, dass ich überhaupt Vernunftwesen außer mir denke (S203 f.). Die ursprüngliche Aufforderung, die mich dazu veranlasst, kann sich für ihn deshalb nicht allein anlässlich der Begegnung mit einem Kunstprodukt ereignen. Was hat sich aus der Klärung der Bedingungen dafür, dass eine Aufforderung ausgedrückt und verstanden werden kann, für das Verhältnis des Leibes zum Interpersonalbezug ergeben? Er ist dessen Medium, weil eine Beziehung zum anderen nur dadurch möglich ist, dass wir uns mit unserem Wirken gegenseitig betreffen und dass wir Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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uns als Teile derselben Erscheinungswelt bewusst werden. Der Leib ist die Sphäre des Aufeinanderwirkens durch Beschränkungen und demzufolge die Sphäre des gegenseitigen Wahrnehmens. Der Begriff des Aufeinanderwirkens muss zwar an dieser Stelle noch unbestimmt bleiben, weil noch nicht geklärt ist, wie der Zusammenhang zwischen der eigenen Tätigkeit und der Begrenzung des anderen verstanden werden kann. 135 Zumindest soviel ist jedoch deutlich, dass ein solcher Kontakt zum Anderen bestehen und er über eine Beschränkung auf der leiblichen Ebene zustande kommen muss. Die sich daraus ergebende leibliche Erscheinung ist geeignet, dass das freie Vernunftwesen unmittelbar in ihr als solches präsent wird. Auf dieser Basis ist eine ganzheitliche Kommunikation möglich. Dass der Leib eine gemeinsame Wirksphäre darstellt, ermöglicht jedoch nicht nur Kommunikation, sondern auch ein Eingreifen in den Freiheitsraum des Anderen – positiv, indem wir ihn in seinen Möglichkeiten fördern, negativ, indem wir sein freies Wirken einschränken und stören. Und da die Existenz des empirischen Vernunftwesens sich überhaupt auf der Basis eines natürlichen Trieborganismus erhebt, kann durch das Aufeinanderwirken nicht nur der Freiheitsraum, sondern auch die Lebensgrundlage des Anderen beeinflusst werden, unterstützend oder beschränkend, ja sogar zerstörend. Dem Bestehen dieser Möglichkeiten kommt für Fichte in der Sittenlehre besonders deshalb Bedeutung zu, weil aus ihnen verschiedene Gebote und Verbote folgen, etwa die Pflicht zur Wohltätigkeit (S263) oder das Tötungsverbot (S248 f.).

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Vgl. dazu unten, S. 210–270.

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1.3 Die religiöse Bedeutung des Leibes

Bis hierhin ist ausgehend von der frühen Sittenlehre Fichtes Begriff des Leibes und seine Bestimmung des Verhältnisses der Leiblichkeit zu den freien geistigen Vollzügen wie zur Interpersonalbeziehung nachgezeichnet worden. Die Entwicklung seines Leibbegriffs bis zur Zeit der Anweisung betrifft einen Aspekt, in dem der Leib in einem engen Zusammenhang mit der Realisation der eigentlichen Grundtätigkeit des Subjekts gesehen werden muss. Deshalb soll diese Entwicklung innerhalb der nun folgenden Untersuchung der religiösen Bedeutung des Leibes betrachtet werden. Auch empfiehlt es sich, zunächst einmal den Gedankengang der frühen Sittenlehre in dem weiterzuverfolgen, was er zur Frage nach der Rolle des Leibes in der Ethik beizutragen hat. Zu einem großen Teil ist für Fichte der Leib dadurch religiös bedeutsam, dass sich Religion in einer konkret leiblich vollzogenen ethischen Praxis realisiert. Es wurde schon ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre beschrieben, wie sich für Fichte Religion in einem Durchbrechenlassen des göttlichen Lebens in der Verwirklichung der eigenen Grundtätigkeit des Daseins ereignet. 136 Deshalb besteht für ihn in der Anweisung die religiöse Praxis in der sittlichen Praxis. Die höchsten drei Standpunkte der Weltsicht, die Sittlichkeit, die Religion und die Wissenschaftslehre, unterscheiden sich lediglich darin, wie klar diese Praxis in ihrem Wesentlichen erkannt wird und wie sicher der Mensch zu ihr geleitet wird, nicht jedoch in der Praxis selbst (A112–114). Da in Bezug auf diese Praxis die Bedeutung des Leibes in der frühen Sittenlehre sehr eingehend geklärt wird und hier Punkte in einer Deutlichkeit zur Sprache kommen wie in den Schriften um die Anweisung nicht mehr, soll zunächst auf sie eingegangen und der Argumentationsfaden ihrer transzendentalen Analyse weiterverfolgt werden. Für Fichte führt die Frage nach der Eignung der in den Naturtrieben gegebenen Hand136

Vgl. oben, S. 99–101.

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lungsmöglichkeiten für die Erreichung des sittlichen Zieles auf die Annahme eines diese Eignung garantierenden göttlichen Wirkens in der Welt. Dies stellt den Ansatzpunkt seiner frühen Religionsphilosophie dar. Somit wird im Rahmen der Klärung der ethischen Bedeutung der Leiblichkeit im Folgenden auch das Verhältnis der Ethik zur Religion erhellt und es werden weitere Bedeutungsaspekte des Leibes, die über seine Rolle unmittelbar für das ethische Handeln hinausgehen, zur Sprache kommen. Indem sich sowohl sein Leibbegriff als auch seine Sicht auf Ethik und Religion weiterentwickeln, gilt es danach zu klären, inwieweit das Beschriebene im späteren Kontext noch Gültigkeit haben kann und wo Ergänzungen vorgenommen werden müssen.

1.3.1 Die Bedeutung des Leibes auf dem Stand der frühen Sittenlehre 1.3.1.1 Die Eignung der Naturtriebe für das ethische Leben Zu einer näheren Bestimmung der Bedeutung des Naturtriebes in der Ethik wird Fichte in der frühen Sittenlehre durch die Beobachtung eines drohenden Widerspruchs zwischen Naturtrieb und reinem Trieb geführt. Es wurde bereits dargestellt, wie für ihn, sobald überhaupt Bewusstsein stattfindet, nicht nur ein Gefühl des Naturtriebes entsteht, sondern ebenso der reine Trieb unmittelbar auftauchen muss. 137 Im Unterschied zum Naturtrieb wird er nicht in einem Sehnen oder einem Bedürfnis gefühlt, sondern als eine Forderung zu seiner deutlichen reflexiven Erfassung angeschaut. Auch wenn diese Forderung aufgrund der Freiheit der Reflexion noch nicht sofort ganz klar und in ihrem eigentlich sittlichen Sinn erfasst werden muss, so zielt sie doch von Anfang an auf Sittlichkeit, auf vernünftige Selbstbestimmung um ihrer selbst willen ab. Von diesem Ziel her scheint der Naturtrieb nur noch eine bloß negative Rolle in der Verwirklichung der Sittlichkeit spielen zu können, denn der reine Trieb widerspricht ihm (S134–138). Er zielt auf Selbstbestimmung. Im Bedürfnis bin ich jedoch nicht selbstbestimmt, sondern ich finde mich in einem von einer zufälligen äußeren Begrenzung bestimmten Trieb. Auch in der Befriedigung des Bedürfnisses bin ich nicht frei, da sie von Äuße137

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Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 156–162.

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rem abhängt. In der Ausrichtung am reinen, auf Freiheit zielenden Trieb darf deshalb das Bedürfnis überhaupt nicht für mich bestimmend sein – weder inhaltlich noch formal in seiner Eigenschaft, dass es ihm um Befriedigung nur um ihrer selbst willen geht. Anders als im Bedürfen bin ich im Fordern der Selbstbestimmung frei. Ebenso bin ich in ihrer Erfüllung nicht wie in der Befriedigung des Naturtriebes von etwas Äußerem abhängig, sondern allein von mir selbst. Sie ist mir immer möglich. Ich bleibe bei mir und werde nicht wie in der Befriedigung des Bedürfnisses aus mir herausgetrieben. In § 12 greift Fichte diese Entgegensetzung zwischen reinem Trieb und Naturtrieb auf und zeigt, wie sie zu einem Widerspruch führt, wenn man den Naturtrieb nicht angemessen in seiner Bedeutung in der Ethik würdigt. Um welchen Widerspruch geht es? Der reine Trieb fordert, sich den Naturtrieb weder inhaltlich noch in der Form in irgendeiner Weise zu eigen zu machen. Zugleich ist er aber von diesem abhängig. Der reine Trieb zielt auf seine Verwirklichung in einem wirklichen Wollen. Ein wirkliches Wollen ist aber, wie gezeigt wurde, nur als Kausalität in der Sinnenwelt möglich. Und die Möglichkeiten dieser Kausalität sind mir durch den Naturtrieb vorgegeben und abgesteckt. Einerseits muss sich der reine Trieb dem Naturtrieb entgegensetzen, andererseits kann er sich nur in ihm verwirklichen, zumindest in seiner Materie. Zu lösen ist der Widerspruch nicht, indem die Möglichkeit der Verwirklichung des reinen Triebes aufgegeben wird, denn sie ist als Bedingung des Selbstbewusstseins aufgewiesen. Eine Lösung kann nur dadurch herbeigeführt werden, dass beide Seiten, der reine Trieb und die Materie des Naturtriebes, synthetisch vereinigt werden. Die Möglichkeit einer solchen Vereinigung wird daneben auch dadurch erfordert, dass beide Triebe dem einen Urtrieb entspringen und sich somit nicht grundsätzlich widersprechen können (S125 f.). Eine Vereinigung wäre nur dadurch möglich, dass die Materie des Naturtriebes dem reinen Trieb angemessen ist. »Der reine Trieb geht auf absolute Unabhängigkeit, die Handlung ist ihm angemessen, wenn sie gleichfalls auf dieselbe ausgeht, d. i. in einer Reihe liegt, durch deren Fortsetzung das Ich unabhängig werden müßte.« (S140 f.) Auf diese Weise könnte der reine Trieb durchaus Kausalität haben, wenn auch nur in der Weise, dass er sich in der Verwirklichung von Naturtrieben seinem Ziel annähert, und nicht so, dass er es ganz erreicht. In der Form könnte er dabei vom Naturtrieb ganz unabhängig bleiben, denn es ist möglich, das im Naturtrieb Gegebene allein um der FreiLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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heit und nicht um der natürlichen Befriedigung willen anzuzielen. Die Voraussetzung dieser Vereinigung ist jedoch die Annahme, dass der Naturtrieb tatsächlich eine Reihe von Handlungen eröffnet, in denen eine Annäherung an die Unabhängigkeit erfolgen und so ein sittliches Handeln möglich sein kann. Es ist dazu keineswegs nötig, dass alle als Naturtriebe gegebenen Möglichkeiten dem angemessen sind, sondern es muss erst einmal nur ein einziger gegeben sein und eventuell nur ein Teil von ihm. Die sittliche Aufgabe würde dann darin bestehen, jeweils aus dem im Trieb Gegebenen das herauszufinden und zur Verwirklichung zu bringen, was dem reinen Trieb angemessen ist. Nur auf diese Weise ist eine Vermeidung des Widerspruchs möglich. Das sittliche Streben ist deshalb nicht zu bestimmen, indem der rein geistige, auf die Ichheit bezogene Trieb abgesondert, sondern nur indem er als den Naturtrieb integrierend verstanden wird. »Der sittliche Trieb ist ein gemischter Trieb« (S143). Und es ist diese gemischte Form, in welcher der Urtrieb, aus dem sich beide Triebe ausdifferenzieren müssen, in seiner Einheit im sittlichen Handeln zur Verwirklichung kommt (S125 f. u. 140). Von daher ist der Urtrieb als ein Trieb anzusehen, der auf eine bestimmte sittliche Handlung ausgeht, wobei er deren Form durch den reinen Trieb und deren Materie durch den Naturtrieb präsentiert. Indem er nur in dieser Vereinigung ursprünglich zum Bewusstsein kommt, ist das Gewissen so – dies entspricht der gewöhnlichen Erfahrung – vorgängig zu jeder reflektierenden Abstrahierung immer das Bewusstsein einer bestimmten Tat als Pflicht (S142 f.). Kommt eine konkrete Handlung in Betracht, kann das Gewissen sie für Fichte deshalb unmittelbar als Pflicht ausweisen, weil im Urtrieb, auf dem der Gewissensspruch basiert, nicht nur abstrakte Prinzipien liegen, sondern ein bestimmter Inhalt. 138

138 Vgl. dazu S152–158. Kommt die Handlung, auf die der Urtrieb zielt, zur Vorstellung, äußert sich der im Hintergrund liegende Trieb in einem unmittelbaren Gefühl des Zusammenstimmens und somit einer unmittelbaren Gewissheit der Pflicht. Die Vorstellung bilden, vermag der Trieb zwar nicht, sondern nur die Urteilskraft, er treibt sie dazu jedoch an. Diese allein ist wiederum nicht im Stande, ein absolutes Urteil zu fällen, weil das diskursive Denken nur relative Abhängigkeitsbeziehungen aufstellen kann, das Kriterium absoluter Wahrheit aber aus dem Praktischen hernehmen muss, wie dies bereits in der Erlanger Wissenschaftslehre deutlich wurde. Das absolute Urteil geschieht durch das im Urtrieb liegende Sollen und den entsprechenden praktischen Sensus, den Fichte mit dem identifiziert, was man das Gewissen nennt. Für ihn ist Sittlichkeit letztlich nur unter dieser Bedingung einer gewissen

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Sittlichkeit ist nicht, wie es zuerst schien, dem Naturtrieb entgegengesetzt, sondern sie erscheint sogar immer nur in Verbindung mit dem Naturtrieb und damit der Sphäre der Leiblichkeit. Und umgekehrt ergibt sich, da sich Sittlichkeit als der eigentliche Horizont alles Strebens erwiesen hat, in Bezug auf den alles verstanden werden muss, dass die Natur nicht getrennt von ihr gesehen werden darf, sondern nur von ihr her ihre eigentliche Bedeutung erhält. Alle Dinge in der Natur sind nicht nur, sondern haben ihren Zweck, und zwar nicht nur einen relativen, sondern im Horizont der Sittlichkeit einen letzten Zweck, dem gerecht zu werden Pflicht ist. Und dies kommt nicht sekundär zum Sein dazu. Wirklichkeit wird von Fichte ursprünglich nicht vom objektiv gedachten Sein, sondern von der sittlichen Selbsttätigkeit des Ich her gedacht. Sein ist ein Aufgabe-Sein. Und dieses sich als Urtrieb vollziehende Aufgabe-Sein ist »das intelligible ›Ansich‹« (S160) zu dem, was sekundär – vermittels des Naturtriebes – als sinnliche Welt erscheint. 139 Auch ist für Fichte das wirkliche Sein nur vom Sollen her zugänglich. Nur dieses nötigt mich, der Erscheinung Wirklichkeit zuzuschreiben. Es annehmen zu müssen, dass der Naturtrieb Möglichkeiten sittlichen Handelns bietet, lässt die Frage noch unbeantwortet, wie das möglich ist. Diese Frage ist der Ansatzpunkt für die Religionsphilosophie des frühen Fichte. Auf dieses Thema wird im drittnächsten Kapitel noch einzugehen sein. Unabhängig von der Klärung dieser Frage hat sich aus dem Bisherigen jedoch bereits ergeben: Der Naturtrieb ist für Fichte nicht ein genereller Gegenspieler gegen das Sittengesetz, er ist nicht nur neutral in Bezug auf Sittlichkeit 140, sondern er ist innerlich auf Sittlichkeit hingeordnet und bildet Triebstrukturen heraus, die ihrem Inhalt nach unmittelbar geeignet sind für sittliche Handlungen. Diese Funktion ist der Natur zumindest solange zuzuschreiben, als sie in ihrer Triebstruktur nicht durch die Freiheit umgelenkt wird – solange sie »nur natürlich, und nicht etwa durch eine verdorbne Phantasie verkünstelt ist« (S142).

Wahrnehmung der Pflicht möglich, denn ohne diese Gewissheit zu handeln, wäre für ihn gewissenlos. 139 Vgl. auch die Aussage in Ü353: »Unsere Welt ist das versinnlichte Materiale unsrer Pflicht«. 140 Vgl. dazu oben, S. 154. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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1.3.1.2 Die Möglichkeit der Vereinigung von Naturtrieb und Vernunft Sympathetische Antriebe Bedeutsam für die freie sittliche Handlung ist der Naturtrieb für Fichte nicht nur insofern, als er ihr jeweils eine geeignete Handlungsmöglichkeit bietet, sondern auch indem er Triebe hervorbringt, die selbst über den Horizont des eigenen Bedürfnisses hinaus und dadurch in die Richtung von Sittlichkeit treiben, dass sie sich das Bedürfnis eines Anderen zu eigen machen. Gemeint sind etwa erotische Triebe oder Antriebe der elterlichen Fürsorge. Fichte beschreibt zwei Entstehungsarten. Die natürlich-leibliche Ebene spielt in ihnen auf unterschiedliche Weise eine Rolle. In Bezug auf die erotische Liebe etwa geht er davon aus, dass im sexuellen Naturtrieb allein noch nicht die Hinordnung auf das Bedürfnis des Anderen liegt, sondern dies erst durch den Einfluss einer inneren sittlichen Haltung, soweit diese vorhanden ist, geschieht. Und zwar wirken für ihn dabei beide Seiten nicht nur so zusammen, dass sich eine einzelne sittliche Entscheidung eines Triebes bedient und altruistisch auf den Zweck der Befriedigung des Anderen bezieht, sondern dass eine sittliche Haltung sich mit dem Naturtrieb vereint und den Naturtrieb dabei so verändert, dass er selbst auf den anderen Zweck bezogen ist. 141 Auf der Basis der schon beschriebenen Möglichkeit einer Umbildung von Naturtrieben kann 141 Sowohl die Liebe der Frau zum Mann als auch die Liebe des Mannes zur Frau entsteht für Fichte entsprechend dieser Struktur. Er behandelt sie gesondert, weil ihre Erklärung bei ihm unterschiedlich verläuft. Jene in Bezug auf die Antriebe der Frau mutet recht abenteuerlich an. Dadie Frau sich im Geschlechtsakt rein passiv verhalte und ein Trieb nach reiner Passivität dem reinen Trieb nach Tätigkeit ganz widerspreche, müsse sich der Geschlechtstrieb, wenn nur überhaupt eine sittliche Haltung in der Frau vorkommt, in ein Bedürfnis, nicht sich selbst zu befriedigen, sondern den Mann zu befriedigen, in erotische Liebe, verwandeln (S288 f.). Der Vorstellung von einer reinen Passivität der Frau im Geschlechtsakt würde man heute keine Berechtigung mehr einräumen. Die Erklärung in Bezug auf die Liebe des Mannes baut zwar zuerst auf dieser Erklärung auf, enthält dann aber einen Teil, der auch heute m. E. noch als Erklärung nachvollziehbar sein kann. Das reine Streben nach sexueller Befriedigung müsse sich deshalb in Liebe verwandeln, weil aus einer sittlichen Haltung heraus die Frau dabei nicht bloß als Mittel dieser Befriedigung angesehen werden könne, zumal wenn diese sich selbstlos hingebe und so durch ihre Liebe Gegenliebe errege (S290). Auch unabhängig von diesen konkreten Beispielen erscheint es als möglich, dass entsprechend dieser Struktur sich eine sittliche Ausrichtung in altruistische Triebe verleiblicht.

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sich auf diese Weise eine sittliche Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Anderen in einem Naturtrieb sozusagen verselbständigen. Daneben geht Fichte davon aus, dass auch allein in der Natur schon ein Trieb entstehen kann, in dem die eigene Befriedigung von der des Anderen abhängig ist und der so, wenn auch letztlich innerhalb des Zwecks der eigenen Befriedigung, die des Anderen anzielt. Das geschieht für ihn z. B. in der Beziehung der Mutter zum Kind, in der Entstehung des, wie Fichte es nennt, mütterlichen Mitleids und Erbarmens (S292 f.). In der Phase des Heranwachsens im Mutterleib sowie des Stillens ist das Kind ein Teil des Lebens der Mutter und das Wohlergehen der Mutter ist von dem des Kindes abhängig. Wie Fichte die natürlichen Gattungen über die Fortpflanzung überhaupt als organische Einheiten ansieht, so auch die menschliche und im Kleinen die Beziehung jeder Mutter zu ihrem Kind. 142 Entsprechend geht für ihn rein natürlich das Bedürfnis der Mutter auch auf die Befriedigung der Bedürfnisse des Kindes. Man kann darin eine Manifestation des Bildungstriebes sehen, den Fichte für die Organisation voraussetzt. 143 In einem bewussten und freien Wesen wird der mütterliche Trieb gespürt als Affekt, sich die Bedürfnisse des Kindes frei zu eigen zu machen. Trifft er zudem mit einer sittlichen Haltung zusammen, entsteht ein von Fichte so genanntes »Herzens-Bedürfnis«, also ein nicht rein natürliches, sondern auch von einem sittlichen Willen getragenes und geprägtes Bedürfnis. Als solches ist es für Fichte eine »Äußerung des sittlichen Triebes« (S144). In diesem zweiten Schritt der Verselbständigung einer sittlichen Willensausrichtung vermittels eines Naturtriebes kommt die zweite Entstehungsart mit der ersten wieder überein. Das Vorkommen eines Triebes, in welchem das eigene Wohlergehen als von dem des Anderen abhängig empfunden wird, ist für Fichte nicht beschränkt auf den Eros oder die Mutter-Kind-Beziehung. Er spricht auch allgemein von sympathetischen Trieben im Menschen. 144 Wie er sich deren Entstehung genauer erklärt, beDiese Sichtweise ist im Hintergrund der Ausführungen der Sittenlehre greifbar. Ausdrücklich macht sie Fichte in der Grundlage des Naturrechts (GNR378 f. u. GF137 f.). 143 Vgl. dazu oben, S. 149 f. 144 Vgl. S167, wo Fichte generell von »sympathetischen Triebe[n]« spricht, und S144 f., wo er als konkrete Formen »die Triebe der Sympathie, des Mitleids, der Menschenliebe« aufzählt. In der Grundlage des Naturrechts thematisiert er den »Trieb, sich des schwächern und hülflosen, selbst mit Affekt, anzunehmen« (GF139). 142

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schreibt er nicht. Wenn er bemerkt, dass Sympathie ein Naturtrieb ist (S251; vgl. auch S274), dann ist anzunehmen, dass sie für ihn ähnlich wie das mütterliche Mitleid aus einer gewissen organischen Verbindung zwischen den Menschen entstehen. In diese Richtung weist auch, dass Fichte sie in der Anweisung auf ein »mit der übrigen Menschheit so harmonisch gestimmtes Nervensystem« (A164) zurückführt. Während bei der ersten Entstehungsart, beschrieben an der erotischen Liebe, die Orientierung auf das Bedürfnis des Anderen erst aus dem Zusammentreffen mit der sittlichen Einstellung erfolgt ist, so liegt diese bei der zweiten Art bereits im Naturtrieb. Durch das Zusammentreffen mit der sittlichen Einstellung geschieht zwar erst die Verwandlung zu einem wahrhaft altruistischen Bedürfnis, sie kann hier jedoch an ein gewisses Potential des Naturtriebes in Bezug auf Sittlichkeit anknüpfen. Wie es für Fichte in dieser Zeit möglich ist, dass in der Natur ein solches Potential entsteht, muss wohl genauso beantwortet werden wie die Frage nach dem Zustandekommen der Eignung der Naturtriebe für sittliche Handlungen, nämlich, wie noch darzustellen ist 145, durch die Annahme, dass die Naturentwicklung selbst, wie dies auch immer konkret gedacht werden muss, durch eine göttliche Vernunft auf Sittlichkeit hin gelenkt ist. Aus dieser Annahme eines Vernunftwirkens noch vor dem Vernunftwirken im bewusst und frei gewordenen Individuum würde sich die Behauptung Fichtes erklären, dass in der erotischen Beziehung und in der Elternschaft die Natur selbst den Menschen zur Sittlichkeit leitet (S291). Und dieses ursprüngliche Vernunftwirken scheint auch angesprochen zu sein, wenn Fichte das mütterliche Mitleid als aus einer »ursprünglichen Vereinigung des Naturtriebes mit der Vernunft« (S293) hervorgehend beschreibt. Somatisierung des Gewissens Eine andere Form der Vereinigung von Vernunft und Naturtrieb, die Einfluss hat auf das sittliche Handeln, ergibt sich für Fichte aus den sittlichen Gefühlen der Achtung wie der Missbilligung, und zwar dadurch, dass diese sich sozusagen somatisieren. Fichte macht einerseits deutlich, dass es sich ursprünglich nicht um sinnliche Gefühle handelt (S137 f.). Entsprechend der gewöhnlichen Erfahrung betrachtet 145

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Vgl. unten, S. 191–198.

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er aber das schlechte Gewissen und die darin liegende Selbstbestrafung sowie die aus dem Bedürfnis nach Achtung und dem guten Gewissen entspringenden positiven Gefühle und Antriebe andererseits in ihrer sinnlichen Ausprägung und kann sagen, dass in ihnen von der Sinnlichkeit oder dem empirischen Charakter des Menschen aus auf Moralität hingewirkt wird (Asc73; vgl. auch S296). Neben den beschriebenen Bedürfnissen und Gefühlen somatisiert sich für Fichte sittliches wie unsittliches Handeln auch in einem Zuwachs bzw. einer Schwächung der physischen Kraft. 146 Ausgehend vom fichteschen System ist dies nicht verwunderlich, da in ihm Geist und Leib ursprünglich nicht getrennt sind. Beide wurzeln in der einen geistigen Lebendigkeit, die letztlich aus dem Absoluten kommt, und die mehr oder weniger hervortreten kann, je nachdem, wie viel Raum jemand seinem eigentlichen sittlichen Grundwillen gibt. Durch die Möglichkeit eines Kraftzuwachses kommt es zu einem gewissen Ausgleich gegenüber dem von Fichte beschriebenen Phänomen, dass das Sichhalten im sittlichen Bewusstsein aufgrund der Trägheit immer mit einer Anstrengung verbunden ist. Wie noch deutlich werden wird, stellt Fichte in der späteren Zeit das Moment der im Subjekt selbst liegenden Kraftquelle für das sittliche Handeln noch stärker heraus und versteht Sittlichkeit im Grunde als ein Sich-ergreifenLassen vom sittlichen Trieb. In einer Anstrengung sieht er dann ein Zeichen für ein Beharren auf zumindest einem Rest von Eigenwillen. 147 Ästhetischer Sinn Auch das, was Fichte als ästhetisches Empfinden beschreibt, ist aus einer Vereinigung des natürlichen und des vernünftigen Teils des Menschen zu verstehen, insofern sich für ihn das Schöne nicht an den Verstand oder den sittlichen Willen richtet, sondern an »das ganze Gemüth, in Vereinigung seiner Vermögen« (S307). Wie dies schon dargestellt wurde 148, handelt es sich für ihn um die unmittelbarste 146 Vgl. S257: »Rechnet ihr denn gar nicht auf die Kraft, welche der feste Entschluss, schlechthin nichts unrechtes zu dulden, und der Enthusiasmus für eure gute Sache selbst eurem Körper geben wird; noch auf die Schwäche, welche Verwirrung, und Bewußtseyn seiner Ungerechtigkeiten über euern Gegner verbreiten muss.« Vgl. auch S138. 147 Vgl. unten, S. 278–281. 148 Vgl. oben, S. 172 f.

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Reaktion des Menschen auf die ihm begegnende Freiheit – sei es in der Form der bloßen Lebendigkeit in der Natur, der Freiheit eines Menschen oder der sittlichen Verwirklichung der Vernunftselbständigkeit. Sie ereignet sich als ein Wohlgefallen an der Freiheit, noch bevor sie genauer begriffen, auf die eigene Freiheit als etwas Gesolltes bezogen, oder zum Zweck gesetzt wird. Der ästhetische Sinn ist für Fichte nicht selbst schon eine Realisation von Sittlichkeit, als es in ihm nur zu einer unwillkürlichen Anerkennung von Sittlichkeit kommt und eine wirkliche sittliche Haltung nur in der freien Selbstbestimmung durch den gesollten Zweck und dessen Realisierung besteht. Wenn das ästhetische Empfinden und die entsprechenden Antriebe gegen diese Realisation von Sittlichkeit abgeschlossen werden und der ästhetische Genuss rein um seiner selbst willen verfolgt wird, dann stellen sie für Fichte ein sehr tiefes Laster dar (Asc73–77). Bleibt der ästhetische Sinn dafür jedoch grundsätzlich geöffnet, dann ist er für ihn »Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität eintritt, so findet sie die halbe Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet« (S308). Da er nur unwillkürlich erfolgt, kann es nicht Pflicht sein, ihn zu wecken, oder auf seine Bildung durch eine künstlerische Tätigkeit hinzuwirken. Es kann nur Pflicht sein, ihm nicht entgegenzuwirken, etwa durch die Produktion und Verbreitung von Geschmacklosigkeiten, die den ästhetischen Sinn verbilden. Daneben beschreibt Fichte die Pflicht, wenn sich der ästhetische Sinn unwillkürlich in einer besonderen Begabung entfalten möchte, dies in der Ausrichtung auf die im eigenen Empfinden liegende wahre Schönheit und nicht auf den Beifall des eventuell verbildeten Publikums zu tun. Den verschiedenen in diesem Kapitel beschriebenen Gefühlen, Antrieben und Kräften ist gemeinsam, dass sie alle ein sittliches Handeln unterstützen und selbst in dessen Richtung treiben. Allein folgt aus ihnen jedoch noch keine Moralität. Handelt man nur ihnen zufolge, handelt man nicht aus Pflicht. 149

149 Vgl. S144 f., wo Fichte dies in Bezug auf »die Triebe der Sympathie, des Mitleids, der Menschenliebe« deutlich macht: »[W]er zufolge dieser Triebe handelt, handelt zwar legal, aber schlechthin nicht moralisch, sondern in so fern gegen die Moral«.

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1.3.1.3 Negative Aspekte der Leiblichkeit Unethische Handlungsmöglichkeiten und negative Aspekte der Triebhaftigkeit Neben den bisher beschriebenen Aspekten, in denen der Naturtrieb eine positive Bedeutung hat in Bezug auf die Realisation von Sittlichkeit, muss auch die negative Seite in den Blick genommen werden. Die notwendige Voraussetzung einer Ausrichtung der Natur auf die Produktion sittlicher Handlungsmöglichkeiten ist nicht so zu verstehen, dass sie nur sittliche Möglichkeiten produzieren darf. Sie kann auch solche hervorbringen, die nicht sittlich zu wählen sind, ja die in ihrem Triebcharakter sogar geeignet sind, von einer sittlichen Entscheidung wegzutreiben. Auch ergibt sich aus der Voraussetzung seiner Ausrichtung auf Sittlichkeit nicht, dass die Form des Naturtriebes selbst sittlich wäre. In sich ist die Genussorientierung außersittlich. Bewusst den Genuss als solchen zum Zweck zu setzen, ist in Fichtes Ansatz unsittlich. Diese Unsittlichkeit folgt zwar nicht aus dem Naturtrieb, sondern entspringt allein der freien Entscheidung. Aber in ihm als Trieb liegt zumindest der Antrieb, sich seine Form unsittlich zu eigen zu machen. Trägheit als radikales Übel Eine weitere negative Bedeutung bekommt der Naturtrieb für Fichte dadurch, dass sich die notwendige Hemmung als eine Kraft der Trägheit ausprägt, welche den Naturtrieb selbst und von ihm aus zudem die ganze freie Tätigkeit bestimmt. Die Trägheit erklärt sich aus dem Wesen der Natur, das Gegenüber zur reinen Tätigkeit, und deshalb von Nicht-Ichlichkeit und Nichttätigkeit gezeichnet zu sein. Damit sie überhaupt der Tätigkeit begegnen kann, darf sie dabei nicht bloße Nichttätigkeit sein, sondern muss sich als eine Kraft, und zwar als »Kraft der Trägheit«, behaupten (S183). Da die geistige Tätigkeit ihre Kraft aus der Natur schöpft, ist sie von derselben Trägheit bestimmt. Eine negative Bedeutung in Bezug auf die Ethik hat dies dadurch, dass Sittlichkeit am deutlichen Bewusstsein der Pflicht hängt, der Mensch rein von Natur aus aber dieses Bewusstsein noch nicht haben kann, sondern sich durch freie Reflexion erwerben muss. Es ist bereits beschrieben worden, wie für Fichte der Mensch, insofern er Bewusstsein hat, auch Subjekt seines Triebes ist, wie ohne jede Reflexion auf Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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seine Freiheit jedoch jeweils nur der aktuelle Trieb gegeben ist und er diesem folgen muss. 150 Der Mensch ist hier »frei für eine Intelligenz außer ihm, für sich selbst aber, wenn er nur für sich selbst etwas seyn könnte, auf diesem Standpunkte lediglich Thier« (S165). Die Reflexion auf die Freiheit muss dann noch nicht gleich zum deutlichen Bewusstsein der allgemeinen Selbstzwecklichkeit der Freiheit führen, sondern sie kann zunächst einmal nur als Möglichkeit bewusst werden, nicht dem Naturtrieb zu folgen. Aus dieser Distanz kann das Subjekt dann mehrerer Triebe parallel gewahr werden und zu einer klugen Auswahl kommen. Die Freiheit ist auf diesem Standpunkt nicht mehr bloß formal, sondern material. Aber der Mensch ist immer noch für sich »lediglich Thier« – wenn auch ein kluges. Eine dritte mögliche Entwicklungsstufe vor der eigentlichen Sittlichkeit entsteht für Fichte daraus, dass der Freiheitstrieb »als bloßer blinder Trieb, weil auf ihn nicht mit Absicht und mit dem Bewußtseyn der Reflexion reflectiert wird, zum Bewußtseyn« (S171) kommen kann. Der Mensch, der ihn sich zur Maxime macht, zielt auf die bloße Unabhängigkeit von jeder äußeren Bestimmung, sei es durch seine Triebe oder durch andere, und zur Herrschaft über alles und jeden (S171– 176). Zwar hat der Mensch – das Faktum der äußeren Aufforderung, das Fichte als weitere Bedingung erweist, vorausgesetzt – die Freiheit, durch Reflexion sich zum Bewusstsein des Sittengesetzes zu erheben (S187). Die »Trägheit zur Reflexion« (S182) lässt jedoch erwarten, dass er zunächst auf einem niederen Standpunkt verharrt. Aus dieser Trägheit versucht Fichte die Erfahrung zu erklären, dass, so erscheint es ihm zumindest, alle Menschen sich aus einem Zustand der Unsittlichkeit, auf dem sie eine Weile verharren, herausentwickeln sowie die Erfahrung, dass sich einige gar nicht zur Sittlichkeit erheben – und zwar, ohne mit dieser Erklärung eine Notwendigkeit zu behaupten und die Freiheit aufzuheben. Fichte bemerkt, es sei dem Menschen »möglich, sich sogleich auf den höchsten Punkt zu versetzen« (S169). Wie ist dies genau zu verstehen? Meiner Interpretation nach kann sich die Aussage noch nicht auf den ersten Übergang von der bloß formalen zur materialen Freiheit beziehen. Denn für Fichte kann ein wirkliches Bewusstsein der Freiheit nicht ohne Bewusstsein von konkreten Alternativen gefasst werden. 151 Und nur für diesen schon zweiten Reflexionsstandpunkt erklärt er die Wahrscheinlichkeit des 150 151

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Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 160–162. Vgl. dazu oben, S. 133 f. Daneben setzt ebenso das Verstehen der Aufforderung des

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Verharrens auf ihm (S182). Auch dürfte Fichte realistisch in Betracht gezogen haben, dass ein Bewusstwerden der materialen Freiheit und die Möglichkeit, sich in ihr des reinen Triebes gewahr zu werden, nicht mit einem Schlag erfolgt, sondern allmählich, und dass auch jede weitere Reflexion Zeit braucht. 152 Er legt jedoch Wert darauf, das Faktum dieser Erhebung, sobald sie von den äußeren Bedingungen her möglich ist, letztlich rein in der Freiheit begründet sein zu lassen, und geht deshalb von der grundsätzlichen Möglichkeit aus, dass diese sich sofort dazu entschließt. Deshalb stellt er dies auch in die Verantwortung des Menschen. Für Fichte ergibt sich dabei, dass das Betroffensein durch ein Sollen und das Bestehen einer Verantwortung nicht an das deutliche Bewusstsein dieses Sollens gebunden ist (S168). Denn das Sittengesetz kann nur durch eine freie Reflexion zum klaren Bewusstsein kommen und, diese Reflexion zu vollbringen, stellt die ursprüngliche Pflicht des Menschen dar. Wenn Fichte es als die einzig mögliche Haltung beschreibt, sich – im Nachhinein – verantwortlich zu fühlen für das Verbleiben auf dem niederen Standpunkt, obwohl das höhere Sollen noch gar nicht zu deutlichem Bewusstsein gekommen ist (S168), erscheint dies von daher als konsequent – auch wenn man m. E. vielleicht unterscheiden sollte zwischen Graden der Verantwortlichkeit je nach Graden der Vorbewusstheit des reinen Triebes und Graden der von außen erfolgten Aufforderung. Mit dieser Analyse der notwendigen Schritte in der »Geschichte des empirischen Vernunftwesens« (S165) versucht Fichte zu zeigen, weshalb es von seinem Ansatz her unmöglich ist, dass ein endliches Wesen von vornherein als sittliches existiert. Und er versucht zu zeigen, wie es sehr wahrscheinlich und erklärbar ist, dass der Mensch im Übergang vom Status des bloßen, durch den Trieb bestimmten Naturwesens zum sittlichen Vernunftwesen aufgrund der Einbindung der Freiheit in den Naturtrieb und dessen Trägheit zunächst auf einem Standpunkt der Nichtsittlichkeit verharrt, welcher, da der Mensch anders könnte und sollte, nicht mehr der Zustand der natürlichen Unschuld ist, sondern von ihm zu Recht als schuldhaft empfunden wird. Anderen, ohne welches für Fichte die Reflexion auf die Freiheit nicht möglich ist, ein differenziertes Verstehen des Gegenständlichen voraus. 152 Vgl. S165, wo Fichte auf die zeitliche Disparatheit aufmerksam macht, in der das endliche Seiende sein Wesen entfaltet, und darauf, »daß es sonach eine Zeit dauern werde, ehe alles das, was ursprünglich in uns und für uns ist, zum deutlichen Bewußtseyn erhoben werde«. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Weder wird dabei diese Schuld zu einer Notwendigkeit noch wird ihr teleologisch eine positive Bedeutung in der Gesamtentwicklung des Menschen gegeben. Der Naturtrieb ist für Fichte also insofern bedeutsam für Sittlichkeit, als er zum einen den Ausgangspunkt des Menschen festlegt, einen Zustand der zunächst außermoralischen Nicht-sittlichkeit, und zum anderen ihn durch die Trägheit dazu veranlasst, zumindest für eine Zeit auf den niederen Reflexionsstandpunkten zu verharren. Konkret versucht er darüber hinaus zu zeigen, wie aus der Trägheit, wenn sie der Mensch nicht frei überwindet, die Grundlaster der »Faulheit«, der »Feigheit« – als »Trägheit, in der Wechselwirkung mit andern unsere Freiheit und Selbstständigkeit zu behaupten« – und das Laster der wiederum aus der Feigheit entspringenden »Falschheit« erklärbar werden (S185 f.). Da Sittlichkeit bleibend am deutlichen Bewussthalten der Pflicht hängt, dieses jedoch aufgrund der Trägheit immer mit einer gewissen Anstrengung verbunden ist, folgt für Fichte aus dieser Trägheit außerdem, dass selbst der Sittliche immer noch »seinen Schlendrian« (S184) hat und eine vollkommene Heiligkeit nicht möglich, sondern nur annäherbar ist. 153 Die Kraft der Trägheit wird zwar dadurch relativiert, dass für Fichte aus dem sittlichen Handeln, da in ihm der sittliche Trieb sozusagen durchbrechen kann, selbst eine Kraft zu ihm erwächst – Sittlichkeit bedeutet für ihn also nicht nur beständige Anstrengung, sondern auch ein Ergriffensein (und diesen Aspekt arbeitet er später noch sehr viel deutlicher heraus) 154 – die Trägheit, das Erfordernis einer Anstrengung und die Unmöglichkeit einer vollkommenen Heiligkeit werden dadurch aber nicht aufgehoben. Als Schuld wird dieses Nichtankommen in einer Heiligkeit von Fichte dabei nicht bezeichnet und dies ist auch konsequent, da für ihn Schuld an Freiheit gebunden ist und hier die Trägheit dem Können selbst eine Grenze setzt. So gilt bei ihm durchgehend, dass die Natur über die Trägheit nicht notwendig eine Schuld des Menschen herbeiführt, sondern diese nur wahr153 Zur Notwendigkeit des Bewussthaltens der Pflicht wie zur Bedeutung des Vergessens der Pflicht vgl. Asc63 f.; in Asc67 folgert Fichte aus der natürlichen Bedingtheit des endlichen Vernunftwesens, dass ein vollkommenes Bewussthalten der Pflicht, trotz aller Erinnerungstechniken, und deshalb eine vollkommene Umsetzung des sittlichen Willens und das Erreichen von Heiligkeit nicht möglich sind. Der Mensch in der Annäherung an sein Ziel »wird nicht heilig, denn es ist u n e n d l i c h ; und der Naturtrieb treibt ihn fortwährend an und muß ihn antreiben, eben weil er endlich ist: aber er wird g u t « (Asc67). 154 Vgl. oben, S. 183 u. unten, S. 278–281.

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scheinlich und erklärbar macht. Böses kann für Fichte nur aus der Freiheit kommen. Und aus der Natur, die für sich außersittlich ist, folgt für Fichte auch nur eine Kraft der Trägheit und noch nicht direkt ein Trieb zu unsittlichem Handeln. Es sei zwar anzunehmen, dass es durch die Gewöhnung an das Verharren auf einem unsittlichen Standpunkt zu einem solchen »Hang«, wie Fichte ihn nennt, komme (S184), er werde jedoch »erst durch die frei gewählte Maxime eigennützig gemacht«; »der bloße Naturtrieb ist keinesweges ein eigennütziger oder tadelswürdiger« (S182). Da die Natur ihrem Wesen nach außersittlich ist und auch in diesem Fall den Menschen nicht direkt auf Unsittlichkeit ausrichtet, wird die Trägheit von Fichte, der sich mit seinen Überlegungen auf »Kants Behauptung von einem radicalen Bösen im Menschen« (S182) bezieht, sehr präzis nur ein »radikales Übel« genannt (S182 u. 185). Hemmung und perennierendes Sollen An der aufgrund der Trägheit gegebenen Unmöglichkeit, dass der Mensch eine reine Heiligkeit erreicht, wird ein weiterer negativer Aspekt des Naturtriebes deutlich: Er legt den Menschen darauf fest, immer hinter seinem Ziel zurückzubleiben – so zumindest im frühen Modell Fichtes, in dem noch nicht wie im späteren 155 die unendliche Annäherung mit dem Erreichen des Ziels zusammen bestehen kann. Da das Ziel noch einfach in einer rein unbeschränkten Tätigkeit gesehen wird 156, kann sich ihm das endliche Vernunftwesen, das neben dieser reinen Tätigkeit immer zugleich beschränkt ist, nur annähern. Es will und soll etwas, ohne es aber jemals erreichen zu können. Die leibliche Begrenzung wird dadurch zu etwas, was uns am Erreichen unseres Zieles hindert und uns darauf festlegt, nie zur Vollkommenheit gelangen zu können. Weder ist dieser Mangel jedoch als Unsittlichkeit anzusehen, noch entspringt er als Folge einer unsittlichen Zwecksetzung. Zur Begrenzung kommt es für Fichte nicht durch einen Abfall des Menschen noch durch eine Strafe Gottes, sondern Vgl. dazu unten, S. 300 f. Vgl. S126: Es gilt trotz der notwendigen Vereinigung von reinem Trieb und Naturtrieb, derzufolge »die Reinheit (Nicht-Bestimmtheit durch ein Object) […] als Zweck aufgegeben werden« muss, dass der »Endzweck absolute Freiheit, absolute Unabhängigkeit von aller Natur ist: – ein unendlicher nie zu erreichender Zweck; daher unsere Aufgabe nur diese seyn kann, anzugeben, wie gehandelt werden müsse, um jenem Endzwecke sich anzunähern«. Vgl. dazu auch S140–142. 155 156

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sie ist ein notwendiges Erfordernis der Existenz von endlichen Freiheiten. Unmoralische Leidenschaften Es wurde beschrieben, wie für Fichte die Möglichkeit einer Bildung der Triebe durch das freie Vorstellen und Handeln besteht 157, wie sich der Mensch auf diese Weise für die Realisation des sittlichen Zwecks geeignetere Handlungsmöglichkeiten schaffen kann und wie sich dadurch eine sittliche Haltung in Antriebe und entsprechende Gefühle wie Sympathie oder Mitleid verselbständigen kann, die dem sittlichen Handeln zuträglich sind. Die Möglichkeit der Bildung impliziert die Möglichkeit der Verbildung. Und so bekommt der Naturtrieb die negative Bedeutung, dass sich mit ihm auch ein unsittliches Wollen verbinden und so Antriebe entstehen können, die sittlichem Handeln auf eine Weise entgegenlaufen, wie es die Naturtriebe ursprünglich nicht tun. In der Sittenlehre wird diese Möglichkeit indirekt greifbar, etwa in Fichtes Bemerkungen zum Geiz (S151 f.) oder über Völlerei und Unkeuschheit (S235). Ausdrücklich thematisiert er sie in seiner Ascetik, die er im Anschluss an die Sittenlehre vorgetragen hat. Rein von der Natur aus können für ihn aufgrund ihres außermoralischen Status im Menschen noch keine Neigungen direkt zu unsittlichen Handlungen sein. 158 Diese entstehen erst dann, wenn er sich bewusst und frei auf eine unsittliche Weise den natürlichen Antrieben überlässt und daraus eine Gewöhnung entsteht (Asc68 f.). Dadurch können diese zu, wie Fichte es nennt, brutalen Leidenschaften, z. B. Unzucht und Völlerei, pervertiert werden (Asc70 f.). Wie bei den sympathetischen Trieben verbindet sich hier eine frei eingenommene Haltung mit einem Trieb und verselbständigt sich in ihm. Bei den negativen Leidenschaften sind für Fichte jedoch offenbar nicht beide Entstehungsweisen möglich. Während er für das mütterliche Mitleid anders als bei den erotischen Trieben davon ausgeht, dass sich die Ausrichtung auf das Bedürfnis des Anderen schon rein natürlich entwickelt, so nimmt er im Negativen keine irgendwie sittlich bedeutsamen Prägungen vorgängig zur Freiheit an. Rein natürlich scheint für ihn nur eine positive Lenkung möglich zu sein. Der Ursprung von widersittlichen Leidenschaften liegt für ihn in der Freiheit. Eine 157 158

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Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 164 f. u. 180–182. Zu dieser natürlichen Unschuld vgl. oben, S. 154.

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negative Bedeutung gewinnt der Naturtrieb freilich, indem er die unmoralische Prägung aufnimmt und in Antrieben verfestigt. Als Gegentriebe gegen das Gewissen erschweren sie das Fassen einer sittlichen Entscheidung. Und selbst bei gutem Willen können sie den Menschen in einen Zustand des bloß dunklen Gefühls der Pflicht versetzen, in dem es ihm nicht möglich ist, sie zu deutlicherer Klarheit zu bringen und ihr zu wirksamem Einfluss auf das Handeln zu verhelfen (Asc64 u. 71). Negative Leidenschaften entstehen für Fichte freilich nicht nur durch eine Pervertierung von Naturtrieben, sondern genauso in Anknüpfung an den im Menschen vorhandenen Freiheitstrieb in seiner blinden Form (Asc70 f.). Fichte bezeichnet das so Entstandene als die ungeselligen Leidenschaften und nennt als Beispiele etwa Unterdrückungssucht und Hass. Sie sind für ihn weniger harmlos als die Leidenschaften aus dem Naturtrieb, da sie naturgemäß mit einem Stolz auf ihre heroische Unabhängigkeit vom Sinnlichen und ihre scheinbare Sittlichkeit einhergehen und so ein noch stärkeres Gegenstreben gegen eine Besserung zu wirklicher Sittlichkeit darstellen (S175 f.). Daneben können sich beide Entstehungsarten auch verbinden und es kann einerseits zu so etwas kommen wie einer Unterdrückungssucht, die von Eigennutz gespeist ist, oder, umgekehrt, einer Wollust, die letztlich eine Eitelkeit nährt. Die fünfte Art der Entstehung von Leidenschaften, die Fichte außerdem anführt und die er für besonders verhängnisvoll hält (Asc71 u. 76), zeigt noch deutlicher, wie für ihn ein negatives Potential eher im Geistigen und weniger im Natürlichen liegt. Es geht um die Leidenschaft an der Erkenntnis, an der bloßen Selbstbeschauung, an geistigen erhabenen Gefühlen oder am Ästhetischen rein um seiner selbst willen, ohne dass es auf ein Handeln und den sittlichen Zweck bezogen wird (Asc73–77).

1.3.1.4 Der Glaube an die Realisierbarkeit von Ethik als religiöser Glaube Es wurde herausgearbeitet, auf welche Weise der Naturtrieb eine Erschwerung für die Realisation von Sittlichkeit bedeutet und welche positive Bedeutung er für sie hat. Offengeblieben ist dabei die Frage, wie es möglich ist, dass der Naturtrieb Handlungsmöglichkeiten bietet, mit denen sich der Mensch dem sittlichen Zweck annähern kann. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Die Beantwortung dieser Frage ist der Ansatzpunkt für Fichtes Religionsphilosophie zur Zeit der frühen Sittenlehre. In der Sittenlehre selbst referiert er, weil es nicht direkt zu ihrer Thematik, sondern in die Religionsphilosophie gehört, nur nebenbei kurz den Grundgedanken, und zwar im Zusammenhang der Pflichten der Volkslehrer zu religiöser Erziehung (S305): Dass vermittels der gegebenen Optionen des Handelns eine »Beförderung des Guten« möglich ist, kann nicht von den endlichen Vernunftwesen selbst gewährleistet werden, da diese sie als von der Natur gegebene Kräfte voraussetzen müssen. In der Natur für sich kann dies jedoch ebenso nicht gründen, da diese sich »auf die Freiheit gar nicht bezieht«. Denn wie soll sich die Natur ohne Freiheit und Selbstbewusstsein auf Sittlichkeit ausrichten? Es muss daher notwendig ein Vernunftwesen, denn nur ein solches bezieht sich auf Freiheit und Sittlichkeit, angenommen werden, welches die Natur dafür geeignet macht. Und da es kein endliches sein kann, muss es ein unendliches sein – also Gott. 159 Außerdem wird hier die Unsterblichkeit – Fichte spricht von der »Ewigkeit« – des Menschen begründet: »Eben so wenig schreiten wir planmäßig fort zu unserm letzten Ziele, wenn wir nicht ewig fortdauern; denn unser Ziel ist in keiner Zeit zu erreichen«. In den explizit religionsphilosophischen Schriften dieser Zeit 160 benennt Fichte diese aufgewiesene Gestaltung der Natur als »göttliche WeltRegierung« (Ü347) oder als »moralische WeltOrdnung« (Ü355) – gemeint ist Gottes aktives Ordnen der Welt, damit diese geeignet ist für sittlichen Fortschritt. Der Glaube an die Möglichkeit der Realisierung des sittlichen Zwecks, und damit implizit der Glaube an 159 Daneben deutet Fichte in der Sittenlehre an, dass auch die Pflicht, nicht nur den Vernunftzweck insgesamt, sondern jedes einzelne Individuum, das in die Welt gekommen ist, absolut zu achten, auf »die Idee von einer Herrschaft des Sittengesetzes in der von uns unabhängigen Natur, und eine Zweckmäßigkeit der letztern für das erstere [führt]; welche Idee realisirt wird in der Idee der Gottheit« (S248). Es handelt sich um denselben Gedanken, nur dass es jetzt innerhalb der Natur nicht um den Leib als adäquates Mittel zur Verwirklichung des Vernunftzwecks geht, sondern um die Existenz des Individuums. 160 Das Folgende orientiert sich vor allem an der Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung. Sie ist der Auslöser für den Atheismusstreit, in dem Fichte dann zu seiner Verteidigung vor allem in zwei weiteren Schriften seine religionsphilosophischen Überlegungen niederlegt, in der Appellation an das Publikum und in der Verantwortungsschrift. Außerdem finden sich in Fichtes Jenaer Vorlesungen über Logik und Metaphysik entlang von Platners Aphorismen Teile, die der Gotteslehre und der Religionsphilosophie gewidmet sind.

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diese Ordnung, ist für ihn integraler und notwendiger Bestandteil von Sittlichkeit. Sie voraussetzen zu müssen, erklärt jedoch noch nicht, wie diese Ordnung geschieht. Ja transzendentalphilosophisch ist es für ihn ganz unmöglich, über die faktischen Begrenzungen, in denen sich das Ich findet, und die seine natürlichen Möglichkeiten bestimmen, hinauszugehen (Ü353). Das Ich kann nicht überstiegen werden. Auch kann nicht ein Begriff von Gott als einem besonderen Wesen und als dem Urheber dieser Ordnung gefasst werden, weil dafür Verstandeskategorien in einem Bereich Anwendung finden würden, in den sie nicht gehören (Ü355). Daneben rührt die Unbegreiflichkeit daher, dass die Lebenserfahrung dem oft zu widersprechen scheint, dass sittlichem Handeln immer ein Fortschritt auf seinen Zweck zu folgt. Vom Glauben an die Unsterblichkeit ist in den religionsphilosophischen Schriften dieser Zeit zwar seltener die Rede, sie ist für Fichte aber selbstverständlicher Bestandteil einer auf die Moral hingeordneten Welt. 161 Der Glaube an sie soll für Fichte entsprechend nicht aus einem selbstbezogenen Überlebenswillen heraus, sondern als Implikat der Ethik gefasst werden – genauso wie der Glaube an Gott, den er abgrenzt von Vorstellungen von Gott als einem Spender von Wohltaten oder als einem Belohner von tugendhaftem Verhalten. 162 Das Fortbestehen nach dem Tod – und zwar weniger das Fortbestehen des bloßen Ich, das für Fichte zeitlos ist, sondern seiner weltlichen Existenz, in der es allein tätig sein und sich verwirklichen kann – ist für ihn zu der Zeit etwas, was auf ein Wirken Gottes zurückgeführt wird. Wie dies erfolgen kann, erhellt er nicht genauer. Die Notwendigkeit eines Leibes muss für ihn wie für das gegenwärtige, so auch für das jenseitige Leben weiter bestehen, wenn der Leib auch eventuell eine andere Gestalt bekommen mag. 163 Vergänglichkeit und Sterblichkeit sind ihm aber wesentlich, sodass Fichte von einer unendlichen Abfolge von weiteren Leben im Jenseits ausgeht. 161 Vgl. dazu u. zum Folgenden Pl339–348. Vgl. auch Ap429, wo Fichte summarisch vom sich auf Moralität gründenden Glauben »an Gott und Unsterblichkeit« spricht. 162 Vgl. etwa Pl294–306 f. 163 Vgl. dazu u. zum Folgenden Pl349 f.: »Die Art der Fortdauer. Das endl. Wesen kann nur mit einem organisirten, u. articulierten Leibe bestehen: durch welchen es mit der ausser ihm befindl. Natur in gegenseitigem Einflusse stehe […]. Also dies bleibt uns immer: nur nicht gerade ein solcher, sondern ein ganz anderer. […] Alle Materie ist auflösbar: wir dürfen also auch dort keines bessern Schiksals uns versehen, als hier. Auflösung, u. darauf Leben in neuen höhern Sphären.«

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Der wahre religiöse Glaube ist für Fichte notwendig mit Sittlichkeit verbunden (Ü352). Und entscheidend ist für ihn nicht, ob er explizit gefasst wird oder nur in einer »Rechtgläubigkeit des Herzens« (V52). Denn für Fichte besteht Religion in nichts Anderem als darin, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln und an die Realisierung seines Zwecks aufgrund einer göttlichen Weltordnung zu glauben. Dies ist »der Glaube ganz und vollständig. Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes, und können keinen anderen fassen.« (Ü354) Dieser Glaube impliziert, dass ich nicht von den vermeintlich schlechten Folgen meines sittlichen Handelns her den Gewissensspruch relativiere (Ü354), sondern in ihm den Willen Gottes erkenne und darauf vertraue, dass Gott die Welt so eingerichtet hat, dass letztlich »jede wahrhaft gute Handlung gelingt, jede böse sicher mislingt, und daß denen, die nur das gute recht lieben, alle Dinge zum Bessten dienen müssen« (Ü356). Das Verständnis des Sittengesetzes als des Willens Gottes 164 ergibt sich als Konsequenz aus der Idee der göttlichen Weltordnung. Wenn Fichte vom Willen Gottes spricht, den ich im sittlichen Gebot und im dieses Gebot konkretisierenden gegenwärtigen Zustand der Welt erblicken soll, dann ist damit entsprechend nichts Anderes gemeint als der Wille des Sittengesetzes. Und die Zustimmung zu ihm erfolgt nur als Zustimmung zum Willen des Sittengesetzes. »Eine Tugend um Gotteswillen gibt es nicht, wohl aber eine Ergebung in den Willen Gottes um der Tugend willen«. 165 Der Begriff des Willens Gottes fügt keinen weiteren Inhalt oder Beweggrund hinzu. Von ihm zu sprechen, hat nur die Funktion, das Sittengesetz als etwas anzuse164 Fichte macht diese Idee selten explizit, sie wird aber doch verschiedentlich greifbar. In der Sittenlehre etwa schreibt er, Moralität bedeutet, alles Tun »auf den Vernunftzweck, oder, was dasselbe heißt, auf den Zweck Gottes mit den Menschen beziehen«, sich sagen können: »[E]s ist Gottes Wille, was ich tue« (S314). Vgl. auch PlK434, S142 u. 231, wo diese Ansicht indirekt in Aussagen über das Ziel der Vereinigung mit Gott deutlich wird, oder S268 f. in der extremen Form des Glaubens, dass, wenn ein Mensch beim Verrichten einer sittlichen Tat stirbt, es »der Wille des Sittengesetzes« oder der »Weltregierung durch die Vernunft« gewesen ist. Die Aussagen machen deutlich, dass es sich für Fichte beim Willen Gottes um nichts Anderes handelt als um den Willen des Sittengesetzes. 165 GA VI,1 163, in einer Mitschrift zu Fichtes Vorlesung über Platners Aphorismen. In seinen eigenen Aufzeichnungen dazu schreibt Fichte: »[D]ie Moralität ist erst das Princip des Glaubens, nicht umgekehrt, hder Glaubei das Princip der Moralität. Hier erheben sich denn wieder die alten Ausreden. Tugend um Gottes Willen. Umgekehrt: Gott um der Tugend Willen.« (Pl306)

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hen, was mich nicht nur innerlich aufruft, sondern was die ganze Welt so bestimmt, dass seine Realisierung möglich ist. Fichte ist dabei sogar zurückhaltend, für die göttliche Weltordnung den Begriff eines göttlichen Wesens als deren Urheber zu fassen. Zugleich stellt er freilich heraus, dass diese Ordnung nicht etwas Abstraktes ist, sondern ein lebendig tätiges Ordnen und dass dieses über unsere Wirksamkeit hinausgeht. Auch lässt sich eine Tendenz bei Fichte beobachten, von unserem reinen Ich her eine nicht mehr beschränkte reine Tätigkeit zu denken und damit den Gottesbegriff zu füllen. 166 In diesem Punkt findet Fichtes Denken erst in der späteren Zeit zu einer Klarheit. Die166 Vgl. etwa die in einer Vorlesungsnachschrift zur Wissenschaftslehre nova methodo bezeugte Bemerkung: »Die Gottheit ist auch solche reine Thätigkeit wie die Intelligenz« (WH240). Dass Fichte seinen ›Begriff‹ von Gott schon zu dieser Zeit ausgehend vom reinen Ich bildet – Gott ist so wie das reine absolute Ich –, wird in der Sittenlehre daran deutlich, dass er das Ziel des Menschen, ganz reines Ich, reine Tätigkeit zu werden, mit dem Satz: »Jeder wird Gott« (S231) beschreiben kann. Vgl. auch die Gleichsetzung S142 in der Bemerkung über das Aufgehen »in die absolut reine Vernunftform oder in Gott«. Umgekehrt werden dem reinen Ich im ersten Grundsatz der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre Eigenschaften zugeschrieben, die später ursprünglich nur das Absolute selbst und das Ich nur abkünftig von ihm hat (vgl. dazu Bader, 1979, v. a. 20–22). Fichte geht aber offenbar zu dieser Zeit noch nicht davon aus, dass wir unmittelbar und real in unserem absoluten Ich Gott anschauen und so in einer innerlichen Einheit mit ihm sind. Das wird an Stellen deutlich, in denen er das Für-sich und das Für-uns Gottes trennt (vgl. dazu Bader, 1979, 26, wo diese Unterscheidung vor allem an zwei Stellen dargelegt wird: in der Grundlage [GWL407] und in den Entwürfen zur Aenesidemus-Rezension [GA II,2 295–297]). Indirekt deutlich wird das zudem daraus, dass Fichte offenbar erst in der Neuen Bearbeitung der Wissenschaftslehre von 1800 in die Richtung einer intellektuellen Anschauung Gottes denkt: »[G]iebt es nicht vielleicht eine reine Anschauung von Gott: wodurch ich meiner Philosophie auf einmal helfen könnte« (GA II,5 401). Da diese Unmittelbarkeit noch nicht gedacht wird, kann von einer Vereinigung mit Gott nur im uneigentlichen Sinn die Rede sein, kann es sich nur um ein Gott-gleich-Werden handeln. Auch kann deshalb der Zugang zu Gott philosophisch zuerst noch nicht wie später über eine unmittelbare intellektuelle Anschauung rekonstruiert werden, sondern nur über die Einsicht der für sittliches Handeln notwendig vorausgesetzten göttlichen Weltordnung. Ein Rückschluss vom Sein auf Gott als den Urheber wird zu der Zeit ausgeschlossen, da für Fichte als Sein nur das sinnliche in Betracht kommt und dieses sich rein aus der Tätigkeit der Intelligenz ergibt (Ü349 f.). Einen Schöpfungsbegriff in diesem Sinne lehnt Fichte ab. Fichte hält es zwar offenbar noch für sinnvoll, ihn für das göttliche Ordnen der Sinnenwelt zu verwenden (PlK435) oder in Bezug auf die »sittliche […] Ordnung der reinen geistigen Intelligenzen« (Ap433). Hier wird Gott aber nicht als Urheber des Ich selbst gedacht, weil dies der Absolutheit des Ich, wie sie sich in der transzendentalphilosophischen Rückfrage ergeben hat, widersprechen würde (Ü350*). Später kann Fichte durchaus vom Erschaffen des freien Ich sprechen (W309) und vom Sein des Ich auf Gott als Urheber zurückschließen (W246

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se Idee findet sich jedoch schon in der frühen Zeit und auf ihrer Basis kann Fichte die Realisation des Sittengesetzes auch als eine Verschmelzung mit Gott (S142), ein Sichverlieren in Gott (S139) oder sogar als ein Gottwerden (S231) bestimmen. Dies vollzieht sich einfach im sittlichen Tun. Die ausdrückliche Bezugnahme auf Gott bekommt für ihn zu dieser Zeit nur eine Bedeutung für die Situationen, in denen die innere Kraft nachlässt, als ein Mittel der Stärkung, besonders der Stärkung des Vertrauens in die moralische Weltordnung. » der moralische Mensch an sich selbst nicht denkt, in dem Sehen auf den Zwek, er werde denn in sich durch Hinderniß, Versagung seiner äussern Kräfte zurükgetrieben, so denkt er auch an Gott nicht, als solchen (aber seine ganze Welt ist Anschauung u. Plan der Gottheith)i er werde denn durch die Versagung seiner innern Kräfte in sich zurükgetrieben, u. genöthigt, im Heiligthum seines Herzens Stärkung zu suchen, es anzufeuern, durch den höhern Gedanken. […] Wer zu arbeiten hat, der kann nicht beten: das erste ist eher, als das leztere. Die Religion ist Trost, Stärkungsmittel, nicht Tagewerk: Wer keiner Stärkung bedarf: der ist nur desto besser daran.« (Pl305 f.) In dieser klar begrenzten Weise gibt Fichte der ausdrücklichen Hinwendung zu Gott oder dem Gebet eine positive Funktion. Gebet versteht er als Ausrichtung auf Gott als den Garanten des Gelingens der sittlichen Tat und in diesem Sinne als Trost- und Stärkungsmittel. Daneben versteht er es auch als »Zeit, um mit sich selbst zu berathschlagen, über seinen moralischen Zustand nachzudenken, und über die Verbesserung desselben Vorsätze zu fassen« (Asc72). Einen entsprechenden Sinn sieht Fichte in den »öffentlichen Religions-Anstalten«; die Beamten der Kirche, die »moralischen Volkslehrer«, wie er sie bezeichnenderweise nennt, haben für ihn die Aufgabe, den Menschen Ratschläge für die eigene moralische Entwicklung zu geben und in ihnen das Vertrauen auf Gottes moralische Weltordnung zu bestärken (S303–307). Nähere Ausführungen zu Gebet und Gottesdienst oder gar zur Rolle der Leiblichkeit in ihnen finden sich bei Fichte nicht. Insgesamt dürfte er sie eher als ein geistig betrachtendes Tun verstehen. Durchgehend wird bei ihm die Tendenz greifbar, die explizite Ausrichtung auf Gott nur als ein zeitweiliges Behelfsmittel herauszustellen und den eigentlichen Gottesdienst im sittlichen Handeln selbst zu sehen. »Seine Pflicht thun von Herzen, u. A85). Er hält dann sogar einen solchen Rückschluss ausgehend von der Sinnenwelt für sinnvoll (G123), insofern diese am eigentlichen Sein des Daseins partizipiert.

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ist der wahre Gottesdienst, u. die einzige wahre Religion.« (Pl306) Man kann darin die Religion relativiert sehen. Man kann sie aber auch ausgeweitet und vertieft sehen. Das ganze Leben soll für Fichte zu einer Anschauung Gottes und einer Vereinigung mit Gott werden. Die einfachsten Tätigkeiten werden, wenn sie in einer moralischen Ausrichtung vollzogen werden, zu einem Gottesdienst. »Esset und trinket zur Ehre Gottes.« (S197) Innerhalb des Konzepts der göttlichen Weltordnung bekommt die Leiblichkeit zunächst einmal eine Bedeutung durch ihre Unverfügbarkeit – ich finde sie mir faktisch vorgegeben und kann sie nicht selbst ganz zu meinen Zwecken hin gestalten – sowie durch ihre Widerständigkeit, in der sie sich häufig nicht in meine Vorstellung einer Realisation des sittlichen Zwecks einzufügen scheint. Dies lässt einen den Blick über den eigenen Verfügungsbereich erheben. Zu einem positiven Glauben an die moralische Weltordnung kommt es von da aus freilich nicht ohne die ethische Intuition und den Glauben daran. Erst auf seiner Basis erscheint die Welt als geeignetes Medium der Realisation der Sittlichkeit. Es ist möglich, die Zurückhaltung gegenüber der Verwirklichung des Gewissensspruchs zu überwinden und sich vertrauensvoll auf die Welt einzulassen und in ihr zu betätigen. Darin liegt weiter die Hauptfunktion der Leiblichkeit. Es wurde bereits beschrieben, wie die Welt und in ihr der Leib für Fichte als das Medium der Realisation von Sittlichkeit bedeutsam sind und dass beide als dafür geeignet angenommen werden müssen. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie dies möglich ist, erhält dieser Gedanke eine Vertiefung. Der Glaube an eine göttliche Weltordnung hat für Fichte eine besondere Einstellung gegenüber dem natürlich Gegebenen, und damit auch dem Leib, zur Folge. Die Natur ist nicht mehr rein profan, sondern Sphäre einer uns übersteigenden Wirksamkeit des Sittengesetzes, eines göttlichen Wirkens – »sie wird etwas göttliches« (PlK435). Ich muss nicht mehr fürchten, dass sie das, was mein eigentliches Ziel ist, verhindert, sondern kann mich ihr vertrauensvoll zuwenden und ganz in ihr leben. Auch offenbart sich in ihr der Wille des Sittengesetzes. Und zwar zeigt für Fichte in dieser Zeit das Naturgeschehen den göttlichen Willen ganz direkt, da er hier, wie später noch genauer zu sehen sein wird 167, ein Prädestinationskonzept vertritt, nach dem alles geschichtlich Begegnende, auch das, was sich als Folge der freien Handlung ergibt, unmittelbar dem göttlichen 167

Vgl. unten, S. 214–216.

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Willen entspringt. Später wird nicht nur dies relativiert, sondern die ganze Sicht auf die Frage der Realisierbarkeit von Sittlichkeit und auf eine göttliche Weltordnung wird, wie sich zeigen wird, verändert. 168 Es bleibt aber, dass die Sphäre des Leiblichen als Ort des vorsehenden Wirkens Gottes angesehen werden kann, ja dass sie die Güte Gottes ausdrückt – Güte nicht als Hilfe zum Genuss, auch nicht um, wie Fichte sagt, andächtig darüber zu brüten, sondern dazu, das eigene Wesen im sittlichen Tun freudig verwirklichen zu können. 169

1.3.1.5 Die Bedeutung des Leibes in der Ethik anhand der ihn betreffenden Pflichten Die verschiedenen Funktionen des Leibes, wie sie ausgehend von der frühen Sittenlehre in Bezug auf die freien Tätigkeiten überhaupt, das Verhältnis zu den anderen Menschen und speziell auf die sittliche Verwirklichung von Freiheit greifbar werden, sind dargestellt worden. Indem durch sie der Leib Bedingung und Mittel der Verwirklichung der Pflicht ist, kommt er selbst als Objekt von Pflichten in den Blick, und zwar jeweils entsprechend seiner verschiedenen Funktionen. Hergeleitet wurde der Leib in der Sittenlehre ja als Bedingung der Moralität und um letztlich daraus konkrete Pflichten zu begründen. Umgekehrt lässt sich seine sittliche Bedeutung daran ablesen und dadurch darstellen, auf welche Weise er Pflichten auf sich zieht. Dies soll im Folgenden zusammenfassend geschehen. Die folgende Darstellung von Fichtes Überlegungen kann deutlich machen, wie detailliert er sich mit der Rolle der Leiblichkeit in der Ethik auseinandergesetzt hat. Pflichten in Bezug auf den eigenen Leib Indem Fichte transzendentalphilosophisch aus dem Selbstbewusstsein heraus argumentiert, kommt für ihn zuerst einmal nur der eigeVgl. unten, S. 308–311. Vgl. Ap438. Hier setzt sich Fichte mit Theologen auseinander, welche die Güte Gottes am Genussvollen der Welt festmachen wollen: »[A]lle auch durch deine sinnliche Existenz verbreiteten Annehmlichkeiten sind nicht darzu da, daß du über denselben andächtig brütest, sondern dass deine Kraft gestärkt, belebt, erhöht werde, das Werk des Herrn auf der Erde freudig zu tun. So lehre sie die Sache ansehen, und dann werden sie auch über dergleichen Dinge Gott preisen, wie er gepriesen sein will.« 168 169

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ne Leib als Objekt der Pflicht in den Blick. 170 Dass unabhängig vom Interpersonalbezug eine Verpflichtung – also nicht nur ein selbstbezogenes Wollen, sondern wirkliche Sittlichkeit – möglich ist, liegt daran, dass Verwirklichung von absoluter Selbständigkeit sich von vornherein nicht auf die Selbstständigkeit meiner Person als eines empirischen Vernunftwesens bezieht, sondern die Selbständigkeit der Ichheit, des absoluten Ich oder der Vernunft in mir. Fichte sagt entsprechend ausdrücklich, dass letztlich »das Sittengesetz sich selbst zum Objecte« (S229) hat, es also selbst letzter Zweck ist. »Ich bin sonach, für mich, d. i. vor meinem eigenen Bewußtseyn, nur Instrument, bloßes Werkzeug desselben, schlechthin nicht Zweck. Durch das Sittengesetz getrieben vergesse ich mich selbst im Handeln« (S230). Nicht nur mein Leib ist Mittel, sondern ich muss mich in der Ganzheit des empirischen Vernunftwesens – und dazu gehört neben dem Leib auch die Selbständigkeit meiner freien Tätigkeit des Erkennens und Wollens (S229) – als bloßes Mittel betrachten. Zuerst ergibt sich daraus, dass der Leib nicht absoluter Zweck ist, sondern nur Mittel. Die Absolutheit des Naturtriebes, dass er seine Befriedigung um ihrer selbst willen als Zweck verfolgt, ist von daher zu überwinden. Es ist Pflicht, eine innere Freiheit zu erlangen gegenüber dieser faktischen Triebausrichtung, die verstärkt ist durch die natürliche Trägheit. Der Naturtrieb darf nur befriedigt werden, wenn sein Inhalt als sittlich geboten erkannt wurde, und nur um des darin liegenden sittlichen Zweckes, nicht um des Genusses willen (S197). Und zwar gilt dies uneingeschränkt, da alles menschliche Handeln in Bezug zu setzen ist zum sittlichen Anspruch (S146). Für Fichte hat das Vernunftwesen keinen moralfreien Bereich, in dem es ein Bedürfnis rein um seiner selbst willen unter völligem Absehen von den ethischen Implikationen befriedigen dürfte. Wenn der Leib auch nicht absoluter Zweck ist, so ist er doch als notwendige Bedingung der Verwirklichung von Sittlichkeit Zweck und als solcher zu achten und zu erhalten. 171 »Er ist Zweck; als Mittel, Bis § 18, Abschnitt III, wo allererst der Interpersonalbezug hergeleitet und thematisiert wird, kann Fichte von Sittlichkeit und von der Rolle des eigenen Triebes in ihr sprechen und die Pflichten gegenüber der eigenen Natur bestimmen, ohne auf Interpersonalität Bezug nehmen zu müssen. 171 In einer anderen Schrift dieser Zeit schreibt Fichte über den sittlichen Menschen entsprechend: »[E]r liebt die Welt nicht, aber er ehrt sie, um seines Gewissens willen« (Ap431). In der Bestimmung des Menschen sagt er sogar, dass das Gewissen den Naturtrieb »heiliget« (B262 f.). 170

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die Vernunft zu realisiren.« (S230) Und zwar ist er genauso Zweck wie die geistige Seite der empirischen Existenz, das freie Erkennen und Wollen, nur als Mittel Zweck ist, und nicht weniger. Da der gebotene Zweck absoluter Selbständigkeit niemals endgültig erreicht werden kann, soll er in einer unendlichen Annäherung verfolgt werden. Auf diese Weise begründet Fichte die Pflicht, den Leib für alle Zukunft zu erhalten (S234 f.). Es ist alles zu tun, was für die Selbsterhaltung nötig ist, und alles zu vermeiden, was ihr abträglich ist. Und zwar besteht die Pflicht nicht nur darin, den eigenen Leib überhaupt zu erhalten, sondern »ihn zu einem tauglichen Werkzeuge der Moralität zu machen, und als solches zu erhalten« (S197). Zuerst einmal sorgt die Naturorganisation selbst für die Erhaltung sowie dafür, dass der Leib der Freiheit genügend Kraft und Wachheit wie geeignete Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten bietet. Diese Organisation ist daher nicht zu stören, die notwendigen leiblichen Bedürfnisse sind zu befriedigen – freilich nur so weit, wie es der Organisation zuträglich ist (S235). Auch vor aller äußeren Gefahr gilt es die Naturorganisation zu schützen (S236). Die Natur bietet uns sittliche wie auch unsittliche Handlungsmöglichkeiten. Es liegt bis zu einem gewissen Grad in der Freiheit der Reflexion, welcher Trieb besonders bewusst wird und mich bedrängt. Daher ergibt sich die Pflicht, vor allem die sittlichen Triebe deutlich bewusst zu machen und die unsittlichen vorbewusst zu halten und sich nicht unnötig von ihnen bedrängen zu lassen (S122). Zusätzlich vermag die Einbildungskraft Triebe zu wecken. Auch dies hat für Fichte im Blick auf Sittlichkeit zu erfolgen und es sollen nicht für den bloßen Genuss Bedürfnisse »erkünstelt« werden. 172 Bei aller inneren Unabhängigkeit und bei aller Vorsicht gegenüber dem Naturtrieb ist ihm jedoch das Vertrauen entgegenzubringen, dass er eine Möglichkeit sittlichen Handelns eröffnet. Dieses Vertrauen auf die Wirksamkeit der göttlichen Weltordnung in der Natur ist selbst Pflicht. Auf das im Gewissen als zu wählen Erkannte gilt es sich einzulassen. Da eine Handlung nur vermittels des Triebes geschehen und sich die Freiheit nie ganz an seine Stelle setzen kann, ohne seine angezielte Wirkung zu verunmöglichen, muss sie sich ihm in gewisser Weise überlassen, muss sie sich ergreifen lassen. Fichte macht auf diese Tatsache im Zusammenhang mit dem Sexualtrieb aufmerksam, bei dem sie besonders deutlich hervortritt (S287 f.). Sie besteht für 172

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Vgl. dazu S288 in Bezug auf den Sexualtrieb.

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ihn jedoch in Bezug auf alle Triebe, ebenso für alle Formen von erlernten Fertigkeiten und Gewohnheiten. Überlässt man sich dem Trieb, ist zwar immer auch die Gefahr im Blick zu halten, dass man eine üble Gewohnheit wirksam werden lässt. Den Versuch einer völligen Besonnenheit und Kontrolle stellt Fichte jedoch als weit schädlicher heraus, weil er uns zu völliger Handlungsunfähigkeit und Leblosigkeit verurteilen würde (Asc71). Das Sichüberlassen darf freilich nicht bedeuten, dass die Freiheit und eine gewisse Kontrolle verloren gehen, erst recht nicht, dass dabei der Naturzweck um seiner selbst willen, für den bloßen Genuss, angestrebt wird. Dass die Befriedigung des Naturtriebes Genuss beschert, wird dadurch aber nicht aufgehoben. Ihn nicht genießen zu wollen, würde eine falsche Distanzierung und eine zumindest teilweise Nichtrealisation des Triebes zur Folge haben. Daraus, dass die sittliche Aufgabe sich immer in Bezug auf eine konkrete, aktuell in der Natur ermöglichte Handlung ergibt, folgt für Fichte ein Imperativ der Hinwendung an das gegenwärtig Begegnende. So bezieht sich für ihn die Pflicht der Sorge um den eigenen wie den fremden Leib nur auf aktuell einem begegnende Bedürfnisse und nicht auf darüber hinaus zu suchende Sorgemöglichkeiten (S251). Oder: Aus der Pflicht, den Anderen über Irrtümer aufzuklären, folge nicht die Pflicht, Gelegenheiten dazu zu suchen (S259). Und zwar ergibt sich für ihn diese Beschränkung daraus, dass uns immer momentan etwas fordert und wir von daher gar keine Zeit haben können, noch weiteres zu suchen. Dass uns jeder Zeit etwas Bestimmtes unmittelbar fordert, ergibt sich – neben der Unmittelbarkeit des Gewissens 173 – aus der Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit des Triebes. Über allem für die sittliche Entscheidung ebenfalls notwendigen Denken und Vorstellen gilt es, diese Unmittelbarkeit zum leiblich Gegenwärtigen nie zu verlassen. Auf der Basis des aktuell in der Natur Begegnenden bestimmt sich, was jetzt Pflicht ist. Entsprechend kann Fichte diese Forderung der Orientierung am Gegenwärtigen auch so ausdrücken: Es muss »unsere Tugend natürlich seyn« (S259). Die Freiheit kann, wie dies dargestellt wurde, das natürlich Gegebene nicht nur auf verschiedene Weise bewusst aufnehmen und verwirklichen, sondern sie kann durch Vorstellen wie durch Handeln die Triebstruktur auch selbst prägen und bilden. Diese Bildung ist für

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Vgl. dazu oben, Anm. 138.

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Fichte selbst Pflicht, und zwar hat sie in Bezug auf den sittlichen Zweck zu erfolgen (S197). Konkret kann sie darauf gehen, uns von nicht sittlich zu wählenden Trieben freier zu machen, indem sie diese nicht nährt, sie auf sittliche Zwecke umlenkt oder indem sie die so bereits ausgerichteten Antriebe stärkt. Sie kann sich auch auf bestimmte motorische Fertigkeiten richten und die Artikuliertheit der Organisation verbessern. Oder sie kann die Organisation in anderer Hinsicht für sittliche Zwecke bilden, etwa auf eine besondere Stärke, Wachheit oder natürliche Robustheit hin. Die Bildung kann den Leib als Träger des Geistes, als Instrument des Erkennens wie als Instrument des Handelns in der Sinnenwelt betreffen. Aus der Pflicht der Orientierung an der gegenwärtig gegebenen Aufgabe ergibt sich, dass diese Bildung an das Naturgegebene anknüpfen soll. Die Vorstellung soll nicht unabhängig davon Zwecke setzen und sich daraufhin Fertigkeiten bilden. Auch richtet sich die Art der geforderten Bildung daran aus, welche Aufgaben sich jemand für sein Leben bereits gewählt habe, etwa konkret daran, für welchen Beruf sich jemand entschieden hat. 174 Je nachdem ist die Ausbildung von leiblichen Fertigkeiten auf unterschiedliche Weise erfordert: »Dem Landbauer ist Stärke und Dauerhaftigkeit des Leibes, dem Künstler Geschicklichkeit und Fertigkeit desselben vorzüglich von Nöthen« (S245). Eine besondere Form der Pflicht der Bildung entsteht daraus, dass der Naturtrieb zusammen mit dem sittlichen Trieb spezifisch altruistische Antriebe erzeugt. Das macht Fichte etwa in Bezug auf das mütterliche Mitleid deutlich (S293). Wegen seiner Abhängigkeit von einem Naturtrieb kann für ihn das Mitleid niemals selbst Pflicht sein, sondern höchstens die positive sittliche Einstellung gegenüber dem Kind. Wenn der Naturtrieb vorhanden ist, entwickelt sich aus beiden Seiten von selbst das Mitleid als ein Herzensbedürfnis. Wegen des sittlichen Potentials, das in dem Bedürfnis liegt, ist es dann jedoch als eine Pflicht der Mutter anzusehen, »diesen Empfindungen sich zu überlassen, sie in sich zu stärken, und alles, was ihnen Abbruch thun könnte, zu unterdrücken« (S293). Dies soll natürlich um der Sittlichkeit und nicht um des Triebes willen geschehen, wie auch nicht lediglich als Folge des Triebes. Das Handeln bloß gemäß dieser, 174 Eine solche Wahl ist für Fichte selbst Pflicht, und zwar aus dem Erfordernis einer Koordinierung der individuellen Handlungspläne für eine wirksame und sich gegenseitig nicht störende Verwirklichung des sittlichen Zwecks heraus, also aus der Notwendigkeit einer koordinierten Arbeitsteilung (S232).

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wenn auch edlen Triebe kann noch nicht Moralität, sondern nur Legalität auszeichnen (S144 f.). Nur zusammen mit der sittlichen Einstellung kann es zu einer auch der Form nach sittlichen Verwirklichung dieser Triebe kommen. Ähnliches gilt für die zweite dargestellte Art der Verbindung von Natur und Vernunft, die Somatisierung der sittlichen Gefühle. In Bezug auf das schlechte Gewissen sagt Fichte ausdrücklich, dass es für den Fortschritt in der sittlichen Bewusstheit nötig ist, sich diesen Gefühlen zu überlassen und ihrer Strafe zu unterwerfen (Asc73). Die Pflichten in Bezug auf den Leib des Anderen Bis hierher sind Pflichten lediglich in Bezug auf den eigenen Leib in den Blick genommen worden. Den ganzen Umfang der Verpflichtung sieht Fichte aber nur erschlossen, wenn alle Bedingungen der Moralität betrachtet werden, und dazu gehört zumindest ein anderes Vernunftwesen. Es können auch mehrere existieren und dies ist der Erfahrung nach der Fall. Ist etwas ein Vernunftwesen, dann kommt ihm genauso wie mir die Möglichkeit zu, dass sich das Sittengesetz in ihm verwirklicht (S246). Dies muss für mich in gleicher Weise wie die Verwirklichung der Vernunft in mir Zweck sein und es folgen daraus bestimmte Pflichten – gegenüber dem Anderen überhaupt wie gegenüber seinem Leib. Bevor diese im Einzelnen betrachtet werden, gilt es zu klären, auf welche Weise für Fichte der Andere Pflicht wird. Die Art der Verpflichtung muss sich für ihn radikal von der Verpflichtung mir selbst gegenüber unterscheiden, denn ich kann die empirische Existenz des Anderen nicht wie mich selbst als Mittel zur Verwirklichung des Vernunftzwecks betrachten. Der Andere ist mir nicht innerlich, sondern äußerlich. »An andere Individuen außer mir richtet sich in mir und vor meinem Bewußtseyn das Gesetz nicht, sondern es hat sie nur zum Objecte. Sie sind vor meinem Bewußtseyn nicht Mittel, sondern Endzweck.« (S230) Da die Pflichten mir selbst gegenüber sich daraus ergeben, dass ich mich als Bedingung betrachten muss für den Vernunftzweck, nennt Fichte sie bedingte und mittelbare Pflichten. Und da die Anderen nicht als Bedingung genommen werden dürfen, sondern Zweck sind, nennt er die Pflichten gegen sie unbedingte und unmittelbare (S231 f.). In der Konsequenz ergibt sich daraus nicht ein unterschiedlicher Verpflichtungsgrad, denn die Pflicht, mich selbst als Mittel zu erhalten, ist genauso absolut wie die Pflicht, den AndeLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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ren als Zweck zu erhalten. 175 Die Weise des Umgangs ist jedoch radikal anders. Aus dem, dass mir die unmittelbare Verpflichtung der anderen Vernunftwesen nicht direkt zugänglich ist, folgert Fichte, dass für mich unmittelbar auch keine Aufteilung der Verpflichtung entsteht. Da mir nicht eine beschränkte, sondern die absolute Vernunft selbst zugänglich ist, ergibt sich so, dass ich auf den Gesamtzweck verpflichtet werde. »Jedem allein wird, vor seinem Selbstbewußtseyn, die Erreichung des Gesammtzwecks der Vernunft aufgetragen; die ganze Gemeine der vernünftigen Wesen wird von seiner Sorge und seiner Wirksamkeit abhängig, und er allein ist von nichts abhängig.« (S231) Weder aus der Absolutheit dieser eigenen Beauftragung noch daraus, dass die Verpflichtung des Anderen mir nicht unmittelbar zugänglich ist und ich meine Aufgabe in der Weise aufteilen könnte, folgt jedoch, dass ich von einer Verpflichtung des Anderen gar nicht ausgehen soll. Denn das einzige, von woher der Andere Objekt der Pflicht wird, ist, dass er Sittlichkeit verwirklichen kann. Pflichten ergeben sich für Fichte letztlich nicht aus dem Ziel des bloßen Wohlergehens, auch nicht nur aus dem des legalen Handelns, sondern aus dem Ziel der Moralität. Die Moralität des Anderen muss also mein Zweck sein (S246). Da ich ihm jedoch nicht innerlich bin, kommt er mir dazu nicht als Mittel in den Blick und in die Verfügung. Die Moralität des Anderen ist mir also nicht unmittelbar Pflicht wie es mir meine Moralität ist. Nur er selbst kann sie erwirken. In den Bereich meiner Möglichkeit fällt nur, darauf auf mittelbare Weise hinzuwirken sowie sein freies Wollen und die Bedingungen dazu zu achten und zu befördern. Der Leib des Anderen ist deshalb zwar auf das Ziel der Moralität zu beziehen und die Sorge um ihn als ein geeignetes Mittel dazu darf 175 Wenngleich ich mich selbst nur als Bedingung der Verwirklichung des Sittengesetzes ansehen und als solche erhalten darf, so ist die Pflicht der Selbsterhaltung für Fichte nicht an eine Bedingung gekoppelt. Meine Pflicht, das Sittengesetz zu erfüllen, besteht, da dies nur in einer unendlichen Annäherung geschehen kann, unendlich weiter in der Zukunft, und besteht unbedingt. Deshalb ist das notwendige Mittel dazu, meine Existenz, unbedingt zu erhalten (S234 f.). Als unbedingte kann für Fichte diese Pflicht nicht geringer wiegen als die Pflicht, das Leben des Anderen zu erhalten. Das wird etwa deutlich daran, dass für ihn in einer Situation, in der die Erhaltung des einen durch die Tötung des Anderen bedingt ist, beide Gebote gleich stark gelten und deshalb ein Nichthandeln geboten ist (S268). Auch soll ich für die Erhaltung meines Lebens genauso in Kauf nehmen, das des Anderen in Gefahr zu bringen (S269 f.) wie für seine Erhaltung meines (S251).

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mir nicht weniger angelegen sein als die um meinen eigenen (S250 f.). Zugleich ist er jedoch immer als notwendige Bedingung der Freiheit des Anderen, als Sphäre seiner freien Verfügung, zu achten und nicht unmittelbar Einfluss zu nehmen auf ihn (S247 f.). So ist der Leib des Anderen nicht direkt Objekt meiner Sorge, sondern ich soll nur seiner eigenen Sorge um den Leib zuträglich sein, insbesondere wenn sie in Not gerät (S251). Dazu muss ich für Fichte bereit sein – auch unter Gefahr meines Lebens, da mir das Leben des Anderen nicht weniger wert sein darf als meines. Negativ folgt aus der Pflicht, seinen Freiheitsraum zu achten, alles zu vermeiden, was die freie Beweglichkeit, die Gesundheit und die Erhaltung seines Leibes einschränkt oder zerstört. Da er sich nur leiblich verwirklichen kann, muss ich in seinem Leib ihn selbst achten oder, anders gesagt, muss ich seinen Leib wie ihn selbst achten. Ungebeten Einfluss auf ihn nehmen darf ich nur aus der Pflicht heraus, mich selbst oder andere vor seinem Angriff zu verteidigen. 176 Für die Achtung und Beförderung der Freiheit des Anderen spielen sein Leib, mit dem er mir zugänglich ist und mir erscheint in seinen Bedürfnissen und in den für mich unableitbaren Äußerungen seiner Freiheit, sowie der eigene Leib als Organ, mit dem ich ihn wahrnehmen und mit dem ich ihm helfen kann, eine wesentliche Rolle. In der Pflicht, auf die Moralität des Anderen hinzuwirken, wird der Leib besonders als Kommunikationsmedium bedeutsam. Denn unmittelbar kann ich die Moralität nicht bewirken. Auch eine Wirkung auf seinen Trieb in Form von Belohnung oder Bestrafung befördert nicht die Moralität, da diese nicht aus einem äußeren Beweggrund, sondern nur im Blick auf den Zweck der Vernunft selbst bewirkt wird (S277 f.). Ebenso kann für Fichte theoretische Überzeugungsarbeit allein letztlich nicht fruchten, denn die Zustimmung kann nur frei geschehen, und »Überzeugung von Sätzen, die unsern Leidenschaften Abbruch thun, setzt einen herrschenden guten Willen schon voraus; der sonach nicht selbst wieder durch sie hervorgebracht werden kann« (S279). Die einzige Möglichkeit besteht also für Fichte darin, an den immer schon im reinen Trieb vorhandenen Affekt, das Ach176 Die Pflicht der Verteidigung besteht für Fichte, egal ob es darum geht, mich oder einen Anderen zu verteidigen. Das Ziel darf dabei aber nicht sein, den Angreifer zu töten, sondern lediglich, ihn zu entwaffnen (S269 f.). Grundsätzlich kommen für Fichte jedoch in erster Linie dem Staat das Recht und die Pflicht zu, durch Zwang widerrechtliche Übergriffe zu verhindern. Nur wenn der Staat das nicht unmittelbar leisten kann und nur solange besteht eine Pflicht der Privatpersonen (S266 f.).

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tungswürdige zu achten, anzuknüpfen, indem dem Anderen ein solches Achtungswürdiges präsentiert wird – sei es in seinem Handeln, im Handeln eines Anderen oder in meinem eigenen. Meine Moralität ist also nicht nur an sich Pflicht, sondern auch als Beispiel für den Anderen (S279). Um auf die Moralität des Anderen hinwirken zu können, ist der Leib als die sichtbare Erscheinung des Menschen bedeutsam. Es kommt für Fichte nicht darauf an, sich extra um die Sichtbarkeit der eigenen guten Taten zu bemühen oder gar darüber zu sprechen (S283–285). Der Mensch lebt einfach sittlich und »läßt unbefangen das Innerste seines Herzens sich äußerlich abbilden, ohne weiter etwas zu thun, um andere darauf aufmerksam zu machen« (S284). Der Leib – Fichte weist darauf hier nicht ausdrücklich hin, aber das ergibt sich unmittelbar – hat in diesem Fall also weniger eine Bedeutung als Medium, dessen wir uns kommunikativ bedienen können, sondern mehr als unwillkürlicher und damit auch unverstellter Ausdruck dessen, was für eine Haltung ein Mensch hat und wie er lebt. Zu einer Äußerung kommt wahrhafte Moralität für Fichte deshalb, weil sie sich letztlich nie in einem bloß innerlichen Tun verwirklicht, sondern in einem Handeln, das Auswirkungen hat auf die Sinnenwelt, und zwar Auswirkungen, die bedeutsam sind für andere Menschen (S231 u. Asc73–77). Denn das Ziel jedes Einzelnen ist, auf die Realisation der Sittlichkeit in der ganzen Gemeinschaft der Vernunftwesen hinzuwirken. Ich soll idealerweise als Mittel ganz in diesem Wirken für die Anderen aufgehen und aus der Selbstvergessenheit nur heraustreten, sobald eine Notwendigkeit entsteht, mich selbst als Mittel zu erhalten oder zu verbessern (S231). Dann kann Moralität sich zeitweise auch als ein rein innerlicher Klärungsprozess vollziehen. Dies geschieht aber immer nur zum Zweck des Wirkens auf die Gemeinschaft. Da dieses sich notwendig in der gemeinsamen Sinnenwelt vollzieht, kommt dem Leib als Wirkorgan in dieser Welt gegenüber den bloß inneren Tätigkeiten, eine besondere Funktion zu. Die Pflichten in Bezug auf die Natur außerhalb von Vernunftwesen Absolut in seiner Selbständigkeit zu achten, sind für Fichte nur solche Teile der Sinnenwelt, die als möglicher Ort der Verwirklichung des Sittengesetzes in Betracht kommen. Alles Andere in der Sinnenwelt, das nicht vernunftfähig ist, kann nicht unmittelbar Pflichten auf sich ziehen, sondern nur insofern es Mittel für die Freiheit der Vernunft206

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wesen ist (S246 u. 300). Dazu gehören für ihn nicht nur die leblosen Dinge, sondern auch die Pflanzen und Tiere, da sie für ihn nicht zu Sittlichkeit fähig sind. 177 Abgesehen von der Bedeutung, die sie als zu beachtendes Mittel für den Menschen haben, scheint für Fichte lediglich noch eine gewisse Achtsamkeit ihnen gegenüber zu bestehen, insofern sie hervorgehen aus einem von uns endlichen Wesen unabhängigen absoluten Vernunftwirken in der Natur. Zunächst einmal fällt auf, dass er die Pflicht, den anderen Menschen zu achten, teilweise daraus begründet, dass er als Produkt dieses göttlichen Vernunftwirkens anzusehen ist (S247 f.). Dass ihm dieses auch in der noch nicht zur Vernunft gelangten Natur auf eine Weise achtungswürdig ist, drückt sich m. E. aus, wenn er von der Erhabenheit der Arbeit des Bauern spricht, welcher die natürliche Organisation leitet (S301). Dass Fichte hier das Wort ›erhaben‹ verwendet, ist eigentlich nur sinnvoll, wenn er es als ein Mitwirken an einem irgendwie achtungswürdigen oder heiligen ursprünglichen Vernunftwirken versteht. In der späteren Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten verwendet Fichte das Wort ›erhaben‹ für etwas, in dem sich die göttliche Idee ausdrückt, und gebraucht es auch für die Natur. 178 In diese Richtung scheint die frühere Verwendung schon zu weisen. Hier deutet sich eine solche achtungsvolle Haltung in Bezug auf die Natur jedoch lediglich an. Und von sich daraus ergebenden Pflichten gegenüber der Natur spricht Fichte nicht. Die vernunftlose Natur zieht für ihn nur Pflichten auf sich, abhängig von den freien und vernünftigen Wesen. Diese sind für ihre Verwirklichung von Freiheit auf die Natur angewiesen. Es bedarf dafür nicht nur unmittelbar eines organisierten Leibes, sondern auch einer äußeren Natur. Der Leib kann für Fichte letztlich nicht von diesen äußeren Mitteln getrennt verstanden werden. Auf sie sind wir für die Befriedigung unserer Bedürfnisse angewiesen und wir benötigen sie als Sphäre des Handelns und Kommunizierens. Wie der Leib selbst sind sie nicht nur als natürlich gegebene anzusehen und in dem, was natürlich bereits gewachsen ist, zu achten, sondern sie sind ebenso auf den sittlichen Zweck hin zu formieren und zu bilden. Die äußeren Mittel sind ausreichend in der eigenen Verfügung zu halten und sie sind daraufhin zu bilden, dass sie den Zwecken der Freiheit 177 Dies geht etwa aus seiner Bemerkung S186 hervor, dass für das Wirken der Tiere nicht sinnvoll eine sittliche Beurteilung möglich ist. Vgl. dazu auch Pl273–278. 178 Vgl. G99 und unten, S. 247–250.

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möglichst gefügig sind (S241). Betrachtet man die äußere Natur generell in ihrer Eigenschaft als Hemmung in Bezug auf das, was das höchste Ziel ist, die rein selbständige Vernunfttätigkeit, dann folgt daraus letztlich, dass diese Beschränkung ganz in die Hand der Vernunftbestimmung gebracht werden muss. So wie der artikulierte Leib bereits in der Gewalt meiner Vernunft steht, so soll es die ganze Welt sein. In diesem Sinne kann Fichte sagen: »Die Welt muß mir werden, was mir mein Leib ist.« (S208) So sehr dies utopisch erscheint, so sehr ist eine völlige Durchdringung der Welt durch Vernunftwirken im sittlichen Ziel impliziert. Wenn Fichte in Bezug auf die Leiblichkeit in einem Leben nach dem Tod sagt, dass sie eine ganz andere Gestalt haben wird 179, dann könnte eventuell von diesem Ziel her näher bestimmt werden, in welcher Weise sie für ihn vollkommener gedacht werden muss. Dass sich dieses Ziel jetzt bereits realisiert, ist unmöglich – schon deshalb, weil für die Artikulation ein organischer Leib vorausgesetzt ist, der nicht ganz in der Gewalt des Subjekts steht. Genauso unmöglich ist es, die Natur außerhalb meines Leibes in meine unmittelbare Gewalt zu bringen. Nur als äußere Instrumente kann ich sie mir mehr oder weniger gefügig machen. Für mich kann es also nächstes Ziel nur sein, die Natur diesem Ziel anzunähern, und zwar sinnvoll auf die Möglichkeiten meiner eigenen freien Wirksamkeit bezogen. So ergibt sich die Pflicht, die Dinge daraufhin zu bearbeiten: »[D]ie Natur muß mild, die Materie biegsam, alles muß so werden, daß es nach leichter Mühe den Menschen gewährt, wessen sie bedürfen« (S314). Diese Pflicht betrifft besonders die Berufsstände, zu deren Aufgabenbereich die Bearbeitung der Materie gehört: etwa Bauern und Handwerker. Sie sollen ihre Technik für dieses Ziel immer weiter vervollkommnen und so zum Fortschritt der Menschen beitragen (S315). Wenn hier eine scheinbar ungebrochene Technikbegeisterung bei Fichte aufscheint, darf nicht übersehen werden, dass er ebenso ein deutliches Bewusstsein dafür hat, wie die Naturbildung von sich her Freiheit und Sittlichkeit ermöglichende Strukturen ausbildet, und darin geachtet werden muss. Problematisch wird seine starke Forderung nach einer Gestaltung und Entwicklung der Welt für die Zwecke des Menschen m. E. nur dadurch, dass für ihn die Natur nicht in ihrer Selbständigkeit geachtet werden muss, nicht einmal die Lebewesen, sondern als bloßes Material für den Menschen gebraucht werden kann. 179

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Vgl. oben, S. 193.

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Die Betrachtung der Natur als mein eigenes zu gebrauchendes und zu bildendes äußeres Verwirklichungsfeld wird dadurch eingeschränkt, dass es andere Vernunftwesen gibt, die ein solches ebenso nötig haben (S259–265). Dadurch entsteht die Gefahr, dass ich mit meinem Handeln in etwas eingreife, was ein Anderer bereits für einen bestimmten Zweck bearbeitet hat, und so das, was er angezielt hat, verhindere. Da dies gegen die Pflicht der Achtung der Freiheit des Anderen verstoßen würde, kann ich nie ruhigen Gewissens in der Sinnenwelt handeln, wenn nicht mit allen Vernunftwesen vereinbart wird, welches jeweils der eigene Bereich des Handelns ist. Daraus folgert Fichte: Es muss jedem ein Eigentum zukommen und dieses gesellschaftlich anerkannt sein. Dass dies geschieht, ist nicht nur pragmatisch notwendig, sondern selbst Pflicht. Falls eine Eigentumsordnung noch nicht existiert, hat jeder die Pflicht, eine einzusetzen. Und falls sie schon besteht, ergibt sich daraus unmittelbar die Pflicht an jeden, sich ein Eigentum zu erwerben und es seinen Zwecken entsprechend zu erhalten, da er anders nicht frei handeln könnte. In Bezug auf den Anderen ergibt sich daraus die Pflicht, ihm zu helfen, ein Eigentum zu erwerben, wenn ihm das allein nicht möglich ist und wenn das Gemeinwesen, dem diese Pflicht zuerst zukommt, ihr nicht Folge leistet. Ebenso ergibt sich unmittelbar die Pflicht, das Eigentum des Anderen anzuerkennen, es nicht zu beschädigen, zu verringern oder dessen Gebrauch zu verhindern sowie es gegen drohende Gefahr zu verteidigen. Auch um diesen Pflichten nachkommen zu können, sollen die eigenen Vermögensverhältnisse auf die freie Verfügung hin organisiert gehalten werden. Durch die Existenz anderer Vernunftwesen sind weite Teile der Sinnenwelt mir nicht als Mittel zugänglich, sondern als Zweck zu achten wie die anderen Personen selbst. Die generelle Pflicht, die sich in Bezug auf die Natur schon unabhängig von anderen Vernunftwesen ergeben hat, nämlich die Natur unter die Herrschaft der Vernunft zu bringen und der freien Verfügbarkeit angemessener zu machen, bleibt zwar bestehen. Ihre Verwirklichung muss nun jedoch organisiert und aufgeteilt werden, indem jeder an die Sphäre seines Besitzes verwiesen wird. Jeder soll diese Sphäre dabei nicht nur für sich selbst der Freiheit gefügiger machen, sondern auch für die Anderen. Die generelle Pflicht der Bildung der Natur konkretisiert sich für Fichte jetzt dahingehend, dass möglichst alle Dinge im Besitz eines Vernunftwesens sein sollen. Auf diese Weise begründet Fichte, dass alles Materielle innerhalb einer Eigentumsordnung betrachtet werden muss. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Derart differenziert hat Fichte die Rolle des Leibes wie überhaupt der Sphäre des Natürlichen und Materiellen in der Ethik nur in der frühen Sittenlehre herausgearbeitet. Seine Gedanken wurden in dieser Ausführlichkeit dargestellt, weil, wie sich noch genauer erweisen wird, die verschiedenen Aspekte ihre Bedeutung auch noch für das Konzept von Religion haben, wie es sich beim späten Fichte findet. Sittlichkeit bleibt weiter integraler Bestandteil des religiösen Lebens. Es kommt freilich auch zu grundlegenden Veränderungen. So wird etwa das ethische Leben letztlich nicht mehr als etwas verstanden, in dem wir einem Sollen folgen, sondern als etwas, in dem wir uns von einem ursprünglichen Wollen oder einem Trieb ergreifen lassen. Entsprechend muss der Leib in den verschiedenen hier beschriebenen Punkten nicht mehr als Objekt einer Pflicht, sondern als Objekt eines Strebens gedeutet werden.

1.3.2 Die Bedeutung des Leibes auf dem Stand der Anweisung Der Fokus der Untersuchung liegt auf Fichtes Konzept zur Zeit der Anweisung, da hier seine Religionsphilosophie am ausgereiftesten und am besten greifbar ist. Für die meisten Elemente seines Leibbegriffs musste aber auf die frühe Sittenlehre zurückgegriffen werden, da Fichte in keiner anderen Schrift den Leibbegriff derart detailliert und zusammenhängend entfaltet. Auch die Rolle des Leibes innerhalb des sittlich-religiösen Lebens des Menschen konnte von hier aus in vielen Punkten erhellt werden. Um klären zu können, welche Bedeutung er dann zur Zeit der Anweisung bekommt und inwiefern die früheren Bestimmungen hier noch Gültigkeit haben können, ist genauer zu untersuchen, inwiefern sich Fichtes Leibbegriff sowie sein Verständnis von Sittlichkeit und religiösem Leben bis zur Anweisung weiterentwickelt haben.

1.3.2.1 Entwicklungen des Leibbegriffs zwischen der Zeit der frühen Sittenlehre und der Zeit der Anweisung Grundsätzlich fügt sich, wie wir gesehen haben, die Herleitung des Leibes in der frühen Sittenlehre in das Konzept zur Zeit der Anweisung dadurch ein, dass sie den Leib als Moment der Selbsterkenntnis und der Selbstrealisation als eines selbständigen Prinzips erschließt 210

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und damit genau den Ansatzpunkt wählt, den auch die Erlanger Wissenschaftslehre für die Ableitung der Sphäre des Leibes angibt. Trotzdem könnten sich einzelne Punkte verändert haben. Blickt man auf die spärlichen und verstreuten Textstellen über den Leib in der Anweisung selbst oder in zeitlicher Nähe zu ihr, dann zeigt sich in den meisten Elementen des Leibbegriffs eine Kontinuität – und ebenso in der Begründung, soweit eine solche greifbar wird. Zumindest so viel ist an Textbasis vorhanden, um dies für folgende Punkte zu belegen: Es findet sich noch genauso die Grundauffassung der Leiblichkeit als gehemmter Tätigkeit. 180 Diese begrenzte Tätigkeit wird als faktische mit dem Begriff des Triebes gefasst 181, der in einem unmittelbaren Selbstgefühl bewusst wird. Aus den Gefühlen werden in den Anschauungsformen und Kategorien der eigene Körper und die Welt subjektiv konstruiert. 182 Das Ich selbst fällt dadurch in den Raum. Der Leib ist das Ich im Raum. 183 Der Trieb wird als notwendige Bedingung und als Instrument sowohl der Wahrnehmung 184 wie des 180 Vgl. G72 f., 76 u. 78. In DW345 findet sich auch der Begriff des Anstoßes als des Ausgangspunkts der Wahrnehmung. Verändert hat sich freilich – und darauf wird im Folgenden noch detailliert eingegangen werden –, dass nun die Hemmungen in Verbindung gebracht werden können mit den realen Kräften in der Natur. In dem Sinn ist m. E. in DW349 die Rede vom »Verhältniß des thätigen Sinnes zu dem seyenden Objekte« als eine »Beschränkung« zu verstehen. 181 Vgl. DW345 u. 348 über die Tätigkeit des Ich, wie sie sich faktisch und bereitstehend zu freier Kausierung in einer Wahrnehmung finden muss und in dieser Eigenschaft als Trieb zu verstehen ist. Vgl. dazu auch WU339. Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse von 1810 ist zwar etwas später als die Anweisung. Dass Fichte hier noch dieselbe Auffassung hat, kann aber m. E. ebenso als Hinweis auf eine Kontinuität angesehen werden. Ausführlich zur Kontinuität zwischen der frühen Leibtheorie und der in WU wie überhaupt in der späten Berliner Zeit vgl. Bisol, 2007, 58–64 u. 2011, 116–131. Auch in der Anweisung wird das weltliche oder natürliche Sein des Ich ganz wesentlich als Trieb gefasst. Von ihm geht das Bewusstsein der »sinnlichen Begier des Menschen« aus und er ist der »Schöpfer der Sinnenwelt« (A147). 182 Vgl. DW349 zur unmittelbar ausgehend von der Begrenzung gefühlten sinnlichen Qualität als dem eigentlich Empirischen im Unterschied zu dem, was aus der Nachkonstruktion mit ihren apriorischen Formen dazukommt (Raum, Materialität usw.), der »NaturWelt a priori« (DW352). Zur unmittelbaren Erscheinung der Begrenzung des Triebes in sinnlichen Qualitäten vgl. auch WU340. Vgl. dazu auch, wie oben, S. 114–123 die Konstitution der vorgestellten materiellen Welt in Anknüpfung an die Gefühle ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre beschrieben wurde. 183 Vgl. DW344 über das Ich als Körper im Raum. Vgl. dazu auch WU339 u. 340. 184 Vgl. DW352 darüber, wie die Selbst- und die Fremdwahrnehmung vom Gefühl des Triebes ausgehen. Dabei wird klar das Bedingungsverhältnis benannt: »Kein Gefühl ohne Trieb«. Wie alles Verstehen generell vom Selbstgefühl ausgehen muss, hat Fich-

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Handelns 185 vorausgesetzt. Auch die geistige Kraft und Gesundheit wird weiter als vom Leib abhängig angesehen. 186 Der Begriff des Organismus allgemein 187 und die Auffassung des Leibes als eines organisierten Teils und Produkts des organischen Naturganzen 188 wird beibehalten. Das Verhältnis des Triebes zu seinem Objekt und damit auch zu den notwendigen Mitteln der Selbsterhaltung ist für Fichte weiter ein unmittelbares und braucht kein bewusstes Verstehen. 189 Das Konzept, dass das Subjekt mit einem Teil der Triebe seines organisierten Leibes direkt in die Welt eingreift und wie hierbei die Innenperspektive auf das freie Wirken und die äußere Anschauung der Natur zusammenhängen, bleibt. 190 Dass die freie Vorstellung und das Handeln prägend auf die Triebstruktur einwirken können, findet weiterhin Beachtung. 191 Immer noch findet sich auch die grundsätzliche Idee, dass die Wahlfreiheit sowie die Zeit in der Selbständigkeit der Vernunft nicht ursprünglich enthalten sind, sondern es zu ihnen nur aufgrund der für das Als notwendigen Begrenzung auf der leiblichen Ebene kommt. 192 te ebenso – dies wurde oben dargestellt – in der Erlanger Wissenschaftslehre sehr deutlich gemacht. Zum Leib als Sinnesorgan vgl. auch WU340. 185 Vgl. DW345 f. zur Voraussetzung des Triebes als einer faktischen Kausierungsmöglichkeit. Durch sie wird die Freiheit »Oberherr der Natur«, aber nur »durch die eigene Kraft derselben« und wenn sie sie »mit dem Gedanken durchdrungen« hat. Vgl. auch WU339 f. 186 Vgl. A78. 187 In A80 verwendet Fichte den Organismusbegriff in der Bedeutung eines Bedingungszusammenhangs sich gegenseitig setzender und voraussetzender Elemente. In dieser Bedeutung wird der Begriff auch in der Erlanger Wissenschaftslehre in Bezug auf das Licht verwendet (vgl. oben, S. 69–71). Für den Leib wird in der Anweisung häufiger der Organismusbegriff benutzt (A78, 134 u. 164). 188 Vgl. dazu unten, S. 241–244. 189 Vgl. A134. 190 Vgl. oben, Anm. 185. Ein Unterschied, wie im Folgenden herausgearbeitet wird, liegt nur darin, dass Fichte die Weise, wie wir vermittels von Tätigkeit und Begrenzung aufeinander wirken und wie die einzelnen Subjekte mit ihren Trieben in der einen Natur zusammenhängen, näher bestimmt. 191 Vgl. A135. 192 Sichtbar ist dies etwa daran, dass für Fichte im Absoluten, aus dem das Endliche seine Selbständigkeit bezieht, keinerlei Willkür stattfinden kann (vgl. oben, S. 103). Dass ein Übergehen von Möglichkeit zu Wirklichkeit und darin eine freie Wahl nur aufgrund der auf der Ebene des Materiellen, des Leibes oder der Natur stattfindenden Begrenzung entsteht, wird etwa deutlich, wenn Fichte über diese Natur in der Erlanger Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten schreibt: »Sie ist das, – das Zeitleben anhaltende, und hemmende; und allein durch diese Hemmung zu einer Zeit ausdeh-

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Wie im Folgenden genauer zu zeigen ist, finden sich jedoch auch wesentliche Weiterentwicklungen. Sie betreffen die Frage nach der Konstitution des Leibes, und zwar an seinen ursprünglichen Ausgangspunkten, den faktischen Begrenzungen. Wie kommen diese überhaupt in den Bereich der eigenen Tätigkeit? Was ist ihr Ursprung? Inwiefern sind sie auf Gott als Urheber zurückzuführen? Und wie hängen sie zusammen mit dem Wirken der anderen Subjekte und der Natur, die ja zumindest in der Erscheinung als Ursache der eigenen Begrenztheit gesetzt werden? Wie ist hier überhaupt ein reales Verhältnis zu denken? Ausgehend von den Begrenzungen wird die Bestimmtheit der Welt gedacht. Wie ist es möglich, dass in den individuellen Subjekten Begrenzungen sind, die zu einer übereinstimmenden Weltwahrnehmung führen? Damit hängt eng zusammen die Frage nach dem Realitätsstatus der Natur. Dass hier in der frühen Zeit noch Klärungsbedarf besteht, hat sich schon angedeutet. Es bietet sich an, diese Fragen zusammen zu behandeln, und zwar unter der Leitfrage nach der Konstitution der faktischen Begrenzungen, sozusagen des Grundstoffs des eigenen geschichtlich-leiblichen Daseins. Nicht zuletzt für die Fragestellung dieser Untersuchung ist es wichtig, sich diese Konstitution auf ihrer tiefsten Ebene sehr deutlich vor Augen zu führen, da nur so der innerliche Zusammenhang des leiblichen Lebens mit der ursprünglichen Lebendigkeit der Subjekte, wie sie sich aus dem Absoluten ergibt, hervortreten kann. Die Entwicklungen in diesen Fragen lassen sich gut ausgehend von der Sittenlehre verfolgen, da Fichte hier eine Theorie vorträgt, über deren Umänderung er sich selbst äußert. Sie wurde bisher noch nicht dargestellt, da es sich anbietet, ihre Fragestellungen im Zusammenhang mit der anschließenden Gedankenentwicklung zu behandeln und so die Argumentation verständlicher zu machen. Um diese Entwicklung nachvollziehen zu können, werden auch über die Leibthematik hinausgehende grundlegende Veränderungen hin zur späteren Wissenschaftslehre zur Sprache kommen müssen. Indem diese ebenso das Verständnis der Sittlichkeit und der Religion betreffen, wird hier den beiden folgenden Kapiteln, welche die Veränderungen in der Frage nach der ethischen und religiösen Bedeutung der Leiblichkeit untersuchen, schon vorgearbeitet.

nende, was ausserdem mit Einem Schlage als ein ganzes und vollendetes Leben hervorbrechen würde« (G73). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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1.3.2.1.1 Die Problematik der Konstitution der begrenzten Tätigkeit Es ist bereits dargestellt worden, wie Fichte begründet, dass es zu einem Verstehen und zu einem Verwirklichen der Freiheit nur kommen kann, wenn wir uns in faktischen Begrenzungen finden. Es muss eine eigene, aber sich vorfrei vollziehende Tätigkeit sein, die begrenzt wird – ein Trieb. Dieser muss unmittelbar gefühlt werden. Und er muss so ausfallen, dass er als Trieborganismus, der Produkt und Teil des Naturganzen ist, verstanden werden kann. Noch nicht thematisiert wurden Fichtes Erwägungen zur Herkunft dieser konkreten Begrenzungen. Das Prädestinationsmodell zur Zeit der frühen Sittenlehre Für Fichte ist es, wie er in der Sittenlehre herausstreicht, transzendentalphilosophisch unmöglich, diese Begrenzung aus einem »Ding an sich mit Abstraction von aller Vernunft« (S101), d. h. von etwas außerhalb des Vernunfthorizonts des Ich Liegenden, her zu begründen. Die gewöhnliche Erklärung geschieht für ihn so, dass die konkreten Naturgegebenheiten, die unsere Begrenzungen ausmachen, auf den gesetzmäßigen Verlauf einer solchen unabhängigen Natur zurückgeführt werden, die uns irgendwie äußerlich affiziert. Diese Natur muss transzendentalphilosophisch jedoch innerhalb der Vernunft und – insofern ich in mir diese Vernunft bin – in mir liegen. Und ich muss mich aus mir selbst heraus affizieren. Deshalb »läßt diese Beschränktheit sich nur so begreifen, daß das Ich selbst nun einmal sich so beschränke, und zwar nicht etwa mit Freiheit und Willkühr, denn dann wäre es nicht beschränkt, sondern zufolge eines immanenten Gesetzes seines eignen Wesens« (S101). Es kann Fichte an dieser Stelle nicht um die transzendentalphilosophische Einsicht gehen, dass die Bewusstseinsgegenstände nur innerhalb des individuellen Bewusstseins und in ihrer Ausformung zufolge der Bewusstseinsakte sind. Dieser Einsicht wurde er bereits dadurch gerecht, dass er diese Ausformung nachvollzogen und die konkreten Gefühle, an welchen sie ansetzt, als unmittelbare Selbstgefühle der eigenen praktischen geistigen Tätigkeit in ihrer Begrenzung verstanden hat. Auf diese Weise wurde die Art, wie wir uns eine Wechselwirkung in der Natur vorstellen und denken, als inadäquat für diesen Bereich der praktischen Begrenzung ausgewiesen. 193 Nun 193

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Vgl. dazu oben, S. 139 f.

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geht es um die These, dass diese Begrenzung, obzwar außerhalb unseres Bewusstseins, keineswegs außerhalb des Bereichs der Vernunft, und, da wir selbst in uns autonom Vernunft, absolutes Ich sind, nicht außerhalb dieser unserer eigenen Vernunfttätigkeit stattfinden kann. Auch insofern darf die Vorstellung von einer äußerlichen Begrenzung nicht für das Verstehen des realen Verhältnisses hergenommen werden. Zugleich wird aber von Fichte zur Zeit der frühen Sittenlehre diese in mir sich vollziehende absolute Einheit der Vernunft doch wieder auf die Art subjektiv interpretiert und auf bloß meine Vernunft eingeschränkt, dass die anderen Vernunftwesen wie auch Gott außerhalb ihrer zum Erliegen kommen und kein innerliches Verhältnis zu ihnen besteht. 194 Die Konsequenz ist, dass dann alles, was in meinem Bewusstsein vorkommt, aus dieser auf mich beschränkten Vernunft erklärt werden muss. Und da die Beschränkungen nicht Produkt meines freien Setzens in der Zeit sein können, müssen sie unabhängig von dieser, also überzeitlich schon fest sein, »als ursprüngliche Einrichtung vor aller Zeit und außer aller Zeit« (S102). Auf diese Weise ergibt sich für Fichte die ganze empirische Welt und innerhalb von ihr eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten, die dem Sittengesetz entspricht. Problematisch wird dieses Konzept im Zusammenhang mit der Frage, wie es zu einer intersubjektiv übereinstimmenden Weltwahrnehmung kommt. Könnte man die Natur unabhängig von der Freiheit betrachten, ergäbe sich kein Problem. Fichte versteht die Natur als ein deterministisches System. In jedem Vernunftwesen könnte einfach dasselbe System ablaufen, sozusagen als ein ursprünglich in uns gelegtes Programm. Die Natur wird für ihn jedoch von unserer Freiheit bestimmt. Wie kann es zu einer übereinstimmenden Wahrnehmung unserer freien Taten kommen? In der Sittenlehre thematisiert Fichte dieses Problem unmittelbar nach der Herleitung der Interpersonalität: Die Reflexion auf die eigene Freiheit setzt die Erscheinung einer Aufforderung durch ein anderes Vernunftwesen voraus. Diese Erscheinung kann nur ausgehend von einer Beschränkung auftauchen. Diese Beschränkung muss jedoch immer schon fest in mir liegen. »Die freien Handlungen anderer sollen in mir ursprünglich […] liegen, sollen sonach, daß wir uns dieser populären Ausdrücke bedienen, von Ewigkeit her prädestinirt seyn, keinesweges erst in der Zeit bestimmt werden. […] Die andern in der Sinnenwelt, 194

Vgl. dazu oben, Anm. 166.

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auf die ich einfließe, sind auch vernünftige Wesen; und die Wahrnehmung meines Einflusses auf sie, ist für sie prädestinirt, wie für mich die Wahrnehmung ihres Einflusses auf mich. […] Meine freien Handlungen sind sonach allerdings vorherbestimmt. Wie kann nun die Freiheit dabei bestehen?« (S205 f.) Das Modell in der Bestimmung des Menschen Fichte präsentiert zwar in der Sittenlehre eine Lösung dieses Problems. Sie erscheint aber wenig einleuchtend. Und, wie er später an Reinhold schreibt, hat er sie schon im selben Jahr wieder verworfen und dann auch öffentlich zurückgenommen, indem er in der Bestimmung des Menschen etwas Anderes gelehrt hat. 195 Dort vertritt er weniger einen neuen Erklärungsversuch der Übereinstimmung, sondern begrenzt vielmehr das frühere »überfliegende Räsonnement«, wie er es gegenüber Reinhold bezeichnet. 196 Die Übereinstimmung in Bezug auf die gemeinsame faktische Welt mitsamt den Produkten der Freiheit stellt er als für uns letztlich unbegreiflich heraus. 197 So viel jedoch ist für ihn anzunehmen, dass Vernunft nur von Vernunft, und die endliche Vernunft im Ganzen nur von der unendlichen – also von Gott – begrenzbar ist. Von daher ergibt sich für ihn in Bezug auf die Frage nach der Übereinstimmung so viel, dass zunächst die konkrete Bewegung des eigenen Willens von Gott aufgenommen wird; »in ihm hat er seine erste Folge, und erst durch ihn auf die übrige Geisterwelt« (B291). Das, was Gott erreicht, gibt er weiter an die Anderen, indem er ihre Tätigkeit innerlich begrenzt. Diese Einflussnahme Gottes verortet Fichte im Gewissen. Die Weitergabe der faktischen Weltbestimmtheit geschieht über die Eingabe der eigenen konkreten Pflicht, einer bestimmten gesollten Tat in der Sinnenwelt. Die Welt ist integraler Teil dieses Sollenszustands. Jedes Subjekt kann seinen Zustand in seinen Begrenzungen unmittelbar fühlen, ihn als eine Welterscheinung auslegen – und bleibt dabei ganz in sich. In Bezug auf die Natur und die anderen Vernunftwesen wird kein direktes reales Verhältnis gedacht. Ein äußerliches Verhältnis wird dadurch vermieden. Als innerliches wird es noch nicht konzipiert. Die Beziehung zu Gott legt Fichte zu dieser Zeit aber als ein 195 196 197

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Vgl. GA III,4 313 f. GA III,4 314. Dazu u. zum Folgenden vgl. B289–296.

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innerliches Verbundensein aus. 198 Den Willen Gottes und den eigenen begreift er einerseits beide als selbständige Vollzüge und nimmt andererseits zugleich eine Beeinflussung an. Was ich in mir selbständig setze 199, ist zugleich von Gott gesetzt, und so wirke ich auf ihn und er auf mich. Fichte ist sich dessen bewusst, dass er sich mit der Beschreibung dieser Beeinflussung in einem Bereich bewegt, auf den die Begriffe, mit denen die endliche Wirklichkeit gewöhnlich begriffen wird, nicht passen. Er schreibt: »So fließe ich, – der Sterbliche muß sich der Worte aus seiner Sprache bedienen – so fließe Ich ein auf jenen Willen; und die Stimme des Gewissens in meinem Innern, die in jeder Lage meines Lebens mich unterrichtet, was ich in ihr zu thun habe, ist es, durch welche Er hinwiederum auf mich einfließt.« (B292) Für die Beschreibung dieses innerlichen Verhältnisses bezieht er sich auf die Gewissenserfahrung und deutet sie als ein Sprechen Gottes in der eigenen Stimme. »Deine Stimme tönt in mir, die meinige tönt in dir wieder« (B296). Die Möglichkeit eines solchen Verhältnisses hängt für ihn dabei offenbar damit zusammen, dass wir überhaupt erst aus der Tätigkeit Gottes hervorgehen, und zwar, indem er uns sein eigenes Leben mitteilt. 200 Es deutet sich hier schon das spätere Konzept vom Sein an, das sein eigenes Leben außer sich in eine Selbständigkeit setzt und so das Dasein hervorbringt. Wie Fichte dieses in der Erlanger Wissenschaftslehre nicht nur beschreibt, sondern in einer transzendentalen Argumentation erschließt, ist ausführlich dargestellt worden. Wie im Folgenden deutlich wird, führt ihn diese Argumentation weiter auf das Konzept einer innerlichen Verbindung der Individuen miteinander, die dadurch besteht, dass sie aus einer Einheitstätigkeit ausgegliedert werden. Auch dieses deutet sich in 198 Das passt dazu, dass Fichte im selben Jahr in die Richtung einer unmittelbaren intellektuellen Anschauung Gottes denkt (vgl. oben, Anm. 166). 199 Die Autonomie stellt Fichte ausdrücklich heraus: »[A]lles, was für mich da ist, entwickelt sich rein, und lediglich aus mir selbst; ich schaue überall nur mich selbst an« (B293 f.). 200 »Die Stimme des Gewissens, die jedem seine besondere Pflichte auflegt, ist der Strahl, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehen, und als einzelne, und besondere Wesen hingestellt werden; […] sie also ist unser wahrer Urbestandtheil, der Grund und der Stoff alles Lebens, welches wir leben.« (B293) »Es ist s e i n Licht, durch welches wir das Licht, und alles was in diesem Lichte uns erscheint, erblicken.« (B296) »Alles unser Leben ist Sein Leben.« (B296) »Nicht unmittelbar von dir zu mir, und von mir zu dir strömt die Erkenntniß, die wir von einander haben; wir für uns sind durch eine unübersteigliche Grenzscheidung abgesondert. Nur durch unsre gemeinschaftliche geistige Quelle wissen wir von einander« (B294).

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den Beschreibungen aus der Bestimmung des Menschen bereits an, insofern hier die Verbindung der Individuen über eine Tätigkeit, aus der sie hervorgehen, gedacht wird. Später wird dies nicht mehr direkt die Tätigkeit Gottes sein, sondern zunächst die Tätigkeit des einen endlichen Daseins, welche zudem noch einmal unmittelbarer als Selbstvollzug der Individuen verstanden wird. In der Beschreibung eines innerlichen Verhältnisses durch einen vom anderen Subjekt her in mich gesetzten Vollzug lässt sich aber eine Übereinstimmung feststellen. Und auf diese Weise kann Fichte schon in der Bestimmung des Menschen vermeiden, dass die Begrenzungen überzeitlich fest in mir liegen müssen, und somit die Freiheit, mit der sie gesetzt werden, wahren. Selbstverleiblichung Gottes? Religionsphilosophisch bedeutsam ist, dass sich für Fichte in diesem Modell Beschränkung und Bestimmung des einzelnen Individuums direkt aus dem Gegenüber zum Absoluten ergeben. In der Konsequenz dieses Modells wird von Fichte eine Art Selbstverleiblichung Gottes angedacht. Es findet sich zwar zur Zeit der Anweisung nicht mehr. Da hier jedoch in der Entwicklung des fichteschen Ansatzes eine für das Thema der Arbeit sehr interessante Denkmöglichkeit aufscheint, soll auf sie ein kurzer Blick geworfen werden. Franz Bader hat herausgearbeitet, wie sich nach den Vorträgen der Wissenschaftslehre nova methodo, welche in die Zeit zwischen der frühen Sittenlehre und der Bestimmung des Menschen fallen, das individuelle Ich gegenüber dem reinen Willen, den er rückblickend von der späten Wissenschaftslehre her mit dem Absoluten identifiziert 201, für Fichte nur in einer Handlung des Entgegensetzens und damit Beschränkens begreifen kann. Das Ich hat dabei nicht die Möglichkeit, den reinen Willen selbst zu beschränken, sondern ist angewiesen auf eine real von diesem herkommende Selbstbeschränkung, und zwar in Form einer Selbstaufgabe, die als Vollzieher dieser Aufgabe das individuelle Ich freisetzt – innerhalb der Ich-Einheit und ohne dass diese Einheit verloren würde. 202 Im späteren Modell ist dies das Gesetz, mit dem sich das Absolute an sich selbst richtet und das eine Dasein aus sich heraussetzt. Da dies im früheren Modell als Verhältnis zum einzelnen 201 202

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Vgl. Bader, 2001, Anm. 59. Vgl. Bader, 2001, 81–89.

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und somit beschränkten Individuum gedacht wird, muss hier das Absolute in der Selbstaufgabe selbst ins Gegenüber zu diesem treten und sich dafür beschränken, und zwar sowohl auf der Ebene der geistigen Ich-Individualität als auch der Ebene der konkreten leiblichen Bestimmtheit. 203 Für Bader kommt der innerhalb der Weltsetzung geschehenden Selbstverendlichung des Absoluten eine theologische Bedeutsamkeit zu, indem er sie als apriorisches Prinzip für eine geschichtliche Inkarnation versteht. 204 Auch folgt für ihn aus ihr eine im Verhältnis zur Welt bestehende Affizierbarkeit und Affiziertheit Gottes. Dass sich bei Fichte in der späteren Zeit – soweit ich sehe – keine Hinweise auf eine solche Selbstverendlichung der absoluten Tätigkeit mehr finden, erscheint zunächst einmal konsequent, wenn das Absolute ursprünglich nur ins Gegenüber zur Einheit des Daseins gesetzt wird. Man könnte höchstens fragen, ob nicht für die wegen des Als bestehende Notwendigkeit, dass sich das göttliche Gesetz im einen Dasein in einer anderen Weise als in Gott, nämlich als differenzierende Tätigkeit, auswirkt, als Bedingung ebenso eine von Gott herkommende Begrenzung erforderlich sein müsste. Auf jeden Fall kann dem Gedanken einer Selbstverendlichung und damit auch einer Selbstverleiblichung Gottes jedoch m. E. innerhalb der hier im Kapitel zur kritischen fundamentaltheologischen Würdigung Fichtes vorgeschlagenen personalistischen Modifikation seines Ansatzes eine Bedeutung zukommen.

203 Vgl. Bader, 2001, 89–92 u. Anm. 59. Vgl. hier auch 71 f. zur Unterscheidung »zwischen einer intelligiblen und einer versinnlichenden Schematisierung«. »Erstere begründet die intelligibel-personale Ichheit, letztere deren Verleiblichung.« Für Bader hält Fichte an diesem ausgehend von der Wissenschaftslehre nova methodo beschriebenen Modell später weiter fest und versteht von ihm aus etwa auch die Christusdeutung der Anweisung. Demgegenüber würde ich auf die Weiterentwicklung aufmerksam machen, die, wie im Folgenden beschrieben, m. E. darin besteht, dass Gott für Fichte später unmittelbar nur in einem Verhältnis zum einen Dasein steht und sich jede innere Differenzierung aus der »Selbstschöpfung« (W288) dieses einen Daseins ergibt. 204 Vgl. dazu u. zum Folgenden Bader, 2001, 92. Zum Gedanken der Selbstversinnlichung Gottes bei Fichte und zum Zusammenhang mit einer geschichtlichen Inkarnation vgl. auch Bader, 2005, 176 f. u. 180 f. Für Bader setzt der Versuch, transzendentalphilosophisch die Möglichkeit einer Inkarnation zu denken, außerdem voraus, Gott selbst als in sich interpersonal zu denken (vgl. Bader, 2001, Anm. 59). Dies scheint m. E. im Ansatz des späten Fichte, der Personalität und Interpersonalität nur als Form des Daseins gelten lässt, nicht möglich zu sein, oder es würde zumindest eine fundamentale Modifikation dieses Ansatzes erfordern.

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1.3.2.1.2 Die Konstitution der begrenzten Tätigkeit im Modell zur Zeit der Anweisung Das Modell in der Bestimmung des Menschen, auf das Fichte selbst als eine Weiterentwicklung verweist, ist nur ein Zwischenschritt bis zum Modell zur Zeit der Anweisung. Die weitere Entwicklung in der Theorie der intelligiblen Welt besteht darin, dass die beschriebene innerlich-äußerliche Weise, in der eine konkrete Bestimmung und Begrenzung meiner Vernunft durch Gott gedacht wird, von Fichte auch auf die Beziehung der endlichen Vernunftwesen untereinander übertragen und damit die intersubjektive Verbindung sozusagen um eine Stufe tiefer verlagert wird. Dies hängt damit zusammen, dass sich für Fichte in der Spätphilosophie aus dem Absoluten unmittelbar nur das eine absolute und überindividuelle Wissen oder, praktisch betrachtet, das eine vom Wissen erhellte vernünftige Wollen, als die Erscheinung, als der vollkommene und einzige Ausdruck des Absoluten ergeben kann. Denn das Absolute ist eins. Und da außer dem Absoluten nur etwas sein kann, wenn es die unmittelbare sich selbst als solche verstehende Erscheinung des Absoluten ist, in der dieses nach außen tritt, wie es in sich ist, kann sie wie das Absolute selbst nur einfach sein (A94 u. 170). Erst innerhalb dieser Einheit gliedern sich die konkreten leiblichen Individuen aus der Vernunfteinheit als notwendige Vollzugsmomente aus. Und nun sind sie auf diese Weise entsprechend dem früheren Konzept einer innerlichen Einheit verbunden. Im Modell zur Zeit der Anweisung wird außerdem die Entstehung der Begrenzungen näher erklärt und auf ihre Ursprünge in Gott hin untersucht. Dadurch wird zugleich das Verhältnis der Begrenzungen zum göttlichen Leben näher bestimmt. Die Entstehung der konkreten Bestimmtheit muss nach der Darstellung der Anweisung auf zwei Ebenen beschrieben werden: einmal auf einer überzeitlichen Ebene, auf der die Individuen mit einer jeweils bestimmten ursprünglichen Gestalt des Wollens konstituiert werden; und einmal auf der Ebene der zeitlichen Welt als der Verwirklichungssphäre dieses Wollens. Auf beiden Ebenen besteht ein innerlicher Zusammenhang der einzelnen Ichs. Auch hängen die beiden Ebenen untereinander zusammen. Fichte behandelt sie aber als zwei verschiedene Formen der Entstehung und des Zusammenhangs von begrenzter Tätigkeit. Zuerst soll die Ebene der überzeitlichen Spaltung in die Individuen betrachtet werden. Sie zu verstehen ist vor allem wichtig, um den Leib im Kontext des sittlichen und religiösen Lebens begreifen zu können. 220

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Sie ist zudem mittelbar auch für den Leibbegriff selbst relevant. Unmittelbar betrifft ihn die zweite, die zeitliche Spaltung, die als nächstes zu betrachten ist. Danach soll das Verhältnis beider Ebenen bestimmt werden. Es wird dabei jeweils zuerst vom Text der Anweisung ausgegangen. Da hier jedoch weder für die Darstellung noch die Begründung ausreichendes Textmaterial vorliegt, wird auf weitere möglichst zeitnahe Schriften zurückgegriffen werden müssen. 1.3.2.1.3 Die Ausdifferenzierung auf der Ebene der Interpersonalspaltung Fichtes späterer Interpersonalitätsbeweis Die Ausgliederung von Individuen aus dem einen überindividuellen Daseinsvollzug erläutert Fichte in der neunten Vorlesung der Anweisung (A159 f.). Eine Begründung wird jedoch nur angedeutet. Sie liege zu tief für eine populäre Vorlesung. Zumindest so viel gibt Fichte an, dass sie sich, wie auch die bereits in der vierten Vorlesung ausführlich thematisierte Spaltung der Sinnenwelt, aus dem Als der Reflexion erklärt, aus dem Erfordernis, dass das Dasein sich als solches versteht. Es handelt sich um eine Spaltung »in ein zu vollendendes System – von Ichen, oder Individuen« (A159). Es ist »das ganze göttliche Seyn […] an sie, nach der absoluten, und im göttlichen Wesen selbst, gegründeten Regel einer solchen Vertheilung, gleichsam ausgetheilt« (A159). Da für Fichte das göttliche Leben zunächst zeitlos ist und, wie dies dargestellt wurde, sich die Zeit erst auf einer tieferen Ebene im Kontakt mit der sinnlichen Beschränkung ergibt, geschieht diese Spaltung überzeitlich und in eine ganz bestimmte Anzahl. »Wie in ihr ursprünglich das Seyn sich brach, so bleibt es gebrochen in alle Ewigkeit; es kann daher kein, durch diese Spaltung gesetztes, d. h. kein wirklich gewordnes Individuum, jemals untergehen« (A159). 205 205 In der Anweisung sind für Fichte alle Individuen unsterblich, auch die, welche sich noch nicht zur Sittlichkeit erhoben haben (A152). Später, in den Tatsachen des Bewusstseins von 1810/11, unterscheidet Fichte zwischen dem einzelnen Individuum und dem ihm zugrunde liegenden Teil des Gesamtvernunftzwecks (TB126 f.). Und nur in diese individuellen Aufgaben hat sich das Dasein zeitlos geteilt. Fichte geht davon aus, dass es erst die freie Verwirklichung der Aufgabe ist, welche auch das Individuum unsterblich sein lässt. Die Individuen, die sich nicht dazu erhoben haben, sterben für ihn weg. Nur ihre Aufgabe als Teil des Gesamtzwecks bleibt bestehen und wird dann einem neuen Individuum zugewiesen. Hier wird besonders deutlich, wie wenig Bedeutung Fichte der individuellen Person und ihrer Personalität gibt.

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Wie diese Ganzheit der Individuen erhalten bleibt, so ist sie auch immer bereits da. Sie erscheint nur nicht auf einmal in der Zeit, sondern wird erst sukzessive vollendet. 206 Bezüglich der These von der überzeitlichen Existenz der Individuen lässt sich eine Kontinuität mit der frühen Zeit feststellen. Bestehen bleibt auch das Erfordernis einer Leiblichkeit nicht nur für das gegenwärtige, sondern ebenso für das Leben nach dem Tod. Und dieses wird weiter als selbst Sterbliches betrachtet, sodass es zu einer unendlichen Vielzahl von Leben nach dem Tod kommen muss. 207 In der Erlanger Wissenschaftslehre findet sich eine Kurzfassung des Interpersonalbeweises, der hier im Hintergrund vorausgesetzt wird. Das freie faktische Ich soll sich erheben zur Einsicht seiner selbst als des selbständigen Prinzips des Verstehens – und das bedeutet zugleich: als selbst der Einheit des Wissens oder, tiefer noch, der praktischen Vernunft. Faktisch kann ein solches Verstehen nicht gegeben sein, sondern nur in einer freien Erhebung zu dieser Einheit. Ohne ausführlichere Erklärung schließt Fichte dann fort: »Freie Erhebung zur Einheit sezt […] Mannigfaltigkeit gefundener Iche, als verstehender oder vorstellender« (W310). Und es müsse diese freie Erhebung geleitet sein durch ein Sollen, dem, faktisch gegeben, »ein faktisches soll, das Sittengesez, zu Grunde liegt, in welchem zuerst faktisch Alle als identisch begriffen werden« (W311). Die Notwendigkeit dieser Leitung in die Vernunfteinheit durch das Sollen ist verständlich. Die Thematisierung des Sollens macht zudem deutlich, dass nicht nur eine Bewegung des Verstehens gemeint ist, sondern diese getragen sein muss, von einem praktischen Sichversetzen in die Tätigkeit der Vernunft und somit einer praktischen Erhebung über die individuellen Beschränkungen in die ursprüngliche Einheit. 208 Aber weshalb setzt die freie Erhebung zur Einheit notwendig 206 Über diese Gesamtheit der Vernunftwesen sagt Fichte in der Erlanger Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten, dass sie »allgegenwärtig ganz und ungetheilt da ist – für den tiefern Sinn, lediglich für die sinnliche Erscheinung noch ablaufend in der Weltgeschichte« (G75). 207 Etwa in A159 f. wird deutlich, dass für Fichte die Notwendigkeit einer sinnlichen Sphäre auch für alle künftigen Leben besteht. Vgl. daneben A152. In A64 findet sich die Sterblichkeit auch der künftigen Leben ausgesagt. Sehr deutlich macht Fichte darauf in den Tatsachen von 1810/11 aufmerksam (TB127). 208 Von dieser praktischen Seite her beleuchtet Fichte die Konstitution der Interpersonalität vor allem in kurzen Bemerkungen in der Erlanger Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten: »[D]as an sich und in der Wahrheit einige und untheilbare menschliche Leben ist in der Erscheinung, in das Leben mehrerer Individuen neben-

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eine reale Mannigfaltigkeit von Ichs? Schon im frühen Interpersonalbeweis wird ein reales anderes Ich als notwendige Voraussetzung des reflexiven Erfassens der eigenen Freiheit ausgewiesen. Dieses Argument hat für Fichte auch zur späteren Zeit noch seine Berechtigung 209 – aber es geht ihm an der Stelle offenbar nicht um diese Art von Voraussetzung, sondern um einen unmittelbareren Setzungszusammenhang. Den einzigen Text, in dem dieser Gedanke gründlich erläutert wird, habe ich in den späten Tatsachen des Bewusstseins von 1813 gefunden. Fichte argumentiert hier entsprechend seinem Konzept der intellektuellen Anschauung 210 damit, dass es zur gesuchten Einheit nur als einem Produkt des Begriffs kommen kann, nicht durch bloße Anschauung. Der »Nervus probandi« liegt für ihn darin, »daß die Einheit schlechthin nur liegt im reinen Denken: welches ist eine Erhebung über das wirkl. Seyn« (TdB112). Ohne das freie Verstehen, in der faktischen Anschauung der Wirklichkeit, kann also nur Mannigfaltiges sein; »in der Wirklichkeitsform ist überhaupt nur Mannigfaltigkeit, durchaus keine Einheit« (TdB112). Somit kann auch das in der Wirklichkeitsanschauung gefundene Ich nur ein mannigfaltiges sein. Das heißt nicht, dass die Anschauung meiner selbst in einer Vielzahl vorkommen muss – dies ist ja auch nicht der Fall, de facto schaue ich nur mich in dieser Selbstanschauung an und nicht zugleich die Anderen –, sondern dass ich mein mir gegebenes Ich

einander, deren jedes mit seiner Freiheit und Selbstständigkeit versehen ist, zerfallen. Diese Zertheilung des Einen Lebendigen ist eine Natureinrichtung, somit eine Störung und Hemmung des wahren Lebens, wirklich geworden deswegen, damit an ihr, und in dem Streite mit ihr, die Einheit des Lebens, die nach der göttlichen Idee ist und seyn soll, mit Freiheit sich bilde: das menschliche Leben ist nicht Eins geworden durch die Natur, damit es sich selber lebe zur Einheit, und damit alle die getrennten Individuen durch das Leben selber zur Gleichheit der Gesinnung zusammenschmelzen.« (G78) 209 Vgl. dazu die Hinweise bei Franziskus von Heereman auf die späte Sittenlehre (2010, 15516 ). Er bezieht sich auch auf eine Untersuchung von Edith Düsing, welche Fichtes spätere Beibehaltung der frühen Anerkennungstheorie anhand der Reden an die Deutsche Nation von 1809 und der Staatslehre von 1813 belegt (1995, 71–82). Wie ernst Fichte die frühe Idee, dass es eine Aufforderung von außen für die Entwicklung der sittlichen Freiheit braucht, weiterhin nimmt, wird in der Staatslehre darin deutlich, wie sie für ihn auf die Theorie von einem die Menschheit ursprünglich erziehenden Urvolk führt (St90 f.). Derselbe Gedanke findet sich auch zur Zeit der Anweisung in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (GGZ298 f.). 210 Vgl. dazu oben, bes. S. 71 f. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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selbst als eines verstehen muss, das nur als Teil einer Mannigfaltigkeit existieren kann. Bis dahin ist erst eine Mannigfaltigkeit eines angeschauten Seins hergeleitet worden. Der Erfahrung nach besteht die Individualität jedoch in einer eigenen unvertretbaren Freiheit, einem Tätigsein. Dies begründet Fichte in den Tatsachen in einem zweiten Schritt, einer »Erfassung des abgeleiteten in einem höhern Standpunkte« (TdB112). Das Dasein, das sich als geteiltes ergeben hat, ist nicht nur Anschauung, sondern auch Verstehen, und zwar beides im Sichselbst-Verstehen ineinander verflochten. 211 Und nur in dieser Verflochtenheit kann sich die Anschauung zur intellektuellen Anschauung der Einheit erheben. Einheit ist nur Einheit der Tätigkeit, nicht eines bloßen Seins. Angeschaut wird also die Tätigkeit des Verstehens, und zwar eines Verstehens, das sich selbst frei erst dazu machen muss, das werden muss, ausgehend von der faktischen Selbstanschauung hin zur verstandenen Einheit. Die Teilung betrifft somit nicht nur ein angeschautes Sein, sondern das Vermögen des freien Denkens (TdB113 f.). 212 Kurz fasst Fichte zusammen: »Jeder als Einzelnes, weil er zur Einsicht der Einheit sich erheben, u. diese Erhebung, nicht als sein Seyn, sondern als seine Erhebung anschauen soll. Das der Grund.« (TdB116) Das eine Element des Beweises – dass sich das Ich in seinem faktischen Sein nur als begrenzt finden und auffassen kann, und zwar, vor dem Hintergrund des ebenfalls ihm zugänglichen unbegrenzten Horizonts der einen Vernunft, indem es sich als deren Teil im Unterschied zu anderen Teilen begreift – dieses Element findet sich so bereits in der frühen Sittenlehre ausgesprochen. 213 Da Fichte dort dieses 211 Vgl. dazu auch oben, S. 71 f. Hier wird zudem die Wirklichkeitsanschauung deutlich von der intellektuellen Anschauung unterschieden. 212 Auch im sehr kurzen und in dieser Kürze schwer erfassbaren Interpersonalbeweis in der einzigen von Fichte in den Druck gegebenen Fassung der späten Wissenschaftslehre, der Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse von 1810, sind diese beiden Seiten thematisiert: die Spaltung im angeschauten Schema und die im Vermögen oder im Denkakt, der in diesem Schema angeschaut und verstanden wird (WU341). 213 Vgl. oben, S. 168 f. Nur wenn man diesen ersten Teil der Argumentation berücksichtigt und sieht, wie darin die spätere Herleitung der Interpersonalität angelegt ist, wird deutlich, weshalb Fichte von einem »Beweis aus einem höheren Prinzip« (S199) im Unterschied zur Grundlage des Naturrechts sprechen kann, welche nur den zweiten Teil thematisiert. Ausführlicher findet sich der Gedanke des Sich-heraus-Greifens bzw. Sich-heraus-gegriffen-Findens aus der Vernunfteinheit in den Vorträgen zur

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Sichverstehen in der Begrenztheit wie in der höheren Unbegrenztheit nur in der Seite der idealen Tätigkeit ansieht, aus welcher allein sich nur die Möglichkeit, nicht aber die Wirklichkeit von anderen Vernunftwesen ergibt, muss als zweiter Teil der Interpersonalbeweis aus den Konstitutionsbedingungen der ausdrücklichen reflexiven Selbsterfassung dazugenommen werden, wie er sich auch in der Grundlage des Naturrechts findet. In der späten Wissenschaftslehre erübrigt sich dieser zweite Teil, weil Fichte die Reflexionsspaltung nicht mehr nur in der bloß subjektiven Nachkonstruktion verortet, sondern sie in die vom Reflexionsgesetz bestimmte Tätigkeit des einen Daseins legen muss. Nur vor diesem Hintergrund greift der eben dargestellte Beweis – nicht nur als Beweis eines faktischen Ich in der Wirklichkeitsform, sondern einer Mannigfaltigkeit realer Ichs. Und nur auf diesem Hintergrund wird deutlich, auf welche Weise diese Spaltung ursprünglich konstituiert wird. Zumindest skizzenhafte Ausführungen zu dieser Konstitutionsebene finden sich in der zur Anweisung zeitlich sehr nahen Vorlesung über die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre von 1805. Dort versucht Fichte zu zeigen, wie die Spaltung sich aus einem gesetzmäßigen Vollzug des einen Daseins ergeben muss. In diesem liegt das ursprüngliche, sich aus dem Absoluten ergebende Sollensgesetz, noch vor aller Spaltung in einzelne Subjekte und ihrer subWissenschaftslehre, wie sie Fichte zur Zeit der frühen Sittenlehre gehalten hat (vgl. etwa WH240 f.). Die Grundidee, die hinter dem Beweis steht, wird von Fichte als etwas an sich sehr Geläufiges angesehen, das im einfachsten Wissen enthalten ist, nämlich im darin implizierten Wissen um die Bedeutung von Wissen. Das wird daran deutlich, wie Fichte einmal gegenüber Schelling (im Brief vom 31. 05. 1801) seine Theorie der Geisterwelt ausgehend von einem einfachen gewissen Wissen – dem Wissen der Gerade als der kürzesten Verbindung zweier Punkte – erklärt (GA III,5 46). In ihm, genauer im Bewusstsein seiner Allgemeingültigkeit, liegt das Wissen um mich als Individuum und zugleich um die allgemeine Geisterwelt als dem Bestimmbaren, von dem aus ich mich als bestimmtes Individuum denke. Wir fassen dieses Wissen unmittelbar nicht nur als notwendig, sondern als gültig für alle, erfassen uns also als einen gegenüber der Ebene der notwendigen Einsicht beschränkten Vernunftteil im Unterschied zu anderen Vernunftteilen, die ebenso denken müssen. Der Interpersonalitätsbeweis baut auf dieser Auslegung des Wissens um Wissen auf. So kann Fichte in der Vorlesung über die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre sagen, dass die Einsicht, dass die Individuen nur unselbständige und nicht für sich als etwas Wahrhaftes ansehbare Ausgliederungen der einen Vernunft sind, schon jedesmal darin implizit und »ohne alles unser Zuthun« anerkannt wird, wenn »wir einen objektiven Satz nur der Sinnenwelt [gemeint ist wohl: in Bezug auf die Sinnenwelt], irgend ein ist aussprechen« (P481). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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jektiven Erfassung dieses Gesetzes. 214 Der Inhalt des Sollens ist, dass mit Bewusstsein die praktische, dem Denken zugrunde liegende Einheit gedacht werden soll. 215 Daraus ergibt sich für Fichte zuerst unmittelbar als Ermöglichung dieses denkenden Selbsterfassens eine Selbstanschauung, und zwar noch überindividuell (P477 u. 479 f.). Fichte geht also aus von der Einheit des Daseins. Sie ist das, was unmittelbar aus dem Absoluten hervorgeht. Und er denkt das eine überindividuelle Dasein selbst als eine lebendige Tätigkeit, sozusagen als ein ursprüngliches Übersubjekt. In ihm wird das Sollen unmittelbar verwirklicht, jedoch nur so weit, bis sich eine Spaltung ergeben muss, welche die Weiterverwirklichung dann in die Hand der Individuen gibt. Deren Tätigkeit wird durch die überindividuelle vorbereitet. Neben dem Vollzug der Anschauung betätigt sich das vom Sollen gelenkte Dasein in der beschriebenen Weise für Fichte auch in der zweiten grundlegenden Tätigkeitsform, als Prinzip des Denkens, mit seiner spaltenden Eigenschaft (P480). Die eine Anschauung wird dadurch geteilt in endliche Wirklichkeitsanschauungen, in ihrer selbst bewusste Ichs. Fichte versteht hier die überindividuelle ursprüngliche Denktätigkeit also analog zum diskursiven Denken, wie es dann in den endlichen Subjekten heraustritt, aber als überzeitliche Tätigkeit, da das Dasein zunächst zeitlos ist und es zur Zeit erst auf der zweiten Ebene der Natur kommt. Deshalb setzt sie nicht eine Sukzession, sondern eine gleichzeitige, ewige oder überzeitliche Mannigfaltigkeit. Und deshalb setzt sie auch nicht eine unendliche Vielheit, sondern eine geschlossene Totalität, eine feste Anzahl. 216 Das eine Dasein »zerspaltet sich nach einem, formaliter von uns wohl eingesehenen, qualitativ aber, u. realiter schlechthin unbegreiflichen Prinzip […] in eine geschloßne Totalität von Stralen« (P480). Wie viele Individuen es sind, und in welche Qualitäten hier das eine Dasein gespalten wird, ist unbegreiflich. Es ist nur empirisch zu erfas214 Fichte notiert sich: »[D]ieses soll liegt darin schlechthin u. einfach existent. d. h. ohne subjektive oder objektive Genesis« (P479 f.) – das meint: vor seiner Nachkonstruktion in uns und der darin liegenden Spaltung in Vor- und Nachkonstruktion. 215 Vgl. P477. Der Inhalt des Sollens ist hier nicht nur wie in der obigen Stelle aus der Erlanger Wissenschaftslehre die Selbsterkenntnis als Prinzip des Denkens, sondern die noch höher liegende Selbsterkenntnis des Grundes des Daseins oder des Sollens, welches zugleich aus sich herausgesetzt wird als die dem Dasein fremde Tätigkeit des Absoluten (P451 f.). 216 Das liegt darin begründet, dass für Fichte eine real existierende Unendlichkeit nicht denkbar ist. Zur Unendlichkeit kommt es für ihn erst mit der Potentialität und dem zeitlichen Fortschreiten.

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sen. Auch behauptet Fichte nicht, begreifend in diese Tätigkeit real einsteigen zu können, wie dies etwa in Bezug auf das diskursive Denken möglich ist, was uns unmittelbar anschaulich erlebbar ist. Die Spaltung in nichtobjektivierbare Subjekte kann nicht objektiv begriffen werden. Er argumentiert nur dafür, dass das Ursprüngliche eine überindividuelle Einheit des Daseins ist und dass es in ihm zu so einer spaltenden Tätigkeit kommen muss, weil es sich nur in einer Vielheit realisieren kann. Zudem stellt er, da sich für ihn diese Spaltung als Moment des reflexiven Selbsterfassens des Daseins und für dieses Erfassen ergibt, einen Zusammenhang her mit den beiden Momenten der Reflexion, wie sie in uns auftauchen, dem anschauenden und dem diskursiven. Vom überindividuellen Dasein spricht Fichte hier als von einem »gemeinschaftlichen« (P476) oder »absoluten Bewußtseyn« (P480). Und er nennt es bildlich »das ewige WeltLicht, in dem wir selber, als seine Stralen, schwimmen« (P480). Das Licht in uns bezeichnet er entsprechend als eine »stellvertretende Anschauung des Einen Ich« (P476). Oben wurde ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre schon beschrieben, wie Fichte das Licht als einen Akt bestimmt, der nicht sekundär einem Agierenden zukommt, sondern vielmehr das Primäre ist, innerhalb dessen erst das Agierende lebt. 217 Hier findet sich dasselbe Konzept – nun angewendet auf die Interpersonalkonstitution. Im einen Licht der Vernunft konstituieren wir uns und hängen wir zusammen. Im stellvertretenden Mitvollzug des einen Daseins, noch vor der Selbstanschauung, leben wir eine gemeinsame Tätigkeit und sind uns innerlich in intellektueller Anschauung. Die nicht intellektuelle, empirische Anschauung, das faktische Sichbewusstsein des Bewusstseins, ist eine Anschauung nur meiner selbst. Diese Anschauung ist es, für welche Fichte die Spaltung aufgewiesen hat. So hat jedes Individuum seine eigene subjektive Sphäre, in die der Andere nicht hineinschauen kann. Aus der Differenz zwischen dem stellvertretenden Vollzug der Vernunfteinheit und dem Erleben der individuellen Eigenwirklichkeit entsteht für Fichte das ursprüngliche Wissen, dass andere individuelle Vernunftwesen existieren. Erst so tritt die Vielheit hervor. In der ursprünglichen intellektuellen Anschauung wird zwar für ihn schon de facto die Vielheit der Individuen angeschaut, sie treten aber nicht hervor. 218 Dass das Wissen um die 217 218

Vgl. oben, S. 71. In den späten Tatsachen sagt Fichte in Bezug auf diese Ebene der intellektuellen

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Anderen auf der Basis der Einheitsanschauung entsteht, erklärt für Fichte, dass wir davon ausgehen, die Welt mit denselben Kategorien zu verstehen und wie die Anderen zu denken und ethisch zu empfinden. Zugleich rekonstruiert er aus der überindividuellen Einheit, dass dies tatsächlich der Fall ist. Die gemeinsame Weltwahrnehmung erklärt sich auf dieser Basis erst im Zusammenhang mit der noch zu thematisierenden Aufteilung der gespaltenen Sinnenwelt an die Individuen. Die Konstitution von individuellen Berufungen Wie hängt nun diese Interpersonalspaltung mit der Entstehung von Bestimmtheit zusammen? Dadurch, dass es sich um eine Spaltung der Freiheit handeln muss, reicht sie für Fichte in die Tiefen des Grundseins des Daseins hinein. Jeder bekommt einen Anteil vom einen göttlichen Leben des Daseins. Und zwar gehört nach der Lehre der Anweisung zu diesem Anteil nicht nur eine eigene Sphäre der Subjektivität und die Unvertretbarkeit der freien Verwirklichung dieses Anteils, sondern das göttliche Leben erscheint durch die Spaltung »in jedem in einer andern, und ihm allein eigenthümlichen Gestalt« (A160). Das Individuum ist für Fichte im Kern nicht nur die bloße, leere unvertretbare Freiheit, sondern er sieht diese durch ein ursprüngliches und frei zu verwirklichendes bestimmtes Wollen qualifiziert. Es geht Fichte dabei um das, was man jemandes Berufung nennt, das, »was er, und nur Er, seyn kann, was Er, und nur Er, zufolge Anschauung der absoluten Ich-Einheit: »Jeder befaßt sich selbst mit in dieser Einheit, eben so wie die andern, mit ihnen zusammenschwindend; das Bewußtseyn seiner individuellen Persönlichkeit ist drum in ihr schlechthin ausgetilgt« (TdB114). In den Tatsachen von 1810/11 (TB119) spricht Fichte von der »unmittelbaren Anschauung des einen Lebens«, in der zwar die Gesamtheit der Geisterwelt angeschaut wird, aber nur »schlechthin«, in einer »allgemeinen Anschauung«, nicht so, dass die Individuen für sich hervortreten. Davon unterschieden wird die nicht mehr intellektuelle, empirische Anschauung, die eine »Selbstanschauung« des Subjekts »in der individuellen Form« ist. Wie Fichte hier in Bezug auf die Anschauung des einen Lebens in seiner Gestalt als Naturkraft deutlich macht, erklärt sich erst aus der Differenz zwischen der Selbstanschauung des Individuums und dieser allgemeinen Anschauung, dass das Subjekt von anderen Individuen ausgeht und ihnen das zuschreibt, was vom einen Leben nicht in ihm liegt. Auch erklärt sich für ihn daher ein ursprüngliches, selbst vor der ausdrücklichen reflexiven Erfassung der eigenen sittlichen Berufung gegebenes Wissen, dass »alle Individuen ohne Ausnahme irgend eine ihnen eigenthümliche sittliche Bestimmung haben« (TB119) – ohne dass dabei klar werden könnte, welche die der Anderen genau ist.

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seiner höhern Natur, d. i. des Göttlichen in ihm, seyn soll […], was er, recht im Grunde, wirklich will« (A161). Die Qualität der individuellen Berufung ist für Fichte unableitbar, sie kann sich keiner erdenken, sondern nur unmittelbar erfahren (A155). Da es sich nicht um ein bloß sinnliches Leben handelt, offenbart sie sich zwar nicht sofort. Distanziert man sich jedoch vom sinnlichen Willen und gibt überhaupt den Eigenwillen auf, dann offenbart sie sich unmittelbar (A160). Es geht ihm um eine Form von Qualität und Begrenzung, die ursprünglicher ist als die Qualitäten des weltlichen Lebens, die wir gewöhnlich erfahren. Um aufgefasst werden zu können, muss sie, wie noch genauer zu sehen ist 219, ausgelegt werden durch die Weltqualitäten. Auch was sich Fichte konkreter inhaltlich unter diesen ursprünglichen Bestimmungen vorstellt, wird noch genauer betrachtet werden. 220 Grundsätzlich geht es um Berufungen dazu, Gott in einem bestimmten Aspekt darzustellen und dadurch auf den geistigen Fortschritt der Menschen hinzuwirken. Weshalb braucht es für Fichte ursprüngliche qualitative Unterschiede? Für ihn geht generell die unterscheidende Tätigkeit des Begriffs mit einer Unterscheidung von Qualitäten einher. Das Verstehen unterscheidet etwas von einem anderen Etwas. Dieses Grundgesetz erläutert Fichte in der Anweisung ausführlich – hier jedoch lediglich in Bezug auf die noch dazustellende unendliche Spaltung der Sinnenwelt. 221 In der Erlanger Wissenschaftslehre, im Teil, der die Formlehre vorbereitet 222, behandelt er es als Grundgesetz allgemein des Begriffs oder der Form – also für jede Art der Differenzierung in ihr – und bestimmt es in seinem Verhältnis zum Absoluten. Und zwar ist für ihn einerseits die qualitative Bestimmtheit auf das begriffliche Konstruieren selbst zurückzuführen, gehört also zur Form und nicht zum geformten göttlichen Leben. 223 Dieses bekommt nur in der Form eine unterschiedene Qualität. Es muss für ihn aber andererseits das göttliche Leben selbst sein, das hier geformt wird. Und insofern in ihm Gott nur heraustreten kann, wie er in sich ist 224, Vgl. unten, S. 254 f. Vgl. unten, S. 271–273. 221 Vgl. unten, S. 232 f. 222 Zur Gliederung und zum systematischen Zusammenhang vgl. oben, S. 105–107. 223 Vgl. W268: »[N]ur durch das Construiren wird es ein Was, ein materiales, u. qualitatives«. 224 Vgl. W269: »Nun ist, wie wir gesehen haben, das ganze Wie, die Qualität, durchaus nur in der Form begründet. Er [Gott] ist daher Grund des bestimmten Wie nur 219 220

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muss die Bestimmtheit sich so zugleich ursprünglich aus Gott erklären. Es ist »sein inneres Wesen Grund der Bestimmtheit, die nun eben nicht ist, ohne ein Wie, und von ihm unzertrennlich« (W269). Der Begriff konstruiert nicht rein aus sich heraus die Qualität – was auch für sich genommen als unmöglich erscheint – sondern anknüpfend an das vom Absoluten Vorgegebene. Als Qualität im Unterschied zu anderer Qualität ist dieses Vorgegebene nur durch den Begriff. Und hier ist das göttliche Leben schon verwandelt. Fasst man mit dem Wie jedoch nicht die schon begriffene Qualität, ein Was, sondern nur das nicht begriffene und in seiner ursprünglichen Wirklichkeit nicht zu begreifende, sondern nur zu lebende Wie der Tätigkeit, »reines unsichtbares Thun« (W269), dann kann man sagen, dass darin das göttliche Existieren noch lebendig und unverstellt da ist. 225 Wendet man diese Theorie nun auf die Interpersonalspaltung an, dann ergibt sich, dass jedem Individuum nur ein Teil des gesamten qualitativen Lebens zur Verwirklichung gegeben wird. Es ist als Qualität eines Wollens noch Leben und nicht toter Begriff, aber nur ein Teil des Gesamten und so auf eine Art schon unterschiedene Qualität. Die Aufwertung des Qualitativen Wie verhält sich demnach die ursprüngliche Begrenzung und Bestimmung des Individuums zu Gott bzw. zum göttlichen Leben? Zunächst einmal wird in der Anweisung deutlich: Die individuelle Begrenztheit verhindert für Fichte nicht, dass das göttliche Leben in einem Menschen hervortritt, wenn er seine höhere Berufung ergreift. »In dem, was der heilige Mensch thut, lebet, und liebet, erscheint Gott […] in seinem eignen, unmittelbaren, und kräftigen Leben« (A111). Trotz innerhalb der schon vorausgesetzten Form: und man kann nur sagen: sein absolutes Wesen kann nur in einem Wie heraustreten; in diesem aber tritt nun wirklich sein absolutes inneres Wesen heraus, wie es in sich selber ist, inwiefern es in einem Wie heraustreten kann.« 225 Vgl. W268: »[W]o ist denn nun das eigentl. Reale, das göttliche Existieren hingekommen? Antw. Darin ruht es, daß, u. wie gelebt wird.« Das göttliche Leben tritt also für Fichte nicht nur im bloßen leeren Dass der selbständigen Tätigkeit, sondern in einem Wie heraus. Es wurde bereits oben auf den Unterschied zwischen Form und lebendigem Formieren aufmerksam gemacht (vgl. S. 105–107). Hier ergibt sich nun zusätzlich, dass für Fichte in dem Wie nicht nur das Formieren der allgemeinen Daseinsformen liegt, sondern auch die Produktion dessen, was nicht abzuleiten, sondern lediglich wahrnehmend aufzufassen ist. Auf dieses verweist er in dem Zusammenhang ausdrücklich (W268).

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der Beschränkung ist dies zum einen deshalb möglich, weil das Individuum mit seinem Anteil am einen Dasein dieses zugleich immer in seiner ursprünglichen Ungeteiltheit und Unteilbarkeit mitvollzieht. 226 Entsprechend macht es sich auch den Willen des Daseins insgesamt zu eigen und arbeitet darauf hin, dass es in allen Teilen realisiert wird (A163). Zum anderen hindert für Fichte in der späten Zeit die Begrenzung den Menschen deshalb nicht am Ankommen an seinem Ziel, weil das Ziel nun nicht mehr als völlig reine Tätigkeit bestimmt werden muss, sondern im Hervortreten der ursprünglichen Unmittelbarkeit zu Gott gesehen werden kann, in der diese reine Tätigkeit auf eine Weise schon gelebt wird und die in der frühen Zeit so nicht angenommen wurde. 227 Zugleich realisiert sich freilich für Fichte in der späten Zeit das göttliche Leben im Menschen nicht nur trotz der Begrenzung, sondern gerade in der Begrenzung. Dies liegt daran, dass er Bestimmtheit nicht nur als Begrenzung, sondern als einen, wenn auch durch die Teilung des Begriffs hindurchgegangenen, Ausdruck der inneren Qualität des göttlichen Lebens versteht. Diese Aufwertung des Qualitativen wird besonders darin deutlich, dass Fichte jetzt dem früheren Verständnis von Sittlichkeit ein höheres überordnet. 228 Das Charakteristikum der von ihm so genannten höheren Moralität ist, nicht nur die Form der Idee – ein formales Sittengesetz, das die leere Vernünftigkeit und Freiheit um ihrer selbst willen anstrebt – als Ziel zu setzen, sondern »die q u a l i t a t i v e und r e a l e Idee selber« (A109). Jeder soll seine Bestimmung verwirklichen, und sich darin machen »zum getroffenen Abbilde, Abdrucke, und zur Offenbarung – des innern göttlichen Wesens« (A109). In der konkreten, nicht aus den notwendigen Bestandteilen der Form ableitbaren, sondern nur erfahrbaren Bestimmtheit des Lebens drückt sich für Fichte eine ursprüngliche Qualität des göttlichen Lebens aus. Es

226 Auf diese ursprüngliche Verbundenheit mit dem Ganzen macht Fichte im Zusammenhang der Thematisierung der Interpersonalspaltung ausdrücklich aufmerksam: »Nicht etwa, daß das göttliche Wesen an sich sich zertheile; in allen ohne Ausnahme ist gesetzt, und kann auch, wenn sie sich nur frei machen, wirklich erscheinen, das Eine, und unveränderliche göttliche Wesen, wie es in sich selber ist; nur erscheint dieses Wesen in jedem in einer andern, und ihm allein eigenthümlichen Gestalt.« (A160) 227 Vgl. dazu ausführlicher unten, S. 300 f. 228 In welcher Hinsicht genau einer Überordnung stattfindet, dazu vgl. unten, S. 270– 274 u. 278–281.

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zeigt sich, dass dieses nicht leere und abstrakte Unbestimmtheit, sondern qualitativ gefüllt ist. Wenn sich zugleich bei Fichte Aussagen finden, welche die völlige Gestaltlosigkeit Gottes betonen – Gott sei »höchstens als reines Leben und That« zu beschreiben, nicht aber in einer »stehende[n] Bestimmtheit« (A166) –, dann ist dies m. E. so zu interpretieren, dass hier nur eine in einen Begriff gefasste und in diesem Sinne stehende Bestimmtheit abgewiesen wird, nicht aber das unmittelbar gelebte Wie, das Fichte ausdrücklich auf das innere göttliche Leben zurückführt. Diese Unterscheidung macht er besonders in der fünften Vorlesung der Anweisung deutlich. Der Versuch, Gott mit dem Begriff zu fassen, muss konsequenterweise dahin führen, dass der Begriff sich immer weiter seiner Begriffe entleert. Auch wenn dieses Absprechen aller Prädikate an sich jedoch richtig ist, darf man nicht meinen, damit bis zu Gott in seiner Lebendigkeit vorgestoßen zu sein. Es ergibt sich so nichts als »ein gehaltloser Schattenbegriff« (A111). Fichte bleibt bei einer negativen Theologie nicht stehen, und zwar deswegen, weil er beim Begriff nicht stehen bleibt. Im Leben und Tun entsprechend der eigenen Bestimmung offenbart sich für ihn Gott »in seinem wirklichen, wahren, und unmittelbaren Leben« (A111). Und »die aus dem leeren Schattenbegriffe von Gott unbeantwortliche Frage: Wa s ist Gott, wird hier so beantwortet: er ist dasjenige, was der ihm ergebene, und von ihm begeisterte t h u t « (A111). 1.3.2.1.4 Die Ausdifferenzierung auf der Ebene der Natur Die erste Form der Spaltung, wie sie Fichte in der Anweisung thematisiert, bewegt sich auf der überzeitlichen Ebene der Individuen in ihrem Subjektskern. Verwirklichen können diese sich für ihn nur durch einen selbstbewussten, freien und zeitlichen Vollzug und benötigen hierzu, wie dies von der Erlanger Wissenschaftslehre wie auch der frühen Sittenlehre her ausführlich dargelegt wurde, eine faktische Sphäre des Naturtriebes, eine sinnliche Welt. Die zweite Spaltung, welche die konkrete Bestimmtheit des Lebens weiter erklärt, betrifft diese Sphäre. Die Entstehung der faktischen Qualitäten der Welt In der vierten Vorlesung der Anweisung erklärt Fichte ausführlich die Spaltung der sinnlichen Welt ausgehend von der Notwendigkeit des 232

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Als (A96 f.). Zwar tritt im Dasein das göttliche Leben so heraus, wie es in sich ist. Da das Dasein sich jedoch als solches und als nicht das Absolute verstehen soll, muss es dieses Leben auf den Begriff bringen. Und zum Wesen des Begriffs gehört notwendig eine verendlichende Fassung in einem bestimmten Bild, das im Unterschied zu anderem verstanden wird. Dieses Grundgesetz bezieht Fichte hier nun auf die eine stehende Welt. Wie dies oben schon thematisiert worden ist, ist sie das erste Produkt des Begriffs, der für seine Charakterisierung immer ein stehendes, vorhandenes Sein voraussetzt. 229 Es handelt sich um die sinnliche Welt, die zuerst als eine Totalität, als das eine ganze Gegenüber des Begriffs gebildet wird. 230 Die Reflexion dann »spaltet unwiheiderbringlich die Eine Welt in unendliche Gestalten, deren Auffassung nie vollendet werden kann, von denen daher immer nur eine endliche Reihe ins Bewußtseyn eintritt« (A100). Das kontinuierliche Übergehen sieht Fichte hier in der Grundeigenschaft der Reflexion begründet, etwas immer im Unterschied zu anderem zu begreifen. Zugleich folgt es aus der Freiheit der Reflexion, durch die sie nicht auf ein Bild festgelegt ist, sondern sich immer wieder löst, sodass ein neues Bild auftauchen kann und auf diese Weise eine unendliche Reihe von Bildern entsteht (A98 f.). Später führt er dieses Fortschreiten noch deutlicher auf das zurück, was er in der Anweisung Liebe nennt – in der Terminologie der Erlanger Wissenschaftslehre das im Grundsein liegende Sollen –, den ursprünglichen und unverlierbaren Bezug zum eigentlichen göttlichen Sein, der uns frei sein lässt gegenüber allem Festen, der uns über jedes feste Bild hinaus und weitertreibt in eine unendliche Bildung des letztlich unbildbaren, in Bildern nur annäherbaren göttlichen Lebens (A167). Diese Überlegungen entsprechen der bereits dargestellten Herleitung der Körperwelt in der 27. Stunde der Erlanger Wissenschaftslehre. 231 Die Bestimmtheit, wie sie Fichte in der Anweisung behandelt, ist eine, die schon in die Form des objektiven Begreifens getreten ist. DaVgl. oben, S. 125 f. Fichte spricht zwar an manchen Stellen auch von einer unendlichen Spaltung der Welt so, dass nicht nur die sinnliche Welt gemeint zu sein scheint (z. B. A102). Meines Erarchtens bezieht sich die zeitlich unendliche Spaltung aber nur auf die sinnliche Welt. Dabei darf diese freilich nicht bloß als objektive Welt angesehen werden, sondern als lebendiges Triebgeschehen, mit an der Spitze ihrer Bildung lebendigen Organismen, in denen im Zusammenspiel mit dem ursprünglichen, unzeitlichen, geistigen Sein, die Freiheit in ihrer Zeitlichkeit entsteht. 231 Vgl. oben, S. 118–120. 229 230

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durch entsteht der Eindruck, dass für ihn die Bestimmtheiten und Begrenzungen der Welt ursprünglich durch die eigene subjektive Reflexionstätigkeit konstituiert werden. Diesen Eindruck korrigiert Fichte zwar 232, sagt aber nicht ausdrücklich, dass die subjektive Tätigkeit an eine vor dem Wissen und auf einer noch bildlosen Ebene liegende unmittelbar gefühlte Begrenzung eines Triebes anknüpfen muss, und dass entsprechend auf einer solchen Ebene die Begrenzung ursprünglich konstituiert wird. Lediglich indirekt wird an manchen Stellen deutlich, dass er dies mitbeachtet. 233 Er hat sich wohl auf diese Weise beschränkt, weil ihm schien, in einer populären Vorlesung nicht mehr verständlich machen zu können als das, was sich leicht nachvollziehbar in Bezug auf die freie Reflexion ergibt. Der daraus entstehende Eindruck, Fichte vertrete einen einfachen subjektiven Idealismus in Bezug auf die Welt, dürfte jedoch das Verständnis nicht gerade erleichtert haben. Auch kann bei dieser Herangehensweise nicht deutlich werden, wie die Welt eine intersubjektiv gemeinsame sein kann. Dass die freie Reflexion sich die Welt nicht erdenkt, sondern sich ihr beobachtend hingibt und sie lediglich nachbildet, wird zwar ausdrücklich gesagt (A101), nicht aber näher erklärt. In der Erlanger Wissenschaftslehre wird darüber hinaus zumindest so viel gesagt, dass im einen Dasein eine Vorkonstruktion, oder besser: Urkonstruktion, liegen muss, die sich dann im wahrnehmenden Begreifen in Vor- und Nachkonstruktion aufteilt (W268). 234 In ihr sei die »ganze absolute Welt« (W268) konstituiert. Suche man ein Ding an sich, dann müsse man es hier suchen und dürfe nicht 232 Vgl. etwa A101, wo Fichte herausstellt, dass die Weltgestalt nicht zu erdenken ist, sondern man sich ihr beobachtend hingeben muss. Das weist auf einen Unterschied zwischen dem freien Reflektieren und der ursprünglichen, die Weltgestalt produzierenden Tätigkeit. 233 Vgl. A99 zur Rede vom »absolute[n] Bewußtseyn«, das »durch sich selbst die unmittelbare, und darum nicht wieder bewußte, Vollziehung dieser Verwandlung« des Lebens in eine Welt ist. Vgl. A98 zur Bemerkung, dass die selbständige teilende Kraft des Daseins im freien Aufmerken erscheint, was impliziert, dass sie nicht einfach in ihm besteht. 234 Die Vorkonstruktion, auf die Fichte hier die »ganze absolute Welt« zurückführt (W268), muss als eine ursprüngliche Vorkonstruktion verstanden werden, die sich erst im Bewusstsein in beide Seiten aufteilt – als etwas, was Fichte in der dritten Stunde »Urbildung« nennt (W191) oder in der 18. »construktion«, ursprüngliches »flüßig werden des Seyns« (W260; vgl. dazu oben, S. 60 f. u. 71 f.). Vgl. dazu auch DW317 über die bewusstlose Konstruktion vor der Spaltung in Vor- und Nachkonstruktion im Bewusstsein. Und vgl. DW348 f. u. 361.

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meinen, es irgendwo außerhalb dieser vorkonstruierenden Tätigkeit des einen Daseins zu finden (W268). Eingehendere Ausführungen zu dieser Tätigkeit finden sich, wie schon in Bezug auf die Interpersonalspaltung, in der Vorlesung über die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre von 1805. Die 22. Vorlesungsstunde zeichnet sich dadurch aus, dass sie beide Spaltungen nacheinander thematisiert sowie in einem dritten Abschnitt ihr Verhältnis zueinander erklärt. Wieder wird das eine vom Sollensgesetz bestimmte Dasein in dem betrachtet, was es noch vor der Spaltung in die Individuen setzen kann und muss. Das Ich soll den praktischen Einheitsgrund des Daseins, das Sollen, und deshalb sich selbst als Prinzip begreifen. Dafür muss es die Möglichkeit dazu faktisch finden, »ein materiales, in seinem Princip unbegreifliches Thun; das sich nur anschauen, keineswegs unmittelbar genetisch construiren läßt« (P478). Es ist ein faktisches Tun, das Ich kann sich aber als dessen Subjekt begreifen und seine Freiheit darin verwirklichen. Die Argumentation ist aufgrund der Skizzenhaftigkeit des Textes schwer aus diesem zu erheben. Vor dem Hintergrund der frühen Sittenlehre ist jedoch klar, weshalb das Sich-Begreifen-als-Prinzip diese faktische Tätigkeit voraussetzen muss. Es ist eine Tätigkeit, die sich vollzieht, noch bevor das einzelne, aus der Spaltung hervorgehende Ich, dem sie zugeeignet wird, zu Selbstbewusstsein und Freiheit kommt, sodass sie dann »nicht als handeln des Ich, sondern bloß als Begebenheit mit dem Ich, im Bewußtseyn eintritt« (P478). Fichte charakterisiert diese Tätigkeit hier auch deutlich in ihrer Zeitlichkeit: Es ist die »absolut faktische Zeitfüllung, die durch das Ich zu durchlaufende Zeit« (P481). Und aus seinen Skizzen geht hervor, dass er darin schon den Ansatz für die Räumlichkeit liegen sieht 235, die ja für ihn, wie dies bereits herausgearbeitet wurde, etwas ist, in dem sich das Ich unmittelbar findet und in welches es sich nicht erst frei hineinsetzt. 236 Deut235 Einerseits hält Fichte die Faktizität und Ursprünglichkeit der Verräumlichung fest: Er spricht von einem Raum »gediegener d. i. körperlicher Linie, [ein] seyender, schon stehender, u. gefüllter, nicht erst durch das Ich zu ziehen«. Andererseits fasst er ihn gerade als Sphäre der Freiheit, als »Sphäre unendlicher Möglichkeit« (P481). Beide Seiten finden sich auch in I133 angesprochen: die jeder freien Konstruktion vorgängige Verortung, wenn Fichte über den Menschen sagt: »[E]r ist schlechthin wo er ist durch absolute Vft.« Die Seite der daraus eröffneten individuellen Konstruktion des Raumes, wenn er schreibt: »[D]urch dieses sein absolutes Wo, geht ihm erst der Raum auf, und dieses Wo ist der Schöpfer des Raums«. 236 Vgl. oben, S. 123 f.

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lich benennt Fichte auch den Charakter der Unableitbarkeit der konkreten Bestimmtheit. In ihr liegt für ihn »das absolut faktische im Bewußtseyn« (P479). Auf diese Weise ist die unendliche Spaltung in eine zeitliche Welt, wie Fichte sie in der Anweisung beschreibt, in ihrer ursprünglichen Form im einen Dasein und auf der Ebene einer faktischen Tätigkeit, die ein Feld von Bestimmungen und Begrenzungen bildet, verortet. Fichte arbeitet dies besonders deshalb heraus, um zu erklären, weshalb die Individuen eine gemeinsame Welt erfahren. Dies geschieht, wenn er diese Spaltung in einem zweiten Schritt mit der Interpersonalspaltung auf der überzeitlichen Ebene ins Verhältnis setzt (P481). Die unendliche Spaltung wird ursprünglich nicht im einzelnen Ich situiert, sondern, ihm vorgeordnet, als grundgelegt in der einen »WeltAnschauung« des Daseins erklärt. Diese erst spaltet sich dann in individuelle Perspektiven. »Ein u. eben dasselbe Ich, qualitativ durchaus dasselbe, wird nur numerisch mehremahle gesezt. Aus dieser Identität kommt die Identität der Welt für uns alle.« (P481) Die Erklärung der gemeinsamen Weltwahrnehmung Um dies genauer zu verstehen, lohnt sich wieder ein Blick in die späten Vorlesungen über die Tatsachen des Bewusstseins. Und zwar stellt Fichte hier dar, wie die interpersonale Vermittlung primär über die gemeinsame Kraft, über den Gesamttriebzusammenhang der einen Natur, geschieht. Jeder ist verbunden mit dem Gesamten und schaut in einer unmittelbaren Anschauung die Kraft aller an. Es wird hier eine alles in der Welt einschließende geistige Innerlichkeit und Verbundenheit vorausgesetzt, freilich so, dass diese zunächst nicht bewusst auftaucht. Die intellektuelle Anschauung ist von Fichte schon früher als etwas bestimmt worden, was in der innersten Einheit ohne ausdrückliches Bewusstsein stattfindet. 237 Jeder schaut die ganze Kraft an, bekommt aber nur einen bestimmten Teil dieser Kraft in seine Verfügung gestellt. Wirkt nun einer mit dieser Kraft, ergibt das eine Veränderung im Ganzen. Es werden deshalb »alle immerfort die Produkte der Wirksamkeit aller sehen, weil ih eben zu 237 Vgl. oben, S. 88 innerhalb der Argumentation der Erlanger Wissenschaftslehre zur intellektuellen Anschauung in ihrer ursprünglichsten Form als Anschauung der inneren Einheit des Lichts oder des Grundseins oder des Ich als des ursprünglichen Beisichseins des Wissens.

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Grunde liegt, u. ausmacht ihr gemeinsames Wesen die Anschauung der Kraft aller« (TdB119; vgl. dazu auch TdB100). Diese allgemeine Anschauung, die dem Subjekt zukommt, insofern es das eine Dasein mitvollzieht, unterscheidet Fichte von seiner Anschauung, insofern es Teil des Daseins ist. Als dieses »sieht es die Welt an aus seinem Standpunkte, u. dieser Standpunkt giebt ihm eine Ordnung der Affassung der Welt, die nur ist für diesen Standpunkt, u. durchaus für keinen andern: jeder hat seinen besondern« (TdB120). In den Tatsachen des Bewusstseins von 1810/11 unterscheidet Fichte entsprechend von der »allgemeinen Kraft« die »besonders beschränkte Kraft«, und von der Anschauung der Letzteren her versteht er das, was er hier die »Selbstanschauung« nennt, die individuelle, von anderen uneinsehbare Bewusstseinsperspektive (TB119). Es kommt also wie in der frühen Zeit zu einem Gefühl und von da aus zum Bewusstsein nur als Erleben der bestimmten Beschränkung der eigenen individuellen Tätigkeit. Anders gesagt: Es kommt zu ihnen nur auf der Ebene, auf der ein Teil aus dem einen in sich ausdifferenzierten Dasein in den eigenen individuellen Selbstvollzug gegeben ist. Daraus wird deutlich, dass die ursprüngliche Ausdifferenzierung des Daseins nicht einfach von daher verstanden werden kann, wie wir in uns die beschränkte Tätigkeit erleben. Wie sich dies schon für die Interpersonalspaltung ergeben hat, geht Fichte zwar davon aus, dass wir diese spaltende Tätigkeit des einen Daseins mitvollziehen, dass sie aber nicht direkt für uns begreifbar ist, sondern nur als vorauszusetzendes Erfordernis erschlossen werden kann. Wie er in dem Zusammenhang ebenfalls deutlich macht, erklärt sich für ihn aus der allgemeinen Anschauung und ihrer Differenz zur besonderen, dass das Subjekt genötigt ist, die ihm nicht zukommende Kraft auf Subjekte außer sich zu übertragen (TB119). Aus der allgemeinen Anschauung erklärt sich somit auch der Glaube an eine gemeinsame Welt. Dass dieser Glaube zu Recht gefasst wird und wir tatsächlich die Welt übereinstimmend erleben, führt Fichte darauf zurück, dass jeder seine beschränkte Kraft, auf der die Weltwahrnehmung fußt, aus der einen gemeinsamen Kraft erhält, die sich von sich aus differenziert und in die zudem die individuellen Bestimmungen eingehen. Indem sich für ihn in der Tätigkeit des einen Daseins außerdem die Zeit und die sekundär räumlich angeschauten Wirk- und Situierungsverhältnisse der einzelnen Teile der Naturorganisation entfalten, ist in dieser Tätigkeit auch der Ursprung dafür zu sehen, dass wir uns im selben Raum, in derselben Gegenwart und im selben Zeitfluss erleben. Neben der inLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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dexikalischen Bindung des Raumes und der Zeit an die subjektive Perspektive 238 kommt ihnen für Fichte also zugleich eine Objektivität zu – eine Objektivität freilich, welche vorgängig ist zu der, in welcher die Vorstellung den gemeinsamen Raum und die gemeinsame Zeit setzt und meint, sie seien so, wie vorgestellt, auch an sich. Die Weltgestalten als Gestalten Gottes? In welchem Verhältnis stehen diese Weltgestaltungen zum Absoluten? In der vierten Vorlesung der Anweisung charakterisiert Fichte das Verhältnis lediglich negativ: Das göttliche Sein ist in ihnen nicht mehr unmittelbar, sondern es ist unwiederbringlich in ein bloßes Bild verwandelt. In der achten Vorlesung macht Fichte jedoch positiv deutlich, dass in ihnen nicht ein Nichts gestaltet wird, sondern das göttliche Wesen selbst, und dass sich die Bestimmtheit der jeweiligen Gestaltung nicht einfach nur aus der notwendigen Begrenzung des Begreifens erklärt, sondern dass sie sich immer auch aus dem Wesen des göttlichen Lebens ergibt, freilich gebrochen in unendliche Bilder, die nur in einer Reihe und niemals in ihrer Gesamtheit aufgefasst werden können (A143 f.). Die ursprüngliche Verbindung zum Absoluten treibt über jedes feste Bild hinaus und weiter in eine unendliche Bildung des letztlich unbildbaren, in Bildern nur annäherbaren göttlichen Lebens (A167). 239 Und doch sind die begrenzten Bilder nicht

238 Zum Raum vgl. S. 123 f. Die Bestimmung von zeitlichen Verhältnissen ist natürlich genauso an die Gegenwart des Ich gebunden. 239 Vgl. auch DW339–341 zu der notwendigen Eigenschaft des Verstandes, ein EtwasBild zu fassen, und daraus der notwendigen Undurchdringlichkeit Gottes, dessen Wesensqualität nur in einer unendlichen Auslegungsbewegung angenähert werden kann. Die zum Zweck der Darstellung notwendige Verwandlung des zeitlosen Lebens in eine unendliche Auslegungsbewegung beschreibt Fichte auch in der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten (G72–74). Er macht hier zugleich eine wichtige existenzielle Konsequenz deutlich: Das göttliche Leben kann konkret gelebt werden nie als ein Sein, das man erreicht hat, sondern nur in einem Werden, sodass es auch nie möglich ist, hochmütig auf etwas Erreichtes stolz zu sein: »Aller Hochmuth gründet sich auf das, was man zu seyn glaubt, – zu seyn, im ruhenden und vollendeten Seyn, und der Hochmuth ist eben darum in sich selbst nichtig, und widersprechend; denn gerade dasjenige, was man ist, und wobei das ewige Werden anhält, ist man wahrhaftig – nicht. Unser wahrhaftiges und unmittelbares Seyn in der göttlichen Idee kommt unablässig vor als Anforderung eines Werdens, demnach als Mißbilligung unsers jedesmaligen stehenden Seyns; und so macht die Idee uns wahrhaft bescheiden, und beugt vor ihrer Majestät uns nieder in den Staub.« (G92)

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nur Begrenzung, sondern Ausdruck – in der Ambivalenz von Darstellen und Verhüllen. Die Qualitäten, wie sie sich konkret ergeben, sind unableitbar. Es handelt sich für Fichte um die nicht deduzierbaren, sondern nur erfahrbaren Bestimmtheiten des Lebens innerhalb der Form, die abgeleitet werden kann (A101). Ihre Unableitbarkeit bedeutet für ihn jedoch nicht, dass sie per se ohne vernünftigen Zusammenhang sind. In der Erlanger Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten begründet er die Unableitbarkeit folgendermaßen: »Wie und warum aus dem Einen göttlichen Leben gerade ein solches also bestimmtes fortfließendes Zeitleben hervorgehe, könnte man nur dadurch begreifen, dass man alle Theile des letztern in vollendeter Auffassung begriffe, sie gegenseitig und allseitig durcheinander deutete, so sie auf den Einheitsbegriff zurückbrächte, und diesen dem Einen göttlichen Leben gleich fände. Aber dieses fortfließende Zeitleben ist unendlich, die Auffassung seiner Theile kann daher nie vollendet werden« (G74). Nur deshalb besteht die Unbegreifbarkeit. An sich sind die Bestimmtheiten sinnvoll vereint in einem »Einheitsbegriff«. In dieser Auffassung Fichtes manifestiert sich, dass die Weltgestalten für ihn im Grunde eine Auslegung des ursprünglichen qualitativen Lebens Gottes in seiner Einheit sind. Grundsätzlich ergibt sich hier dasselbe Verhältnis der Bestimmtheit zum Absoluten wie oben bereits für die Interpersonalspaltung. In den sinnlichen Bestimmungen erscheint das Wie des göttlichen Lebens. Wie im folgenden Kapitel, welches das Verhältnis der beiden Spaltungen untersucht, noch herausgearbeitet werden wird, versteht Fichte die Weltgestalten als Auslegung der individuellen Berufungen. Nur in ihnen bekommen sie konkrete Handlungsmöglichkeiten. Nur in ihnen können sie gefühlt werden und in die Begreifbarkeit einer objektiven Vorstellung treten. Die Qualität der Weltgestalten ist somit von der zeitlosen Qualität der individuellen Berufung unterschieden: zum einen, wenn sie in eine objektive Form tritt, aber auch schon vorher, als konkret gelebte Bestimmtheit, indem sie noch einmal begrenzter ist als die ursprüngliche Qualität, die sie nur in einer unendlichen Auslegungsbewegung widerspiegeln kann. Ergreift jedoch ein Mensch in seinen konkreten Handlungsmöglichkeiten seine Berufung, dann hindert die in ihrer Bestimmtheit begrenzte weltliche Gestalt nicht nur nicht das Sichereignen und Erscheinen des göttlichen Lebens, sondern es findet gerade in ihr statt. Dies gilt zumindest für die Welt oder Natur, welche die leibliche Verwirklichungssphäre eines Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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sich zum höheren göttlichen Leben erhobenen Vernunftwesens ist. In ihr ereignet sich für Fichte dieses Leben und drückt sich aus. 240 Sie drückt es in seiner Form aus, insofern aufgrund seines leiblichen Sichereignens die Leibgestalt verstehend ausgelegt werden kann auf die sich in ihr manifestierende sittlich-religiöse Haltung 241 – in der un240 Vgl. bes. in A157 f. die Beschreibungen der Verwirklichung eines natürlichen Talents, in der jemand seine höhere Berufung realisieren kann. Entsprechend kann Fichte in der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten von 1805 über den, der seine Gelehrtenberufung verwirklicht hat, sagen: »In dem wahrhaften Gelehrten hat die Idee ein sinnliches Leben gewonnen« (G68). Dass der Leib diese Verwirklichung der Idee oder der Berufung unmittelbar ausdrücken kann, macht Fichte davor in A156 f. in seiner Beschreibung eines in seinem Sinn schönen Menschen deutlich. Vgl. auch eine Bemerkung in der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten: »Unmittelbar sichtbar aber, und wahrnehmbar durch alle auch äußere Sinne, erscheinet die Gottheit, und tritt ein in die Welt in dem Wandel göttlicher Menschen.« (G123) 241 An dieser früheren Sicht (vgl. dazu oben, S. 171–173) hält Fichte auch später fest. Dem widerspricht nicht, dass er die sinnliche Welt in der Anweisung manchmal pauschal als »Schein« bezeichnet (A56 f. u. 100 f.). Es kann damit nur die sinnliche Welt gemeint sein, insofern sie noch nicht durchdrungen ist auf das Erscheinen des göttlichen Lebens in ihr hin oder insofern dieses noch nicht in ihr realisiert ist. Denn in der Anweisung kann für Fichte weiter die sinnliche Gestalt das göttliche Leben zur Erscheinung bringen (vgl. oben, Anm. 240). Und er beschreibt auch weiter die unmittelbarste Form der Auffassung dieses Ausdrucks im ästhetischen Empfinden. Eine besondere Bedeutung bekommt diese für ihn in der Kunst als einer Gestalt der von ihm sogenannten höheren Moralität, die auf die Realisierung der göttlichen Idee in der Welt zielt (vgl. dazu u. zum Folgenden A156–158; G79; GGZ225 u. 238). Die Kunst stellt sie in der Sinnenwelt dar. Die Form, welche die Idee annimmt, wenn sie unmittelbar empfunden wird, sei es in Bezug auf sie direkt oder auf ihren Ausdruck in einer sinnlich wahrnehmbaren Gestalt, ist die Schönheit. Von daher kann für ihn von wahrer Schönheit nicht etwa allein in Bezug auf »Naturschönheiten« (A156) gesprochen werden. Wenn für ihn in der frühen Sittenlehre auch die Freiheit in der noch nicht zur Sittlichkeit durchgebrochenen Form der bloßen Lebendigkeit in der Natur als schön empfunden werden kann (vgl. oben, S. 172 f.), dann muss dies nicht im Widerspruch stehen zu dieser späteren Aussage. Denn früher schon erscheint für ihn die eigentliche Schönheit in der Sittlichkeit. Und später kann er, wie im Folgenden noch herausgearbeitet werden wird, das göttliche Leben ebenso in der Natur anwesend wahrnehmen, wenngleich dieses – und damit auch die Schönheit – im vollen Sinn weiter für ihn nur hervortritt in den von der Idee ergriffenen Menschen. Die Kunst kann sie entsprechend nur über die Darstellung eines solchen Menschen vermitteln, sei es bildnerisch, literarisch oder auch musikalisch. Fichte beschreibt in der Anweisung als Beispiel eine Darstellung von Maria, die ganz dem Willen Gottes hingegeben ist. Was eine solche Darstellung schön macht, ist für ihn nicht die Leibgestalt selbst, sondern das, was in ihr ausgedrückt wird. Es ist »die eine Empfindung, welche durch alle diese Gliedmaaßen ausgegossen ist. Die Gestalt ist hinzugekommen, lediglich, weil nur an ihr, und durch ihr Medium, der Gedanke sichtbar wird; und mit Strichen und Farben ist sie aufgetragen auf die Fläche, weil er nur also mittheilbar

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mittelbarsten Form im ästhetischen Empfinden. Und sie drückt dessen materialen Gehalt aus, indem sich die leibliche Bestimmtheit als Auslegung des Wie des göttlichen Lebens ergibt. Bei der Natur außerhalb des Vernunftwesens, oder bevor sich jemand zum sittlich-religiösen Leben erhoben hat, ist dieses unmittelbare Ausdrucksverhältnis nicht gegeben. In Bezug auf sie muss aber Fichte zumindest sagen, dass es Gott selbst ist, der dahinter lebt (A111). Denn was auch immer da ist, es muss vom göttlichen Leben im Dasein gehalten werden, und dieses muss in ihm sein und sich ausdrücken, in welch versteckter Form auch immer (A56). Auch die Bestimmtheit erklärt sich hier letztlich aus dem göttlichen Leben 242 – sozusagen als Vorausbild, welches der Mensch zum Bild wahrhaft göttlichen Lebens erheben kann. 243 Der Realitätsstatus der Natur Ausgehend von Fichtes Sicht auf die Konstitution der natürlichen Sphäre kann nun genauer der Realitätsstatus der Natur, auch außerhalb des Vernunftwesens, geklärt werden. Wenn Fichte zur Zeit der frühen Sittenlehre die Naturerscheinung noch in einem Als-ob-Stawird, für andere.« (A157) Auch wenn das bloß Leibliche oder Materielle selbst nicht die Idee darstellen und schön sein kann, so kann es doch dessen Erscheinungsmedium sein. Die sinnliche Vermittlung der Idee ist für ihn dabei wie in der frühen Zeit unmittelbar und nicht reflektiert. Fichte stellt heraus, wie dadurch die Idee einerseits – gegenüber ihrer wissenschaftlichen Erfassung – weniger durchdringend in ihrer eigentlichen Geistigkeit begriffen wird, sie andererseits aber durch ihre Unmittelbarkeit und »durch einen verborgenen Zauber von Sympathie im Geisterreiche« (GGZ239) leichter und ohne große Voraussetzungen an alle Menschen vermittelt werden kann. 242 Dies ist m. E. impliziert, wenn Fichte in der Erlanger Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten in Bezug auf die »Sinnenwelt mit allen ihren Verhältnissen und Bestimmungen« sagt, dass ihr die göttliche Idee »zum Grunde liegt« (G64). 243 Vgl. dazu den unten in Anm. 254 zitierten Ausschnitt aus GGZ235. Und vgl. eine Passage aus dem Dritten Kurs der Wissenschaftslehre von 1804, in der Fichte beschreibt, inwiefern für ihn das Absolute selbst im gesetzmäßigen Vollzug des einen Daseins und damit auch auf der Ebene des Natürlichen tätig und anwesend ist: Er versteht »das Absolute, als sich äussernd im Ich, als Princip des Seyns desselben sowohl, als dessen wovon es wiederum Princip ist: also zuförderst materialiter, herabsteigend in die qualitative Welt, als Grund des reinen Willens, des NaturWillens, nicht unmittelbar, sondern um sich über ihn zu erheben, der Natur, nicht unmittelbar, sondern um den reinen Willen darin auszuführen, u. als Sphäre desselben« (DW367). Das eigentliche göttliche Leben wird in der Natur nur vorbereitet und nicht schon unmittelbar gelebt. Insofern diese Vorbereitung stattfindet, kann Fichte jedoch sagen, dass das Absolute selbst hier am Werk ist und in diese Sphäre herabsteigt. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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tus belassen kann und es nicht möglich ist, klar zu sehen, inwieweit er – unabhängig vom realen Trieb der Vernunftwesen – von einer Realität hinter ihr ausgeht 244, so wird von ihm in der späteren Zeit die gesamte Natur als ein, wenn auch unselbständiges und nur vorbereitendes, so doch reales Moment der Tätigkeit des einen Daseins bestimmt. Wie dieser Vollzug des einen Daseins gedacht wird, ist bereits ausgehend von der Vorlesung über die Prinzipien der Gottes-, Sittenund Rechtslehre gezeigt worden. Die Natur wird hier von vornherein nicht nur als bloßes ideales Erscheinungsbild verstanden. Fichte benennt sie als »Naturkraft«, »Trieb« und »NaturWille« (P447). In diese Richtung gehen auch Texte, die sich im Dritten Kurs der Wissenschaftslehre von 1804 finden. 245 Hier wird die Natur zudem deutlich nicht nur als Natur des Menschen thematisiert, sondern als die eine ganze Natur, die das, was der Mensch als Anteil an der einen Natur bekommt, hervorbringt (DW345 f.). In der Konsequenz dieser Aussagen, wie auch schon in der Konsequenz überhaupt des Ansatzes zu dieser Zeit, liegt m. E., dass auch die Natur außerhalb von Vernunftwesen als reale Tätigkeit verstanden werden muss. Ob Fichte selbst für sich diese Folgerung gezogen hat, lässt sich an den genannten zwei Schriften zwar nicht klar belegen. Dies ist jedoch anzunehmen, da sich zumindest in der späteren Zeit Stellen finden, aus denen deutlich hervorgeht, dass Fichte in dieser Konsequenz denkt. Aufschlussreich sind hierzu besonders die späten Tatsachen des Bewusstseins, in denen sich viele Ausführungen zur Natur finden. 246 Die eine allgemeine Anschauung und die eine Kraft des Daseins werden auch hier mit dem Begriff der Natur zusammengebracht. Fichte spricht von »NaturAnschauung« und davon, dass die Natur »wirkt« (TdB100). 247 Für ihn liegt der äußeren Erscheinung ein reales Wirken Vgl. dazu oben, S. 154–156. Vgl. DW366 f. zum Hervorgehen der Sphäre des Natürlichen aus der Tätigkeit der einen Erscheinung. Hier wird auch der Unterschied zwischen Naturwillen und Naturtrieb erklärt: Der Naturwille ist der Naturtrieb, den sich ein Ich frei und seiner Freiheit bewusst angeeignet hat, dabei aber zunächst noch ganz bestimmt bleibt von dem, was der Trieb vorgibt (DW366 u. 355). Dies entspricht der in der frühen Sittenlehre beschriebenen Situation des zunächst bloß formal freien Ich (vgl. dazu oben, S. 160). 246 Daneben sind zur Frage nach dem Realitätsstatus der Natur aufschlussreich auch die Tatsachen des Bewusstseins von 1810/11 (bes. TB115–118) und die Transzendentale Logik vom Herbst 1812 (bes. GA II,14 371–372). 247 Auch die Begründung ist dieselbe. Die Natur wird konstituiert, weil das Verstehen der Erscheinung in ihrem Wesen eine faktische Verständlichkeit voraussetzt, die durch die eine Erscheinung hingebildet wird. Fichte schreibt: »[D]ie Erscheinung 244 245

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der Natur zugrunde, ein »Leben«, eine »Kraft« (TdB94). 248 Sie wird als produktiv verstanden, und zwar auf ein Ziel hin. Sie »endigt« sich in der Hervorbringung eines »Naturwille[ns]« (TdB93 f.). Dies ist ein organischer Naturtrieb, der als unmittelbar gefühlter und bewusster in die Freiheit eines Ich gestellt ist – jedoch zuerst so, dass dieses Ich noch ganz von der Natur bestimmt ist. 249 Auch wenn das Naturwirken darin ein neues Prinzip bekommt, so kann dieses nur wirken mit der Kraft aus der Natur. Fichte kann sagen: »[I]ndem das Ich wirkt, wirkt doch die Natur« (TdB100). In diesem Zusammenhang identifiziert er deutlich dieses Wirken mit dem Wirken auch außerhalb des Vernunftwesens: »Ob ein neuer Stern am Himmel erscheint, oder ein vernünftiges Wort gesprochen wird, beides ist Eins (das leztere nach ihrem Masstabe des Werths weit bedeutender) h,i beides eine Fortentwicklung der einen Anschauung [d. h. der einen Naturanschauung oder praktisch des Wirkens der Natur]: der Unterschied ist nur der: im erstern Falle bleibt sie in sich selber, im zweiten verläßt sie sich u. macht auf eine verständliche Weise sichtbar ihr innres Wesen, […] sie bildet hin eine absolute Empirie: denn die Empirie ist das durch die Verständlichkeit des ersten schlechthin gefoderte Nebenglied« (TdB93). Auf diese Weise ist für Fichte auch hier die Natur »Bild des Wesens« – aber »in der Hülle der Empirie« (TdB93), also in der Form eins bloß faktischen Lebens und faktischen Bildes, das mit dem wahren Leben erst noch frei gefüllt werden muss. 248 Sehr deutlich spricht Fichte so auch in den Tatsachen von 1810/11 und argumentiert für »eine feste und reelle Natur«, die »nicht bloß die Sichtbarkeit eines andern, sondern die für sich selbst ist«, »reines absolutes Leben und Kraft« (TB117). 249 Das Verhältnis von Naturtrieb und individuellem Ich wird dabei von Fichte nicht als ein äußerliches gedacht. Denn für ihn ist die Natur zwar eine selbständige Kraft, die sich nach ihrer immanenten Gesetzlichkeit unwillkürlich vollzieht, also nicht nur totes Sein, sie ist aber nur die Kraft des einen Ich, und in dieser Hinsicht unselbständiges Vollzugsmoment des Ganzen. Die Natur ist »absolute Naturkraft u. souveräne« und sie hat »in sich selbst ihr bestimmtes sie anregendes Gesez«, aber sie ist Kraft »des Ich, als höchster und alles Kraft in der Natur« (TdB94). Sie hat keine eigenständige Weltseele, sondern unser gemeinsames Ich ist ihre Weltseele. Fichte wendet sich entschieden gegen die Position, die »ein andres höchstes Princip in der Natur annimmt, eine WeltSeele, u. welterschaffende Kraft, ausser der des Ich« (TdB94). Da sie Kraft des Ich ist, kann die Naturkraft dann auch Kraft eines individuellen Ich, als stellvertretender Ausgliederung des einen Ich, werden, das in ihr als neues freies Prinzip wirken und sie ihrem ursprünglichen Zweck, dem Zweck des einen Ich, unterordnen kann. In dem Moment wird dem freien sittlichen Willen der Naturwille untergeordnet. Er ist dann nicht mehr Prinzip, sondern »er wird absolute Naturkraft für den erstenh,iim Dienste des ersten, u. als sein Werkzeug« (TdB94). Es findet sich hier dasselbe Verhältnis von Freiheit und Natur wie es von der frühen Sittenlehre her dargestellt worden ist, nur dass jetzt beide aus einer überindividuellen Einheit heraus verstanden werden und aus dieser auch ihr Verhältnis geklärt wird. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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kehrt sie durch Freiheit Individualität wieder in sich selbst zurük.« (TdB100) Die Entwicklung hin zu dieser Idee von einer Lebendigkeit der Natur auch außerhalb des Menschen lässt sich gut an Fichtes Brief an Schelling vom 27. Dezember 1800 verdeutlichen. 250 Schelling war es ein wesentliches Anliegen, die Natur nicht nur als bloße leere Erscheinung, sondern als innerlich selbst subjektiv anzusehen. Fichte betont ihm gegenüber, dass seiner Ansicht nach ein solches Innen der Natur erst einmal nur analog zu unserer eigenen Selbstbestimmung in die Naturerscheinung hineingedacht wird, es also keineswegs unmittelbar in ihr liegt. Transzendentalphilosophisch kommen wir für ihn erst einmal nur bis zur Voraussetzung faktischer Beschränkungen unserer Tätigkeit. Erst wenn wir nach dem Ursprung dieser Begrenzungen fragen und eine methodisch gesicherte Möglichkeit finden, in den intelligiblen Bereich über dem eigenen Ich, aus dem sich diese Begrenzungen erklären müssen, vorzudringen, dann besteht die Möglichkeit, diese Begrenzungen und damit die Natur überhaupt als Manifestation des Intelligiblen und damit in ihrer realen Innenseite zu thematisieren. Fichte geht dabei von einem höchsten Intelligiblen und einer Einheit des Intelligiblen aus, die er mit Gott identifiziert. Dessen unmittelbare Manifestation kann für ihn nur die endliche Intelligenz oder das Individuum sein. Das Intelligible als Natur ist davon wieder abhängig, ist lediglich die Verwirklichungssphäre, das Bestimmbare zum Individuum als dem Bestimmten. Der Grundidee nach ist hier die spätere Theorie bereits angelegt. Ein Entwicklungsschritt zu ihr besteht noch darin, das Verhältnis von der Einheit des Intelligiblen zu den Individuen auf der einen Seite und zu Gott auf der anderen Seite genauer zu klären. Auch in der Bestimmung des Menschen ist dieser Schritt, wie dies bereits herausgearbeitet wurde, noch nicht erfolgt. 251 Sie gehört m. E. zur selben Phase zwischen früher und später Wissenschaftslehre. Auf das, was Fichte dort entwickelt, verweist er zur Erläuterung ausdrücklich in seinem Brief an Schelling. Zumindest ist für Fichte schon in dieser Phase klar, dass es transzendentalphilosophisch gerechtfertigt sein kann, ein solches Innen 250 Vgl. GA III,4 404–407. Ich greife hier auf den Brief wie auf seinen Entwurf gleichermaßen zurück. Der Sache nach sagt Fichte m. E. nichts Widersprechendes, er drückt dasselbe nur etwas anders aus. 251 Vgl. oben, S. 216–218.

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der Natur anzunehmen. Dass er zur Zeit der Bestimmung des Menschen tatsächlich davon ausgeht, zeigt dort eine eindrucksvolle Passage, die im Folgenden ausführlich zitiert werden soll, weil an ihr deutlich wird, wie Fichte die Natur im Tiefsten ansehen und in welches Verhältnis er sie zu Gott setzen kann. Er beschreibt die Natur – in Gebetsform – aus der Perspektive von der intelligiblen Welt her, in die er sich praktisch wie einsehend durch den allein das Absolute und das Reale fassenden Glauben erhoben hat: »Nachdem so mein Herz aller Begier nach dem Irdischen verschlossen ist, nachdem ich in der Tat für das Vergängliche gar kein Herz mehr habe, erscheint meinem Auge das Universum in einer verklärten Gestalt. Die tote lastende Masse, die nur den Raum ausstopfte, ist verschwunden, und an ihrer Stelle fließt, und woget und rauscht der ewige Strom von Leben, und Kraft und Tat – vom ursprünglichen Leben; von Deinem Leben, Unendlicher: denn alles Leben ist Dein Leben […]. Hier strömt es, als sich selbst schaffende und bildende Materie durch meine Adern und Muskeln hindurch, und setzt außer mir seine Fülle ab im Baume, in der Pflanze, im Grase. Ein zusammenhängender Strom, Tropfe an Tropfe, fließt das bildende Leben in allen Gestalten, und allenthalben, wohin ihm mein Auge zu folgen vermag; und blickt mich an, – aus jedem Punkte des Universumhsi anders, – als dieselbe Kraft, durch die es in geheimem Dunkel meinen eignen Körper bildet. Dort woget es frei, und hüpft und tanzet als sich selbst bildende Bewegung der Tiere, und stellt in jedem neuen Körper sich dar, als eine andere eigne für sich bestehende Welt: dieselbe Kraft, welche, mir unsichtbar, in meinen eignen Gliedmaßen sich reget, und bewegt.« (B306) Es ist für Fichte in allem die eine göttliche, geistige und lebendige Wirklichkeit, auch in der Natur: »Ich bin dir verwandt, und was ich rund um mich herum erblicke, ist Mir verwandt; es ist alles belebt und beseelt, und blickt aus hellen Geister-Augen mich an, und redet mit GeisterTönen an mein Herz.« (B306) Zugleich wird deutlich, dass für Fichte dieses Leben in der Natur nicht unabhängig vom Ich lebt: Es fließt »durch mich herab in die ganze unermeßliche Natur« (B306). Und es kommt für ihn in seiner eigentlichen Fülle nur in den Vernunftwesen zur Verwirklichung: »[R]ein und heilig, und deinem eignen Wesen so nahe, als im Auge des Sterblichen etwas ihm sein kann, fließet dieses dein Leben hin als Band, das Geister mit Geistern in Eins verschlingt, als Luft und Äther der Einen Vernunftwelt« (B306 f.). Zunächst einmal scheint die Anweisung mit dieser Sicht auf die Natur übereinzustimmen. Fichte schreibt dort über das göttliche Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Leben, das er auch als Liebe bezeichnet: »Durch sie, aus ihr, als Grundstoff, sind, vermittelst der lebendigen Reflexion, alle Dinge gemacht, und ohne sie ist nichts gemacht, was gemacht ist; und sie wird ewig fort, in uns, und um uns herum, Fleisch, und wohnet unter uns, und es hängt bloß von uns selbst ab, ihre Herrlichkeit, als eine Herrlichkeit des ewigen und nothwendigen Ausflusses der Gottheit, immerfort vor Augen zu erblicken.« (A168) 252 Die Natur scheint hier eingeschlossen zu sein, denn er trifft seine Aussage über alles Sichtbare um den Menschen herum. Betrachtet man jedoch Fichtes direkte Aussagen über die Natur in der Anweisung – vor allem in seiner als Beilage angehängten Auseinandersetzung mit einer Rezension, in der er sich gegen »die Annahme einer an sich realen Natur« (A195) wendet –, erwecken sie den Eindruck, dass Fichte die frühere Sicht auf die Natur wieder revidiert hat. Die Texte können freilich so und so interpretiert werden, sodass die Anweisung nicht genügend Aufschluss hinsichtlich dieser Frage gibt. Wohl das aussagekräftigste Zeugnis für Fichtes Sicht in dieser Zeit ist die Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten von 1805. Auch dort finden sich Aussagen, die auszuschließen scheinen, dass in der Natur irgendetwas Lebendiges ist. Da das göttliche Leben nur in den Vernunftwesen erscheinen kann, folgert Fichte: »[A]llein das menschliche Geschlecht ist da« (G72). Die Natur ist nur die Beschränkung des Lebens, sie ist tot (G73). Für Schelling sind diese Aussagen Anlass, Fichte so zu verstehen, dass er jedes Innen und jede Lebendigkeit der Natur bestreitet. 253 Aus dem 252 Vgl. dazu auch A111: »Mag es doch immer Gott selber seyn, der hinter allen diesen Gestalten lebet; wir sehen nicht ihn, sondern immer nur seine Hülle; wir sehen ihn als Stein, Kraut, Thier, sehen ihn, wenn wir höher uns schwingen, als Naturgesetz, als Sittengesetz, und alles dieses ist doch immer nicht Er.« An dieser Stelle kommt gut die Ambivalenz zum Ausdruck. Einerseits verhüllt die Natur Gott. Andererseits bringt sie ihn doch zur Erscheinung, wenn Fichte sagen kann, dass wir ihn als »Stein, Kraut, Thier« sehen. 253 Vgl. Schellings Rezension zu Fichtes Vorlesung in der Schrift Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten fichteschen Lehre von 1806 (v. a. SW VII 9–11). Wolfdietrich Schmied-Kowarzik gibt Schellings Fichte-Interpretation Recht (1996 131). Den Unterschied zwischen den beiden fasst er so, dass nur Schelling die Natur »als lebendige Grundlage unseres Daseins« versteht (143 f.). Dies ist m. E. aber auch bei Fichte der Fall, wenngleich die andere Interpretation durchaus nachvollziehbar ist, insofern sich Fichte ziemlich missverständlich ausdrückt (vgl. dazu unten, Anm. 254). Richtig trifft Schmied-Kowarzik m. E. den Unterschied, wenn er schreibt: »[A]nders als Fichte versteht Schelling die Idee der Natur nicht nur als Mittel zum Zweck menschlicher Freiheit« (143). Für Fichte ist die Natur lediglich Zweck in Bezug auf die Zwecke des Menschen – zwar nicht seine egoisti-

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Kontext wird jedoch deutlich, dass Fichte mit dem Begriff der Natur nicht die bloße Beschränkung fasst, sondern das faktische beschränkte Leben. Auch nennt er es nur insofern tot, als es noch nicht hindurchgedrungen ist zum vollen Vernunftleben. Es ist nur »zum Theile nicht lebendig« (G72). Und aus dem Kontext wird deutlich, dass für Fichte dieses noch nicht volle Leben nicht nur in den Vernunftwesen vorkommt, sondern auch außerhalb von ihnen. 254 Es bleibt also bei der Sicht, wie sie in der Bestimmung des Menschen greifbar wird – schen Zwecke, aber doch den Zweck der Verwirklichung des göttlichen Lebens in der menschlichen Freiheit. Schelling schreibt dagegen: »[S]oweit nur immer die Natur menschlichen Zwecken dient, wird sie getödtet« (SW VII 18). 254 Nachdem er die Natur als »Schranke« bestimmt hat, konstatiert Fichte: »[N]ichts weiter ist die Natur in der ausgedehntesten Bedeutung des Worts, und selber der Mensch, in wiefern sein Leben im Vergleich mit dem ursprünglichen und göttlichen Leben beschränkt ist, ist nichts weiter« (G73). Mit dem Wort ›Schranke‹ bezeichnet er also nicht die bloße Hemmung, sondern die gehemmte Tätigkeit, die noch nicht zum eigentlichen göttlichen Leben durchgedrungen ist. Sie Schranke und nicht nur beschränkte Tätigkeit zu nennen, ist von daher berechtigt, als sie das Beschränkende im Verhältnis zur reinen Vernunfttätigkeit ist. Wegen dieses Mangels ist die Natur für Fichte »zum Theile nicht lebendig, und noch nicht zum Leben durchgedrungen, sondern insofern todt« (G72). Wenn er die Natur als tot bezeichnet, muss er damit also nicht jegliche Lebendigkeit überhaupt bestreiten. Dann wäre auch in keiner Weise verständlich, wie er davon sprechen kann, dass die Natur Sphäre der Vernunfttätigkeit ist und durch sie belebt wird. Medium der freien Vernunfttätigkeit kann nur ein lebendiger Trieb, nicht eine reine Beschränkung oder das bloße tote Objekt sein. Die Möglichkeit einer Verlebendigung mit dem eigentlichen Leben besteht zwar nur in Bezug auf die Natur im Leib eines Menschen. Dennoch fasst Fichte aber in der ganzen Passage die Natur im Ganzen als ein solches vorläufiges Leben und die Natur im Menschen nur als Teil davon, wie dies im oben als erstes zitierten Text deutlich wird. Von einer realen Wirkkraft außerhalb der Leiber scheint Fichte daneben auch auszugehen, wenn er die Menschen »bedroht« sieht von der »willenlosen Natur« (G78). Mit dieser Textauslegung soll nicht bestritten werden, dass sich Fichte in dieser Vorlesung sehr missverständlich ausdrückt. Besonders in Bezug auf den Gebrauch des Wortes ›Schranke‹ wird dies deutlich. In der Vorlesung Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters von 1806 drückt er sich zumindest etwas klarer aus. Ein schlechthinniges Totsein wird ausgeschlossen: »[W]as da todt scheint, ist nur ein geringerer Grad des Lebens« (GGZ235). Es wird von einer Lebendigkeit in allem Materiellen gesprochen und ein Zusammenhang mit dem einen göttlichen Dasein hergestellt: »Alles Leben in der Materie ist Ausdruck der Idee: denn die Materie selber in ihrem Daseyn ist nur Wiederschein einer unserem Auge verdeckten Idee, und daher kommt die ihr selber beiwohnende Regsamkeit und Lebendigkeit. Bricht aber die Idee durch, offenbar und begreiflich als Idee, und reißt sich los zu eigenem, in ihr als Idee begründeten Leben, so verschwindet der niedere Lebensgrad der verdeckten Idee, und geht auf in dem höhern« (GGZ235). Dass das Materielle erst belebt werden soll, bedeutet nicht, dass ihm nicht schon ein niederer Lebensgrad zukommt. Zudem wird hier Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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sowie in den späten Tatsachen. 255 Da Fichte selbst die Natur als lebendig, wenn auch nicht im vollen Sinn, begreift, kann es ihm, auch wenn er es nicht unmissverständlich ausdrückt, in der Auseinandersetzung mit Schellings Naturphilosophie nicht darum gehen, diese Lebendigkeit überhaupt zu bestreiten. Das eigentliche Anliegen ist, die Natur nicht als von der Vernunft getrennte selbständige Existenz, als selbst ein Absolutes, anzusehen und sie damit zu »vergöttern« (G73). Das macht es Fichte aber nicht unmöglich, in der Natur selbst das göttliche Leben anwesend zu sehen. In der Bestimmung des Menschen tritt dies, wie oben gezeigt, deutlich hervor. Und in der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten von 1805 kann Fichte noch ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass das »Göttliche« sich neben der menschlichen Kunst auch in der Natur ausdrückt und in ihr gegenwärtig ist. In der Beschauung der Natur ist es möglich, in diesem »Heiligen« und »Erhabenen« sich »auszuruhen, an ihm sich zu erneuern, und zu neuen Anstrengungen sich wieder zu gebähren« (G99). Wenn auf diese Weise deutlich wird, dass Fichte ausgehend von seinem späteren Konzept des einen Daseins die Natur als ein lebendiges Moment des göttlichen Lebens versteht, so ist damit noch nicht die Frage geklärt, ob und in welcher Weise innerhalb dieser Lebendigkeit einzelne Wesen auftauchen können. Zu einer Individuierung des Daseins kommt es für Fichte nur, weil die Aufgabe des einen Daseins sich allein in individuellen Subjekten realisieren lässt. An sie wird die Gesamtaufgabe verteilt. Es entsteht eine bestimmte Menge, die diese Aufgabe erschöpft. Darüber hinaus gibt es in seinem Ansatz keinen Grund für die Entstehung eines individuellen Subjekts. Dadurch, dass er, wie im folgenden Kapitel noch eingehender betrachtet werden wird, die Naturentwicklung als vom in die Individuen verteilten Gesamtzweck gelenkt versteht, sind diese nur mit den Naturorganismen identifiziert, die eine geeignete Basis für eine Reflexion auf sich bieten. 256 In den anderen Wesen ist zwar Leben. Es ist aber zunächst nur das Leben der einen Tätigkeit, welche sich ausdifferenziert in bestimmte Tätigkeitsmomente, die sich zusammenfügen zu Organisdeutlich, dass für Fichte die niedere Lebendigkeit die höhere nicht verhindert, sondern diese sich in ihr ganz realisieren kann. 255 Gegen Verweyen, 1995, 219. 256 Etwa in TB116 f. denkt Fichte ganz selbstverständlich die Bestimmung des Naturverlaufs durch den in Individuen geteilten Endzweck so, dass er in freien und bewussten Individuen endet.

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men. Es ist in ihnen nur das eine Übersubjekt, kein individuelles, und nur dessen intellektuelle Anschauung und kein Bewusstsein. 257 Die eine sich ausdifferenzierende Tätigkeit des Daseins ist unbewusst (TB116). Ein Gefühl und von da aus ein Bewusstsein entstehen nur dann, wenn eine bestimmte Triebgestalt in den Selbstvollzug eines Individuums gegeben ist. Und dies ist für Fichte nur im Menschen der Fall. Auch noch die Tiere wirken für ihn nur zufolge eines unbewussten Triebes, der sich unmittelbar und, ohne dass es dafür irgendeine Form von Erfahrung bräuchte, auf das bezieht, was ihn befriedigt. 258 Fichte betrachtet wie in der frühen Zeit die nichtmenschlichen Wesen inklusive der Tiere so, dass es in ihnen nicht zu einer Verwirklichung von Sittlichkeit kommen kann. Und sie können entsprechend für sich keine Pflichten auf sich ziehen, sondern nur als Mittel für den Menschen. 259 Der Mensch ist zwar für Fichte auch nicht ein rein für sich bestehendes Individuum, sondern nur Moment des einen Übersubjekts. Aber er ist doch ein bestimmter und fester Teil davon, in dem sich ein Bewusstsein entfalten, der frei reflektieren und frei wollen kann. Er ist auch nicht für sich Zweck, sondern nur für das eine Dasein. Seine Selbständigkeit ist jedoch absolut zu achten. Will man den Menschen als ein absolut zu achtendes freies Wesen verstehen, so kann Fichte dem mit seinem Ansatz gerecht werden. Will man das Tier als empfindungsfähiges und um seiner selbst willen zu achtendes Wesen ansehen, dann ist dies mit Fichte nicht möglich. Dies macht es m. E. erforderlich, über eine Modifikation seines Ansatzes nachzudenken, die es gestattet, zumindest eine gewisse Selbstzwecklichkeit des Lebens außerhalb des Menschen zu denken. Zusätzlich zu diesen ethischen Implikationen führt sein Konzept Vgl. etwa, wie Fichte in den späten Tatsachen die Entwicklung der Natur vorgängig dazu, dass ein Individuum ihr Subjekt ist, beschreibt. Bevor ein frei reflektierendes und auf diese Weise bildendes Subjekt auftritt, ist es die eine Natur, die sich bildet. »Durch, u. durch Bild; u. damit gut, ohne irgend ein bildendes im Hintergrunde.« (TdB92) Sie ist nicht frei gelenktes Bilden, aber doch selbständiges Bilden ihrer selbst. Sie ist nicht freie Reflexion und nicht Bewusstsein, aber doch intellektuelle Anschauung und Ich, nämlich das eine Ich der Erscheinung: »Durch u. durch Bild, also fertige Anschauung, Subjekt-Objektivität. Das ist sie: und ist sie [die eine Erscheinung] es, folgt da faktisch der Begriff, dass sie selbst es sey, das gebildete, u. bildende durchaus drin: also durch u. durch Bild, in hinzutretender Begriffsform Ich.« (TdB91) 258 Vgl. wie Fichte in GGZ214 das instinktive Wissen der Tiere um die ihnen bekömmliche Nahrung beschreibt und dieses Wissen ausdrücklich als Erkenntnis im nur uneigentlichen Sinn versteht. 259 Vgl. für die Zeit um die Anweisung etwa GGZ312. 257

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der beiden Spaltungen des einen Daseins auch dann zu Problemen und seltsamen Konsequenzen, wenn man sich fragt, wie die Zuordnung der überzeitlichen Individuen zur Naturgeschichte gedacht werden muss. Geht man wie Fichte nicht davon aus, dass ursprünglich in der Naturentwicklung einzelne Subjekte bestehen oder sie sich zumindest in der Entwicklung von Organismen herausbilden, dann wird erst dann einem Organismus ein Individuum zugeordnet, wenn dieser eine geeignete Basis zur freien Reflexion bietet. Zuvor leben also nichtindividuelle protomenschliche Organismen. Zugleich jedoch, da die Möglichkeit der Reflexion ebenso von einer von außen kommenden Aufforderung und somit von der Freiheit abhängig ist, muss Fichte davon ausgehen, dass Individuen gebildet werden, die eventuell gar nicht die Möglichkeit bekommen, sich zu Sittlichkeit zu erheben. 260 In wirkliche Probleme gerät das Modell einer zunächst nicht aus einzelnen Subjekten bestehenden Natur, der diese erst ab einem bestimmten Entwicklungsgrad verbunden werden, dann, wenn man die Einflüsse der Freiheit auf die Naturentwicklung beachtet. Fichte denkt die Verbindung so, dass das eine in Individuen geteilte Dasein sich selbst seine geeignete Verwirklichungsbasis durch das im Dasein liegende Gesetz heranbildet. Wird aber diese gesetzmäßige Entwicklung nicht dadurch völlig gestört, dass die Freiheit in die Naturentwicklung eingreift – allein schon in der Zeugung, aber auch weit darüber hinaus? Wie im folgenden Kapitel, das die Zuordnung der beiden Spaltungen betrachtet, deutlich wird, ist Fichte selbst in die Richtung dieser Problematik vorgestoßen. Dass er sie nicht befriedigend lösen kann, ist m. E. ein weiterer Anstoß, über mögliche Modifikationen seiner Sicht auf die Natur nachzudenken. Naturmystik? Die Beschreibungen aus der Bestimmung des Menschen und der Anweisung sowie die Bemerkung aus der Vorlesung Über das Wesen des

260 Etwa in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters denkt Fichte die Anfänge der Erziehung der freien Menschen so, dass zunächst ein nicht durch Freiheit zur Sittlichkeit gelangtes Urvolk existiert und dieses sich unter noch unerzogene, aber der Erziehung fähige Völker zerstreut (GGZ298–303). Welche Individuen in diesen zunächst unerzogenen Völkern dann tatsächlich eine Erziehung erhalten, wird hierbei dem mehr oder weniger zufälligen geschichtlichen Verlauf überlassen. Zu den Problemen der Urvolktheorie vgl. unten, 266 f.

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Gelehrten zum Göttlichen in der Natur werfen die Frage auf, ob man bei Fichte von einer Art Naturmystik sprechen kann. Zunächst: Wie verhält er sich zur Mystik im Allgemeinen? In der frühen Sittenlehre bezieht er sich positiv auf »die Mystiker« – ohne einzelne Namen zu nennen –, und zwar als Vertreter der Auffassung, dass eine völlige Vereinigung mit dem Absoluten oder ein Sichverlieren in ihm im Hier und Jetzt möglich und geboten ist. 261 Während er zu dieser Zeit den Mystikern zwar darin Recht gibt, dass diese Vereinigung das Ziel des Menschen ist 262 – von seinem Ansatz her beschrieben als »gänzliche Vernichtung des Individuum, und Verschmelzung desselben in die absolut reine Vernunftform oder Gott« –, sie für ihn jedoch »in keiner Zeit möglich« sein kann (S142), so geht er in der Zeit um 1805 von einer trotz der unendlichen Fortentwicklung möglichen Vereinigung mit dem Absoluten aus und fasst von daher den wesentlichen Inhalt der Religion. 263 Es verwundert daher nicht, wenn sich Fichte in der spätesten Zeit in dieser Sicht gerade mit den Mystikern einig findet. 264 Fichte verwendet zwar um 1806 das Wort ›Mystizismus‹ meist in einem negativen Sinn als Bezeichnung für eine von seiner Sicht auf die Religion zu unterscheidenden Auffassung 265, es wird jedoch nicht ganz klar, wie sich das zu 261 Vgl. S139 über »die Mystiker, nach denen wir uns in Gott verlieren sollen«. Vgl. auch S142. Dass für ihn das Wort ›Mystiker‹ vor allem über diese Idee bestimmt ist, wird etwa auch in einer Bemerkung in der späten Staatslehre deutlich (vgl. unten, Anm. 264). 262 Vgl. auch die Bemerkung in S139, dass der Meinung der Mystiker »allerdings etwas wahres und erhabenes zu Grunde liegt, wie sich tiefer unten ergeben wird«. Dies bezieht sich entweder auf die zitierte Bemerkung in S142 oder aber auf S230, wo Fichte darauf aufmerksam macht, dass das Subjekt sich in Bezug auf das Sittengesetz, das sich selbst Zweck ist, als bloßes Mittel ansehen muss. »Durch das Sittengesetz getrieben vergesse ich mich selbst im Handeln […]. Wie bei jeder Anschauung, so verliert sich auch hier das Subjekt, und verschwindet im Angeschauten, in seinem angeschauten Endzwecke.« 263 Vgl. S. 300–301. 264 Vgl. die Ausführungen in der Staatslehre von 1813 zum wesentlichen Gehalt des Christentums, der darin bestehe, die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott im Hier und Jetzt durch das völlige Ablassen vom Eigenwillen und das Sichöffnen für den göttlichen Willen zu lehren. Dazu bemerkt Fichte: »Dasselbe ist auch von der durch ihre Früchte bestätigten Parthei der sogenannten Mystiker vom Anfange an bis jetzt für die Hauptsache gehalten worden.« (St138) 265 Vgl. A76, hier mit einem Verweis auf eine Näherbestimmung des Begriffs in der achten Vorlesung der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, bes. GGZ288. Es ist freilich interessant, dass Fichte in der Anweisung den Begriff des Mystizismus zugleich für seine Lehre zulassen möchte, wenn er von seinen Gegnern als Bezeichnung

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seinem Begriff vom Mystiker verhält. Abgesehen davon können die Kritikpunkte, die er mit dem Ausdruck ›Mystizismus‹ verbindet – Vereinigung mit Gott in der bloßen Betrachtung und Vernachlässigung des sittlichen Handelns 266, Beschränkung auf wenige Auserwählte (GGZ288), ein undifferenzierter Pantheismus 267 – nicht einfachhin auf das bezogen werden, was man heute sinnvollerweise unter den Begriff Mystik fasst. Meint man damit – durchaus in Übereinstimmung mit dem, was Fichte unter einem Mystiker versteht – ganz weit die erlebte und vor allem gelebte Vereinigung mit Gott im Hier und Jetzt und eine entsprechende Lehre darüber, dann ist Fichte m. E. durchaus der Mystik zuzuordnen. 268 Kann man zudem von einer Naturmystik bei ihm sprechen? Eine Naturmystik vertritt er sicher nicht in dem Sinn, dass die Vereinigung mit dem Absoluten in einer Vereinigung bloß mit der Natur geschehen könnte, da diese für ihn nur ein vorbereitendes und unselbständiges Moment des einen Daseins darstellt. Er hat sich – vor allem gegen Schelling gewendet – immer wieder ausgesprochen gegen eine »Vergötterung der Natur«. 269 Insofern die Natur aber zumindest ein Moment des einen Daseins ist, sieht er das von Gott ausfür »die Wahre Religion, die Erfassung Gottes im Geiste und in der Wahrheit« verwendet wird (A76 f.). Diese Benennung hält er wohl deshalb für sinnvoll, weil er sich mit den Mystikern in der Kernthese einig weiß. 266 Vgl. A113 u. GGZ287 f. Schon in der frühen Sittenlehre hat Fichte eine solche Haltung kritisiert (S213 u. 231), sie aber nicht ausdrücklich mit den Mystikern in Verbindung gebracht oder als Mystizismus benannt. 267 Vgl. GA II,13 54. 268 Gegen Katharina Ceming (1999), die dafür argumentiert, dass bei Fichte eine solche Vereinigung nicht vollzogen werde, und er deshalb nicht als Mystiker bezeichnet werden sollte. Weder bleibt Fichte m. E., wie sie behauptet, in der Diskursivität, in der Vermitteltheit der Gottesbeziehung und im Theoretischen stecken (vgl. oben, S. 76– 101; gegen Ceming, 1999, 49 f., 202–207 u. 237–239) noch in einer Bindung an das äußere Handeln, die eine völlige innere Unabhängigkeit davon verhindern würde (vgl. unten, S. 301–303; gegen Ceming, 1999, 246–252), noch verhindert bei ihm die unendliche Fortentwicklung die Einheit mit dem Absoluten im Hier und Jetzt (vgl. S. 300 f.; gegen Ceming, 1999, 239–241 u. 250). Als korrekt erscheint mir die Beschreibung von Akira Omine (1991, 200): »Bei Fichte […] mischt sich in die Unvermitteltheit des Lebens die Grundform der Reflexion ein.« Wenn er darauf aufmerksam macht, dass Fichte nicht von einer ontischen Einerleiheit von Ich und Gott ausgeht und darin einen Unterschied zu Eckhart sieht (203), dann spricht er sich m. E. nicht gegen eine mystische Vereinigung bei Fichte aus, denn er stellt gerade (als Übereinstimmung mit Eckhart) heraus, wie für Fichte das Ich in seinem Leben Gottes Leben lebt und so mit ihm eins ist (199 f.). 269 GGZ289. Vgl. auch GGZ286–289 u. G73 f.

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gehende göttliche Leben durchaus in ihr anwesend, wie etwa die Beschreibung in der Bestimmung des Menschen zeigt. Und er kann sich, als ebenso dieses Lebens teilhaftig, mit der Natur eins erkennen. Im späteren Modell besteht sogar eine reale Einheit. Jedes Subjekt vollzieht, wie das in diesem und den beiden vorigen Kapiteln dargestellt wurde, im Grunde die Tätigkeit des einen Daseins mit, die sich verästelt in die Vielheit der Individuen und in die Naturorganisation. Es ist dem Subjekt also nicht nur möglich, dasselbe göttliche Leben in der Natur zu finden, sondern auch sich real mit ihr eins zu sehen. Was kann dies für das religiöse Leben bedeuten? Wie noch deutlich werden wird, besitzt für den späten Fichte die Betrachtung Gottes einen höheren Stellenwert als in der frühen Zeit. 270 Die Ausrichtung auf Gott soll immer erfolgen. Da sie nur zusammen mit der Realisierung des göttlichen Lebens bestehen kann, muss sie in den Zeiten des Tätigseins auf eine implizite Weise geschehen. Sie tritt aber beim religiösen Menschen in den Momenten, in denen er nicht tätig sein kann, sondern sich erholen muss, von selbst in den Vordergrund. So schreibt Fichte in seiner Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten über den im religiösen Leben verwurzelten Studierenden: »Seine durch Fleiß und Anstrengung ermatteten Gedanken, kehren, so wie sie entlassen werden, zum Heiligen, Großen, Erhabenen zurück, um in ihm auszuruhen, an ihm sich zu erneuern, und zu neuen Anstrengungen sich wieder zu gebähren.« (G99) In diesem Zusammenhang, worauf oben bereits hingewiesen wurde, bemerkt er, dass diese betrachtende Ausrichtung auf das Göttliche in einer Betrachtung der Natur erfolgen kann. Betrachtung der Natur muss dabei nicht nur bedeuten, dass in die sinnliche Erscheinung verstehend die Einheit des Daseins hineingedeutet wird. Für Fichte besteht eine ursprüngliche intellektuelle Anschauung der Einheit der Natur. Und indem die intellektuelle Anschauung für ihn tatsächlich erlebt werden und in bestimmten Momenten in einer besonderen Erfahrung hervorbrechen kann, kann dies auch mit der Anschauung der Natur geschehen. So lässt sich von Fichtes Ansatz her erklären, wie es zu Erfahrungen einer Alleinheit mit der Natur und in ihr einer noch tieferen, über die Ebene des Naturhaften hinausgehenden Einheit kommen kann. Neben dem, dass sich auf diese Weise die Betrachtung Gottes vollziehen kann, könnte man innerhalb von Fichtes Ansatz – er selbst macht darauf, soweit ich sehe, nicht aufmerksam – solchen Erfahrungen auch 270

Vgl. dazu u. zum Folgenden unten, S. 294–300.

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eine Bedeutung dafür zuzusprechen, überhaupt zur Einsicht in die die individuelle Beschränkung übersteigende Wirklichkeit des göttlichen Daseins und die darin liegende Einheit mit Gott zu gelangen. Welche Bedeutung besitzt die Einheit mit der Natur darüber hinaus für die tätige Realisierung des göttlichen Lebens? Die Aufgabe des Menschen ist, das göttliche Dasein in seiner individuellen Berufung zu realisieren und hier spielt die Einheit mit der Natur, die einfach besteht, ohne dass sie der Einzelne befördern oder schmälern könnte, zunächst keine Rolle, sondern nur seine individuelle Leiblichkeit. Sie kann für Fichte jedoch dann bedeutsam werden, wie die soeben zitierte Bemerkung deutlich macht, wenn er in einer Situation des Nachlassens seiner Kraft zur Stärkung der ausdrücklichen Ausrichtung auf Gott bedarf, indem diese Ausrichtung in einer Betrachtung der Natur erfolgen kann. Die Weise, wie Fichte dabei von Erneuerung und sogar Neugeburt spricht, weist m. E. darauf hin, dass es ihm gegenüber der frühen Sicht auf die Religion als Stärkungsmittel hier nicht nur darum geht, sich Gottes als der sittlichen Weltordnung und somit des Gelingens der sittlichen Tat zu versichern, sondern auch darum, sich durch die Ausrichtung auf Gott zu öffnen für die eigentliche Kraftquelle, die in der mit dem göttlichen Leben einigen Grundtätigkeit des Menschen liegt, und sich von ihr ergreifen zu lassen. 271 1.3.2.1.5 Das Verhältnis beider Ebenen zueinander Wie sich die beiden Spaltungen und ihre Ebenen zueinander verhalten, wurde zwar schon verschiedentlich angedeutet. Dies muss nun jedoch noch eingehender betrachtet werden, vor allem um zu verstehen, wie Fichte die Rolle des Naturtriebes innerhalb der Verwirklichung der sittlichen Berufung fasst. Was lässt sich hierzu aus der Anweisung herauslesen? Die überzeitliche Bestimmtheit entspringt der Interpersonalspaltung, die zeitlich ablaufende der unendlichen Spaltung der Welt. Im Zusammenhang mit der Erläuterung der überzeitlichen Interpersonalspaltung bemerkt Fichte, dass durch den dadurch entstandenen Anteil am göttlichen Sein in seiner individuellen Berufungsgestalt jeder auch »seinen bestimmten Antheil an dem sinnlichen Leben« (A159) bekommt. 271 Zur Bedeutung des Sich-ergreifen-Lassens durch die eigene Grundtätigkeit oder das göttliche Leben im späteren Modell vgl. unten, S. 278–281.

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Wie sich dabei die Zuordnung ergibt und wie sie zufolge der ursprünglichen Bestimmung geschieht, erläutert Fichte nicht. Diese Fragen werden nachher von anderen Texten aus noch zu klären sein. Das Verhältnis wird jedoch zumindest so beschrieben, dass das Sinnliche Mittel sein muss für die übersinnliche Berufung. 272 Das überzeitlich Bestimmte wird dem Sinnlichen so zugeordnet, dass es »das persönliche Daseyn des Menschen zu seinem Werkzeuge gebraucht, und drum als ein Handeln erscheinet« (A165). Das Prädikat »erscheinet« ist dabei nicht so zu verstehen, dass das Übersinnliche für sich schon wirklich ist und das Zeitliche nur eine äußere Erscheinung. Das göttliche Leben verwirklicht sich erst in der Zeit und im sinnlichen Leben. Wenn Fichte vom göttlichen Leben spricht, bestimmt er es entsprechend nicht zeitunabhängig, sondern als »das in jedem bestimmten Momente, und unter den gegebnen Zeitbedingungen allervollkommenste« (A155 f.). 273 So kann Fichte auch sagen, dass es das individuell zugeteilte göttliche Leben selbst ist, das im sinnlichen unendlich ausgelegt wird und sich darin entfaltet (A111, 155 u. 160). Die zeitlose Bestimmtheit muss auf eine solche Weise beschrieben werden, dass sie noch nicht als Qualität einer objektiven Erscheinung heraustritt. Dies geschieht erst in der unendlichen Spaltung der Welt. Diese Spaltung wird von Fichte letztlich als Auslegung der Aufgabe der Individuen verstanden. Doch wie ist es möglich, dass meine zeitliche Triebsphäre der überzeitlichen Berufung entspricht? Diese Frage stellt sich umso mehr, als Fichte ausdrücklich eine Entsprechung behauptet. Die Berufung manifestiert sich für ihn in einem leiblichen Können und zugleich in einem Streben. Man muss sich an dieser Stelle klar machen, dass für ihn in der späteren Zeit die eigentliche Berufung des Menschen weniger als Sollen an den Menschen herantritt, sondern als das, was er eigentlich selbst tun will und ersehnt, sodass er sich nicht erst zu ihr antreiben muss. Ebenso ist sie das, was er selbst kann, sodass sie 272 Vgl. A150, wo Fichte beschreibt, wie dem sittlich-religiösen Menschen dieser Zusammenhang aufgeht: Er hat seine »ganze sinnliche Selbstthätigkeit« nur »als Mittel, für den Zweck, das zu thun, was er selber will, und über alles liebt, den in ihm sich offenbarenden Willen Gottes«. 273 Umgekehrt stellt Fichte in der Vorlesung Über die Prinzipien der Gottes-, Sittenund Rechtslehre das aus der unendlichen Spaltung Entstandene in den sittlichen Horizont: Es ist »der materiale Inhalt des Sittengesetzes, wie er sich mit den stets wiederholten soll’s durch die ganze unendlich fortschreitende Zeit entwikelt« (P279).

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sein Vermögen nicht überschreitet und das Können selbst zum Wirken motiviert (A161). Beides, das Vermögen und das Streben, lässt Fichte fundiert sein in den natürlichen Anlagen. Um das Leben der höheren Moralität an konkreten Beispielen anschaulich zu machen, schreibt er: »Das ideale Seyn nun überhaupt, und der erschaffende Affekt desselben, tritt, als bloße Naturerscheinung, heraus, als Talent, für Kunst, für Regierung, für Wissenschaft u. s. w.« (A157). Und Fichte schreibt es dem »natürliche[n] Talent« (A158) zu, dass sich ein Mensch zu seiner bestimmten Berufung »gar nicht reizen und zu treiben braucht« und »ihm, so gewiß er Talent hat, sein Geschäft auch immer gut von statten geht« (A157). Er beschreibt also eine natürliche Anlage als unmittelbare Manifestation der höheren Bestimmung – sowohl im Können als auch im Streben. Die Beschreibung einer solchen Entsprechung zwischen Naturtrieb und sittlichem Trieb findet sich schon zur Zeit der frühen Sittenlehre, und zwar in Fichtes Deutung der erotischen Antriebe, der Antriebe der elterlichen Fürsorglichkeit oder allgemein der sympathetischen Triebe. 274 Diese Kategorie von Trieben erfährt im späteren Modell eine Erweiterung. Mit ihr wird zwar auch dann das Verhältnis von Naturtrieb und Sittlichkeit nicht generell gefasst. Fichte sagt einschränkend, dass die Verwirklichung eines besonderen Talents nur ein Beispiel ist für das Leben, in dem das göttliche Sein rein heraustritt. Und für ihn dieses Leben generell, anders als bei der Realisierung des wahren Talents, auch nicht frei von einem Misslingen in der angestrebten äußeren Verwirklichung (A158). Aber zumindest wird von ihm eine solche Entsprechung als paradigmatisch für dieses Leben der höheren Moralität hingestellt. Zumindest ist er der Überzeugung, dass eine solche Entsprechung möglich ist. Wie ist sie aber möglich? In der Anweisung geht Fichte davon aus, dass im Laufe der Geschichte immer wieder Individuen auftreten, die in besonderer Weise ein in der Einheit des Daseins liegendes Ideal begriffen haben, es in ihrem Leben realisieren und dadurch auf den Fortschritt der Menschheit positiv Einfluss nehmen (A106). Er führt dies zurück auf ihre individuelle Berufung, in der für ihn zum einen der bestimmte Gehalt liegt, den sie begreifen, und zum anderen eine Kraft, die eine instinktartige Realisierung der Berufung ermöglicht. So ist in seiner Interpretation etwa Jesus Christus »schlechthin von und durch sich, durch 274

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Vgl. dazu oben, S. 180–182.

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sein bloßes Daseyn, Natur, Instinkt, ohne besonnene Kunst, ohne Anweisung, die vollkommne sinnliche Darstellung des ewigen Wortes« (A120 f.), d. h. des einen Daseins in dem auf der Stufe der Religion hervortretenden Aspekt, dass es sich eins weiß mit Gott. Wie die Rede von »Natur« an dieser Stelle anzeigt, geht es um ein zur Freiheit vorgängiges Geschehen. Betrifft es nur den vorfreien ursprünglichen Trieb der individuellen Berufung oder auch die natürliche Triebbasis, in der er sich verwirklicht? In der Anweisung gibt Fichte dazu keine nähere Auskunft. Weiter helfen die Vorlesungen über Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters von 1806. Der Begriff des Instinkts spielt hier eine wichtige Rolle, und zwar ausdrücklich als Vernunftinstinkt. Fichte bestimmt ihn als die Weise, wie das Gesetz des einen Daseins vorgängig zu seinem reflexiven Bewusstsein und seiner freien Aneignung in dessen Entwicklung bestimmend sein muss. 275 Die Vernunft wirkt hier als »Naturgesetz und Naturkraft«, und, wenn es zu einem Bewusstsein kommt, mit einem »dunklen Gefühle« (GGZ199). Als konkrete Wirkungen des Instinkts beschreibt Fichte in diesen Vorlesungen Verschiedenes: das Leben eines von ihm hier angenommenen spontan sittlichen und religiösen Urvolks, von dem die Erziehung der Menschen ausgeht (GGZ299 f.); das Leben einzelner Individuen, in denen die Vernunft in besonders starker Weise hervortritt und die ihr entsprechende äußere Gesetze für die Gesellschaft einsetzen (GGZ200); allgemeine instinkthafte sittliche Gefühle und Antriebe, die den Menschen vor einer reflexiven Erfassung des sittlichen Zwecks leiten und zu denen Fichte die sympathetischen Antriebe im Menschen zählt 276; und auch die Instinkte der 275 »Die Vernunft ist das Grundgesetz des Lebens einer Menschheit, so wie alles geistigen Lebens […]. Ohne die Wirksamkeit dieses Gesetzes kann ein Menschengeschlecht gar nicht zum Daseyn kommen, oder, wenn es dazu kommen könnte, es kann ohne diese Wirksamkeit keinen Augenblick im Daseyn bestehen. Demnach, wo […] die Vernunft noch nicht vermittelst der Freiheit wirksam seyn kann, ist sie als Naturgesetz und Naturkraft wirksam; doch also, daß sie im Bewußtseyn, nur ohne Einsicht der Gründe, somit in dem dunklen Gefühle (denn also nennen wir das Bewußtseyn ohne Einsicht der Gründe,) eintrete und sich wirksam erzeige. Kurz, und auf die gewöhnliche Weise dieses ausgedrückt: Die Vernunft wirkt als dunkler Instinkt, wo sie nicht durch die Freiheit wirken kann.« (GGZ199) Ähnlich noch einmal in GGZ242. 276 Vgl. GGZ221: »[D]ie Sympathie, die uns treibt, den persönlichen Schmerz andrer zu lindern und ihre Freude zu theilen und zu erhöhen, das Wohlwollen, das uns k e t t e t an Freunde und Verwandte, die Liebe, die uns hinzieht zum Gatten und zu den Kindern, – alles dieses gar oft mit beträchtlichen Aufopferungen an eigner Be-

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Tiere, die unmittelbar um die ihnen bekömmliche Nahrung wissen (GGZ212). An den beiden letzten Wirkungen des Vernunftinstinkts sowie daran, dass Fichte ihn als Naturgesetz und Naturkraft bestimmt, wird deutlich, dass er zu dieser Zeit auch die Prägung der Naturtriebe in eine dem Vernunftleben entsprechende Gestalt auf die spontane Wirkung des Vernunftgesetzes im einen Dasein zurückführt. Und zwar geht für ihn der als Naturgesetz die Triebe gestaltende Vernunftinstinkt entsprechend der ursprünglichen Ausrichtung des Daseins noch auf die Gattung als Ganze. 277 Die Triebe können erst eine selbstbezogene Orientierung bekommen, wenn sie in einem Individuum auftauchen, welches sich auf sich als Individuum ausrichten kann (GGZ210–212). Wie die Beschreibung der sympathetischen Triebe zeigt, bleibt für Fichte die über das Individuum hinausgehende Ausrichtung dabei aber auf eine Weise erhalten (GGZ221). So lässt sich die Entstehung von auf den sittlichen Zweck bezogenen natürlichen Antrieben verstehen. Und man kann annehmen, dass auf diese Weise für ihn auch die natürliche Triebbasis in dem Fall entsteht, wenn sich ein Individuum oder ein Volk seiner ursprünglichen Berufung entsprechend spontan zum Vernunftleben erhebt. Ein Text, der näher erklärt, wie sich Fichte innerhalb des Konzepts der späten Wissenschaftslehre und in der Linie dessen, was in der Anweisung und den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters greifbar wird, genauer die Möglichkeit denkt, dass die Natur eine der individuellen Berufung entsprechende Triebbasis heranbildet, findet sich in den Tatsachen des Bewusstseins von 1810/11. Hier wird die ursprüngliche Bestimmtheit des einen Daseins als »Endzweck« bezeichnet, zunächst in der Form einer Gesamtaufgabe, die dann verteilt wird an die Individuen (TB116). Von da aus schließt Fichte auf die notwendigen Voraussetzungen für seine Verwirklichung. Ähnlich wie in der frühen Sittenlehre in der Argumentation für eine dem sittlichen Zweck angemessene Handlungsreihe wird auf eine Naturkraft geschlossen, welche das Vermögen enthält, den Endzweck zu verquemlichkeit, und an eignem Vergnügen, ist der erste stille und geheime Zug des Vernunft=Instinkts, um vorläufig nur den härtesten, und gröbsten Egoismus zu brechen, und die Entwickelung einer sich verbreitenden und umfassenden Liebe anzufangen«. 277 Vgl. GGZ210: »Durchaus nur auf das Leben und die Verhältnisse der Gattung gehe der Vernunft=Instinkt, und überhaupt die Vernunft in jeglicher Gestalt: haben wir gesagt. Nemlich […] es ist nur Ein Leben, auch in Absicht des Subjekts, das da lebt, d. h. es ist überall nur Ein lebendiges, die Eine, lebende Vernunft«.

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wirklichen. Die Natur »ist absolut zweckmäßig; wir können in ihr und an ihr das, was wir sollen. Ihr Princip ist schlechthin ein sittliches Princip, keinesweges ein Naturprincip« (TB115). Als notwendig ergibt sich jedoch eine Bestimmung der Natur durch den Endzweck nur so weit, dass sie individuelle Triebkonstellationen hervorbringt, die ein Handeln auf den Endzweck ermöglichen. Da die Freiheit, um sich als Freiheit erfassen zu können, einen weiteren Bereich von Möglichkeiten voraussetzt, muss für Fichte zusätzlich bestimmt sein, dass es einen Bereich von nicht sittlich zu Wählendem gibt (TB114). Die Annahme einer noch weitergehenden Bestimmung oder sogar einer Prägung der ganzen Gestalt der Sinnenwelt durch den Endzweck ist für ihn nicht notwendig (TB125). Die Natur wird durch den Endzweck dabei nicht wie das freie Vernunftwesen durch ein Sollen, sondern »unwiderstehlich bestimmt. Der Endzweck wirkt hier als Naturgesetz, und das Leben in dieser Form ist auf dieser Stelle die Naturerscheinung des Endzwecks. Es müssen in ihm und durch dasselbe erfolgen solche Individuen, und sie erfolgen.« (TB117) 278 Dabei ist »die Kontraktion auf den Einheitspunkt des Sollens […] zugleich eine Kontraktion auf den Einheitspunkt des Könnens« (TB116). Mit dem Einheitspunkt ist das Individuum gemeint, mit der Kontraktion die Individuierung. Auf diese Weise wird deutlich, wie sich Fichte das Zusammenspiel der beiden Spaltungen denkt: Die Einheit des Daseins, überzeitlich geteilt in Individuen, innerlich geprägt von einer auf bestimmte Weise zu verteilenden Gesamtaufgabe, bildet selbst die natürliche Basis seiner Selbstverwirklichung heran. Das erklärt die inhaltliche Entsprechung. Und daraus, dass wir als übergeschichtliche, im einen Dasein vereinte und gesonderte Individuen es selbst sind, die unsere geschichtliche Existenz heranbilden 279, erklärt sich, 278 Und zwar erfolgen Individuen »mit besonderen sittlichen Bestimmungen« (TB119). Wenn einige Bemerkungen Fichtes in seinem parallel zur Vorlesung der Staatslehre von 1813 geführten Tagebuch so wirken, als würde er erst dort anfangen, eine gesetzmäßige Bestimmtheit der konkreten Naturgestalt auf die individuellen sittlichen Bestimmungen hin anzunehmen, und bisher die Natur als bloße Gesetzlosigkeit angesehen haben (vgl. etwa GA II,15 301 f.), kann sich das nur auf die jüngere Vergangenheit beziehen, denn in den Tatsachen von 1810/11 geht er ausdrücklich davon aus, dass die Natur vom Sittengesetz als einem Naturgesetz bestimmt ist (in TB115 sogar ausdrücklich gegen die Annahme der Gesetzlosigkeit). Die Theorie einer völligen Gesetzlosigkeit der Weltfakten, von denen die Naturentwicklung ausgeht, wird in der späteren Vorlesung über die Tatsachen von 1813 greifbar (TdB95), die unmittelbar in die Zeit vor der Staatslehre fällt. 279 Vgl. dazu auch die folgende Tagebuchaufzeichnung von 1813: »Der Geist also

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wie wir vermittels unserer Bestimmung ursprünglich ihr zugeordnet und in ihr situiert sind. Durch dieses Konzept aus den Tatsachen wird jedoch nur eine Seite der dargestellten Sicht der Anweisung erklärt. Von ihm her hat es den Anschein, als ob auf jeden Fall eine völlige Entsprechung ermöglicht würde. Wie schon angedeutet, geht Fichte in der Anweisung aber davon aus, dass die Verwirklichung der ursprünglichen Berufung in der zeitlichen, sinnlichen Sphäre selbst bei bestem eigenen Willen misslingen kann (A158 f.). Und zwar liegt dies für ihn an der Freiheit: Die Berufung auf der Ebene der höheren Moralität zielt darauf, die Idee in der Welt darzustellen und zu verwirklichen (A109). Dadurch zielt sie notwendig auf eine bestimmte Gestalt auch der Sinnenwelt (A158). Da diese jedoch ebenso Sphäre der Freiheit der anderen Individuen ist, können sie durch ihr Tun den Erfolg meiner Tätigkeit verhindern (A162). Dann geht es für Fichte darum, diese Freiheit selbst als Teil des Gesamtzwecks anzusehen und die Situation insofern als diesem Zweck und damit dem Willen Gottes entsprechend zu betrachten. Habe ich selbst mein Möglichstes getan, entspreche ich diesem Zweck, wenn auch nicht in der ursprünglichen Bestimmtheit, sondern in der, die sich als die durch Freiheit geprägte zeitliche Bestimmung herausgebildet hat. Nicht nachvollziehbar ist, wie Fichte dabei in der Anweisung zwischen dem eigenen Können und »der äußern Umgebung« unterscheidet und davon auszugehen scheint, dass das Können der Berufung immer entspricht, nur die äußere Umgebung nicht (A162). Eine solche Trennung scheint unmöglich zu sein. Die freien Wirkungen der Anderen müssen auch Folgen in Bezug auf meine Triebbasis haben. Zudem muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, sie durch die eigene Freiheit zu beeinflussen. Von anderen Texten her wird jedoch klar, dass Fichte beides in Betracht zieht, etwa wenn er in der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten von 1805 darüber nachdenkt, wie seine Studierenden mit ihrer Gelehrtenberufung umgehen sollen. Er setzt sich dort mit dem Problem auseinander, dass die Eltern eventuell einen Fehler begangen haben, ihr Kind auf die Gelehrtenlaufbahn zu schicken, weil es dazu kein »Genie« hat, wie Fichte hier die ursprüngliche Berufung und die ihr entsprechende Begakommt gar nicht in die Individuen; sondern er ist das vorausgesezte der Erscheinung, u. Sichtbarkeit. […] Diejenigen Individuen, die da sind, nach dem absolut faktischen Gesetze, erzeugen sich ins Licht der Welt.« (GA II,15 304)

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bung nennt (G90). Dies wird seiner Ansicht nach jedoch nicht sofort deutlich. Man kann erst dann herausfinden, ob man wirklich talentiert und dazu berufen ist, wenn man sich darin eine Zeit lang versucht hat und Erfolg oder Misserfolg beobachten konnte (G85 f.). Den Prozess des Herausfindens der eigenen Berufung beschreibt Fichte realistischer als in der Anweisung, wo nur gesagt wird, dass sie unmittelbar klar wird, sobald man vom Eigenwillen ganz ablässt (A160 f.). Hier geht er davon aus, dass eine Phase des Probierens erforderlich ist. Dieser Notwendigkeit muss man sich seiner Ansicht nach beugen, und es insofern als Willen Gottes ansehen, mit allen Kräften sich der Ausbildung zum Gelehrten zu widmen, und zwar als ob es sicher wäre, dass man die Berufung dazu hat, auch wenn sich später zeigen sollte, dass dies nicht der Fall ist. Ist dies tatsächlich absehbar, dann kann man mit den erworbenen Fertigkeiten immer noch etwas Sinnvolles tun, sich etwa in eine untergeordnete Gelehrtentätigkeit einfügen und das als seine Bestimmung ansehen (G86 f.). Fichte beschreibt hier also eine Situation, in der sich ein Mensch durch fremdes wie durch eigenes freies Wirken davon entfernt, das, was vielleicht eigentlich seine Bestimmung gewesen wäre, verwirklichen zu können. Für ihn liegt darin aber letztlich keine Einschränkung. Denn der Mensch realisiert, wenn er sich rechtschaffen darauf richtet, seine Bestimmung zu verwirklichen, mit dieser »Rechtschaffenheit« – wie Fichte hier die allgemeine sittliche Grundeinstellung des Menschen bezeichnet – dennoch die göttliche Idee, wenn auch nur »in ihrer allgemeinsten Gestalt, und kein nur redliches Gemüth ist ohne Gemeinschaft mit der Gottheit« (G86). Während die Berufung in ihrer Bestimmtheit nur durch Probieren und aus dem dabei beobachtbaren Erfolg ersehen werden kann, ist sie in ihrer Form, der Rechtschaffenheit, immer sogleich einsichtig. Auch ist das Vermögen, diese Rechtschaffenheit zu verwirklichen, immer da. Es führt immer zum Erfolg, lässt den Menschen Fortschritte in dieser machen und er tritt so auch immer mehr in die eigentliche Form des Lebens der Idee ein, in dem er von ihr ergriffen wird, ohne sich antreiben zu müssen (G90). In der Anweisung kann Fichte ganz entsprechend sagen, dass der, welcher, aus welchem Grund auch immer, die bestimmte Berufung im Feld der höheren Moralität nicht verwirklichen kann, in seiner Tätigkeit – und sei es »das unscheinbarste Handgewerbe« (A114) – dennoch, wenn er sie nur in der inneren Einstellung des Religiösen, dem es nur um den Willen Gottes zu tun ist, verrichtet, »wenn auch nicht das Materiale, dennoch die Form, der höhern MoLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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ralität« (A113) erhält. Es bleibt dabei, dass jeder eine unübertragbare Aufgabe hat, auch wenn sich deren Bestimmtheit durch die Auswirkungen der Freiheit verschoben hat. Gottes Wille, der die Freiheit selbst will, folgt sozusagen dieser Freiheit. 280 Der Mensch erfüllt auf diese Weise trotzdem Gottes Willen. Die Bedeutung der ursprünglichen Bestimmung und Begrenzung wird hierdurch relativiert. Die Verwirklichung des göttlichen Lebens ist daran nicht notwendig gebunden. Fichte hält aber dennoch an der Möglichkeit fest, dass die Naturproduktion durch die Freiheit nicht so beeinträchtigt wird, dass nicht zumindest in einigen Fällen diese eigentliche Berufung gelebt werden kann. Das Konzept der ursprünglichen individuellen Bestimmung ergibt sich aus seiner Interpersonalitätstheorie. Dass sich dieser Bestimmung entsprechende Handlungsmöglichkeiten in der Welt ausprägen, ist zwar für ihn für die Realisation des göttlichen Lebens nicht absolut notwendig, als sich dieses, wie wir gesehen haben, auch unabhängig vom Inhalt der höheren Moralität, allein in deren Form, verwirklichen kann, dürfte sich aber doch aus seinem grundsätzlichen Glauben an die Wirksamkeit des Sittengesetzes nahegelegt haben. Ein klares Motiv, davon auszugehen, ist für ihn darüber hinaus darin gegeben, dass er, wie in einem späteren Kapitel noch näher zu betrachten sein wird 281, vermittels des Konzepts von ursprünglichen Berufungen eine Art göttliche Vorsehung denken möchte, bei der Gott durch die in ihnen liegenden vorzeitlichen Bestimmungen die Geschichte der Menschen auf einen sittlichen Fortschritt hin lenkt. Nimmt man die von Fichte selbst thematisierten Auswirkungen der Freiheit näher in den Blick, stellt sich jedoch die Frage, ob eine geschichtliche Ausbildung von diesen Bestimmungen entsprechenden Handlungsmöglichkeiten und damit auch die Möglichkeit einer solchen göttlichen Lenkung der Geschichte überhaupt noch denkbar ist. Kann die Freiheit das Erwirken einer geeigneten Vermögensbasis durch die Natur nicht völlig stören? 282 Bei Fichte selbst taucht diese Deutlich wird das etwa, wenn Fichte in Bezug auf die durch die etwaige Fehlentscheidung der Eltern im oben genannten Beispiel entstandene Situation sagt: »[D]iese Nothwendigkeit gilt den unabänderlichen Bedingungen, in die unsere Freiheit sich versetzt findet, mithin dem göttlichen Willen an uns, völlig gleich« (G90). 281 Vgl. unten, S. 316–320. 282 Auf dieses Problem macht etwa Stefan Gnädinger in seiner Dissertation über Fichtes Vorsehungsbegriff aufmerksam (2003, 123 f. u. 128 f.). Er präsentiert dazu eine Lösung, die er zwar aus einer Interpretation des fichteschen Freiheitskonzepts ge280

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Problematik in Überlegungen auf, die er sich parallel zu seiner Vorlesung zur Staatslehre 1813 in ein Tagebuch notiert hat. In der Staatslehre spielt er das Modell einer göttlichen Weltordnung vermittels ursprünglicher Willensbestimmungen von Individuen durch. 283 Vorstellungen von einer göttlichen Vorsehung oder einem wunderbaren Eingreifen Gottes in die Geschichte möchte er begrenzen auf die Wirksamkeit, die in diesen ursprünglichen Bestimmungen liegt. In seinen Notizen stößt er auf die Frage, ob eine wundersame Erhaltung eines Individuums möglich ist. Sie ist wichtig vor dem Hintergrund seiner Idee, dass einige Individuen eine besondere Rolle in der Lenkung der Weltgeschichte spielen. Dem scheint die Freiheit zu widerstreiten, von der sogar die Entstehung eines Individuums mögwinnt (130–135), die m. E. aber nicht überzeugend ist. Fichte fasse die Freiheit lediglich als Vermögen, zwischen einer Bestimmung durch das Naturgesetz und einer Bestimmung durch das Sittengesetz zu wählen. In beiden Fällen sei also die Handlung, obwohl frei, so doch durch ein Gesetz bestimmt. Vermittels dieser Gesetze sei eine göttliche Vorsehung als Bestimmung des Weltverlaufs möglich. Zwar fasst Fichte tatsächlich die Freiheit als dieses Vermögen, lediglich zwischen verschiedenen Gesetzgebungen zu wählen, auf (nach TB121 f., auf welche Stelle sich Gnädinger beruft, aber auch schon früher nach DW355 als Wahlmöglichkeit zwischen Natur- und Sittengesetz und in der Anweisung noch differenzierter zwischen fünf jeweils einem Standpunkt entsprechenden Gesetzmäßigkeiten [A145]). Man muss sich aber klar machen, dass beide Gesetze die Freiheit nur durch eine Vorstellung bestimmen können, die selbst wesentlich von der Freiheit abhängt, dass die Freiheit dieses Vermögen also als Freiheit der Reflexion ist. In der Anweisung bestimmt Fichte sie sehr oft in dieser Weise (z. B. A98 f.) und damit muss die andere Bestimmung der Freiheit als Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Gesetzen zusammengebracht werden. Das Sollen tritt nicht fertig an die Freiheit heran, sondern wird durch die freie Reflexion erst begriffen. Und es kann mehr oder weniger deutlich begriffen werden, was die Möglichkeit einer Vielzahl von Standpunkten der Weltsicht erklärt. Wie Fichte in der frühen Sittenlehre verdeutlicht, bestimmt auch das Naturgesetz die Freiheit nur vermittels dessen, was die freie Reflexion in der Vorstellung des Triebes aus ihm macht. Entsprechend kann durch die Freiheit das, was aus beiden Richtungen gesetzmäßig vorgegeben ist, in vielerlei Weise modifiziert werden. Fichte macht selbst auf diese Konsequenz aufmerksam. Etwa in der Staatslehre von 1813 zeigt er auf, dass die Freiheit zwischen diesen beiden Gesetzen als Freiheit der Reflexion zu einer Menge von gesetzlosen Resultaten führt: »Bei weitem das Meiste der […] Freiheitsproducte ist zu Stande gekommen nicht nach dem deutlichen Begriffe vom sittlichen Gesetze, also nicht nach diesem Gesetze; ebensowenig aber ist es zu Stande gekommen durch das Naturgesetz […] – die freien, willkürlichen, gesetzlosen Handlungen der Menschen: – nur nicht in dem Sinne, daß sie willkürlich und gesetzlos nach einem bewußten Begriffe handeln wollen, sondern daß es ihnen eben so sich begeben, weil ihr Verstand und ihr deutlicher Begriff nicht weiter gegangen.« (St85 f.) 283 Vgl. dazu unten, Anm. 353. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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licherweise abhängig ist. »Es ist die sehr wichtige Frage, ob die einzelnen Individuen gesezt sind schlechthin durch ein Gesez, oder ob sie gesezt werden durch die Freiheit«. 284 Zu einer Lösung findet er zunächst nicht, sondern macht nur darauf aufmerksam, dass in dem Fall, dass eine Entwicklung des Menschengeschlechts nur unter der Bedingung der Existenz und Erhaltung eines bestimmten Individuums möglich ist, eine besondere Art von teleologischer Lenkung der freien Geschichte anzunehmen wäre. Später arbeitet er heraus, dass das Problem nicht in der Naturentwicklung selbst liegt, denn zu einem Ereignis, das zufällig ist, das nicht einem Gesetz folgt und das somit die durch das im einen Dasein liegende Gesetz erfolgende Lenkung der Welt stören könnte, kann es für ihn nur durch die Freiheit kommen, die weder vom Naturgesetz noch vom Sittengesetz gezwungen ist 285. Er überlegt sich dann – soweit ich seine skizzenhaften Ausführungen richtig verstehe – dass diese von außen betrachtet zufälligen Freiheitssetzungen selbst unter eine besondere Form von Gesetz gebracht werden müssten, damit eine Vorsehung möglich wäre. Auf diese Weise würde verhindert, dass die naturgesetzliche Ausprägung der überzeitlichen Bestimmungen in geeignete geschichtliche Triebkonstellationen durch die Freiheit gestört wird. Da eine solche Lenkung der Freiheit jedoch die Freiheit aufzulösen droht, scheint eine solche Annahme für ihn selbst zugleich problematisch zu sein. Obwohl Fichte sich dieser eventuell in seinem System gar nicht auflösbaren Problematik bewusst wurde und er sie für sich in seinen Aufzeichnungen notiert hat, hält er im Vortrag der Staatslehre aber an beiden Seiten fest: an der Freiheit wie an der ursprünglichen und in der Natur realisierbaren sittlichen Bestimmung. Wie groß das beschriebene Problem ist, lässt sich schwer einschätzen, weil Fichte die Weise, wie der Endzweck auf die Naturentwicklung wirkt, dafür nicht nah genug bestimmt. Er kann auf das Bestehen seiner Wirkung als eine notwendige Voraussetzung seiner Realisation schließen, ohne die Art der Wirkung genauer bestimmen zu müssen. Dies erfolgt dann nur in Ansätzen. Es muss eine faktische, unbewusste Tätigkeit sein, die durch den Endzweck als »Naturgesetz« unausweichlich bestimmt wird (TB117; vgl. auch GGZ199). Als ein einfaches wirkursächlich-deterministisches System, in dem die Anfangsbedingungen und die Gesetze der Entwicklung festgelegt sind, 284 285

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GA II,15 308. Vgl. hierzu u. zum Folgenden GA II,15 330–333.

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kann dies nicht gedeutet werden, denn es soll die Wirkung eines Zwecks sein, die sie auf ihn als auf ein bestimmtes Ziel ausrichtet. Dieser Zweck erscheint zwar nicht als Zweck, als Sollen an eine Freiheit, aber wirkt doch als Zweck. Fichte macht auf die aller sinnlichen Kraft überlegene stille Macht, den Antrieb und die unmittelbare und vorbewusste Wirksamkeit einer inneren Berufung in Bezug auf das Verhalten und damit auch die Bildung der Triebe aufmerksam (G69, 83 u. 85). Von daher muss man die teleologische Lenkung der Entwicklung der Naturanlagen generell verstehen. Während nun in einem rein wirkursächlichen System eine einzige frei gesetzte Veränderung den ganzen Plan zunichte machen könnte, so ist es im anderen Modell, in dem ein Zweck beständig als lenkendes Prinzip auf die Entwicklung einwirkt, denkbar, dass eine zum ursprünglichen Plan gegenläufige Änderung wieder ausgeglichen wird. Nach diesem Modell erscheint es zumindest als möglich, dass die Naturentwicklung für die Freiheit geeignete Organismen hervorbringt. Abgesehen davon, dass in der Natur zunächst ohnehin keine Freiheit ist, die stören könnte, und sie ganz planmäßig in ihrer Bildung voranschreiten kann, ist im teleologischen Modell auch eine spätere Beeinflussung durch die Freiheit wieder ausgleichbar. Und insofern die Freiheit beeinflusst ist vom Naturtrieb wie vom sittlichen Trieb, die beide auf Fortpflanzung und Erhaltung der Organismen ausgerichtet sind, wie auch insofern ihr, was ihre faktischen Handlungsmöglichkeiten angeht, Grenzen gesetzt sind, ist es zumindest extrem unwahrscheinlich, dass die Freiheit die weitere Produktion von Organismen ganz verhindert – zumal in der ersten Zeit der Freiheitsgeschichte, in der sie sich weder von ihren natürlichen noch von ihren sittlichen Instinkten ganz gelöst und die Kraft ihrer reinen Willkür entwickelt hat. Für die formalen natürlichen Bedingungen der Realisation des Endzwecks in seiner Form der Rechtschaffenheit – dass sich Triebe zu Organismen zusammenbilden, die eine geeignete Basis liefern für die freie Reflexion und das freie Handeln – kann Fichtes Modell eine durch den Endzweck gelenkte Entwicklung plausibel erklären. Insofern ist die göttliche Weltordnung im späteren Modell nicht mehr etwas schlechthin Unbegreifliches. 286 Probleme tauchen erst auf, wenn man auf die materialen Gehalte des Endzwecks und die Entwicklung von für sie geeigneten geschichtlichen Bedingungen blickt. Da ist zum einen die unableitbare, aber zeitlos bestimmte Anzahl der 286

Vgl. dazu ausführlicher unten, S. 308–311.

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Individuen. Kann die Wirkung des Endzwecks eine dafür ausreichend lange Dauer der natürlichen Produktion von Organismen garantieren? Zum anderen sind da die konkreten Berufungsgestalten der Individuen, für deren Realisation ganz bestimmte natürliche Begabungen erforderlich sind. Denkt man es so, dass der Endzweck in seiner Individuierung direkt auf ihren bestimmten geplanten Organismus lenkend bezogen ist, dann kann der Erfolg seiner Wirksamkeit durch die Freiheit – von der allein schon die Zeugung abhängig ist – ganz gestört werden. Anders ist es, wenn die Teile des Endzwecks sozusagen lose auf die gesamte Natur bezogen sind und sich mit einem Organismus dann identifizieren, wenn sich irgendwo ein passender entwickelt hat. Ist eine solche Weise der Bestimmung denkbar? Und wenn, kann durch sie gewährleistet werden, dass alle Berufungen im Lauf der Naturgeschichte ihre passende geschichtliche Existenz finden? Wäre es zumindest denkbar, dass die Individuen, die für Fichte entscheidend sind für die Gesamtentwicklung der Vernunftwesen, eine für sie geeignete natürliche Triebbasis finden? Es dürften die natürlichen Anlagen von sich her offen sein für die verschiedensten Formen von Berufung. Jemand hat etwa eine besondere sprachliche Intelligenz. Diese Anlage kann eine geeignete Basis sein für einen Gelehrtenberuf wie auch die Berufung zu einer gesellschaftspolitischen Tätigkeit. Und es scheint eine Beschränkung in dieser Fähigkeit nicht unbedingt eine solche Tätigkeit verunmöglichen zu müssen. Auch kann man von einer mitunter stark bildenden Wirkung der inneren Berufung auf den zunächst rein natürlich entstandenen Organismus innerhalb des Heranwachsens eines Menschen ausgehen. Auf diese Weise würden die Probleme zumindest entschärft. Eine Auswirkung der individuellen Berufungen auf die Naturgeschichte und somit eine Auswirkung ihrer so ermöglichten Realisierung auf die Entwicklung der Vernunftwesen erscheint als möglich. Eine sichere, vorsehende Lenkung der Geschichte durch die überzeitlichen Bestimmungen scheint auf diese Weise jedoch nicht denkbar zu sein. Davon auszugehen, dass zumindest in einigen Fällen die ursprüngliche Bestimmtheit des individuellen Lebens sich nicht in geeigneten Naturanlagen ausprägt, würde zum einen für diese Individuen eine seltsame Spannung stehen lassen zwischen der Berufung des Kerns des Menschen und seinen konkreten Fähigkeiten und geschichtlichen Umständen. Dies scheint in Fichtes Ansatz jedoch möglich zu sein, insofern sich für ihn das göttliche Leben auch unabhängig von der materialen Bestimmtheit realisieren und er in Bezug auf 266

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die formalen Bedingungen den Endzweck als wirksam denken kann. Zum anderen würde dadurch eine in Bezug auf die mögliche Verwirklichung der individuellen Bestimmtheit sicher wirksame göttliche Vorsehung unmöglich werden. Auch dies ist m. E. jedoch nicht unverzichtbar für Fichtes Denken. Eine besondere Wichtigkeit bekommt diese Vorsehung für ihn wegen des Erfordernisses eines ersten erziehenden Volkes, dessen Entstehung er über die zeitlose Bestimmung gelenkt sein lässt. 287 Meines Erachtens kann man innerhalb von Fichtes Ansatz jedoch für die Möglichkeit der reflexiven Bewusstwerdung der Freiheit auch unabhängig von einer von außen gegebenen Aufforderung und somit unabhängig von einem ersten Auffordernden argumentieren 288 und damit ohne diese Hilfskonstruktion mit einem ersten erziehenden Volk auskommen. Auch sonst scheint mir ein über die formalen Bedingungen hinausgehendes weiteres Erfordernis für die Möglichkeit der Realisation des sittlich-religiösen Lebens zunächst einmal nicht gegeben zu sein. Eine sicher wirksame göttliche Lenkung erscheint als nicht unbedingt nötig. Neben dem Problem der Zuordnung der überzeitlichen Individuen zu geeigneten geschichtlichen Realisierungsbedingungen kommt Fichtes Konzept außerdem dadurch in Schwierigkeiten, dass es die Freiheit des Individuums, vermittels dessen Berufung die Lenkung erfolgen soll, außer Kraft setzen muss. 289 Dies erscheint innerhalb seines Ansatzes für ein endliches Wesen, dessen Freiheit gegenüber dem eigenen Grundstreben aus der Begrenzung unausweichlich folgt 290, als nicht möglich. Möchte man die beschriebene Spannung zwischen ursprünglicher Bestimmung und geschichtlicher Realisierungsmöglichkeit 287 Vgl. GGZ298–300. Dieselbe Theorie findet sich in der Staatslehre von 1813 (St90–93). Da für Fichte die Erhebung zur Sittlichkeit eine Art Erziehung durch bereits sittliche Menschen zur Bedingung hat, braucht es solche ersten unmittelbar sittlichen Menschen. Deshalb ist es seiner Auffassung nach vermittels von ursprünglichen individuellen Willensbestimmungen zu einem sittlichen Urvolk gekommen, das als Vorbild wirkte und das noch weiterwirkt durch einen durch sie gestifteten Glauben, in welchem sich auch die Menschen, die sich noch nicht zur klaren Einsicht erhoben haben, zu Sittlichkeit bestimmen können. 288 Vgl. oben, Anm. 131. 289 Vgl. GGZ299: Das Urvolk müsse »rein vernünftig gewesen seyn, ohne alle Anstrengung oder Freiheit«. In der Staatslehre von 1813 unterscheidet Fichte zu diesem Zweck ausdrücklich zwischen einer Berufung an einige in der Form, dass sie ohne Freiheit von ihr ergriffen werden, und der gewöhnlichen Form, die nur durch Freiheit realisiert werden kann (St92 f. u. 103 f.). 290 Vgl. dazu oben, S. 152 f., bes. Anm. 112 u. S. 212, bes. Anm. 192.

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überwinden, dann wäre eine einfache Lösung, das Konzept einer zeitunabhängigen Berufung überhaupt fallen zu lassen und es so zu denken, dass die Berufungsgestalt sich erst aus dem ergibt, was geschichtlich geworden ist. Es gibt Hinweise, dass Fichte selbst zeitweilig diese Option favorisiert hat 291, obwohl er sich sonst, wie dies von der Erlanger Wissenschaftslehre her deutlich wurde, für eine notwendige Verknüpfung der Individuenspaltung mit einer qualitativen Unterscheidung ausgesprochen hat. Wie auch immer Fichte jedoch die Entstehung der Berufung denkt, ob in der einen oder in der anderen Form, so wird an seiner Auseinandersetzung mit dieser Thematik deutlich, dass dem, was leiblich an natürlichen Anlagen da ist, eine ganz wesentliche Rolle darin zukommt, die eigene Berufung zu erkennen und sie zu leben. 1.3.2.1.6 Die Veränderungen im Leibbegriff Um den Ertrag der Untersuchung dieses Kapitels zusammenzufassen: Inwiefern hat sich der Leibbegriff verändert? Neben den gleich bleibenden Elementen in der Leibform, die eingangs festgehalten wurden, ergaben sich Veränderungen auf der Ebene der ursprünglichen Konstitution der leiblichen begrenzten Tätigkeit. Es handelt sich dabei nicht um einfache Veränderungen, sondern um Weiterentwicklungen, die schon vorher Anvisiertes einlösen. So wurde es gegenüber dem früheren Konzept, das es noch nicht erlaubte, den Realitätsstatus der Natur außerhalb der Vernunftwesen zu klären, nun möglich, diese als Moment des einen Daseins in ihrer spezifischen Lebendigkeit herauszuarbeiten. Wenn in der frühen Zeit der Leib schon Feld der gemeinsamen Weltwahrnehmung, der Kommunikation und des Aufeinanderwirkens sein sollte, wurde er als realer interpersonaler Kontaktpunkt erst im späteren Modell mit seinem Konzept einer inneren Verbundenheit der Individuen auf der leiblichen Ebene erwiesen. Das So spricht Fichte in den späten Tatsachen des Bewusstseins auffälligerweise nicht von einer ursprünglichen Bestimmtheit des individuellen Lebens. Die konkrete Perspektive, die jeder auf die Idee hat, erklärt er hier daraus, wie jeder geschichtlich verortet ist (TdB120). Auch zur Zeit der Anweisung scheint es für Fichte nicht ausgemacht zu sein, wie ursprünglich bestimmt der individuelle Anteil am göttlichen Sein ist, denn in der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten lässt er es noch dahingestellt, ob man von einer angeborenen Prägung des Individuums auf die Idee in einer bestimmten Form hin ausgeht oder aber annimmt, dass diese erst geschichtlich entsteht (G81 f.). In der Anweisung selbst gibt er sich freilich in dieser Frage entschieden.

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spätere Modell klärt, wie es zu einer gemeinsamen Weltwahrnehmung kommt und wie dabei eine wirkliche freie Beeinflussung der Welt und somit eine freie Kommunikation möglich ist. Dass demzufolge nicht mehr alles geschichtlich Begegnende als so von Gott vorgegeben betrachtet werden muss, ist als ein wichtiger religionsphilosophischer Fortschritt anzusehen. Auch sonst traten neben den Veränderungen im Leibbegriff verschiedene, für die Frage nach der sittlichen und religiösen Bedeutung des Leibes wichtige Weiterentwicklungen hervor. So konnte es gewürdigt werden, wie Fichte innerhalb des späten Konzepts eine teleologische Lenkung der Naturentwicklung denken kann, die grundsätzlich verständlich macht, wie sich Gott durch das Sittengesetz als göttliche Weltordnung realisiert, auch wenn bezüglich der Frage nach der Möglichkeit einer Herausbildung spezieller, zu einer bestimmten individuellen Berufung passender Handlungsmöglichkeiten Probleme auftauchten. Bedeutsam ist auch, dass die leibliche Bestimmtheit sich nun aus einer Qualität des göttlichen Lebens selbst erklärt, diese zur Erscheinung bringt und es somit zu einer Aufwertung der ganz konkreten Bestimmtheiten der Welt kommt. Außerdem ergab sich im späteren Modell mit dem einen, sich ausdifferenzierenden Dasein die Möglichkeit, naturmystische Erfahrungen zu erklären und ihnen eine Bedeutung im religiösen Leben zu geben. 1.3.2.1.7 Methodenreflexion Auch wenn Fichte in den dargestellten Überlegungen noch einmal stärker als sonst in einen Bereich vordringt, der dem Bewusstsein nicht unmittelbar einsehbar ist, so bleibt er der Methode der transzendentalen Reflexion treu. Alle Annahmen werden vermittels einer Reflexion auf notwendige Bedingungen begründet. Dabei versucht Fichte – wie dies schon für die Erlanger Wissenschaftslehre gezeigt wurde – möglichst nicht nur äußerlich zu argumentieren, sondern innerlich in die Genese einzusteigen. Dass für ihn ein innerlicher Mitvollzug selbst in den ursprünglichsten Konstitutionsprozessen der individuellen Subjektivität stattfinden muss und dass sich daraus das Konzept einer innerlichen Allverbundenheit ergibt – auf den ersten Blick recht geheimnisvoll anmutende Resultate –, erklärt sich freilich nicht nur aus dem wachen reflexiven Bewusstsein für die konstitutive Bedeutung der geistigen Tätigkeit, sondern letztlich aus der spezifischen Weise, wie er seine transzendentale Rückfrage in die Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Richtung einer allgemeinen Vernunfttätigkeit führt und diese vom Absoluten her als Einheitsvollzug bestimmt.

1.3.2.2 Die veränderte Bedeutung des Leibes auf dem Standpunkt der höheren Moralität Bei der Klärung der Frage, inwiefern sich der Leibbegriff weiterentwickelt hat, ist der Leib bereits verschiedentlich in seinen Bezügen zum Absoluten sowie zum sittlichen Leben in den Blick gekommen. Diese sind nun noch einmal ausdrücklich zu betrachten. Dabei ist zu klären, inwieweit Fichtes Auffassungen aus der Zeit der frühen Sittenlehre für ihn ihre Geltung auch in der Zeit der Anweisung behalten und welche Entwicklungen zu beobachten sind. Während Fichte in der Phase der frühen Sittenlehre Religion und Sittlichkeit mehr oder weniger auf einer Ebene sieht, ordnet er in der Anweisung die Religion der Sittlichkeit als eine entwickeltere Weltansicht über. In ihr bekommt die Leiblichkeit entsprechend noch einmal eine andere Bedeutung. Deshalb sollen im Folgenden die Ebene der Moralität und die Ebene der Religion nacheinander behandelt werden. Zuerst gilt es die Veränderungen im Verständnis von Sittlichkeit im Vergleich zur frühen Zeit und von daher die Veränderungen der Bedeutung des Leibes zu untersuchen. In der Anweisung versteht Fichte Sittlichkeit als die Verwirklichung des individuell bestimmten Anteils am göttlichen Leben (A159–162) – entsprechend dem Konzept von individuellen Berufungen, wie es oben dargestellt wurde. Das eigentliche Verständnis von Moralität situiert er auf dem dritten Standpunkt der fünf Weltansichten. Die Charakterisierung geschieht vor allem über Unterscheidungsmerkmale in Bezug auf den Begriff von Sittlichkeit auf der Stufe darunter (A109 u. 148 f.). In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass er diese niedere Ansicht der Moralität in der frühen Sittenlehre dargestellt hat (A108). Lässt sich anhand dieser Unterscheidungen die Entwicklung seit der frühen Sittenlehre fassen? Man muss hier vorsichtig sein. Fichte sagt nicht, dass er in ihr nur diesen niederen Standpunkt behandelt hat und nichts darüber Hinausgehendes. 292 Verschiedene Gründe sprechen dagegen, sie auf die292 Vgl. A109. Fichte sagt sogar, er habe diese Weltsicht »niemals […] als die höchste« (A108) dargestellt.

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se beschränkte Sicht einzugrenzen. 293 Andererseits reicht sie aber auch noch nicht in allem an den höheren Standpunkt heran. An zwei Punkten soll dies im Folgenden deutlich gemacht werden. Bei ihnen scheinen die Unterscheidungsmerkmale, mit denen Fichte den Standpunkt der von ihm so genannten höheren Moralität in Abgrenzung zur niederen charakterisiert, geeignet, auch die Weiterentwicklung seit der frühen Sittenlehre zu fassen. Bei beiden erfolgt ebenso eine Verschiebung für die Bedeutung des Leibes. Die konkrete Bestimmtheit des Leibes und die Qualität des göttlichen Lebens Da Fichte im späteren Konzept, wie dargestellt, das Ziel des Menschen als ein ursprünglich qualitativ bestimmtes Leben fasst 294, kann er auch Sittlichkeit weiter verstehen und sie nicht nur als Befolgung des Gesetzes begreifen, das auf die Achtung und die Förderung der Freiheit und der Moralität zielt. Sie besteht primär in der Verwirklichung der individuellen Aufgabe als dem persönlichen Anteil am göttlichen Leben. Diese ist der eigentliche und letzte Zweck (S159– 162). Sittlichkeit wird dabei als Verwirklichung einer selbstzwecklichen, um ihrer selbst willen als wertvoll und anstrebenswert emp293 So klingt im Ausspruch, dass »das Ganze der vernünftigen Wesen, die Gemeine der Heiligen«, die »Darstellung des reinen Ich«, der Vernunft oder des in sich stehenden und sich selbst anzielenden Sittengesetzes ist (S229 f.), welches zudem mit dem göttlichen Leben identifiziert wird (S231), bereits die Ableitungsleiter der späteren höheren Moralität an (A109 f.). Auch steht die Grundauffassung der Freiheit als der ursprünglichen reinen Tätigkeit (vgl. oben, S. 130 f.), als eines ursprünglichen sittlichen Wollens oder eines Triebes (vgl. oben, S. 142 f.), der nicht einseitig subjektiv auf die individuelle Selbständigkeit, sondern auf die Selbständigkeit der Ichheit oder der Vernunft zielt (S209), dem dritten Standpunkt näher. Sie geht hinaus über die Sicht des zweiten Standpunktes, auf dem noch einer Wahlfreiheit die Priorität gegeben wird, die den sittlichen Willen erst in einem freien Entschluss hervorbringen muss (A148 f.; dazu, wie die frühe Sittenlehre an den dritten Standpunkt aber auch nicht heranreicht, vgl. unten, S. 278–281). Der für den Übergang zur höheren Moralität charakteristische Schritt, nicht die leere Freiheit, sondern eine bestimmte Tätigkeit zum sittlichen Ziel zu machen, wird zumindest intendiert (vgl. unten, S. 273 f.). Die Charakterisierung des zweiten Standpunkts, wie sie sich von der Erlanger Wissenschaftslehre her ergeben hat, dass auf ihm eine Einsicht in die sowohl das Subjektive als auch das Objektive begründende Tätigkeit noch nicht erreicht ist und es so immer bei einer Abhängigkeit vom objektiven Sein bleibt, auch noch im Versuch, sich davon zu lösen (vgl. oben, S. 59–61), trifft die Sittenlehre mit ihrem Konzept von der alles fundierenden Tätigkeit des Urtriebes nicht. 294 Vgl. dazu oben, S. 228–232.

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fundenen, bestimmten Tätigkeit verstanden. 295 Das moralische, auf Freiheit verpflichtende Gesetz besitzt nur noch eine sekundäre Bedeutung als notwendige Eigenschaft dieser bestimmten Berufung – und entsprechend als Kriterium dafür, ob man wirklich die eigentliche Berufung gefunden hat –, aber nicht mehr als Hauptzweck. 296 Die individuelle sittliche Bestimmung wird so gedacht, dass sie als Teil des auf das Gesamte gerichteten Endzwecks eine Ausrichtung auf die Achtung und Beförderung der Freiheit und Moralität aller impliziert 297, sich darin aber nicht erschöpft. Wie das möglich ist und was damit konkret gemeint ist, können die Beispiele Fichtes für diese Bestimmung verdeutlichen. So leuchtet etwa ein, dass eine Berufung zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit in sich eine Ausrichtung auf den sittlichen Fortschritt der Menschen besitzen kann; ebenso ein Wirken als Künstler. Zugleich ist für Fichte jede Berufung als etwas zu verstehen, was das Absolute in einer konkreten Gestalt oder einem Aspekt darstellt. Zu jeder von ihnen ist es gekommen durch eine Teilung des einen, Gott zur Erscheinung bringenden Daseins. Die Erscheinung in ihrer individuellen Konkretion ist unableitbar. Es lassen sich für Fichte jedoch bestimmte Formen von Bestimmungen unterteilen. Die Gesamtgestalt in ihrer Vollendung, oder die Gesamtaufgabe, nennt er die göttliche Idee. 298 An sich ist sie eine Einheit. Da sie jedoch die Vernunftwesen als Gegenstand hat, auf eine bestimmte Gestalt des Menschengeschlechts zielt und dieses von verschiedenenartigen Differenzen gekennzeichnet ist, ist es für ihn möglich, »die göttliche 295 Vgl. A155: Das göttliche Leben ist, »so wie es ist, nicht durch irgend ein Anderes, und um irgend eines Anderen willen, sondern durch sich selbst, und um sein selbst willen: und wenn es eintritt und geliebt wird, wird es nothwendig, rein und lediglich um sein selbst willen, geliebt, und gefällt durch sich selbst, keinesweges aber um eines anderen willen, und so nur als Mittel für dieses andre, als seinen Zweck«. 296 Vgl. die Ableitungsleiter des dritten Standpunktes in A109. 297 Vgl. A170–173. Auch in der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten hebt Fichte hervor, dass die göttliche Idee – und deshalb ebenso der individuelle Anteil an ihrer Verwirklichung – »nicht ein individueller Zierrath« ist. Sie »strebt auszuströmen in das ganze Menschengeschlecht, dieses neu zu beleben, und nach sich umzubilden«. Dies ist entsprechend Beurteilungskriterium: »[W]as ohne diesen Charakter ist, ist nicht die Idee« (G84). 298 In der Anweisung erwähnt Fichte nur kurz die verschiedenen Gestalten der einen göttlichen Idee (A156) und verweist für seinen Ideenbegriff auf die anderen populären Schriften dieser Zeit. In der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten bestimmt er die Idee als im Gesetz des Daseins liegenden Plan Gottes für die Welt (G76). Es handelt sich um das, was oben thematisiert wurde als die Gesamtaufgabe oder der Endzweck in der Fülle seiner in der Zeit durch die Vernunftwesen zu entfaltenden Bestimmtheit.

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Idee in Absicht ihres Wirkungskreises einzutheilen, oder, die Eine an sich untheilbare Idee als mehrere Ideen zu denken« (G77). Die Wirkungskreise, die er benennt, entsprechen den fünf Dimensionen des Daseins, aus denen sich auch die fünf Weltansichten erklären. So erscheint die göttliche Idee etwa in Bezug auf das sinnliche, naturhafte Dasein als Naturbeherrschung oder auch als Kunst und in Bezug auf die Gesellschaft als Gesetzgebung oder Regierung. Dass Fichte solche Wirkungskreise angibt, zeigt, dass für ihn die Bestimmung der unableitbaren Berufungen, die sich zunächst nur aus der Notwendigkeit einer qualitativen Unterschiedenheit bei jeder Unterscheidung ergeben, nicht völlig unabhängig von den ableitbaren Unterteilungen der Form geschieht, zu welchen auch die fünf Standpunkte gehören. Zudem wird daran noch einmal deutlich, dass die Berufungen für Fichte in einem sinnvollen Zusammenhang untereinander stehen. Durch die fünf Wirkungskreise ergibt sich freilich nur ein grobes Raster, das eine Ahnung davon gibt, welche Arten von Berufung möglich sind. Welche genau an den Einzelnen gerichtet ist und welche konkretere Bestimmung diese hat, kann nicht abgeleitet, sondern nur empirisch durch jeden selbst erfahren und den Anderen vorgelebt werden (A155 f. u. G77). Diese Konsequenz von Fichtes unterscheidungslogischen Überlegungen wirkt zunächst rätselhaft, man kann ihr m. E. jedoch eine gewisse phänomenologische Plausibilität zugestehen. Es erscheint als möglich, jeden Menschen mit einem unverwechselbaren geistigen Charakter zu erleben, den man zwar durch eine bestimmte Ähnlichkeit zu anderen oder zu einem Typus kennzeichnen kann, der aber letztlich nicht beschreibbar, sondern nur erfahrbar ist. Man kann in diesem Charakter unmittelbar das verankert sehen, was zu leben die zentrale Lebensaufgabe eines Menschen ist. Auch erscheint es nachvollziehbar, in ihm zugleich die Manifestation eines Aspekts aus einer qualitativen Fülle Gottes zu sehen, die ein einzelner Mensch allein nicht ausdrücken kann. Schon in der frühen Sittenlehre geht Fichte den Schritt, den sittlichen Trieb nicht nur im reinen Trieb, der allein die leere Freiheit anzielt, zu verorten, sondern in einer Verbindung zwischen ihm und einer konkreten Bestimmtheit. 299 Dies ergibt sich aus dem Erfordernis, dass der Mensch nur handeln kann vermittels des Naturtriebes. Die konkrete Bestimmtheit wird also zuerst einmal vom Naturtrieb her gedacht. Sie soll zwar ursprünglich im Urtrieb liegen. Auch 299

Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 176–179.

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möchte Fichte die ursprünglichen Begrenzungen nicht bloß natürlich, sondern sittlich, als die individuelle Gesamtaufgabe des Menschen verstehen. Das Gewissen wird so gedacht, dass es nicht auf die leere Freiheit, sondern auf eine bestimmte Tätigkeit zielt. Aber vergleicht man dies mit dem späteren Konzept, wird deutlich, dass die Bestimmtheit eigentlich nur sekundär wegen des handlungstheoretischen Erfordernisses in den Urtrieb hineinpostuliert und der konkreten Qualität des Lebens kein ursprünglicher Platz im vollendeten Leben gegeben wird. Es wird noch kein Unterscheid gemacht zwischen einem sittlichen Leben, das nur die Form der höheren Moralität, und einem, das auch ihren Inhalt realisiert. Es wird kein Begriff einer ursprünglichen Qualität der Tätigkeit des Individuums oder gar Gottes entwickelt. Dies wird besonders daran deutlich, dass das eigentliche Ziel eine reine, nicht eine bestimmte Tätigkeit bleibt. Die Begrenzungen des Naturtriebes werden als bleibendes Hindernis dafür angesehen, am eigentlichen Ziel anzukommen. 300 Erst im späteren Modell, durch die nähere Erhellung der Herkunft der Begrenzungen, kommt Fichte zur Ansicht, dass das sittliche Leben ursprünglich qualitativ ist, und erst hier können die sinnlichen Bestimmtheiten in ihrer Rolle als Ausprägungen eines Wie, einer Qualität, des göttlichen Lebens selbst in den Blick kommen. Die Intention der frühen Sittenlehre, die notwendige Begrenztheit in die sittliche Tätigkeit zu integrieren, findet erst hier ein geeignetes Konzept. Dadurch dass das Ziel, wie es die frühe Sittenlehre bestimmt, Achtung und Beförderung von Freiheit und Moralität, als formale Eigenschaft und integraler Bestandteil von Sittlichkeit bestehen bleibt, behalten auch die Funktionen des Leibes, wie sie dort beschrieben werden, ihre Bedeutung. Dies gilt umso mehr, als schon dort Sittlichkeit nicht als reine, sondern als bestimmte Tätigkeit in der Welt aufgefasst wird. Eine Veränderung tritt jedoch dadurch ein, dass die Bestimmtheit – und zwar nicht nur auf der Ebene der ursprünglichen individuellen Berufung, sondern auch auf der Ebene des Sinnlichen – nun selbst nicht nur als Begrenzung der reinen Selbsttätigkeit aufgefasst wird, sondern als Ausprägung der Qualität des ursprünglichen göttlichen Lebens, das gerade in dieser Bestimmtheit Ziel ist. 301 Zwar muss sich, wie oben schon herausgearbeitet wurde, die Bestimmtheit auf der Ebene der sinnlichen Welt in einer unendlichen 300 301

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Vgl. oben, S. 189 f. Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 238–241.

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Bewegung wandeln, um das lebendige göttliche Leben auslegen zu können. Gerade in diesem Wandel kann es jedoch erscheinen. Dabei ist die leibliche Ebene zwar nicht schon für sich allein Ausdruck des göttlichen Lebens. Dieses realisiert sich nur in einer Vernunfttätigkeit. Und zu ihr kann es nur frei und bewusst kommen, nicht natürlich. Ihr geht es aber idealerweise nicht nur darum, die bestimmte Tätigkeit, die der Naturtrieb vorgibt, mit sittlicher Gesinnung zur Verwirklichung zu bringen. Damit würde nur die Form der höheren Moralität – die Rechtschaffenheit – im Sinnlichen zur Erscheinung gebracht. 302 Sondern es geht ihr auch um das Materiale. Die inhaltliche Qualität, auf die sie zielt, ist zwar nicht einfach die des Leiblichen, sondern die geistige Gestalt der individuellen Berufung. Und diese erscheint in der Sphäre des Leiblichen als etwas ganz Neues, als Qualität einer übersinnlichen Welt, die allein faktisch nicht da sein kann. 303 Hervorgebracht werden muss sie jedoch im Leiblichen und vermittels der konkreten Bestimmtheit der leiblichen Triebe, deren Qualität als Konkretisierung der Qualität der individuellen Berufung verstanden werden muss. Natürliche Antriebe zu einem ethischen Leben Die Entsprechung von übersinnlicher Qualität und sinnlicher Bestimmtheit bedeutet konkret, dass der Leib geeignete Realisierungsmöglichkeiten für die individuelle Berufung bietet. Mit der Neuakzentuierung von Sittlichkeit auf das Leben von bestimmten Berufungen verändert sich auch die Sicht auf die Produktion dieser Realisierungsmöglichkeiten durch die Natur. Wie dies bereits herausgearbeitet wurde, geht Fichte in der Anweisung davon aus, dass sich die individuelle Bestimmung idealerweise in auf sie passenden natürlichen Anlagen und Antrieben manifestiert. Sie »tritt, als bloße Naturerscheinung, heraus, als Ta l e n t , für Kunst, für Regierung, für Wissenschaft u. s. w.« (A157). In ihrer inhaltlichen Entsprechung zielen die Triebe des Talents für Fichte selbst in die Richtung des sitt302 Vgl. etwa A113 f., wo Fichte zwischen der Verwirklichung der höheren Moralität in ihrer vollen Inhaltlichkeit und der Verwirklichung lediglich in ihrer Form unterscheidet. Diese findet dann statt, wenn jemand nicht die Idee in einer ihrer Gestalten erkennt und anzielt, sondern sich nur um die natürlichen Bedürfnisse in einer sittlichen Weise sorgt, etwa in einer einfachen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Tätigkeit. 303 Vgl. A154 f., 109 u. G77.

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lichen Zwecks. Dieser kann und muss somit realisiert werden, indem man sich dem Trieb überlässt. Dies geschieht mit der inneren Ausrichtung auf den sittlichen Zweck und in aller Freiheit gegenüber einem bloßen äußeren Getriebenwerden, aber doch so, dass man sich ergreifen lässt vom Naturtrieb, in dem sich die höhere Bestimmung manifestiert. Mit dem so beschriebenen Verhältnis von Natur und Sittlichkeit fallen diese Naturanlagen für die individuelle Bestimmung in dieselbe Kategorie wie in der frühen Sittenlehre die erotischen, mütterlichen und überhaupt die sympathetischen Antriebe, indem diese als sich über die Selbstbezogenheit des Individuums hinaus auf den Anderen und insofern ebenfalls auf den sittlichen Zweck beziehend bestimmt wurden. 304 Was von da aus über die Bedeutung des Leiblichen für Sittlichkeit gesagt wurde, behält seine Bedeutung im späteren Modell. Die Entstehung dieser Antriebe hat Fichte dort auf zwei Weisen gedacht: so, dass die materiale Ausrichtung auf den sittlichen Zweck rein natürlich vermittels des organisierenden Bildungstriebes, oder aber so, dass sie erst durch eine sittliche Haltung geschieht. Im späteren Konzept geht Fichte, wie dies bereits herausgearbeitet wurde, davon aus, dass die Naturbildung selbst vom sittlichen Zweck gelenkt ist, um geeignete Antriebe hervorzubringen. 305 Dies gilt für die speziellen, zu einer individuellen Berufung passenden Antriebe sowie für die allgemeineren sympathetischen Triebe, die Fichte in den Grundzügen auf den Vernunftinstinkt zurückführt und die man als integralen Bestandteil von individuellen Berufungen verstehen kann. 306 Dies entspricht zunächst der ersten in der frühen Sittenlehre beschriebenen Weise der Entstehung. Nur wird diese jetzt nicht allein aus dem allgemeinen Zusammenhang der Triebe im Organismus erklärt und auf einen vorausgesetzten Bildungstrieb zurückgeführt, dessen Verhältnis zum sittlichen Zweck nur über eine Vgl. oben, S. 180–182. Vgl. oben, S. 256–268. 306 Es leuchtet zum einen von der Sache her ein, eine Ausrichtung auf Partnerschaft und Familie oder auch die Weise, wie jemand Sympathie zu bestimmten anderen Menschen empfindet, als Teil seiner individuellen Berufung zu verstehen, zumal höhere Moralität wesentlich auf Gemeinschaftlichkeit angelegt ist. Zum anderen thematisiert Fichte selbst in späteren Schriften die natürlichen Antriebe zur Familienbildung als Ausprägungen der höheren Bestimmungen der Menschen. In der späten Staatslehre von 1813 sieht er diese Bestimmungen, mit denen hier eine göttliche Lenkung des Menschengeschlechts auf Sittlichkeit hin gedacht werden soll, konkretisiert in den sexuellen oder erotischen Antrieben (St473–482) und in der mütterlichen Liebe (St482). 304 305

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unerklärliche göttliche Weltordnung hergestellt werden kann, sondern unmittelbar durch das eine sittliche im Dasein wirksame Gesetz. Ein Unterschied zum frühen Konzept liegt daneben auch darin, dass nun deutlich die sittliche Berufung als Trieb herausgearbeitet wird, der das Subjekt ergreifen möchte und der bereits auf eine instinktive Weise wirksam ist. Von daher kommt es zum in der frühen Sittenlehre beschriebenen zweiten Schritt der Verwandlung des bloß natürlichen altruistischen Triebes in ein sogenanntes Herzensbedürfnis – und damit auch zur ihm entsprechenden zweiten dort behandelten Entstehungsweise von sympathetischen Trieben – nicht nur, wenn das Subjekt eine sittliche Haltung einnimmt, sondern unabhängig von einer freien Setzung. Der Vernunftinstinkt in seiner die Naturorganisation unbewusst lenkenden Form verbindet sich mit dem Vernunftinstinkt in seiner das Individuum vermittels eines Gefühls ergreifenden Form. Ein weiterer Unterschied zur Zeit der frühen Sittenlehre liegt darin, dass mit dieser Kategorie von Trieben nun nicht nur soziale Antriebe im engeren Sinne, sondern auch solche, wie sie sich etwa in einer künstlerischen Begabung manifestieren, gedeutet werden. Dadurch bekommt diese Form der Integration von Natur und Vernunft eine viel breitere Bedeutung für das sittliche Leben. Auch im späteren Konzept geht Fichte freilich nicht davon aus, dass alle Triebe derart in eine Vernunftausrichtung integriert sind. Zugleich besteht hier für ihn weiter die Aufgabe der Bildung der Naturtriebe. Da sich das sittliche Leben nur verwirklichen kann vermittels der Sphäre der Naturtriebe und sie von daher in jedem Fall den konkreten Gehalt des Gesollten bestimmen, muss sich diese Bildung an den faktischen Trieben orientieren. In seinen Aphorismen über Erziehung von 1804 grenzt Fichte deutlich die wahrhafte Erziehung, die den Menschen dahin bringen soll, »sich zum volkommnen Meister und Selbstbeherrscher seiner gesammten Kraft zu machen«, gegen eine »Dreßierung« ab, die ihn zu etwas machen möchte, was er von seiner Naturanlage her gar nicht ist. Denn es komme in der Erziehung »nicht darauf an was wir gelernt haben, und wozu wir erzogen seyen, sondern was man sey« (AE12). Zur Erziehung gehört für Fichte zum einen die Bildung der geistigen Fertigkeiten. Sie sind als zumindest durch die leibliche Triebstruktur bedingt anzusehen. Zum anderen macht er auf die Bedeutung der Ausbildung der leiblichen Fertigkeiten im engeren Sinn aufmerksam, denn der »Körper ist so gut Ausdruck der gesammten menschlichen Kraft, als es der Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Geist ist« (AE20). Sie soll mit dem Ziel erfolgen, dass der Mensch sich frei seines Leibes bedienen kann. Entsprechungen zwischen der Vollzugsform der Leiblichkeit und der Form des Lebens der höheren Moralität Noch ein zweites Unterscheidungsmerkmal zwischen höherer und niederer Moralität, und zwar bezogen nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form des sittlichen Lebens, ist geeignet, eine Weiterentwicklung zu beschreiben. Es ist schon verschiedentlich berührt worden. Das sittliche Ziel erscheint weniger als eine Forderung an meine Freiheit, sondern vielmehr als mein ursprüngliches bestimmtes Wollen, als das, was ich liebe, als das, wozu es mich treibt. 307 Ich habe nicht die Perspektive, dass ich es frei wählen und durch einen Entschluss erst hervorbringen muss, sondern ich finde es in mir und lasse mich selbstverständlich davon ergreifen. Die Wahlfreiheit gebe ich auf und es kommt mir gar nicht mehr ins Bewusstsein, dass ich auch nicht in der Weise wollen könnte. Denn nicht die Wahlfreiheit – die freilich faktisch immer weiter besteht und integraler Bestandteil des Lebens ist 308 –, sondern die Selbständigkeit meines ursprünglichen Wollens betrachte ich als die eigentliche Form von Freiheit. 307 Vgl. dazu und für das Folgende A147–150. In der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten führt Fichte vor allem dieses Charakteristikum zur Unterscheidung von niederer und höherer Moralität an (G63 f. u. 98). Es werden von ihm hier deshalb keine Imperative aufgestellt, sondern Ideale beschrieben, die einen Willen, der in uns schon vorhanden ist, wecken können. Vgl. dazu auch DW354: Da wir selbst ein ursprünglich bestimmtes sittliches Wollen sind, ist für das sittliche Leben »in keinem Falle Imperatif die Urgestalt, sondern es ist selber Wille, Lust, u. Liebe«. 308 Dagegen scheinen Aussagen in der Anweisung zu sprechen, nach denen die Wahlfreiheit in ihrem Sein aufhört und verschwindet (vgl. v. a. A146). Vom systematischen Zusammenhang her sind sie aber als missverständliche Formulierungen zu betrachten. Freiheit wird nicht als bloßer Schein angesehen, sondern ist real (A145). Auch geht es Fichte nicht um ein passives Verschwinden der Wahlfreiheit, sondern darum, dass sie sich frei aufgibt. Dies ist nicht anders denkbar, als dass sie dabei als integraler Bestandteil erhalten bleibt. In späteren Schriften sagt Fichte ganz ausdrücklich, dass das Freiheitsvermögen auch nach der sich selbst aufgebenden Entscheidung zum ursprünglichen sittlichen Wollen bestehen bleibt und damit auch die Möglichkeit des Zurückfallens auf niedere Standpunkte (TB123 f.). Mit der vereinzelten Rede vom Verschwinden der Freiheit meint Fichte also nur – und davon spricht er vornehmlich – ein Zurücktreten aus dem Bewusstsein: Die Möglichkeit, meiner Bestimmung nicht zu entsprechen, soll idealerweise gar nicht mehr in Betracht kommen. Wenn für Fichte daraus folgt, dass die freie Wahl generell aus dem Blick kommt, setzt dies voraus,

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Zwar hat Fichte auch in der frühen Sittenlehre diesen tieferen Freiheitsbegriff. Das eigentliche Ziel des Sittengesetzes ist nicht die individuelle Wahlfreiheit und Selbständigkeit, sondern die Selbständigkeit der Vernunft (S209). Dass die Wahlfreiheit aber aufzugeben ist – so weit geht Fichte noch nicht. Er stellt zwar heraus, dass man sein individuelles, empirisches Ich lediglich als Mittel betrachten und gar nicht direkt intendieren, sondern möglichst selbstvergessen handeln soll (S230 f.). Dass diese Selbstvergessenheit sich aber idealerweise auch auf die Möglichkeit der freien Entscheidung bezieht, sagt er nicht ausdrücklich. So kann man zwar einerseits die frühe Sittenlehre nicht einfach auf die spätere zweite Stufe einordnen, andererseits kann man sie genauso nicht mit der dritten identifizieren, denn die Relativierung des freien Entscheidens und Machens wird noch nicht vorgenommen. Dies war Fichte vermutlich auch noch nicht möglich. Denn das höhere Konzept, von dem her diese Relativierung geschehen kann: Sittlichkeit als unwillkürliches Ergriffensein von meinem individuell bestimmten göttlichen Leben und von der Liebe dieses Lebens, ist noch nicht deutlich entfaltet. Es fällt beim frühen Fichte eine Zurückhaltung auf, die ursprüngliche Lebendigkeit und die Tendenz des Ich überhaupt als Trieb zu bezeichnen (S136 f.). Er begründet die Zurückhaltung damit, dass diese Tendenz nur auf eine reine Tätigkeit ziele. Für ihn ist sie nicht wie im späteren Konzept schon ursprünglich bestimmt. Ohne ein bestimmtes Leben und ohne eine Begrenzung könne es nicht zu einem Triebgefühl kommen, sondern nur zu einer affektionslosen Forderung. 309 Daneben dürfte Fichtes Zurückhaltung auch damit zusammenhängen, dass zur Zeit der frühen Sittenlehre noch nicht ausreichend geklärt ist, ob und in welcher Weise die intelligible Ebene als wirkliches Sein verstanden werden kann. 310 Im späteren Modell kann er die Sittlichkeit von einem dass für ihn dann, wenn man sich für den eigenen Grundwillen entschieden hat, in jedem Moment klar ist, in welchen konkreten Handlungen sich die fraglose Entschiedenheit zum Guten realisieren soll. In anderen Zusammenhängen sieht Fichte dies realistischer (vgl. dazu oben, S. 260–262). Entsprechend müsste dann auch dem Bewusstsein der freien Wahl ein größerer Raum im sittlichen Leben gelassen werden – nicht in Bezug darauf, ob man überhaupt sittlich sein möchte, sondern in Bezug auf dessen Realisierung in konkreten Handlungen. 309 Vgl. S136–138. Die affektiven Momente, die Fichte in diesem Zusammenhang thematisiert, sind nur die auf die Erfüllung oder Nichterfüllung nachfolgenden Gefühle der Billigung oder Missbilligung, nicht vorhergehende Gefühle des Strebens. 310 Es fällt auf, dass Fichte den Seinsbegriff zu dieser Zeit lediglich für die objektive Erscheinungswelt (V45 f.), nicht aber für die geistige Tätigkeit verwenden möchte, sei Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Affekt und von einem Streben ausgehen lassen, weil er das ursprüngliche Ziel als ein bestimmtes und wirkliches Sein versteht. Die Form des sittlichen Lebens hängt also eng zusammen mit der Weiterentwicklung des Verständnisses des Inhalts. es die vom Menschen oder auch von Gott (V46 f.), während er ihn später ganz unbefangen dafür gebraucht. Das kann zu einem Teil eine sprachliche Verschiebung sein, ist es aber nicht nur. Zwar möchte Fichte schon in der frühen Zeit die eigentliche Wirklichkeit im Geistigen verorten – in Abgrenzung zur scheinbaren Wirklichkeit der empirischen Erscheinungswelt (vgl. V45: Das Handeln ist das, »worin einzig unser wahres Seyn besteht«; vgl. auch Ap440). Zugleich wird aber das Intelligible kantisch als bloßes Noumenon – verstanden als notwendig vorauszusetzendes, aber zunächst bloß gedachtes Sein – behandelt (vgl. GA III,4 404 f. u. vgl. dazu WH242 f.). Dies geschieht seltsamerweise trotz der Annahme einer intellektuellen Anschauung. In der frühen Sittenlehre erklärt Fichte, wie sich dies aus seinem transzendentalphilosophischen Ansatz ergibt: »Von einem Seyn, als Seyn an sich, ist gar nicht die Rede, und kann nie die Rede seyn; denn die Vernunft kann nicht aus ihr selbst herausgehen. Es giebt kein Seyn für die Intelligenz, und da es nur für sie ein Seyn giebt, es giebt überhaupt kein Seyn, ausser einem nothwendigen Bewußtseyn.« (S36) Als real wird für Fichte etwas bezeichnet, wenn »es sich uns mit unmittelbarer Nothwendigkeit aufdringt« (S36; vgl. auch S114: »Realität wird bestimmt durch einen Zwang der Reflexion«). Nur dadurch wird das freie Vorstellen vom Wahrnehmen unterschieden. Entsprechend kann für Fichte nur ein empirisches Wollen ein wirkliches Wollen sein, nicht aber das rein Intelligible, das reine Wollen, das nur erschlossen wird. »Ein reiner Wille ist kein wirklicher Wille, sondern eine bloße Idee; ein absolutes aus der intelligiblen Welt, das nur als Erklärungsgrund eines Empirischen gedacht wird.« (S140) Wenn Fichte dennoch schon zu dieser Zeit das Bedürfnis hat, dieses Intelligible als das eigentlich Wirkliche herauszustellen, dann geschieht dies offenbar noch, ohne dass er sich über die Gründe dessen ganz klar geworden ist. Spätestens in der Bestimmung des Menschen zeigt er jedoch den Unterschied auf zwischen einer Wirklichkeit, die lediglich aufgrund eines Denkzwanges als wirklich gedacht wird und der sozusagen wirklichen Wirklichkeit (vgl. unten, S. 389 f.). Im Nachvollzug des Gedankengangs der Erlanger Wissenschaftslehre, vor allem dem der dritten Stufe, wurde deutlich, wie Fichte es in der späteren Zeit gelingt, auf eine Weise innerhalb der Vernunft zu bleiben und doch über sie hinauszugehen, um zu einem An-sich zu kommen. Die Entwicklung hat wesentlich mit der Klärung des Begriffs des absoluten Seins zu tun. Nachdem Fichte für dieses ein adäquates Verständnis gefunden hat, kann er abkünftig davon auch dem Dasein und damit ebenso dem individuellen Subjekt reales Sein zusprechen. Zur Zeit der frühen Sittelehre bleibt die Wirklichkeit des Ich blass. Und entsprechend blass wird der darauf bezogene Affekt bestimmt (vgl. etwa S136 f.), der, wie Fichte später herausstellt, immer abhängig ist von einem Sein (A146). Als Wirklichkeit, die einen Affekt auf sich ziehen kann, kommt nur die empirische in den Blick. In Bezug auf seine tiefere sittliche Existenz kann es dem Individuum nur darum gehen, sich nicht verachten zu müssen. Zwar spricht Fichte einmal auch von einer positiven Achtung in Bezug auf die eigene »höhere Natur«, diese bleibt dem Individuum aber seltsam gegenübergestellt (S137). Man vergleiche dies mit den Aussagen zur Zeit der Anweisung, dass die »eigne Person heilig und ehrwürdig« ist (G98) und dass es

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Mit dieser veränderten Sicht auf den Trieb wird die Freiheit in ihrer Bedeutung relativiert und es wird das sittliche Leben als etwas beschrieben, was sich, da es sich als Ergriffensein durch den Trieb ereignet, im Grunde ohne Anstrengung vollzieht (A158 u. 174). Die Anstrengung hängt für Fichte mit der Freiheit zusammen. Finden Anstrengung und Zwang statt, dann ist das für ihn ein Zeichen dafür, dass man sich dem ursprünglichen Wollen noch nicht überlassen hat, sondern sich auf etwas Anderes ausrichtet, und zwar, weil man noch auf der eigenen, davon getrennten Freiheit beharrt, auf der freien Wahl, auf einem Selbst-machen-Wollen und einer Ausrichtung am eigenen Verdienst oder einer Werkgerechtigkeit sowie auf der eigenen vermeintlich besseren Einsicht (A161). Fichtes Beschreibungen der völligen Leichtigkeit des sittlichen Lebens klingen zunächst etwas realitätsfremd. Er möchte mit ihnen aber wohl nur dessen innerste Grundbestimmtheit hervorheben und nicht ausschließen, dass zu seiner Verwirklichung auch die Momente von Widerwillen und Anstrengung gehören. Für ihn ist klar, dass nicht einfach alle faktischen Antriebe des Menschen in Richtung Sittlichkeit ziehen – schon von Natur aus und erst recht nach einer Geschichte von Verbildungen durch die Freiheit. Auch stellt er weiter heraus, dass die bewusste Ausrichtung auf das eigentliche Ziel der Anstrengung bedarf (A64). Entsprechend der beschriebenen Veränderung im Charakter der Form von Sittlichkeit färbt sich auch die Bedeutung des Leiblichen. Im ganzen Feld des weltlichen Seins drückt sich nicht primär eine Aufgabe aus, sondern eine ursprüngliche Liebe, ein Streben, eine Sehnsucht. Der Leib ist weniger Gegenstand einer Pflicht, sondern eines ursprünglichen Strebens, ihn zu achten – den eigenen wie den fremden Leib. Die ausgehend von der frühen Sittenlehre differenziert beschriebenen Pflichten behalten inhaltlich ihre Bedeutung, müssen aber von dieser veränderten Grundhaltung her verstanden werden. Die Überwindung des Verpflichtungscharakters ist zumindest das Ideal – auch dann für die Ebene der Religion. Insofern der Mensch diesem Ideal aber noch nicht selbstverständlich entspricht, ist das Sollen für die Sittlichkeit weiter unentbehrlich. Unmittelbarer betrifft die beschriebene Veränderung die Frage nach der Bedeutung des Leibes in Folgendem: Wenn Sittlichkeit selbst als ein unwillkürliches Leben nach einem Antrieb verstanden darum geht, das eigene ursprüngliche Sein in Gott mit einer absoluten Liebe zu umfassen (A155 f. u. 160 f.). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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wird, kann der Triebcharakter des Leibes als Ausdruck der höheren Triebform gelten. Fichte schreibt in Bezug auf das Leben der höheren Berufung: »[D]er erschaffende Affekt desselben, tritt, als bloße Naturerscheinung, heraus, als Ta l e n t « (A157). Nicht nur in seinem Inhalt manifestiert sich also das göttliche Leben in natürlichen Antrieben, sondern auch in seinem Affekt, und damit in seiner Form. Zwar ist das leibliche Leben nicht schon unmittelbar das sittliche. Dies wurde schon für seinen Inhalt herausgearbeitet und gilt ebenso für seine Form. Es muss weiter wie in der frühen Sittenlehre zum leiblichen Leben die bewusst und frei ergriffene sittliche Haltung dazukommen, die bloß natürlich nicht gegeben sein kann. Dennoch muss aber die Triebform des leiblichen Triebes als Manifestation des sittlichen betrachtet werden. Und entsprechend kommt ihm eine wichtige Bedeutung in der Entfaltung des sittlichen Triebes zu. Das Sich-ergreifen-Lassen durch die höhere Berufung ereignet sich als Sich-ergreifen-Lassen vom Talent. Die ursprüngliche Vernunftbestimmtheit der Handlungsmöglichkeiten und -antriebe des Subjekts ermöglicht es in einem gewissen Ausmaß, dass es sich nicht mit seiner freien Aktivität zur Sittlichkeit zwingen und sich dabei anstrengen muss. Das Moment des Sicheinlassens auf das Leibliche und des Sich-ergreifen-Lassens, das Fichte in der frühen Sittenlehre zumindest in Bezug auf das mütterliche Mitleid in seiner Bedeutung herausarbeitet 311, gehört nun zum Grundmodell für die Realisation von Sittlichkeit und bekommt eine viel breitere Bedeutung. Es besteht eine Entsprechung im Triebcharakter, aber zugleich auch ein Unterschied. Die sittliche Tätigkeitsform unterscheidet sich von der bloß leiblichen dadurch, dass bei ihr das Subjekt im Besitz seines Bewusstseins und seiner Freiheit ist, sich durch die freie Reflexion seinen ursprünglichen Vernunftwillen vergegenwärtigt, sich mit freier Entschiedenheit auf ihn ausrichtet und ihm so zum Durchbruch verhilft. Die leibliche Tätigkeitsform verbleibt in der bloßen Genussorientierung und der Vernunftwille ist bei ihr nur blind als Naturgesetz wirksam. Die sittliche Tätigkeitsform ist trotz der Bedeutung der Freiheit deshalb von einer Unwillkürlichkeit gekennzeichnet, weil die Freiheit nur Mittel ist, das sich selbst aufgibt. Ihren Zweck erfüllt sie für Fichte nicht als Möglichkeit, sich willkürlich für dieses oder jenes zu entscheiden, sondern in der Möglichkeit der Ausrichtung auf den ursprünglichen Willen und des Sichöffnens für seine unwillkürliche 311

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Vgl. oben, S. 202 f.

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Realisierung. Sowohl die Übereinstimmung in der Unwillkürlichkeit als auch der Unterschied in der freien Ausrichtung werden daran deutlich, wie Fichte über beide Formen des Lebens mit Ausdrücken des Strömens und Fließens spricht. In Bezug auf das sittlich-religiöse Leben schreibt er: Nach dem Aufgeben der Freiheit »fließt von nun an die Realität ruhig ab« (A146). »Das Handeln ist gar nichts an und für sich selbst, und es hat kein eignes Princip; sondern es entfließt still und ruhig der Liebe, so wie das Licht der Sonne zu entfließen scheint, und so wie der innern Liebe Gottes zu sich selbst, die Welt wirklich entfließt.« (A169 f.) 312 Fichtes Verwendung dieses Bildes sowohl für die Tätigkeit des Menschen als auch die von Gott weist auf die Einheit beider hin. Gemeint ist mit dem ruhigen Fließen eine Tätigkeit, bei der sich das innere Wesen unwillkürlich entfaltet und äußert, ohne dass ein sich davon trennendes Ich mit seinen willkürlichen, freien Akten dazwischen tritt. Fichte spricht auch in Bezug auf den Menschen, der ganz im leiblichen Leben aufgeht, deshalb von einem Fließen, weil er rein ergriffen ist von einem Trieb. Hier ist dies jedoch negativ konnotiert, und zwar, weil die freie Ausrichtung der Aufmerksamkeit und des Wollens auf den ursprünglichen Trieb nicht stattfindet und der Mensch so nur eine »flüchtige Naturbegebenheit« ist. 313 Darin liegt der Unterschied. Von ihm aus lässt sich verdeutlichen, auf welche Weise der Naturtrieb in der Verwirklichung des sittlichen Willens eine Rolle spielen kann. Das Subjekt soll seine Selbständigkeit nicht auflösen lassen, indem es im bloßen Getriebensein durch den Naturtrieb dahinfließt, sondern es soll sich zunächst frei 312 Vgl. auch A174: Für den mit dem göttlichen Leben Vereinten »ist Arbeit und Anstrengung verschwunden; seine ganze Erscheinung fließt, lieblich und leicht aus, aus seinem Innern, und löset sich ab von ihm ohne Mühe«. Vgl. auch A114: »Und so fließet denn sein Leben ganz einfach und rein ab, nichts anderes kennend, wollend, oder begehrend, über diesen Mittelpunkt nie herausschwebend, durch nichts außer ihm liegendes, gerührt, oder getrübt.« Ausdrücke des Strömens finden sich in A155 u. 162. 313 Das ganze Zitat über die Bedeutung der Fähigkeit der freien Lenkung der Aufmerksamkeit lautet: »[N]ur in diesem sich Zusammennehmen ist der Mensch selbstständig, und fühlt sich selbstständig. Außer diesem Zustande der Selbstkontraktion verfließt er eben, und zerfließt, und zwar keinesweges also, wie er Will und sich Macht, (denn alles sein sich Machen ist das Gegentheil des Zerfließens, die Kontraktion), sondern so, wie er eben Wird, und das gesetzlose, und unbegreifliche Ohngefähr ihn giebt. Er hat demnach in diesem letztern Zustande gar keine Selbstständigkeit; er existirt gar nicht, als ein für sich bestehendes Reales, sondern bloß als eine flüchtige Naturbegebenheit.« (A130) Vgl. auch A93.

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auf den ursprünglichen sittlichen Willen ausrichten und erst in dieser Ausrichtung vom Naturtrieb ergreifen lassen. Da sich in dessen fließendem Leben das Fließen des göttlichen Lebens manifestiert, kann es ganz in diesem integriert sein. Auch kann der Mensch am leiblichen Fließen der Unwillkürlichkeit des göttlichen Lebens gewahr werden und einen Zugang zu ihr finden. Fichte äußert sich nicht ausdrücklich in diese Richtung. Es liegt aber unmittelbar in der Konsequenz seiner Überlegungen, der Leiblichkeit diese Bedeutung zuzuschreiben: als Korrektiv gegenüber einer der Freiheit entspringenden und dem göttlichen Leben hinderlichen Haltung, alles selbst wählen, bestimmen und machen zu wollen, einer Haltung der Kontrolle sowie der Orientierung an der eigenen Leistung und dem eigenen Verdienst. Wenn Fichte im dargestellten Zusammenhang das vom Naturtrieb eingenommene Subjekt durch einen Mangel an freier Lenkung der Aufmerksamkeit charakterisiert, dann geht es ihm dabei vor allem um einen Mangel an Freiheit und nicht um fehlende Aufmerksamkeit. Nur so ist verständlich, wie er den ganz am Sinnlichen orientierten Menschen zugleich als einen beschreiben kann, der sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit einem bestimmten Genuss zuwendet. Er bemerkt über ihn, dass »dem konsequenten Philosophen derjenige, der auch nur mit ungetheiltem Sinne, und ganz, in einen sinnlichen Genuß sich zu werfen vermag, weit mehr werth ist, als derjenige, der vor lauter Flachheit, Zerstreutheit und Ausgeflossenheit, nicht einmal recht hinzuschmecken vermag, oder hinzuriechen, wo es dem Schmecken oder dem Riechen allein gilt« (A135). Fichte unterscheidet hier die Lebenshaltung des ersten Standpunkts der Weltsicht vom Leben auf einer diesem noch untergeordneten Ebene, die aufgrund des Verlustes an freier Ausrichtung und, wie Fichte zugespitzt formuliert, als »Zustand der geistigen Nichtexistenz« (A133) gar nicht im eigentlichen Sinn als Standpunkt bezeichnet werden kann. Fichte beschreibt mit dem Genussmenschen zwar nicht eine bloße leibliche Existenz, sondern ein leiblich orientiertes freies Subjekt. Wie es der Freiheit zuzuschreiben ist, wenn ein Mensch seine Freiheit immer mehr verliert, weil er sich ganz von seinen Trieben einnehmen lässt, so gilt Gleiches auch für die ausgerichtete Aufmerksamkeit des Genussmenschen. Zugleich spielt die Leiblichkeit bei ihrem Zustandekommen jedoch eine wichtige Rolle. Der leibliche Trieb zieht den Menschen in diese Lebensform und hält ihn in ihr. Und der Trieb ist selbst zunächst unmittelbar orientiert auf seinen Gegenstand und in 284

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seiner Empfindung gesammelt. Ablenkung, Unaufmerksamkeit und Zerstreutheit sind eine Folge der Freiheit, mit der sich die Aufmerksamkeit von der leiblichen Bindung an das unmittelbar Gegebene lösen kann. Dass die leibliche Unmittelbarkeit für Fichte demgegenüber ein Korrektiv sein kann, wird besonders deutlich in seiner Empfehlung, den Geist durch sinnliche Wahrnehmungsübungen, etwa beim Zeichnen oder beim Hören und Spielen von Musik, an eine Geistesgegenwart oder, wie er es hier nennt, eine »ununterbrochene Aufmerksamkeit« zu gewöhnen (AE20). Auf diese Weise spielt die sinnliche Wahrnehmung eine wichtige Rolle für die Ausrichtung des sittlichen Lebens. Wenn Fichte in diesem Zusammenhang von »Gewöhnung« spricht, dann wird daneben die Funktion der Leiblichkeit thematisiert, dass sich in ihrer Triebstruktur ein Habitus verselbständigen kann. 314 Die Bedeutung der geistigen Sammlung im Hier und Jetzt als absoluter Grundbedingung für ein dem eigenen Wesen entsprechendes Leben stellt Fichte an dieser Stelle mit besonderer Eindringlichkeit heraus: »Dieser Punct ist wichtiger als er scheint, und ich getraue mir zu behaupten, dass man das Menschengeschlecht mit Einem Streiche von allen seinen übrigen Gebrechen geheilt haben würde, wenn man jeden von dem Zerstreutseyn geheilt, und ihn dahin gebracht hätte, nur allemal seine ganze unzerstreute Aufmerksamkeit auf das zu richten, was er jetzt treibt.« (AE20) Auch in der Sammlung lässt sich eine gewisse Übereinstimmung zwischen leiblichem Vollzug und sittlichem Leben erkennen. Die Eigenschaft des Gebundenseins an das Empfinden gegenüber der Möglichkeit der freien Reflexion, diese Bindung zu verlassen, wurde schon ausgehend von der frühen Sittenlehre und ihren Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Leiblichkeit und freiem Reflektieren und Wollen deutlich. Eine Entwicklung hin zur späten Wissenschaftslehre liegt sicherlich darin, dass Fichte die Freiheit klarer in ihrer Relativität und in ihren Gefahren herausarbeitet. Es treten bei ihm jedoch schon in der frühen Zeit verschiedene negative Aspekte der Freiheit hervor, die so im Leiblichen noch nicht gegeben sind. 315

314 Vgl. dazu oben, S. 164 f. Und vgl. Bisol, 2006. Benedetta Bisol arbeitet hier für den späteren Fichte die Bedeutung der Erwerbung eines Habitus der Sammlung und der Ausrichtung auf die geistige Lebendigkeit im Unterschied zum toten Objektivierten sowie die Rolle der Leiblichkeit bei der Entstehung dieses Habitus über den Effekt der Gewöhnung heraus. 315 Vgl. dazu oben, S. 166–168.

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So kann er etwa auf die Möglichkeit der freien Verbildung der leiblichen Triebstruktur aufmerksam machen oder auf die Gefahren, die im Verlust des Gegenwartsbezuges, in der Hervorhebung und deutlichen Bestimmung einzelner zunächst unabgegrenzter und unbestimmter Triebe durch die freie Reflexion sowie im Verlust der Lebendigkeit durch die Objektivierung liegen. Diese Gesichtspunkte lassen sich ebenso für die spätere Zeit herausarbeiten. Obwohl es sich hierbei nicht direkt um Weiterentwicklungen handelt, so soll auf sie an dieser Stelle doch eingegangen werden, weil in ihnen wie in den schon beschriebenen Aspekten der Unwillkürlichkeit und der Sammlung eine Übereinstimmung zwischen der leiblichen Vollzugsform und der des sittlich-religiösen Lebens aufscheint. Durch sie kann die Leiblichkeit eine Bedeutung als Korrektiv gegenüber der Freiheit bekommen, in der eine Entfernung von dieser Vollzugsgestalt stattfindet. Wenn Fichte in der Anweisung von den durch die freie Vorstellungskraft umgelenkten und verbildeten sinnlichen Bedürfnissen und Antrieben – etwa dem Geiz – als von »sogar dem unmittelbaren sinnlichen Genusse gegenüber, ungründlichen, seichten, und grillenhaften Affekten« (A135) spricht, dann ist damit zum einen die Problematik der inhaltlichen Veränderung der Naturtriebe durch die Freiheit benannt. Zum anderen macht Fichte hier auf den Verlust des Bezuges zum real gegenwärtig Gegebenen aufmerksam. Ein Problem stellt dieser Verlust für ihn dadurch dar, dass die Verpflichtung sich immer am gegenwärtig Erforderten orientieren muss. Zur Erhaltung der eigenen Existenz und der eigenen Handlungsmöglichkeiten ist für die Befriedigung der gegenwärtigen realen Bedürfnisse und nicht von bloß vorgestellten und in der Zukunft liegenden zu sorgen. Und realisieren kann sich das ursprüngliche Leben des individuellen Subjekts nur in den aktuell gegebenen Trieben und Handlungsmöglichkeiten. Sie sind als seine Manifestation zu betrachten. Deshalb charakterisiert Fichte einen davon gelösten und entfremdeten Antrieb wie den Geiz als oberflächlich sowie realitätsfremd und würdigt im Unterschied zu diesem den sinnlichen Genuss. Im sinnlichen Trieb, in seiner Empfindung und Befriedigung ist das Subjekt wie im Trieb des ursprünglichen Wollens in einem unmittelbaren Kontakt mit der Gegenwart und der in ihr gegebenen Realität. In diesem Aspekt besteht eine Entsprechung zwischen beiden. Und über ihn kann die Leiblichkeit ein Korrektiv für die Freiheit darstellen, die sich im Unterschied dazu von der Gegenwart lösen kann. 286

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Neben der gesammelten Ausrichtung, dem Gegenwarts- und Realitätsbezug, würdigt Fichte in der Anweisung den sinnlichen Genuss auch in dem Aspekt, dass in ihm ein Affekt, eine Orientierung auf ein Ziel und eine Befriedigung dieses Zieles erfolgen. Wieder wird das dem Natürlichsinnlichen verhaftete Leben auf der ersten Stufe im Unterschied zu einer noch darunter liegenden Ebene charakterisiert, die als Zustand des Mangels an jeder Zielausrichtung und Leidenschaft und entsprechend als Zustand »der absoluten Genußlosigkeit, und Unseeligkeit« (A133) beschrieben wird. Das Problem besteht darin, dass ihr ein wesentliches Element des göttlichen Lebens, die affektive Ausrichtung auf ein Ziel, fehlt. Auf ihr findet weder Freude noch Schmerz statt. In keinem Fall ist dies für Fichte eine Eigenschaft, durch welche dieser Zustand »dem, dem Schmerze zugänglichen, und durch ihn verwundbaren, Leben in der Liebe, vorzuziehen sey. Zuförderst fühlt man wenigstens sich, und hat sich, und besitzt sich, auch im Gefühle des Schmerzes, und dies allein beseeliget schon durch sich selbst unaussprechlich vor jenem absoluten Mangel des Selbstgefühls; sodann ist dieser Schmerz der heilsame Stachel, der uns treiben soll, und der über kurz oder lang uns auch treiben wird, zur Vereinigung mit dem Geliebten, und zur Seeligkeit in ihm. Wohl daher dem Menschen, der auch nur zu trauern, und Sehnsucht zu empfinden vermag!« (A134) Vor diesem Hintergrund sind auch die sinnliche Zielorientierung und der sinnliche Schmerz positiv zu würdigen. In ihnen kann sich das Subjekt, das wesentlich Wollen und Streben ist, selbst empfinden. In ihnen manifestiert sich der eigentliche Trieb des Subjekts, ergreift dieses und führt es dahin, seiner gewahr zu werden. Und in ihnen liegt eine Befreiung aus dem Zustand, in dem jeder Antrieb des Subjekts erstorben ist. Der Grund für die Möglichkeit eines solchen Zustands ist in der Freiheit zu sehen. Die bloße natürliche Existenz ist für Fichte eine Triebexistenz, die ganz in der bedürfenden Ausrichtung auf ein Ziel aufgeht und sich davon nicht lösen kann. Erst mit der Entwicklung von Bewusstsein und Freiheit kann sich das Subjekt davon distanzieren, kann es sich mit seinem Willen in eine reine Indifferenz zurückziehen und aufgrund der Freiheit der Reflexion sich sogar aus jedem Empfindungskontakt zur Affektivität herausnehmen. Der hier beschriebene Zustand besitzt eine Ähnlichkeit mit dem, auf welchen Fichte im Gedankengang der Erlanger Wissenschaftslehre als Zustand der Enthaltung von jeder Form von Glauben stößt und den er in der Bestimmung des Menschen in seiner existenziellen Abgründigkeit beschreibt: als VerLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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lust der praktischen Dimension, als Verlust jedes Strebens und damit sowohl jeder Sinnhaftigkeit als auch jedes Gewahrseins und jeder Gewissheit der eigenen Existenz. Das Orientiertsein am leiblichen Affekt mit seiner Sinnfüllung und Selbstwahrnehmung ist ein Fortschritt gegenüber diesem Zustand. In ihm ist das Subjekt zwar noch nicht unmittelbar vom Affekt des göttlichen Lebens ergriffen, dieser manifestiert sich aber in der leiblichen Affektivität und ist hintergründig in ihr wirksam. Eine weitere Übereinstimmung zum göttlichen Leben lässt sich in der Vorgängigkeit der leiblichen Vollzugsform zu Objektivierung, Vermannigfaltigung und Trennung ausmachen. Es wurde schon dargestellt, wie Fichte in der Anweisung die religionsphilosophische Bedeutung der Herausbildung einer objektiven Körperwelt beschreibt. 316 Negativ hat sie einen Verlust des Bezuges auf die Lebendigkeit und die Einheit des göttlichen Lebens zur Folge. Zunächst einmal scheint es hierbei die Leiblichkeit zu sein, der diese negative Bedeutung zugeschrieben wird. Fichtes transzendentale Reflexion auf das Zustandekommen der Körpererscheinung stellt jedoch als Ursache die freie Reflexion heraus. Sie verwandelt das lebendige Sein zum einen in ein stehend Vorhandenes und objektiviert es, zum anderen teilt sie es zu einem Mannigfaltigen. Wie im Kapitel zur Spaltung des Daseins auf der Ebene der Natur herausgearbeitet wurde 317, ist die von Fichte in der Anweisung vorgetragene Erklärung der Entstehung der welthaften Erscheinung zwar unvollständig. Die Tätigkeit der freien Reflexion im einzelnen Subjekt muss anknüpfen an die Resultate einer im einen überindividuellen Dasein liegenden Spaltung durch eine vorfreie Tätigkeit. Aus ihr entsteht die Differenzierung von begrenzten und bestimmten Naturtrieben, die sich zu komplexen Trieborganismen zusammenfügen. Zugleich muss jedoch ernst genommen werden, wie Fichte in der Anweisung das Erscheinen der Mannigfaltigkeit allein der freien Reflexion zuschreibt: Das Erscheinen der einen Welt in verschiedenen besonderen Gestalten »liegt […] in der Reflexion, als solcher; die Reflexion aber ist […] in sich selber absolut Frei und Selbstständig. Wird daher Nicht reflektirt, wie es denn, zufolge der Freiheit wohl unterlassen werden kann, so erscheint nichts: wird aber ins unendliche fort von Reflexion auf

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Vgl. oben, S. 125 f. Vgl. dazu oben, S. 232–236.

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Reflexion reflectirt, wie zufolge derselben Freiheit wohl geschehen kann, so muß jeder neuen Reflexion die Welt in einer neuen Gestalt heraustreten, und so, in einer unendlichen Zeit, welche gleichfalls nur durch die absolute Freiheit der Reflexion erzeugt wird, ins unendliche fort sich verändern, und gestalten, und hinfließen, als ein unendliches Mannigfaltige.« (A99) Dies scheint zunächst an der gewöhnlichen Erfahrung vorbeizugehen. Erleben wir die Welt nicht unmittelbar und, ohne dass wir aktiv und frei unsere Reflexion lenken, als eine Mannigfaltige? Ist es uns nicht völlig unmöglich, das Erscheinen dieser Mannigfaltigkeit zu verhindern? Tatsächlich vollzieht sich das verstehende Auffassen der Welt auf einer basalen Ebene meist so selbstverständlich, dass wir es nicht als etwas erleben, das wir aktiv lenken oder zu dem wir uns sogar erst entscheiden. Gleichwohl lassen sich auch Phänomene eines Bewusstseinszustandes beschreiben, der aus einem undifferenzierten Strom von Gefühlen besteht und in dem noch kein verstehendes Auffassen stattfindet. Durch solche Phänomene kann der von Fichte transzendental erschlossene Unterschied zwischen der verstehenden Auffassung und dem ihr vorgängigen leiblichen Fühlen veranschaulicht werden. Sie treten etwa in den Übergängen von Schlaf- und Wachzustand auf, wenn die Tätigkeit des verstehenden Auffassens von alleine zur Ruhe kommt oder sich noch nicht entfaltet hat. Sie lassen sich durch die freie Reflexion selbst nicht erzeugen, weil sie, wenn diese sich betätigt, gerade in sich verbleibt. Im aktiven Wachbewusstsein kann man sich in sie nur hineinbewegen, indem man sich am hintergründig jederzeit präsenten leiblichen Erleben orientiert und aus der Tätigkeit der Reflexion heraus in dieses sozusagen hineinziehen lässt. In der leiblichen Lebendigkeit und ihrem Erleben liegt zwar an sich eine Vielheit von Trieben und Empfindungen. Sie treten in dieser Vielheit aber nicht hervor. In ihnen liegen nicht schon Abteilungen, sondern nur eine Abteilbarkeit. Auch bewegt sich das leibliche Erleben noch in einem der Objektivierung vorgängigen Stadium. Die ursprüngliche Selbstgegenwart des Triebes ist für Fichte eine intellektuelle Anschauung. Als Anschauung der eigenen begrenzten Tätigkeit tritt sie zusammen mit einem Gefühl hervor. Vorgängig dazu besteht für Fichte eine Anschauung der allgemeinen Kraft des einen Daseins. Es wurde im Zusammenhang der Untersuchung, ob man bei Fichte von einer Naturmystik spre-

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chen kann, schon hervorgehoben, dass für ihn leiblich ein Erleben der Einheit des Daseins auf der Ebene des Naturhaften stattfindet und dieses auch in besonderen Erfahrungen heraustreten kann. 318 Während der Leib in seiner äußeren Erscheinung, in seiner Körperlichkeit, schon in die Objektivierung und in die Vielheit getreten ist, ist auf seiner ursprünglichen Ebene die Ungetrenntheit und Unbestimmtheit des gefühlten individuellen Trieblebens und tiefer sogar die Einheit des Daseins oder das göttliche Leben zugänglich. Somit kann der Leib einen Weg der Annäherung an das innerste Wollen des Menschen darstellen. In seiner Ungeschiedenheit, Vorgegenständlichkeit und Lebendigkeit ist der Leib zusammen mit seinem Erleben der Gestalt des göttlichen Lebens ähnlich. Gleichwohl ist er dieses nicht schon unmittelbar. In ihm ist das eine Dasein lebendig, aber noch nicht das Dasein in seiner ursprünglichen Form, sondern nur in der beschränkten Gestalt des Naturtriebes. In der ursprünglichen Unbegrenztheit kann es nicht ohne die Freiheit und die Reflexion realisiert werden. Für diese kann die Leiblichkeit ein wichtiges Korrektiv darstellen. Unbedingt darauf angewiesen ist die Reflexion freilich nicht, denn auch für sie, nicht nur für das leibliche Erleben, ist die intellektuell anschauende Erfassung der Einheit zugänglich. 319

Vgl. oben, S. 252–254. In Rolf Kühns Interpretation des hier behandelten Aspekts der Bedeutung der Leiblichkeit scheinen mir diese Beschränktheit der Ebene des Naturtriebes, diese Angewiesenheit der Realisation des göttlichen Lebens auf die freie Reflexion und das in ihr selbst liegende Potential der Erfassung der Einheit nicht genügend berücksichtigt zu werden. Er fragt Fichte daraufhin an, ob er von der Konsequenz seines Ansatzes her den Leib nicht zu wenig würdigt, ob die überdisjunktive Einheit des Lebens, um die es ihm letztlich geht, nicht gerade im Leib und nicht in der freien Tätigkeit des Bildens zu finden ist. Für ihn scheint Fichte »zu vernachlässigen, daß der Ort der fortdauernden Präsenz dieser vorgängigen Einheit eben nicht das Denken ist, welches als solches den Bewußtseinshiatus impliziert, sondern der Leib«. Es »ist der Leib genau die bildlose Tätigkeit, in der ich mich zu jedem Augenblick absolut begriffslos bestimme« (2003, 225). Kühn arbeitet hier einerseits einen wichtigen Aspekt der Bedeutung des Leibes heraus. Er vernachlässigt aber m. E., dass sich das Denken für Fichte nicht nur in Differenzen bewegt, sondern die überdisjunktive Einheit, aus der es lebt, in sich trägt und sie ihm über die intellektuelle Anschauung zugänglich ist. Zudem wird vernachlässigt, dass für Fichte die Differenzierungen des Begriffs notwendig sind dafür, dass dem reinen Willen durch das Selbstbewusstsein und die Freiheit der Raum seiner Realisierung eröffnet wird. 318 319

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1.3.2.3 Die Veränderungen in der religiösen Bedeutung des Leibes Die Veränderungen in der Auffassung von Moralität gegenüber der Zeit der frühen Sittenlehre und die Konsequenzen für die Bedeutung der Leiblichkeit sind herausgearbeitet worden. Nun gilt es zu untersuchen, wie Fichte das religiöse Leben im Unterschied zur frühen Zeit bestimmt und was sich daraus für die Rolle des Leibes ergibt. Materialität und Gotteserkenntnis Den Schritt von der höheren Moralität zur Religion charakterisiert Fichte durch die »klare Erkenntniß«, dass das sittliche Leben und das in ihm sich ereignende »Heilige, Gute und Schöne, keinesweges unsre Ausgeburt, oder die Ausgeburt eines an sich nichtigen Geistes, Lichtes, Denkens, – sondern, daß es die Erscheinung des innern Wesens Gottes, in Uns, als dem Lichte, unmittelbar sey, – sein Ausdruck, und sein Bild, durchaus und schlechthin, und ohne allen Abzug, also, wie sein inneres Wesen herauszutreten vermag in einem Bilde« (A110). Die dafür notwendige Erkenntnis Gottes ist für ihn zur Zeit der Anweisung durch einen Schluss vom endlichen Sein auf ein Absolutes erreichbar. Hierin liegt ein Unterschied zur Zeit der frühen Sittenlehre, in der sie nur postulatorisch ausgehend vom praktischen Erfordernis einer göttlichen Weltregierung erfolgen kann, da für Fichte die Frage nach dem Grund der sinnlich erfahrbaren Welt lediglich auf das Ich als deren Urheber führt und er die Frage nach dem Grund des Ich wegen dessen Absolutheit entschieden zurückweist. 320 Zur Zeit der Anweisung gesteht Fichte im Unterschied dazu für das Zustandekommen der Erkenntnis Gottes sogar dem sinnlichen Sein eine positive Rolle zu, insofern auch in ihm die Abhängigkeit des Daseins von anderem und seine Veränderlichkeit aufscheinen kann, von der aus ein in sich stehendes, unveränderliches Sein als dessen Grund erschlossen wird (G123). Indem die leibliche Hemmung der Ausgangspunkt ist für die beschränkte ideale sowie die reale Tätigkeit 321, ist die Leiblichkeit der Ort der Erscheinung der Endlichkeit par excellence. Indem die Sphäre der Körperwelt das ist, was dem Verstehen des

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Vgl. dazu oben, Anm. 166. Vgl. oben, S. 132–141.

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Menschen ohne eine Reflexion immer schon faktisch gegeben ist, dürfte sie als der nächstliegende und häufigste Ort der Erkenntnis der eigenen Endlichkeit und des Schlusses auf ein Unendliches anzusehen sein. Zwar verläuft der streng transzendentalphilosophische Weg der Gotteserkenntnis über die relative Absolutheit des Lichts und erst von ihrer Bedingtheit aus zur Einsicht des Absoluten. Vom Sinnlichen allein auszugehen, hat aber für Fichte daher eine Berechtigung, als allein schon im Blick auf das objektive Sein, im »Nachdenken über die Sinnenwelt«, die Notwendigkeit einleuchtet, »demjenigen Daseyn, was insgesammt nur in einem andern Daseyn gegründet ist, ein Daseyn zu Grunde zu legen, welches den Grund seines Daseyns in sich selber habe« (G123). Generell setzt für Fichte Religiosität nicht eine wissenschaftliche Durchdringung voraus. Es reicht der Glaube an Gott als den Ursprung sowie die Überzeugung, dass der Mensch in sich selbst nichts ist und nur in ihm ein Sein hat (A93). Fichte stellt jedoch zugleich heraus, dass für das religiöse Leben der Glaube an irgendeinen Gott nicht genügt, sondern es nötig ist, ihn am Grund der eigenen sittlichen Tätigkeit zu finden (A110–112). Auf verschiedene Weise ist er in der Anweisung deshalb bestrebt, in seinen Zuhörern ein adäquates Verständnis des Seins zu wecken. 322 Das relativiert die Bedeutung des Materiellen für die Gotteserkenntnis. Sie muss immer ergänzt werden durch den Blick auf die eigene innerste sittliche Bestimmung. Allein vom Materiellen aus zu schließen, kann zu einem letztlich bloß materiell, als rohe Kraft oder Trieb, gedachten Gott führen. Wie im dritten Teil, der kritischen Würdigung von Fichtes Ansatz, noch näher ausgeführt wird, sprechen verschiedene Gründe gegen Fichtes Annahme eines notwendigen Schlusses vom endlichen Sein auf ein Absolutes. Meines Erachtens kann die Beschränktheit des Endlichen, und damit auch die Beschränkung, wie sie im Materiellen auftaucht, lediglich als Indiz genommen werden für eine mögliche Abhängigkeit von einem absoluten Sein. Vor dem Hintergrund der Fragwürdigkeit des fichteschen Gottesbeweises verliert dieser auch seine Bedeutung für die Vergewisserung über die wahrhafte Realität des inneren sittlichen Lebens des Subjekts. Wie die oben zitierte Charakterisierung des Schritts von der höheren Moralität zur Religion deutlich macht, entsteht für Fichte erst ausgehend von der

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Vgl. dazu oben, Anm. 38.

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Gotteserkenntnis eine Gewissheit, dass das Dasein nicht Dasein von nichts, nicht ein leeres Bild, sondern Erscheinung wirklichen Seins ist, und zwar göttlichen, absoluten Seins, das im Dasein heraustritt, wie es in sich selbst ist. Erst so kann sich der Mensch versichern, dass er mit seinem Streben nach dem Heiligen, Guten und Schönen nicht einem Trugbild nachjagt. Der so ermöglichte entschiedene Glaube an die Realität des göttlichen Lebens ist für Fichte dabei nicht nur in sich von existenzieller Bedeutung, sondern auch dafür, um sich vom Glauben, dass im Materiellen die eigentliche Realität liegt, der sich uns als der nächstliegende aufdrängt, unabhängig machen zu können. 323 Auf eine intuitive Weise kann dies zwar schon auf dem Standpunkt der höheren Moralität geschehen. Es muss hier gar nicht erst ein Zweifel an der Wirklichkeit der sittlichen Existenz entstehen. 324 Eine Rechtfertigung kann für Fichte aber erst ausgehend von der Gotteserkenntnis erfolgen. In der Erlanger Wissenschaftslehre ergibt sich dies daraus, dass für Fichte das Sein letztlich ein rein in sich stehendes sein muss. Weil das Dasein sich in dem, dass es überhaupt existiert, nicht setzen kann, sieht sich Fichte genötigt, auf ein Sein zu schließen, das den Grund seines Seins in sich hat. Wenn dieser Schritt fragwürdig ist, muss die Realitätsvergewisserung nicht unbedingt über das absolute Sein verlaufen. In der Darstellung des Aufstiegs der Erlanger Wissenschaftslehre wurde herausgearbeitet, wie der Glaube an die Wirklichkeit genauso im Gegenüber zum Grundsein des Lichts ge-

323 In A155 macht Fichte darauf aufmerksam, dass das Sinnliche auf dem Standpunkt der höheren Moralität nur dann wirklich als Mittel und nicht als letzter Zweck gefasst werden kann, wenn das, wofür es Mittel sein soll, als »wirkliches, wahres und reales Seyn« verstanden wird und nicht als ein Nichts, »unter welcher Voraussetzung, da außer ihr nichts da wäre, sie nicht Mittel würde«. Auch in Bezug auf die Erkenntnis der Realität der sittlichen Lebendigkeit des Subjekts besteht ein Fortschritt zur früheren Zeit, in der zwar nicht deren Irrealität behauptet, aber auch noch nicht ein klares Verständnis von ihrem realen Sein erreicht wird (vgl. dazu oben, Anm. 310). 324 Entsprechend stellt Fichte schon das Leben auf dem Standpunkt der höheren Moralität so dar, dass es vom selbstverständlichen Glauben an die Wirklichkeit und Gültigkeit des eigenen Wollens getragen ist. Er charakterisiert die dritte Stufe im Unterschied zur zweiten etwa dadurch, dass die das bloß Sinnliche übersteigende moralische Dimension nicht nur darin besteht, eine bestimmte Ordnung in der sinnlichen Welt herzustellen, sondern den Menschen als eine eigene höhere reale Lebendigkeit zu erfüllen (A109 u. 154). Es wird gesagt, dass dieses sittliche Leben als das »wahrhaft reale und selbstständige« angesehen wird, und es wird affirmativ als »das Heilige, Gute, Schöne« bezeichnet, ohne dass der Gedanke an seine mögliche Nichtigkeit thematisiert würde (A109).

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fasst werden kann. 325 Der eigentliche Aufhängepunkt für den Glauben ist in jedem Fall das Sollen oder das ursprüngliche sittliche Wollen und nicht der Gedanke des Seins. Der Stellenwert der Erkenntnis und der Betrachtung Gottes Im späten Konzept verschiebt sich nicht nur Fichtes Sicht auf die Möglichkeit einer Gotteserkenntnis, sondern diese bekommt auch eine andere Relevanz. In der frühen Zeit ist das Entscheidende die deutliche Erkenntnis des Sittengesetzes. Die Erkenntnis Gottes ist darin zwar impliziert, aber nur als Moment im Glauben an die Realisierbarkeit des Sittengesetzes aufgrund einer göttlichen Weltordnung. In ihrer ausdrücklichen Form braucht es sie, wenn jemand über diese Realisierbarkeit und damit über die Sinnhaftigkeit, dem Sittengesetz zu folgen, in Zweifel gerät, um sein Vertrauen wieder stärken zu können. In der späten Zeit bekommen die Erkenntnis Gottes und die Ausrichtung auf ihn dadurch einen anderen Stellenwert, als jetzt die Erkenntnis des Sittengesetzes in ihrer tiefsten und klarsten Form unmittelbar die Erkenntnis des göttlichen Seins selbst darstellt. Der in uns lebendige Wille des Sittengesetzes ist der Wille Gottes. Wie noch näher dargestellt werden wird, behält zwar der Glaube an die göttliche Weltordnung oder göttliche Ökonomie, der Glaube, dass dieser göttliche Wille wirksam die Gestalt des Daseins so prägt, dass der Mensch in ihm sein Ziel erreichen kann, in einer bestimmten Form eine Bedeutung. Der Glaube an Gott als des letzten Zielpunkts des eigenen sittlichen Wollens ist ihm gegenüber aber primär. Diese Weiterentwicklung kann daran verdeutlicht werden, wie Fichte im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 den Unterschied zwischen dem Standpunkt der Moralität und der Religion bestimmt: Zur Moralität gehört »auch ein Gott, aber nicht um sein selbst willen, sondern damit er über das Sittengesetz halte, und hätten sie kein Sittengesetz, so bedürften sie keines Gottes« (WL418). Entsprechend gehört zum religiösen Standpunkt, dass das letzte Ziel die Ausrichtung auf Gott und seinen Willen um seiner selbst willen ist. Zu ihm gehört dann zwar »auch die Moralität, nur nicht, wie bei dem, der sie zum Princip hat, als eigenes Werk; sondern als göttliches Werk in ihm, das in ihm wirkt beides, das Wollen und Vollbringen, und die Lust und Freude daran« (WL418). Fichte fällt hiermit nicht auf den 325

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Vgl. oben, S. 82 f.

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früher kritisierten Standpunkt zurück, auf dem die Moralität nur heteronom um Gottes willen angenommen wird. Vielmehr wird die Entgegensetzung von »Tugend um Gottes Willen« und »Gott um der Tugend Willen« (Pl306) aufgelöst, indem im späten Konzept der Wille Gottes dem Menschen als autonomer eigener Wille gegeben ist und er sich somit mit der eigenen sittlichen Autonomie auf ihn ausrichtet. Für diese Ausrichtung auf den Willen Gottes kommt der Gotteserkenntnis eine wichtige Bedeutung zu. Ihr Stellenwert wird darin sichtbar, wie sie im späten Modell unmittelbar in dem Gesetz liegt, das Gott selbst ist und genäß dem sich ebenso das Dasein vollzieht. Dieses Gesetz beinhaltet, dass Gott sein eigenes Leben außerhalb von sich setzt und dass dies nur möglich ist, wenn dieses Leben sich selbst als Bild Gottes versteht. Die Gotteserkenntnis ist dabei zwar nicht von der Praxis gelöster Selbstzweck. Sie ist auf die Realisierung des göttlichen Lebens bezogen und leitet diese. Auch erfüllt sich die Erkenntnis nur in der reinen, den Begriff relativierenden Anschauung des sittlich-religiösen Lebens und muss so immer mit einem Wollen und Tätigsein verbunden sein. Dieses Tätigsein soll sich aber erhellt sein als Realisierung des Willens Gottes oder des göttlichen Lebens. Da der Mensch im späten Modell über die bloße Erkenntnis des Sittengesetzes hinausgehen und in seiner Grundtätigkeit Gottes gewahr werden soll, kommt Fichte dazu, dem Standpunkt der höheren Moralität den eigenen Standpunkt der Religion überzuordnen. Den Fortschritt bestimmt er ausdrücklich als einen des Erkennens. Die Religion »hält das Leben in dem Gebiete des Handelns, und des ächt moralischen Handeins, fest«, während sie zugleich »das Auge des von ihr Ergriffenen zu ihrer Sphäre erhebt« (A113). Sie ist »nicht lediglich betrachtend, und beschauend«, denn als Glaube daran, dass im Menschen Gott lebt und tätig ist, schließt sie das Tätigsein ein und kann auch nur in diesem Tätigsein Gott über den leeren Begriff des absoluten Seins hinaus in seiner lebendigen Wirklichkeit erfassen (A113). Und doch gehört zu ihr die Betrachtung Gottes. Es kommt dabei für Fichte nicht auf das beständige explizite Bewusstsein Gottes an. Das würde den Menschen an einem tätigen Leben hindern. Und doch soll die Ausrichtung auf Gott dieses jederzeit begleiten. Die Religion ist »nicht ein für sich bestehendes Geschäft, das man abgesondert von andern Geschäften, etwa in gewissen Tagen und Stunden treiben könnte; sondern sie ist der innere Geist, der alles unser, übrigens seinen Weg ununterbrochen fortsetzendes, Denken und HanLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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deln, durchdringt, belebt, und in sich eintaucht.« (A113) Wie im Abschnitt über die Naturmystik schon herausgearbeitet wurde 326, geht Fichte davon aus, dass beim sittlich-religiösen Menschen in Zeiten der Ruhe diese implizite Ausrichtung in den Vordergrund tritt und es zu einer Betrachtung Gottes kommt. Wie diese sich in einer Betrachtung der Natur vollziehen kann, indem es möglich ist, in ihr die Einheit des Daseins zu erleben, wurde ebenfalls bereits beschrieben. Daneben besitzt die Natur, wie im vorigen Abschnitt thematisiert, eine Bedeutung als unmittelbar greifbare Manifestation unserer Endlichkeit, die zur Annahme eines unendlichen Seins führt. Die betrachtende Ausrichtung auf Gott muss nicht beständig bewusst sein. Und sie muss für Fichte auch nicht auf einer expliziten und reflektierten Erkenntnis aufbauen. Zwar ist die ausdrückliche und sogar die bis zur Wissenschaftlichkeit sich selbst reflektierende Einsicht ein im Gesetz des Daseins liegendes Ziel des Menschen. »Der wahrhaftige und vollendete Mensch soll durchaus in sich selber klar seyn: denn die allseitige, und durchgeführte Klarheit, gehört zum Bilde und Abdrucke Gottes.« (A112) Aber zum einen ordnet Fichte die Entwicklung dieser Klarheit in einer wissenschaftlich gerechtfertigten Form selbst schon in den Bereich dessen ein, was die individuelle Berufung eines jeden Menschen ausmacht und nicht ein allgemeines Ziel darstellt. Und zum anderen braucht es diese Klarheit für die Realisation des göttlichen Lebens und für dessen Erfüllung – oder für die Seligkeit, wie Fichte es nennt – nicht notwendigerweise. Als Minimalbedingung für das Ankommen auf dem Standpunkt der Religion formuliert Fichte lediglich, »daß man von seinem eignen Nichtsseyn, und von seinem Seyn lediglich – in Gott, und durch Gott – innigst überzeugt sey, daß man diesen Zusammenhang stets und ununterbrochen, wenigstens fühle, und daß derselbe, falls er auch etwa nicht deutlich gedacht, und ausgesprochen würde, dennoch die verborgene Quelle, und der geheime Bestimmungsgrund aller unserer Gedanken, Gefühle, Regungen, und Bewegungen sey« (A93). Es bedarf für Fichte keiner Vergewisserung Gottes in einem Gottesbeweis oder einer sonstigen Art von sicherer Einsicht. Es braucht nicht einmal einen ausdrücklichen Glauben. Es braucht lediglich das Feststehen im Glauben. Dieses kann getragen sein von einem bloßen Gefühl oder noch unbewusster von einer Art bloßem Instinkt. Fichte geht von der

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Vgl. oben, S. 252–254.

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Möglichkeit einer Seligkeit in der Einheit mit Gott aus, die »bloß instinktartig, und als ein dunkler Glaube, in dem Menschen wohnet« (A104). Bei diesem Glauben geht es ihm freilich nicht um ein reines, wodurch auch immer motiviertes Für-wahr-Halten, sondern – wie die Rede von einem Fühlen und von einem Instinkt deutlich macht – um einen Glauben, der aus einer Intuition oder einer Erfahrung lebt, wie unbewusst diese auch immer bestimmend ist. Es ist ein Glaube in der Form, wie er ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre expliziert wurde. Er lebt aus einem intuitiven Kontakt mit der Wirklichkeit, auf die er sich bezieht. Er lebt aus der Anschauung einer Praxis, die ihm als eigenes Wollen oder als Sollen begegnet. In diesem Sinn muss Fichtes Aussage in der ersten Vorlesung der Anweisung verstanden werden: »das Element […] des wahrhaftigen Lebens, ist d e r G e d a n k e « (A61 f.). Sie entspricht der Weise, wie Fichte auch in der frühen Sittenlehre die Art der Gegenwart des sittlichen Imperativs als Gedanke bestimmt hat. 327 Wenn Fichte in der zehnten Vorlesung der Anweisung – auf den ersten Blick im Widerspruch dazu – sagt: »Die Seeligkeit selbst besteht in der Liebe, und in der ewigen Befriedigung der Liebe, und ist der Reflexion unzugänglich« (A173), dann meint Liebe – neben der lebendigen Realisation des Willens und Lebens Gottes über eine bloße Betrachtung hinaus – genau das, was mit ›Ge327 Vgl. S58–65. Die These, dass das Element der Seligkeit der Gedanke ist und dass Gott nur im Denken zugänglich ist, muss den Aussagen, dass ein dunkler, lediglich auf einem Gefühl oder Instinkt aufruhender und unreflektierter Glaube für sie ausreicht (A93 u. 104) und die Seligkeit in der Liebe besteht (A173), nicht grundsätzlich widersprechen. Fichte geht es zunächst um das Denken im weitesten Sinn. Er spricht vom »höchsten Aufschwung des Denkens« (A62). Dieser ist aber gerade kein diskursives Denken, sondern eine intellektuelle Anschauung. Und er identifiziert den Gedanken Gottes mit dem Glauben (A63). Ein Widerspruch entsteht jedoch, wenn er diese These expliziert, indem er als Bedingung für die Seligkeit eine reflektierte Erkenntnis Gottes vermittels eines Gottesbeweises benennt. Diese erscheint vor dem Hintergrund der sonstigen Aussagen Fichtes nur nötig für ein sicheres und Zweifeln standhalten könnendes Fassen des Gottesglaubens. Dasselbe gilt, wenn er das Gefühl als nicht hinreichend für die Seligkeit herausstellt. Es ist für ihn ungenügend, um die »ewige und unveränderliche Fortdauer« der Seligkeit zu verbürgen. Sicher verbürgen kann sie ein Gefühl vielleicht nicht, aber es muss darüber auch nicht unbedingt ein Zweifel entstehen. Zumindest missverständlich ist es, wenn Fichte in dem Zusammenhang es auch zurückweist, dass das selige Leben in tugendhaften Handlungen besteht. Denn, wie er sonst deutlich macht, gehört die sittliche Praxis für ihn notwendig zur Realisierung des göttlichen Lebens dazu. Auch ist dessen Zentrum, die Vereinigung mit dem Willen Gottes, nicht nur als bloße Betrachtung, sondern als praktischer Akt eines Wollens und Liebens zu verstehen.

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danke‹ gemeint ist: die in der Liebe selbst implizierte und von einer intellektuellen Anschauung getragene Ausrichtung auf die Liebe, die dem Glauben zugrunde liegt. Der Glaube muss sich für Fichte zwar als Anschauung des lebendigen Grundseins der Sache nach auf Gott beziehen, es muss in ihm aber nicht Gott als eine vom Menschen getrennte Wirklichkeit vorkommen. Den Schritt von der höheren Moralität zur Religion beschreibt er als Ausrichtung auf den eigenen Willen als auf eine einfache, rein aufs Tätigsein bezogene und die Person in ihrer Individualität transzendierende Einheit (A158–163): Der sittliche Mensch zielt für ihn zwar schon rein auf die Erfüllung des sittlichen Willens und ist unabhängig von den sinnlichen Trieben. Da sich dieser Wille jedoch in der Sinnenwelt realisieren möchte, droht er, insofern der Erfolg oder Misserfolg ebenso von ihr bedingt ist, doch von ihr abhängig zu werden. Das äußere Misslingen kann für Fichte in dieser Situation ein Anlass sein für die Reflexion auf das eigentlich Erstrebte. Dieses liegt lediglich darin, das göttliche Leben in dem bestimmten Anteil, der das Individuum konstituiert, zu realisieren. Indem es ein Anteil am göttlichen Leben in seiner Einheit ist, zielt dieser Anteil auch auf die Einheit. Er will die Realisierung des göttlichen Lebens insgesamt; er will den göttlichen Willen insgesamt; und er beruhigt sich somit in der Tätigkeit, die rein auf die Erfüllung dieses Willens um seiner selbst willen bezogen ist, und ist deshalb unabhängig von jeder äußeren Realisierung. Seine Seligkeit ist von daher auch unabhängig davon, dass er die Anteile des göttlichen Lebens in den anderen Individuen nicht realisieren und dessen Hervortreten in seiner Ganzheit somit nicht bewirken kann, sondern nur einen Teil als eigenen Vollzugsbereich hat, dessen äußere Realisation zudem von den anderen Individuen beschränkt oder sogar verhindert werden kann. Dadurch entsteht für Fichte zwar im Individuum »ein wehmütiges Streben, und Sehnen, sich zu vereinigen, und zusammenzuströmen mit den, zu ihm gehörenden, Hälften« (A163). Die Seligkeit wird dadurch jedoch nicht gestört, denn die Spaltung des Daseins in die Vielheit der freien Individuen ist selbst Teil des göttlichen Willens und wird mit ihm bejaht. Diese Ausrichtung auf das eigentlich Gewollte vollzieht sich zwar im Idealfall vermittels einer Erkenntnis des einen absoluten Seins und der Teilnahme an dessen Leben und Wollen. Für die Realisierung dieses Willens reicht jedoch die bloße Ausrichtung auf die Einheit des Daseins. Wer sich auf dem Standpunkt der höheren Moralität auf die Betätigung seines innersten Willens rein um 298

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seiner selbst willen und damit auf das göttliche Leben in seiner Einheit ausrichtet – »gesetzt auch, er spräche es nicht mit denselben Worten aus« (A162) –, der befindet sich für Fichte auf dem Standpunkt der Religion. Die klare religiöse Erkenntnis wird dies als Überwindung jedes eigenen Wollens und Handelns hin zu einer Ausrichtung auf das Wollen Gottes und das Handeln Gottes im Menschen benennen. 328 Für die praktische Realisierung genügt jedoch die Vereinigung mit dem überpersönlichen Vernunftwillen des einen Daseins durch die Überwindung jedes Eigenwillens und die Transzendierung der Beschränkung auf die individuelle Person. Das Auftauchen der vom Dasein unterschiedenen Eigenwirklichkeit Gottes ist Teil der Reflexion. 329 Und es ist damit Bestandteil der zum göttlichen Leben gehörenden Klarheit der Erkenntnis. Für die Seligkeit kommt es jedoch nur auf das an, was Fichte in der zehnten Vorlesung der Anweisung Liebe nennt: die jede Unterscheidung überwindende Ausrichtung auf die Einheit des göttlichen Lebens (A166–168). Die Erkenntnis und Betrachtung Gottes und damit auch die Leiblichkeit, insofern sie diese ermöglicht, bekommen im späteren Modell einen anderen Stellenwert. Die betrachtende Ausrichtung auf Gott muss jedoch, obgleich beständig, nicht beständig bewusst vollzogen werden. Auch muss sie für das Erreichen des religiösen Standpunktes nicht unbedingt auf einer reflektierten Einsicht auf-

328 Vgl. etwa A163 f.: Der Religiöse will, dass »immer und ewig fort, in aller Erscheinung, Gott ganz heraustrete, und daß er allein lebe, und walte, und nichts außer ihm; und allgegenwärtig, und nach allen Richtungen hin, ewig nur Er erscheine dem Auge des Endlichen«. 329 Vgl. A169: »Das lebendige Leben Ist die Liebe, und hat und besitzt, als Liebe, das Geliebte, umfaßt, und durchdrungen, verschmolzen und verflossen mit ihm: ewig die Eine, und dieselbe Liebe. Nicht die Liebe ist es, welche dasselbe äußerlich vor sich hin stellt, und es zerspaltet, sondern das thut nur die Reflexion. Inwiefern daher der Mensch die Liebe ist, – und dies ist er in der Wurzel seines Lebens immer, und kann nichts anderes seyn, obwohl er die Liebe Seiner selbst seyn kann; und inwiefern insbesondere er die Liebe Gottes ist; bleibt er immer und ewig das Eine, wahre, unvergängliche, so wie Gott selbst, und bleibet Gott selbst« (A169). Damit möchte Fichte nicht sagen, dass an sich kein Unterschied besteht zwischen Gott und dem einen Dasein bzw. den Individuen in ihm. Ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre wurde herausgearbeitet, wie für ihn dem Dasein eine wirkliche Selbständigkeit unabhängig von Gott zukommt (vgl. bes. oben, S. 89–91). Es soll lediglich auf die Einheit des Lebens aufmerksam gemacht werden und darauf, dass die Unterscheidung nur auftaucht in der Reflexion. Zur genauen Rekonstruktion des Auftauchens des Unterschiedes zu Gott vgl. oben, S. 88 f.

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bauen oder Gott als eine vom eigenen Grundwillen unterschiedene Wirklichkeit in den Blick nehmen. Nicht mehr ein Hindernis Wenn Fichte in der späten Zeit das grundlegende Ziel des Menschen in der Einheit mit dem göttlichen Willen und in einer Unabhängigkeit von der Realisierung einer bestimmten Tat in der Sinnenwelt sieht, dann ist hier ein Unterschied festzustellen zu dem, wie er in der frühen Zeit dieses Ziel fasst. Er kann es dort schon als Vereinigung mit Gott bestimmen. Diese wird aber noch nicht wie in der späten Zeit als eine tatsächliche Lebenseinheit mit Gott verstanden, sondern nur als ein Gott-gleich-Werden. Für Fichte bestimmt sich hier das Ziel des Menschen durch das reine unbeschränkte Tätigsein, das er als einen Teilvollzug des Subjekts transzendental erschließt. Weil der Mensch zugleich immer eine beschränkte Tätigkeit vollzieht, kann er diese reine, von Beschränkung unabhängige Tätigkeit zwar nie erreichen, sondern sich nur unendlich annähern, sie ist aber doch das, was ihm als Ziel vorschwebt. 330 Indem Fichte Gott als eine solche reine Tätigkeit begreift, kann er das Ziel des Menschen als Vereinigung mit Gott im Sinn eines Gott-gleich-Werdens bestimmen. Die Weiterentwicklung hin zum späteren Modell besteht in einer Klärung des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Es wird nun eine reale Lebenseinheit angenommen. Gott setzt sein Sein außerhalb von sich und als selbständiges. Dieses vollzieht Gottes eigenes Leben und Wollen. Das Ziel des Menschen liegt in der Angleichung an dieses Wollen oder an das Gesetz, das Gott innerlich bestimmt und das er im Grunde selbst ist. Zwar vollzieht sich die Realisierung dieses Wollens in einer unendlichen Annäherungsbewegung. Dies schließt aber nicht aus, dass das Subjekt zugleich ganz in der Einheit mit dem göttlichen Willen anlangt und so sein Ziel erreicht. Die Vereinigung wird dabei nicht so gedacht, dass innerlich das göttliche Leben schon durch und durch verwirklicht ist und alles Vorläufige, Vergängliche und Begrenzte nur äußerer Schein ist. Das göttliche Leben verwirklicht sich nur in der begrenzten Welt, in sinnenweltlichem Tun und in interpersonalen Bezügen. Deshalb kann Fichte auch von einem immer weitergehenden Fortschritt im göttlichen Leben sprechen (A163). Ja er kann

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Vgl. dazu oben, S. 189 f.

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sagen, dass sich das göttliche Leben nie in einem Sein, in etwas Erreichtem verwirklicht, sondern nur in einem Werden. 331 In diesem Werden, auf der Ebene der Einheit mit dem göttlichen Willen, kommt der Mensch jedoch zugleich an seinem Ziel an, wenn er den Eigenwillen aufgibt, in uneingeschränkter Weise nur noch den göttlichen Willen als Ziel intendiert und dessen äußere Realisierung zwar anstrebt, aber nicht absolut will. Seligkeit wird von Fichte nicht so definiert, dass in ihr das göttliche Leben schon in seiner überhaupt vollkommensten Form durch und durch verwirklicht wird, sondern es bedeutet für ihn, nicht getrennt zu sein vom eigentlich Geliebten, nämlich der Einheit mit dem göttlichen Wollen (A59). Deshalb stört es auch die Einheit mit Gott und die Seligkeit nicht, wenn andere in ihr noch nicht angekommen sind. Denn die Angleichung an den Willen Gottes beinhaltet die Zustimmung zur Realisation des Daseins in der Vielheit freier Individuen (A162 f.). Dadurch, dass es auf einen Erfolg im Sinnenweltlichen nicht mehr absolut ankommt, büßt zwar diese Sphäre an Bedeutung ein. Auf diese Weise hindert sie jedoch auch nicht mehr den Menschen am Erreichen seines Zieles. Diese Weiterentwicklung hängt zusammen mit einem bestimmten Konzept des Verhältnisses des Menschen zu Gott, das es nun erlaubt, eine Einheit mit Gott trotz einer unendlichen Annäherungsbewegung zu denken. Dadurch verliert die Begrenzung die negative Bedeutung, diese Einheit zu verunmöglichen. Daneben hat die spätere Bestimmung des Verhältnisses zu Gott auch dadurch eine veränderte Sicht auf die Begrenzung zur Folge, als jetzt, wie dies schon herausgearbeitet wurde, die mit ihr einhergehende Bestimmung als Ausdruck einer Qualität des göttlichen Lebens selbst angesehen und diese so in ihrer Bedeutung aufgewertet wird. Gelassene Wertschätzung des Leiblichen Wie in den beiden vorigen Abschnitten bereits thematisiert, besteht für Fichte der Schritt von der höheren Moralität zur Religion darin, dass sich der Mensch ganz unabhängig macht von einem Erfolg seines Handelns in der Sinnenwelt. Der Mensch auf der Stufe der höheren Moralität strebt danach, die göttliche Idee in der ihm eigenen Gestalt in der Welt zu verwirklichen und zur Darstellung zu bringen. Er »will

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Vgl. G92 u. dazu oben, Anm. 239.

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also, in gewissem Sinne, allerdings auch eine bestimmte Gestalt seiner Welt und seiner Umgebung« (A158). So befindet er sich in einer Abhängigkeit von der letztlich »zufälligen Realisation oder Nicht= Realisation jenes angestrebten äußeren Objekts« (A158) – und dies, obwohl er sich durch die Erhebung auf den Standpunkt der höheren Moralität schon davon losgemacht hat, einen materiellen Zustand um seiner selbst willen anzustreben. Verdeckt bleibt dabei, dass das innerste Ziel seines Wollens nur das Wollen des einen Daseins, nicht aber ein äußeres Produkt oder überhaupt irgendein Zustand der Welt ist. Dem Religiösen geht es an erster Stelle und absolut nur darum, in seinem Wollen und Tun mit Gott eins zu sein. Und dieses ursprünglich vorhandene, nicht erst hervorzubringende Wollen kann in ihm durchbrechen, wenn er sich von allem Weltlichen sowie von sich selbst unabhängig macht. Dazu ist es notwendig, sich ganz aus der Äußerlichkeit der Sinne zurückzuziehen und in den eigenen Grund einzukehren (A64). Das Ziel ist einerseits, zu einer völligen Unabhängigkeit von allem Weltlichen zu gelangen, dabei aber andererseits die Bedeutung der Welt als Ort der Verwirklichung der eigenen Berufung nicht abzuwerten. Der Religiöse »wünscht daher allerdings den äußeren Erfolg, und arbeitet unablässig, und mit aller Kraft, weil er das gar nicht lassen kann, und weil dieses sein eigenstes inneres Leben ist, an der Beförderung desselben; aber er will ihn nicht, unbedingt, und schlechthin, und es stört drum auch seinen Frieden, und seine Seligkeit keinen Augenblick, wenn derselbe dennoch außen bleibt; seine Liebe und seine Seligkeit kehrt zurück in sein eigenes Leben, wo sie immer, und ohne Ausnahme sich befriedigt findet« (A162). Fichte unterscheidet zwischen der Liebe des religiösen Menschen – gemeint ist die reine Ausrichtung auf den göttlichen Willen – und seinem moralischen Handeln und bestimmt das Handeln als »bloß die stille Erscheinung dieses seines Lebens« der Liebe (A169). Das Lieben ist unabhängig vom Handeln, aber das Handeln entfließt ihm selbstverständlich und ohne dass es dazu noch irgendeines weiteren Grundes bedürfe: »Das Handeln ist gar nichts an und für sich selbst, und es hat kein eignes Princip; sondern es entfließt still und ruhig der Liebe« (A169). Die moralische Praxis gehört unmittelbar zum göttlichen Leben. Entsprechend behalten auch die Funktionen der Leiblichkeit für das sittliche Leben, wie sie von der frühen Sittenlehre und dann von der Anweisung her für die höhere Moralität herausgearbeitet wurden, in der Religion ihre Bedeutung. Somit gehören zum religiösen 302

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Leben weiter auch die Erhaltung des Leibes und die Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse. Fichte stellt entsprechend in der Anweisung die Bedeutung des »in das System des gesammten Lebens allerdings mitgehörenden, und darum nicht etwa vornehm zu verachtenden« Genusses heraus (A134). 332 Die Achtsamkeit in Bezug auf die leiblichen Bedürfnisse soll freilich in aller Unabhängigkeit geschehen. Der Genuss ist für ihn »der ernsten Sorge, nicht sehr werth […]« (A134). Mit dieser Unabhängigkeit kann aber zugleich das Erfordernis entfallen, sich negativ und abwertend abgrenzen zu müssen. Wenn sich der Mensch vom Genuss ganz unabhängig macht, geschieht dies nicht aus einer Abwertung heraus: »keinesweges, als ob Trübsinn, oder abergläubische Scheu, ihm den Genuß und die Freude als etwas Sündliches vorstellte, sondern, weil er weiß, dass kein Genuß ihm wirkliche Freude gewähren kann« (A114). Anschaulich bringt Fichte die absolute Freiheit und zugleich die gelassene Wertschätzung gegenüber dem natürlichen Leben in folgendem Zitat zum Ausdruck: »Allerdings ist es wahr, dass, durch die Zurückziehung unsers Gemüths von dem sichtbaren, die Gegenstände unsrer bisherigen Liebe uns verbleichen, und allmählig schwinden, so lange, bis wir sie in dem Aether der neuen Welt, die uns aufgeht, verschönert wieder erhalten; und dass unser ganzes altes Leben abstirbt, so lange, bis wir es als eine leichte Zugabe des neuen Lebens, das in uns beginnen wird, wieder bekommen.« (A64) Die Unabhängigkeit des religiösen Menschen von einer bestimmten äußeren Realisierungsgestalt des göttlichen Lebens bedeutet für Fichte auch eine Unabhängigkeit von der Verwirklichung der bestimmten individuellen Berufung, die auf der Stufe der höheren Moralität noch das eigentliche Ziel ist. Der Mensch ist nicht mehr

332 Vgl. dazu auch G81, wo Fichte auf die Notwendigkeit eingeht, sich in aller Freiheit der Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse zu widmen, um davon gestärkt der Verrichtung seiner sittlichen Berufung nachkommen zu können. Zugleich tritt an dieser Stelle, in der das Leben des Menschen auf dem Standpunkt der höheren Moralität in seiner Ausrichtung auf die Ideen beschrieben wird, die für ihn noch charakteristische Abwertung der einfachen, sich um die leiblichen Bedürfnisse kümmernden Tätigkeiten, die auf der Stufe der Religion dann überwunden wird, deutlich hervor: »Wie die sinnliche Natur ihr Recht erhalten haben wird; so wird der befreite, und mit neuer Kraft ausgerüstete Gedanke aus der fremden Welt, in die er herabgezogen wurde, ganz von selbst, und ohne äußere Zunöthigung oder Vorsatz wieder zurükkehren in seine Heimath, und sich auf die Bahn begeben, von deren Ziele jenes Geahndete unbekannte ihm entgegenstralte.«

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daran gebunden, in einem bestimmten Tätigkeitsbereich der höheren Moralität zu leben und ein selbstzweckliches, mit Gott einiges Leben nur in der Ausrichtung auf die Ideen zu finden. Fichte ist es wichtig, deutlich zu machen, dass die Einheit mit Gott auch von jemandem erreicht werden kann, der sich noch nicht zur Erkenntnis dieser Berufung erhoben hat oder sie nicht realisieren kann. Er verwirklicht die höhere Moralität dann zwar nicht dem Inhalt, wohl aber der Form nach. Zu dieser gehört nicht mehr, »als daß man sein Geschäft als den Willen Gottes an uns, und in uns, erkenne, und liebe. So jemand in diesem Glauben sein Feld bestellt, oder das unscheinbarste Handgewerbe mit Treue treibt, so ist dieser höher und seeliger, als ob jemand, falls dies möglich wäre, ohne diesen Glauben, die Menschheit, auf Jahrtausende hinaus, beglückseeligte.« (A114) Für die Bedeutung des Leiblichen hat dies zum einen die Konsequenz, dass dadurch die oben bereits beschriebene Problematik, dass eventuell die natürlich gewachsenen Handlungsmöglichkeiten und -antriebe des Menschen nicht zu seiner zeitlosen Berufung passen und diese nicht realisiert werden kann 333, kein letztes Gewicht mehr besitzt und dadurch der Mensch an der Erfüllung seines Zieles schlechthin gehindert würde. Zum anderen wird eine auf der Ebene der höheren Moralität noch bestehende Abwertung von einfachen körperlichen Tätigkeiten – gehörten sie zum Beruf oder seien sie eine der vielen alltäglichen Verrichtungen, mit denen man sich um die Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse kümmert – gegenüber den auf einen geistigen Fortschritt des Menschen hinwirkenden und auf die Ideen ausgerichteten spezifischen Tätigkeiten der höheren Moralität, etwa in Kunst, Politik oder Erziehung, überwunden. 334 Der Mensch kann sich in beiden mit dem göttlichen Willen einig wissen und seine Seligkeit muss bei einfachen Tätigkeiten nicht geschmälert sein. In dieser Relativierung der höheren Moralität findet freilich nicht, wie es vielleicht zunächst scheinen könnte, eine Annäherung an das frühe Verständnis von Sittlichkeit statt. Zum einen wird der Realisierung der eigenen Berufung in ihrem individuellen Gehalt weiter ein großer Wert beigemessen; ihr kommt nur keine absolute Bedeutung mehr zu. Zum anderen stellt die Weiterentwicklung zu einer Konzentration auf die einfache Einheit mit dem göttlichen Willen und die Unabhängigkeit von dessen bestimmter äußerer Realisierung gleicherweise einen Schritt über 333 334

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Vgl. dazu oben, S. 256–268. Zu dieser Abwertung vgl. auch oben, Anm. 332.

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die höhere Moralität dar wie über das Verständnis von Sittlichkeit in der frühen Zeit. Die Bedeutung von Leid und Misserfolg Bei der Beschreibung des Weges vom Standpunkt der höheren Moralität zu dem der Religion, der darin besteht, dass sich der Mensch in der Einheit mit dem göttlichen Willen beruhigt und sich von einer erfolgreichen äußeren Verwirklichung dieses Willens unabhängig macht, schreibt Fichte dem äußeren Misserfolg und dem damit einhergehenden Leid eine positive Funktion zu. 335 Ist das Wollen des Menschen noch auf »einen gemischten Gegenstand«, den sittlichen Willen zusammen mit seiner äußeren Realisierung, bezogen, dann wird durch den äußeren Misserfolg »seine Seligkeit getrübt«; und dies führt zu einer Selbstreflexion, dies »treibt ihn tiefer in sich selber hinein, sich vollkommen klar zu machen, was es eigentlich sey, das er anstrebe« (A162). Schon beim Schritt des Menschen überhaupt zur Sittlichkeit spielt für Fichte der Mangel an Befriedigung, wenn das Heil im Sinnenweltlichen gesucht wird, eine positive Rolle (A153). Allein der Blick auf das Leid und den äußeren Misserfolg ohne eine Intuition für das tiefere Streben nach einer von ihm nicht tangierten Vereinigung mit dem göttlichen Willen reicht zwar nicht hin und kann eher Anlass sein zur Verzweiflung an der Sinnhaftigkeit der Welt. 336 Fichte hat ein deutliches Bewusstsein dafür, wie naheliegend es im Blick auf die Natur mit all ihrer Mangelhaftigkeit, mit der Vergänglichkeit, der Blindheit ihrer Gewalt und dem häufigen Widerstreben gegen das gute Bemühen des Menschen ist, die Welt für absurd zu halten. 337 Zusammen mit einer Intuition für das tiefere 335 Fichte äußert sich in der Anweisung häufiger in diese Richtung (vgl. A61, 153, 158 f., 161 f. u. 164). 336 Wenn Fichte die positive Bedeutung des Leids in Bezug auf die Erhebung von der ersten Stufe der Weltansicht zu den höheren beschreibt, macht er auch auf die Gefahr aufmerksam, über das fortgesetzte Scheitern zu einer Einstellung zu finden, welche das »Verzweifeln am Heile das einzige wahre Heil, und die vermeinte Erkenntniß, dass der Mensch gar nicht zur Glückseeligkeit, sondern nur zu diesem Treiben im Nichts, um das Nichts, bestimmt sey, den wahren Verstand« (A61) nennt. Dieselbe Gefahr besteht m. E. auch für das von einem Erfolg in der Sinnenwelt noch abhängige Leben auf der dritten Stufe, zumal auf ihr die Erkenntnis, dass sich in ihm nicht ein bloßes Nichts, sondern das absolute Sein äußert, noch nicht sicher erreicht ist. 337 Eindringlich beschreibt Fichte dies in der Bestimmung des Menschen (B266–268): Wäre die Welt in dieser Form alles, dann »wäre alles Traum und Täuschung; und es

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sittlich-religiöse Streben kann das Gewahrwerden des eigenen Misserfolges und der prinzipiellen Beschränktheit der Welt für ihn jedoch eine positive Rolle spielen. Das Misslingen und die damit einhergehende Unzufriedenheit und das Leid schreibt Fichte in ihrer positiven Bedeutung ausdrücklich dem Willen Gottes (A153) und seinem Heilswirken, der »göttlichen Oekonomie« (A158), zu. Wie im nächsten Abschnitt noch verdeutlicht wird, versteht er darunter die Wirkung des von Gott ins eine Dasein gelegten und dadurch die Entwicklung und die Gestalt der Welt prägenden Gesetzes. Wie ist diese Zuschreibung näher zu verstehen? An der von Fichte in den Blick genommenen leidbehaften Situation sind zwei Ebenen des Leids zu unterscheiden. Das eine ist ein inneres Leid – eine Unzufriedenheit aufgrund der Nichterfüllung des eigenen Willens –, das abhängig ist von der subjektiven Einstellung dieses Willens. Sucht der Mensch im Sinnenweltlichen absolute Erfüllung, kann das innerhalb von Fichtes Modell nur enttäuschend sein. Dies entspringt seinem eigenen Wesen und seinem Grundstreben, das absolut nur auf den Willen Gottes bezogen ist und bei einer gemischten Willensausrichtung unbefriedigt bleiben muss. 338 Diese Art von Leid hört auf, wenn die Seligkeit an der richtigen Stelle gesucht wird. Anders ist es mit dem Leid, das faktisch auftritt, wenn die leiblichen Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Es bleibt auch dann, wenn das Wollen des Menschen mit seinem Grundstreben in Einklang ist. Sein Auftreten ist zwar nicht so unmittelbar aus dem Grundstreben des Menschen zu erklären, wohl aber aus der für die Bedingungen der Realisierung dieses Grundstrebens sorgenden gesetzmäßigen Entwicklung des einen Daseins. Dass Fichte auch dieses Leid der göttlichen Ökonomie zuordnet, ist zunächst insofern nach-

wäre nicht der Mühe wert, gelebt, und dieses stets wiederkehrende, auf nichts ausgehende, und nichts bedeutende Spiel mit getrieben zu haben«. Die Welt wäre ein »Ungeheuer, unaufhörlich sich selbst verschlingend, damit es sich wiederum gebären könne, sich gebärend, damit es sich wiederum verschlingen könne«. 338 Vgl. dazu etwa A60 über die von der Sehnsucht nach dem Ewigen getriebenen Menschen: »Gerade Das ja, daß nichts Endliches und Hinfälliges sie befriedigen kann, das ja gerade ist das einzige Band, wodurch sie noch mit den Ewigen zusammenhängen, und im Daseyn verbleiben«. Dieses Band bestimmt er in der zehnten Vorlesung als die Liebe, das innere Wesen des Daseins, das zugleich das göttliche Wesen ist (A166 f.). Vgl. auch A152: »Gott kann weder, noch will er, durch die Umgebungen seelig machen, indem er vielmehr Sich selbst, ohne alle Gestalt, uns geben will.« Dieselbe Aussage findet sich in A171.

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vollziehbar, als es sich eben aus dieser vom göttlichen Gesetz gelenkten Entwicklung erklärt. Diese bringt als Bedingung für dessen Realisation natürliche Organismen hervor, welche in einer Abhängigkeitsbeziehung zu Mitteln des Lebens stehen, die sich außerhalb von ihnen befinden, sowie zu anderen Lebewesen, die sie beeinträchtigen können. So erklärt sich zumindest die Möglichkeit von sinnlichem Leiden. Darüber hinaus muss für Fichte die leibliche Triebsphäre auch wirklich mit Leiden einhergehen, weil es in ihr als endlicher keine volle Erfüllung geben kann. Und zwar erklärt sich dies für ihn unmittelbar aus dem Wesen des Endlichen in seiner Relativität zum Absoluten. Dies wird etwa deutlich, wenn er von der faktischen Sterblichkeit als einem Ausdruck des Wesens des Endlichen spricht und sie parallelisiert mit der Relativierung des endlichen Seins gegenüber dem Absoluten, wie sie im religiösen Akt vollzogen wird. 339 Nicht nur die Zeitlichkeit und Veränderlichkeit – deren Notwendigkeit für die Relativierung des Beschränkten gegenüber dem Unbeschränkten ist bereits thematisiert worden 340 –, sondern ebenso die Hinfälligkeit, die Sterblichkeit und damit auch die Leidhaftigkeit sind für Fichte notwendig dafür, dass das Endliche seine Endlichkeit im Gegenüber zum Unendlichen realisiert. Auf diese Weise erklärt sich, wie für ihn das Leben des endlichen Vernunftwesens notwendig mit Einschränkungen und Leiden einhergeht und wie dies eine positive Rolle spielt in seiner Beziehung zur Dimension des Absoluten, indem es sich durch sie ihm gegenüber relativiert. Daneben steht für Fichte außer Frage, dass das Leid zunächst einmal eine Einschränkung der Möglichkeiten des Menschen, seinen sittlichen Willen zu realisieren, darstellt und deshalb, wo es möglich ist, verhindert werden soll (A164). Für Fichte ist jedoch Leid nicht generell vermeidbar. Und seine dargestellte Erklärung dieser Unvermeidbarkeit macht deutlich, wie für ihn die ideale Haltung gegenüber dem eigenen unausweichlichen faktischen Leiden aussieht. Indem der Mangel an Befriedigung in der endlichen Triebsphäre als eine Manifestation der Endlichkeit des Endlichen oder seiner Relativität gegen-

339 Vgl. A64: Es »ist dies das, der Endlichkeit nie abzunehmende, Schicksal; nur durch den Tod hindurch dringt sie zum Leben. Das Sterbliche muß sterben, und nichts befreit es von der Gewalt seines Wesens; es stirbt in dem Schein=Leben immerfort; wo das wahre Leben beginnt, stirbt es, in dem Einen Tode, für immer, und für alle die Tode in die Unendlichkeit hinaus, die im Scheinleben seiner erwarten.« 340 Vgl. dazu oben, S. 118–120.

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über dem Absoluten und insofern unmittelbar als eine Folge des göttlichen Gesetzes anzusehen ist, muss die Vereinigung mit diesem Gesetz beinhalten, diesen Mangel zu bejahen und ihn, der zunächst faktisch gegeben ist, sozusagen aktiv zu vollziehen. Im faktischen Mangel ereignet sich die gesollte Relativierung des Endlichen schon voraus und es geht darum, sich darauf einzulassen. Das Motiv, der Unvollkommenheit des Endlichen selbst eine positive Rolle zuzuschreiben, findet sich bei Fichte auch in seiner theoretischen Philosophie. Hier ist es die notwendige Widersprüchlichkeit der Erkenntnis der Sinnenwelt, wie sie Kant in seinen Antinomien aufgedeckt hat, die das Erkennen dazu veranlassen kann, diese Sphäre als bloße Erscheinung zu durchschauen. 341 Der Leib und die göttliche Ökonomie Durch die dargestellte Veränderung der Sicht auf das Ziel des Menschen gegenüber der frühen Zeit verliert auch deren religionsphilosophischer Ansatz seine Bedeutung. Fichte spricht in der Anweisung nicht mehr vom Postulat einer göttlichen Weltregierung. Zwar taucht auch später der religiöse Glaube weiter angesichts der Frage nach dem Scheitern der sittlichen Tat auf. Neben dem, dass dieses Problem aber nicht mehr der einzige Zugang zum Gottesglauben ist – dieser kann sich ebenso aus der Frage nach dem Realitätsstatus oder der Sinnhaftigkeit des Daseins ergeben, wie auch einfach aus der Frage nach seinem Grund –, hat sich auch die Art der Lösung des Problems verändert. Während Fichte früher noch der Auffassung ist, dass zur Ausrichtung auf das Sittengesetz der Glaube gehört, »daß jede wahrhaft gute Handlung gelingt, jede böse sicher mislingt« (Ü356), und er daher Religion als Glaube an eine dies gewährleistende göttliche Weltregierung expliziert, hält Fichte später im Gegensatz dazu das »äußere Mislingen« (A158) für möglich und räumt diesem, wie im vorigen Abschnitt dargestellt, sogar eine positive Funktion ein 342, indem es über die Zielsetzung des sittlichen Lebens hinausführt zum spezifisch religiösen, der Vereinigung mit Gott. 341 Vgl. Fichtes Aussage in der Erlanger Metaphysik-Vorlesung über den Verstand: »[D]urch sein verwirrendes Spiel soll er uns herauf treiben« (I166). Vgl. dazu oben, S. 124 f. 342 Diese Veränderung lässt sich schon in der Bestimmung des Menschen beobachten. Hier geht Fichte bereits davon aus, dass Leiden und sogar Laster in der göttlichen Ökonomie eine positive Rolle spielen können (B271, 277 u. 298 f.).

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Diese Veränderung hängt damit zusammen, dass er jetzt die Eigenbedeutung der Religion dadurch heraushebt, dass er das letzte Ziel des Menschen in der Vereinigung mit Gott sieht. Denn diese ist unabhängig vom äußeren Erfolg, so sehr dieser weiter angestrebt wird. Für Fichte impliziert zwar der Glaube an das Sollen weiter den Glauben daran, dass der gute Wille auch zu seinem Ziel führen muss. Indem dieses Ziel auf eine absolute Weise aber nur die Vereinigung mit dem göttlichen Leben und Wollen ist, indem dieses Leben im Subjekt immer schon gegenwärtig ist und die Vereinigung mit ihm nur an der Ausrichtung des Willens auf das göttliche Wollen und am Verzicht auf allen Eigenwillen hängt, ist dessen Realisierung jederzeit möglich – unabhängig von den Bedingungen einer äußeren Konkretisierung, lediglich unter der Bedingung, dass ein Mensch überhaupt die Fähigkeit zur Reflexion hat. Die Möglichkeit der Erfüllung des Zieles auf der religiösen Ebene hat eine Entsprechung auf der sittlichen. In der Vorlesung Über das Wesen des Gelehrten hebt Fichte hervor, dass der sittliche Wille in Bezug auf die sittliche Gesinnung – er spricht hier von der Rechtschaffenheit – immer gelingt und sogar immer eine Stärkung dieser Gesinnung und inneren Haltung hervorbringt. 343 Auch ist die Rechtschaffenheit in jeder Situation zu verwirklichen, da jede Situation, wie widrig sie auch immer ist, eine Möglichkeit bietet, daraus das Bestmögliche zu machen, und somit eine Pflicht darstellt, die rein um der Pflicht willen angezielt werden kann. Entsprechend kann Fichte in der Anweisung sagen: »Denen, die Gott lieben, Müssen alle Dinge zum besten dienen« (A153). Die beschriebene Veränderung bedeutet jedoch nicht, dass das Konzept einer göttlichen Weltordnung einfach verabschiedet würde. Zwar kommen die Ausdrücke ›göttliche Weltordnung‹ oder ›Weltregierung‹ zur Zeit der Anweisung nicht mehr vor. Auch ist das äußere Gelingen in jedem Fall und deshalb das Postulat einer göttlichen Weltordnung nicht mehr gefordert. Fichte geht allerdings immer noch davon aus, dass die Gestalt der Welt zumindest grundsätzlich so ist, dass sie nicht bloß eine innere Erfüllung des Zieles, sondern auch dessen äußere Realisierung ermöglicht. Er muss dafür nur nicht mehr eine göttliche Weltordnung postulieren, sondern diese folgt schon direkt aus seinem Modell des einen Daseins. Wie im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem

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Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 260–262.

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Verhältnis der überzeitlichen Interpersonalspaltung zur Spaltung der Sphäre des Naturtriebes und genauer nach der Ermöglichung einer der individuellen Berufung angemessenen leiblichen Triebsphäre herausgearbeitet wurde, lässt sich durch Fichtes Modell der gesetzmäßig gelenkten Entwicklung des einen Daseins die Produktion von geeigneten Handlungsmöglichkeiten zumindest für die Realisation der höheren Moralität in ihrer Form und damit auch die Realisation der Einheit mit Gott erklären. 344 Diese Produktion wird hierbei nicht unmittelbar auf Gott zurückgeführt, sondern auf das eine Dasein. Letztlich liegt dessen Vollzug jedoch in Gott begründet. Von daher kann man sagen, dass die Lenkung der Entwicklung des einen Daseins durch das göttliche Gesetz genau die Stelle einnimmt, an der in der frühen Zeit die göttliche Weltregierung steht. In der Anweisung verwendet Fichte zumindest einen ähnlichen Begriff: den der »göttlichen Oekonomie« (A158) – der Haushaltung Gottes. Es handelt sich um den traditionellen theologischen Begriff für Gottes Heilsplan und Heilswirken. Was meint er damit? Auf diese Ökonomie führt er zurück, dass der Mensch beim Versuch, seinen sittlichen Willen in der Sinnenwelt zu realisieren, immer mit Misserfolg und Leid konfrontiert wird und dies aber den positiven Sinn besitzt, ihn zur Reflexion auf das, was er eigentlich im Kern will, zu veranlassen. Indem dies, wie im vorigen Abschnitt ausgeführt wurde, als durch das im einen Dasein wirksame göttliche Gesetz begründet angesehen werden muss, erklärt sich die Rede von einer göttlichen Ökonomie und muss sie in genau diesem Sinn verstanden werden. Das göttliche Gesetz ermöglicht zunächst einmal, dass die sichere Verwirklichung des religiösen Zieles sowie der Sittlichkeit in ihrer allgemeinen Form der Rechtschaffenheit möglich ist. Dies geschieht, indem sich ihm zufolge in der Natur Organismen entwickeln, denen der Grundvollzug des Daseins innerlich ist und welche zudem eine geeignete Basis für die Entfaltung eines differenzierteren Bewusstseins und somit für eine Reflexion auf diesen Grundvollzug darstellen. Mit der Naturproduktion von Organismen sind aber zugleich auch die Bedingungen dafür gegeben, dass grundsätzlich – wenngleich nicht in jedem einzelnen Fall – ebenso eine Realisierung des sittlich-religiösen Wollens im Äußeren gewährleistet ist. Dass der Mensch einen beweglichen und bildbaren Leib besitzt, mit dem er wirken kann, dass er über ihn an-

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Vgl. dazu oben, S. 256–268.

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deren Vernunftwesen begegnen kann und sie sich gegenseitig durch vorbildliches Handeln befördern können – dies alles ermöglicht, dass sittliches Wollen in Bezug auf den Wollenden selbst sowie in Bezug auf die Welt und die anderen Personen einen Fortschritt bewirkt. Neben dem Sollen in seiner Form und der Entfaltung der allgemeinen und ableitbaren Bedingungen der Realisation dieser Form liegt für Fichte im Gesetz des einen Daseins, wie im letzten Abschnitt dieses Kapitels noch ausgeführt wird, zudem ein göttlicher »Plan« (G76), der über unableitbare individuelle Berufungen dafür sorgen soll, dass die Menschen die entscheidenden Impulse für die Entwicklung auf ihr Ziel hin erhalten. Neben der generellen Ermöglichung der Moralität ist auf eine spezielle Weise in diesen individuellen Bestimmungen im späteren Konzept eine göttliche Weltordnung präsent. Wie dies schon herausgearbeitet wurde, ist dieser Plan für Fichte aktiv gestaltend. Er lenkt die Differenzierung des Daseins und prägt sich in Individuen mit ursprünglichen Bestimmungen sowie in für sie geeigneten natürlichen Bedingungen aus. Indem mit dem Konzept der gesetzlich gelenkten Entwicklung des einen Daseins die Entstehung von geeigneten Realisierungsmöglichkeiten des sittlich-religiösen Willens gedacht werden kann, ist die göttliche Weltordnung nicht mehr wie in der frühen Zeit etwas letztlich Unbegreifliches. Die Unbegreiflichkeit bestand, weil es für Fichte noch nicht möglich war, über das Ich hinauszugehen. Jetzt ist dies möglich. Fichte kann transzendentalphilosophisch gerechtfertigt Wirkzusammenhänge in der intelligiblen Welt, zwischen Gott, der Einheit des Daseins, den Individuen und der Naturentwicklung, voraussetzen. Auch die sich aus dem anscheinenden Widerspruch zur Lebenserfahrung ergebende Unbegreiflichkeit wird hinfällig, da das Axiom aufgegeben wird, es müsse aus sittlichem Handeln – wie auch immer – ein Fortschritt in der Welt erfolgen. Fichte löst sich davon, ohne dabei freilich in das andere Extrem zu verfallen, zu dem er noch in der Bestimmung des Menschen tendiert, nämlich den Erfolg in der konkreten sinnlichen Welt von der Verwirklichung des eigentlichen Ziels zu trennen und damit in einer gnostischen Weise das Innere und das Äußere des Menschen auseinanderzureißen. 345 345 In der Bestimmung des Menschen lassen sich zwei Wege beobachten, auf denen Fichte an der Frage, wie sittliches Handeln zu einem Erfolg führen kann, weiterarbeitet. Zum einen finden sich Überlegungen dazu, wie gegen den äußeren Anschein evtl. doch ein Erfolg in der Sinnenwelt stattfinden kann. Etwa für den Fall, in dem ein

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Das leiblich Begegnende als Wille Gottes? – Zur Theodizeefrage Durch die neue Fassung des Konzepts des göttlichen Wirkens verändert sich die Sicht darauf, inwieweit sich in den weltlichen Ereignissen der Wille Gottes ausdrückt. Zur Zeit der frühen Sittenlehre besteht die Vollkommenheit des sittlichen Willens wesentlich darin, dass er alles Begegnende als Willen Gottes hinnimmt. 346 Innerhalb des damaligen Prädestinationskonzepts wird alles unmittelbar auf das Wirken Gottes zurückgeführt – mit nicht mehr nachvollziehbaren Implikationen. So muss man es für Fichte als »Wille des Sittengesetzes« oder der »Weltregierung durch die Vernunft« ansehen, wenn jemand für die Verrichtung einer sittlichen Tat sein Leben aufs Spiel setzt und stirbt (S268 f.). Die Konsequenz wäre sogar, dass nicht nur solche mala physica unmittelbar auf den göttlichen Willen zurückgehen, sondern auch die für Fichte ebenfalls prädeterminierten schlechten Wirkungen jedes malum morale. Zugleich geht er davon aus, dass die faktischen Geschicke des Menschen ihm immer »zum

sittliches Werk durch eine Naturgewalt zunichte gemacht wird, überlegt Fichte, dass es dadurch zumindest zu einer Ermüdung dieser Naturgewalt kommen kann (B268 f.). Man darf vermuten, dass Fichte solche Erklärungen selbst gewagt vorgekommen sind und dies auf eine Verabschiedung der Überzeugung von der Notwendigkeit eines Erfolges in der Sinnenwelt gedrängt hat. Zum anderen trägt Fichte die These vor (B277–287), dass die sittliche Tat auf jeden Fall insofern Erfolg hat, als ein guter Wille, eine gute Gesinnung gesetzt wird. Dies deutet er als Wirkung in einer von der sinnlichen unterschiedenen geistigen Welt. Mit dieser ist der Wille einerseits schon gegenwärtig in Kontakt, jedoch so, dass ihm die Wirkungen erst in einem künftigen Leben, indem sie die Vermögensbasis für dieses künftige Leben bilden, zur Verfügung stehen. Für ihn soll die Ausrichtung des Willens ganz auf diese geistige Welt gehen. Der Wille wirkt dann zwar zugleich auch notwendig in der Sinnenwelt und diese Wirkung hat für ihn den Zweck, in ihr einen dem Sittengesetz entsprechenden Zustand der Gemeinschaft der Menschen hervorzubringen. Für ihn ist dieser aber nicht direkt anzustreben. Das Leben in dieser Welt ist immer nur als Mittel für das jenseitige geistige zu betrachten. Fichte beschreibt den Zustand dieser Welt zum Teil als etwas ganz Zufälliges und Unbedeutendes, sodass, wie Hansjürgen Verweyen (2000, XXX) es treffend charakterisiert, »ein geradezu gnostisch anmutender Dualismus« entsteht. Im Modell zur Zeit der Anweisung wird zwar weiter der Erfolg in der Sinnenwelt gegenüber der inneren Vereinigung mit dem absoluten Willen relativiert. Zugleich wird ihm jedoch von ihr her klar ein Sinn zugeschrieben. Auch verwirklicht sich das göttliche Leben nicht einfach unabhängig vom sinnenweltlichen und interpersonalen. Zu einer Hinwendung auf das Hier und Jetzt des göttlichen Lebens und seiner geschichtlichen Realisierung kommt es zudem dadurch, dass die Verschiebung des Erfolges auf ein zukünftiges Leben fallen gelassen wird. 346 Vgl. oben, S. 194–198.

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Bessten dienen« (Ü356) und dass das sittliche Handeln in seinen Auswirkungen immer erfolgreich ist. Fichte ist sich darüber im Klaren, dass dies häufig nicht nachvollziehbar ist. Der Glaube daran ist jedoch für ihn im Glauben an das Sittengesetz impliziert. Aus dem Sollen folgt das Können, und zwar nicht nur das Vermögen der freien Zustimmung, sondern auch das Vermögen der gelingenden Verwirklichung in jedem Fall. Auch folgt die Dienlichkeit jeder Ausgangssituation des sittlichen Handelns, wie widrig diese auch immer sein möge (Ü352 f.). Als tiefere Begründung muss man im Hintergrund sehen, dass für Fichte reiner sittlicher Trieb und Naturtrieb systematisch in den einen Urtrieb eingebunden sein müssen. Dadurch muss der Naturtrieb als dessen Manifestation und damit als kongruent mit dessen sittlicher Zielausrichtung betrachtet werden. 347 Dies ändert jedoch nichts an der mangelnden Plausibilität des frühen Konzepts. Es ist nachvollziehbar, dass Fichte es revidiert. Fichte gebraucht, soweit ich sehe, nicht den Begriff der Theodizee noch stellt er ausdrücklich die Theodizeefrage im engeren Sinn. Implizit behandelt er aber ihre Thematik in seiner Theorie der göttlichen Weltregierung, denn sie enthält indirekt eine Verteidigung der ethischen Vollkommenheit und der Wirksamkeit des Sittengesetzes oder der moralischen Weltordnung 348, die er theologisch als Handeln eines Absoluten deutet. 349 Wenn er in der Bestimmung des Menschen schreibt: »Es ist nur Eine Welt möglich, eine durchaus gute« (B299), dann kann dies als abgrenzende Bezugnahme auf Leibniz’ Theodizee-

Vgl. dazu oben, S. 176–179. Fichte selbst führt dies in der Schrift Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung neben dem Argument, das vom Sollen auf das Können schließt, als tiefere Begründung an. »Unsre Welt ist das versinnlichte Materiale unsrer Pflicht« (Ü353). 348 Verteidigung freilich nicht wie bei der moralischen Rechtfertigung eines frei handelnden Wesens, da die absolute Vernunfthandlung für ihn nicht wahlfrei ist. In dem Sinn ist m. E. die Bemerkung in S268 zu interpretieren, dass »das die Welt regierende Sittengesetz« keine »Verantwortlichkeit« haben kann. 349 Insofern scheint mir die Deutung von Odo Marquardt (2004, 150–152), der frühe Fichte habe aufgrund des Theodizeeproblems die Weltschöpfung und damit die Verantwortung dafür aus der Hand Gottes in die der Menschen gelegt, nicht zutreffend. Weder stellt sich für Fichte wirklich das Theodizeeproblem – es ist für ihn von vornherein dadurch gelöst, dass der Glaube an das Sittengesetz auch den Glauben an dessen Wirksamkeit und Güte impliziert, wie auch immer das mit der faktischen Geschichte zusammengehen möge – noch ordnet er die Tätigkeit des Sittengesetzes oder der Weltordnung einfach nur dem Menschen zu. Er deutet sie durchaus theologisch. 347

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these, die Welt sei die beste aller möglichen, gelesen werden. Charakteristisch für die frühe Theodizee Fichtes – wenn man von so etwas sprechen möchte – ist, dass sie sozusagen rein von oben erfolgt. Zu der Aussage, dass nur eine Welt möglich ist und diese als gut angesehen werden muss, kommt er nicht im Ausgang von den Schrecken der Geschichte, sondern vom Glauben an das Sittengesetz. Sie ist für ihn darin unmittelbar impliziert, ohne dass er den Anspruch hätte zu erklären, wie die faktische Geschichte mit dem Glauben an deren Bestimmtheit durch ein sittliches Absolutes vereinbar ist. Dieser Mangel ist im späteren Modell behoben. Zum einen geschieht dies dadurch, dass der Anspruch reduziert wird: Es wird zwar grundsätzlich an der Eignung der Welt für die Verwirklichung von Sittlichkeit festgehalten, aber nicht mehr ein Gelingen in jedem Fall behauptet. Zum anderen und vor allem aber ist nun nach der Verabschiedung des Prädeterminationskonzepts das Sittengesetz oder Gott nicht mehr unmittelbar für die ganze konkrete Gestalt der Welt Grund, sondern in Bezug auf die schlechten Taten nur indirekt, insofern nämlich Gott die Freiheit will, nicht aber inhaltlich die schlechte Tat (A162). Auf diese indirekte Weise ist zwar weiter alles als Wille Gottes anzusehen und das Annehmen des Begegnenden ist notwendiges und integrales Moment der Vereinigung mit Gott (A152 f. u. 161). Die Annahme geht dabei aber nur so weit wie der Wille Gottes: Sie bezieht sich nur auf die Existenz der Freiheit und ihrer Betätigung, verurteilt aber weiter die schlechte Tat. 350 Durch die Herauslösung der Ereignisse aus dem unmittelbaren Bestimmtsein durch Gott besteht zudem ein Freiraum, sie als mehr oder weniger förderlich für das Einnehmen einer sittlichen Haltung zu bewerten. Zwar wird weiter grundsätzlich an der Möglichkeit dazu auch noch unter den widrigsten äußeren Umständen – und insofern an dem Satz, dass alle Dinge dem Menschen zum Besten dienen – festgehalten. Dies geht aber zusammen mit der Problematisierung des Eingeschränktseins durch Leiden. Für Fichte kann das Leiden zwar auch eine positive Funktion haben. Das ändert aber nichts daran, dass es, weil es eine Einschränkung des Lebens und zugleich eine Hemmung der Entfaltung der Moralität darstellt, verhindert werden und als etwas dem göttlichen Willen Widersprechendes angesehen werden soll. Für die Frage, wie in der bloßen Natur, die sich für Fichte vorgängig zur frei350 Vgl. etwa A171, wo sich Fichte gegen die Haltung einer undifferenzierten Bejahung von allem und jedem wendet.

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en Wirksamkeit des Menschen in einem notwendigen Verlauf entfaltet, die Bestimmtheit durch das Sittengesetz damit vereinbar ist, dem Leiden ausgesetzt zu sein – zudem auch dem Getriebensein, das wie das Leiden Sittlichkeit erschweren kann –, enthält schon das frühere Modell eine mögliche Antwort. Denn es beansprucht zu zeigen, dass der Mensch notwendig ein Wesen mit zunächst selbstbezogenen Trieben ist, deren Befriedigung von Äußerem abhängt, und dass er somit auch notwendig der Frustration dieser Triebe und dem Leiden ausgesetzt ist. Auch hier muss gesagt werden, dass Gott das Leid nur indirekt will, insbesondere starkes Leid, durch welches der Mensch eher eingeschränkt wird, als dass es ihm förderlich sein kann. Er will die Realisation des göttlichen Lebens außerhalb von sich und in den Bedingungen dafür sind die Möglichkeit und, wie dies oben schon dargelegt wurde, in einem bestimmten Ausmaß auch die Wirklichkeit von Leid notwendig impliziert. 351 Die Widrigkeiten der leiblichen Existenz sind für Fichte von daher als etwas gar nicht anders Mögliches im Blick auf das sittliche Ziel in Kauf zu nehmen und in dem Sinn als Wille Gottes zu bejahen. Die Frage, warum Gott überhaupt die Welt wollte und gesetzt hat und weshalb er nicht eingreift, wenn das Leid zu groß wird, stellt sich für Fichte nicht, da er Gott von vornherein nicht als wahlfrei denkt. Auch die Frage, ob nicht eine Welt denkbar ist, die überhaupt ohne Wollen und Triebhaftigkeit und damit ohne Befriedigung und Schmerz auskommt 352, scheidet für Fichte aus. Denn für ihn erschließt sich Gott als ein Wollen und kann Gott nur von seinem Sein etwas außer sich setzen. Bei Fichte finden sich gute Argumente dafür, wie die der sittlichen Selbstverwirklichung des Menschen entgegenlaufenden Momente der faktischen Geschichte mit deren Bestimmtheit durch das Sittengesetz und durch Gott zusammengedacht werden können. Zumindest dass in irgendeiner Weise in der endlichen Existenz eine Möglichkeit des Leidens gegeben sein muss, erschließt er auf nachvollziehbare Weise. Ob man sein Konzept aber insgesamt als plausible Theodizee ansieht, hängt daran, ob man es angesichts der faktischen Vgl. dazu oben, S. 306–308. Soweit ich sehe, stellt sich Fichte diese Frage nicht ausdrücklich. Wie wesentlich für ihn jedoch das Verständnis des Seins – des Seins Gottes und davon abgeleitet des göttlichen Lebens des Daseins – als eines Wollens und Strebens ist, wird deutlich, wenn er sich gegenüber der Idee eines ganz leidenschaftslosen Seins abgrenzt, das ohne Wollen jeder Befriedigung, aber auch jeder Möglichkeit von Schmerz enthoben ist (vgl. dazu oben, S. 287 f.). 351 352

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Möglichkeiten eines so übergroßen Ausmaßes von Leid noch als haltbar ansieht, von einer Prägung der Naturentwicklung durch ein Sittengesetz – in der Form wie bei Fichte oder überhaupt in irgendeiner Form von ethischer Teleologie – auszugehen und ob man von daher nicht seinen ganzen Ansatz infrage gestellt sieht. Außerdem ist es davon abhängig, ob man Fichtes Gottesbegriff teilt. Seine Theodizee besteht wesentlich darin, dass sein Gott nicht in der Weise allmächtig ist wie in der traditionell christlichen Vorstellung. Er ist von seinem eigenen Wesen bestimmt, die Welt zu setzen und sie in der einzig möglichen Gestalt zu setzen. Eine Möglichkeit der Wahl kommt ihm nicht zu. Entsprechend kann man sich nicht gegen ihn empören und ist es keine moralische Möglichkeit, die eigene Existenz und die Welt als unzumutbar abzulehnen. Fragwürdig ist Fichte Theodizee nicht zuletzt dadurch, dass er den Schmerz von vornherein insofern relativiert, als er der Lust keinen Wert in sich zugestehen kann und dem Menschen zumutet, sich von ihr ganz unabhängig zu machen und nur den sittlichen Willen anzustreben. Wie einseitig und streng Fichte in dieser Hinsicht auf das Leben blickt, wird besonders durch die Gegenüberstellung mit Levinas deutlich hervortreten, der ausgehend von seinem Beziehungsdenken dem Genießen einen ganz anderen Stellenwert zusprechen kann als Fichte. Geschichtliche Offenbarung An die Stelle der göttlichen Weltordnung in der frühen Zeit tritt später, wie dies bereits ausgeführt wurde, das göttliche Gesetz im einen Dasein. Dieses lenkt das Dasein zum einen Teil, indem es sich als allgemeines Sittengesetz präsentiert und indem es in der Entwicklung der Natur geeignete Bedingungen für dessen Realisierung heranbildet. Zum anderen Teil wirkt es durch die in der Interpersonalspaltung entstehenden individuellen Berufungen. 353 Durch sie sieht Fichte eine 353 Diese beiden Seiten des Wirkens einer göttlichen Weltregierung kann man gut in der späten Staatslehre von 1813 unterschieden finden. Die Natur wird einerseits in ihren ableitbaren Formen vom Sittengesetz bestimmt. In ihnen ist sie immer ein Stoff und eine geeignete Ausgangsbasis für die Sittlichkeit, auch in den ganz widrigen, durch unsittliche Freiheitsakte bestimmten Situationen. »Was auch die gesetzlose und gesetzwidrige Freiheit beginne, eine Aufgabe für die sittliche Freiheit enthält es immer, es zum Besten zu wenden.« (St86) Von dieser sogenannten negativen Beziehung des Sittengesetzes auf die Geschichte unterscheidet Fichte eine positive, »zufolge welcher […] die sittliche Freiheit geweckt, befördert und gebildet werden soll«

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Möglichkeit gegeben, wie das göttliche Gesetz wichtige Aspekte seiner selbst offenbaren – nicht nur an das Individuum, dem die jeweilige Berufung zukommt, sondern an die ganze Menschheit – und wie es auf diese Weise Impulse geben kann zu deren Entwicklung. 354 In jeder Berufung liegt eine neue und eigene Perspektive auf Gott oder das Ziel des göttlichen Lebens, die es gilt zu verwirklichen und mitzuteilen. 355 In jeder liegt eine göttliche Offenbarung, die unter Umständen von Bedeutung sein kann für den Fortschritt der Menschheit. Fichte geht zwar offenbar nicht davon aus, dass alle Berufungen etwas von so allgemeiner Wichtigkeit enthalten. 356 Aber jeder solle sich darum sorgen, das zum Ausdruck zu bringen, was in ihm angelegt ist, weil es von Wichtigkeit sein könnte. 357 Die Beispiele von individuellen Berufungen, die Fichte vorstellt, bewegen sich, wie dies bereits dargestellt wurde, innerhalb der Themen der fünf Bereiche des Daseins. 358 Es geht um Berufungen zu einer bestimmten Gestalt etwa von künstlerischer Existenz, von politischem Engagement oder von (St86). Diese wird von Gott durch »ein schlechthin qualitatives Seyn seiner Erscheinung«, und zwar eine »qualitative Bestimmung des Willens«, verteilt an die Individuen als deren ursprüngliche Berufung, und eine entsprechend bestimmte Sinnenwelt verwirklicht (St92 f.). Dies entspricht dem Konzept von Berufungen höherer Moralität in der Anweisung. 354 Vgl. G77–79. Fichte spricht hier davon, wie sich die göttliche Idee teilweise oder in einzelnen Ideen vermittels der individuellen Berufungen von Einzelnen in der Welt offenbart, und zwar als etwas vorher nie in ihr Dagewesenes. »Alles Neue, Große und Schöne, was von Anbeginn der Welt an in die Welt gekommen, und was noch bis an ihr Ende in sie kommen wird, ist in sie gekommen, und wird in sie kommen durch die göttliche Idee, die in einzelnen Auserwählten theilweise sich ausdrückt.« Dadurch wird auf die Entwicklung der Menschheit hingewirkt: »Die Fortbildung der menschlichen Gattung hat die göttliche Idee – dieselbe Fortbildung hat jeder, welcher von dieser Idee ergriffen wird, – zum Ziele.« Fichte veranschaulicht dies mit Hilfe von Beispielen, etwa der Idee des Staates oder der Religion. 355 Vgl. A163 f. oder auch G89–91. 356 In G77 spricht Fichte in Bezug auf die Träger großer, weltbewegender Ideen nur von »einzelnen Auserwählten«. 357 Vgl. G86, in Bezug auf die Gelehrtenberufung. Allgemeiner bringt Fichte dies in der späten Staatslehre zum Ausdruck. Auch hier geht er davon aus, dass Gott in die ursprünglichen Willensbestimmungen der Menschen u. a. solche gelegt hat, die entscheidende Offenbarungen liefern, »um die Erhaltung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts auf alle Ewigkeit zu sichern« (St93). »Erwarten soll sie indeß Keiner, sondern Jeder an seinem Orte nachdenken und streben, als ob auf ihm allein und seinem Verstande und seiner Anwendung desselben das Heil der Menschheit beruhe: diesem Nachdenken und Streben nun werden eben die rechten Gesichte aus jener ewigen Quelle, die da ist aus Gott, entströmen.« (St93) 358 Vgl. dazu oben, S. 271–273. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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religiösem Bewusstsein. Die Beispiele können nachvollziehbar machen, wie dieselbe Qualität für Fichte sowohl eine individuelle Lebensform ausmachen als auch die Offenbarung eines Aspekts des göttlichen Lebens sowie einen für die Entwicklung aller Menschen wichtigen Impuls darstellen kann. Die Geschichte und mit ihr die leibliche Sphäre wird hier bedeutsam als Ort göttlicher Offenbarung und ihrer Kommunikation. In einer allgemeinen Form wird das Ziel des Lebens jedem individuell innerlich mitgeteilt, in besonderen Aspekten jedoch durch einzelne Menschen, die sie in der Geschichte an die Anderen weitervermitteln. Neben der Bedeutung als Medium der Mitteilung kommt dem Leib in diesem Konzept auch dadurch eine Rolle zu, dass sich die individuelle Berufung leiblich manifestieren muss in für sie geeigneten Handlungspotentialen. Wie Fichte versucht, die Möglichkeit ihrer Heranbildung zu erklären und in welche Schwierigkeiten er dabei gerät, ist bereits ausführlich erörtert worden. 359 Es erscheint in seinem Modell nicht als generell unmöglich, dass sich geeignete Trieborganismen herausbilden. Ob Fichte mit diesem jedoch eine sichere Lenkung der Geschichte durch ursprüngliche Berufungen denken kann, ist fraglich. In jedem Fall ist die Leiblichkeit aber dadurch bedeutsam, dass das Entdecken der eigenen individuellen Bestimmung über die Wahrnehmung der sich in den leiblichen Antrieben und Handlungsmöglichkeiten manifestierenden persönlichen Begabung geschieht. Fichte versucht in der Anweisung ausführlich, innerhalb des von ihm in der Weise konzipierten Offenbarungsplans auch die Bedeutung der Zentralgestalt seiner christlichen Religion zu interpretieren. Jesus Christus spielt in diesem Plan für ihn dadurch eine entscheidende Rolle, dass er in ihm das Prinzip der Religion (A190), »die Einsicht, in die absolute Einheit des menschlichen Daseyns mit dem göttlichen« (A121), offenbart sieht. Von daher deutet er seine individuelle Berufung: Darin »dürfte wohl der eigentliche persönliche Charakter Jesu Christi, welcher, wie jede Individualität, nur einmal gesetzt seyn kann in der Zeit, und in derselben nie wiederholt werden, bestanden haben. Er war die, zu einem unmittelbaren Selbstbewußtseyn gewordene, absolute Vernunft, oder, was dasselbe bedeutet, Religion.« (A191) Für Fichte ist die religiöse Erkenntnis zwar auch auf rein philosophischem Wege erreichbar. Er geht aber davon aus, dass er, wie auch jeder andere Philosoph in seiner Kultur, die er als zutiefst ge359

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Vgl. oben, S. 254–268.

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prägt von den christlichen Offenbarungsinhalten versteht, beim philosophischen Forschen von der durch Jesus in die Welt gebrachten Idee geleitet wurde und nur mit dieser Hilfe zu ihrer Erkenntnis gelangt ist (A122). Da er die Gestalt Jesu so deutet, dass es zu seiner individuellen Berufung gehört hat, diese Einsicht unmittelbar zu leben, ist er seiner Auffassung nach zu ihr nicht auf dem Weg des philosophischen Forschens und Nachdenkens oder durch Vermittlung von außen gelangt, sondern durch das eigene ursprüngliche Wollen, das ihn wie eine innere Inspiration ergriffen hat (A191 f.). Fichte scheint Jesus hierbei in eine ähnliche Rolle in Bezug auf die Erhebung zur Religion fügen zu wollen wie das von ihm angenommene ersterziehende Urvolk in Bezug auf die Erhebung zur Moralität. Analog zu diesem Urvolk scheint für ihn Jesus auch ohne Freiheit von seiner Berufung ergriffen worden zu sein, damit durch ihn eine sichere vorsehende Lenkung der Geschichte möglich ist. 360 Wie sperrig sich diese Außerkraftsetzung der Freiheit zum gesamten sonstigen Ansatz Fichtes verhält, ist bereits in Bezug auf die Urvolktheorie hervorgehoben worden. 361 Sie erscheint zudem als nicht unbedingt nötig – weder für die Konstitution eines Urvolkes noch für die Konstitution einer vom göttlichen Gesetz sicher gelenkten Offenbarung des Religionsprinzips. Denn noch weniger als für die Erhebung zur Moralität ist es m. E. für die Erschließung der religiösen Einsicht schlechthin ausgeschlossen, dass sie allein auf der Basis des in jedem Menschen gegenwärtigen ursprünglichen Sollens erfolgen kann, und ist von daher eine erzieherische Hilfe von außen notwendig. Fichte ist bestrebt, der Gestalt Jesu innerhalb der Möglichkeiten seines Ansatzes die herausragende geschichtliche Bedeutung zuzuschreiben, wie sie ihm in den biblischen Schriften, auf die er sich ausdrücklich bezieht, zukommt. Eine besondere Göttlichkeit Jesu lehnt er jedoch ab. Seinem Konzept von Berufung entsprechend, begreift er das von seiner individuellen Berufung bestimmte Leben Jesu als ein nicht mehr weiter erklärbares Faktum. Die individuellen Berufungen sind für ihn unableitbar. Die christliche Lehre über eine be360 Dass Jesus für Fichte ohne Freiheit zur Realisierung seiner Bestimmung gekommen ist, kann man in der Anweisung indirekt ausgedrückt sehen, wenn er sie von der freien Bewusstwerdung des Religionsprinzips bei den anderen Menschen abgrenzt (A190) und wenn er sagt, dass sein Leben sich nicht erst aus einem anderen Zustand herau sentwickelt hat und dass er sein Verhältnis zu Gott nie anders hat denken können (A191 f.). 361 Vgl. dazu sowie zum Folgenden oben, S. 266 f.

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sondere Göttlichkeit Jesu ist für ihn entstanden als Versuch, dieses Faktum zu begründen. Dadurch werde es unzulässig »metaphysicirt« (A189), d. h., als Gott wesentlich zugehörig und so erklärbar behauptet. Sein Ausschluss einer solchen weitergehenden Begründung kann freilich nicht nur aufgrund der bloßen Interpretation der Gestalt Jesu mit Hilfe seines Konzepts von individueller Berufung geschehen, sondern muss darin wurzeln, dass für diese Begründung in seinem Ansatz kein Platz ist. Wenn er als Motivation für die traditionelle Jesusdeutung eine falsche Würdigung des Individuums anführt und kritisiert (A192 f.), dann wird daran indirekt deutlich, dass der Grund für seine Ablehnung der besonderen und individuellen Göttlichkeit Jesu auch darin liegt, dass für ihn dem Individuum keine letzte Bedeutung zukommen kann – weder im göttlichen Leben noch in Gott. Außerdem dürfte im Hintergrund eine Skepsis gegenüber der Idee einer inneren Differenzierung in Gott stehen, die mit der christlichen Inkarnationsvorstellung als Dreifaltigkeitslehre einhergeht. 362

1.3.2.4 Rückblick auf den Ertrag In der zurückliegenden Untersuchung von Fichtes Beitrag zur Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit wurde so vorgegangen, dass dieser zuerst für die frühe Zeit erhoben wurde. In ihr treten einige Punkte in einer Deutlichkeit hervor wie später nicht mehr. In einem zweiten Schritt wurde geklärt, was sich in der Entwicklung hin zum späteren Konzept zur Zeit der Anweisung an weiteren Elementen sowie an Veränderungen ergibt. Es wurde dabei jeweils versucht, einzelne Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes klar herauszuarbeiten. Fichtes Ansatz hat sich als sehr ertragreich erwiesen, in362 Es findet sich zwar bei Fichte in der Anweisung eine Logos-Lehre. Der Logos ist für ihn jedoch nur das eine Dasein, das nicht in besonderer Weise mit der Person Jesu identifiziert ist (A117–127). Seine Logos-Lehre entspricht damit nicht dem traditionellen christlich-dogmatischen Verständnis (vgl. dazu Verweyen, 2001, LII). Seine Christologie geht nicht von einem Wesensunterschied Christi im Vergleich zu den anderen Menschen aus (vgl. dazu Tilliette, 1998, 99 u. 163 f.). Der christlichen Dreifaltigkeitslehre kann Fichte – innerhalb seines Ansatzes konsequent – kaum einen positiven Sinn abgewinnen. Er gesteht in der Staatslehre von 1813 zwar zu, dass in der Erscheinung eine Dreiheit (Jesus als der Sohn, sein Vater und der Geist Jesu) festzustellen ist. Dies sei jedoch nur der gedachte oder begriffene Gott. Der reale, lebendige Gott oder Gott in sich müsse ohne die Unterscheidungen des Begriffs in völliger Einfachheit sein (St147–149).

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dem eine Vielzahl von Gesichtspunkten hervorgetreten ist. Sie könnten nun am Ende dieser Untersuchung noch einmal zusammengefasst dargestellt werden. Dies soll an dieser Stelle jedoch unterbleiben, da eine zusammenfassende Darstellung ohnehin gemeinsam mit den Aspekten, die bei Levinas greifbar werden, und in einer vergleichenden Gegenüberstellung zu diesen am Ende des zweiten Teils zu Levinas erfolgen soll. Auch eine Übersicht über die verschiedenen Elemente des fichteschen Leibbegriffs wird in einer Zusammenschau mit dem Leibbegriff von Levinas gegeben werden.

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2. Die religöse Bedeutung der Leiblichkeit bei Emmanuel Levinas – im Vergleich mit Fichte 2.0 Einleitende Bemerkungen zur Textbasis, zum Vorgehen der Interpretation und zum Vergleich Wie für Fichte gilt es zunächst die Textgrundlage zu klären. Zwar ist die veröffentlichte Textproduktion von Levinas nicht derart uferlos wie die von Fichte, aber auch für ihn muss man sich beschränken. Das levinassche Leibkonzept wird m. E. am ausführlichsten dargestellt in Totalität und Unendlichkeit. Auch seine Religionsphilosophie und überhaupt sein ganzer Ansatz lassen sich von diesem Werk her gut nachzeichnen. Die Argumentation in Totalität und Unendlichkeit ist m. E. jedoch nur verständlich, wenn man zum einen Levinas’ Auseinandersetzung mit Husserls Intentionalitätskonzept (insbesondere für das Verständnis seines Leibbegriffs ist dies unverzichtbar) und zum anderen die seine eigentliche Ausgangsfrage, die Suche nach einer Befreiung aus dem Es-gibt, bestimmende Auseinandersetzung mit dem heideggerschen Seinsdenken in den Blick nimmt. Dafür ist von Totalität und Unendlichkeit aus auf frühere Schriften zurückzugreifen, wobei die Auswahl nach den sachlichen Erfordernissen erfolgt. Wenn nötig, gilt es zu klären, inwieweit sich frühere Konzepte noch weiterentwickelt haben und wie ihre Stellung im späteren Kontext ist. Der zweite Grund, warum sich die folgende Untersuchung nicht auf Totalität und Unendlichkeit beschränken kann, besteht darin, dass hier noch Fragen, besonders in Bezug auf die Kohärenz des Ansatzes, offenbleiben, die Levinas dann selbst in späteren Schriften, vor allem in seinem zweiten Hauptwerk Jenseits des Seins, behandelt hat. Da hier versucht werden soll, zunächst einmal möglichst weitgehend das levinassche Denken als eines zu rekonstruieren, das den verschiedenen an es gestellten Anfragen standhalten kann, muss auf diese Weiterentwicklungen eingegangen werden. Das Hauptaugenmerk dennoch auf Totalität und Unendlichkeit zu richten und von diesem Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Werk auszugehen, rechtfertigt sich daraus, dass es sich m. E. dabei nicht um Veränderungen seines Denkens handelt, die das dort Vorgetragene als unhaltbar erscheinen lassen, sondern vielmehr nur um Ergänzungen, die offene Fragen klären. So zeigt Levinas etwa, wie der in Totalität und Unendlichkeit aufgetretene scheinbare Widerspruch zwischen einerseits der Verwendung ontologischer Begriffe und der Behauptung allgemeingültiger Aussagen und andererseits der Problematisierung dieser Begriffe und der These einer fundamentalen Perspektivität nicht als ein Widerspruch angesehen werden muss. 363 Wenn die Vermeidung ontologischer Termini in Jenseits des Seins, auf die Levinas selbst als Veränderung verweist (TU8 u. U114) – die jedoch nicht vollständig gelingt und als Korrektur des sprachlichen Ausdrucks auch nicht verhindern kann, dass das Denken sich dieser Begriffe bedienen muss –, wenn diese Vermeidung deren Verwendung in Totalität und Unendlichkeit zunächst scheinbar als Fehler aussehen lässt, so rechtfertigt m. E. der Aufweis der Nichtwidersprüchlichkeit gerade diese Verwendung – freilich unter der Bedingung, dass die Termini immer im Bewusstsein ihrer Problematik ausgesprochen und in das Jenseits-des-Seins rückgebunden werden, wie dies aber in Totalität und Unendlichkeit durchaus schon erfolgt ist. 364 Dieser Aufweis der Nichtwidersprüchlichkeit hängt eng zusammen mit der Klärung der Frage, wie es überhaupt zur Ebene der allgemeinen Urteile und der allgemeinen Begriffe kommt und welchen Status diese Ebene besitzt. Auch die entsprechende Theorie der sich ausgehend von der Beziehung zum Dritten entfaltenden Ebene der Gerechtigkeit fügt sich als Weiterentwicklung – auf sie weist Levinas ebenfalls selbst hin (TU8) – gut in das Denken von Totalität und Unendlichkeit ein. 365 Dasselbe gilt für die stärkere Akzentuierung der Vgl. unten, S. 499–505. Levinas spricht schon in TU von einem »Jenseits des Seins« (TU437 f.). Auch benennt er hier bereits genau die Probleme des Seinsdenkens, die zu seiner noch entschiedeneren Transzendierung in JS führen (vgl. unten, S. 510–513). Wenn er ontologische Begriffe verwendet, dann häufig in einer Weise, die diese Probleme umgehen möchte, indem er etwa von einem pluralen Sein spricht, das gelöst ist von der logischen Bindung an den Begriff der Einheit (vgl. unten, S. 421). Levinas selbst schreibt rückblickend zu seiner Verwendung der ontologischen Sprache in TU: »Die in ›Totalité et Infini‹ verwendete ontologische Sprache ist keineswegs eine festlegende Sprache. In ›Totalité et Inifini‹ ist die Sprache ontologisch, weil sie vor allem nicht psychologisch sein will. Doch in Wirklichkeit geht es hier bereits um eine Suche dessen, was ich ›das Jenseits des Seins‹ nenne« (FA102). 365 Vgl. unten, S. 429–436. 363 364

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Diachronie als passives Bezogensein auf den Anderen 366, die ausführlichere Beschreibung der leiblichen Passivität in ihrer Schmerzhaftigkeit 367 und die vertiefte Sicht auf die leibliche Abhängigkeit des Lebens-von-… in ihrer Bedeutung als Ermöglichung eines rückhaltlosen Sich-genommen-Seins. 368 Wenn das Konzept der leiblichen Konstitution des Subjekts im Genuss später weniger präsent ist, so bedeutet dies nicht, dass Levinas es verabschiedet oder gar durch ein Konzept einer ursprünglich ethischen Konstitution des Subjekts ersetzt hätte. 369 Auch die spätere Beschreibung des Unendlichen als Illeität, mit der Levinas zu einer deutlicheren Klärung des Verhältnisses zwischen Unendlichem und Anderem findet, bestätigt die bisherigen Elemente ihrer Charakterisierung. 370 Wie die Themen dieser genannten Weiterentwicklungen zeigen, ist es nicht nur für eine Klärung des levinasschen Ansatzes, sondern auch für eine vertiefte Sicht auf seinen Beitrag zum Verständnis der Leiblichkeit und ihrer religiösen Bedeutung wichtig, diese in den Blick zu nehmen. In Hinsicht auf diese beiden Anliegen wird im Folgenden auf verschiedene Schriften nach Totalität und Unendlichkeit zurückgegriffen werden. Zum Vorgehen in diesem zweiten Teil: Anders als Fichte mit seinen Wissenschaftslehren hat Levinas keine Schrift verfasst, die entlang eines durchgehenden Argumentationsfadens seinen Ansatz erschließt. Wie kommt man also in das Denken von Levinas hinein? Was ist sein Ansatzpunkt? Levinas philosophiert ausgehend von seiner Bestimmung der Ethik als eines asymmetrischen Verpflichtetseins durch den anderen Menschen. Sie ist für ihn etwas Unmittelbares, nur phänomenologisch Beschreibbares und nicht weiter Begründungsfähiges – in diesem Sinne ein absoluter Ausgangspunkt. 371 Die Darstellung seines Ansatzes könnte mit der Beschreibung dieser Beziehung beginnen und dann zeigen, wie sich von ihr her alles organisiert. Aber ähnlich wie es nötig war, für die Darstellung der fichteschen Philosophie nicht einfach mit dem – nach seiner Auffassung ebenfalls aus sich verständlichen und nicht weiter beVgl. unten, S. 336–338 u. bes. Anm. 381. Vgl. unten, S. 744–765. 368 Vgl. unten, S. 682 f. 369 Vgl. unten, Anm. 566 u. bes. Anm. 567. 370 Vgl. unten, S. 458–462. 371 Vgl. etwa TU381 f.: »Es bedarf keiner Erklärung des Antlitzes; denn mit ihm hebt alle Erklärung an.« 366 367

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gründungsfähigen – Absoluten und dem darauf bezogenen reinen Sollen zu beginnen, sondern den Weg dorthin nachzuvollziehen, so ist dies auch hier erforderlich, um zu verstehen, weshalb Levinas diesen Ausgangspunkt wählt. Lässt man sich, nachdem man in das fichtesche System eingedrungen ist, auf die Texte von Levinas ein, so erlebt man eine andere Welt des Denkens. Diese zunächst scheinbar globale Verschiedenheit hat benennbare Gründe; sie liegt an unterschiedlichen Weichenstellungen in bestimmten einzelnen Fragen, die sich dann auf alles auswirken. Um Fichte und Levinas in ein Gespräch bringen zu können, ist es nötig, zumindest die wesentlichen Weichenstellungen herauszuarbeiten, die zu dieser Unterschiedlichkeit der Ansätze führen. Die zentralen Differenzen lassen sich m. E. verdeutlichen, wenn man darauf schaut, wie sie das ethische Sollen 372, das im Zentrum von Levinas’ Philosophieren steht, das aber auch als der zentrale Aufhängepunkt des fichteschen Ansatzes betrachtet werden kann, unterschiedlich auslegen. Allein von den Fragestellungen her lassen sich, wie noch deutlich werden wird, keine entscheidenden Unterschiede zwischen Fichte und Levinas feststellen. Und die Unterschiede in der Methode erklären sich zu einem großen Teil aus der unterschiedlichen Auslegung des Verantwortlichseins. Dies gilt ebenso für die Unterschiede in der Religionsphilosophie sowie im Leibbegriff. Die Voraussetzung für ein Begreifen von Differenzen ist die Bezugnahme auf etwas Gemeinsames. Meines Erachtens lässt sich für Fichte und Levinas über eine Gemeinsamkeit bloß des Gegenstandes oder der Fragestellung eine gemeinsame Denkbewegung ausmachen, die bei beiden in eine Zentralstellung der Ethik mündet, wobei sich in der Auslegung des ethischen Sollens die Wege dann trennen. Deshalb soll im Folgenden an den zentralen Differenzpunkt herangeführt werden, indem Levinas zuerst auf einem Gedankengang begleitet wird, der dem sehr ähnlich ist, mit dem ausgehend von der Erlanger Wissenschaftslehre in Fichtes Denken eingeführt wurde. Es geht um die Frage nach der Begründung des Wissens durch die Klärung seiner Herkunft, und zwar weniger der Herkunft der einzelnen Momente des Wissens als seiner kritischen oder rechtfertigenden Essenz. Dass 372 Ich möchte hier diesen Ausdruck ganz weit im Sinn von ›Pflicht‹ oder ›Aufgabe‹ verwenden, sodass er auf beide Konzepte passt, und nicht speziell in der Bedeutung des Sollens, wie es bei Kant und Fichte konzipiert wird und gegen welches sich Levinas wiederholt wendet (vgl. unten, Anm. 525).

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sich Levinas dabei mit Descartes auseinandersetzt, einem wesentlichen Bezugspunkt sowohl der Phänomenologie als auch der von Kant ausgehenden Transzendentalphilosophie, ist für den Vergleich zusätzlich hilfreich. Da es m. E. für eine Verständigung zwischen Fichte und Levinas unabdingbar ist, eine gemeinsame Basis zu suchen, wird in der Darstellung des levinasschen Ansatzes zunächst entlang dieser Frage vorgegangen. Deshalb wird auch der Vergleich mit Fichte nicht erst ganz am Ende in einem eigenen Teil, sondern schrittweise parallel zur Levinas-Interpretation durchgeführt werden. Für die Erarbeitung einer gemeinsamen Basis werde ich mich zunächst auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren und später die Unterschiede herausarbeiten. Soweit es möglich ist, wird versucht, die Vergleichsüberlegungen auf extra Abschnitte zu beschränken und die Levinas-Interpretation so zu gestalten, dass man sie auch unabhängig davon lesen kann. Da Levinas jedoch selbst sein Denken sehr oft in Abgrenzung zu Denkweisen, die bei Fichte sehr ähnlich vorkommen, entwickelt, lohnt sich der Vergleich mit Fichte ebenso für ein genaueres Verständnis von Levinas, vor allem im Blick auf die Besonderheit seines Ansatzes. Er hat sich verschiedentlich auch ausdrücklich auf Fichte bezogen. Darauf wird in einem eigenen Abschnitt eingegangen. Es zeigt sich dort, dass er Fichte in manchem falsch interpretiert, sodass seine eigenen Verhältnisbestimmungen zu ihm nicht sehr hilfreich sind für den Vergleich. Er dürfte Fichte nicht eingehender studiert haben. Da die vorliegende Untersuchung nicht nur historisch, sondern vor allem systematisch orientiert ist, wird es beim Vergleich nicht nur um die Frage gehen, was sich beim einen Denker findet und beim anderen nicht, sondern auch darum, was der Eine vom Anderen integrieren könnte. Das Ziel ist es, beide in ein Gespräch und in eine Kooperation zu bringen. Es ist dafür zum Teil nötig, die gegebenen Ansätze weiterzudenken. Auch richtet sich der Vergleich weniger auf die Termini als auf die Sachen. In der Darstellung von Levinas wird versucht, sich möglichst an seine Diktion zu halten. Der Vergleich aber erfordert es, damit freier umzugehen. Durch diese Loslösung von der Begrifflichkeit eines Autors ist ein Vergleich immer etwas Gewagtes. Er gerät sogar immer in Unrichtigkeiten, da jedes Moment, das als Gemeinsamkeit festgehalten wird – und das braucht es auch für die Feststellung von Differenzen, indem sie sich auf einen Vergleichspunkt beziehen muss –, doch bei jedem Autor seine volle Bedeutung nur vom ganzen Ansatz her bekommt und so immer von der Verschiedenheit Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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der Denkwelten geprägt ist. Aber anders als über solch ein Abgleichen der Konsense und der Differenzen ist ein philosophisches Gespräch nicht möglich. Und dem verbreiteten Mangel an echtem Dialog zwischen den Denkschulen nichts entgegenzusetzen, ist m. E. nicht die bessere Alternative zum genannten Wagnis.

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2.1 Der philosophische Ausgangspunkt: die Beziehung zum Anderen

2.1.1 Die Zentralstellung der Ethik – eine Hinführung im Dialog mit Fichte 2.1.1.1 Die Frage nach der Begründung des Wissens Die Frage nach der Begründung des Wissens ist nicht die zentrale Fragestellung von Levinas – wie sie es übrigens auch nicht für Fichte ist, der mit seiner Erkenntniskritik vielmehr auf eine Metaphysik, ja letztlich auf eine angemessene Lebenspraxis oder Lebenshaltung zielt. Levinas verfolgt ebenso im Kern ein praktisches Ziel. Die Praxis ist jedoch bedingt durch das Denken. Für ihn gehört zu den Faktoren, welche die Verbrechen der Nationalsozialisten ermöglicht haben, deren Opfer er selbst und seine Familie geworden ist, eine bestimmte Weise des Denkens, die er als vorherrschend in Europa ansieht. Deshalb zielt er auf eine Korrektur dieses Denkens. Die Ausgangsfrage ist dabei für ihn die Frage nach dem eigentlichen Bedeutungshorizont der Wirklichkeit, der dann auch für das Denken maßgebend ist. Levinas knüpft mit dieser Frage an Husserls Analysen der Bedeutungshorizonte der Objektkonstitution an. 373 Dabei geht es für ihn im Grunde um dieselbe Frage wie in Heideggers Fundamentalontologie: die Frage nach dem Sinn von Sein (IE159 u. EU28). Levinas sieht im Aufwerfen dieser Frage den unhintergehbaren Ansatzpunkt für sein eigenes Philosophieren, auch wenn es ihm schon früh ein Anliegen ist, das Sein, das er – beschrieben im Phänomen des sogenannten Esgibt – als etwas Bedrohliches empfunden hat, als letzten Horizont zu durchbrechen hin zur Ethik (EU26–40) 374 bzw., in der noch ontologischen Sprechweise von Totalität und Unendlichkeit ausgedrückt, die Beziehung zum Anderen oder zur Exteriorität als das grundlegende 373 374

Vgl. dazu unten, S. 347 f. Vgl. dazu unten, S. 362–365.

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Seinsgeschehen zu erschließen (TU418 f.). Die Ethik wird vor allem unter dieser Fragestellung behandelt und entsprechend nur in ihren Grund-›Prinzipien‹ entfaltet, ohne auf konkretere ethische Probleme einzugehen. Im Zusammenhang mit dieser Thematik, die den Duktus seiner Untersuchungen vordringlich prägt, beschäftigen ihn jedoch auch erkenntnistheoretische 375 und metaphysische 376 Fragen. Es ist gerade typisch für Levinas, dass er mehrere Fragestellungen gleichzeitig behandelt und in ihrem inneren Zusammenhang sieht. Wie im Folgenden deutlich wird, kann er sein Anliegen, die Ethik als den eigentlichen Bedeutungshorizont zu erweisen, auch ausgehend von der Frage nach der Begründung der kritischen Essenz des Wissens verfolgen. Indem diese von sich aus zu Levinas’ zentralen Themen und Fragestellungen leitet, kann man durchaus von ihrer Behandlung her in sein Denken einführen, ohne es von vornherein zu verfehlen. Um die Perspektive jedoch zu weiten, wird ausgehend vom Phänomen des Es-gibt, das ein zentrales Element auf dem Weg dieses Gedankengangs darstellt und in dem Levinas auf das Ausgangsproblem seines Philosophierens trifft, in dessen Gesamtduktus eingeführt und die Frage nach der Wissensbegründung darin verortet werden. Mit dieser Frage einzusetzen, hat neben dem einleitend beschriebenen Erfordernis für den Vergleich mit Fichte und der inneren Verknüpfung mit Levinas’ Ausgangsproblem zudem den Vorteil, dass mit ihr unmittelbar die Frage nach Levinas’ Methode verbunden ist, genauer danach, wie weit er sich an Husserls transzendentale Phänomenologie und sein Konzept der Intentionalität anschließt. Ein Blick darauf ist für das Verständnis seines Ansatzes notwendig. Zudem liegt in seiner Auseinandersetzung mit dieser Thematik der Ansatzpunkt seiner Leibphänomenologie. Sieht man, welche verschiedenen Fragestellungen Levinas miteinander verbindet, dann kann man m. E. allein von ihnen her keinen entscheidenden Dissens zu Fichte ausmachen. Wenngleich die Ge375 Deutlich wird das besonders an der im Folgenden dargestellten Behandlung der Frage nach der Herkunft der kritischen Essenz des Wissens, daneben aber auch etwa an seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gewissheit (vgl. unten, S. 396– 400) oder der Möglichkeit eines Beweises in der Frage nach Gott (vgl. S. 541–553). 376 Vgl. dazu unten, S. 513–519. Dort wird auch geklärt, in welchem Sinn Levinas metaphysische Fragen stellt und dass er sie durchaus im Sinn eines Fragens nach unserem Bezug zur eigentlichen Realität, nach der Struktur dieser Realität und nach der realen Existenz etwa des Ich oder Gottes versteht. Von daher lässt sich m. E. im Blick auf die Fragestellung selbst kein wesentlicher Unterschied zu Fichte feststellen.

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wichtung unterschiedlich ausfällt, kann man in etwa dieselben Fragen bei Fichte finden. Auch ihm geht es neben den erkenntniskritischen, metaphysischen und ethischen Problemen um die Erhellung der eigentlichen Bedeutung von Sein und von daher aller Daseinselemente, und zwar nicht nur als Erkenntnisprojekt, sondern als existenziell und praktisch relevante Frage. Ja für ihn ist Letzteres offenbar das eigentlich Entscheidende. 377 Auf das Problem der Wissensbegründung stößt Levinas im Eingangsteil von Totalität und Unendlichkeit (I), in dem er vor der Analyse der selbstbezogenen leiblichen Existenz (II) und der selbstlosen ethischen Existenz (III) grundlegend in seinen philosophischen Ansatz einführt. Hilfreich zur Übersicht ist, wie er dort am Anfang des dritten Abschnitts (C) auf den bis dahin vollzogenen Gedankengang zurückblickt. Dieser hat eingesetzt mit einer Betrachtung des »metaphysischen Begehrens« (TU35), das sich zunächst einmal im Streben des Intellekts nach der Erkenntnis der eigentlichen, unabhängig von uns bestehenden oder exterioren Wirklichkeit ausmachen lässt. »Uns schien allerdings, dass sich das Begehren der Exteriorität nicht in den Bahnen der objektiven Erkenntnis, sondern der Rede bewegt; die Rede ihrerseits zeigte sich als Gerechtigkeit in der Geradheit des Empfangs, den sie dem Antlitz bereitet.« (TU112) Von da aus stellt sich für ihn nun die Frage, wie sich die Wahrheit, nach der in der gewöhnlichen Auffassung der Intellekt strebt, zur Gerechtigkeit verhält. Die Suche nach Wahrheit versteht Levinas hierbei als Suche nach einer kritischen Rechtfertigung und entdeckt in dieser alle bloß aus Neigung gefasste Meinung infrage stellenden Selbstbefragung schon 377 Vgl. etwa TdB102 in Bezug auf die Ableitung der Interpersonalität, die gar nicht vordringlich zur Vergewisserung der Existenz der Vielzahl der Individuen geschehe, sondern »um die IndividuenWelt zu verstehen: zu ersehen was da eigentlich erscheint an einer IndividuenWelt, und in derselben sich ausspricht: ihren Sinn«. Besonders deutlich tritt dieses existentielle Anliegen in der Anweisung heraus, in der Fichte in den Zuhörern das Verständnis dafür wecken möchte, dass das Sein in seiner eigentlichen Bedeutung weder getroffen wird, wenn man es als das »stehende Vorhandenseyn« (A97), noch wenn man es als freie Tätigkeit des Erkennens oder als freie Praxis noch wenn man es als Ergriffensein durch den sittlichen Willen versteht, sondern letztlich nur, wenn man es in seiner völligen Einfachheit als göttliches Leben erfasst. Dass es Fichte um diese Frage nach dem Sinn von Sein gegangen ist, scheint mir unabhängig von der Frage gültig zu sein, ob er das Sein immer nur als Sein des Seienden betrachtet hat oder bei ihm sogar das Sein selbst zu einem Seienden gemacht wurde – eine Frage, gegen deren zu eilige positive Beantwortung spricht, dass Fichte das Einzelnes-Seiendes-Sein gegenüber einem überpersönlichen Vollzug relativiert.

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eine ethische Qualität und somit einen Hinweis auf die Beziehung zur Gerechtigkeit (TU112 f.). Genauer versucht er sie dann zu klären in einer Rückfrage nach der Herkunft dieses kritischen Wesens des Wissens. Bevor er, wie im Folgenden zunächst zu betrachten sein wird, diese Rückfrage entsprechend seiner Methodentradition, ansetzend am phänomenologischen Ausgangspunkt der Korrelation von Noesis und Noema, vollzieht, zeigt er, gegen welche anderen Herkunftsangaben er sich positioniert (TU113–124). Weder könne das kritische Fragen nach der Wahrheit entstanden sein aus der Erfahrung des Scheiterns der Praxis, noch könne es erklärt werden innerhalb einer naturalistischen Erkenntnistheorie. Hinreichend zur Erklärung sei weder die ursprüngliche Selbstgewissheit des Cogito noch der Rückgriff auf ein die Totalität umfassendes Denken, eine unpersönliche allgemeine Vernunft, die jeder ursprünglich und autonom in sich besitzt, oder auf ein ursprüngliches Seinsverstehen, sondern nur die Infragestellung durch den Anderen. Wie Levinas dies im Einzelnen begründet, wird im Folgenden noch thematisiert werden.

2.1.1.2 Die transzendentale Phänomenologie als Ausgangspunkt und ihre Problematisierung Die Zweideutigkeit des Phänomens Nach den genannten Positionsmarkierungen erfolgt im Abschnitt C des Eingangsteils von Totalität und Unendlichkeit die argumentative Auseinandersetzung mit Levinas’ eigenem phänomenologischen Ausgangspunkt. Er bezieht sich auf das husserlsche Forschungsfeld, den »Bereich der Noesis in Korrelation zu einem Noema« (TU125), den Bereich des »Phänomens« (TU126 f.), für welchen die theoretische Intentionalität grundlegend und bestimmend ist. Dementsprechend wird letztlich das Wissen von ihr her verstanden: das Wissen als objektive Erkenntnis, das Wissen als Thematisierung. Gegenüber dieser, wie noch deutlich gemacht wird, von ihm durchaus zunächst geteilten Ausgangsbasis möchte er nun in einer Rückfrage nach den Bedingungen des Bereichs der theoretischen Intentionalität »zeigen, wie, ausgehend vom Wissen qua Thematisierung, die Wahrheit dieses Wissens zur Beziehung mit dem Anderen, d. h. zur Gerechtigkeit führt« (TU124). Den Bereich des Phänomens bestimmt Levinas als Sphäre der 332

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subjektiven Aktivität – der »Freiheit« – des Ich der transzendentalen Apperzeption, als monadische Sphäre eines »solus ipse« und insofern als eine »schweigende Welt« (TU125). Sie führt für ihn nicht zum Wissen. Denn das Phänomen bleibt immer zweideutig, ist möglicherweise Schein. »Von daher die Möglichkeit des universalen Zweifels, die nicht ein persönliches, dem Descartes widerfahrenes Abenteuer ist.« (TU126) Dieser Zweifel bezieht sich dabei nicht auf eine mögliche Verwechslung der Phänomene oder eine undeutliche oder verfälschende Wahrnehmung, sondern er bezieht sich auf ein schlechthin jenseits des Phänomenbereichs Liegendes, er »betrifft die Aufrichtigkeit dessen, was erscheint« (TU127). Die Möglichkeit des Zweifels setzt für Levinas daher den Bezug über die subjektive Sphäre hinaus, den Bezug auf ein Anderes, voraus, das sich im Phänomen mitteilt. Sie setzt voraus, das schweigende Phänomen als »Modalität einer Rede« (TU127) zu verstehen. Dieser Bezug ereignet sich für Levinas ursprünglich in der unmittelbaren Begegnung mit dem Anderen, durch seine »Rede«, sein »Wort«, seinen »Ausdruck«, in dem er seinem Phänomen so unmittelbar selbst beisteht, dass er »durch diese Assistenz die Zweideutigkeit heilt« (TU127). Er »überwindet die Ambivalenz der Erscheinung« (TU128). Levinas’ Auseinandersetzung mit Husserls Intentionalitätskonzept und dessen Analyse der Sinnlichkeit Diese Argumentation setzt – neben anderem im Folgenden noch zu Klärendem – zunächst einmal voraus, dass das, was Levinas das metaphysische Begehren nennt, und damit auch das darin enthaltene Begehren nach der Erkenntnis der eigentlichen Wirklichkeit, über das hinauszielt, was der Bereich des phänomenal Gegebenen ist. Doch wie versteht er diese Beziehung? Und wie kann etwas über den Phänomenbereich Hinausliegendes überhaupt phänomenologisch erschlossen werden? Außerdem: Wie kann er diese Beziehung deuten, ohne dabei in eine Theorie der Erkenntnis zu verfallen, die das Phänomen als Abbild des außerhalb des Bewusstseins befindlichen Seins auffasst? Husserl konnte zeigen – und Levinas weist selbst darauf hin 378 –, wie diese Theorie durch eine Übertragung des Abbildbegriffs aus einem anderen Kontext zustande kommt, die sich in keiner Weise 378 Vgl. etwa IE160 zur Bezugnahme auf die Theorie vom »›mentale[n] Objekt‹, das zwischen der Subjektivität und dem Sein als Abbild oder als Leinwand dient« und das

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als phänomenale Gegebenheit ausweisen lässt und die so der epoché, der Aussetzung alles bloß Vermeinten und nicht phänomenal Ausgewiesenen, zum Opfer fallen muss. Die phänomenologische Reduktion erschließt, dass wir uns intentional nicht auf ein bewusstseinsimmanentes Abbild der Dinge, sondern auf die Sachen selbst beziehen. Doch wie verhält sich die levinassche These, das Phänomen stelle für das Subjekt gerade noch nicht den Kontakt zur Wirklichkeit her, zu diesem Konzept der Intentionalität? Um diese Fragen zu klären, soll im Folgenden nachvollzogen werden, wie Levinas selbst seine Gedankenentwicklung anknüpfend an Husserls phänomenologische Analysen der Intentionalität beschreibt – natürlich ausgehend davon, wie er Husserl verstanden hat. Die Frage, inwieweit er ihm dabei gerecht wird, kann hier ausgeklammert werden. Wichtig für die Belange unserer Untersuchung ist es jedoch, im Zusammenhang dieser Frage schon zu klären, wie Levinas die phänomenologische Methode aufgreift und selbst verwendet. Da er die Frage nach dem Realitätsbezug ausgehend von der sinnlichen Empfindung behandelt, werden hier auch schon die grundlegenden Analyseschritte seiner Leibphänomenologie deutlich. Das Konzept der Intentionalität greift Levinas zunächst einmal positiv auf als Beschreibung einer Bezugnahme auf die Sachen selbst 379, und zwar so, wie es sich in Husserls Widerlegung des Psychologismus der Logik, der Deutung der logischen Gesetze als bloßer innerpsychischer Ereignisse, herausgebildet hat. Dies wird deutlich, wenn er in dem wenige Zeit vor Totalität und Unendlichkeit veröffentlichten Aufsatz Intentionalität und Metaphysik von 1959 schreibt: »In ihrem Kampf gegen den Psychologismus fordert die Husserlsche Phänomenologie uns auf, nicht das psychische Leben mit seinem ›intentionalen Objekt‹ zu verwechseln. […] [D]as Bewußtsein, das ganz und gar Intentionalität ist, berührt das Sein selbst. Auf gar keinen Fall – was auch der Psychologismus dazu gesagt habe – projiziert das Bewußtsein seine eigenen Zustände nach draußen

durch die »Wiederentdeckung der Intentionalität des Bewusstseins« zum »Verschwinden« gebracht werden sollte. 379 Neben dem folgenden Zitat vgl. auch IM153 bezüglich der Aussage, dass die 2 Intentionalität immer schon »ursprünglicher denn als Objektivierung verstanden worden« ist. Vgl. ebenso die Aussagen in IE157: Das Bewusstsein bezieht sich auf etwas, das »die Denkakte transzendiert«. »Der Gegenstand des Bewusstseins ist kein reelles Moment des Bewusstseins.«

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oder konstituiert durch die Mechanik dieser Zustände das eigentliche Außensein des Draußen. So betrachtet würde die Phänomenologie eine metaphysische Methode; wobei das Wort Metaphysik an die Beziehungen zum Sein an sich, wie im platonischen Realismus, erinnert, im Gegensatz zur bloß subjektiven Erkenntnis der Phänomene.« (IM140) Wie für Husserl ein logisches Gesetz nicht auf ein psychisches Ereignis reduziert werden darf, so auch nicht die Realität, auf die wir uns mit unserem Bewusstsein beziehen. Das Zitat macht außerdem deutlich, dass Levinas das Intentionalitätskonzept durchaus als Teil der Behandlung der metaphysischen Frage nach dem Realitätsbezug der Erkenntnis interpretiert – und dass eine solche Frage für ihn sinnvoll ist –, also nicht nur als bloße Beschreibung, als eine Art »Botanik des Geistes« (BE53), wie er sich andernorts ausdrückt. Zugleich fällt jedoch der Konjunktiv auf: »So betrachtet würde die Phänomenologie eine metaphysische Methode«. Der Konjunktiv erklärt sich daher, dass für ihn die Beschreibung der Intentionalität bis dahin noch nicht hinreicht, es auch zu erklären und auszuweisen, wie wir uns auf das Sein tatsächlich beziehen und es nicht nur meinen. Die Beschreibung der Intentionalität als Bezugnahme auf das bewusstseinstranszendente Sein ist für Levinas zunächst eher die Formulierung eines Problems als schon dessen Lösung. 380 Dass Husserl selbst dies so gesehen hat, zeigt sich für Levinas an dem seiner Phänomenologie eigenen, der Beschreibung des Aufenthalts der Intentionalität bei den Sachen selbst scheinbar widersprechenden »Misstrauen gegenüber der Naivität dieser Bewegung, die uns zu den Dingen trägt« (IM141). In der Objektivierung der Dinge ist nicht nur die Fülle ihrer Bedeutungshorizonte verstellt, sondern findet sich das Bewusstsein auch in seine Immanenz eingeschlossen. Die transzendentale Rückfrage nach der Konstitution der Bewusstseinsgegenstände erweist für Levinas immer das Bewusstsein selbst als Konstituierendes. Gegenüber dem naiven Realismus, der Sein und Objekt identifiziert, für den die Welt so, wie vorgestellt, an sich außerhalb des Bewusstseins ist, behält für ihn der Idealismus immer Recht, und zwar in der Extremform wie bei Berkeley, der die Dinge auf das Objekt reduziert (IM148 f.). »Ist diese Identifikation einmal zugelassen, so kehrt der Idealismus siegreich zurück.« (IM149) Husserl habe aber gerade in der transzendentalen Rückfrage eine Weise

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Vgl. die positive Bezugnahme auf ein Diktum von Heidegger in IE166 f.

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der Beziehung entdeckt, die verschieden ist von der Objektbeziehung, und diese »transzendentale Bewegung […] vollzieht metaphysische Relationen« (IM141 f.). Konkret sei dies aufgetaucht in der »Analyse, die den Unterschied zwischen dem leeren und dem anschauenden Denken zeigen soll« (IM144), in welchem eine Sache nicht nur angezielt wird, sondern die Sache, indem sie sich selbst gibt, die Intention füllt. Dafür musste er auf die sinnliche Erfahrung und ihre Basis, das sinnlich Gegebene, das »hyletische Datum«, als ein »absolutes Datum«, rekurrieren, in welchem das Subjekt vor aller vergegenständlichenden Auffassung »badet« (IM144). Im späteren Aufsatz Intentionalität und Empfindung von 1965, in dem Levinas der Frage nach dem Transzendenzbezug der Intentionalität nochmals nachgeht, beschreibt er eingehender die Weise dieses vorgegenständlichen Bezuges. Das sinnlich Gegebene hat die Funktion, die intendierte Sache in Abschattungen inhaltlich zu präsentieren. Aber die »Abschattung ist nicht ein – schon objektivierter – Aspekt der Sache, sondern immanenter Inhalt, gelebt« (IE162) – und erlebt. Den Begriff des Erlebens greift Levinas von Husserl auf als Bezeichnung für die vorgegenständliche Weise des Bewusstseins eines Inhalts und – zugleich reflexiv – der Einbindung des Erlebenden in das Bewusstsein des Inhalts (IE161). Die Empfindungen sind selbst zunächst nichtintentional, sie sind »Bewusstseinszustände, die nicht Bewusstsein von etwas sind« (IE161). Insofern erweisen sich die Empfindungen zunächst als etwas, was »der eigentlichen Botschaft der Intentionalität widerspricht« (IE165). Die genauere Analyse des Empfindens, vor allem von dessen Zeitlichkeit, ist für Levinas dann jedoch geeignet, den Sinn dieser »Botschaft« sogar zu vertiefen, indem sie eine neue Weise des intentionalen Bezuges aufzeigen kann (IE165–167). Er macht zunächst auf die Beobachtung aufmerksam, dass die Zeit nicht nur die Form der objektiven Vorstellung ist, in welche die Empfindungen aufgenommen werden, sondern es zunächst das zeitliche Vergehen, den Abstand zum Vergangenen, das gleichwohl noch retentional festgehalten wird, und das Auf-einenZukommen der Zukunft, die protentional erwartet wird, braucht, damit sich die Empfindung überhaupt präsentieren kann. Nur »durch diese Entfernung präsentiert sie sich« (IE168). Dadurch entsteht »eine Intentionalität und daher ein geringster Abstand zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen, eben zeitlicher Abstand« (IE167 f.). Und dies ist eine Zeitlichkeit, die sich das Subjekt nicht nur objektiv gegenüber hält, sondern eine, in der es sich selbst voll336

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zieht, »eine grundlegende Iteration«, eine »Phasenverschiebung«, in einem »ursprünglichen Strömen« (IE169 f.), das nicht noch einmal auf das konstituierende Bewusstseinssubjekt zurückgeführt wird. »Das Strömen, in dem die Zweiheit des Bewußtseins und des Ereignisses überwunden ist, hat keine Konstitution mehr; es bedingt alle Konstitution und alle Idealisierung. Der Abstand ist Retention und die Retention ist Abstand: Das Bewusstsein der Zeit ist die Zeit des Bewusstseins.« (IE170) Während sich das Subjekt von der Vorstellung her als zeitlos versteht, indem es sich die Zeit nur gegenüber hält, erweist es sich hier als selbst zeitlich. Und indem sich dabei ein der Objektivierung vorgängiger Bezug des Subjekts auf sich in der zeitlichen Phasenverschiebung zeigt, als vorgegenständlicher Bezug in der Retention, kann das Verständnis der Intentionalität erweitert werden. Das zeitliche Verhältnis in dieser Intentionalität, in der sich das Subjekt auf das ursprüngliche Sichereignen der Impression in ihm in der Vergangenheit bezieht, benennt Levinas hier schon mit dem Ausdruck »Diachronie« (IE171 u. 180), der später zum Zentralbegriff seines Zeitdenkens wird. Hier wird zwar der Begriff der Diachronie noch nicht – wie später 381 – als Bezug zum exterioren Anderen akzentuiert, womit sich Levinas dann auch von Husserls Zeitanalysen, von denen er zunächst das Konzept eines diachronen Bezuges hergenommen hat 382, abgrenzt –, sondern erscheint erst einmal als Bezug des Subjekts zu sich in die für das Bewusstsein uneinholbare eigene Vergangenheit hinein. Im Hintergrund ist jedoch bereits hier – wenn auch in dem Aufsatz nicht explizit gemacht – die Idee zu sehen, die bei Levinas sehr früh greifbar wird, nämlich die Zeit von der Beziehung zum Anderen her – und so diese Beziehung selbst zeitlich – zu deuten. 383 Auch versteht er hier die Urimpression, 381 Vgl. dazu besonders die Ausführungen in JS80–87, in denen sich Levinas erneut mit Husserls Analysen der Empfindung auseinandersetzt und nun hervorhebt, dass dieser eine Diachronie – nun dezidiert verstanden als Bezug zum Anderen – ausschließt. Unabhängig von der Zeitthematik, als Kritik am Subjektivitätskonzept, findet sich diese Kritik freilich schon früher (vgl. unten, S. 342–344). 382 Husserl beschreibt an der Stelle, auf die sich Levinas in IE171 bezieht, die Diachronie zwar nicht dem Wort, aber doch der Sache nach als Bezug des Bewusstseins auf eine für es uneinholbare Vergangenheit (Hua X, 109–111). 383 Diese Idee wird besonders greifbar in VS109–116, ZA51–54 u. 61 f. Aber auch schon in AS deutet sie sich an, wenn Levinas hier den Ausweg aus dem Sein in der Zeit selbst eröffnet sieht und nicht in einer Ewigkeit (AS23 u. 5; vgl. auch den Hinweis auf einen Text ebenfalls aus dieser Zeit in den Anmerkungen von Jacques Rolland in AS85). Die Kontinuität wird deutlich, wenn Levinas in TU410–415 die Gedanken aus

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auf die sich die diachrone Intentionalität bezieht, ausdrücklich als etwas, in dem das Bewusstsein von außen affiziert ist – »ganz Passivität, Rezeptivität eines ›Anderen‹, das das ›Selbe‹ durchdringt« (IE173). 384 Und nur so kann er zeigen, wie sich im Bezug auf die Urimpression das Verständnis der Intentionalität als Bezug auf die transzendente Wirklichkeit erfüllt. Aber nicht nur in der transzendentalen Analyse der Aufnahme des inhaltlichen Materials in der Empfindung, sondern auch in der Frage nach den Bedingungen der formenden Auffassung dieses Materials findet Levinas bei Husserl eine Erschließung eines solchen vorgegenständlichen Bezuges. Die Empfindung wird für Husserl von vornherein am Leib und im Leib empfunden und ist verbunden mit einem Erleben des leiblichen Zustandes und der Situierung, die »nicht nur Erfahrung des Raumes ist, sondern […] eine Erfahrung im Raum« (IE175). Diese Einheit von Empfindung und Leiberleben nennt Husserl Empfindnis. Die Weise des vorgegenständlichen Raumerlebens lässt sich gut verdeutlichen an einer Funktion, die Levinas andernorts für den Leib als den »Träger der Empfindnisse« (IE177) beschreibt, nämlich die Funktion, »Nullpunkt der Situation« (PT95) zu sein. Um die Empfindungen in eine räumliche Ordnung bringen zu können, braucht es ein unmittelbar, nicht erst im Verhältnis zu anderem, sondern nur zu sich selbst erlebtes »Hier«, das »jedem Inhalt eine Stelle anweist« (PT95). Es ist »die grundlegende Intentionalität der Inkarnation selbst des Bewusstseins«, der »Übergang vom Ich zum Hier« (IM147). Als Bedingung aller objektivierenden Anordnung im Raum kann diese unmittelbare Verortung nicht selbst vergegenständlicht, sondern muss vorgängig dazu unmittelbar erlebt sein. Für Levinas muss diese Verortung zugleich eine Richtungsorientierung beinhalten. Er macht darauf aufmerksam, wie schon Kant auf eine solche transzendentale Bedingung der Raumorientierung hingewiesen hat 385 (und man kann ergänzen, dass sich diese Einsicht VS und ZA wieder aufgreift. Zum Verständnis der Zeit von der Beziehung zum Anderen her vgl. unten, S. 670 f. 384 Dies spricht m. E. gegen die Interpretation von László Tengelyi (1995, 68), für den die Herauslösung der Urimpression aus der Ordnung des Bewusstseins nicht schon in IE, sondern erst in JS erfolgt. Schon in IE172 f. bezieht sich Levinas auf die husserlsche Bestimmung der Urimpression als »Urzeugung«, die das Bewusstsein vorgängig zu jeder Vorhersicht trifft. 385 Vgl. PT96. Levinas bezieht sich hier auf den Aufsatz Was heißt: sich im Denken orientieren?; vgl. bes. AA 8, 134 f.

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dann bei Fichte – eventuell in Abhängigkeit von Kant – in sehr genau analysierter Form findet 386). Als Bedingung der formenden Auffassung der Empfindung sieht Levinas Husserl jedoch nicht nur diese unmittelbare Verortung erschließen, sondern auch eine leibliche Bewegung (IE177). Husserl hat beobachtet, dass Empfindungen immer in Verbindung zum Erleben einer bestimmten Bewegung des Subjekts und den Möglichkeiten von Bewegung verspürt werden und nur auf diese Weise verstehend erfasst werden können. Es geht dabei um die Anordnung der Empfindungen in Form einer räumlichen Gestalt und die kategoriale Auffassung; aber daneben ist für Husserl auch das Verstehen der lebensweltlichen und kulturellen Bedeutung einer empfundenen Sache für das Subjekt bezogen auf dieses Erleben ihrer Einbindung in eine bestimmte Form der Praxis. 387 Die Gestalt eines Dinges bestimmt sich wesentlich durch die Relation zu unserem praktischen Verhalten, zu den leiblichen Organen dieses Verhaltens und deren Möglichkeiten. »Die Sinnlichkeit wird nicht als einfache, formlos gegebene Materie betrachtet, auf die ein spontanes Denken angewandt würde« (PT93), bei welchem Konzept das Problem entsteht, wie die Auffassung des Materials in die Anschauungsformen und Kategorien anders als willkürlich stattfinden soll. »Mit den Fäden, die in den ›Inhalt‹ der Empfindungen gewirkt sind, weben sich ›Formen‹, die, wie der Raum und die Zeit bei Kant, jeden Gegenstand kennzeichnen, der sich danach dem Denken anbietet.« (PT94) 388 Für die Frage nach der Intentionalität sind diese Beobachtungen vor allem deshalb von Bedeutung, weil sich hier ähnlich wie im Empfinden eine der Objektivierung vorgängige leibliche Bezogenheit zeigt. Als Bedingung der Raumkonstitution kann sie nicht die objektive Anschauung einer räumlichen Bewegung sein, sondern sie ist die Bewegung des Subjektes selbst, das

Vgl. oben, S. 123 f. Vgl. dazu unten, S. 598–601 u. S. 707 f. 388 Levinas würdigt, dass Kant die Verbindung zwischen den Anschauungsformen und den Kategorien aufgezeigt und beide damit aus ihrer Abstrahierung befreit hat (PT89). Wie jedoch die Sinnesdaten in die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit aufgenommen werden, bleibt bei Kant offen. Fichte bindet zwar die Sinnesdaten ganz ähnlich wie Husserl in eine leibliche Aktivität und deren Selbsterleben ein, zudem entspringen bei ihm die Kategorien und Anschauungsformen ursprünglich dem Erleben der Praxis, er löst aber, soweit ich sehe, von daher nicht auch noch dieses Problem der Zuordnung. Von daher könnte Husserls Konzept hier eine wichtige Ergänzung für Fichte darstellen. 386 387

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sich darin vorgegenständlich erlebt. Das mit der Bewegung unmittelbar verbundene Erleben nennt Husserl Kinästhese. »Diese Phänomenologie der kinästhetischen Sinnlichkeit legt Intentionen frei, die keineswegs objektivierend sind«; »hier ist das Bewegen die Intentionalität der Kinästhese und nicht ihr Intendiertes« (IM148). Wie die Beschreibung der Phasenverschiebung des Subjekts in der Empfindung dieses als ein selbst zeitlich sich vollziehendes erwiesen hat, so folgt aus der Beschreibung der Empfindnisse, der ursprünglichen Verortung und der Kinästhese ein erweitertes Verständnis des Subjekts als eines leiblich verorteten und in Verhältnissen zur Welt engagierten, und zwar in einer ursprünglichen Form von Räumlichkeit, die dann Basis ist für die Vorstellung des Raumes. »Das Subjekt ist nicht das Auge einer unbeweglichen Kamera, für das alle Bewegung Gegenstand ist. Der Raum als Feld der organischen Bewegungen und des Ganges des ganzen Leibes trägt die Vorstellung des Raumes. Das Subjekt bewegt sich in eben dem Raum, den zu konstituieren es im Begriff ist. Das Subjekt hält sich nicht in der Unbeweglichkeit des Absoluten, wo das idealistische Subjekt seinen Platz hat; es findet sich hineingezogen in Situationen, die sich nicht in Vorstellungen auflösen, die es sich von diesen Situationen machen könnte.« (IE178) Levinas beschreibt hier die Praxis des Subjekts zwar als Bewegung im Raum, man darf dies jedoch nicht so interpretieren, dass er dabei in die Idee zurückfallen würde, die Welt, in der wir uns bewegen, sei an sich in der Weise räumlich da, wie sie von uns vorgestellt wird. Hier von einem Raum zu sprechen, erklärt sich daher, dass wir uns nur vermittels der Raumanschauung überhaupt etwas vorstellen können – auch das, was der Raumvorstellung zugrunde liegt und was an sich gar nicht vorgestellt werden kann. Die eigentlich präzise Bestimmung findet sich in der vom Erleben der eigenen Praxis her erfolgenden Beschreibung dieses ›Raumes‹ »als Feld der organischen Bewegungen und des Ganges des ganzen Leibes«. Es ist einfach die Praxis des Subjekts in den sie begrenzenden und bestimmenden Relationen zu anderem, die dann ausgehend vom Subjekt als unmittelbarem Hier in räumlichen Relationen lediglich vorgestellt werden. Die Bewegung wird dabei erlebt als reale Bewegung in der Welt und in einem realen Bezug auf die Welt. Da dieser Bezug vorgängig zur Vorstellung geschieht, findet in ihm noch nicht die Gegenüberstellung der Bewusstseinsimmanenz und ihres Außen statt und es kommt noch nicht zur spezifischen, zum Idealismus führenden Zwei-

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deutigkeit der Vorstellung. 389 Und auf diese Weise kann Levinas auch in der Analyse der Kinästhesen den Anspruch der Intentionalität eingelöst finden, sich auf das transzendente Sein zu beziehen. »Die Transzendenz tritt hervor als Kinästhese: Das Denken geht nicht über sich hinaus, indem es auf eine objektive Realität trifft, sondern indem es in diese vermeintlich weit entfernte Welt eintritt. Der Leib, Nullpunkt der Vorstellung, ist jenseits dieses Null; er ist schon in der Welt, die er konstituiert, sie sind ›nebeneinander‹ und gleichzeitig ›gegenüber‹« (IE180). Auf diese Weise führt die Analyse der Empfindung nicht zu einem Widerspruch zum Konzept der Intentionalität, sondern löst dessen Anspruch vielmehr erst ein. »Hätte Husserl aus seinem ›System‹ die Empfindung entfernt, so hätte die Transzendenz der Intentionalität nicht den starken Sinn der ›Gegenwart bei der Welt‹ annehmen können.« (IE179) Im Nachvollzug dieser Denkbewegung kann Levinas mit Husserl die auf der Zweideutigkeit des Bewusstseins beruhende Möglichkeit des Idealismus überwinden, ohne zu einem naiven Realismus zurückzukehren (IM149). Um den Zusammenhang mit der Frage nach der Begründung des Wissens zu verdeutlichen, die Levinas, wie dies oben dargestellt wurde, nicht in der Beziehung nur zum Anderen der Welt, sondern in der zum anderen Menschen gewährleistet sieht, soll hier schon vorweggenommen werden, was später noch eingehender beschrieben werden wird: Die leibliche Intentionalität ist für ihn zwar unmittelbare Beziehung zur Realität, aber damit das Subjekt sie auch wahrnimmt als solche und sich mit der kritischen Essenz des Wissens auf die transzendente Wirklichkeit bezieht, bedarf es für Levinas der Infragestellung durch den Anderen. 390 Die Beziehung zum Anderen ereignet sich jedoch immer inkarniert, vermittels der leiblichen Transzendenz – diese ist in jedem Fall sozusagen das Durchgangstor nach draußen. 391 Entsprechend nimmt er für die Beschreibung der Fundierung 389 Levinas macht dies deutlich in Bezug auf die Empfindnisse, in denen die Empfindung ursprünglich verbunden ist mit dem Erleben der leiblichen Verortung: Diese Empfindnisse meinen nicht »eine Gegebenheit der inneren Anschauung; die Gegebenheit der inneren Anschauung setzt eine Einstellung voraus, die das Innere dem Äußeren entgegensetzt. Die Analyse der Empfindungen als Empfindnisse bedeutet gerade die Sprengung dieses Schemas und dieses Gegensatzes.« (IE176) 390 Vgl. unten, S. 351 f. u. dann die ausführliche Beschreibung der vom Genießen ausgehenden schrittweisen Entstehung der Erkenntnisdistanz S. 690–713. 391 Vgl. unten, S. 734–738.

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des Transzendenzbezuges der Intentionalität zugleich auf die Relation zum Anderen und deren Inkarnation Bezug: »Von dem der-Eine-fürden-Anderen der Inkarnation des Selben aus läßt sich die ›Transzendenz‹ der Intentionalität verstehen.« (JS1584 ) 392 Und er versteht die ethische Intentionalität konzeptuell in Entsprechung zur leiblichen. 393 So kann er das Betroffensein durch den Anderen, anschließend an seine Betrachtung der husserlschen Analyse der Empfindung, ebenso als »Urimpression« bezeichnen (IE183). In diesem Zusammenhang macht Levinas außerdem darauf aufmerksam, wie schon Husserl den Ursprung allen Sinns – und das schließt die Begründung der Objektivität des Wissens ein – in der intersubjektiven Begegnung gesucht hat. Auch in diesem Punkt knüpft Levinas also an ihn an. Er trennt sich dann aber freilich, wie dies noch zu beschreiben sein wird, in der Rekonstruktion der Interpersonalbeziehung. 394 Obwohl Levinas bei Husserl Beschreibungen einer vorgegenständlichen und transzendierenden Intentionalität findet, sieht er ihn freilich, wie der oben dargestellte Gedankengang aus Totalität und Unendlichkeit zeigt, noch in der Zweideutigkeit des Bewusstseins verhaftet und stellt deshalb seine eigene Denkbewegung als einen Überstieg über das Forschungsfeld Husserls dar, ja identifiziert dieses sogar – scheinbar gegen das Konzept der Intentionalität – mit dem cartesischen Raum der Bewusstseinsimmanenz. Verständlich wird dies auf Grundlage der Kritik, die Levinas in Intentionalität und Metaphysik bei aller positiven Anknüpfung an Husserls Empfindungsanalysen benennt: Statt ausgehend von diesem Fortschritt im Verständnis der Intentionalität in ihrer Vorgängigkeit zur Vorstellung und als ein Überschreiten der Sphäre des Ich hin zur Welt dann 392 Vgl. auch JS158: »Der Psychismus der Intentionalität hängt, jenseits der Korrelation von Gesagtem und Sagen, von der Bedeutsamkeit des Sagens und der Inkarnation ab, von der Diachronie«. Diese Stellen aus JS zeigen zugleich die Kontinuität im Verständnis der Fundierung der Intentionalität bei Levinas. 393 Vgl. unten, S. 403–410. 394 Vgl. unten, S. 413–421. Zur Anknüpfung an Husserl in diesem Punkt sowie zur Distanzierung vgl. bes. TU304. Schon Husserl habe die Objektivität von der Intersubjektivität her verstanden. Dass bei ihm der Konstitution der Intersubjektivität aber »ein monadisches Denken« zugrunde liege, lasse seinen Versuch der Rekonstruktion der Objektivität scheitern. Umgangen werden könne dieses Scheitern allein durch eine der subjektiven Immanenz vorgängige Bezogenheit auf den Anderen. Levinas richtet sich also dagegen, wie Husserl die Fundierung der Objektivität aus der interpersonalen Allgemeinheit mit der aus der Gewissheit der Bewusstseinsimmanenz, mit der des Cogito, zu verbinden.

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auch das Subjekt grundlegend anders zu verstehen, beziehe Husserl wieder alles auf das Bewusstseinssubjekt zurück. »Das leibliche Ich ist das reine Ich, das sich im Bezug zum Körper wahrgenommen hat« (IM150). Zwar gesteht Levinas Husserl zu, dass es nötig ist, die leibliche Intentionalität an eine Subjektivität zurückzubinden, da sie sonst nichts anderes als eine physische Bewegung sein würde. Aber diese Subjektivität dürfe nicht einfach weiter von der Vorstellung her konzipiert werden. Wenn er in dem Zusammenhang darauf aufmerksam macht, dass sich »den Nachfolgern Husserls andere Wege zeigen, um auf das Problem zu antworten« (IM151), so hat er hierbei schon sein eigenes Konzept einer sich unabhängig vom Bewusstsein vollziehenden Intentionalität und einer der subjektiven Einheit der transzendentalen Apperzeption vorgängigen Subjektivität im Blick. Die Ausarbeitung dieses Konzeptes findet sich in der ausgereiftesten Form wohl in Jenseits des Seins. Und hier, in einer erneuten Auseinandersetzung mit Husserls Empfindungsanalysen, formuliert er die Kritik auch noch einmal ausführlicher (JS80–87). Zunächst macht er auf die bei Husserl fast durchgehend beobachtbare »Hegemonie der ver-gegenwärtigenden Vorstellung« (JS85) aufmerksam. Er habe zwar mehrere von der Vorstellung verschiedene Intentionalitäten beschrieben, etwa die des Gefühls eines Wertes oder die des Wollens, aber für ihn könne sich nichts ohne eine zugleich bestehende theoretische Intentionalität vollziehen und alles sei so eben immer auch Bewusstsein des Wertes oder des Gewollten. 395 Sie sei das Fundament für alles. Zwar werde diese Hegemonie zunächst durchbrochen in der Analyse der Empfindung. Es werde dann jedoch, da »dieses ursprünglich nichtobjektivierende und in der lebendigen Gegenwart nicht objektivierte Bewusstsein thematisierbar ist und in der Retention auch thematisierendes Bewusstsein ist«, die Urimpression selbst als ein Bewusstsein gedeutet (JS85). Und so führt für Levinas die Analyse der Empfindung »weder auf ein Diesseits-des-Selben hin noch auf ein Diesseits-des-Ursprungs« (JS86), welches das Ich des Bewusstseins darstellt. Die Analyse führt für ihn so auch lediglich zu einer Zeitlichkeit, die in einer »Phasenverschiebung der Identität der ›lebendigen Gegenwart‹ mit sich selbst« besteht, und »schließt die Diachronie von der Zeit aus«, die Diachronie als diesen zeitlichen Bezug über das Ich hinaus in eine für das Bewusstsein uneinholbare Vergangenheit des Anderen, wie Levinas sie in der späten Phase fasst. Wenn 395

Vgl. dazu auch JS383 u. GP92 f.

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eine solche Dominanz der Vorstellung besteht, bleibt für Levinas die Phänomenologie letztlich doch auf den Raum der Bewusstseinsimmanenz beschränkt und in deren Zweideutigkeit verhaftet. Deshalb kann er das husserlsche Forschungsfeld, obwohl er für sein eigenes Konzept wegweisende Ansatzpunkte bei Husserl sieht, darüber hinaus zu kommen, mit der cartesischen Immanenz identifizieren. Doch auch noch in einem anderen Sinn sieht Levinas eine problematische Dominanz der theoretischen Intentionalität bei Husserl, nämlich in der Weise, wie für ihn der letzte Bedeutungshorizont des Seienden darin liege, dass es sich offenbare. »Das Sein der Seienden liegt in ihrer Wahrheit: das Wesen des Seienden liegt in der Wahrheit oder in der Offenbarung ihres Wesens.« (PT91) 396 Von diesem Bedeutungshorizont seien alle anderen Arten von Sinn abhängig; auch die »Empfindung […] nimmt am Sinnhaften nur noch als beseelt durch die Intentionalität teil oder als konstituiert in der immanenten Zeit nach dem Schema des theoretischen Bewusstseins von …« (JS151). Levinas insistiert dagegen auf einer eigenen und nicht vom Theoretischen her verstehbaren Bedeutsamkeit der Sinnlichkeit, nämlich Sinnlichkeit verstanden als »Sensibilität«, als Ereignis der Beziehung zum Anderen, welche für ihn den eigentlichen und letzten Bedeutungshorizont ausmacht (JS149–156). Dem Erscheinen kommt dann erst umgekehrt von hierher seine Bedeutung zu. Er begreift es als Moment der Beziehung zum Anderen. Kritische Anknüpfung an die transzendentalphänomenologische Methode Husserls Die dargestellte Kritik an Husserl darf nicht so gelesen werden, dass Levinas dessen Ansatz schlicht ablehnt. Es wurde deutlich, wie er sich die Denkbewegung Husserls vielmehr aneignet. Er geht aus von der 396 Während Levinas die Kritik hier, in dieser relativ frühen Schrift, an Husserl übt, bezieht er sie in JS vor allem auf Heidegger und kritisiert an Husserl eher, dass er sich von der theoretischen Intentionalität als letztem Bedeutungshorizont aufgrund ihrer fundamentalen Rolle letztlich nicht habe lösen können, obgleich er verschiedene andere Bedeutungsarten aufgedeckt habe (JS149–156). Schon früher hat Levinas die genannte Kritik besonders gegen Heidegger gerichtet (OF104–113). Gerade indem Heidegger Husserls Ansätze, das Verstehen auf den Bereich des Vorgegenständlichen auszuweiten, vorangetrieben und das Seinsverstehen geradezu mit dem konkreten Vollzug der Existenz zusammenfallen habe lassen (OF104–107), sei es ihm möglich gewesen, dieses Existieren letztlich als Ereignis der Lichtung des Seins zu deuten (OF107 f.).

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epoché, von der Reduktion auf das phänomenal Gegebene, von der Rückfrage nach der Konstitution der Gegenstände bis zur Erhellung der vorgegenständlichen Intentionalitäten, an welche die subjektive Konstitution selbst noch einmal anknüpft und für welche er, zumindest teilweise, das Wort ›Intentionalität‹ gar nicht mehr verwenden möchte. 397 Es wurde deutlich, wie – obwohl Levinas im letzten Punkt über Husserl hinausgeht – dessen transzendentale Phänomenologie sein Ausgangspunkt bleibt. Levinas Philosophie lässt sich nur als Denkbewegung verstehen, nicht allein von ihren Resultaten her. Der Überstieg setzt mit dem ein, was überstiegen werden soll, und ist ohne das weder begründet noch überhaupt verständlich. Wie dies für die Phänomenologie der Sinnlichkeit deutlich wurde, gehen seine Analysen vom Bereich der Vorstellung aus, wobei er hier vieles voraussetzt und übernimmt, was schon Husserl und andere in Bezug auf den Bereich der Korrelation von Noesis und Noema und die Bedeutung der konstituierenden Vorstellungsakte phänomenologisch analysiert haben. Levians möchte das nicht widerlegen, sondern es vielmehr als Ausgangspunkt nehmen und noch tiefere, vergessene Bedingungen der Phänomene aufweisen, die selbst schon jenseits des Bereichs der Phänomenalität liegen. 398 Levinas ist sich darüber im 397 Levinas’ Ambivalenz diesem Begriff gegenüber kommt in EU23 f. gut zum Ausdruck. Er legt dar, wie er an Husserls Beschreibungen einer »nicht-theoretischen Intentionalität« anknüpfen möchte, und sagt: »Die Beziehung zum Anderen kann als irreduzible Intentionalität angestrebt werden, selbst wenn man darin schließlich den Bruch mit der Intentionalität sehen muß.« Anders als in früheren Zeiten wird in JS für die Beziehung zum Anderen der Terminus ›Intentionalität‹ durchgehend ausgeschlossen, die späte Bemerkung aus EU zeigt aber, wie wenig es Levinas um Worte geht. Von daher erscheint es mir als nicht angemessen, wie etwa Carsten Lotz Hansjürgen Verweyens Rede von einer Rezeption des levinasschen Konzepts von Sinnlichkeit als einer »›Intentionalität des Subjekts vor aller subjektiven Intentionalität‹« (Verweyen, 2002, 167) kritisiert: Er sehe nicht »dass man Sinnlichkeit (sensibilité) bei Levinas in einen Zusammenhang mit Intentionalität bringen könne, ist sie doch gerade das, was jede Intentionalität einer Nähe aussetzt, die mich betrifft und mir entzogen bleibt« (Lotz, 2007, 88 f.). 398 Die Weise, wie Levinas phänomenologisch vom Bereich der Vorstellung ausgeht und diesen dann überwindet ist auch gut studierbar in seiner Analyse des Genusses in TU170–203 (vgl. dazu unten, S. 619–621). Auch hier wird sichtbar, wie er vieles von Husserl einfach voraussetzt und übernimmt. Im späteren Vorwort zu TU macht Levinas deutlich, dass es ihm nicht darum geht, die phänomenologischen Analysen dessen, was sich zeigt, und hier die Korrelation von Noesis und Noema und die Dominanz der theoretischen Intentionalität oder der Vorstellung infrage zu stellen. Es gehe ihm um etwas Weiteres, etwas über diesen Bereich des Sichzeigens Hinausliegendes (TU11). In Bezug auf die Bewusstseinsobjekte stimmt er der Theorie der subjektiven

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Klaren, dass er damit über das Grundelement der Methode der Phänomenologie, die Rechtfertigung aus der unmittelbaren und evidenten Bewusstseinsgegebenheit, hinausgeht. Er möchte etwas beschreiben, was nicht mehr so evident ist wie die Bewusstseinsobjekte, was eigentlich nicht beschreibbar ist, weil es nicht mehr Phänomen, nicht mehr Erfahrung ist. Indem Levinas diese Begriffe in der frühen Zeit teilweise jedoch auch noch positiv benutzt, wird deutlich, dass es ihm dabei nicht um etwas geht, was dem Erleben und der phänomenologischen Beschreibung einfach völlig unzugänglich ist. Und auch in der späteren Zeit bleibt es zumindest dabei, dass der Überstieg über die Phänomenalität selbst phänomenologisch erschlossen wird – und nicht etwa rein gedanklich geschieht –, erschlossen in der Beschreibung der verschiedenen Brüche der Phänomenalität, die ihre eigene Evidenz besitzen. 399 Wie dies zu verstehen ist, wurde in etwa schon Konstitution und Sinngebung innerhalb des transzendentalen Ich zu (TU171–179 u. GP89–92; vgl. auch TU8 zum transzendentalen Ich als »unumgänglichen« wenn auch nicht letzten »Stützpunkt […] der Vernunft«). Auch Husserls Interpersonalitätstheorie scheint Levinas als Theorie der Konstitution des Bewusstseins des Anderen nicht infrage stellen zu wollen; es geht ihm nur darum, zwischen Objektkonstitution und Beziehung zum Anderen zu unterscheiden und die Beziehung, das unmittelbare passive Betroffensein, als etwas der Konstitution Vorgängiges und diese Bedingendes auszuweisen (TU90; vgl. dazu unten, S. 413–421). 399 Levinas verwendet – das wurde oben deutlich – zwar schon in TU das Wort ›Phänomen‹ für den Bereich der Erscheinung (TU30, 86 u. 126) und verortet den Anderen (sowie den Leib und das Unendliche) jenseits der Phänomenalität (TU287). Er unterscheidet deutlich zwischen Phänomen und Wort (TU126 u. 138) oder auch Ausdruck (TU256–266), Bezeichnungen für die eigentliche Weise der Beziehung zum Anderen. Trotzdem geschieht aber die Erschließung dieses Jenseits phänomenologisch. Der Bruch der Phänomenalität wird selbst an Phänomenen festgemacht (vgl. zu diesem Aufweis des Bruchs etwa TÜ183), die von Levinas auch als solche bezeichnet werden (im Leiblichen: das »[P]hänomen« des Genusses [TU75] und der Stärkung im Genuss [TU153], der Sorge um die unsichere Zukunft [TU215], der Sterblichkeit [TU345], des Übels [TÜ182–184] – aber auch im Ethischen: das »Phänomen« der Schuld [TU413], der Apologie [TU367], der Milde des Anderen und des ethischen Schocks [TU216] oder der Sinnerfahrung aus der Beziehung zum Anderen [TU381 f.]). Entsprechend spricht er von einer »Phänomenologie der Empfindung qua Genuß« (TU270) sowie von einer »Phänomenologie der Beziehung zum Anderen« (U112). Ebenso verwendet er das Wort ›Erfahrung‹ neben dem auf den Bereich der objektiven Erscheinung beschränkten Sinn (TU24 u. 194) auch in einem weiteren (TU87, 100 u. 142 f.). In JS findet sich dann auffälligerweise weder dieser weite Erfahrungsbegriff noch die Bezeichnung ›Phänomen‹ für das, was über die Phänomenalität hinausführt. Die Nichtphänomenalität des Gesichts wird stärker betont (JS170, 199, 268 u. 27026 ). Der Sache nach ist es aber für Levinas noch genauso, dass die phänomenologische Beschreibung den Bruch der Phänomenalität selbst verfolgen kann (JS258), und entsprechend kann

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deutlich in der Analyse der Empfindung und der Kinästhesen und wird in der Darstellung von Levinas’ Analysen der Beziehung zum Anderen wie dann auch der Leiblichkeit noch genauer herausgearbeitet werden. 400 So bekennt sich Levinas bis zuletzt zur Methode der Phänomenologie. In Bezug auf Jenseits des Seins sagt er etwa: »Die hier vorgelegten Untersuchungen bekennen sich zum Geist der Husserlschen Philosophie«; es gehe ihm um »Phänomenologie als Methode für die Philosophie im ganzen« (JS390). 401 Er wolle Philosophie als Beschreibung betreiben, nicht als Begriffsanalyse oder Begriffsdialektik. Sein Philosophieren »bleibt der Intentionalanalyse treu, insofern diese das Wiedereinrücken von Begriffen in den – verkannten, vergessenen oder verschobenen – Horizont ihres Offenbarwerdens bedeutet« (JS390). Er geht also nicht von der Sprache aus 402 oder von vermeintlich klaren und evidenten Begriffen und ihrer logischen Entfaltung, sondern fühlt sich dem unmittelbar und originär im Bewusstsein sich Offenbarenden verpflichtet. Originär gegeben ist freilich auch, dass die Gegenstände allein nur eine Abstraktion sind, dass sie ursprünglich einbezogen sind in ihre Konstitution durch die vorstellende Iner neben der Problematisierung der Rede von einer »›Phänomenologie‹ des Antlitzes« (EU64) in der späteren Zeit an diesem Ausdruck auch festhalten (TU11, im späteren Vorwort von 1987). Über die bleibende Bindung an die phänomenologische Beschreibung reflektiert Levinas sehr genau etwa in JS211 f.35 : Er legt hier dar, wie für ihn die phänomenologische Beschreibung ausgeht vom gegenständlich Erscheinenden, dann aber den Bruch dieser Erscheinung, die Entzogenheit der Spur und die Diachronie, selbst darlegt, wodurch sie sich notwendig in den Widerspruch begibt, ein Phänomen zu beschreiben, das gar kein Phänomen ist. Die ethische Sprache, die vom Sollen anstatt vom Erscheinen spricht, kann für ihn diese Beschreibung in ihrem Sinn erhellen und die Widersprüchlichkeit aufwiegen. Sie stelle jedoch nicht eine »Intervention« der Beschreibung dar, die Phänomenologie werde nicht verlassen, sondern bleibe vielmehr auf die Beschreibung bezogen, sei sozusagen eine Funktion der phänomenologischen Beschreibung (vgl. auch JS268). Ich würde von daher Thomas Wiemer (1988, 218) in seiner Interpretation zustimmen, dass die ethische Sprache deshalb »in der Verlängerung phänomenologischer Beschreibung« liegt und sich nicht davon abhebt. 400 Vgl. bes. unten, S. 403–410 u. S. 619–621. 401 Ähnlich auch in TU31: Die Entwicklung seiner Untersuchung »verdankt alles der phänomenologischen Methode«. 402 Vgl. dazu auch PT87 f. Die Thematisierung der Sprache hat zwar einen großen Stellenwert in Levinas’ Analysen. Wenn er aber etwa die Beziehung zum Anderen ausgehend von der Sprache beschreibt – dies stellt einen ganz zentralen Zugang für ihn dar –, dann analysiert er dabei nicht Ausdrücke und Sprechweisen, sondern vielmehr das phänomenologisch erschließbare Sprachgeschehen selbst, das Sagen, im Unterschied zu allem Gesagten. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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tentionalität und eine Fülle sich auf den Gegenstand übertragender Sinnhorizonte. Für Levinas muss die Phänomenologie, um diese Abstraktion zu überwinden und um die ganze Bedeutungsfülle der Wirklichkeit erschließen zu können, notwendig nach diesen Bedingungen zurückfragen (PT87 f., IE158 f. u. As197 f.). Und gerade in der Entdeckung der Bedeutung dieser konstituierenden Akte, der im scheinbar objektiven Blick auf die Dinge vergessenen Sinnhorizonte der Konstitution und der Erfahrungen, die in ihnen verborgen sind, liegt für Levinas die »Substanz der Husserlschen Lehre« (TU31), an die er anknüpfen möchte. 403 Um diesen Bedingungen freilich gerecht werden zu können, ist für Levinas eine Modifikation der phänomenologischen Methode notwendig. Sie kann sich zwar zuerst einmal dadurch rechtfertigen, dass sie alle Thesen und Begriffe auf das unmittelbar phänomenal Gegebene zurückführt – mit dem husserlschen Terminus: re-duziert. Auch die subjektiven Konstitutionsakte sind in gewisser Weise noch unmittelbar gegeben und in der Weise apodiktisch gewiss – ebenso die unmittelbar zu diesen Akten gehörende synthetische Einheit der Apperzeption (erst das wirkliche Sein des Subjekts ist für Levinas, wie im Folgenden noch zu betrachten sein wird 404, zweifelhaft). Aber die tiefer liegenden Bedingungen sind in ihrer Vorgängigkeit zur Bewusstseinsimmanenz nicht mehr in dieser Gewissheit ausweisbar. Entsprechend versteht Levinas die phänomenologische Reduktion in einem erweiterten Sinn: 405 zwar durchaus in der ursprünglichen Bedeutung als die Rückführung alles Vermeinten auf seine ursprüngliche phänomenale Gegebenheit, aber so, dass der Raum dieser Gegebenheit nicht von vornherein auf die immanente 403 Das bringt Levinas sehr häufig zum Ausdruck, wenn er sich auf Husserl bezieht; vgl. etwa auch UV124 f. u. 130 f.; PT87 f. u. 92 f.; U108 f.; As197 f. u. FA109–111. 404 Vgl. unten, S. 359–361. 405 Levinas übernimmt zwar für seine Methode die Bezeichnung ›phänomenologische Reduktion‹. Er betont jedoch, dass es sich dabei weniger um die Erschließung des objektiv Gegebenen handelt, sondern mehr der diesem zugrunde liegenden subjektiven Konstitutionsakte (PT101; UV135 f. u. As197 f.), ja sogar der diesen Akten noch zugrunde liegenden Horizonte (in JS129 wird die Reduktion entsprechend verstanden als »Rückgang auf das Sagen«). Deshalb rechtfertigt sich für ihn diese Methode auch nicht durch die »Apodiktizität der immanenten Sphäre« (UV135), die unbezweifelbare Gegebenheit der Bewusstseinsobjekte, sondern vielmehr dadurch, dass sie einen Zugang darüber hinaus erschließt. Da die Bedingungen der Konstitution nicht mehr so gewiss gegeben sind wie die Bewusstseinsobjekte oder auch das Bewusstsein selbst, muss für Levinas der Anspruch auf objektive Gewissheit, den die phänomenologische Reduktion eigentlich einlösen sollte, modifiziert werden. Vgl. dazu unten, S. 396–400.

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Sphäre des Bewusstseins beschränkt ist, sondern ›Phänomene‹ ernst genommen werden, die darüber hinausweisen. Die phänomenologische Reduktion bei Levinas kann deshalb nicht mehr dieselbe Art von Gewissheit erreichen. Die Methode rechtfertigt sich letztlich nicht mehr darüber, sondern über ihr Potential, in diesen an sich sehr viel bedeutsameren Bereich der tiefer liegenden Bedingungen führen zu können. Für den Überstieg über die Vorstellung, den Immanenzraum der transzendentalen Apperzeption und dessen Gewissheit, in dem er Husserl letztlich methodisch verhaftet sieht, kann er gleichwohl, wie deutlich geworden ist, an die husserlschen Analysen anknüpfen und deren Bedeutung würdigen. 406 In dieser Hinsicht bezieht sich Levinas wiederholt auch anerkennend auf Heideggers Beschreibungen einer nicht gegenständlichen Intentionalität – in den Stimmungen, etwa der Angst, oder im praktischen Zugriff auf die Welt –, die für ihn offenbar sehr prägend waren. 407 Resümierend kann Levinas in einem späten Interview sagen: »Ich denke, dass das, was ich treibe, trotz allem Phänomenologie ist, selbst wenn darin keine Reduktion nach den von Husserl geforderten Regeln stattfindet, selbst wenn nicht die gesamte Husserlsche Methodologie eingehalten wird.« (FA110) Aus der Erfahrung der Gefahr einer methodischen Einengung, wie sie für ihn bei Husserl gegeben ist, erklärt sich wahrscheinlich eine bei ihm beobachtbare Reserviertheit gegenüber methodologischen Überlegungen – auch wenn er selbst solche durchaus immer wieder anstellt – und sein Zweifel daran, dass es »in der Methode eine mögliche Transparenz gibt« (FA113). Levinas’ Methode lässt sich nicht nur als eine phänomenologische, sondern auch als eine transzendentale bestimmen. Levinas wür-

406 Neben den oben thematisierten Texten zur Empfindung und zu den Kinästhesen vgl. zur Analyse der Leiblichkeit generell auch UV132–137. Des Weiteren beobachtet Levinas bei Husserl auch eine Hinterfragung der »Herrschaft der Vorstellung aus Anlaß der Strukturen reiner Logik, aus Anlaß der reinen Formen des ›etwas überhaupt‹« (UV130 f.), also nicht nur durch eine transzendentale Rückfrage in Richtung der Leiblichkeit, sondern auch der des Idealen. 407 Zu Heideggers Analyse der Stimmungen, v. a. der Angst, vgl. EU29 f. u. TÜ177; zur Bedeutung des Rückgangs vom Gegenstand der Erkenntnis zu ihrem konkreten Vollzug, ja zu den verschiedenen Vollzügen der Existenz überhaupt, mit welchem Heidegger für Levinas an Husserl anknüpft und den er zur Grundlage seiner Ontologie macht vgl. OF104 f.; zur Bedeutung des vortheoretischen und vorgegenständlichen praktischen In-der-Welt-Seins vgl. OF106 f.; JS85 findet sich eine – wohl als Zustimmung zu verstehende – Anspielung auf das Konzept des »›Zuhandenen‹«.

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digt es in einem frühen Aufsatz als »wesentliche[n] Beitrag« für die Phänomenologie, den er selbst als »Gewinn« aus der Beschäftigung mit Husserl gezogen habe, dass er nicht nur einfach Phänomene beschrieben, sondern mit der Frage nach den Bedingungs- und Konstitutionsverhältnissen eine Methode etabliert habe, auf philosophisch strenge Weise die Struktur der Verknüpfung der Phänomene herauszuarbeiten, und in dem Sinn die »Erneuerung des Begriffs des Transzendentalen« (UV124 f.). Husserls transzendentales Rückfragen ist für ihn dabei nicht nur deshalb bedeutsam, weil dadurch die subjektive Aktivität der Objektkonstitution und ihre bedingenden Horizonte erschlossen werden, sondern auch dadurch, dass sich in diesen Horizonten, wie bereits dargestellt wurde, eine »transzendentale Bewegung« (IM141), eine vorgegenständliche Intentionalität und in ihr ein neuer unmittelbarer Realitätsbezug abzeichnen 408 – Grundlage für sein Konzept einer eigenen Intentionalität der Leiblichkeit wie der Beziehung zum Anderen. Mit gewissen Einschränkungen, die noch genauer zu thematisieren sein werden, kann er die Bezeichnung ›transzendentale Methode‹ oder ›Transzendentalismus‹ für sein Vorgehen gelten lassen, nämlich wenn der Rückgang sich nicht beschränkt auf die Sphäre der transzendentalen Apperzeption, wie es für ihn bei Husserl der Fall ist. 409 Eine genauere Betrachtung des transzendentalen Vorgehens von Levinas geschieht sinnvollerweise erst nach der Darstellung seiner Analyse der Beziehung zum Anderen, da es wesentlich von ihr abhängt. Charakteristisch jedenfalls ist für seine transzendentale Rückfrage einerseits, dass sie sich nicht löst von den Phänomenen und etwa rein schlussfolgernd vorgeht, dass sie aber andererseits in eine Region jenseits des Bereichs des unmittelbar phänomenal Gegebenen, sei es der Objekte oder der subjektiven Akte, zurückfragt, wobei die Bindung an die Phänomene dann in der Weise stattfindet, dass der Überstieg über die Phänomenalität – oder ihr Bruch – selbst an Phänomenen festgemacht wird.

408 Vgl. IM141–143. Hier spricht Levinas von der Eröffnung der Möglichkeit einer »Metaphysik des Transzendentalen« (IM142) – »Metaphysik« verstanden als Erschließung der Beziehung zum realen Sein. 409 Siehe dazu unten, S. 489–492.

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Eine Begründung des Wissens aus der praktischen Vertrautheit mit der Welt? Eröffnet sich nun nicht durch die Ausweitung der husserlschen Phänomenologie sowie den Ausweis eines vorobjektiven praktischen Bezuges zur Realität und einer Vertrautheit mit ihr eine Möglichkeit, das Wissen von daher zu begründen? Wieso sollte das Phänomenale nur durch den mich ethisch infrage stellenden Anderen überschritten werden und nicht durch das Andere, in dem ich in meiner Praxis betroffen und begrenzt werde? Levinas sieht, dass gerade die Einsicht in die ursprünglich im Sinnlichen – nämlich im praktischen Umgang damit – enthaltene und nicht äußerlich durch das Denken in sie übertragene Bedeutsamkeit zum Versuch geführt hat, die objektivierende Betrachtung von der Praxis und einem in ihr enthaltenen vorgegenständlichen Verstehen herzuleiten, als eine Abstraktion davon, als »ein Residuum dieser praktischen Finalität« (TU132). Zu ihr würde es kommen durch das Scheitern der Praxis oder durch das Ausbleiben der Befriedigung, auf welche die Praxis letztlich immer zielt. Dies würde eine Abstandnahme vom Akt und von der Einbindung der Wirklichkeit in die praktische Bewandtnisganzheit hervorrufen und die Vorstellung in der Form einer unbeteiligten Betrachtung der Dinge entstehen lassen (TU134 f.). Im Scheitern könnte man dann auch die Veranlassung zur kritischen Infragestellung des Subjekts erblicken (TU113 f.), welche ja als Charakteristikum der Wahrheitssuche herausgearbeitet wurde. Problematisch ist für Levinas daran zunächst, dass hier die Freiheit des Subjekts im Sinne des selbstbezogenen Wirkenkönnens als letzter Orientierungspunkt genommen und die ethische Idee einer Infragestellung dieser Selbstbezogenheit außen vor gelassen wird (TU114). Doch auch die Begründung des Wissens ist für ihn ungenügend (TU114 f.): Die objektive Betrachtung setzt eine Loslösung des Subjekts von sich voraus, die im Scheitern allein nicht gegeben ist. Diese Loslösung wird dann gewöhnlich als ermöglicht gedacht durch eine ursprüngliche Bezogenheit des einzelnen Subjekts auf das Universale. Gerade dieses Konzept scheidet für Levinas aber aus, weil darin die Selbständigkeit des Individuums nicht gewahrt werden kann. Dieser Punkt wird uns für den Vergleich mit dem fichteschen Denken noch ausführlicher beschäftigen. 410 Um zu verstehen, warum das Scheitern allein das Subjekt nicht von sich 410

Vgl. unten, S. 476–488.

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lösen kann, muss man sich klarmachen, dass der letzte Horizont der Praxis zunächst einmal die Sorge um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ist. Das Scheitern, das selbst seine Bedeutung als Scheitern ja nur ausgehend von diesem Horizont bekommt, kann zwar die einzelne Handlung als inadäquat hierfür erscheinen lassen, aber nicht diesen Horizont als Ganzen infrage stellen oder einen anderen Bedeutungshorizont einführen. Eine radikale Distanzierung von der Selbstsorge ist für Levinas aber Bedingung für das Wissen, was er besonders dadurch herausstellt, dass er das Phänomen der kritischen Wahrheitssuche, die von allen Eigeninteressen absehen muss, in den Blick nimmt. Deren »kritische Essenz […] fällt mit keiner Möglichkeit des Genusses und der Arbeit zusammen. Sie bezeugt eine neue Energie […] und der unbeteiligte Charakter der Betrachtung übersetzt diese neue Energie nur oberflächlich« (TU244). Wie ausgehend von der Phänomenologie des Genusses noch dargestellt werden wird 411, setzt für Levinas allein schon die Entstehung eines rein der Selbstsorge dienenden Bewusstseins eine Distanzierung voraus, die nur durch die Begegnung mit etwas, »von dem ich nicht lebe« (TU247), das sich nicht in den Genuss einbinden lässt, ermöglicht sein kann – und das ist der Andere. Und nur wenn mich dann dieser Andere auch in meiner Selbstsorge radikal infrage stellt, ist es möglich, die Wirklichkeit losgelöst von ihr zu betrachten, »die Dinge an sich selbst zu sehen, d. h. sie mir vorzustellen« (TU247). Erst das erhebt das Subjekt »in eine neue Dimension« (TU248). Damit widerspricht Levinas selbstverständlich nicht dem Aufweis eines unmittelbaren vorgegenständlichen Kontaktes mit der Wirklichkeit in der leiblichen Praxis, sondern nur der Idee, von daher auch schon die Einstellung des Wissens, das diese Wirklichkeit als solche intendiert, erklären zu können. Erste Klärungen für den Leibbegriff Die genauere Betrachtung der Auseinandersetzung mit der husserlschen Phänomenologie, die im Hintergrund der dargestellten Überlegung von Levinas zur Wissensbegründung steht, war nötig, um diese in angemessener Weise verstehen zu können. Zudem wurde so eine erste Orientierung in Bezug auf Levinas’ Methode gewonnen, die deutlicher freilich erst ausgehend von seiner Analyse der Bezie411

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Vgl. unten, S. 690–713.

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hung zum Anderen gefasst werden können wird. Außerdem eröffnete der Blick auf Husserls Beschreibungen einer vorgegenständlichen Intentionalität in der Sinnlichkeit, die sich als ein wesentlicher Ausgangspunkt für Levinas’ Konzept der ethischen Intentionalität erweisen wird, einen Zugang zu einer weiteren Alternative der Wissensbegründung und zu Levinas’ Argumenten, sich von dieser abzugrenzen. Nicht zuletzt konnten so auch die ersten Schritte der levinasschen Leibanalyse vergegenwärtigt werden, deren Ergebnisse nun, bevor die Ähnlichkeit der dargestellten Überlegungen zur Wissensbegründung mit dem fichteschen Vorgehen betrachtet werden, noch einmal eigens festgehalten werden sollen, um im Kapitel zu Levinas’ Phänomenologie der Leiblichkeit dann an sie anknüpfen zu können: Von Husserl her kann Levinas die Sicht eines naiven Realismus, der wie der Idealismus letztlich Sein und Objekt identifiziert, und damit den gewöhnlichen Begriff der materiellen Wirklichkeit als einer so, wie vorgestellt, außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein real existierenden Welt überwinden. Die Einbindung der Gegenstandswelt in die Subjektivität und ihre vielfältigen Bedeutungshorizonte befreit von der verengten szientistischen Sicht auf das Materielle. Das Durchschauen der Erscheinungshaftigkeit des objektiv Vorgestellten ermöglicht zudem, sich konsequent davon zu lösen, das Dinghafte als eigentlich real anzusehen, und macht den Weg frei, die Realität des Leibes auf einer tieferen Ebene zu verorten und zu entdecken. Es haben sich schon Elemente angedeutet, in denen Levinas diesen hier beschreibt: in seiner Vorgegenständlichkeit und diachronen Entzogenheit, als fundamentale Iteration, als unmittelbares Verortetsein, als lebendige Aktivität des Subjekts in der Welt, als unmittelbares Sein beim Anderen (im weitesten Sinn, nicht nur des anderen Menschen) und als passives Betroffensein vom Anderen. Angesichts der Differenzierung von objektiv vorgestellter und lebendig vollzogener Leiblichkeit bietet es sich an, für die LevinasInterpretation in derselben Weise, wie dies schon für Fichte geschehen ist, zwischen Körper und Leib zu unterscheiden. Diese Unterscheidung findet sich in der Art bei Levinas nicht, allein schon da das Französische für beides nur das Wort corps verwendet. Der Sache nach differenziert Levinas natürlich und drückt dies teilweise auch durch Beifügungen aus: Für den Leib als lebendiges Tätigsein oder als Ich-kann spricht er – Husserls Rede vom Eigenleib aufgreifend – vom »corps propre« (TI205, 138 o. 235). Für den objektiv vorgestellLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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ten Leib, der hier Körper genannt werden soll, spricht er – neben der Verwendung des Wortes »chose« (TI100 o. 143) – vom »corps physique« (TI139 o. 208) oder vom »corps […] du physiologiste« (TI235). Daneben verwendet er ein eigenes Wort für die Leiblichkeit, in der sich der Andere in seiner Anderheit 412 präsentiert: »corps-expression« (TI235 – »Ausdrucksleib« (TU377)) sowie für die Leiblichkeit im Eros: »le charnel« (TI235 – das »Fleischliche« (TU377); vgl. auch JS211). Vergleich mit Fichtes Gedankengang in der Erlanger Wissenschaftslehre und mit seiner Methode Auch Fichte reflektiert in den ersten Schritten der Erlanger Wissenschaftslehre auf den Raum der subjektiven Immanenz und erweist so das gegenständliche Sein als ein bloß in der Existenz gedachtes und somit in seiner Realität zweifelhaftes Sein. Davon ausgehend lässt auch er die Idee des naiven Realismus – dieses gedachte Sein würde so, wie vorgestellt, außerhalb des Bewusstseins existieren – als ungerechtfertigte Meinung wegfallen. Im weiteren Gedankengang zeigt sich auch für ihn, dass vorgängig zu diesem vorgestellten Sein ein nichtgegenständlicher Bezug zur Realität stehen muss, von dem aus sich dann erst das gedachte Sein ergibt. Auch bei ihm reicht die Loslösung vom Bewusstsein so weit, dass er eine sich wirklich ohne Bewusstsein vollziehende Praxis des Subjekts annimmt, die zudem nicht teleologisch auf es hingeordnet ist. Das Bewusstsein wird vielmehr als Mittel für diese Praxis bestimmt, sodass die angesprochene Kritik Levinas’ an Husserl und Heidegger auf Fichte nicht zutreffen würde. Auch er geht von der Verpflichtung auf die Unmittelbarkeit und Gewissheit der immanenten Bewusstseinssphäre aus, drängt aber, um gegen den in der Reflexion auf die subjektive Konstitution immer die Oberhand behaltenden Idealismus den in der ersten Ausrichtung auf das Sein enthaltenen Realismus zu seinem Recht kommen zu lassen, auf ihre Überwindung. Dass einige Entsprechungen im Begriff des Leibes vorgängig zur Körperlichkeit, wie er sich oben bereits für 412 Die hier gebrauchte Übersetzung von altérité mit ›Anderheit‹ ist zwar bereits deutlich interpretierend. Levinas gebraucht kein die gewöhnliche Sprache verfremdendes Wort, um die von jeder qualitativen Differenz verschiedene Andersheit des Anderen zu benennen. Um aber gerade sie zu verdeutlichen, erscheint es mir überzeugend, diese Übersetzung zu verwenden (mit Wenzler in ZA [vgl. dazu Wenzler 1984, 696 ] u. Wiemer in JS; anders übersetzt etwa Krewani in VS u. TU).

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Levinas angedeutet hat, bestehen, lässt sich zwar schon ersehen, soll aber erst untersucht werden, nachdem Levinas’ Leibbegriff eingehender entfaltet ist. Neben diesen Ähnlichkeiten im Gedankengang dürfen jedoch die Unterschiede nicht übersehen werden. Es bietet sich an, hier schon grundsätzlicher auf die Differenzen zwischen Fichtes Vorgehen und der phänomenologischen Methode von Levinas einzugehen. Zwar orientiert sich Fichte zuerst am unmittelbar anschaulich und so gewiss Gegebenen, zwar lässt auch er nicht gerechtfertigte Meinungen erst einmal wegfallen, dies mündet aber nicht in die für die Phänomenologie charakteristische Offenheit, erst einmal das Gegebene in seiner ganzen Fülle wahrzunehmen und zu beschreiben. Es spräche bei Fichte nichts dagegen, eine solche Herangehensweise als Ergänzung zu integrieren, aber de facto findet sie sich bei ihm nicht. Auch wenn sich in anderen Schriften als der Erlanger Wissenschaftslehre eine größere Orientierung an den von ihm sogenannten Tatsachen des Bewusstseins als Ausgangspunkt der transzendentalen Rückfrage feststellen lässt 413, so zielt Fichte doch immer auf einen Aufstieg hin zum genetischen Grund der Wirklichkeit, von dem aus diese dann ableitend, also nicht mehr phänomenologisch beschreibend, erschlossen wird. Von Anfang an thematisiert Fichte im Aufstieg der Erlanger Wissenschaftslehre solche Ableitungszusammenhänge. Er bezieht sich zwar immer wieder auf die Phänomene, um das Konstruierte zu veranschaulichen oder um den in der Konstruktion teilweise bestehenden Anschein der Widersprüchlichkeit zu zerstreuen 414, die Rechtfertigung soll aber in einer Deduktion erfolgen. Dies ist zumindest der Anspruch und wird von Fichte sehr weitgehend vorgeführt, auch wenn man die Notwendigkeit der Ableitung an manchen Punkten bezweifeln kann 415 und daran m. E. sichtbar wird, dass er sich in seinen Deduktionen doch manchmal auf die Erfahrung stützt. Dass Fichte, wie dies besonders im Vergleich der Leibbegriffe deutlich werden wird, mit seinen Konstruktionen meist erstaunlich Dafür lassen sich am besten die entsprechend betitelten späten Vorlesungen über die Tatsachen des Bewusstseins von 1810/11 u. 1813 anführen. 414 Vgl. etwa Fichtes Rückgriff auf das unmittelbare Phänomen dessen, was mit dem Wort ›Gefühl‹ benannt wird (W300; vgl. dazu oben, S. 116), oder auch auf das unmittelbare Verständnis des Triebes, von dem aus die sonst schwer begreifbare ursprüngliche Synthesis von Erkennen und Praxis eingesehen werden kann (vgl. S104–106). 415 Vgl. dazu etwa oben, S. 150 f. 413

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nah an die phänomenologische Wirklichkeit heranreicht, besonders auch an Phänomene, die zunächst nicht gegeben sind, lässt annehmen, dass bei ihm eine phänomenologische Sensibilität vorhanden war und diese eine heuristische Bedeutung für sein Philosophieren besaß. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich Fichtes Verteidigung der Bedeutung des Gefühls in der Philosophie gegenüber Reinhold zu vergegenwärtigen, in der er die Notwendigkeit herausstellt, im Philosophieren vor allem Argumentieren und Konstruieren von einem unmittelbaren Gefühl auszugehen. 416 Man kann ihm auch nicht den Vorwurf machen, wie dies Levinas gegenüber dem Neukantianismus tut (IM159), dass er das Transzendentale nur von der wissenschaftlichen Objektivität her denken und nicht die verschiedensten Bedeutungsdimensionen des menschlichen Daseins in den Blick bekommen würde. Bei Fichte finden nicht nur die leiblich-naturhaften, die sozialen, personal-sittlichen und religiösen Horizonte breite Berücksichtigung, sondern auch die rein geschichtlich gewachsenen, und zwar mit einer Offenheit für das sich hier unableitbar, nur rein erfahrungshaft hinnehmbar Zeigende. Trotzdem muss man wohl im Hinblick auf die dargestellte Ausrichtung auf eine deduzierende Rechtfertigung – obwohl Fichte der Ableitungsmöglichkeit klare Grenzen setzt – zumindest von der Gefahr einer verengten Sicht auf die Wirklichkeit sprechen. Eine Nähe zur Phänomenologie entsteht dadurch, dass bei Fichte der Anschauung eine fundamentale Bedeutung zukommt. Die transzendentale Rückfrage soll bis zuletzt nicht rein schlussfolgernd geschehen, sondern durch ein inneres Eindringen in das Erschlossene in unmittelbarer Anschauung. Keinerlei Begriffe sollen vorausgesetzt werden, die nicht in unmittelbarer Anschauung gerechtfertigt werden – für Levinas ein Grundcharakteristikum der Phänomenologie. 417 Der wesentliche Unterschied zur Phänomenologie Husserls, wie Levinas sie aufgenommen hat, liegt jedoch darin, dass Fichte über die Anschauung im vorstellenden Bewusstsein, über die Anschauung im Bewusstsein des Bewusstseins und auch über die Anschauung im Erleben der leibhaften Praxis des Individuums hinaus von einer intel-

Vgl. dazu Lohmann 2009, 311 f. Vgl. PT84: »Die Erfahrung der Tatsachen des Bewußtseins ist der Ursprung aller Begriffe, die man legitimerweise verwenden kann. Die Beschreibung rekurriert auf keinen im vorhinein gesonderten, angeblich für die Beschreibung notwendigen Begriff.« 416 417

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lektuellen Selbstanschauung des Denkens ausgeht und diese das eigentliche Zentrum der transzendentalen Bedingungen ausmacht. Deshalb zielt Fichte im Aufstieg der Erlanger Wissenschaftslehre ziemlich direkt in ihre Richtung. Er beginnt zwar im Raum der empirischen Anschauung, die man mit der Vorstellung identifizieren kann, aber er betrachtet nicht einfach irgendwelche gegenständlichen Phänomene, sondern Denkvorgänge. Nicht zufällig lässt er bald die transzendentale Rückfrage am Denken der Nichtfolge und der Folge selbst ansetzen, um so zum Lichtbegriff zu führen. Für Levinas geht die Phänomenologie demgegenüber nicht von so einer Selbstanschauung des Denkens aus. Von vornherein sei für sie die Skepsis gegenüber der Meinung charakteristisch, auf dem universalen Standpunkt eines allgemeinen Denkens zu stehen, von dem aus man sich über alle eingeschränkten Perspektiven erheben und sogar die Momente der Wirklichkeit aus ihrem Zentrum heraus deduzieren könnte. 418 Es klingt wie eine Entgegnung zu Fichte, wenn er schreibt: »Es gibt keinen Ursprung des Lichtes, über das der Mensch verfügt und in dessen Licht er das Licht wahrnimmt, es gibt kein Licht als Bedingung des Lichts der Evidenz.« (BE63 f.) Zwar wird auch bei Fichte die intellektuelle Anschauung und ihr universaler Standpunkt nicht einfach vorausgesetzt, sondern in der typischen Verbindung von praktischem Glauben und Anschauen erwiesen, aber der Glaube kommt auffälligerweise nur in den Blick als Glaube an diese Instanz der universalen 418 Vgl. PT83–87 u. BE59–64. Hier drückt sich Levinas sehr deutlich aus: »Der husserlsche Idealismus verzichtet auf Vernunft:[E]r kennt kein Prinzip, das gestattet, sich von der konkreten Existenz zu befreien und sich außerhalb von ihr zu stellen. Die Befreiung besteht für ihn nicht in einer Erinnerung, in einer Aktivierung von Keimen eingeborener Vernunft, die jedenfalls von anderswo herkämen als aus dem Weltleben selbst, sondern in der Beschreibung. […] Es gibt keinen Ursprung des Lichtes, über das der Mensch verfügt und in dessen Licht er das Licht wahrnimmt, es gibt kein Licht als Bedingung des Lichts der Evidenz. Dieses Übertroffenwerden der Evidenz des cogito durch das unendliche Licht, womit die dritte Meditation Descartes’ endet, […] ist in der Philosophie Husserls abwesend.« (BE63 f.) Wenn Levinas die Idee des Unendlichen bei Descartes aufgreift, bedeutet es nicht, wie noch genauer zu sehen sein wird (vgl. unten, S. 526–540), dass er sie in dem hier abgelehnten Sinn aufgreift. Die Idee eines Denkens, welches das Sein ganz umfasst und dieses entsprechend dem Wesen des Denkens selbst als eine Totalität versteht, in der von jedem Element aus die anderen schlussfolgernd deduziert werden können – etwas, wovon Fichte ausgeht –, wird als Wunschdenken eines Strebens nach vollkommener Selbstdurchsichtigkeit beargwöhnt (UV137 f.). Dass Husserl nicht auf einen solchen universalen Standpunkt rekurriert, ist für Levinas auch darin sichtbar, wie dieser die Konstitution von Objektivität von der Intersubjektivität her verstehen möchte (TU304).

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Vernunft. Wie sich für Levinas über die genannte Skepsis hinaus aus der phänomenologischen Auslegung der ethischen Beziehung zum Anderen trifftige Gründe ergeben, einen solchen Standpunkt abzulehnen, und wie sich sein transzendentales Vorgehen daher grundlegend anders als das fichtesche gestaltet, wird nach der Darstellung dieser Auslegung noch deutlich gemacht werden. 419 Eine weitere Eigentümlichkeit der Phänomenologie ist für Levinas, dass sie alles ausgehend von der sinnlichen Erfahrung entwickelt und alles daran in seiner Rechtfertigung zurückgebunden bleibt (PT93 f.). Er sieht bei Husserl auch die kategoriale Anschauung – wenngleich dieser die Eigenart des Idealen hervorhebt – doch ganz an die sinnliche gebunden (BE55). Zwar können sich auch für Fichte die Kategorien nur entfalten im Zusammenhang mit der Sinnlichkeit, aber sie entstehen und rechtfertigen sich nicht aus einer Anschauung des sinnlich-leiblich begegnenden Anderen, sondern aus einer Selbstanschauung – und, um den vorigen Punkt hinzuzunehmen, aus einer Selbstanschauung der universalen Vernunft. Die davon unterschiedene Ausrichtung der Phänomenologie auf die Sinnlichkeit wird sich noch als wegweisend herausstellen für Levinas’ Analyse der ethischen Beziehung zum Anderen und von daher für sein Denken überhaupt. Die dargestellten Übereinstimmungen im Gedankengang sollen auch nicht verdecken, dass sich bei Fichte ein Konzept der Intentionalität in der Form wie bei Husserl nicht findet. Levinas unterscheidet einmal das husserlsche Konzept vom kantischen dadurch, dass für Kant das Denken nicht aus sich herausgehe, nicht einmal in der Empfindung (IE154). Das ist bei Fichte anders. Zumindest in Bezug auf den späten Fichte konnte herausgearbeitet werden, dass für ihn, wenn auch nicht im Denken, so doch in der Praxis und ihrer Beschränkung ein realer Kontakt zu anderem stattfindet, und somit die von dort aus gebildete Vorstellung des anderen Menschen zu Recht als Bezugnahme auf den realen Anderen verstanden werden kann, dass diese Vorstellung zwar Erscheinung, aber eben authentische Erscheinung und nicht Schein, und dass sie Erscheinung aus einem unmittelbaren Kontakt heraus ist. Der Sache nach kommt das dem gleich, was für Levinas zum von der Analyse der Empfindung her erhellten und gerechtfertigten Begriff der Intentionalität gehört. Aber das direkt ausgehend von der epoché gefasste Konzept der Intentionalität wie bei 419

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Vgl. dazu unten, S. 476–521.

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Husserl findet sich so bei Fichte nicht. Fichte ist hier näher an Levinas als an Husserl, da ja auch Levinas die noch von der Vorstellung dominierte und nicht auf etwas ihr radikal Vorgängiges reduzierte Intentionalität als eine Form der Immanenz ansieht und kritisiert.

2.1.1.3 Das Es-gibt als Bruch der transzendentalen Apperzeption und die möglichen Auswege aus ihm Die Zweifelhaftigkeit des Cogito Kehren wir zurück zur Argumentation für eine Begründung der kritischen Suche nach Wissen aus dem Bezug zum Anderen im dritten Teil von Totalität und Unendlichkeit. Geklärt ist, warum es für Levinas im Bereich des Phänomens nicht zu einem Wissen kommen kann und weshalb der vorphänomenale leibliche Realitätsbezug dies ebenfalls nicht ausreichend begründet. Um die These zu erhärten, dass die Zweifelhaftigkeit des Phänomens und die darin implizierte kritische Wahrheitssuche nur ausgehend vom ethischen Bezug auf den Anderen möglich sind, muss Levinas jedoch noch eine weitere Begründungsstrategie als unzureichend erweisen. Es handelt sich um den Weg, den Descartes in seiner dritten Meditation gewählt und der auch für Husserl eine wichtige Rolle gespielt hat. Das objektive Phänomen allein bleibt zweifelhaft; aber gelangen wir nicht in der unmittelbaren Selbstgegenwart des Vorstellens und Denkens zum Sein jenseits des Phänomens und erklärt sich nicht daher die Möglichkeit des Zweifelns? »Der Zweifel an den Gegenständen impliziert die Evidenz des Vollzugs selbst des Zweifels.« (TU130) Doch Levinas hält an der auf den ersten Blick als unausweichlich erscheinenden Evidenz des cartesischen Arguments nicht fest – anders als Husserl, der zumindest dessen Grundeinsicht teilt und seine transzendentale Phänomenologie auf ihr aufbaut. 420 Levinas gibt Folgendes als Grund an: 420 Vgl. Hua I, § 8–10. Husserls Einschränkung der Tragweite der apodiktischen Evidenz, die Beschränkung auf die rein aktuelle lebendige Selbstgegenwart, und die Kritik an Descartes Axiomatisierung und Ontologisierung des Cogito zu einer Ich-Substanz, von der aus man schlussfolgern kann, ändert nichts daran, dass das Cogito-sum für ihn grundsätzlich apodiktisch evident ist und als Geltungsboden für seine transzendentale Phänomenologie dienen kann (vgl. dazu auch § 12). Levinas hat sich in einem späten Aufsatz ausführlich mit diesen husserlschen Analysen auseinandergesetzt und wie in TU diese Apodiktizität von der Möglichkeit des unendlichen Weiterkritisierens her relativiert (BW57).

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»Tatsächlich gelangt das Subjekt, das seine Evidenzen negiert, im Cogito zur Evidenz dieses Tuns der Negation; aber diese Evidenz liegt auf einer Stufe, die von derjenigen, auf der das Subjekt negiert hat, verschieden ist.« (TU130) Es wurde schon dargestellt, wie für Levinas die Subjektivität in ihrem eigentlichen realen Kern nicht von der Vorstellung her zu verstehen ist, sondern von der ihren Bereich immer uneinholbar hintergehenden leiblichen Intentionalität. 421 Gerade hier sieht er sich über Husserl hinausgehen. Die Evidenz des Cogito als eine Evidenz der Vorstellung kann diese Ebene nicht erreichen. Ohne die Erkenntnis der eigentlichen Wirklichkeit des Subjekts kann es so den Zweifel nicht überwinden. Und es kann auch keinen performativen Widerspruch im Zweifeln feststellen, wenn die Ebene, auf der es negiert, von der verschieden ist, auf der in der Evidenz des Tuns der Negation die Negation scheinbar aufgehoben ist. Der Grund dafür, dass das Subjekt aus seinem Bereich jenseits des Vorstellungsraumes über seine Wirklichkeit in Zweifel kommt, liegt für Levinas freilich nicht nur darin, dass er durch das Vermögen objektiver Evidenz nicht erreicht werden kann, sondern auch darin, dass es sich hier immer zugleich jenseits des zunächst einmal Orientierung gebenden Selbstbezuges befindet, weil die eigentliche Identität nur konstituiert ist in einem Bezug auf Anderes und sich das Subjekt in dieser Identität auch nur aus dieser Beziehung zum Anderen heraus begreifen kann, nicht aber in der Ausrichtung auf sein Sein. Dies wird besonders daran deutlich, wie Levinas die bodenlose Unsicherheit, in die das Subjekt gerät, und zu der die Evidenz des Cogito immer außerhalb ist, als »Abgrund« des »Es gibt« benennt (TU130). Wie die Auslegung dieses Phänomens des Es-gibt im Folgenden zeigen wird, handelt es sich dabei um ebenjenen Abgrund der passiven Konstitution, der das Subjekt immer zugleich sozusagen außerhalb seiner selbst sein lässt, und aus dem es genau dann nicht herauskommt, wenn es sich nicht von dem her begreift, was diesen Abgrund eröffnet – dem Materiellen, aus dem es lebt und konstituiert ist, oder dem Anderen, der das Subjekt in seine eigentliche Identität als verantwortliches einsetzt –, sondern sich auf sein Sein ausrichtet. In der cartesischen Suche nach der Existenz des Subjekts findet sich genau diese Ausrichtung, wie dann auch in der scheinbaren Evidenz dieser Existenz in der Immanenz der Vorstellung. Auch deshalb, und nicht nur weil diese nicht auf die Ebene der eigentlichen Wirklichkeit des 421

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Vgl. oben, S. 334–344, bes. 342–344.

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Subjekts hinreicht, eröffnet sich hier kein Ausweg aus dem Zweifel. Und es geht dabei nicht nur um den Zweifel an der Wirklichkeit, sondern um den Zweifel an jeder Form von Sinn. Deshalb spricht Levinas hier vom Fehlen einer adäquaten Bejahung des Subjekts und gibt als Grund des Scheiterns des Cogito auch Folgendes an: Es »gelangt das Subjekt zur Bejahung einer Evidenz, die durchaus nicht letzte oder erste Bejahung ist, da sie ihrerseits in Zweifel gezogen werden kann« (TU130). Die eigentliche Bejahung kommt dem Subjekt nur zu in der Beziehung auf das Materielle im Genuss – da diese nur eine vorläufige und ambivalente Möglichkeit der Befreiung aus dem Zweifel darstellt, deutet Levinas sie hier lediglich in Klammern an – und letztlich nur in der Beziehung zum es ethisch infrage stellenden Anderen. Das bloße Sein hat für das Subjekt keinen Sinn, es ist ihm eine Last und in der Ausrichtung darauf findet es seine eigentliche Identität aufgelöst. Das Cogito-sum kann so keine adäquate Bejahung sein, ja von ihm aus ist das Subjekt letztlich »zu keiner Bejahung in der Lage« (TU131). Eine Möglichkeit, den Prozess des Zweifelns anzuhalten, besteht für Levinas nur darin, dass man sich in der Begegnung mit dem Anderen als verantwortliches Subjekt angesprochen findet. Wenn Descartes das Zweifeln schon auf der ersten Reflexionsstufe angehalten hat, erklärt sich das für ihn daraus, dass dieser sich implizit bereits von der Idee des Unendlichen her als ein verantwortliches Subjekt verstanden hat (TU131). Descartes thematisiert sie zwar erst in der dritten Meditation, sie steht für Levinas bei ihm aber schon im Hintergrund der ganzen Überlegung. Von der Idee des Unendlichen betroffen zu sein, ist für Levinas, was noch genauer nachzuvollziehen sein wird, abhängig von der Begegnung mit dem Anderen: »[W]er die Idee des Unendlichen besitzt, hat den Anderen bereits empfangen« (TU131). Dies ist für ihn so die eigentliche Bedingung der nur scheinbar im Cogito beginnenden kritischen Essenz des Wissens. Eine Transzendentalphilosophie, die bloß von der Einheit des Ich-denke ausgeht, stellt Levinas von daher grundsätzlich infrage. Das Es-gibt als zentrales Ausgangsproblem des levinasschen Denkens Zur Interpretation von Levinas’ Widerlegung des Cogito-sum musste auf sein Konzept des Es-gibt und der Auswege daraus zurückgegriffen werden. Dies gilt es nun im Folgenden genauer zu erklären. Dadurch eröffnet sich zudem die Möglichkeit einer Ausweitung der Perspektive über das Problem der Wissensbegründung hinaus und Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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dessen Verortung innerhalb der gesamten Denkbewegung von Levinas, da man nämlich im Phänomen des Es-gibt das zentrale Ausgangsproblem von Levinas’ Philosophieren, das auch später immer wieder im Hintergrund auftaucht, sehen kann. Nur von hierher ist letztlich ein angemessenes Verständnis seines Ansatzes möglich. Indem das Es-gibt eng mit dem Phänomen der Materialität und mit der materiellen Konstitution des Subjekts zusammenhängt, werden hier außerdem weitere Grundlagen seiner Leibtheorie sichtbar. Zudem wird nur vom Es-gibt her verstehbar sein, wie Levinas verschiedene Formen der uneigentlichen religiösen Transzendenzbeziehung beschreibt. Die Identifizierung mit dem Abgrund des weitergetriebenen cartesischen Zweifels kann einen gut nachvollziehbaren ersten Zugang zum schwer zu interpretierenden Konzept des Es-gibt eröffnen. Was möchte Levinas damit beschreiben? Ausgehend vom dargestellten Gedanken handelt es sich um einen Abgrund der Ungewissheit, der selbst noch die scheinbar so gewisse Selbsthabe im Cogito bedroht. Indem in diesem Abgrund keinerlei wirkliches Seiendes mehr greifbar ist, ist er eine Art Nichts – ohne das bare Nichts zu sein, da die Frage nach dem Sein ja lebendig bleibt. Als Abgrund des Zweifels an der eigenen Existenz ist er etwas Apersonales, mein personales Dasein Bedrohendes. Er ist eine Art Bewusstsein, aber hinter meinem Ich-Bewusstsein. Da in diesem Abgrund keinerlei positive Ausrichtung auf Seiendes oder irgendeine Bestimmtheit zu finden ist – er wird ja auch betrachtet in seiner Vorgängigkeit zur ethischen Bedeutung, die dann erst eine Befreiung aus ihm darstellt –, ist er anonym, unpersönlich und absurd, aller Werthaftigkeit und aller Bedeutung entleert. Wie im Folgenden verdeutlicht werden soll, passen diese aus dem Zweifel am Cogito erschlossenen Charakterisierungen genau zum Phänomen des Es-gibt, wie Levinas es in Vom Sein zum Seienden (1947) zum ersten Mal beschreibt als die Weise, wie sich für ihn das Sein, betrachtet man es einmal losgelöst vom Seienden, darstellt. Levinas, der an Heideggers Projekt anknüpft, fundamentalontologisch den Sinn des Seins, das jedem Seienden zukommt, das aber auf eine Weise auch als etwas Eigenes betrachtet werden kann, zu analysieren, sah dieses dadurch in seiner Fragerichtung relativiert, dass ihm das Sein nicht als etwas erschien, was sich dem Seienden sozusagen hingibt und ihm seinen Sinn eröffnet, sondern was für das Seiende vielmehr eine Belastung darstellt, aus der es zu Recht 362

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einen Ausweg sucht. 422 In der frühen Schrift Ausweg aus dem Sein (1935/36) klingt dieses Thema schon im Titel an. Zwar benennt er das Sein hier noch nicht mit dem Ausdruck ›Es-gibt‹, aber er interpretiert bereits verschiedene Phänomene, etwa die Scham oder den Ekel, als Erscheinungen eines grundlegenden Belastetseins des Seienden mit seinem Sein (AS39–53). Von Heidegger, der in Sein und Zeit ebenso den »Lastcharakter« des Daseins beschrieben hat 423, grenzt sich Levinas dabei dadurch ab, dass für ihn das Sein nicht aufgrund seiner Endlichkeit zur Last wird – wie dies in seiner Sicht bei Heidegger der Fall ist –, sondern gerade als »Sein selbst« (AS17), »in seiner Positivität« (VS21). In der Schrift Vom Sein zum Seienden – in der schon im Titel die Suche nach einem Ausweg aus dem Sein anklingt – greift Levinas die auf dieses Grundphänomen abzielende Analyse der Widrigkeiten der Existenz wieder auf. »Was […] überdrüssig werden läßt, sind nicht die besonderen Umstände unseres Lebens – unser Milieu, weil es banal und düster, unsere Umgebung, weil sie vulgär und grausam ist –, der Überdruß betrifft das Sein selbst. […] Man muß etwas tun, man muß etwas unternehmen und nach etwas streben. […] Der Überdruß ist die allerdings unmögliche Weigerung gegenüber dieser letzten Verpflichtung.« (VS26 f.) Das Problem entsteht dadurch, dass das Seiende nicht einfach ist, sondern unausweichlich in einer Beziehung zu sich steht, sich faktisch darin findet, und zwar mit der Aufgabe, sich selbst zu vollziehen (VS31 f.). Phänomene wie Anstrengung, Müdigkeit und Faulheit werden als Überdruss an diesem »muß« interpretiert (VS32 f.). Zu ihnen kommt es, weil das Subjekt – in der Sicht von Levinas – als ein einzelnes Seiendes überhaupt konstituiert ist in einer Beziehung zum Sein, das es auf sich nehmen muss (VS39). Dieses Sein versteht er als materielles oder als Materialität (VS68 f. u. 72). Das Seiende geht »aus einer materiellen Dichte hervor« (VS84), es setzt sich leiblich (VS87 f.), und zwar – das deutet sich in diesen frühen Schriften bereits an – ursprünglich als ein Sichnähren am materiellen Sein, als Genuss des Materiellen. 424 Im GeDass Levinas’ eigenes Denken in dieser Weise aus der Auseinandersetzung mit Heidegger entwachsen ist, stellt Levinas selbst etwa in U109 f. dar (vgl. dazu auch EU34 f.). In der Einleitung zu VS macht er deutlich, dass er an Heideggers fundamentalontologische Fragestellung und sein Konzept der Beziehung des Seienden zum Sein anknüpft und es für ihn kein Zurück vor Heidegger gibt, wenngleich er beabsichtigt »das Klima dieser Philosophie zu verlassen« (VS20). Vgl. dazu auch oben, S. 329 f. 423 Vgl. GA 2, 134 (§ 29). 424 Auf diese Weise verstehe ich es, wenn Levinas in Die Zeit und der Andere die 422

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nuss ist das Subjekt noch bloß auf den Genuss selbst und die konkreten Objekte seiner Befriedigung bezogen und nicht auf das Sein (VS44 u. 50–52). Die Sorge um das Sein, die Arbeit und das aktive Übernehmenmüssen des Seins sind erst sekundär zum Genuss. Es kommt dazu erst »in Zeiten der Armut und der Entbehrungen«, wenn »man essen, trinken und sich wärmen muß, um nicht zu sterben, wenn die Nahrung Brennstoff wird, wie bei manchen schweren Arbeiten« (VS53). 425 Die Problematik des Seins liegt für Levinas jedoch nicht nur in dieser Last – allein dieser Aspekt reicht nicht, um das zu verstehen, was er mit dem Es-gibt meint –, sondern auch in der Anonymität des Seins, aus der sich das Seiende erhebt und in der es sich wieder aufzulösen droht. Und zwar kommt für ihn diese Auflösung dem Bedürfnis nach einem Ausweg aus der Belastung mit dem eigenen Sein nicht entgegen, sondern stellt letztlich nur eine weitere Widrigkeit dar. Dem Phänomen des anonymen Seins nähert er sich über die Beschreibung dessen an, wie die moderne Kunst die Materialität in ihrer völligen Gestaltlosigkeit, Nacktheit, Absurdität und Hässlichkeit zum Vorschein bringt (VS62–69). Dass dieses materielle Sein als eines erfahren werden kann, was das einzelne, über eine Bezogenheit des Subjekts auf sich, die Sorge um sich oder die Notwendigkeit, sein Sein zu übernehmen, in der ursprünglichen Form als den Umstand benennt, »daß es sich selbst zur Nahrung vorgeworfen wird« (ZA40). In diesem Sichnähren am eigenen Sein sieht Levinas dann neben der Möglichkeit der Entfremdung durch das Esgibt ebenso die Möglichkeit gegeben, im Genuss dieser Entfremdung zu entkommen (ZA40 u. v. a. 35–37). Von daher, dass sich das Subjekt im materiellen Genuss vom Sein unabhängig macht, aber sich aufgrund dieser vom Materiellen abhängigen Konstitution dann auch um sein Sein sorgen muss und so mit dem Sein belastet ist, erklärt sich, dass Levinas diese Notwendigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, »die Materialität des Subjekts« (ZA30) nennt. Die spätere Theorie der Konstitution des Subjekts im Genuss findet sich freilich hier nur andeutungshaft. Auch in VS lassen sich nur Elemente ausmachen, die in die Richtung der späteren Theorie verweisen. So argumentiert Levinas hier etwa für die Vorgängigkeit des Geschehens der Bedürfnisbefriedigung – rein um des Objekts des Bedürfnisses, um der Befriedigung selbst und nicht um des Seins willen – im Verhältnis zur Sorge um das Sein (vgl. v. a. VS50–53; er spricht hier zwar von desir, meint aber der Sache nach das, was er später als besoin benennt). Zumindest in die Richtung der leiblichen Konstitution weist, dass Levinas hier die Hypostase, die Konstitution des Seienden gegenüber dem Sein, zwar zunächst vom Bewusstsein her deutet, dessen Subjektsein aber aus einer leiblichen Verortung, einem Getragensein durch die Materialität, versteht (VS83–88). Diese Beziehung zum Materiellen wird dabei auffälligerweise jedoch nicht als Nahrung oder Bedürfnisbefriedigung gedeutet, wenngleich diese Phänomene vorher eingehend analysiert wurden. 425 Vgl. dazu auch unten, S. 613–615.

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Teilhabebeziehung mit ihm verbundene Seiende in sich auflösen und depersonalisieren kann, beschreibt er dann anhand naturreligiöser Erscheinungen (VS72–74). Da beide Analysen später noch im Kapitel über die uneigentlichen Bezugnahmen zur Transzendenz betrachtet werden, sei darauf hier nur hingewiesen. 426 Was sich für ihn in diesen verschiedenen Phänomenen zeigt, ist das Sein selbst, betrachtet man es einmal unabhängig von dem Seienden. Entsprechend benennt er es als Es-gibt und erklärt, was er damit meint, auf folgende Weise: »Stellen wir uns vor, es kehrten alle Seienden ins Nichts zurück« (VS69), und zwar nicht nur die Dinge, sondern auch ich selbst als Person. Es kommt für Levinas dann nicht zu einem absoluten Nichts, sondern dieses Nichts an Seienden ist noch der völlig unbestimmte, weder auf eine bestimmte Seinsgestalt noch überhaupt auf Seiendes positiv bezogene und somit anonyme Hintergrund des Seins selbst. Er lässt sich durch keine Negation negieren, er entzieht sich unserer Verfügung. Umgekehrt beherrscht uns das anonyme Sein durch unsere Partizipation an ihm. In dieser Dominanz und Anonymität gegenüber dem Subjekt bekommt das Sein für Levinas den Charakter des Entsetzlichen. »Das Entsetzen ist gewissermaßen eine Bewegung, in der das Bewusstsein seiner ›Subjektivität‹ selbst beraubt wird.« (VS72) Es ist nicht die heideggersche Angst davor, nicht mehr zu sein, sondern die »Furcht, preisgegeben, ausgeliefert zu sein an etwas, das kein ›Etwas‹ ist« (VS75). Die zuletzt beschriebene Zugangsweise zum Es-gibt 427 entspricht im Verschwindenlassen alles Seienden sehr genau der Situation des Zweifelns in der Auseinandersetzung mit dem cartesischen Argument, sodass über die Übereinstimmung in der Charakterisierung des erhaltenen Phänomens hinaus verständlich wird, wie Levinas dort den Zusammenhang mit dem Es-gibt herstellen kann. Gegen eine Identifikation scheint zu sprechen, dass der cartesische Gedanke nach dem Sein des Seienden sucht, während es auf der anderen Seite um das Phänomen des Seins unabhängig davon geht. Aber für Levinas führt auch die Ausrichtung des Seienden auf sein eigenes Sein zur Erfahrung eines passiven Ausgeliefertseins an ein die eigene Subjektivität übersteigendes Sein, das diese letztlich nicht bestätigt, sondern auflöst. Seiendes und Sein sind für Levinas unmittelbar verbunden. 426 Vgl. unten, S. 595 f. zur Materialität in der Kunst u. S. 585–590 zu den naturreligiösen Phänomenen. 427 Vgl. dazu auch ZA22 f. u. EU35.

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Und nur wenn das Subjekt sich nicht auf sein Sein ausrichtet, sondern, wie im Folgenden noch zu beschreiben ist, auf den Genuss, ja letztlich nur wenn es sich auf den Anderen ausrichtet, entkommt es dem Sein und findet seine eigentliche Identität sowie seine eigentliche Wirklichkeit, die es in der Suche nach dem Sein immer verfehlen muss und so im Zweifel gefangen bleibt. Auf welche Weise sich die anscheinende Paradoxie darin auflösen lässt, wird noch behandelt werden. 428 Wie die Beschreibung des Versuchs der Befreiung aus dem Es-gibt durch den Genuss im nächsten Abschnitt zeigen wird, führt für Levinas die im Selbstbezug des Genießens und des Bewusstseins angelegte Ausrichtung auf das eigene Sein unmittelbar zum Sein überhaupt und es ist dieser Umstand, der den ersten Befreiungsversuch scheitern lässt. Als Weiteres scheint gegen die Identifikation zu sprechen, dass die Erweiterung des cartesischen Zweifels bei einem Nichts anlangt, das Phänomen des Es-gibt aber das Sein meint. Diese Unterscheidung ist jedoch nicht zutreffend, denn das Nichts dort ist nicht das bare Nichts, sondern der Abgrund des Sich-nicht-Findens des Subjekts, und das Sein als Es-gibt ist für Levinas genau dieser nichtige Abgrund. Levinas hält an der Beschreibung des Phänomens des Es-gibt in allen Wandlungen seines Denkens fest, wie die verschiedenen späteren Bezugnahmen zeigen. 429 Häufig spricht er es mit dem Ausdruck ›Schlaflosigkeit‹ an, manchmal wird es nur unter dieser Bezeichnung thematisiert (GP87). Sie erklärt sich aus einer phänomenologischen Annäherung über einen bestimmten Bewusstseinszustand in Momenten der Schlaflosigkeit, die für Levinas offenbar besondere Bedeutung besitzt. Es fällt auf, dass er sich hierfür auf Kindheitserinnerungen beruft (EU34 u. VS12) wie auf eine Art persönliche Vgl. unten, S. 510–519. Vgl. etwa TU203 u. 410; JS354–356; GP108 (unter der Bezeichnung ›Schlaflosigkeit‹ auch in GP87–89) sowie EU34–36. Im Vorwort zur 2. Auflage von VS von 1978 hebt Levinas diese Kontinuität im Konzept des Es-gibt ausdrücklich hervor (VS12 f.; anders als Wolfgang Krewani [2006, 19611 ] kann ich hier keinen Bedeutungswandel feststellen). Und nicht nur das Phänomen, sondern auch die Frage nach der Überwindung des Es-gibt bleibt weiter bestehen. Es lässt sich nirgends ersehen, dass Levinas sie später als etwas Selbstbezogenes angesehen hätte, und das wäre auch nicht plausibel, da dieser Drang zur Überwindung für ihn dem ethischen Begehren entspringt. Auch die später deutlichere Integration des Es-gibt als sinnvolles Moment in die Beziehung zum Anderen (vgl. unten, S. 384–387) bedeutet nicht eine Verabschiedung der Frage nach seiner Überwindung, da es als Moment nur integriert sein kann, wenn es zugleich überwunden ist. 428 429

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Urerfahrung, die sein Seinsverständnis geprägt hat. Es ist die Erfahrung des Kindes, das schlafen soll, aber davon wachgehalten wird, dass die Erwachsenen das Leben fortsetzen, das nicht in den Schlaf finden kann und die Stille als lärmend empfindet (EU34). Die Unausweichlichkeit des Seins wird hier erfahrbar in der Unausweichlichkeit des Wachens, der Unmöglichkeit, es in den Schlaf hinein zu verlassen (VS80). 430 Da »jeder Grund zu wachen fehlt« (VS79), wird es als sinnlos empfunden. Und man erfährt sich nicht mehr als Subjekt des Wachens. »Es wacht. […] Ich bin, wenn man so will, eher das Objekt als das Subjekt eines anonymen Denkens.« (VS80 f.) In dieser Ohnmacht entschwindet sich das Subjekt sogar selbst, ist entpersonalisiert; es ist in einen Zustand des Wachens jenseits des Bewusstseins versetzt. So erfährt es auch nicht mehr die Zeit des Bewusstseins, erfährt ebenso die Bewusstseinsgegenstände nicht mehr als seine, ja gar nicht als Gegenstände, und erfährt entsprechend nicht einmal den Zustand der Schlaflosigkeit. Diese »entzieht sich folglich der deskriptiven Phänomenologie« (VS81), indem diese ja Phänomene, Gegenstände von Subjekten, beschreibt. Es ist für Levinas nicht so, dass er das Sein in seiner Unausweichlichkeit durch die Verbindung mit diesem Wachen sozusagen »mit einem Bewusstsein ausstatten würde« (ZA25). Das, was er mit dem Wachen meint, ist für ihn gerade nicht vom Bewusstsein her zu verstehen, sondern umgekehrt, das Bewusstsein vom Wachen, aus dem es hervorgeht. Das Bewusstsein ist eine »Modalität oder Modifikation der Schlaflosigkeit« (GP87), und zwar als Möglichkeit, »sich von der Wachsamkeit loszureißen« (ZA26). Die Gestalt des Bewusstseins eröffnet für ihn, wie dies nun im folgenden Abschnitt betrachtet wird, bereits eine, wenn auch nur vorläufige Möglichkeit der Befreiung aus dem Es-gibt. Die vorläufige Befreiung aus dem Es-gibt durch den Genuss Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie sich für Levinas das, aus dem sich sowohl das Belastetsein mit dem Sein als auch die Bedrohung durch das anonyme Sein ergibt, die materielle Konstitution des Subjekts, ursprünglich als eine Unabhängigkeit vom Sein ereignet. Der materielle Genuss ist nämlich nicht auf das eigene Sein, sondern auf das zu genießende Andere bezogen und dies nicht, um sich im Sein zu erhalten, sondern um des Genusses willen. Insofern liegt 430

Vgl. dazu u. zum Folgenden auch ZA23 f., EU34–36 u. GP87–89.

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in der Bedürfnisbefriedigung für Levinas auch eine »Möglichkeit, sich dem anonymen Sein zu entreißen« (VS53). Genuss bedeutet eine »Ekstatische Existenz – außerhalb seiner sein« (ZA36), er ist ein »Vergessen seiner selbst« (ZA37). Es ist freilich nicht bloß der unmittelbare Genuss des Materiellen, der einen Ausbruch aus dem Sein ermöglicht, sondern insgesamt das, was für Levinas zur selbstbezogenen, genießenden Existenz gehört und was er in der frühen Zeit das Verhältnis zur Welt nennt. Dazu gehören neben dem Genuss auch das Bewusstsein und das praktische Beherrschen der Dinge. Die Grundstruktur dieser Vollzüge, durch die sie einen Ausweg eröffnen, besteht darin, dass in ihnen zum einen das Subjekt als ein mit sich identisches und als ein von sich ausgehendes, auf sich bezogenes, unabhängiges und freies auftaucht, als ein Seiendes im Gegenüber zum Sein oder als Subjekt des Seins. 431 Zum anderen bezieht es sich in ihnen auf die Anderheit der Materie in der Form von Dingen, in denen es das Sein aneignen, besitzen, beherrschen und so auf Abstand zu sich halten kann, sei es im Genuß, im praktischen Zugriff oder im Bewusstsein, mit seiner Fähigkeit die Dinge zu übernehmen. 432 Die Weise, wie Levinas in Vom Sein zum Seienden und Die Zeit und der Andere diese drei Momente ins Verhältnis zueinander setzt, ist noch verschieden zum späteren Konzept in Totalität und Unendlichkeit, wo dem Genuss eine viel grundlegendere Bedeutung zukommt. 433 Aber auch in der späteren Zeit macht Levinas diese erste, vorläufige Befreiung aus dem Sein noch an denselben Punkten fest: die Konstitution eines Seienden gegenüber dem Sein im Genuss, das im Selbstbezug mit sich eins und identisch ist, das unabhängig ist und von sich her auf das Sein handelnd zugreifen kann 434, das das Sein in den Dingen beherrschen kann, praktisch wie auch im Bewusstsein, durch des-

431 Vgl. v. a. VS59 f., 72 u. 101 f. sowie ZA26–29. Diesen Übergang vom rein verbal zu verstehenden Sein des Es-gibt zu einem substantivischen Seienden nennt Levinas zu dieser Zeit Hypostase. 432 Vgl. VS43–46, 49, 54–61 sowie ZA36 f. u. 40 f. 433 So versteht Levinas in VS und ZA etwa die Bedürfnisbefriedigung als etwas, das mit Bewusstsein geschieht und sich auf die geformte Materie, auf die Dinge, richtet (VS43–49), ja was durch das Bewusstsein bedingt ist (ZA36 f.). Nach der Analyse von TU bezieht sich der Genuss auf die Materie vor jeder Form, zwar ist er von einer gewissen Helle begleitet, zwar ist er Fühlen, aber vorgängig zum Bewusstsein, das objektiviert und seine Objekte übernimmt. Zur noch unentwickelten Gestalt der Analyse des Genusses in der frühen Zeit vgl. oben, Anm. 424. 434 Vgl. TU204, wo Levinas dies an der Konstitution im Genuss festmacht.

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sen Fähigkeit, das Sein zu übernehmen, 435 Das Phänomen der Befreiung aus dem Es-gibt in diesen leiblichen Vollzügen oder dem – zumindest leiblich bedingten – Vollzug des Bewusstseins ist dabei eine wichtige Grundlage dafür, eine Theorie der leiblichen Konstitution des Subjekts in seiner Selbstbezogenheit zu vertreten, wie sie hier von Totalität und Unendlichkeit aus später dargestellt werden wird. Dass wir im Genuss durch das Finden einer Identität – zumindest mit einem bestimmten Ausmaß an Sinnfüllung sowie Evidenz – dem Esgibt entkommen können, weist darauf, dass unsere Identität hier auch ursprünglich leiblich konstituiert ist. Die Orientierung am Genuss – das lässt sich zumindest von Totalität und Unendlichkeit her sagen – ist eine Rückbesinnung auf das ursprüngliche Sichereignen des Subjekts, in dem es auch eine Erfüllung findet. Zwar liegt seine eigentliche Bestimmung in der ethischen Ausrichtung auf den Anderen, diese erfordert aber für Levinas, wie sich zeigen wird 436, gerade um Beziehung wirklich Selbständiger oder Getrennter sein zu können, dass das Subjekt nicht aus der Beziehung zum Anderen, sondern unabhängig davon konstituiert ist und schon im bloßen Beisichsein eine Identität und einen Sinn findet. Insofern kann nun schon vom Genuss her verständlich gemacht werden, wie es zum Problem des Es-gibt überhaupt kommt, auch wenn im Grunde – der folgende Abschnitt wird dies thematisieren – erst von der ethischen Existenz her, die letztlich den Ausweg aus dem Esgibt eröffnet, seine Bedeutung und seine Problematik zu bestimmen sind. Indem es dem Subjekt ursprünglich nicht um das Sein, sondern um den Genuss geht, ja das Sein nur insofern Bedeutung für es hat, als es Genuss beschert, muss die bloße Existenz etwas sein, was als Last empfunden wird. Die Perspektive auf diese bloße Existenz taucht, wie bereits beschrieben, auf, wenn das Subjekt unbefriedigt bleibt und mit der Bedrohtheit des Genusses konfrontiert wird. Dies bedeutet nämlich zugleich eine Bedrohung der Existenz selbst, um die sich das Subjekt dann zu sorgen und für deren Sicherung es zu arbeiten beginnt. Als Voraussetzung des Genusses wird sie in ihm in gewisser Weise implizit schon angestrebt, wobei die Orientierung am 435 Vgl. EU38; die Macht des Bewusstseins, durch die Objektivierung der Dinge das Nichts des Es-gibt zu vergessen, findet sich in TU273 angesprochen; zur Überwindung des Es-gibt und der mythischen Götter des Es-gibt durch die Arbeit, die die Materie als Dinge begreift, die ihre Anderheit aufhebt und sich gegen die Entzogenheit des Materiellen sichert, vgl. TU202 f., 229 f. u. 282. 436 Vgl. unten, S. 675–681.

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Genuss als dem eigentlich Erfüllenden dann mitunter verloren gehen und der Ausrichtung bloß auf die Existenzerhaltung und die dafür nötige Arbeit Platz machen kann. Auf diese Weise findet sich das Subjekt in der Situation, sich um sein Sein kümmern zu müssen und so an es wie an eine Last gebunden zu sein. In Vom Sein zum Seienden beschreibt Levinas dieses Muss auch als »Verantwortung« zu sein (VS76, 97 f. u. 108; vgl. auch ZA30 f.). Die Bindung an das Sein in dieser ethischen Form ergibt sich für Levinas freilich erst ausgehend von der Beziehung zum Anderen, die mein Sein als »Sein für den Anderen« notwendig macht (JS130). Daneben kann von ihr her auch erst verständlich gemacht werden, wie die bloße Ausrichtung auf das Sein und die Erfahrung einer völligen Sinnentleerung möglich sind, denn erst die Infragestellung durch den Anderen ermöglicht eine Lösung des Subjekts von dem für es unausweichlichen Streben nach Genuss und der darin, bei aller Frustration, zumindest hintergründig immer enthaltenen Sinnfindung. Zwar gibt diese Infragestellung einen neuen Sinn. Da das Subjekt aber unabhängig von ihr im Genuss konstituiert ist, hat es die Freiheit, sich auch von diesem neuen Sinn zu distanzieren und sich so in die reine Sinnleere zurückzuziehen, in der das Es-gibt besteht. Vom Genuss her lässt sich zudem verständlich machen, wieso das Seiende überhaupt konstituiert ist gegenüber einem anonymen Sein, in dem es zu versinken droht. Wie noch ausgeführt werden wird 437, fordert für Levinas die Beziehung zum Anderen eine Konstitution des Subjekts im Genuss in einer Weise, dass es in seinem Sein ganz abhängig ist von einem ihm unverfügbar zukommenden Anderen, von dem es lebt, das ihm aber, gerade damit es davon leben und es einverleiben kann, nicht als ein einzelnes zu achtendes Anderes begegnet, sondern als bloßes Material, als Nichtseiendes, und insofern Anonymes, Unpersönliches und Übergreifendes, das das Seiende zu verschlucken droht. Taucht es in der beschriebenen Situation des Mangels und der Lösung vom Genuss auf, erscheint es als hässlich, absurd und nutzlos. In der Vorgängigkeit zum Verstehen ist es gestaltlos und nackt. Aufgrund der materiellen Konstitution findet sich das Subjekt ursprünglich in diesem beschriebenen Gegenüber von Seiendem und Sein. Wie sich zeigen wird 438, kommt es für Levinas 437 Vgl. unten, S. 675–689. Zur Gestalt des Materiellen, wie sie sich in Entsprechung zur Genussintentionalität ergibt vgl. auch S. 622–626. 438 Vgl. unten, S. 510–513.

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zu einer Perspektive auf ein übergreifendes Sein außerdem durch das Denken in seiner universalen und neutralen Ausrichtung. Dieser Grund – und damit die aus ihm hervorgehende Bedrohung durch das Es-gibt – ist freilich in seiner Abhängigkeit vom Denken nur sekundär. Auch ist das sich daraus ergebende Sein für Levinas ein bloß vom Subjekt konstituiertes, dem nicht wie dem Materiellen eine Eigenwirklichkeit zukommt. Die materielle Konstitution erklärt nicht nur, weshalb das Sein als Last empfunden werden kann, sondern auch, weshalb der Genuss unlösbar vom Sein bedroht ist und nur einen vorläufigen Ausweg bietet. Diese Vorläufigkeit hebt Levinas bis in die späteste Zeit hervor (TU273 u. EU38 f.). Sie ergibt sich aus der bleibenden Abhängigkeit der Konstitution des genießenden und darin erfüllten Subjekts sowie daraus, dass sowohl der Genuss in seiner Immanenz und seiner Bindung an das eigene Sein als auch diese Abhängigkeit vom materiellen Sein etwas sind, was letztlich seinen Sinn nicht für den Genuss, sondern für die Beziehung zum Anderen besitzt, und sie deshalb nicht, wie sich dies für die Beziehung zum Anderen als möglich erweisen wird, positiv integriert werden können in den Genuss. Diese Zusammenhänge treten erst von den späteren Schriften her in ihrer Deutlichkeit hervor, aber schon in den frühen beschreibt Levinas ausführlich die Vorläufigkeit des ersten Ausweges: Die Selbstbezogenheit, wie sie in der leiblichen Konstitution angelegt ist und dann besonders als Selbstbezug des Bewusstseins auftaucht, führt dazu, dass sich das Subjekt bei aller Distanz vom Sein doch an sein Sein unausweichlich gebunden, als gefesselt an sich, erlebt (VS103 f., 107–109 u. ZA29). Diese Fesselung bezeichnet Levinas als Einsamkeit. Gemeint ist damit nicht die Einsamkeit, die aus einem Mangel an Beziehung zum Anderen besteht, sondern die Einsamkeit, die an der Einzelheit des Seienden und seiner Bindung an sich selbst liegt (ZA29). Auf sie wirft das Bewusstsein auch dadurch zurück, dass die Dinge, in denen sich das Subjekt auf anderes ausrichten und von sich lösen konnte, für das Subjekt, indem es fähig ist, alles zu übernehmen, ihre Transzendenz verlieren und es so in der Immanenz der Beziehung auf sein Sein belassen (ZA37 f. u. 41). Problematisch ist diese Bindung, weil in ihr die Selbsttranszendenz, in der das Subjekt seine eigentliche Identität hat, nicht erreicht wird und weil es sich zugleich im Sein mit etwas konfrontiert sieht, das seine getrennte Identität auflöst, sodass es auch insofern nicht in der spezifischen Transzendenz der Beziehung von Getrennten lebt. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Der philosophische Ausgangspunkt: die Beziehung zum Anderen

Die Materialität legt Levinas freilich schon in den frühen Schriften nicht nur aus in die Richtung des selbstbezogenen Subjekts, seiner Bedrohtheit durch das Es-gibt und den ersten vorläufigen Ausfluchtsversuch, sondern sieht in ihr bereits eine Vermittlung der Beziehung zum Anderen und damit zur eigentlichen Befreiung gegeben. Aufgrund der leiblichen Abhängigkeit findet sich das Subjekt in der Materialität, und zwar konkret im Leiden, durch welches es zunächst auf die Bindung an sich gestoßen wird, zugleich auf den Tod verwiesen. Der Tod ist »eine Erfahrung der Passivität des Subjektes« (ZA43). »Dieses Nahen des Todes zeigt an, daß wir in Beziehung sind mit etwas absolut anderem, mit etwas, das die Anderheit nicht wie eine vorläufige Bestimmung trägt, die wir uns durch das Genießen gleichmachen könnten, sondern mit etwas, dessen Existenz als solche aus Anderheit gebildet ist. Meine Einsamkeit wird dergestalt durch den Tod nicht bestätigt, sondern durch den Tod zerbrochen.« (ZA47) Im Verhältnis zum Tod deutet sich bereits die eigentliche Befreiung an. Jedoch durch die Sterblichkeit allein, indem sie das Subjekt mit der völligen Auslöschung bedroht, wird das Es-gibt nicht überwunden. Dazu müsste das Subjekt in der Selbsttranszendierung zugleich bestätigt werden in seiner Subjektivität (ZA49). Dies ist für Levinas nur möglich in der Selbsttranszendierung durch den Anderen (ZA50). Die leibliche Passivität, wie sie in ihrer Radikalität als Sterblichkeit auftritt, ist für ihn freilich die Bedingung dafür, dass das Subjekt in seiner Selbstbezogenheit zugleich offen ist für ein Verhältnis zum Anderen. Es braucht die Leiblichkeit; nur »getrennt von der Materialität, der andere Dimension[en] der Befreiung verheißen sind, überwindet das Erkennen die Einsamkeit nicht« (ZA38). Es »stellt sich einzig ein Wesen, das durch das Leiden zum Zusammenkrampfen seiner Einsamkeit und in das Verhältnis zum Tod gelangt ist, auf ein Gelände, auf dem das Verhältnis zum anderen möglich wird« (ZA48). Dieses Bedingungsverhältnis wird für die Fragestellung dieser Arbeit noch eingehend zu betrachten sein. Die Befreiung durch den Anderen in Eros, Fruchtbarkeit und Verantwortung Die Analyse des Leidens kann Levinas dann auch noch auf andere Weise weiterführen und von ihr aus die Befreiung durch den Anderen selbst beschreiben, und zwar konkret im Phänomen der Berührung eines tröstenden Menschen, die das Eingeschlossensein in das 372

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leidhafte Sein sprengt: »[D]er Schmerz ist nun nicht mehr zu sich selbst verurteilt; von der Bewegung der Liebkosung ›woandershin‹ fortgerissen, befreit er sich aus dem Zwang des ›Sich-selbst‹, findet ›frische Luft‹« (VS112). Wie die Analyse des Todes gezeigt hat, bedarf es für Levinas, um das Es-gibt, die Fesselung an das eigene Sein sowie die Konfrontation mit einem mich aufsaugenden anonymen Sein, zu überwinden, einer Beziehung zu etwas, das über mein Erkennen und Vermögen, ja über mein Sein hinausgeht – zu einem Anderen –, in dem ich mich aber nicht verliere, sei es durch eine Verschmelzung, sei es durch die drohende Auslöschung, sondern das mich als Subjekt bestätigt. Dies findet Levinas in der Beziehung zum anderen Menschen gegeben, der sich in der Exteriorität hält wie der Tod, aber dadurch, dass er in einem »persönliche[n] Verhältnis« steht, dem Subjekt »die Persönlichkeit bewahrt« (ZA53). Ein Charakteristikum der frühen Zeit ist, dass Levinas die Beziehung zum exterioren Anderen vor allem an der erotischen Beziehung zwischen Mann und Frau und an der Beziehung des Vaters zum Sohn beschreibt. 439 Besonders die Gegensätzlichkeit in der Beziehung des Mannes zur Frau, die er nicht als bloß qualitative Unterschiedenheit versteht (EU49), sondern als ein an der qualitativen Differenz auftauchendes Phänomen der Unterschiedenheit, als »Qualität des Unterschieds« (ZA13) selbst, als Unmöglichkeit des Mannes, von sich als Mann aus die Perspektive der Frau einzunehmen, erscheint ihm dazu geeignet, die Anderheit des Anderen zur Geltung zu bringen (ZA56). Diesen Bruch des Vermögens durch die Exteriorität kann Levinas daneben auch gut an der erotischen Beziehung, konkret in der Liebkosung, beschreiben (ZA59–61). Die Liebkosung zielt nicht auf eine bestimmte Empfindung, sondern sucht den Anderen. Ohne ihn erkennen zu können, ohne ihn erkennen zu wollen, ist sie auf eine Weise in Kontakt mit ihm, dass er sich immer entzieht. Sie sucht und sucht immer weiter, ohne jemals ergreifen oder besitzen zu können und ohne dass es ihr darum überhaupt gehen würde. Sie kann sich am Anderen auch nicht befriedigen in der einfachen Befriedigung wie etwa beim Essen, denn der Andere lässt sich nicht einverleiben, er bleibt transzendent, sodass der Hunger nach ihm in der Annäherung wächst, anstatt sich zu erfüllen. Dass dabei die Liebkosung nicht ein einfaches Misslingen des Erkennens, Ergreifens und Genießens darstellt, zeigt, wie sie eine ganz eigene Beziehung ist. In dieser Trans439

Vgl. dazu schon VS118 f. u. dann v. a. ZA48 u. 56–65.

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zendierung zum Anderen im Eros ist das Subjekt immer außerhalb seiner, ohne aber mit diesem Außerhalb zu verschmelzen oder sich darin aufzulösen. Diese radikale Transzendierung beschreibt Levinas dann auch anhand der elterlichen Beziehung, und zwar entsprechend seiner eigenen Perspektive anhand der Beziehung vom Vater zum Sohn (ZA61 f.). Neben der personalen Differenz hebt er hierbei besonders auf eine Identität ab: Die »Vaterschaft ist das Verhältnis zu einem Fremden, der, obwohl er der andere ist, Ich ist« (ZA62). Er möchte dadurch offenbar verdeutlichen, weshalb das Subjekt in der Beziehung zugleich erhalten bleibt. Hierbei wird freilich weder klar, auf welches Phänomen sich die Behauptung der Identität stützt noch, wie diese Erhaltung genauer zu denken ist. Es finden sich hier m. E. Intuitionen in einem noch undeutlichen und vermischten Zustand, die erst später, in Totalität und Unendlichkeit, in einer scharfen Weise beschrieben werden. Bevor dies näher betrachtet werden kann, muss jedoch zunächst eine weitere Veränderung thematisiert werden. Auch die Bestimmung dessen, was die Beziehung zum Anderen im Kern ausmacht und was die Befreiung aus dem Sein ermöglicht, hat sich in Totalität und Unendlichkeit weiterentwickelt. Der Unterschied liegt nicht darin, wie die Transzendierung beschrieben wird. Schon in den frühen Schriften versteht Levinas sie als Beziehung zu einer radikalen »Exteriorität« (VS118), einer »totalen Anderheit« (ZA54), die unerkennbar ist, an der jedes Können des Subjekts versagt, zu einer Anderheit, die nicht qualitative Andersheit ist und die nicht über ein Drittes vermittelt werden kann, sondern ein reines »Von-Angesicht-zu-Angesicht« (VS117 u. ZA64) darstellt; er versteht sie als Beziehung von Getrennten, weder als Ekstase, in der das Ich sich verliert, noch als Verschmelzung; und er versteht sie als eine asymmetrische. 440 Levinas bestimmt später aber genauer, was eigentlich die Beziehung zum Anderen unterscheidet von der Beziehung zu irgendetwas Exteriorem, was sie zu einer persönlichen macht. Und zwar liegt dies für ihn, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden wird, an der ethischen Infragestellung. In ihr sieht er die spezifische Weise gegeben, wie der Andere in seiner Exteriorität das Ich betrifft. Und von daher macht er auch die Befreiung aus dem Es-gibt an der das Ich in eine ethische Haltung versetzenden Begegnung mit dem Gesicht des Anderen fest (TU381 f.), an dem, was er die Rede 440

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Vgl. zu diesen verschiedenen Punkten v. a. VS116–119 u. ZA47–55.

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nennt (TU273). Zwar findet sich eine Beschreibung der ethischen Dimension schon in den frühen Schriften, und zwar ebenso als eine Bewegung zum Guten, die einen Ausweg aus dem Sein eröffnet (VS9) 441, nicht nur als eine Form, in der die Verantwortung als Belastung des Subjekts mit sich erlebt wird. 442 Noch nicht herausgearbeitet ist jedoch, dass in diesem Ethischen das Moment liegt, welches jede Form der Beziehung zum Anderen zu einer solchen macht – etwa auch die erotische. Vor diesem Hintergrund wird der Eros in Totalität und Unendlichkeit von Levinas dann auch als ambivalent in seiner Transzendierung bestimmt: Zwar liegt ihm immer die ethische Relation zugrunde – nur so ist er eine Beziehung nicht der Einverleibung, sondern der Transzendenz –, er ist aber zugleich auch eine Beziehung des Genusses, in der die ethische Dimension zurückgenommen wird, und ist so in seiner Transzendierung ambivalent. 443 Für den Kern der Beziehung zum Anderen spricht Levinas deshalb später auch dezidiert von einer »nicht erotischen Nähe« (JS273). Trotz dieser Ambivalenz in der Transzendierung kommt dem Eros für Levinas in Totalität und Unendlichkeit jedoch eine wichtige Bedeutung in der Überwindung des Es-gibt zu, denn in anderer Hinsicht geht für ihn die Transzendierung in ihm über die in der Verantwortungsbeziehung hinaus. Es gehe »die Transzendenz kraft der Liebe zugleich weiter und weniger weit« (TU370) als die der Ethik und könne dadurch eine in ihr noch bestehende Problematik auflösen. Um welches Problem geht es? Auch wenn das Subjekt in der ethischen 441 Auch in ZA55 wird die Beziehung zum Anderen als ethische, und zwar schon in der Form einer asymmetrischen Ethik, beschrieben. Von daher scheint es mir zu weit zu gehen, wie Wolfgang Krewani für TU von einer »Revision des erotischen Ansatzes« zur Zeit von VS und ZA spricht (2006, 192). Er beruft sich u. a. auf Levinas Beschreibung EU38 f., wie er zunächst im Genuss und dann in der Verantwortung für den Anderen die Möglichkeit der Befreiung aus dem Es-gibt gesehen hat (195). Wenn Levinas selbst jedoch schon im Vorwort von VS schreibt, dass es für ihn die Beziehung zum Anderen als Bewegung zum Guten ist, die einen Ausweg aus dem Sein eröffnet (VS9), ist diese Entwicklung m. E. nicht zwischen den frühen Schriften um VS und ZA und den späteren um TU anzusiedeln. 442 Man wird dies als eine auf die autonome Setzung des Subjekts reduzierte und so in der Transzendierung mangelhafte Verantwortlichkeit interpretieren müssen. Vgl. VS97 f. u. 108 sowie ZA30 f. Für diese Interpretation spricht, dass hier die Verantwortung von der »Freiheit« und von der »Gegenwart«, also vom Selbstbewusstsein, her verstanden wird. Zur Möglichkeit dieser Form von Verantwortlichkeit vgl. unten, S. 471–473. 443 Vgl. TU370–372, 381–390 u. 397. Zur Beschreibung des Eros in TU vgl. auch unten, S. 696–699.

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Beziehung zum Anderen gelöst ist von der Sorge um sein Sein, wenn es eine Identität und einen Sinn findet unabhängig von der Frage, ob es weiter existiert oder durch den Tod ausgelöscht wird (TU346 u. 364), so bleibt es doch insofern an sein Sein gebunden, als dieses die Bedingung für das Ereignis der ethischen Beziehung ist. 444 Diese fordert die getrennte Existenz des Subjekts, und der Tod droht mit der Vernichtung dieser Existenz das Ereignis des Unendlichen selbst auszulöschen. Insofern ist das Subjekt unlösbar Apologie – Behauptung der getrennten Existenz. 445 Außerdem ist es, obgleich frei von der Bindung an sich in der Sorge um sein Sein, doch an sich als verantwortliches Subjekt gebunden. 446 Auch in dieser Form bleibt die Apologie bestehen. Die ethische Infragestellung bringt das Subjekt zwar Levinas beschreibt dies als Problem der weiterbestehenden Bedrohung durch den Tod. Vgl. TU364 f. u. 369 f.: »Macht die Gewalt, die in Gestalt des Todes in dieses Sein einbricht, die Wahrheit unmöglich? Ohne die Subjektivität vermöchte die Wahrheit weder gesagt zu werden noch zu sein; oder – um es mit einem Wort auszudrücken, das in dieser Arbeit so häufig benutzt wurde und sowohl das Erscheinen als auch das Sein umfaßt – ohne die Subjektivität vermöchte sich die Wahrheit nicht zu ereignen. Aber bringt die Gewalt des Todes die Subjektivität nicht zum Schweigen? Es sei denn, die Subjektivität, empört über die Gewalt der Vernunft, die die Apologie zum Schweigen bringt, könnte nicht nur bereit sein, zu schweigen – sondern könnte von sich aus auf sich verzichten, ohne Gewalt verzichten, von sich aus der Apologie ein Ende setzen«. Levinas beschreibt dann, wie dieser Verzicht nur möglich ist ausgehend vom Eros und der Fruchtbarkeit. Die hier genannte Problematik ist überhaupt in TU der Aufhänger dafür, diese beiden Dimensionen zu thematisieren. 445 Zum Begriff der Apologie in dieser Form sowie der im Folgenden genannten weiteren Form vgl. unten, S. 683–687. 446 Wenn Levinas diese Problematik der Bindung an sich, die durch den Eros und die Fruchtbarkeit gelöst wird, zur Sprache bringt, dann beschreibt er sie zwar auch als Problem des Subjekts des Erkennens (Licht) und des Könnens, des Subjekts als Ursprung und Selbstsetzung (TU393, 395 f. u. 410 f.). Und dies scheint zunächst nicht die Subjektivität des verantwortlichen Subjekts zu sein, wie er sie bestimmt hat, da dieses ja infrage gestellt ist von jenseits seines Könnens und seiner Freiheit. Zugleich versteht er jedoch diese Bindung an sich ausgehend von der Verantwortung (TU396), versteht sie als ethische Belastung durch »das nicht wieder Gutzumachende« (TU412), und in TU412 stellt er diese Bindung an sich ganz ausdrücklich fest für »das Seiende, das in Wahrheit existiert«, das durch das Gesicht des Anderen infrage gestellt ist. Es geht ihm also offenbar nicht um die Problematik einer sich lediglich autonom verstehenden Verantwortung (vgl. dazu unten, 471–473 sowie oben, Anm. 442), sondern um die Apologie, in welche sich das Subjekt durch die heteronome Infragestellung selbst eingesetzt sieht, weil sie es als getrenntes Subjekt fordert, es in seine Autonomie einsetzt und an seine Verantwortlichkeit bindet. Dass in dieser Heteronomie zugleich eine Befreiung von sich selbst liegt, sieht Levinas zu dieser Zeit offenbar noch nicht deutlich. 444

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in Beziehung mit einem radikal Exterioren und befreit es insofern von seinem Sein. Durch die Verantwortung belastet sie jedoch das Subjekt zugleich mit sich. Als in der Verantwortlichkeit identisches ist es unlösbar an sich gebunden und an all das, was es gelebt und getan hat. »Die Permanenz des Ich bringt das nicht mehr wieder Gutzumachende hervor«; sie liegt an der »Unverbrüchlichkeit des Vergangenen« und an der »Rückkehr des Ich zu sich selbst«; diese »Rückkehr lastet auf dem gegenwärtigen Augenblick, der ›schwer ist von der ganzen Vergangenheit‹« (TU412). Levinas benennt diese fortdauernde Anhäufung der Last der Vergangenheit als Altern. So einleuchtend diese Beobachtung zunächst ist, so verwunderlich ist es, dass das Subjekt für Levinas in Totalität und Unendlichkeit nicht zugleich dadurch, wie seine Autonomie immer von einer Heteronomie hintergangen (TU122 u. 317 f.), wie es infrage gestellt ist von jenseits seiner Freiheit und so fähig, hinter sich zurückzugehen (TU123), tatsächlich sozusagen jenseits seines Ursprungseins existiert und von der Apologie gelöst ist. Indem das Subjekt sich vom Anderen in die Apologie gesetzt sieht, könnte es ja »von sich aus auf sich verzichten […], von sich aus der Apologie ein Ende setzen« (TU370), wie Levinas in Totalität und Unendlichkeit den Ausweg aus der dargestellten Problematik beschreibt. Die Möglichkeit des Verzichts in dieser Form wird Levinas jedoch erst in Jenseits des Seins sehen. In Totalität und Unendlichkeit ist sie für ihn nur vom Eros und von der Fruchtbarkeit her gegeben. Hier sieht er die Transzendierung in der ethischen Beziehung noch geschwächt und hinter dem Eros zurückbleiben. Die Ethik braucht deshalb den Eros – »die Transzendenz der Rede ist gebunden an die Liebe« (TU370). Und zwar führt der Eros für Levinas deshalb nicht zur Belastung mit sich, weil das Subjekt in ihm zum einen durch die Infragestellung des Anderen über sich hinaus gebracht wird, zum anderen, da die infrage stellende Konfrontation mit dem Gesicht zugleich auf ambivalente Weise zurückgenommen wird, in eine Dimension jenseits des verantwortlichen Personseins – seiner selbst wie des Anderen – gezogen wird, die aber auch nicht einfach apersonal ist und die somit eine Befreiung aus dem Es-gibt eröffnen kann. »Die Wollust entpersönlicht nicht das Ich in der Ekstase, sie bleibt immer Begehren, immer Suche. Sie erlischt nicht in einem Terminus, in dem sie sich auflöst, um so mit ihrem Ursprung in mir zu brechen, auch wenn sie nicht vollständig zu mir zurückkehrt – zu meinem Alter und meinem Tod.« (TU392) Als weiteres, die Bindung an sich auflösendes Charakteristikum des Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Eros beschreibt Levinas eine Identifikation mit dem Anderen, die das Subjekt ganz Abstand nehmen lassen kann von der eigenen Existenz (TU396 f.). »Das Ich schwingt sich ohne Rückkehr aus sich heraus, es findet sich wieder als das Sich eines Anderen: Seine Lust, sein Schmerz, sind Lust an der Lust des Anderen oder Lust an seinem Schmerz« (TU397). Insofern ist das Ich in einem Zustand, in dem es auf die Apologie verzichtet. Meines Erachtens muss dies jedoch aufgrund der Augenblickshaftigkeit des Eros als eine nur zeitweilige Befreiung angesehen werden. Auch aufgrund seiner Ambivalenz kann der Eros die Verantwortlichkeit nicht ganz verdecken. Zudem ist die mich von mir befreiende Identifikation mit dem Anderen auf die Ebene der Genussexistenz beschränkt. Weiter führt es, wenn Levinas neben den beiden beschriebenen Punkten die Befreiung im Eros auch daher deutet, dass er in ihm bereits die Beziehung der Fruchtbarkeit, damit eine in dieser liegende Identifikation mit dem Kind und von daher eine Selbsttranszendierung angelegt sieht (TU397 f.). Die Weise, wie er Eros und Fruchtbarkeit hierbei unmittelbar und offenbar wesentlich verknüpft sieht, ist recht spekulativ und diskussionswürdig. 447 Gut nachvollziehbar ist nun jedoch, auf welche Art er die Beziehung der Fruchtbarkeit oder, wie er sie aus seiner Perspektive auch benennt, die des Vaters zum Kind auf eine Identifikation mit dem Kind hin analysiert und darin eine Lösung vom Sein gegeben sieht. Die Fruchtbarkeit versteht Levinas zunächst einmal als Beziehung der Zeugung neuen Lebens. 448 In ihr findet sich schon der 447 Levinas beruft sich hier nicht lediglich auf die biologische Verknüpfung von Sexualität und Fortpflanzung, auch wenn diese auf eine Art im Hintergrund steht. Die Verbindung stellt er über das Phänomen her, dass sich im Eros die Subjekte in der Identifikation oder »Transsubstantiation« von ihrem Sein lösen hin zu einem »Jenseits der Substanzen«, ohne sich jedoch auf ein Unpersönliches zu beziehen, was er dann auf einen Bezug zum Kind hin auslegt (TU398; vgl. auch TU389 f.). Die Persönlichkeit kann man m. E. jedoch genauso in der Beziehung zum Anderen im Eros gewahrt sehen. 448 Auch wenn Levinas der Beschreibung des Momentes der Identifikation mit dem Anderen, das über die biologische Vater-Sohn-Beziehung hinausreicht, einen größeren Raum gibt, und dieses Moment vor allem in den späteren Äußerungen zur Fruchtbarkeit hervortritt (ZA14 u. EU54 f.), analysiert er sie doch zunächst einmal als biologische Beziehung der Zeugung. Es geht um das Entstehen eines neuen Subjekts, »eine neue Geburt« (ZA53), und zwar als Zeugung. Auch wenn für Levinas die Fruchtbarkeit das Können übersteigt, weil es noch der Frau bedarf (TU391 f. u. 397) und weil sich der Vater, wenn das Kind bloßes Werk wäre, gerade nicht von sich lösen könnte (TU393 u. 397), auch wenn Levinas sie nicht als Kausalität versteht, da damit nicht die Entstehung eines selbständigen Anderen gefasst werden könnte (TU408), so

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Aspekt der Transzendierung des Könnens, denn die Zeugung kann nicht als Werk des Subjekts angesehen werden. Levinas macht dies daran fest, dass sie sich nur in der Abhängigkeit von der sogenannten weiblichen Anderheit ereignen kann (TU391 f. u. 397). Und die Transzendenz ist zudem darin gegeben, dass das Kind eine andere eigene Person ist. Das Moment der Identität des Vaters mit dem zugleich radikal differenten Kind macht er dann nicht an der Zeugung fest, sondern daran, dass der Vater die Möglichkeiten des Kindes als seine eigenen ansehen kann. Levinas bezieht sich auf das Phänomen einer tiefen Identifikation mit dem Anderen, die darin zum Vorschein kommt, wie wir nicht alles selbst verwirklichen müssen, sondern uns damit begnügen können, dass ein Anderer etwas davon tut, dass ein Anderer etwas an meiner Stelle lebt. 449 Die geläufige Konzeption des bindet er sie doch zurück an den Vater, versteht sie doch als »eine Möglichkeit, die mir zukommt« (TU392). Er spricht sowohl von einer »Empfängnis« als auch einer »Erzeugung« (TU395). Er bringt die Fruchtbarkeit mit dem Schöpfungsbegriff zusammen (TU406 u. 408). Er schreibt: »Der Vater verursacht nicht bloß den Sohn« (407), dieser ist »nicht nur mein Werk« (391). Er schreibt also auffälligerweise nicht, dass der Sohn in keiner Hinsicht das Werk des Vaters ist. Levinas beschreibt die Fruchtbarkeit als »das tiefe Werk der Zeit« (TU414), versteht es aber nicht als unpersönliches Ereignis, sondern bindet es an die personale Beziehung zurück; sie »setzt die Beziehung des Ich zum Anderen voraus« (TU415). – Neben dem, dass Levinas unter dem Begriff der Fruchtbarkeit ein personales und ethisches Verhältnis beschreibt, behält sie auch als biologische Zeugung neuen Lebens für ihn eine wichtige Bedeutung, weil sie ermöglicht, dass es weiter andere Menschen gibt, und der Einzelne so sich lösen kann von seiner vorläufigen und beschränkten Existenz (vgl. unten, Anm. 453). 449 Vgl. TU392 f. über die Möglichkeit, die Zeit des Kindes als die eigene Zukunft anzusehen. Vgl. auch TU436: »Die Fruchtbarkeit gestattet, das Aktuelle als die Vorhalle einer Zukunft anzunehmen.« Und vgl. TU411 f. über »die Möglichkeit, zwar nicht alles, was man hätte sein können, zu wiederholen, aber doch angesichts der unbegrenzten Unendlichkeit der Zukunft die verlorenen Gelegenheiten nicht mehr zu bedauern«. Auf diese Weise ist ein Seiendes fähig, »ein anderes Schicksal zu haben, als sein eigenes«. Es leuchtet ein, wie dies vom Phänomen her sowohl eine Identität mit dem Anderen, als auch eine radikale Differenz beinhaltet. So hat die Fruchtbarkeit »nichts zu tun mit einer Verwandlung in der Zeit« oder »mit irgendeiner Metempsychose, in der das Ich nur eine neue Gestalt annehmen und nicht ein anderes Ich sein kann«. Dazu, um welches Phänomen es Levinas geht; vgl. auch die Charakterisierung der Vaterschaft im späteren Vorwort zu ZA: »[D]ie dem Sohn angebotene Möglichkeit, die jenseits dessen liegt, was der Vater übernehmen kann, bleibt doch in gewissem Sinne noch das Seine« (ZA14). Vgl. auch EU54 f.: »Die Tatsache, die Möglichkeiten des Anderen als die eigenen anzusehen, aus der Abgeschlossenheit der eigenen Identität und aus dem, was einem zugeteilt ist, zu etwas, was einem nicht zugeteilt und dennoch von einem selbst ist, herauszutreten – das ist die Vaterschaft.« Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Seins als etwas, das nur mir zukommt, wird dadurch gesprengt (TU400–406). Und auf diese Weise kann das Subjekt dauerhaft auf die Apologie verzichten. Die Zeugungsbeziehung ist natürlich auf die biologische Beziehung der Fruchtbarkeit beschränkt, von der Levinas die phänomenologische Analyse ausgehen lässt – freilich mit dem Ziel, nicht nur faktische biologische Verhältnisse, sondern Wesensstrukturen der Wirklichkeit herauszuarbeiten. Die Identifikation mit den Möglichkeiten des Anderen geschieht zwar häufig in Bezug auf die eigenen Kinder, ist jedoch für Levinas eine Art der Beziehung, die vom Biologischen unabhängig ist, indem sie zu jedem Anderen besteht. 450 Und über das rein Biologische geht dieses Verhältnis der Vaterschaft auch dadurch hinaus, dass es für ihn im tiefsten eine Identifikation mit der Möglichkeit des Anderen, selbst Subjekt der Verantwortung zu sein, darstellt, eine Beziehung eines Einzigen zu einem anderen Einzigen, ja, das Moment der Zeugung aufnehmend, Einsetzung des Anderen in seine Verantwortung 451, und darin als Erfüllung des Begehrens, das sich auf den Anderen nicht nur als Begehrten, sondern als selbst Begehrenden bezieht, als »Gabe des Vermögens der Gabe«. 452 Es handelt sich bei der Fruchtbarkeit also um ein letztlich ethisches Verhältnis, Wenn Jakub Sirovátka (2006, 107) der levinasschen Fruchtbarkeitsanalyse vorwirft, sie bleibe »die Antwort auf die Frage schuldig, in welcher Weise mein Ich in den Kindern ›fortbesteht‹«, dann übersieht er, welches Phänomen Levinas hier im Blick hat. Schon seine Interpretation, es gehe Levinas bei diesen Überlegungen um den Versuch, »das Ich vor der vollständigen Vernichtung zu retten« (104), führt m. E. in die falsche Richtung. 450 Vgl. TU409: »Wenn die Biologie uns die Prototypen aller dieser Beziehungen liefert, so beweist dies gewiß, dass die Biologie nicht eine bloß kontingente Ordnung des Seins ohne Beziehung mit seinem wesentlichen Ereignis darstellt. Aber diese Beziehungen werden frei von ihrer Beschränkung auf die Biologie.« Vgl. auch TU446: »In dem biologischen Sachverhalt der Fruchtbarkeit zeichnet sich der Grundriß einer Fruchtbarkeit überhaupt als Beziehung von Mensch zu Mensch und des Ich mit sich selbst ab« (vgl. dazu auch TU406 u. EU55). 451 Vgl. TU407 f.: »Das Ich hat seine Einzigkeit als Ich vom väterlichen Eros. Der Vater verursacht nicht bloß den Sohn. Sein Sohn sein, bedeutet, Ich sein in seinem Sohn, substanziell in ihm sein, ohne sich indes identisch in ihm zu bewahren. […] Der Sohn nimmt die Einzigkeit des Vaters auf und bleibt dennoch dem Vater äußerlich«. »Erst der väterliche Eros setzt die Einzigkeit des Sohnes ein – sein Ich als Ich des Sohnes beginnt nicht im Genuß, sondern in der Auserwählung. Er ist einzig für sich selbst, weil er einzig ist für seinen Vater.« Erwählung meint bei Levinas eine Erwählung zur Verantwortung (vgl. etwa TU360 f.). 452 TU395 f.: »Über das Opfer hinaus, das eine Gabe verlangt, ist die Fruchtbarkeit die Gabe des Vermögens der Gabe«. Das Begehren erfüllt sich, »indem es sich transzen-

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das aber über das Verhältnis zum Gesicht hinausgeht, indem es über die eigene Verantwortlichkeit auch den Anderen als Verantwortlichen in den Blick nimmt. Erst in der Identifikation mit ihm erfüllt sich für Levinas das Begehren, transzendiert sich das Subjekt so radikal, dass es von jeder Bindung an sich gelöst ist und das Es-gibt zum Schweigen bringt. Das Subjekt kann sich für Levinas unabhängig von den konkreten biologischen Verhältnissen, in denen es steht, mit dem Anderen derart identifizieren, dass es dessen Möglichkeiten als die eigenen ansehen und sich so insgesamt von seinem Können und vom auch in der Verantwortung sich noch ereignenden Belastetsein mit seiner getrennten Existenz befreien kann. Die Möglichkeit dieser Identifikation ist freilich insofern von der biologischen Fruchtbarkeit weiter bedingt, als diese dafür sorgt, dass überhaupt weiter Andere da sind. 453 Sie ist möglich – wie Levinas dies zeittheoretisch ausdrückt –, weil sich die Zeit nicht nur von mir her als Zeit meines Könnens, sondern passiv als »neue Geburt« (ZA53) ereignet, als Geburt eines ganz neuen und nicht mit der Vergangenheit und der Verantwortung der Vergangenen beschwerten Lebens (TU411 f.), als Geburt eines Anderen, von dem her ich mich selbst von der Behauptung meiner getrennten Existenz lösen und so selbst radikal neu sein kann. Bis in die späteste Zeit hält Levinas an dieser Analyse des Transzendierens in der Fruchtbarkeit durch die Identifikation mit dem Anderen fest. 454 Als letztlich allein zielführender Ausweg aus dem Esgibt verliert sie jedoch insofern später an Bedeutung, als ein solcher für Levinas allein schon in der Verantwortung für den Anderen erdiert in der Erzeugung des Begehrens«. Vgl. auch TU399: »Sich erfüllen bedeutet für das Begehren, daß es das gute Seiende zeugt, daß es Güte der Güte ist.« 453 Vgl. TU409: »[D]as Erotische sowie die Familie, die das Erotische artikuliert, sichern diesem Leben, in dem das Ich nicht verschwindet, sondern für die Güte ausersehen und zur Güte berufen ist, die unendliche Zeit des Triumphes, ohne welche die Güte nur Subjektivität und Torheit wäre.« Vgl. auch TU436 f. Es geht dabei um das oben in Anm. 444 beschriebene Problem. Sich von der Apologie zu lösen, setzt die Identifikation mit den Möglichkeiten des Anderen voraus, setzt also voraus, dass weiter Andere leben. 454 Im späteren Vorwort zu ZA von 1979 hebt Levinas die bleibende Bedeutung seiner Analyse der Fruchtbarkeit als Identifikation mit den Möglichkeiten des Anderen, als einer »Struktur des Transzendierens«, ja einer »Nicht-Indifferenz« hervor, die ein Subjektivitätskonzept bestätigen, in dem das Subjekt als Können und als transzendentale Apperzeption überschritten wird (ZA14). Auch in EU54 f. bezieht sich Levinas positiv auf seine früheren Analysen der Vaterschaft. Als zustimmende Anknüpfung ist zudem der Rückverweis in JS24423 zu verstehen. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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öffnet ist. 455 Dies dürfte dann auch der Grund dafür sein, dass die Fruchtbarkeit in Jenseits des Seins nicht thematisiert wird. Dort ist für Levinas das Subjekt schon allein dadurch von der Apologie gelöst, dass es vorgängig zu seiner Freiheit und Autonomie (JS226 f., 270 f. u. 27327 ) sowie »über seine Schuld hinaus« (JS270) infrage gestellt ist durch den Anderen und somit auch seine tiefste Identität jenseits seines Ursprungseins zu verorten ist. Dieser Fortschritt hängt zum einen damit zusammen, dass Levinas hier ausgehend von seinem heteronomen Konzept der Ethik das Verständnis der Subjektivität in ihrer Anarchie und ihrer rekurrenten Struktur vertieft hat. Zum anderen liegt es an der Ausweitung des Verständnisses der Verantwortung hin zur Stellvertretung, zur Verantwortung für die Verantwortung des Anderen. 456 Man kann in ihr auf gewandelte Weise die Struktur der Identität mit dem Anderen in der Vaterschaft wiederfinden. Bei beiden bin ich identifiziert mit dem Anderen in seiner Verantwortlichkeit. Die Vaterschaft wird darauf hin akzentuiert, dass ich mich in ihr von meiner Verantwortung, die am Können bemessen ist und in der ich an mich gebunden bin, lösen kann. Die Stellvertretung ist darauf hin akzentuiert, dass mir die Verantwortung des Anderen zusätzlich auferlegt wird. Letztlich besteht jedoch kaum ein Unterschied, insofern die Verantwortung für die Verantwortung des Anderen nicht im gewöhnlichen Sinne der Verantwortung für das, was ich getan habe, zu verstehen ist, und ich auch nur daher in ihr von mir gelöst sein kann. Die Vaterschaft kann m. E. einen wichtigen Verstehenszugang für das geben, was Levinas mit dieser Identifikation in der Stellvertretung meint; und von ihr her betrachtet bekommt die Bezeichnung des Menschen in der Stellvertretung als »Urgüte der Schöpfung« (JS270) einen sehr präzisen Sinn. Umgekehrt deutet sich in der Vaterschaft in der Identifikation mit dem Anderen in allen seinen Möglichkeiten, auch denen des Verantwortlichseins, so etwas an wie die Übernahme seiner Verantwortung. Dennoch verschiebt sich der Akzent hin zu meiner Verantwortung – und dies entspricht dem Gesamtduktus der levinasschen Denkentwicklung. Insofern 455 Es verwundert daher nicht, dass Levinas in einem späteren Rückblick auf seine Behandlung der Problematik des Es-gibt nach der Thematisierung des ersten Ausweges im Genuss nur noch die Beziehung der Verantwortung in den Blick nimmt (vgl. EU39: Die ganz selbstlose Beziehung, die er nicht »Liebe« nennen möchte, »die Verantwortlichkeit für den Anderen, das Für-den-Anderen-Sein erweckte für mich […] den Eindruck, das anonyme und sinnlose Rauschen des Seins aufzuhalten«). 456 Vgl. unten, S. 427–429.

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Levinas das Problem des Es-gibt vor allem in der späteren Zeit, wie im Folgenden noch deutlich gemacht wird, ganz von der Verantwortung her versteht, als einen Zustand, der eintritt, wenn das Subjekt sich ihr noch nicht ganz überlassen hat, muss wohl auch die Identifikation mit dem Anderen in der Weise, wie sie im Stellvertretungsgedanken akzentuiert ist, als das angesehen werden, was die eigentliche Befreiung aus dem Es-gibt eröffnet, und die der Vaterschaft wäre dann nur eine Modifikation davon und etwas zumindest in der Akzentuierung Vorläufiges. Was Levinas in diesem Themenfeld der Fruchtbarkeit beschreibt, sowohl die ethischen wie die biologischen Phänomene, darf man in seiner Bedeutung für sein gesamtes Denken sowie speziell für die Fragestellung dieser Untersuchung nicht unterschätzen. Das Problem, das in Totalität und Unendlichkeit auf die Thematik von Eros und Fruchtbarkeit geführt hat, das Problem der Bedrohtheit des Ereignisses des Unendlichen durch den Tod, kann man in der Stellvertretungsbeziehung, welche die Fruchtbarkeit sozusagen integriert, zumindest in Bezug auf die daraus resultierende Selbstbehauptung der eigenen getrennten Existenz überwunden sehen, insofern in ihr jede Behauptung ja vom Anderen ausgeht. Aber gerade als eine solche vom Anderen herkommende Forderung besteht fort, dass es für das Ereignis der Güte und damit auch für das Ereignis des Unendlichen weiter die Beziehung real existierender Personen braucht. Die Fruchtbarkeit als Entstehung neuen Lebens über den eigenen Tod hinaus, muss weiter als etwas angesehen werden, das diesem Erfordernis allein entgegenkommt. Eine gewisse Alternative wäre nur das, was Levinas – ebenfalls ausgehend davon, dass das Ereignis des Unendlichen meine Existenz zu fordern scheint – als erhoffte postmortale Existenz in den Blick nimmt. 457 Aber auch in dem Fall bräuchte es die Fruchtbarkeit für die Entstehung einer Vielheit von Subjekten. Daneben behält für Levinas die Beziehung der Vaterschaft oder der Fruchtbarkeit ausdrücklich auch noch darin eine Bedeutung, dass er sie als eine über die biologische Zeugungsbeziehung hinausreichende Beziehung eines Einzigen zu einem anderen Einzigen in dessen Verantwortung analysiert und somit wesentliche Momente der ethischen Beziehung zum Gesicht des Anderen in ihr zum Ausdruck kommen. Die Beziehung zum Anderen als selbst Einzigen beschreibt Levinas mit den Begriffen des Verwandtschaftsverhältnisses (als Vaterschaft 457

Vgl. dazu unten, S. 569–584.

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oder auch Brüderlichkeit). Da sie der Ausgangspunkt ist für die Bestimmung des Übergangs von der Beziehung zum einzelnen Anderen zu der zur Gemeinschaft und von der asymmetrischen zur symmetrischen Form von Verantwortlichkeit, wird die Dimension der Fruchtbarkeit in dem Zusammenhang noch einmal thematisiert werden. In dieser Untersuchung wird sie außerdem noch als Zeugungsbeziehung im Zusammenhang der Thematik der leiblichen Konstitution des Subjekts im Genuss von Bedeutung sein sowie im Zusammenhang mit dem Schöpfungsbegriff und der Bestimmung des Verhältnisses von Leiblichkeit und Schöpfung. Um für die Frage nach einem Ausweg aus dem Es-gibt das Resümee zu ziehen: Was sich von den frühen bis zu den späten Schriften von Levinas durchzieht, ist die Überzeugung, dass eine wirkliche Transzendenz nur durch den anderen Menschen eröffnet wird und so eine Befreiung aus der Problematik des Es-gibt nur in der Beziehung zu ihm möglich ist. Alle anderen Formen von Selbsttranszendenz sind für ihn nur scheinbare, sind letztlich Formen der Immanenz des Genusses. Die Begegnung etwa mit numinosen göttlichen Dimensionen und die daraus entstehenden religiösen Vollzüge, die den Menschen scheinbar über sich erheben, oder der Kontakt mit dem Verborgenen im Entbergungsspiel des Seins, das immer Neues und Überraschendes hervorbringt – die Transzendenzform, die Levinas in Heideggers Seinsdenken ausmacht –, verkommen für ihn letztlich »zu Spiegelungen unserer eigenen Blicke, zu Trugbildern unserer Bedürfnisse« (JS389); »all das schwächt das widerliche Rauschen des Esgibt nicht ab […]. Einzig das Sein des Anderen ist unabweisbar und untersagt die totale Abgeschiedenheit und den Rückzug in die Muschel des Selbst.« (JS390) Zugleich eröffnet aber auch nur der Andere eine Weise des Über-sich-hinaus-Seins, in der das Subjekt zugleich bestätigt wird. Diese Bestätigung war ein wesentliches Element nicht nur in der Beziehung zum Gesicht des Anderen, sondern auch in den radikalen Transzendenzformen des Eros und der Vaterschaft. Schon ausgehend vom Genuss konnte teilweise erklärt werden, wie es zur Bedrohung durch das Es-gibt kommt. Letztlich verstehbar ist es aber erst von der Beziehung zum Anderen her. Und diese Erklärung ist wichtig, um den Zusammenhang zwischen dem Ausgangsproblem von Levinas’ Denken und dem, was seine organisierende Mitte darstellt, zu begreifen. Schon im Vorwort zu Vom Sein zum Seienden macht er deutlich, dass seine Analyse des Es-gibt und der Auswege aus ihm vor dem Hintergrund der Thematik der »Bezie384

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hung zum Anderen als Bewegung hin zum Guten« zu verstehen ist (VS11). Sie ist der Grund dafür, dass das Sein als etwas erlebt wird, dem man entkommen möchte, und das Gute als jenseits des Seins. Als Leitidee kann er so die »platonische Formel, die das Gute jenseits des Seins ansiedelt« benennen (VS11). Insofern im Guten für Levinas sozusagen der Kern der Wirklichkeit und die eigentliche Identität des Subjekts liegt, findet der Mensch in ihm die Lösung aus der Entfremdung des Es-gibt und es ist von ihm aus zugleich verstehbar, wie es zum Phänomen des Es-gibt kommt. Das Gute ereignet sich als Beziehung von Getrennten, fordert also das Sein eines getrennten Seienden. Insofern dieses Sein seine Bedeutung hat als Sein-für-den-Anderen (JS130), als Gabe des eigenen Seins, entbehrt es gelöst davon, als bloßes nacktes Sein, eines Sinns, und so ist auch der Sinn, der in der selbstbezogenen Existenz gefunden wird, nur ein vorläufiger. Die Problematik des Es-gibt besteht im Eingeschlossensein des Seienden in sein Sein, seiner Einsamkeit, aber auch in der drohenden Auflösung seiner getrennten Existenz durch ein gestaltloses übergreifendes Sein, von dem es sich zutiefst abhängig findet, sei es das Sein des Materiellen oder die Einheit des Seins, die sich aus der neutralen Perspektive des universalen Denkens ergibt. Die Bedeutung des Phänomens in der ersten Form wurde teilweise schon aus dem Genuss und seiner Abhängigkeit erklärt, welcher als Gegenstand eines anonymen Materiellen bedarf. Dass sich das Subjekt durch sein Denken auf ein übergreifendes Sein bezieht, erklärt Levinas als Moment der Beziehung zum Anderen selbst, indem diese uns nämlich in eine Autonomie einsetzt und durch die Beziehung zum Dritten eine neutrale Perspektive eröffnet. Seinen Sinn hat dies jedoch nur in der Rückbindung an die Beziehung zum Anderen. Löst man es davon und relativiert man es nicht mehr als etwas lediglich von uns Konstituiertes, wird es eine uns auflösende Totalität. 458 Die Bedeutung des Phänomens der drohenden Auflösung des Subjekts kann Levinas daneben auch direkter aus der Beziehung zum Anderen erklären, indem er es nämlich als Moment von ihr selbst verständlich macht. Das Rauschen des Es-gibt verschwindet nicht einfach in der Beziehung zum Anderen, sondern wird vielmehr 458 Vgl. dazu JS307, wo Levinas auf die Entstehung der Ebene der Gerechtigkeit und hierbei des universalen Seins als eines Moments der Ethik aufmerksam macht und ausdrücklich hervorhebt, dass das Es-gibt auf diese Weise durch die ethische Bedeutung »zutage getreten« ist.

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integriert. Ich bin in der Beziehung zum Anderen genauso meiner selbst entleert wie im Es-gibt. Das Es-gibt ist das Aufgebrochenwerden meiner Identität durch den Anderen. Nur gelöst von dieser Beziehung ist es etwas Bedrohliches und Sinnloses. »Das unablässige Rauschen des Es-gibt verletzt mit seiner Absurdität das aktive – von sich her beginnende, gegenwärtige – transzendentale Ich.« (JS356) Die eigentliche Dimension des Subjekts aber, die aus der Beziehung zum Anderen lebt, wird durch das Es-gibt vielmehr eröffnet. Das Subjekt ist im Wachen oder in der Schlaflosigkeit »beunruhigt durch das Andere, das alles entkernt, was sich in ihr als Substanz des Selben, als Identität, als Ruhe, als Gegenwart, als Schlaf verkernt; durch das Andere, das diese Ruhe zerreißt, das sie aus dem Diesseits des Zustandes herausreißt, in dem die Gleichheit sich einzurichten sucht. Gerade darin beruht der irreduzible kategoriale Charakter der Schlaflosigkeit: Das Andere im Selben, welches das Selbe nicht entfremdet, sondern es gerade weckt, Wecken; als Forderung« (GP88). Als Moment der Beziehung zum Anderen kann Levinas neben dem Wecken auch noch andere Aspekte verständlich machen, etwa den der Sinnlosigkeit. Nur sie bewahrt mich davor, diese Beziehung als Sinngebung zu genießen und mich so in meiner Immanenz einzuschließen. Das Es-gibt »ist der Überschuß der Sinnlosigkeit über den Sinn, wodurch für das Sich die Sühne 459 möglich wird – Sühne, die das Sich gerade bedeutet. Das Esgibt – ist so die ganze Last, die die ertragene Anderheit wiegt« (JS356). 460 Daneben manifestiert sich in dieser Sinnlosigkeit auch die fundamentale Lösung des Subjekts aus jeder Teilhabe. Der Aspekt der Last des Seins, die Levinas in den verschiedenen leiblichen Widrigkeiten aufzuweisen versucht hat, hat seinen ursprünglichen Sinn darin, dass Ethik für ihn als Hingabe an den Anderen immer etwas kostet, und zwar in leiblicher Konkretheit. 461 Den Charakter der Unaus459 ›Sühne‹ ist hier nicht im Sinne einer Erlösung durch ein aktives Leiden für den Anderen zu verstehen, worin das Leiden ja schon wieder einen Sinn bekommen würde (JS246 u. 26021 ), sondern als ein Wort für das Subjekt in der Stellvertretung, das vor aller eigenen Zustimmung und Tat schon in der Verantwortung für den Anderen steht, verantwortlich sogar für dessen Taten ist (JS256 f. u. 262; vgl. auch unten, S. 427–429). 460 Vgl. auch JS357: »Um zu ertragen, ohne entschädigt zu werden, ist das exzessive und widerliche Geräusch und Gedränge des Es-gibt notwendig.« In EU39 f. sagt Levinas sehr deutlich: »[D]er Schatten des ›es gibt‹ und des Nicht-Sinns schien mir immer noch notwendig als eigentliche Prüfung der Selbstlosigkeit«. 461 Vgl. JS130, wo Levinas von daher das Phänomen der Müdigkeit aufgrund der Last des Seins erhellt und dabei auch zurückverweist auf VS. Zur Bedeutung des Leidens in

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weichlichkeit bekommt das Es-gibt durch die Unausweichlichkeit der Verantwortung. Es fällt auf, dass Levinas diese integrale Bedeutung des Es-gibt in der ethischen Beziehung vor allem in der späteren Zeit hervorhebt und dies steht in einem inneren Zusammenhang damit, dass er hier auch den Aspekt der Passivität und der Widrigkeit in ihr deutlicher herausarbeitet. In verschiedener Weise lässt sich das Es-gibt von diesem integral Widrigen in der ethischen Bedeutung verstehen, das mich dann auf eine negative Weise betrifft, wenn eines seiner Elemente aus der Beziehung zum Anderen gelöst wird. Dann ist das passive Gestelltsein in die Identität des Verantwortlichen eine bedrängende Last, die positive Sinngefährdung Verzweiflung, dann entsteht aus der notwendigen Unerkennbarkeit des Geheimnisses, das der Andere wie auch die eigene innerste Wirklichkeit ist, ein nagender Zweifel, aus der Selbsttranszendenz ein Selbstverlust, aus dem Jenseits-des-Seins eine bedrohliche Leere, dann ist die leibliche Mühe nicht mehr Mühe für den Anderen und das Sein in seiner Getrenntheit nicht mehr integrales Moment des Ereignisses des Unendlichen, sondern eine Last. Indem das Es-gibt eng zusammenhängt mit der Konstitution des Subjekts aus dem Genuss des Materiellen wie mit der leiblichen Passivität und Widrigkeit, und indem es deren Funktion innerhalb der Beziehung zum Anderen und damit innerhalb des Ereignisses des Unendlichen greifbar werden lässt, wird auf dieses Phänomen in unserer Untersuchung immer wieder zurückzukommen sein. Außerdem spielt es in Levinas’ religionsphilosophischen Analysen eine wichtige Rolle, wenn er zum einen die das Subjekt radikal öffnende Transzendierung des Unendlichen in ihrer Ähnlichkeit und Verwechselbarkeit mit der Schlaflosigkeit beschreibt und zum anderen verschiedene Formen der uneigentlichen Transzendenzbeziehung als Weisen der Konfrontation mit dem Es-gibt bestimmt. Auch indem diese wiederum eng mit der Leiblichkeit zusammenhängen, kommt Levinas’ Auseinandersetzung mit dem Problem des Es-gibt eine grundlegende Bedeutung für unsere Thematik zu und wird auf sie immer wieder Bezug genommen werden.

der Beziehung zum Anderen und dessen Zusammenhang mit dem Es-gibt vgl. bes. unten, S. 750 f. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Die scheinbare Befreiung durch die universale Vernunft Von der eigentlichen Befreiung aus dem Es-gibt in der Beziehung zum Anderen her lässt sich nun auch ein weiterer Ausweg verstehen, den Levinas neben dem Genuss und seinen verschiedenen sublimen Formen als Scheinlösung anführt. Es ist die Möglichkeit, »sich mit dem Universalen […] zu verschmelzen […]. Eingeständnis der Letztgültigkeit des sein, der ausweglosen Immanenz seines einschließenden Spiels; stoische Weisheit in ihren verschiedenen Spielarten von Zenon bis Spinoza und bis Hegel; Weisheit der Ergebung und der Sublimierung.« (JS377) Es ist sozusagen eine Flucht nach vorn, ein Ausweg durch die »Ergebung« in das Es-gibt, allerdings nicht in das materielle Sein wie in der naturreligiösen Einstellung der mystischen Partizipation, von der aus Levinas das Es-gibt in Vom Sein zum Seienden beschrieben hat, sondern in ein Vernunftsein. Und zwar sieht Levinas diese Möglichkeit in allen Philosophien verwirklicht, die als Höchstes eine universale Vernunft ansehen, eine Art stoischen Logos, in den hinein sich die Individuen selbst transzendieren sollen. Er sieht sich hier dem Hauptstrom der abendländischen Philosophie gegenüber. Levinas setzt sich dabei mit verschiedenen Konzepten auseinander und führt verschiedene Kritikpunkte an 462; als Gemeinsamkeit – und das rechtfertigt dieses zunächst recht pauschal klingende Urteil – findet Levinas bei ihnen, als das Grundlegende eine universale Vernunft oder sonst eine universale, übergreifende Instanz anzunehmen, die dadurch in die Nähe des Es-gibt rückt, dass ihr gegenüber das Individuum (und ebenso seine Beziehung zu Anderen) zwar vielleicht real ist, aber doch zumindest keine letzte Bedeutung hat, und sich deshalb dazu aufgefordert sehen muss, sich in dieser Begrenztheit zu erkennen und so mit dem Universalen zu »verschmelzen« und »darin unterzugehen« (JS377). Neben der Bedrohung durch die Auflösung des getrennten Subjekts erweist sich in diesem Modell die Vernunft auch dadurch als Es-gibt, dass sie dessen Transzendenzbezug verhindert und es in sich einschließt. Zugleich, so schreibt Levinas in anderem Zusammenhang, »verbirgt dieser Weg den uralten Triumph des Selben über das Andere« (TU121). Unter der Hand verabsolutiere das Ich sein eigenes Denken, dessen Allgemeinheit für Levinas, wie sich noch zeigen wird, nur sekundären Charakter besitzt. Dieses Konzept der universalen Vernunft erweise sich als eine Form, »das Andere zu 462

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Vgl. unten, Anm. 623.

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unterdrücken« (TU99). Es handelt sich für ihn dabei nicht einfach um die Unterdrückung des Genusses. Levinas sieht zwar ein Denken, das von einem Sein oder einer universalen Vernunft ausgeht, immer in der Gefahr, das Leben, auch das ethische Leben des Seienden, als Selbstverwirklichung zu denken und so zumindest in der Logik des Interessiertseins oder des Genusses zu verharren. 463 Den hier beschriebenen Ausweg ordnet er aber nicht einfach dem Genuss und der Herrschaft zu (JS377), weil ja das Subjekt selbst im Universalen verschwindet, hingegeben an das Es-gibt, und somit eine Art Selbstlosigkeit realisiert. Für ihn steht dieser Ausweg in einer Nähe zur Transzendierung in der Beziehung zum Anderen, weil »die stoische Würde, sich dem Logos zu ergeben, ihre Kraft schon der Offenheit für das Jenseits-des-sein verdankt« (JS381). Die Universalität des Denkens erklärt sich für ihn, wie noch deutlicher zu sehen sein wird, unmittelbar aus der Beziehung zum Anderen, ist sozusagen eine sekundäre Verwirklichungsform der Ethik selbst. In der Weise, wie Levinas diesen Ausweg als einen scheinbaren beschreibt, werden schon wesentliche Weichenstellungen seines Ansatzes sichtbar, der ausgehend von einer ethischen Intuition das Kernereignis der Wirklichkeit in einer Transzendenzbeziehung getrennter Subjekte verortet. Indem das fichtesche Denken diesem Ausweg sehr nahesteht, deutet sich hier bereits ein grundlegender Dissens zu Fichte an. 464 Vergleich mit Fichte Ähnlich wie Levinas stößt Fichte in der Suche nach einer Begründung des Wissens bzw. einem Zugang zum wirklichen Sein auf das Problem der Haltlosigkeit des Selbstbezuges des Subjekts, aus dem nur das ethische Sollen einen Ausweg eröffnet. Was sind dafür genauer die Gründe bei ihm? In der Erlanger Wissenschaftslehre ist es das Problem eines in seinen Objektivierungen verfangenen Lichts, das noch nicht die Dunkelheit und die Praxis als Bedingungen für das wirkliche Sein erkennt, sodass es jedes Sein als von sich gesetztes und so nicht wirkliches ansehen muss. Er stellt die Möglichkeit eines radikalen Skeptizismus heraus und in der Anweisung hebt er entsprechend hervor, wie sich das Licht mit allen Seins- aber auch mit allen Wertset463 464

Vgl. unten, Anm. 702. Vgl. für dessen ausführliche Darstellung dann unten, S. 443–473.

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zungen, die es vollzieht, als möglicherweise bloße »Ausgeburt eines an sich nichtigen Geistes, Lichtes, Denkens« (A110) betrachten kann. 465 Dies entspricht sehr genau der Situation, in die Fichte das Denken am Ende des zweiten Buches der Bestimmung des Menschen von 1800 geraten lässt, die im Folgenden kurz betrachtet werden soll, weil von ihr aus gut der Vergleich mit Levinas zu ziehen ist. Sich kritisch transzendentalphilosophisch allein an die Evidenz der unmittelbaren Bewusstseinsgegenstände haltend, findet es hier alles Sein, auch das eigene, in reine Bilder verwandelt. Ausgehend von der anschaulichen Gegebenheit des Bewusstseins des Bewusstseins, das als solches von Fichte nicht bezweifelt wird, kann ich mich als Subjekt dieses Bewusstseins in seiner realen Kraft nur denken. Die Anschauung erreicht mein eigentliches Sein nicht, sondern nur, dass es gedacht wird: »[E]s erscheint der Gedanke, dass ich empfinde, anschaue, denke; keinesweges aber: ich empfinde, schaue an, denke. […] Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder. […] Das Anschauen ist der Traum; das Denken, – die Quelle alles Seins, und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seins, meiner Kraft, meiner Zwecke, – ist der Traum von jenem Traume. […] Ich habe eingesehen, und sehe klar ein, dass es so ist; ich kann es nur nicht glauben.« (B83 f.) In diesem »nicht glauben« deutet sich für Fichte dann der eigentliche Ausweg an, den er im dritten Buch entfaltet: Der ursprüngliche Zugang zur Wirklichkeit, von dem dieses Denken des Seins wie des Werthaften getragen ist, liegt jenseits des objektiven Wissens, in einem Glauben, der aber nicht willkürlich gefasst wird, sondern getragen ist von einem Sollen. Von daher ergibt sich auch für ihn: »[E]in System des Wissens ist notwendig ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck« (B85). »Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht, weil wir nur bei dieser Ansicht unsere Bestimmung erfüllen können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall gibt, und das, was ohne ihn bloße Täuschung sein könnte, zur Gewissheit, und Überzeugung erhebt.« (B92 f.) Die Begründung, weshalb die Evidenz des Cogito nicht hinreicht, ist insofern bei Fichte ähnlich wie bei Levinas, als für ihn ebenso weder das objektivierende Bewusstsein noch das Bewusstsein des Bewusstseins die eigentliche Wirklichkeit des Subjekts berühren. 466 465 466

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Vgl. oben, S. 76–81. Interessant ist, wie beide den cartesischen Topos des genius malignus dabei so

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In Übereinstimmung mit Levinas ist er auch darin, wie für ihn das Problem dieser auf die objektive Erkenntnis des Seins abzielenden Herangehensweise im Verlust weniger der Erkenntnisgewissheit als der Wert- und Sinnhaftigkeit liegt. Die Frage danach steht im Vordergrund, da für ihn die Philosophie letztlich auf eine angemessene Lebenspraxis zielt. Und bei beiden erbringt erst die Dimension des Praktischen, konkret das ethische Sollen, die Lösung der Verzweiflung, und erst von daher ist dann eine Befreiung aus dem Zweifel an der Wirklichkeit des Subjekts möglich. Neben dieser grundlegenden Übereinstimmung in der Zentralstellung der Ethik lassen sich aber noch weitere Gemeinsamkeiten ausmachen. Ähnlich wie bei Levinas wird bei Fichte das Bewusstsein für die Unausweichlichkeit des Verbleibens in der subjektiven Immanenz und für die darin liegende Bedrohung des Untergehens in einer absurden, depersonalisierenden Unwirklichkeit die Bedingung für eine reflektierte Erkenntnis der Notwendigkeit eines anders gearteten Zuganges zur Wirklichkeit. 467 Und vergleichbar sind beide auch dadurch, dass ebenso für Fichte der Zweifel mit einem falschen Seinsverständnis zusammenhängt. Der Aufstieg der Erlanger Wissenschaftslehre, der um ein adäquates Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Sein ringt, zeigt nach der Überwindung der Dominanz eines objektivierend dinglich verstandenen Seins ausgehend von der Notwendigkeit eines Glaubens gegenüber einem Sollen, dass wahre Wirklichkeit nicht objektiviert und gedacht werden kann, sondern im Dunkeln liegt und nicht durch das Wissen, sondern nur von einem Sollen her zugänglich ist. Die Möglichkeit des Zweifels wird nicht überhaupt ausgeräumt. Sie wird aber wie bei Levinas entschärft, indem das Ideal der objektiven Gewissheit relativiert wird. Ein weiterer Aspekt, der die Problematik des Es-gibt ausmacht, findet sich bei Fichte darin, dass auch für ihn aus dem falschen Seinsverständnis eine Bedrohung der Selbständigkeit des Subjekts erwächst, zunächst in der aufnehmen, dass sie das, was aus den Phänomenen spricht und sozusagen zu einem Sichhalten an die objektive Gewissheit aufruft, zu einem Geist stilisieren, der sich als böser Geist erweist (TU127 f. u. BdM84, wo der Geist, der als Dialogpartner des ganzen zweiten Buches fungiert, sich plötzlich als »ruchloser Geist« erweist). 467 Levinas streicht etwa in JS356 heraus, dass die Seinsverhaftetheit des Subjekts aufgrund seiner Immanenz ernst zu nehmen und nicht zu vergessen ist, weil nur so ein Zugang zum Jenseits-des-Seins der Verantwortung offengehalten wird. Für Fichte ist das Bewusstsein für die absolute Reflektierbarkeit die Bedingung dafür, nicht in einem toten Sein verhaftet zu bleiben (W231; vgl. dazu auch oben, S. 76–78). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Form eines mit dem dinglich verstandenen Sein einhergehenden materiellen Determinismus und dann in der Form eines Determinismus, der von einem nicht vom Sollen, sondern vom Wissen her verstandenen absoluten Sein ausgeht. Die zur ethischen Weltsicht notwendig gehörende Selbständigkeit des Subjekts ist bei beiden dann auch der Grund für die Möglichkeit des Zweifels. Levinas weist in der Auseinandersetzung mit dem Cogito-Argument auf die Lösung des Subjekts aus jeder Teilhabe hin (TU131): Indem es durch den Anderen von der Bindung an die Selbstsorge und durch die vom Anderen unabhängige Konstitution zugleich von der Verpflichtung ihm gegenüber befreit ist, kann es in die völlige Haltlosigkeit des Zweifels fallen. Der drohenden Sinnlosigkeit gibt Levinas dabei eine positive Bedeutung, insofern sich in ihr die völlige Lösung aus jeder Teilhabe manifestiert. Auch für Fichte besteht ein Moment der Freiheit in völliger Ungebundenheit und daraus erklärt sich die Möglichkeit des haltlosen Zweifels. Anders als Levinas beschreibt er sie freilich nicht als eine Lösung aus jeder Form von Teilhabe, die Freiheit ist Teil einer universalen Vernunft und soll in sie zurückkehren, und er spricht deshalb auch dem Bedrohtsein durch Sinnlosigkeit keinen bleibenden Stellenwert zu. Hier deutet sich der eigentliche Unterschied beider Denker an: Das, was für Levinas der zentrale Problempunkt ist, nämlich Sein als Sein eines Einzelnen sowie als übergreifendes Sein zu denken und damit sowohl die Transzendenz der Beziehung, wie er sie auslegt, als auch die Getrenntheit der Beziehungsglieder zu verdecken, wird bei Fichte, da er die ethische Beziehung anders versteht, nicht problematisiert. Für ihn findet das Subjekt im Selbstbezug seinen Sinn und dieser Selbstbezug ist in sich zugleich Bezug auf ein die Individuen übergreifendes Universales, an dem sie teilhaben. Insofern würde ihn Levinas vermutlich dem Versuch der Befreiung aus dem Es-gibt über die Vereinigung mit der universalen Vernunft zuordnen. Zwar wird bei Fichte die Selbständigkeit des Subjekts gewahrt, ihr kommt aber keine Letztbedeutung zu und es soll sich deshalb gegenüber der Einheit der Vernunft negieren und sich so mit ihr vereinigen. Und selbst wenn Fichte der Selbständigkeit der Person in der interpersonalen Beziehung eine letzte Bedeutung zuerkennen würde – das, was letztlich die Abgründigkeit des Es-gibt bei Levinas ausmacht, dass sich das Subjekt nicht im Selbstbezug in seiner eigentlichen Identität findet, sondern nur wenn es sich selbst wie auch jede vermeintliche übergreifende Universalinstanz ganz verlässt und vom Anderen her 392

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versteht, gilt neben allen Ähnlichkeiten für Fichte nicht. Entsprechend bekommt die Sinnlosigkeit bei ihm auch nicht diese positive Bedeutung wie bei Levinas. Und entsprechend wird über die Kritik an einem falschen Seinsverständnis und die Unterordnung der erkennenden, auf Sein ausgehenden Einstellung unter die praktische hinaus, diese Ausrichtung auf Sein nicht generell problematisiert wie bei Levinas. Um diesen Grundunterschied in den Blick zu bekommen, war es wichtig, über das Problem der Wissensbegründung hinaus, die eigentlichen Kernprobleme des Es-gibt anknüpfend an Levinas’ Ausgangsfrage nachzuvollziehen. Die Weise, wie das Sollen mich trifft und wie es einen Ausweg eröffnet, ist bei beiden Denkern grundverschieden. Bei Fichte geht das Sollen von der einen Vernunft aus, bei Levinas vom Anderen. Bei Fichte ermöglicht es dem Menschen einen Zugang zu seiner eigentlichen Identität als Teil dieser Vernunft, bei Levinas führt es den Menschen zu seinem Eigentlichen, indem es ihn zum Anderen hin transzendiert und dabei nicht nur von sich, sondern auch aus jedem Übergreifenden, nenne man es Sein oder Vernunft, löst. Genauer beleuchtet werden diese sich hier schon andeutenden Unterschiede, wenn die eigentliche Begründung für Levinas’ Sollensauslegung nachvollzogen worden ist. Für das Thema dieser Arbeit ist noch die Frage wichtig, inwiefern sich das, was Levinas als erste Befreiung aus dem Es-gibt im leiblichen Genuss beschreibt, bei Fichte findet oder finden könnte. Zwar wird in der Bestimmung des Menschen der Schritt aus dem Zweifel nur am Glauben an das sittliche Gebot festgemacht, aber bei der weiteren Auslegung dieses Gebotes wird auch eine mögliche Weltsicht thematisiert, die sich am unmittelbaren sinnlichen Antrieb orientiert und das sittliche Gebot ausblendet. 468 Für Fichte selbst erscheint eine Welt, in der es nur darum geht, dass jede Generation ihre Triebe befriedigt und sich in neuen Generationen fortzeugt, zwar als sinnlos (B267). Er stellt es aber zugleich als durchaus möglich heraus, dass jemand lediglich am sinnlichen Trieb orientiert ist und sich auf diese Weltsicht beschränkt. Man kann so leben und entsprechend auch so denken. »Unsre Philosophie wird die Geschichte unsers eignen Herzens, und Lebens, und wie wir uns selbst finden, denken wir den Menschen überhaupt und seine Bestimmung.« (B288) In der Anwei-

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Vgl. etwa B267, 278 u. 288.

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sung beschreibt Fichte diese Lebenshaltung als den ersten Standpunkt der fünf möglichen Weltansichten und stellt hier auch einen Zusammenhang her zwischen der Genussorientierung und dem Glauben an das Materielle als des allein Wirklichen (A134 f.). Von daher wird deutlich, dass auch für ihn der Naturtrieb den Menschen zum Glauben an die Wirklichkeit der Welt und der eigenen Existenz und zu einem Glauben an einen Sinn und einen Wert führen kann, auch wenn er dies – soweit ich sehe – nicht ausdrücklich als eine Form der Befreiung aus dem beschriebenen fundamentalen Zweifel beschreibt. Eine nur vorläufige Befreiung wäre es auf jeden Fall, da für ihn im Menschen ein Streben angelegt ist, das sich nur in der Sittlichkeit befriedigt.

2.1.1.4 Die ethische Forderung als Grund des Wissens Die Beschäftigung mit der Problematik des Es-gibt, die Levinas als Hintergrund der Radikalisierung des cartesischen Zweifels benannt hat, eröffnete eine Möglichkeit, sein Denken von seinen ursprünglichen Fragestellungen und Antwortversuchen her zu verfolgen und sich sozusagen das Koordinatensystem seiner Philosophie zu vergegenwärtigen. Die Beziehung zum Anderen erwies sich für ihn als Schlüssel für verschiedene Fragen: für die heideggersche Frage nach dem ursprünglichen Bedeutungshorizont des Seins – die ethische Relation stellt dabei den Gehalt des eigentlichen Seinsereignisses und dessen inneres Ziel dar – und zugleich für die Suche nach einer Überwindung der als problematisch empfundenen Ausrichtung auf das Sein. Sie war entscheidend in der Suche nach einer Erklärung des Bezuges der Intentionalität auf die transzendente Wirklichkeit und für die Frage, wie mit dem radikalisierten cartesischen Zweifel noch das Subjekt in seiner »letztgültigen Wirklichkeit«, in seiner »Existenz als ›Ding an sich‹« (TU259) erreicht werden kann. Außerdem erwies sich die Beziehung zum Anderen als Schlüssel für die Frage nach der kritischen Essenz des Wissens und so als der letzte Aufhängungspunkt für philosophisch gerechtfertigte Aussagen. Nach der Einordnung der levinasschen Auseinandersetzung mit dem Problem der Wissensbegründung in den Gesamtduktus seines Denkens gilt es nun, auf seine Lösung dieses Problems noch einmal einzugehen. Wie verlief die bisherige Argumentation dafür, dass die ethische Forderung der Grund des Wissens ist? In welcher Form lässt sich aus der Beziehung 394

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zum Anderen das Wissen begründen? Und inwiefern ist hierbei eine Gewissheit zu finden? Rekapitulation der bisherigen Argumentation Wie schon dargestellt wurde, argumentiert Levinas für die Abhängigkeit der kritischen Essenz des Wissens von einer unmittelbaren Begegnung mit dem Anderen mit dem Hinweis, dass die Zweifelhaftigkeit des Phänomens einen Bezug über die subjektive Sphäre hinaus auf Wirklichkeit voraussetzt. Dass dazu nicht die Begegnung mit der materiellen Wirklichkeit in der leiblichen Praxis hinreicht, wird mit der Beschreibung der die Selbstbezogenheit dieser Praxis radikal transzendierenden kritischen Dimension des Wissens plausibilisiert. Auch das Scheitern des ersten Versuchs der Befreiung aus dem Esgibt im Genuss kann als Argument dafür angesehen werden. Dass jedoch überhaupt für das Wissen ein Bezug auf Anderes vonnöten ist, ist erst erwiesen, wenn gezeigt wird, dass im Selbstbezug dieser ursprüngliche Kontakt mit der Wirklichkeit über die subjektive Sphäre des Phänomens hinaus nicht stattfinden kann. Dies geschieht durch die kritische Auseinandersetzung mit dem cartesischen Cogito-Argument. Der Selbstbezug des Bewusstseins auf sich versetzt das Subjekt nicht in den Kontakt mit seiner ursprünglichen Wirklichkeit. Es bleibt aber nicht nur die Realität des Subjekts zweifelhaft, sondern die Ausrichtung auf das Sein in der Evidenz des Cogito hält es zudem in der ganzen Sinnleere des Es-gibt gefangen. Der Zweifel an der Existenz des Cogito kann für Levinas nur dadurch angehalten werden, dass sich das Subjekt in die Verantwortung gegenüber dem Anderen gestellt findet. Das weist für Levinas darauf hin, dass die Phänomenalität nicht ursprünglich im Selbstbezug, sondern im Bezug auf den Anderen durchbrochen ist. Gerade wenn man Fichtes Ansatz im Blick hat, würde sich natürlich auch noch eine andere Lösung aufdrängen: die Bezugnahme auf eine das einzelne Ich übersteigende universale Vernunft, die ja Levinas selbst auch als einen Ausweg aus dem Es-gibt thematisiert. Warum er diesen Ausweg als ungenügend verwirft, hat sich bereits angedeutet und wird unten noch ausführlich behandelt werden, wenn die Unterschiede von Levinas’ Auslegung des Verantwortlichseins zu jener Fichtes genau bestimmt werden. Hält man sich das Modell des frühen Fichte vor Augen, in dem die absolut-ichliche Instanz noch nicht unbedingt in die Richtung einer überpersönlichen Einheit ausLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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gelegt wird, dann müsste man zudem fragen, warum für Levinas das Sollen nicht aus dem Selbstbezug der Freiheit des Ich auf sich erwachsen kann – nicht als Bezug bloß des Bewusstseinssubjektes auf sich wie bei Descartes, sondern entsprechend der für Fichte allein durch ein Sollen vermittelten intellektuellen Anschauung. Der Grund für Levinas’ Zurückweisung einer solchen autonomen Konstitution des Sollens lässt sich zwar schon zum Teil in seiner Beschreibung jeder Form des bloßen Selbstbezugs des Subjekts als eines Belastetseins mit sich finden, aus dem allein eine wirkliche Transzendenzbeziehung einen Ausweg verschafft. Letztlich erklärt sie sich jedoch erst aus seiner speziellen Auslegung des Gehaltes der Verantwortung, wie sie im nächsten Kapitel nachvollzogen werden soll. Diesseits der objektiven Gewissheit Bevor die genannten Aufgaben in Angriff genommen werden, kann nun aber schon grundsätzlich geklärt werden, welchen Evidenzgrad für Levinas die Wissensbegründung, ja überhaupt die Grundlegung seiner Philosophie vom Anderen her eigentlich besitzt. Kann dieser Bezug auf den Anderen den Anspruch auf Gewissheit einlösen, wie er ausgehend von der Evidenz der objektiven Bewusstseinsgegebenheit erhoben wird? Welche Evidenz hat diese Begegnung mit dem Anderen? Infrage steht nicht das Bewusstsein des Anderen, sondern etwas Tieferes. 469 Mit diesem Bewusstsein allein verbliebe man noch im Bereich des immer zweideutigen Phänomens. Levinas fragt hier – wie dies schon als allgemeine Methodik vorgestellt wurde, anknüpfend an Husserls Analyse der Konstitutionshorizonte – nach den Bedingungen des Phänomenbereichs selbst zurück. Von vornherein ist deshalb klar, dass der Andere als eine solche Bedingung nicht in der Weise objektiv gewiss sein kann wie die Bewusstseinsgegenstände oder auch das Bewusstsein selbst, insofern es sich reflexiv vergegenwärtigt. Es ist klar, dass er »früher als Gewißheit und Ungewißheit, die allererst im Wissen entstehen« (JS362), situiert sein und die Suche nach ihm »diesseits der objektiven Gewissheit« (TU25) verlaufen muss. Müsste der Bezug auf den Anderen als Bedingung der selbst als zweifelhaft erwiesenen objektiven Gewissheit aber nicht noch gewisser sein als sie? Tatsächlich behauptet Levinas zumindest in der frühen Zeit für die Fundamente der Erkenntnis, dass sie »als vorgängige 469

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Vgl. dazu etwa TU142 f.

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und bedingende, gewisser sind als die Gewißheit, vernünftiger als die Vernunft« (PT99) – und diese Aussage behält m. E. auch später noch einen Sinn. Doch was ist über die bloße Behauptung des Bestehens einer Bedingung hinaus der unmittelbare Zugang zu ihr? Der ursprüngliche vorgegenständliche Kontakt mit dem Anderen ist für Levinas, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden wird, zugänglich in der Erfahrung eines moralischen Imperativs. Von hierher lässt sich verdeutlichen, was man sich unter einer Gewissheit, die jenseits der objektiven liegt und auf eine Art gewisser ist als sie, vorstellen kann. Das Verantwortlichsein ist für Levinas ein Phänomen, das man nicht nicht kennen und insofern man es nur als gesolltes oder gutes kennen kann, nicht auf ursprüngliche Weise nicht bejahen kann – wenngleich er natürlich die Möglichkeit sieht, seine Gültigkeit auf einer sekundären Ebene zu bezweifeln. 470 Levinas ist sehr zurückhaltend damit, für das Bestehen der Verantwortung selbst zu argumentieren. Wie sollte man auch das, was Bedingung ist für alles, selbst noch einmal irgendwoher begründen können? Er verweist vielmehr auf Phänomene, die zeigen, wie die Menschen faktisch von der Verantwortung bewegt sind, selbst wenn sie sie nicht im Blick haben oder sogar ausklammern wollen. 471 Daneben stellt er Anfragen an die Bestreitung der Verantwortung. Die Gründe, mit denen dies geschieht, etwa die These, dass jedes Wesen nur für sich sorge, können für ihn letztlich auch nur unbewiesene Voraussetzungen sein (JS260). Und sich nur an die objektiven Gewissheiten zu halten und deshalb die in der Weise unausweisbare Verantwortlichkeit zu bestreiten, ist für ihn letztlich eine willkürliche Entscheidung (JS26724 ). Dafür sei schon eine besondere Art von Dogmatismus vorausgesetzt (JS139). Zweifelhaft wird das Anstreben einer objektiven Gewissheit für Levinas auch dadurch, Vgl. unten, Anm. 597. Er weist etwa darauf hin, dass die Menschen »niemals mehr bewegt worden sind (ob zur Heiligkeit oder zur Schuld) als durch andere Menschen«, dass sie den Anderen »bis hinein in die Ununterscheidbarkeit ihrer Präsenz in der Masse eine Identität zuerkennen«, gegenüber der sie sich verantwortlich fühlen (JS139). Die Wahrnehmung des faktischen Verantwortungsgefühls sei auch nötig, um »jene tragischen oder zynischen Untertöne, allemal aber jene Heftigkeit zu verstehen, die selbst die nüchternen Beschreibungen der Humanwissenschaften noch kennzeichnet«, oder auch jenes Phänomen »der unmöglichen Indifferenz gegenüber dem Menschlichen, die selbst – und gerade – in der unentwegten Rede vom Tode Gottes, vom Ende des Menschen und vom Zerfall der Welt sich nicht verborgen halten kann« (JS141). Noch die einfachsten Zeichen der Höflichkeit zwischen den Menschen setzen für Levinas diese Bejahung der Verantwortung voraus, »selbst das bloße ›Nach Ihnen, bitte‹« (JS261). 470 471

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dass sich für ihn dahinter als Motivation ein Beherrschenwollen der Welt verbirgt (JS212). Er kann die Ungewissheit entsprechend sogar als wesentliches Moment in der Beziehung zum Anderen herausstellen und sie in ihrem Sinn erhellen. »Die Kommunikation mit dem Anderen kann nur als gefährliches Leben transzendent sein, als ein schönes Wagnis, auf das man sich einlassen muß.« (JS266 f.) Das unausweichliche Bewusstsein der Verantwortung gültig sein zu lassen, hat für ihn aber gegenüber anderen Glaubenssetzungen für sich, dass es nicht aus einer Laune heraus geschieht (JS26724 ). Deshalb kann Levinas behaupten, dass diese vorgegenständliche Beziehung zum Anderen im Sollen nicht eine bloße Meinung und in dem Sinn ein Glaube, auch nicht nur ein Fürwahrhalten lediglich aus dem praktischen Weltumgang oder einem Gefühl heraus ist (IM142). Diese Unterschiedenheit von einer bloßen Meinung stellt Levinas bis in die spätere Zeit immer wieder heraus (JS267 u. GP85). Von daher behält wohl seine positive Bezugnahme auf Kants Theorie der Postulate der praktischen Vernunft für die Charakterisierung der besonderen Weise der ›Evidenz‹ dieses vorgegenständlichen Bezuges auch für diese Zeit ihre Gültigkeit: »Es gibt Wahrheit ohne Vorstellung: ›Dieses Fürwahrhalten …[, das] dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig verschieden ist.‹« (PT100) 472 In dieser Form von ›Evidenz‹ finden wir uns für Levinas auf das ethische Sollen und darin auf den Anderen bezogen. Und in ihr ist allein eine Fundierung der Philosophie überhaupt möglich. Daneben kommt diese Evidenzform aber auch dem Selbstbezug zu, insofern dieser abhängig ist von der Beziehung zum Anderen, dem Bezug zu sich in der Einzigkeit der Verantwortung, »Einzigkeit, die, gegenläufig zu der auf sich zurückkommenden Gewißheit, aufgrund der Nichtübereinstimmung mit sich bedeutet, aufgrund der Un-Ruhe, aufgrund der Be-un-ruhigung – die keine Identität gewinnt und nicht für das Wissen erscheint« (JS135). Und ebenso auf die Erkenntnis der Leibvollzüge und des leiblichen Betroffenseins von außen, die bereits jenseits der objektiven Gewissheit der Körpervorstellung verortet wurden, überträgt sich die spezifische Weise der Gewissheit der ethischen Beziehung, insofern diese sich nur durch sie hindurch ereignen kann – hier freilich ergänzt durch eine eigene Form von Evidenz, die man, wie die Analyse des Leibbegriffs zeigen wird, als Evidenz des Mit einem Zitat aus einer französischen Ausgabe von Kants Kritik der praktischen Vernunft, das sich aber leider nicht genauer lokalisieren lässt.

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Hungers bezeichnen könnte. Zuletzt ist für Levinas ebenso die Beziehung zu Gott vermittelt über die zum Anderen. Und auch wenn er für sie noch einmal einen geringeren Grad von Evidenz beschreibt, so ist doch mit der Klärung dieser Form der Rationalität jenseits der objektiven Gewissheit schon ganz Wesentliches gewonnen für das Verständnis seiner Bestimmung der religiösen Beziehung. Dass Levinas sich eingehend mit dem Evidenzgrad der Grundlegung seiner Philosophie beschäftigt und hier das Fehlen einer objektiven Gewissheit in seiner Notwendigkeit und in seinem Sinn begründet, zeigt, welch hohen Rationalitätsanspruch er verfolgt. Dies sei eigens hervorgehoben, da verschiedene Textpassagen, vor allem jene, in denen er sich gegen das Ideal der objektiven Gewissheit wendet, leicht so verstanden werden können, als habe er sich vom Rationalitätsanspruch der Philosophie verabschiedet und rede einer Beliebigkeit das Wort, wie sie gerne mit postmodernen Ansätzen in Verbindung gebracht wird. Die hier vorgelegte Interpretation von Levinas möchte die Stärke nicht nur seiner Thesen, denen sicherlich eine eigene Faszination zukommt, sondern auch seiner Begründungen herausstellen und nachvollziehbar machen. Philosophie ist für ihn das Projekt der möglichst weitgehenden rationalen Rechtfertigung. Und er versteht sich als Philosoph. 473 Es geht ihm nicht um das Vortragen einer bloßen Meinung (TU25 f., GP85 u. 121 f.). Zwar versucht er zu zeigen, dass die Ebene der Rationalität selbst von etwas zehrt, was nicht in der Weise ausgewiesen werden kann. Was er als das Grundlegendere für die Rationalität in Anschlag bringt, ist für 473 Man muss freilich sehen, dass Levinas ›Philosophie‹ in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. Einmal im engeren Sinn als Bezeichnung für ein Projekt, das von vornherein davon ausgeht, dass das Denken die Wirklichkeit ganz umfasst, begreifen kann und die letzte Rechtfertigungsinstanz für jede Behauptung ausmacht (in dieser Bedeutung fast durchgehend in GP oder auch in TU53). – In diesem Sinne möchte Levinas nicht Philosophie treiben. – Und dann aber in einem weiteren Sinn als Projekt von rationaler Rechtfertigung überhaupt, das auch offen ist für Formen der Rechtfertigung, die über das Denken hinausgehen (so etwa in TU24 f.; JS36; EU17 sowie GP81 u. 120 in der Rede von der »philosophische[n] Würde« seines eigenen Projekts). Die Philosophie ist einerseits »dieses Maß, das dem Unendlichen des Seins-für-denAnderen der Nähe beigebracht wurde« (JS351), was immer nur »um den Preis eines Verrats« geschieht, allerdings – und dies zeigt die andere Seite – »eines Verrats, den zu reduzieren die Philosophie aufgerufen ist: die Philosophie aufgerufen, die Ambivalenz zu denken, sie in mehreren Zeiten zu denken […] – die Philosophie: Weisheit der Liebe im Dienste der Liebe« (JS353). Levinas spricht auch von zwei verschiedenen Formen von »Rationalität« und sogar »Rationalismus« (GP85).

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ihn jedoch nicht irrational (TU32). Und man müsse es in einem philosophischen Diskurs rechtfertigen, in einer Weise, in der »trotz jenes unzureichenden ›Sichergehens‹ – oder gerade deswegen –, niemandem ein Nachlassen der Aufmerksamkeit gestattet ist oder ein Mangel an gedanklicher Präzision« (JS62). Er ist zwar skeptisch gegenüber Husserls Hoffnungen, die Philosophie als eine strenge Wissenschaft etablieren zu können, wenn er festhält: »Die Philosophie ist keine strenge Wissenschaft geworden, betrieben von einem Team von Forschern und mit endgültigen Resultaten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Philosophie sich dieser Form des geistigen Lebens verschließt.« (PT81) Zu diesem Urteil kommt er aber nicht willkürlich, sondern aus guten Gründen und ausgehend davon, dass er mit Husserl bei der Analyse der Sphäre der objektiven Gewissheit einsetzt und von ihr aus transzendental zurückfragt. Als Bekenntnis zu höchsten Rationalitätsansprüchen lässt es sich auch lesen, wenn er schreibt: »In meinen Augen hat die abendländische philosophische Tradition in keinem Moment ihr Recht auf das letzte Wort verloren; denn in der Tat muss alles in ihrer Sprache ausgedrückt werden; aber vielleicht ist nicht sie der Ort des ersten Sinns der Seienden, der Ort, wo das Vernünftige beginnt.« (EU17) Für die Artikulation dieser Anfrage und die Beschreibung dieses Ortes stellt sich Levinas jedoch gerade auf ihren Boden. Vergleich mit Fichte Auch für Fichte kann der Abgrund des Zweifels nur dadurch überwunden werden, dass sich das Subjekt in eine Verantwortung gestellt sieht, also ausgehend von einem Sollen. Dieses Sollen erklärt sich zwar bei Fichte letztlich aus einem Selbstbezug des Subjekts, aber nicht aus dem Selbstbezug des Cogito, der ja für Fichte genauso nicht zu einer Gewissheit führt. Beiden gemeinsam ist auch, dass sich das wirkliche Sein hinter dem Phänomen oder der Erscheinung als Sein des personalen Subjekts ergibt. Eine große Ähnlichkeit besteht zudem im Grad oder der Art der Gewissheit bzw. Ungewissheit, die dem Sollen und damit der Grundlegung der Philosophie selbst zukommt. In der Darstellung des fichteschen Ansatzes wurde die fundamentale Rolle des Glaubensbegriffs hervorgehoben. Wenngleich sich für Fichte der Glaube auf eine Art höhere Anschauung stützt, kann diese Anschauung immer nur eine geglaubte sein. Der Glaube ist in der Erlanger Wissenschaftslehre die nie einholbare Bedingung 400

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für alle weiteren Gedankengänge. Es ist ein Glaube, der nicht bloße Meinung ist und der nicht willkürlich gefasst wird, sondern auf der Basis eines Sollens. Dieses Sollen ist bei jedem unausweichlich gegeben und in einer ursprünglichen Form immer schon bejaht, wenngleich es auf einer zweiten Ebene frei anerkannt oder bestritten werden kann. Dass sich diese eigentliche Grundlegung des Denkens nur jenseits der objektiven Gewissheit oder einer denkenden Schlussfolgerung vollziehen kann, können beide begründen. Zumindest darin kommen sie überein, wie sie es aus der Vorgegenständlichkeit und Nichtobjektivierbarkeit des eigentlichen Seins und seiner Bindung an ein Sollen erklären, wobei Fichte dann zusätzlich noch auf die notwendige Unbegreifbarkeit des höchsten Prinzips und Levinas auf die uneinholbare Anderheit des Anderen rekurriert. Auch wenn Fichte in seinem Wissenschaftlichkeitspathos und -optimismus eher Husserl nahesteht als Levinas, so ist er sich sehr deutlich bewusst, dass sich die letzten Grundlagen der Philosophie nicht demonstrieren lassen, sondern ihre Bejahung an einer Lebensentscheidung hängt und in diesem Sinne daran, »was man für ein Mensch ist«. 474 Wie sich im Folgenden zeigen wird, beginnen die eigentlichen Differenzen zwischen Fichte und Levinas erst bei der Auslegung des Sollens. Für Fichte gründet es in einer höheren Selbstanschauung des Subjekts als eines Teils einer allgemeinen Vernunft. Für Levinas in der unmittelbaren Begegnung mit dem Anderen. Von da aus entfalten sich die Unterschiede in ihren Konzepten der Beziehung des Subjekts zu sich, zum Anderen und zum Unendlichen sowie überhaupt in ihrem Verständnis des Philosophierens. Nach meiner Einschätzung könnte Levinas die transzendentale Denkbewegung Fichtes – den Überstieg über das verdinglichende Wirklichkeitsverständnis, über die Immanenz der subjektiven Sphäre, hinein in das Dunkel mit seinem Gegenüber von drohendem Abgrund und rettendem Sollen – mehr oder weniger mitvollziehen und würde sich erst in der Sollensauslegung von ihm trennen.

2.1.2 Die Auslegung des ethischen Beanspruchtseins Nachdem bis hierher relativ allgemein dargestellt wurde, wie für Levinas und für Fichte durch eine ethische Beanspruchung ein Ausweg 474

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aus einer den Menschen bedrohenden existenziellen Haltlosigkeit und Absurdität eröffnet wird, gilt es nun genauer nachzuvollziehen, wie Levinas dieses Beanspruchtsein fasst, und den zentralen Scheidepunkt zum Denken Fichtes herauszuarbeiten. Von dieser Sollensauslegung her werden dann auch die Gründe ersichtlich werden für die Differenzpunkte, die sich schon angedeutet haben.

2.1.2.1 Der Andere als Ursprung des Sollens Phänomenologische Weichenstellungen für die Auslegung des Sollens Der Weg, auf dem Levinas das Sich-gestellt-Finden in eine Verantwortung fasst, ist die Phänomenologie. Entsprechend muss er im Folgenden phänomenologisch nachvollzogen werden. Und er vollzieht sich von vornherein in einer Analyse der Beziehung zum Anderen. Diese Beschränkung wird sich letztlich erst aus dieser Analyse selbst rechtfertigen, sie lässt sich in einem ersten Schritt aber auch aus der phänomenologischen Herangehensweise verständlich machen. Es wurde schon herausgestellt, wie Levinas an Husserls Unternehmen anknüpft, die Objektivität und Allgemeingültigkeit des Wissens aus der Allgemeinheit in der Interpersonalität zu erklären. 475 Die Bedeutung der Beziehung zum Anderen in dieser Idee wird er sogar radikalisieren und dabei, wie noch zu sehen sein wird, über Husserls Interpersonalitätstheorie hinausgehen. Auch dass Levinas an Stelle der Beziehung zum Anderen nicht an einer apriorischen Universalinstanz ansetzt, erklärt sich aus seiner phänomenologischen Herangehensweise. Er hat als eines ihrer Grundcharakteristika herausgestellt, dass sie skeptisch ist gegenüber der Meinung, auf einem absoluten und universalen Standpunkt der Vernunft zu stehen, von dem aus man sich über alle eingeschränkten Perspektiven erheben kann. 476 Auch diese Vormeinung fällt mit der epoché. Alle Begriffe und Konzepte müssen sich vom Gegebenen her rechtfertigen. Das prägt Levinas’ Auslegung der Verantwortung. Auch das Sollen wird nicht wie bei Fichte auf einen solchen ursprünglichen Vernunftstandpunkt zurückgeführt. 477 Aus seiner Sollensauslegung werden sich Vgl. oben, S. 342. Vgl. oben, S. 356–358. 477 Dass diese Skepsis bei Levinas eine wichtige Rolle in der Ablehnung des Konzepts eines absoluten Vernunftstandpunkts spielt, auf dem das Subjekt mit seiner auto475 476

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dann freilich über diese phänomenologische Skepsis hinaus auch positive Gründe gegen einen solchen Standpunkt ergeben. Die sinnliche Begegnung mit dem Anderen als Ausgangspunkt und Verstehensvoraussetzung Eine weitere wichtige Weichenstellung, die vor allem im Zusammenhang unserer Thematik bedeutsam ist, erfolgt durch den Grundzug der Phänomenologie, alle Analysen vom sinnlich Begegnenden ausgehen zu lassen. Levinas selbst hebt diesen Grundzug hervor: 478 Da die Phänomenologie sich als Beschreibung des Gegebenen vollzieht, muss sie ansetzen an dem, was die Erfahrung in ihrer Fülle gibt, also am konkret sinnlich Begegnenden; und da die Rechtfertigung aller Aussagen aus der Beschreibung erfolgt, kann sie sich davon auch nicht unabhängig machen. So sehr für Levinas, wie zu sehen sein wird, die ethische Beziehung noch einmal eine ganz neue Dimension über der sinnlichen darstellt, so muss doch deren Auslegung in dieser Ausrichtung auf das Sinnliche verlaufen, als Beschreibung der Begegnung mit dem Anderen in ihrer sinnlichen Konkretheit. Insbesondere bezieht sich Levinas hierzu auf das Gesicht 479 des Anderen, in einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht, auch wenn für ihn das, was diese Begegnung wesentlich ausmacht, das Mich-Ansprechen des Anderen – Sprechen auch ohne Worte, nur in einem Blick, was Levinas auch Ausdruck nennt – nicht an das Gesicht gebunden ist: »[D]er ganze Leib, eine Hand oder eine Rundung der Schulter, können ausdrücken wie das Antlitz« (TU383; vgl. auch AU276). Dass es Levinas dabei nicht um eine genaue Deskription der sinnlichen Erscheinung des Gesichts geht und er auf einzelne sichtbare Elemente nur spärlich und dann in einem über das Sichtbare gerade hinausgehenden Sinne Bezug nimmt – etwa die Nacktheit oder nomen ethischen Erkenntnis steht, wird etwa in JS271 deutlich: »Es wird im Namen der Freiheit des Ich so argumentiert, als sei ich bei der Schöpfung der Welt dabei gewesen und als könne ich nur für eine Welt verantwortlich sein, die aus meinem freien Willen hervorgegangen ist. Philosophische Überheblichkeit; idealistische Vermutungen.« 478 Vgl. oben, S. 358. 479 Ich schließe mich bei der Übersetzung des Wortes visage mit ›Gesicht‹ Thomas Wiemer an. Er kritisiert an der gängigen Übersetzung mit ›Antlitz‹, dass sie eine so im französischen Wort nicht vorhandene »Aura der Erhabenheit« suggeriere, es spiritualisiere und seine Materialität verdecke (JS43l). In Zitaten behalte ich natürlich die Übersetzung mit ›Antlitz‹ bei. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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die faltige Haut 480 –, liegt daran, dass sich für ihn Phänomenologie weniger auf das objektiv Gegebene bezieht, als auf dessen vordergründig zumeist gar nicht bewusste Bedeutungshorizonte und die in ihnen liegenden Erfahrungen. Die Art der Auslegung dieser Horizonte unseres Bewusstseins des Anderen ist bei Levinas zutiefst geprägt von seiner von Husserl ausgehenden Beschreibung der Sinnlichkeit, wie sie bereits teilweise dargelegt wurde. Sie stellt eine weitere wichtige Verstehensvoraussetzung dar für seine Auslegung der Beziehung zum Anderen. Es fiel schon auf, wie er diese Beziehung selbst als Urimpression bezeichnen kann. 481 Das deutet darauf hin, dass er die eigene »irreduzible Intentionalität« (EU24), die er hierfür beschreiben möchte, ganz entsprechend der Intentionalität der Empfindung versteht. Und tatsächlich fasst er sie, wie im Folgenden deutlich werden wird, als eine nicht objektivierende Intentionalität, als eine, die der Vorstellung vorgängig und von ihr unabhängig ist, die Bedingung ist für die Konstitution der vorstellungshaften Gegebenheit und die bezogen ist auf ein Subjekt, das tiefer liegt als das der transzendentalen Apperzeption. Wie in der Sinnlichkeit ist sich das Subjekt in seiner ursprünglichen Betroffenheit durch die Alterität diachron entzogen. Und wie in ihr wird die Intentionalität als ein unmittelbares Sichaufhalten in der Wirklichkeit, als unmittelbares Bezogensein auf das reale Andere, und zwar als passives Betroffensein von diesem, verstanden. In ähnlicher Weise wie in der Analyse der Sinnlichkeit tastet sich Levinas phänomenologisch vor bis zur Beschreibung des Bruches der Phänomenalität; wie dort kippt auch in der Begegnung mit dem Anderen das Bewusstsein der Immanenz und des Konstituiertseins des Anderen in der Aktivität der eigenen Subjektivität in das Erleben einer Passivität, in die Erfahrung, dass der erfahrene Andere meine Sphäre transzendiert und dass ich real vom Anderen eingeschränkt und affiziert werde. Wie sich im Sinnlichen ganz andere Bedeutungsdimensionen und Intentionalitäten als die des Erkennens auftun, nämlich die der Praxis und des Erleidens, so für die Beziehung zum Anderen die Dimension des ethischen Beanspruchtseins. Die ethische Beziehung liegt sozusagen in der Verlängerung der leibli-

480 In der Nacktheit drückt sich für Levinas vor allem die Ungeschütztheit, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit des Anderen aus (TU9 u. 102 f.), sowie die ungebrochene Durchlässigkeit für den Ausdruck (TU100–102). In der faltigen Haut wird für ihn die Vergänglichkeit des Anderen spürbar (JS199 u. 203 f.). 481 Vgl. oben, S. 341 f..

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chen Beziehung. Wie sich zeigen wird, hat dieser Strukturzusammenhang ganz wesentlich damit zu tun, wie für Levinas der Leiblichkeit eine Funktion der Vermittlung für das Ethische zukommt. Für die Frage nach der Bedeutung des Leibes in der Beziehung zur Transzendenz ist dies von besonderer Wichtigkeit. Aufgrund der phänomenologischen Ausrichtung auf das sinnlich Konkrete sowie aufgrund des genannten Strukturzusammenhangs beginnt Levinas in Totalität und Unendlichkeit seine Beschreibung der Beziehungen zum Gesicht des Anderen mit einer Auslegung zuerst der rein sinnlichen Ebene, um schon von hierher zu zeigen, dass sie weit mehr ist als nur die Beziehung zu einem vorstellungshaft Gegebenen. 482 Die weitere phänomenologische Analyse arbeitet dann heraus, wie sich im leiblichen Zugriff auf den Anderen und im genießenden Sicheinverleiben des Anderen einerseits das Ethische als eine ganz neue Dimension erhebt, wie diese das Subjekt aber andererseits nur vermittels des Leiblichen betrifft. Die Infragestellung im Gesicht des Anderen Betrachtet man die Beziehung zum Anderen rein auf der leiblichen Ebene, dann stehen wir in einem Zusammenhang des Erkennens – wir sehen uns gegenseitig –, des praktischen Wirkens – ich beschränke den Anderen und der Andere beschränkt mich – wie der Selbsterhaltung und Selbsterhebung im Sichnähren und Genießen – wir sind abhängig von derselben Nahrungsquelle, ja ich kann den anderen selbst als Objekt meines Genusses betrachten. Hier ist der Andere meinem Zugriff ausgeliefert, bis hin zur Möglichkeit, ihn zu töten. Ja er stellt sogar, da ich mich als von ihm begrenzt und bedroht erlebe, eine Versuchung dar, ihn zu töten (TU386). Gerade darin deutet sich jedoch für Levinas »die Eröffnung einer neuen Dimension« (TU283) an. Er macht auf einen phänomenologischen Unterschied zwischen der Zerstörung der Dinge sowie der Jagd oder der Ausrottung von Lebewesen und der Tötung eines Menschen aufmerksam (TU284). Erst der Mord negiert den Anderen so radikal, dass er nicht zugleich noch für mich und die Befriedigung meiner Bedürfnisse bewahrt wer482 Mit diesen Überlegungen beginnt Levinas seinen dritten Teil über die ethische Beziehung zum Anderen (TU267–270). Dass der Zugang zur ethischen Beziehung über die Leiblichkeit erfolgt, erklärt auch überhaupt die Voranstellung der Analyse der Leiblichkeit im gesamten zweiten Teil.

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den kann. Denn der andere Mensch entzieht sich bei aller leiblichen Ausgesetztheit meinem Zugriff, hat seine von mir absolut unabhängige Sphäre, der gegenüber mein Können endet und die ich auch nicht durch den Mord auslöschen kann. Dies ermöglicht freilich zugleich, dass ich den Anderen nicht nur vernichten, sondern ermorden kann. »Der Andere ist das einzige Seiende, das ich kann töten wollen.« (TU284) Levinas untersucht dann weiter die Eigenart dieses Widerstandes des Anderen gegen mein Können. Es handelt sich offenbar nicht um eine übergroße Gegenkraft, denn es ist mir durchaus möglich, den Anderen zu töten. Dieser Widerstand trifft mich ohne jede Gewalt und er trifft mich sogar gerade aus der Ohnmacht des Anderen heraus. Es handelt sich um einen ethischen Widerstand, um den Widerstand, der sich mir als die zu achtende Eigensphäre des Anderen, seine Anderheit, seine Transzendenz und die darin liegende Unendlichkeit entgegenstellt, wie sie sich in seinem Gesicht ausdrückt. Der Andere setzt »mir nicht eine größere Kraft entgegen – eine Energie, die bewertbar ist und sich infolgedessen darstellt, als sei sie Teil eines Ganzen –, sondern die eigentliche Transzendenz seines Seins im Verhältnis zu diesem Ganzen; nicht irgendeinen Superlativ an Macht, sondern gerade die Unendlichkeit seiner Transzendenz. Diese Unendlichkeit, die stärker ist als der Mord, widersteht uns schon in seinem Antlitz, ist sein Antlitz, ist der ursprüngliche Ausdruck, ist das erste Wort: ›Du wirst keinen Mord begehen.‹« (TU285) Levinas fasst den Imperativ deshalb in diesem sprachlichen Ausdruck und spricht von einem »erste[n] Wort«, weil er ihn auch als Grundgeschehen der sprachlichen Kommunikation phänomenologisch erschließt. 483 Sprache als Vermittlung von inhaltstragenden Zeichen setzt für ihn immer die Beziehung zum Geber bzw. Empfänger der Zeichen voraus. Dieser hat sich mir also vor aller Vermittlung von Inhalten, auch von Inhalten über ihn selbst, in einer Unmittelbarkeit im Geschehen des Gebens und Nehmens der Sprache präsentieren müssen – auch ohne Worte, etwa in einem sprechenden Blick – in dem, was Levinas Ausdruck nennt, verstanden als unmittelbare und authentische Präsentation der Eigenwirklichkeit, mit welcher 483 Vgl. dazu etwa TU128–130, 135 f. u. 278–280. Der Rückgang von der Beziehung zu Inhalten auf die Beziehung zum Anderen im Sprachgeschehen selbst wird in JS durch die Unterscheidung von Gesagtem und Sagen prägnant zum Ausdruck gebracht (JS29–34).

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der Andere jede bloße Erscheinung von sich durchbricht. 484 Die ursprüngliche Weise, wie mich dieser Ausdruck trifft und in der er auch im Geschehen der Sprache hintergründig präsent ist, ist für Levinas die moralische Forderung. 485 Die radikale Formulierung dieser Forderung als Tötungsverbot erklärt sich dabei aus der beschriebenen äußersten Möglichkeit der Missachtung des Anderen, die den Kontext dafür abgibt, dass sie mich betrifft. Der Imperativ soll dadurch nicht eingeschränkt werden auf ein bestimmtes Gebot. Er ist in dieser Konkretion vielmehr ganz weit zu verstehen. Für Levinas enthält er zugleich die positive Verpflichtung: »›[D]u bist verantwortlich für das Leben dieses Anderen‹« (DV154). In diesem ist für ihn die ganze Verantwortlichkeit für den Anderen ausgedrückt. 486 Levinas hebt in der Beschreibung der Beziehung zum Gesicht des Anderen verschiedene Momente hervor und es ist wichtig, genau aufzuschlüsseln, welches eigentlich das zentrale Phänomen darstellt. Das Entscheidende an der Weise, wie mich der Andere betrifft, liegt nicht darin, dass er sich in seiner Transzendenz meinem physischen Vermögen entzieht, nicht darin, dass er eine für meine Erkenntnis letztlich unzugängliche Sphäre darstellt, und auch nicht umgekehrt darin, dass ich mich seinem Einfluss ausgesetzt sehe oder seinem Blick, mit dem er mich erkennend erfasst 487, so sehr mir dadurch seine Anderheit aufleuchtet und meine Vorstellung von ihm durchbrochen Zur Bedeutung der Rede vom ›Ausdruck‹ vgl. bes. TU128 u. 283–291. Vgl. TU142–144 u. JS32: »Das Sagen aber erschöpft sich nicht im Apophantischen. Die Apophansis setzt schon die Sprache voraus, die antwortet aus Verantwortung«. 486 Vgl. bes. EE14: »Das ›Du sollst nicht töten‹ oder ›Liebe deinen Nächsten‹ verbietet nicht bloß Mord als Gewalttat; es betrifft die langsamen, unsichtbaren Mordtaten durch unsere Gelüste und Laster, durch die harmlosen Grausamkeiten des unreflektierten Lebens, durch unsere Gleichgültigkeit gegen den Nächsten und den Fernsten ›bei reinem Gewissen‹, und selbst durch die hochmütige Sturheit unserer Objektivierungen und Thematisierungen, durch all jene von unserem Atomgewicht als Individuen und dem Gleichgewicht unserer sozialen Einrichtungen verursachten Ungerechtigkeiten. Die ganze Tora, mit all ihren minutiösen Bestimmungen, läßt sich in jenem ›Du sollst nicht töten‹ zusammenfassen«. 487 Vgl. dazu TU119 f.: Vom Anderen getroffen und umgewendet zu werden, »besteht nicht darin, dass ich ›mich‹ als intentionales Thema des Anderen ›erkenne‹, sondern darin, dass ich mich einer Forderung, einer Moralität unterwerfe«. Vgl. auch PI199 f. u. JS164 zur »Passivität, die sich als Ausgesetztheit nicht darauf beschränkt, dem Blick des Anderen ausgesetzt zu sein«. In JS210 f. macht Levinas darauf aufmerksam, dass die besondere Weise, in der mich das Gesicht betrifft, überhaupt nicht in Begriffen der Thematisierung, auch nicht negativ, als »ein unsichtbares Thema«, adäquat beschrieben werden kann. »Die Art und Weise, in der das Gesicht seine eigene Abwesenheit 484 485

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wird, – ja nicht einmal bloß darin, dass ich auf ihn als Geber und Empfänger von sprachlichen Äußerungen bezogen bin, sondern allein in dem Imperativ, der mich im Hintergrund anhält, ihn als solchen zu achten. Als zentrales Phänomen arbeitet Levinas immer wieder den moralischen Imperativ heraus, und zwar bezogen auf die vormoralische Situation – meinen achtlosen Übergriff auf den Anderen –, in der er mich trifft. Durch ihn »wird die Naivität des direkten Elans, die Naivität des Seienden, das sich wie eine Naturkraft ergeht, von Scham ob ihrer Naivität ergriffen. Sie entdeckt sich in ihrer Gewalttätigkeit« (TU248 488). Dieses Ergriffenwerden beschreibt Levinas hier als »Scham« (vgl. auch TU115 f.) – manchmal auch als einen »Schock« (TU50 u. SpA219) oder als »Furcht«, den Anderen zu überrollen und zu töten (DV155, 161 u. EU93 f.). Indem Levinas die Begegnung mit dem Anderen ausgehend von diesen Gefühlen der Furcht, der Scham und eines ethischen Schocks beschreibt, kann er deutlich machen, wie die ursprüngliche Beziehung zum vom Anderen ausgehenden Imperativ nicht die Struktur der Intentionalität der Erkenntnis hat. Sie ist »keine theoretische Betrachtung. Sie vollzieht sich als Scham; in der Scham entdeckt die Freiheit ihren mörderischen Charakter, der in ihrer Ausübung selbst liegt. […] Die Scham hat nicht die Struktur des Bewusstseins und der Helle, sondern hat eine umgekehrte Orientierung. Ihr Subjekt ist außerhalb von mir. Die Rede und das Begehren, in denen der Andere als Gesprächspartner gegenwärtig ist, als derjenige, dem gegenüber ich nicht können kann, den ich nicht töten kann, bedingen diese Scham« (TU115 f.). In der Scham und dem darin auftauchenden Imperativ ist die besondere Weise des der Vorstellung vorgängigen gelebten und erlebten Bezuges zum Anderen zugänglich. Man kann Levinas hier in der Nachfolge von Heidegger sehen, dessen Methode, in Gefühlen oder Stimmungen eine vorgegenständliche Intentionalität aufzuweisen, er als wichtigen Anstoß für seine eigene philosophische Entwicklung ausdrücklich würdigt (EU29 f.). In ähnlicher Weise wie Heidegger etwa das Gefühl der Angst auf eine ursprüngliche und vorgegenständliche intentionale Bezogenheit auf das Nichts hin gedeutet hat, legt Levinas das im Horizont des Bewusstseins des Anderen phänomenologisch erschlossene Gefühl der Scham auf eine Beziehung unter meiner Verantwortung anzeigt, erfordert eine Beschreibung, die allein in der ethischen Sprache treffend zum Ausdruck kommt.« 488 Ähnlich etwa auch U111–113 u. PI198–200.

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zum Anderen hin aus. Gefühle sind Weisen des nichtgegenständlichen Erlebens. Ja vielleicht führt es sogar in die falsche Richtung, die Scham ein Gefühl zu nennen, ist sie doch zunächst einmal eine Verhaltensweise, die auf eine bestimmte Affektion antwortet. In der Scham und im moralischen Zurückschrecken liegt eine Form der Achtung der Exteriorität des Anderen, die vorgängig ist zu einem Bewusstsein von dieser Exteriorität. Das bloße Bewusstsein der Transzendenz des Anderen, etwa in der Erfahrung des Angeblicktwerdens, erschließt nicht adäquat die Beziehung zu ihm. Die Exteriorität des Anderen ist allein zugänglich im moralischen Imperativ. Hier besteht eine ursprüngliche Unmittelbarkeit zu ihr, hier trifft sie unmittelbar, vor jeder Sinngebung, vor jeder Vermittlung durch eine Konstitutionsleistung des Subjekts. 489 Wir können auf den Anderen in seiner Anderheit nur adäquat bezogen sein, wenn wir ihn darin ursprünglich achten und uns zu dieser Achtung aufgefordert finden. Sonst hätten wir »keinen Zugang, zum äußeren Sein, zu dem, was absolut uneinverleibbar und unbesitzbar ist, zu der Dimension, wo unsere Freiheit auf ihren ichlichen Imperialismus verzichtet« (PI199 f.). Für Levinas liegt im Bewusstsein der Transzendenz und Unzugänglichkeit des Anderen zudem immer ein Widerspruch, indem es dem, was es behauptet, von vornherein nicht gerecht werden kann. Der ursprüngliche Zugang zur Exteriorität muss also anderswo liegen, im moralischen Beanspruchtsein. Und nur die ethische Sprache, die Beschreibung des Sollens, kann für Levinas den Widerspruch aufwiegen, in den die phänomenologische Beschreibung des Bewusstseins des Anderen gerät (JS211 f.35 , 268 f. u. BS211). Levinas geht dabei vom Bewusstsein aber nicht nur auf eine ethische Praxis zurück. Zusätzlich zur Vorgegenständlichkeit und zum Nichttheoretischen ist für Levinas wichtig, dass diese Achtung eine Antwort, eine Reaktion auf ein passives Getroffensein darstellt. Es fällt auf, dass er das ursprüngliche ethische Phänomen ausgehend von den genannten negativen Gefühlen als ein Zurückschrecken beschreibt und nicht als eine Bewegung des Begehrens, als welche er sonst durchaus das Verhältnis zum Anderen bestimmen kann. 490 Er versteht zwar unter dem, was er

489 Diese Unmittelbarkeit findet sich besonders in TU65 ausgedrückt. Vgl. auch etwa SN281: »Was unmittelbar einen Sinn hat, bevor er ihm verliehen wird, genau das ist der Nächste.« Die Unmittelbarkeit bedeutet natürlich bei Levinas nie eine Identität oder eine Verschmelzung. 490 Zum Begriff des Begehrens vgl. unten, S. 424–427.

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Begehren nennt, letztlich nicht ein von mir ausgehendes Streben, sondern eines, das erst durch den Anderen in mich gesetzt wird, aber das ist mit dem Phänomen eines Begehrens zumindest zunächst einmal nicht konnotiert und es eignet sich deshalb nicht gut dazu, eine Passivität aufzuweisen. Der ursprünglichen Transzendenz zum Anderen wird man weder gerecht, wenn man sie als Bewusstsein, noch wenn man sie als Streben oder Praxis bestimmt. Levinas beschreibt nicht nur, dass ein Imperativ vom Anderen ausgeht, sondern er beschreibt auch sozusagen die Qualität des Anderen, die ihn für mich ein Imperativ sein lässt. Er ist hier sehr zurückhaltend, da in jeder solchen Beschreibung die Gefahr liegt, die Transzendenz zu verletzen. Er benennt diese Transzendenz des Anderen aber etwa als »seine Eminenz, seine Erhabenheit, seine Herrlichkeit« (TU105). Damit ist nicht nur die radikale Exteriorität ausgedrückt, auch nicht nur der Niveauunterschied der Asymmetrie, der im folgenden Abschnitt behandelt wird, sondern eine Qualität des Erhabenen. Das verwendete Wort gloire bedeutet Ruhm, Ehre und Herrlichkeit. Als gängige Übersetzung des hebräischen Wortes für die Herrlichkeit Gottes (kavod) ist es zugleich religiös konnotiert. Das passt dazu, wie Levinas – das wird noch ausführlich thematisiert werden – die Transzendenz des Anderen mit der des Unendlichen verbunden sieht. 491 Entsprechend redet er gleichermaßen von der Heiligkeit Gottes und der Heiligkeit des Anderen – eine weitere Bestimmung der ›Qualität‹ des Anderen. Zunächst einmal meint Levinas mit ›Heiligkeit‹ die »ethische Unverletzlichkeit des Anderen« (TU279), meint die Achtungswürdigkeit und uneinholbare Getrenntheit. 492 Das Wort konnotiert aber ebenso eine Art Erhabenheit, und zwar im Sinn einer moralischen Vollkommenheit. 493 Wie noch gezeigt wird, ist das Grundphänomen, an dem Levinas das Verhältnis zum Unendlichen festmacht, die Bezogenheit auf eine Vollkommenheit im Sinn einer reinen ethischen Güte. 494 Das, was mich, jenseits aller von mir gesetzten Anschauung, vom Unendlichen wie vom exterioren Anderen her betrifft, die »Bedeutung, die nicht auf Intuition zurückgeführt werden kann, hat ihr Maß am Begehren, an der Moral 491 Vgl. v. a. unten, S. 457–462, aber auch den ganzen ersten Teil zu Levinas’ Religionsphilosophie S. 522–553. 492 Vgl. etwa TU421; GP105 u. JS41; in TU105 wird das Wort für die Getrenntheit und Transzendenz des Unendlichen verwendet (vgl. auch GP107). 493 Vgl. GP114 sowie JS139 u. 312. 494 Vgl. unten, S. 526–528.

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und an der Güte« (TU431). 495 Diese Güte ist das, wodurch mich der Andere infrage stellt, und zwar für Levinas offenbar als etwas, was mit dem Anderen nicht nur dadurch verbunden ist, dass er mir in der Spur des Unendlichen begegnet, sondern was ihm selbst eigen ist, ja was erst verständlich werden lässt, wie er sich in der Spur des Unendlichen bewegen kann. In der Konfrontation mit der Infragestellung ist der Andere für Levinas »Meister«. 496 Er drückt damit nicht nur das Von-außen-Kommen der ethischen Bedeutung und nicht nur den Niveauunterschied der Asymmetrie aus, sondern eine Art Vorbildfunktion des Anderen. Im Anderen ereignet sich schon Güte, er ist schon Meister in ihr und kann sie auf diese Weise von mir fordern. 497 Indem er mich infrage stellt ganz unabhängig von seinem faktischen moralischen Verhalten, muss es freilich eine Ebene von Moralität sein, die vorgängig ist zu seiner freien Zustimmung zu ihr. Was für eine Güte meint hier Levinas? Um zu verstehen, um welches Phänomen es ihm geht, kann es hilfreich sein zu betrachten, wie er den Unterschied von tierischem und menschlichem Blick beschreibt. Auf eine Art hat für ihn das Tier ein Gesicht und blickt uns an; jedoch in einer Weise, dass es »in seiner animalischen Stumpfheit noch nicht zu sich gekommen ist« und so seinem Ausdruck nicht selbst als der »Herr des Sinnes, der von ihm ausgeht« beisteht (PI199). Der Blick des Menschen beinhaltet also offenbar für ihn die Wachheit des Wissens um sich und in dem Sinn die Herrschaft über den Ausdruck seiner selbst. Zum einen zeigt diese Bestimmung der Differenz zur Begegnung mit einem Tier noch einmal deutlich, dass für Levinas der 495 Vgl. auch die Aussage über den Anderen: Es »muß mir sein Blick aus einer Dimension des Ideals kommen. Der Andere muß Gott näher sein als Ich« (PI200). 496 Vgl. v. a. TU93 f. u. 142–144. In TU103 wird die Meisterschaft mit der »Erhabenheit« zusammengebracht, in TU144 mit der »Herrlichkeit«. In TU118 f. ist die Rede von der Meisterschaft der »Idee des Unendlichen oder Vollkommenen« und in TU248 f. umgekehrt von der »Dimension des Unendlichen, […] der Erhabenheit im Antlitz des Meisters« oder der Meisterschaft des Anderen als »Gegenwart des Unendlichen«. In TU144 ist die Rede vom »Meister, der über mich urteilt«. Bezeichnend ist, wie Levinas in TU350 auch die ethische Haltung des Duldens im Ich als dessen Meisterschaft bezeichnet. Meister ist offenbar nur der, in dem sich selbst Ethik ereignet. 497 Vgl. TU308: »[E]r verbindet mich mit sich im Dienst, er befiehlt mir wie ein Meister«. In dieser Meisterschaft, in welcher der Andere einem Anderen schon »dient« (TU308), ist für Levinas dann auch die Gegenwart des Dritten im Anderen begründet (vgl. dazu S. 432–434). Eine solche ursprüngliche Form von Dienst findet sich m. E. auch in TU136 ausgedrückt, hier aber noch auf das Subjekt bezogen (vgl. dazu unten, S. 771 f.).

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vom Anderen ausgehende Imperativ durchaus mit einer Qualität des Anderen verbunden ist. Nicht aus jeder Art von Exteriorität erwächst für ihn ein Imperativ. 498 Zum anderen legt sich von hierher die Interpretation nahe, das, was Levinas als Meisterschaft des Anderen beschreibt, als dessen ursprüngliches ethisches Bewusstsein, vor jedem freien Sich-dazu-Verhalten, zu verstehen und in diesem Sinne als ein ursprüngliches Ereignis von Ethik. Der Blick des Anderen fordert, er appelliert an die Güte und bezieht sich insofern auf sie. Und in dieser Bezugnahme ist die Güte auf eine Weise in ihrer Vollkommenheit präsent. In diesem Sinne ist es m. E. nachvollziehbar, wie Levinas von der Heiligkeit des Anderen sprechen und damit verständlich machen kann, auf welche Weise der Imperativ von ihm ausgeht und wie er ein Begehren in mich setzen kann. 499 Verbunden werden muss diese Interpretation freilich mit der im folgenden Abschnitt thematisierten Asymmetrie, der Vorgängigkeit meiner Verantwortung vor jeder Zuschreibung einer Verantwortung an den Anderen. Es kann sich bei 498 Offen bleibt bei Levinas – soweit ich sehe –, wie er den Blick eines Kindes beschreiben würde. Ein Unterschied zum Tier ergäbe sich m. E. dadurch, dass mich im Kind zumindest die Möglichkeit dieses ethischen Bewusstseins anblickt, welche von der ganzen auf mich gerichteten kommunikativen Orientierung des Kindes her auch schon auf eine Weise in die Richtung ihrer Realisierung drängt. Dadurch, dass Levinas den Imperativ an eine Qualität des Anderen rückbindet, gibt seine Phänomenologie jedenfalls zumindest grundsätzliche Anhaltspunkte zur Klärung der Frage, von welchem Wesen aus uns was für Pflichten erwachsen, und bleibt nicht völlig hilflos gegenüber solchen konkreteren ethischen Fragen. Man kann auch sagen, er beschreibt Kriterien zur Unterscheidung von zu Recht und zu Unrecht ethisch fordernder Transzendenz. Deutlich wird dies auch an seiner Unterscheidung zwischen dem Es-gibt und dem Unendlichen oder dem Anderen (vgl. unten, S. 587 f.). Von daher trifft die Kritik Georg Schwinds, Levinas arbeite keine Kriterien für den Ausweis eines geschichtlich Begegnenden als zu Recht unbedingt Fordernden heraus (2000, 315, 317 u. 323), m. E. nicht zu (– und ähnlich auch nicht folgende Kritik von Thomas Pröpper an Autoren, unter die er offenbar auch Levinas zählt, die sich gegen das Autonomieprinzip richten: Sie glauben, die Anderheit des Anderen »achten und von ihr reden zu müssen, ohne überhaupt noch etwas Bestimmtes zu denken« [2011, 709 f.]). Auch konnte durch die Darstellung der levinasschen Suche nach dem Grund des Wissens gezeigt werden, wie er diese Kriterien nicht durch die bloße Beschreibung irgendeiner begegnenden Forderung, sondern durchaus durch eine transzendentale Rückfrage nach den letzten Fundamenten unserer Zustimmung erhellt (gegen Schwind, 2000, 323 f.). Von einer beim Subjekt als letztem transzendentalem Fundament stehen bleibenden Rückfrage unterscheidet er sich freilich, indem er dieses Fundament in einer Heteronomie des Unendlichen und des Anderen, von der die Autonomie lebt, ausmacht. 499 In PI207 spricht Levinas von der »Anziehungskraft und der unendlichen Erhabenheit« des Anderen, durch die er das Begehren weckt.

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dieser Heiligkeit nicht um eine Verantwortlichkeit des Anderen handeln, die ihm von mir zugeschrieben wird und in der ich von ihm etwas fordern würde, sondern nur um die Heiligkeit, in der er mich vorgängig dazu betrifft. Indem Levinas so etwas beschreibt, macht er aber deutlich, dass von ihm trotz der Asymmetrie der Andere von vornherein als Wesen der Verantwortung, als Wesen auf der Höhe der ethischen Bedeutung ernst genommen wird. Asymmetrisches Betroffensein durch den transzendenten und exterioren Anderen Bisher wurde nachvollzogen, wie es Levinas ausgehend von einer Radikalisierung der husserlschen Phänomenologie der Empfindung sowie von Heideggers Erschließung vorgegenständlicher Intentionalitäten möglich ist, die Beziehung zum Anderen als ein unmittelbares Bezogensein auf ihn in seiner transzendenten Anderheit zu fassen. Die Frage ist jedoch, warum Levinas davon ausgeht, dass man sie solcherart fassen muss – oder, wie man aufgrund der Vorgängigkeit zur objektiven Gewissheit besser sagen müsste: soll. Erst die Beschäftigung mit dieser Frage wird uns die eigentliche Sinnspitze seiner Sollensauslegung verdeutlichen. Sie stellt sich besonders vor dem Hintergrund der husserlschen Analyse der Beziehung zum Anderen – zumindest wie sie in den Cartesianischen Meditationen, einem der Hauptbezugspunkte für Levinas, greifbar wird. Für Husserl setzt zwar die Konstitution des Bewusstseins des Anderen ein passives Affiziertwerden durch ihn auf der Ebene der sinnlichen Empfindung voraus; dass ich den Anderen jedoch als anderes Subjekt ansehe, ergibt sich für Husserl nicht aus einem ursprünglichen unmittelbaren Kontakt zu ihm in seiner Anderheit, sondern aus einer Übertragung der primordialen Selbstwahrnehmung als leibliches Subjekt in die sinnliche Empfindung der körperlichen Erscheinung des Anderen, als »analogische Apperzeption« dieses Körpers in der Form einer »Paarung« und als »Einfühlung«, und zwar in einer Synthesis, die zu jeder von mir aktiv vollzogenen Synthesis vorgängig ist. 500 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Könnte nicht genauso gut auf diese Weise mit Husserl rekonstruiert werden, wie es zum Bewusstsein des Anderen kommt, ja sogar, wie es zu einem dem objektiven Bewusstsein vorgängigen gefühlshaften Gewahrwerden der zu 500

Vgl. dazu bes. Hua I, § 50–54.

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achtenden Anderheit des Anderen und einer spontanen Form des Vollzuges der Achtung kommen kann, nämlich aus einer in passiver Synthesis konstituierten Übertragung des Erlebens meiner selbst als eines zu achtenden Subjekts? Diese Anfrage in Richtung Levinas ist hier auch von Belang, weil dies in etwa 501 der Weg ist, den auch Fichte einschlägt. Wenn Levinas das Gesicht bestimmt als die »Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet« (TU63), dann geht es ihm um mehr als Husserl, für den zum von uns konstituierten Bewusstsein des Anderen auch gehört, dass der Andere eine für mich niemals einsehbare Sphäre für sich darstellt. Es geht Levinas darum, dass auch dieser ganz leere und offene Begriff einer für-sich-seienden und achtungswürdigen Monade, wie ich ihn von mir aus fasse, wie ich ihn übertrage und mich so auf den Anderen intentional beziehe, für diesen inadäquat ist. 502 Die Inadäquatheit liegt jedoch nicht im Begriffsinhalt. Levinas kann sagen, »der Begriff des Anderen hat keinerlei neuen Inhalt im Vergleich zum Begriff des Ich« (TU382). Levinas kann auch denselben Begriff der Freiheit für mich und den Anderen verwenden und aus dieser Freiheit dessen Exteriorität und Entzogenheit erklären. 503 Die Inadäquatheit liegt letzt501 Der Unterschied würde v. a. darin liegen, dass bei Fichte das der Übertragung zugrunde liegende Selbstverstehen über Husserl hinaus ein Verstehen eines Universalen darstellt. 502 Für Levinas – sich auf husserlsche Begriffe beziehend – »überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß und nach dem Maß ihres ideatum ist – die adäquate Idee« (TU63). 503 Vgl. TU100: »Die Fremdheit des Anderen, das ist seine eigentliche Freiheit. Nur freie Wesen können einander fremd sein. Gerade die Freiheit, die ihr ›Gemeinsames‹ ist, trennt sie.« Die Freiheit allein macht aber nicht die eigentliche ethische Transzendenz des Anderen aus, sondern nur die asymmetrische Höhe oder Überlegenheit des Anderen. »Der Andere ist nicht deswegen transzendent, weil er wie ich frei wäre. Im Gegenteil besteht seine Freiheit in einer Überlegenheit, die ihm gerade aus seiner Transzendenz zukommt.« (TU120) »Der Andere ist keine andere, ebenso willkürliche Freiheit wie meine; denn sonst würde sie sogleich aus dem Unendlichen, das mich von dem Anderen trennt, heraustreten, um sich demselben Begriff zu unterwerfen. Seine Andersheit manifestiert sich in einer Meisterschaft« (TU248). Zwar wäre Thomas Pröpper zuzustimmen, dass die autonome »Selbstverpflichtung der Freiheit die Anerkennung des Anderen in der Unbedingtheit seiner Freiheit und somit auch die Freilassung in seine ursprüngliche Andersheit fordert« (2011, 709), dass ein autonomer Ansatz also das Phänomen der Anerkennung der in keiner Weise mehr funktionalisierten Anderheit des Anderen rekonstruieren kann; nicht jedoch – und darauf ist aufmerksam zu machen, insofern sich Pröpper in dem Zusammenhang auf Levinas bezieht – würde die spezifische Anerkennung der Anderheit des Anderen erreicht

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lich auch nicht darin, dass ich überhaupt einen Begriff des Anderen fasse – das Problem der Objektivierung, mit welcher der Begriff eines Ich einhergeht, könnte ja überwunden werden im Rekurs auf ein vorgegenständliches Verstehen von Ich. Die Inadäquatheit liegt vielmehr in der Gleichordnung der Termini, in ihrer symmetrischen Behandlung. Das Überschrittenwerden meines Bewusstseins des Anderen, »das nicht auf ein Bild des Überschreitens zurückgeführt werden kann, ereignet sich […] als die moralische Asymmetrie zwischen mir und dem Anderen« (TU430). Der entscheidende Grund für Levinas, über das beschriebene husserlsche Konzept hinauszugehen, ist, dass für ihn dieser Imperativ ursprünglich nur mich betrifft, ohne dass er symmetrisch zugleich für den Anderen gelten und ich selbst als zu achtender präsentiert würde. Das weist darauf hin, dass keineswegs dieser Imperativ ausgehend von einer Erfahrung meiner selbst als eines zu achtenden, werthaften Subjekts in die sinnliche Erfahrung des Andern hineingedacht wird, denn dann müsste der Imperativ ja ganz parallel und symmetrisch zu einem Imperativ bestehen, der dazu auffordert, mich zu achten. Die Asymmetrie weist darauf hin, dass dieser Imperativ direkt vom Anderen kommt, in einer Beziehung, die so gedacht wird wie die leibliche Passivität, nur jetzt als ethische Beziehung zum Anderen in seiner Anderheit. Die Infragestellung durch sie trifft mich vorgängig zu meiner Sinngebung, ich empfange etwas, was ich aus mir nicht haben kann (TU65). Wenn Levinas die Beziehung des getrennten Ich zum transzendenten Anderen in dieser Passivität beschreibt, so ist dies für ihn »nicht eine Eventualität, die nur Abstraktionskünstlern in den Kopf käme. Sie drängt sich der Betrachtung im Namen einer konkreten moralischen Erfahrung auf: Was ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom Anderen zu fordern das Recht habe, nicht verglichen werden.« (TU67 504) Es ist dies nicht die Erfahrung eines allgemeinen Gesetzes der asymmetrischen Beanspruchung. Sie könnte man dann eventuell auf ein ursprüngliches Erleben einer über mich hinausgreifenden universalen Instanz, in der dieses Gesetz liegen würde, zurückführen. werden, um die es Levinas geht und zu der auch der asymmetrische Vorrang des Anderen gehört. 504 Die Evidenz dieser Asymmetrie hebt Levinas ähnlich auch in PI200 hervor: Er schreibt, dass sie »gewiß nicht eine philosophische Erfindung ist, sondern die erste Gegebenheit des moralischen Bewußtseins, das man bestimmen könnte als das Bewußtsein des Vorrangs des Anderen vor mir. Wohlverstandene Gerechtigkeit beginnt beim Anderen.« Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Es ist für Levinas vielmehr eine Erfahrung innerhalb meiner unaufhebbaren Perspektivität, in der ich diese Asymmetrie ursprünglich nur für mich aussagen und nicht wie ein allgemeines ethisches Gesetz auf Andere übertragen kann. Aus der Einbindung in meine Perspektive folgt ebenso, dass ich über den Anderen auch nicht das Urteil fällen kann, er habe keine Verantwortung. Nicht das liegt für Levinas in der moralischen Erfahrung der Asymmetrie, sondern vielmehr die Unmöglichkeit, den Anderen auf seine Verantwortlichkeit hin zu beurteilen. »Was der Andere für mich tun kann, ist seine Sache.« (FA120) Insofern bedeutet diese Asymmetrie der Verpflichtung auch keine paternalistische Entmündigung des Anderen. Wenn Levinas das Phänomen des Imperativs im Gesicht des Anderen herausarbeitet, dann als Imperativ, der zuerst allein mich trifft. 505 Dies ist das wesentliche Charakteristikum des Sollens bei ihm. »Die Disproportion zwischen Anderem und Ich ist exakt das moralische Bewusstsein.« (U111) Levinas beschreibt die Asymmetrie auch als ein Gefälle der »Meisterschaft«, aus welchem der Andere mich als Schüler »unterweist« 506, und als »Höhe« des Anderen 507, aus der heraus er mich verpflichtet, oder als »Herrlichkeit« des Anderen. 508 Sie ist für ihn, wie schon beschrieben wurde, verbunden mit der idealen Dimension des Unendlichen und er kann deshalb die Höhe des Anderen und die Asymmetrie auch mit dem Satz ausdrücken: »Der Andere muß Gott näher sein als Ich.« (PI200) In dieser Form ist der ethische Imperativ das Ausgangsphänomen von Levinas. Über das Phänomen der Asymmetrie sagt er: »Keine Zeile von dem, was ich schreibe, hat mehr Bestand, wenn es das nicht gibt.« (FA116) 505 Besonders hervorgehoben ist das etwa in TU119 f. u. PI200. In JS führt Levinas ausgehend von der Besessenheit zum Begriff des Gesichts (JS199 und davor), und er erklärt die Besessenheit als wesentlich charakterisiert durch die Unumkehrbarkeit der Richtung, die Asymmetrie (JS187–192). 506 TU247 f.; vgl. etwa auch TU64 u. 93 f. 507 Vgl. etwa TU89, 120 u. 430. 508 Vgl. TU144, wo mit dem Wort genau das Gefälle der Asymmetrie ausgedrückt wird, oder TU104 f., wo es die Erhabenheit und Transzendenz des Anderen meint, in der dieses Gefälle gründet. Später verwendet Levinas das Wort gloire v. a. für das Ereignis der Transzendenz des Unendlichen (vgl. unten, S. 539 f.), aber teilweise auch noch für die Beziehung zum Anderen (VE254 u. 261). Die religiöse Konnotation dürfte, da mit gloire traditionell das hebräische Wort für die Herrlichkeit im Sinne des Lichtglanzes Gottes übersetzt wird, auch in TU schon mitschwingen. Daneben klingt wie beim Wort ›Meisterschaft‹ die Konnotation einer ethischen Vollkommenheit an (vgl. S. 410–413).

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Auf diese Weise legt Levinas die Gründe für seinen Ansatz, dessen Kernstück das von da aus beschriebene rein passive In-Frage-gestellt-Sein durch den Anderen darstellt, offen und zeigt, was man bejahen muss, um ihn als gültig anzusehen. In der Asymmetrie liegt also der Grund dafür, dass sich Levinas genötigt sieht, über Husserls Interpersonalitätskonzept hinauszugehen und die Bezogenheit auf den Anderen in seiner zu achtenden Anderheit nicht aus einer an die sinnliche Empfindung des Anderen anknüpfenden Konstitutionsleistung zu erklären, sondern aus einem passiven Betroffensein durch ihn. Es geht Levinas in dieser Abgrenzung von Husserl nicht darum, die subjektive Konstituiertheit des Bewusstseins des Anderen zu bestreiten. Er wendet sich nicht einmal dagegen, dass in dieser Konstitution Übertragungen der Selbsterfahrung eine gewisse Rolle spielen. 509 Sondern es geht ihm darum, eine dieser Konstitution noch einmal vorgängige Bedingung auszuweisen, die Beziehung zum Anderen, und diese scharf vom konstituierten Bewusstsein des Anderen zu unterscheiden. 510 Diese Beziehung versteht Levinas in der Weise, wie er anknüpfend an Husserls Empfindungsanalysen die leibliche Passivität gefasst hat. Er geht also auch in diesem Punkt mit Husserl über Husserl hinaus. Die Beziehung zum Anderen in seiner zu achtenden Anderheit ereignet sich wie die Beziehung zu dem, was mich leiblich bedingt, vorgegenständlich und in einer »unvordenklichen Vergangenheit […]: die niemals Gegenwart war, die in keiner Freiheit begonnen hat« (JS198 f.). Sie ist nicht von mir konstituiert, sondern ich bin hier passiv von etwas be509 Es finden sich Aussagen, in denen Levinas selbst offenbar von einer Vermittlung des Verstehens des Anderen durch ein Selbstverstehen ausgeht (vgl. dazu unten, S. 766–768). Sie betreffen meiner Interpretation nach jedoch nur ein Verstehen des Anderen, das über das ursprüngliche Betroffensein durch die zu achtende Anderheit des Anderen hinausgeht. 510 Vgl. hierzu v. a. TU90, wo sich Levinas gegen die Verschleierung des Unterschiedes von Objektkonstitution und Beziehung zum Anderen wendet und letztere als Bedingung dafür ins Spiel bringt, dass in der primordialen Sphäre überhaupt ein Bewusstsein des Anderen konstituiert wird und Phänomene des Bruches ihrer Immanenz auftauchen. Dass es ihm um die Erhellung von etwas der Einfühlung radikal Vorgängigem und ihr erst ihren eigentlichen Sinn Verleihenden geht, macht er auch in JS280 u. 319 f. deutlich. Vgl. auch, wie er sich in JS274 f. gegen das Modell einer »Selbstaffektion eines souveränen Ich« richtet, das dann nachträglich dazu Mitleid mit dem Anderen empfinden würde. In ähnlicher Weise wendet sich Levinas gegen Heidegger, insofern für diesen eine Affektion durch den Anderen nur möglich ist auf der Basis eines vorgängigen Seinsverstehens (OF108–113).

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troffen. Sie entstammt auch nicht einer passiven Synthesis im Sinne Husserls. 511 Sie geht auf keinerlei Syntheseleistung des Subjekts zurück. Wenn Levinas die Beziehung zum Anderen vor dem Bewusstsein des Anderen und vor der Helle des Erscheinens verortet 512 und wenn er sie, wie dies beschrieben wurde, ausgehend von der Scham und einem ethischen Zurückschrecken von der Intentionalität des Erkennens unterscheidet, bedeutet dies nicht eine Reduktion auf etwas bloß Subjektives, sondern es vollzieht sich für ihn darin eine Beziehung zum realen Anderen (PI200). Das, was sich als »moralisches Bewusstsein«, als Gewissen, zeigt, »vollzieht die Metaphysik, wenn immer die Metaphysik in der Transzendenz besteht« (TU382). Indem sich in ihr das ereignet, was das Erkennen zu wirklichem Erkennen macht und was ihm zugrunde liegt, kann Levinas deshalb auch sagen: Diese Beziehung »verdient den Namen der Erfahrung, der Beziehung zum Äußeren« und hat »mehr Erkenntnischarakter als die Erkenntnis selbst, und alle Objektivität muß an ihr teilhaben« (PI200). Letztlich ist sie aber selbst nicht schon Erkenntnis. Erkenntnis wäre immer bereits etwas von mir autonom Gesetztes. Und sie lässt sich auch nicht von der Erkenntnis her, als deren Vorform oder etwas Ähnliches, verstehen. Auf ihrer ursprünglichen Ebene fasst Levinas die Beziehung zum Anderen vielmehr als eine Weise des Existierens. Sie »kommt nicht als Leistung eines sinnverleihenden Ich zustande. Man muss schon für den Anderen sein – muss existieren und nicht nur leisten –, damit das Phänomen des Sinnes, soweit es der Intention eines Denkens korrelativ ist, auftauchen kann. Für-den-Anderen-sein soll nicht irgend eine Finalität suggerieren; es impliziert nicht die vorherige Setzung oder Wertung eines Wertes ich weiß nicht welcher Art. Für den Anderen sein heißt – gut sein. […] Der Umstand, dass

511 Wenn Levinas selbst den Begriff der passiven Synthesis manchmal positiv verwendet – meistens für die diachrone Zeitlichkeit (JS124; BW59; SV92 f. u. SN270 f.), manchmal aber auch für die Vorladung des in der Verantwortung Einzigen durch den Anderen (JS127) –, dann bedeutet dies nicht, dass er ihn im Sinne Husserls aufgreift. Er wendet sich ja ausdrücklich gegen die Konzipierung der Interpersonalbeziehung als Einfühlung oder Paarung (vgl. oben, Anm. 510), welche für Husserl Formen der passiven Synthesis darstellen (vgl. Hua I, § 51; zum Begriff der passiven Synthesis generell und in der besonderen Form der Assoziation vgl. § 38 f.). 512 In JS70 etwa hebt Levinas deutlich hervor, dass mich der Andere »in Beschlag nimmt vor jedem In-Erscheinung-Treten des Anderen«.

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ich in der Existenz für den Anderen anders existiere als in der Existenz für mich – macht die eigentliche Moralität aus.« (TU382) Wenn Levinas diese Beziehung als »gut sein« und als moralisches Existieren beschreibt, wird außerdem deutlich, dass er sie nicht als bloßes Betroffensein durch einen Imperativ versteht, sondern zugleich als eine gewisse Realisierung des Geforderten. Dieses Gutsein geht zwar ursprünglich, obgleich es natürlich mein Gutsein ist, nicht von mir aus, sondern von der Infragestellung durch den Anderen, in der ich rein passiv bin. Damit diese aber bei mir ankommt, muss sie für Levinas eine Antwort in Form eines ethischen Existierens hervorrufen. Und dieses ereignet sich für ihn auch immer schon konkret leiblich. Das Gesicht des Anderen kann mich nicht betreffen, ohne dass es meinen Besitz infrage stellt (TU247) und ohne dass ich ihm das, was ich besitze, bereits gebe und ihn gastlich aufnehme (TU250 u. 252 f.). Die ursprüngliche Weise der Bezogenheit auf die Exteriorität des Anderen ist das In-Frage-gestellt-Sein und zusammen damit meine ursprüngliche Achtung. Ohne diese Achtung wäre ich nicht auf sie bezogen. Dass mich der Andere betrifft, ist unmittelbar ein Imperativ und ist unmittelbar meine Antwort darauf. Levinas versucht diese Antwort aufzuweisen im Phänomen einer sich vor jeder freien Zustimmung oder Ablehnung immer schon unausweichlich vollziehenden Achtung des Anderen. 513 Auf diese Weise möchte er verdeutlichen, wie der Imperativ bei mir ankommt, und er möchte damit zudem deutlich machen, wie in seinem Konzept einer passiven, heteronomen Infragestellung ein ethischer Selbstvollzug des Subjekts integriert ist, der sogar das Phänomen der Autonomie einholen kann. Die Infragestellung ereignet sich für ihn nicht nur als Negation des Eigenen, sondern impliziert positiv eine von mir ausgehende Achtung. Er beschreibt sie auch als eine Art Sehnsucht – die sich freilich, wie noch näher beschrieben werden wird, von der gewöhnlichen Struktur eines Strebens und Bedürfens unterscheidet, indem sie immer rückgebunden bleibt an die Passivität. 514 In der späteren Zeit verwendet er, um diesen Aspekt einer positiven Bewegung zum Anderen auszudrücken, sogar das sonst bewusst vermiedene Wort ›Liebe‹. 515 Vgl. dazu unten, S. 463–465 u. Anm. 597. Vgl. etwa PI207: »[D]ie Strenge der moralischen Forderung wird nicht rücksichtslos aufgezwungen, sondern ist dank der Anziehungskraft und der unendlichen Erhabenheit des Seienden selbst, dem die Güte gilt, Begehren«. Zum Begriff des Begehrens oder der Sehnsucht (désir) vgl. unten, S. 424–427. 515 Vgl. etwa HuJ95, 97 u. PB227 oder im späten Vorwort zur deutschen Übersetzung 513 514

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Wie er hierbei die Passivität des Betroffenseins durch den Anderen mit dem Selbstvollzug des Subjekts, den er als autonomen Vollzug versteht, zusammendenkt, wird noch näher innerhalb des folgenden Kapitels zum Vergleich mit Fichtes autonomer Ethik untersucht werden müssen. Erst ausgehend von dieser ursprünglichen Antwort auf die passive Infragestellung kommt es jedenfalls für ihn dann zu einem Bewusstsein des Imperativs und zu einer Möglichkeit, sich frei ihm gegenüber zu verhalten. Und nur innerhalb dieses moralischen Bewusstseins kommt es überhaupt zum Bewusstsein des Anderen. Dieses ist von vornherein in es eingebettet und geht ihm nicht vorher. »Die Moral umschließt von allen Seiten meine Erkenntnis des Anderen; sie unterscheidet sich nicht von der Erkenntnis des anderen durch einen Akt der Bewertung, der zu der zugrundeliegenden Erkenntnis hinzukäme.« (TU382) Dass sich die Verpflichtung ursprünglich als asymmetrische Infragestellung meines Bewusstseins und überhaupt meines Selbstvollzuges ereignet, zeigt für Levinas, dass meiner Einbindung in eine subjektive Perspektive eine fundamentale Bedeutung zukommt und die Wahrheit nicht in einem Standpunkt einer dritten Person liegt, von dem aus ich mich und den Anderen symmetrisch betrachte, sondern dass diese neutrale, symmetrische Perspektive und damit auch der neutrale Standpunkt einer universalen Vernunft vielmehr nur etwas Sekundäres darstellen. Das »Von-Angesicht-zu-Angesicht [setzt nicht] die Existenz universaler Wahrheiten voraus«; es ist ursprünglich eine asymmetrische Ungleichheit und bedeutet deshalb die »Unmöglichkeit des äußeren Standpunktes; der äußere Standpunkt könnte die Ungleichheit nur beseitigen« (TU366 f.). Die Erfahrung der Asymmetrie der Verpflichtung, diese »moralische, so banale Erfahrung bezeugt eine metaphysische Asymmetrie: die radikale Unmöglichkeit, sich von Außen zu sehen und von sich und den Anderen in derselben Weise zu reden; infolgedessen auch die Unmöglichkeit der Totalisierung« (TU67). Und zugleich kann Levinas umgekehrt das Phänomen des Eingebundenseins in eine subjektive Perspektive als eine Bestätigung des Phänomens der ethischen Asymmetrie und als adäquaten Zugang zur Eigenart der Beziehung zum Anderen ansehen. Das Phänomen der Innerlichkeit, in dem das Ich in gewisser Weise in sich eingeschlossen und unabhängig von anderem existiert, von TU TU8 u. 10–12. Zum sonstigen Misstrauen gegenüber dem Wort ›Liebe‹ vgl. etwa EU39.

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weist für Levinas darauf, dass keinerlei Totalität das Ursprüngliche ist, sondern das getrennte Subjekt in seiner Beziehung zum transzendenten Anderen (TU68–78). Entsprechend sieht er es auch als eine Bestätigung dafür an, wenn er die Sinnlichkeit als Ereignis eines getrennten Existierens vorgängig zu jeder Totalität analysieren kann (TU76–78). Levinas spricht in Totalität und Unendlichkeit – noch unter Verwendung ontologischer Begriffe, doch zugleich mit dem Bestreben ihrer Verwandlung – von einer »unvermeidlichen Orientierung des Seins ›von-sich-aus‹ hin zum ›Anderen‹« (TU312). Und er benennt »die Trennung als die äußerste Struktur des Seins« (TU145). »Das Sein ist Exteriorität« (TU419). An der so analysierten Beziehung zum Anderen zeigt sich ihm das grundlegende Wesen des Seins. Und es ist für ihn von einer so fundamentalen Alterität gekennzeichnet, dass der Begriff des Seins, als Begriff einer übergreifenden Einheit der Wirklichkeit und als Sein, das dem Seienden immer nur für sich zukommt, gar nicht mehr angemessen ist (TU110 f. u. 401). Levinas möchte eine »pluralistische Philosophie« vertreten, »in der die Pluralität des Seins weder in der Einheit der Zahl erlischt noch sich der Ganzheit integriert« (TU111). Er wendet sich dagegen, das Sein des Seienden entsprechend der gewöhnlichen Logik so zu denken, dass die Beziehung auf Anderes immer nur etwas Äußeres ist (TU401). Wie im Begriff der Fruchtbarkeit soll es »im Sein selbst […] eine Mannigfaltigkeit und eine Transzendenz« geben (TU405 f.). Und er wendet sich gegen jedes monistische Konzept, das ausgeht von einer übergreifenden Einheit und sie als grundlegend ansieht – sei es eine Einheit des Seins (TU110 f. u. 319 f.), des Lebens (TU168), des Denkens (TU169), der Vernunft (TU167 u. 299–302), oder sei es auch eine Einheit der praktischen Vernunft oder des Willens (TU314). ›Phänomene‹ der asymmetrischen Ethik Eine weitere Plausibilisierung der Asymmetrie und ihrer fundamentalen Bedeutung – neben der Erfahrung der Unvergleichbarkeit meiner Pflichten mit denen des Anderen und der Erfahrung des Eingebundenseins in meine subjektive Perspektive – erfolgt bei Levinas dadurch, dass er auf verschiedene Charakteristika der ethischen Beziehung zum Anderen aufmerksam macht, die sich verstehen lassen, wenn man von einem asymmetrischen Betroffensein durch ihn ausgeht. Diese Charakteristika besitzen einerseits aus sich eine gewisse Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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phänomenologische Plausibilität, sodass sie als Bestätigung dieser Annahme fungieren können. Zugleich gewinnen sie bei Levinas ihre scharfe phänomenologische Beschreibung jedoch eigentlich erst ausgehend von der so gefassten Beziehung zum Anderen. In ihnen wird die spezifische Form der Ethik deutlich, die sich daraus ergibt. Für Levinas spielt das Moment der reinen Selbstlosigkeit, des Nicht-von-Eigeninteressen-geleitet-Seins (desinteressement) 516, eine große Rolle. Dass eine wirklich ethische Haltung nur gegeben ist, wo ich nicht aus selbstbezogenen Interessen und Neigungen heraus handle und sie auch keine versteckte Motivation darstellen, leuchtet ein. Diese Selbstlosigkeit würde für Levinas jedoch nicht nur dann korrumpiert, wenn ich meine Verpflichtung gegenüber dem Anderen von der Anerkennung und Erfüllung seiner Pflichten mir gegenüber abhängig machte, oder wenn auf irgendeine Weise eine Gefahr dazu bestünde, sondern allein schon wenn ich überhaupt mich als Subjekt von Rechten und den anderen als jemanden, der mir etwas schuldet, in den Blick nehmen würde. Jedes symmetrische In-den-Blick-Nehmen der Verantwortung ist für ihn eine Form des Interessiertseins. 517 Man kann dem Ideal einer derart radikal von sich absehenden Selbstlosigkeit eine gewisse Plausibilität zuerkennen und es als Indiz für Levinas’ Sollensauslegung werten. Zumindest würde es sich aus Levinas’ Beschreibung des radikal asymmetrischen In-Frage-gestelltSeins durch den Anderen als Konsequenz ergeben. Immer wieder bringt Levinas die Erfahrung ins Spiel, sich in einer wahrhaft ethischen Gesinnung nie in einem guten Gewissen beruhigen zu können, sondern sich immer weiter infrage gestellt zu finden. Für ihn ist die Moral charakterisiert durch ein Phänomen »des Skrupels, von dem sie lebt« (MT82); »das moralische Bewusstsein ist wesentlich unbefriedigt« und diese »Unbefriedigtheit des mora516 Vgl. etwa TU38 vom »Desinteresse der Güte«. In JS verwendet er das Wort désintéressement sehr häufig, und zwar in einem Doppelsinn: zum einen entsprechend der gewöhnlichen Verwendung im Französischen als Ausdruck für eine selbstlose Haltung, zum anderen, das esse im Wort aufgreifend, als Bezeichnung für ein »›Sich-vom-Sein-Entziehen‹«, wie es Levinas einmal in einem deutschen Interview übersetzend bestimmt (IEA141). 517 Vgl. etwa wie Levinas in JS53/AQ20 »interéssement« und »désintéressement« (von Thomas Wiemer aufgrund der doppeldeutigen Verwendung [vgl. dazu oben, Anm. 516] mit »Sich-vom-Sein-Lösen« übersetzt) parallelisiert mit der symmetrischen Betrachtung, ja dem urteilenden Betrachten überhaupt, und der dazu vorgängigen ursprünglichen ethischen Haltung. Die doppeldeutige Verwendung des Wortes désintéressement selbst impliziert diese Parallelisierung.

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lischen Bewußtseins ist nicht nur der Schmerz der zarten und gewissenhaften Seelen« (PI205). Für Levinas ist mit dem guten Gewissen nicht überhaupt die Dimension von moralischer Rechtfertigung ausgeschlossen, aber sie hat für ihn »nicht den Status eines Ergebnisses, sondern vollzieht sich als Bewegung und Leben; sie besteht darin, an die eigene Freiheit eine unendliche Forderung zu stellen, gegenüber der eigenen Freiheit radikal unduldsam zu sein. Die Freiheit rechtfertigt sich nicht im Bewußtsein der Gewißheit, sondern in einer unendlichen Forderung gegen sich selbst, darin, daß sie jedes gute Gewissen hinter sich läßt.« (TU442) Deshalb beschreibt Levinas die Verantwortlichkeit auch als Schuld. In dem Fall ist damit nicht eine Schuld für eine bestimmte schlechte Tat gemeint. Auch in dieser Form ist für Levinas das Subjekt zwar immer schuldig, nämlich weil es die Infragestellung immer in einer Situation trifft, in der es mit dem Selbstvollzug seiner Freiheit den Anderen überrollt 518 – am Anfang, bevor es sich überhaupt infrage gestellt findet, aber, aufgrund der Notwendigkeit einer den Anderen immer zugleich einschränkenden Selbstverwirklichung, auch fortgesetzt und unausweichlich. 519 Was er hier mit dem Nichterreichen eines guten Gewissens meint, hat jedoch einen anderen Grund. Es erklärt sich für Levinas daraus (und belegt umgekehrt), dass das Subjekt in seinem ethischen Grundvollzug rein bezogen ist auf den Anderen, von ihm beansprucht ist, und es erst von da ausgehend und von da immer durchbrochen sein ethisches Selbstverhältnis gewinnt, ein Selbstverhältnis »als In-sich-Zurückgehen des Gewissensbisses« (JS192). Im guten Gewissen würde ich auf mich blicken und dem reinen Beanspruchtsein durch den Anderen ausweichen. Und ich würde selbst ein Urteil fällen und so die vor allem autonomen Urteil liegende Ebene verlassen. 520 Es geht Levinas entsprechend nicht um eine mir zurechenbare Tat oder Unterlassung Zu dieser Rede von Schuld vgl. etwa TU113–116. Vgl. in BS216 die daraus folgende Rede von einem »Skrupel dazusein. Ist mein Dasein in seiner Seelenruhe und dem guten Gewissen seines conatus nicht gleichbedeutend damit, den anderen Menschen sterben zu lassen?« 520 Vgl. PI202: »Führt die Idee des Unendlichen, als Idee, nicht unausbleiblich zurück zum Schema des Selben, das sich das Andere einverleibt? Dies ist richtig, es sei denn, die Idee des Unendlichen bedeute den Zusammenbruch des guten Gewissens des Selben.« Vgl. auch SN282: »Das Bewusstsein ist immer verspätet beim Rendez-vous mit dem Nächsten, in dem Bewusstsein, das das Ich von dem Nächsten hat, ist es immer angeklagt und schuldhaft, schlechtes Gewissen.« Levinas drückt den Zusammenhang hier auch durch das Spiel mit der Doppelbedeutung von conscience, das Bewusstsein und Gewissen heißen kann, aus. 518 519

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und um Schuld in dem Sinn – wie es auch bei der anderen genannten Form von unausweichlicher Schuld nicht um eine geht, die ich frei hätte vermeiden können und die mir somit zurechenbar wäre. Levinas fordert nicht dazu auf, sich mit schlechtem Gewissen zu zermartern, sondern zu einer Orientierung an einer im Blick auf den Anderen liegenden ursprünglichen Freiheit von Selbstrechtfertigung. Das Phänomen des bleibenden schlechten Gewissens ist für Levinas verbunden mit der Erfahrung, dass mein auf ein moralisches Ideal ausgerichtetes Streben niemals eine Erfüllung finden kann, dass ich dem Anderen in der Verantwortung niemals gerecht werden kann, ja dass meine Verantwortung und meine Schuld sogar anwachsen, je mehr ich meine Verantwortung erkenne, bejahe und sie eingehe. 521 Levinas beschreibt dies als eine Dynamik des Begehrens oder der Sehnsucht, die er mit dem Wort désir 522 benennt und deren spezifischen Charakter er ausgehend von seinem Konzept des Beanspruchtseins durch den Anderen bestimmt. Dass es zu keiner Erfüllung kommt, erklärt sich für ihn daraus, dass die Ausrichtung auf den transzendenten Anderen in keiner Weise als Beziehung zu etwas verstanden werden kann, was mir fehlt, was ich verloren habe, was eigentlich zu mir und meiner Ganzheit gehört oder was ich einmal besessen habe (TU35–37 u. 80–83). Der Andere ist mir auch in diesem Sinne radikal transzendent. Die ethische Beziehung zum Anderen wird nicht ausgehend von einem Bedürfnis, von irgendeiner Form von Eigeninteresse, verstanden. Zwar bin ich durch verschiedene Bedürfnisse – Levinas verwendet hier zur Unterscheidung das Wort besoin –, die ich in der Beziehung zum Anderen befriedigen kann, auf ihn bezogen, aber die eigentlich ethische Beziehung des Begehrens, 521 Vgl. etwa MT82 u. PI205. Auch unabhängig von der Thematisierung des schlechten Gewissens findet sich dieses Motiv sehr häufig (etwa U113; TU143 f. u. 359 f. o. JS132). 522 Während dieser Begriff in TU eine ganz zentrale Stellung innehat, kommt er in JS nur sehr selten vor und dann immer akzentuiert als »Begehren des Nicht-Begehrenswerten« (JS273 f. u. 197). Wahrscheinlich steckte für Levinas in dem Wort noch zu viel von einem von mir ausgehenden Wollen. Mit der zitierten Formulierung möchte er das Moment des gegen meinen Willen laufenden Widrigen der Ethik herausheben, das freilich so ähnlich auch in TU schon zu finden ist (vgl. TU349–352 zur positiven Bedeutung des Schmerzes und der Geduld in der Beziehung zum Anderen). Dass er den Begriff des Begehrens und das in ihm artikulierte Moment eines, wenn auch immer durchbrochenen, aber doch eigenen Strebens für die Beschreibung der ethischen Beziehung auch in der späteren Zeit beibehält, wird besonders im nach JS erschienen Aufsatz Gott und die Philosophie deutlich (vgl. GP102–115).

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die für Levinas de facto immer vermischt ist mit Bedürfnissen, erfolgt nicht, weil mir der Andere irgendwie fehlen würde. Sie wird auch nicht verstanden als eine Form von innerer Ausrichtung auf ein ethisches Ideal, in dem ich mich selbst zu verwirklichen hätte, etwa das Ideal selbstloser Liebe. Auch hier wäre ich auf mich und meine Selbstverwirklichung und nicht rein auf den Anderen bezogen. 523 Das Begehren ist zwar ein mir eigenes Streben, das auf eine Erfüllung drängt, aber jede von mir ausgehende Bewegung ist in ihm zugleich immer durchbrochen, weil es ein vom Anderen gewecktes und auf ihn bezogenes Streben ist. Von daher kann keine Befriedigung und keine Annäherung stattfinden, ja man muss sogar sagen, dass das Begehren wächst, je mehr ich von wirklicher Güte bestimmt bin und mich auf meine Verantwortung einlasse. Der Andere fordert mich auf und weckt so mein Begehren. Er macht, dass ich mich dabei auf ihn wie auf ein Ziel ausrichte, und zugleich ist er immer entfernter als das, was ich so anziele. Er weckt in mir mein eigenes ethisches Urteil, in dem ich dieses mir gegebene Ziel bejahe, in dem ich meine Verantwortung bejahe, ist aber bleibend der, von dem das Urteil ausgeht, ein Urteil, das ich deshalb wesentlich nicht übernehmen kann. 524 So geht seine Forderung immer noch weiter. Wenn ich der Verantwortung entspreche, ist sie immer noch größer. Levinas drückt dies häufig in einer potenzierenden Redeweise aus: Das Subjekt müsse auch noch »die Ausgesetztheit aussetzen, anstatt sich in ihr aufzuhalten wie in einem Akt des Aussetzens« (JS313), es müsse »angefochten werden […] sogar in seiner Armut« (JS207), sodass auch »die Hingabe dem Anderen hingegeben« (GP116) wird, in einer »Passivität der Passivität« (JS313). Wenn Levinas immer wieder hervorhebt, dass er 523 In JS247 macht Levinas etwa deutlich, dass von daher »die Verantwortung für die Anderen unter keinen Umständen bedeuteten kann: Wille zum Altruismus, Antrieb aus ›natürlichem Wohlwollen‹ oder Liebe« (ähnlich auch in JS277 – hier mit ausdrücklicher Abgrenzung zu Fichte). 524 In dieser Weise erklärt Levinas in TU143 den Zusammenhang zwischen der Beziehung zum transzendenten Anderen, der mich infrage stellt, und dem Anwachsen der Verpflichtung in der Annäherung. Wie aus der Passivität immer auch das Eigene erwächst und zugleich gelassen werden muss, findet sich etwa auch in SpA219 ausgedrückt: »Die Beziehung zum Anderen […] leert mich unaufhörlich, indem sie mir so unaufhörlich neue Quellen entdeckt. Ich wusste nichts von meinem Reichtum, aber ich habe nicht mehr das Recht, etwas festzuhalten.« Vgl. auch JS249: »Je mehr ich zu mir komme, desto mehr lege ich – unter dem Trauma der Verfolgung – meine Freiheit als konstituiertes, wollendes, herrschendes Subjekt ab, desto mehr entdecke ich mich als verantwortlich; je gerechter ich bin, desto schuldiger bin ich.«

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diese Bewegung nicht als asymptotische Annäherung an ein Ziel versteht, dann deshalb, weil der andere Pol der Beziehung nicht ein »Ziel, an dem etwas endet« (JS210), darstellt. In dem Sinn grenzt er sich auch vom Konzept des Sollens bei Kant und dem frühen Fichte ab. 525 Diese Dynamik des Anwachsens des Abstandes in der Annäherung bestimmt für Levinas die Beziehung zum Anderen und ist von daher ein Grundcharakteristikum der Subjektivität überhaupt. Sie prägt so auch die Beziehung zum Absoluten – Levinas beschreibt dies vor allem unter dem Stichwort »Herrlichkeit« 526 – aber etwa auch die Konfrontation mit dem Es-gibt, welche Levinas als ein immer noch weiter gehendes Absteigen in seinen Abgrund begreift (TU130). Wiederum gewinnt das beschriebene Phänomen seine scharfe Fassung erst ausgehend von Levinas’ Konzept der Beziehung zum Anderen. Durch eine gewisse eigene phänomenologische Plausibilität kann die Unannäherbarkeit des Anderen und das Anwachsen der Verantwortung aber auch eine Bestätigung dafür sein. Dasselbe gilt für das Phänomen des Begehrens überhaupt in seiner Ausrichtung auf das, was mich radikal transzendiert und so von meiner als Enge und Last empfundenen Immanenz befreit – jenes Phänomen, wie es für Levinas ursprünglich in der Erfahrung der Last des Seins aufgetaucht ist, und dem für ihn auch eine Verantwortlichkeit anhaften bleibt, die lediglich als aus der eigenen autonomen Setzung erwachsend verstanden wird. 527 Entsprechend dieser Bedeutung des Begehrens muss man das Anwachsen der Verantwortung nicht als Bedrohung durch

Vgl. JS209, 44, 132, 21235 u. 312. Levinas nennt hier zwar nicht ausdrücklich Kant und Fichte, bezieht sich aber sehr wahrscheinlich auf sie, wenn er das deutsche Wort ›Sollen‹ verwendet, das bei Kant und Fichte eine herausragende Bedeutung in der Philosophie erhalten hat und nicht zuletzt durch Hegels Kritik am perennierenden Sollen gewöhnlich mit diesen beiden Autoren verknüpft wird. 526 Da das Anwachsen der Verantwortung sich daher erklärt, dass der Andere immer noch einmal transzendent ist, da diese Transzendenz des Anderen sich in der Spur der Transzendenz des Unendlichen ereignet, und da Levinas gloire als Bezeichnung für das Sichereignen der Transzendenz des Unendlichen verwendet (vgl. unten, S. 539 f.), kann er sagen, die Verantwortung wachse »in der Weise der Herrlichkeit« (JS44) oder einfach »in Herrlichkeit« (GP113). Levinas kann daneben auch das Anwachsen selbst als Herrlichkeit bezeichnen (GP114 f.), da man in ihm ja unmittelbar die Transzendierung des Unendlichen stattfinden sehen kann (JS210 u. 317). 527 Vgl. oben, S. 375 u. Anm. 442. Daneben gründet auch das S. 376 f. u. Anm. 446 beschriebene Phänomen auf der in der Autonomie liegenden Bindung an sich, nur hier ausdrücklich als Autonomie, in die ich vom Anderen her eingesetzt bin. 525

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einen immer größer werdenden Berg an Pflichten, sondern als Ausdruck der befreienden Öffnung auf den Anderen verstehen. Das phänomenologisch wohl umstrittenste Moment, das Levinas zwar erst in Jenseits des Seins, hier jedoch sehr häufig ins Spiel bringt, ist die Erfahrung, dass ich meine Verantwortlichkeit nicht begrenzen kann, dass ich auf einer ursprünglichen Ebene für alles verantwortlich bin, also auch für das, was der Andere tut, ja sogar für das, was er mir antut. 528 Wie überhaupt in der Erfahrung der Asymmetrie der Verpflichtung, ist dies kein allgemeines Gesetz, kann ich dies nicht auch über den Anderen sagen, sondern es betrifft allein mich. Es vom Anderen zu verlangen, wäre unmoralisch. 529 Wenn sich Levinas hier auf eine Erfahrung der Unabgrenzbarkeit der eigenen Verantwortung bezieht, dann geht es ihm nicht um das Phänomen der unabsehbaren Verstrickung unserer Handlungen und Handlungsfolgen in die der Anderen. Es geht ihm um die ursprüngliche Form der Ethik selbst, wie sie sich als Beziehung zum Anderen gestaltet, der mich in einer radikalen Passivität mit seiner Aufforderung trifft. Von hierher kommt es zur scharfen Beschreibung des Phänomens. Diese Aufforderung des Anderen trifft mich vorgängig dazu, dass ich ihm eine Verantwortung für irgendetwas zuschreiben kann, sodass ich es bin, der auf dieser ursprünglichen Ebene für alles verantwortlich ist. Ja, da mich die Aufforderung vorgängig zu meinem autonomen Selbstvollzug und Selbstbezug trifft und ich insofern noch gelöst bin von meiner vom Anderen unterschiedenen ethischen Identität, kann dieses unabgrenzbare In-die-Verantwortung-Genommensein durch den Anderen als eine Art Identifikation mit ihm beschrieben werden, Identifikation, die jedoch wie im Verhältnis der Fruchtbarkeit keine Verschmelzung ist. 530 Für solch eine radikale Idee kann Levinas phänomenologisch durchaus Anhaltspunkte in der menschlichen Erfahrung finden. So bezieht er sich etwa wiederholt Vgl. etwa JS171, 246, 248, 253, 256 u. 260. Vgl. JS282 u. 25018 . 530 Vgl. wie in JS50 die Beschreibung der Vorgängigkeit der Infragestellung vor der ethischen Identität des Subjekts, vor jedem autonomen Sichvollziehen und Auf-sichBeziehen, in die Beschreibung des »der Eine an der Stelle des Anderen« und den Begriff der »Stellvertretung« mündet. Gegen die Deutung der Stellvertretung als Verschmelzung wendet sich Levinas in JS48. Oder vgl. wie Levinas in JS248 das Tragen der Schuld der Anderen aus der Vorgängigkeit der Infragestellung zur Autonomie erklärt. Zur Verbindung, die man zwischen dem Stellvertretungsbegriff und dem der Fruchtbarkeit m. E. sehen kann, vgl. oben, S. 381–383. 528 529

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auf den aus dem religiösen Kontext stammenden Begriff der Stellvertretung, der eine Übernahme der Schuld des Anderen meint und den er häufig als Ausdruck für die ursprünglichste Form der unabgrenzbaren Verantwortlichkeit des Selbst und der Identifikation mit dem Anderen verwendet. 531 Bekannt ist auch seine Berufung auf einen der seltsamen Spitzensätze in Dostojewskijs Die Brüder Karamasow, der als Aussage eines in Todesnähe hellsichtigen Jungen, vermittelt über dessen Bruder, den geistlichen Meister des Protagonisten, wie ein fernes Beben in die Erzählung einfällt: »›[E]in jeder von uns ist vor allen an allem schuldig, ich aber bin es mehr als alle Anderen‹, schreibt Dostojewskij« (JS320). 532 Wie auch immer diese Intuitionen in ihrem ursprünglichen Kontext verstanden worden sind, bei Levinas fungieren sie als Artikulationen und Zeugnisse 533 für die ursprüngliche Form von Verantwortlichkeit, wie er sie bestimmt, also nicht verstanden als ein aufgrund einer bestimmten Handlungsmöglichkeit zuschreibbares Verpflichtetsein bzw. eine aufgrund einer freien Tat bestehende Schuld und auch nicht als ein Außerkraftsetzen der Verantwortung des Anderen und seiner Freiheit. Levinas sagt ganz ausdrücklich, dass diese Form von Schuld etwas anderes ist als was man aufgrund der Freiheit zuschreiben kann, dass man sich deshalb dazu »nicht bekennen kann«, und dass man es nicht als eine Art »Ursünde«, sondern, indem es sich um das ursprüngliche, vor jeder freien Bejahung oder Verneinung liegende ethische Verhältnis zum Anderen handelt, als »Urgüte« verstehen muss (JS270). Wenn Levinas dabei von der »Urgüte der Schöpfung« spricht, kann man dadurch meiner Interpretation nach in die Stellvertretung das Moment der Fruchtbarkeit eingetragen sehen. 534 in der das Subjekt dem Anderen immer schon alles mitgeteilt hat, sogar das Verantwortlichsein, und auf diese Weise jenseits seiner selbst mit dem Anderen identifiziert ist. Indem in der Stellvertretung jede Apologie überwunden ist, wird das Subjekt in ihr nicht in eine egomanische Position gedrängt, sondern gerade radikal von sich befreit. Es ist dabei natürlich immer in Vgl. oben, Anm. 530. Wie sich Levinas mit dem Begriff der Stellvertretung auf Intuitionen aus dem religiösen Bereich bezieht, wird besonders deutlich in MG79–82. 532 Vgl. auch GP113. Die Stelle findet sich im sechsten Buch des Romans, im Kapitel IIa (vgl. Dostojewskij, 2007, 464). 533 Vgl. FA104, wo Levinas den Satz von Dostojewskij ausdrücklich als Bezeugung anführt. 534 Zum Zusammenhang von Fruchtbarkeit und Stellvertretung vgl. oben, S. 381– 383. 531

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einer asymmetrischen Position. Eine Forderung ist nur an mich gerichtet. Gegenüber dem Anderen kann ich keine erheben. Ich kann den Anderen nicht zu meinem Stellvertreter machen. Für Levinas ist dies nicht nur ein, wenn auch ursprüngliches, so doch bloß subjektives Verantwortungsgefühl, das zu relativieren wäre gegenüber der symmetrisch und an der Freiheit bemessenen Verantwortlichkeit als dem eigentlich Geltenden. Dieser symmetrischen ethischen Beurteilung kommt für Levinas, wie im folgenden Abschnitt betrachtet werden soll, zwar eine Bedeutung zu, aber immer nur als ein sekundäres und vielmehr gegenüber der asymmetrischen Verantwortlichkeit zu relativierendes Phänomen. Zur Bewertung von Phänomenen einer symmetrischen ethischen Beurteilung Dem Phänomen, dass wir eine neutrale Perspektive einnehmen können, von der aus wir uns selbst und den Anderen symmetrisch beurteilen und auch Forderungen gegenüber dem Anderen erheben, versucht Levinas dadurch gerecht zu werden, dass er aufweist, wie sich diese Ebene sekundär zur ursprünglichen Ebene der Verantwortung und sozusagen als Funktion von ihr ergibt. Die genaue Unterscheidung zwischen dem in seine kritische Essenz eingesetzten Bewusstsein und einem Vollzug dieses kritischen Bewusstseins als symmetrische, allgemeine Beurteilung erfolgt erst in Jenseits des Seins. Erst hier wird – nach Levinas’ eigenem Bekunden – unterschieden zwischen der Ebene des asymmetrischen Verantwortlichseins für den Anderen und dem, was er dann die Ebene der Gerechtigkeit nennt (TU8). Wenn Totalität und Unendlichkeit die Infragestellung durch den Anderen als Grund für das universale, unpersönliche Denken anführt 535,

535 Vgl. etwa TU246–249. Wenn Levinas in diesem Kapitel (TU243–253) zugleich die Gabe und an anderer Stelle die Apologie (TU367) als Gründe für die »Verallgemeinerung« und »Universalisierung« (TU252) oder für das »unpersönliche Denken«, das mich und den Anderen in eine »gemeinsame Ordnung« einbindet (TU367), anführt, dann handelt es sich dabei um dieselbe Begründung aus der Infragestellung durch den Anderen, die sich ja für Levinas zugleich als Geben ereignet (vgl. unten, S. 774 f.) sowie als Einsetzung der Apologie in der Form der Behauptung der Einzigkeit des Verantwortlichen (vgl. S. 683–687). Indem in der Apologie zugleich das Moment des Selbstvollzuges der ethischen Bedeutung enthalten ist, findet sich hier zugleich ein Hinweis auf die Autonomie als weiteres Moment auf dem Weg der Entstehung einer allgemeinen Ordnung.

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so ist damit nur eine erste Bedingung angegeben. 536 In Jenseits des Seins zeigt Levinas, wie sich erst durch das Erscheinen eines Dritten, dem gegenüber ich ebenfalls verpflichtet bin, die Notwendigkeit, ja die Pflicht ergibt, meine Verpflichtung gegenüber dem Anderen genau zu bestimmen und abzugrenzen. Zudem ergibt sich so die Pflicht, den Dritten vor dem Anderen zu schützen, eventuell Gewalt anzuwenden, das Verhalten des Anderen auf dessen eigene Verantwortung hin zu beurteilen, an ihn entsprechende Forderungen zu stellen und die Rechte und Pflichten von Anderem und Drittem abzuwägen. 537 Auf diese Weise tritt für Levinas das Denken in seiner kri536 Mit der Theorie der Entstehung des universalen Denkens ausgehend vom Dritten wird die Theorie der Einsetzung des Bewusstseins in seine kritische Essenz durch den Anderen nicht verabschiedet (sichtbar etwa in JS206–208), es handelt sich dabei vielmehr um eine noch tiefere Bedingung. Als weitere Bedingung kann m. E. auch die Entstehung des Bewusstseins überhaupt im Zusammenhang mit der Sorge um die Sicherung des Genusses bestehen bleiben. Wenn Levinas schreibt: »Die Grundlage des Bewusstseins ist die Gerechtigkeit« (JS349), dann muss das nicht bedeuten, dass es durch sie erst überhaupt zum Bewusstsein kommt, sondern es kann die bestimmte Form des Bewusstseins als eines allgemeinen Urteilens gemeint sein. Und ebenso die Autonomie des Subjekts, die aus der Infragestellung durch den Anderen – vereint mit der nochmals vorgängigen Erweckung durch das Unendliche – erwächst, stellt eine Bedingung für die Entfaltung der Ebene der Gerechtigkeit dar, wie dies Levinas auch ausdrücklich in diesem Zusammenhang hervorhebt – hier benannt als eine göttliche »Gnade«, ohne welche sich das »›Vorübergehen‹ Gottes« nicht ereignen könne (JS345; vgl. auch JS349–351). Dieses Vorübergehen hat Levinas vorher schon angesprochen in seiner Ambivalenz zwischen der affirmativen Bezogenheit des Menschen auf die Transzendenz in der Idee des Unendlichen und der atheistischen Verneinung dieser Transzendenz aufgrund der Autonomie, durch welche sich das Unendliche ablöst von unserem Begreifen (JS336 f. u. 341). Die Interpretation dieser »Gnade« durch Pascal Delhom (2000, 204 f.) als einer von Gott in meinem Gesicht an den Anderen ergehenden Aufforderung hat m. E. keinen Anhalt im Text. 537 Zu dieser ganzen Thematik vgl. v. a. JS334–353. Zur Begrenzung meiner Verantwortung gegenüber dem Anderen und einer Abwägung meiner Pflichten ihm gegenüber mit jenen gegenüber dem Dritten vgl. etwa JS343. Zum Erfordernis der Gewalt und der »berechtigten Repression« vgl. etwa FA104. Das Erfordernis der Beurteilung des Anderen auf seine Verantwortung hin kommt weniger deutlich in den Texten zur Ebene der Gerechtigkeit zum Ausdruck. Levinas ist hier offenbar zurückhaltend. Er spricht diese Ebene jedoch an als eine von gleichen Rechten und Pflichten (JS350), er spricht von der Überwindung der Asymmetrie (JS263 f.22 u. JS283), von der Gleichheit zwischen Drittem, Anderem und mir (JS343–345) und ausdrücklich von der Schuld des Anderen gegenüber dem Dritten (JS20229 ). Ebenso die Bemerkungen, dass der Andere mir unmittelbar als Nächster (JS343), als Bruder (JS344) und als verantwortlich Engagierter (JS351) gegenüber dem Dritten erscheint – die Weise, in welcher der Dritte unmittelbar im Anderen präsent ist (vgl. unten, S. 432–434) –, zeigt, dass es auf der sekundären Ebene auch darum geht, ihn als solchen zu beurteilen. In TU

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tischen Essenz zugleich in eine neutrale Perspektive der dritten Person und beansprucht Allgemeingültigkeit. In dieser Perspektive kann ich dann ebenso mich selbst wie einen Anderen objektivieren und mich als Subjekt von bestimmten Pflichten wie auch von Rechten ansehen (JS349 f.). Diese Ebene der Gerechtigkeit ergibt sich für Levinas also im Dienst für die Ethik, nämlich im Dienst an der Verantwortung gegenüber dem Anderen als Drittem. Sie ist so auch immer in die ursprüngliche Verantwortlichkeit zurückzubinden und ihr gegenüber als etwas Sekundäres zu betrachten (JS346–348). 538 Das Asymmetrische bleibt der eigentliche ›Maßstab‹. Auch die Rechtfertigung dafür, dass ich Rechte habe, »dass mein Heil Bedeutung hat«, besteht immer nur »im Ausgang von der Verantwortung« (JS350). Kann dies jedoch allein vom Dritten her geschehen? Von ihm her lässt sich nur verstehen, wie die Perspektive auf mich als Träger von Rechten überhaupt auftauchen kann, es lässt sich deren Berechtigung aber nicht begründen. Ich selbst komme für Levinas nicht in die Position des Dritten. 539 Die Rechtfertigung erfolgt nur darüber, dass für ihn die Beziehung zum Anderen meine getrennte Existenz zur Bedingung hat und sich diese wesentlich als selbstbezogenes Streben ereignet. Dies wird noch ausführlich gezeigt werden, da in diesem Punkt die Basis für die Erhellung der Bedeutung des Leibes liegt. 540 Für unsere Frage hier ergibt sich daraus zum einen, dass der Mensch de facto immer dieses selbstbezogene Streben vollzieht und aus ihm nicht aussteigen kann. Ethik verwirklicht sich so immer nur in der Spannung von gegenergibt sich aus der Präsenz des Dritten im Befehl des Anderen unmittelbar, dass »mir der Befehl zu befehlen« befiehlt (TU308). Nicht nur die Beurteilung des Anderen auf seine Pflicht, sondern auch die Aufforderung an den Anderen, ja die Pflicht zu dieser Aufforderung, ergibt sich also für Levinas vom Dritten her. 538 In JS351 nennt Levinas sie »die dienende […] Ordnung der Gerechtigkeit«. Der scheinbare Widerspruch zwischen der Aussage zur Gerechtigkeit: Es »findet nun die Verantwortung eine Grenze« (JS343) und der Aussage: »Keinesfalls ist die Gerechtigkeit eine Abschwächung der Besessenheit, eine Entartung des Für-den-Anderen, eine Verkleinerung, eine Begrenzung der anarchischen Verantwortung« (JS347) löst sich dadurch auf, dass die Gerechtigkeit ausgehend vom Dritten eine immer sekundäre Ebene zur ursprünglichen Verantwortung gegenüber dem Anderen darstellt. 539 Vgl. unten, Anm. 546. In JS285 scheint Levinas zwar die »Sorge um Gerechtigkeit für sich selbst« allein vom Dritten her zu rechtfertigen, aber wenn als anderer Anderer für Levinas nur ein Dritter infrage kommt, nicht aber ich selbst, ist dies nur einleuchtend, wenn man als weiteren Gedanken das im Folgenden thematisierte dazunimmt. 540 Vgl. dazu u. zum Folgenden unten, S. 675–689. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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läufigen Bewegungen, bildlich von Levinas etwa bezeichnet als Aufwickeln und Abwickeln eines Knäuels (JS167), als Diastole und Systole des Herzens (JS241) oder als Einatmen und Ausatmen (JS241). Zum anderen ergibt sich aus der Notwendigkeit der Selbstsorge für die Ethik neben ihrer faktischen Unausweichlichkeit auch eine Rechtfertigung. 541 Wegen ihr hat »mein Heil Bedeutung« und besteht ein Recht, sich darum zu sorgen – freilich nicht für mich selbst, sondern für den Anderen. Es gehe darum, »dem Anderen ein Recht über diesen Egoismus einzuräumen und sich so zu rechtfertigen« (TU46). 542 Wie das Gerechtigkeitsdenken ist der berechtigte Egoismus ganz in die Beziehung zum Anderen rückzubinden. Anders als bei diesem ergibt sich hier die Rechtfertigung jedoch viel unmittelbarer aus den integralen Erfordernissen der ethischen Beziehung und stellt keine nur sekundäre Perspektive dar. Die Verantwortlichkeit des Anderen und die ursprüngliche Form von Gemeinschaft Doch noch einmal zurück zur sekundären Ebene der Gerechtigkeit. Ihre Bedeutung wird bei Levinas dadurch profiliert, dass für ihn die Begegnung mit dem Anderen immer schon zugleich eine Begegnung mit dem Dritten darstellt, und zwar keineswegs nur als »eine empirische Tatsache«, auf eine Weise, »dass meine Verantwortung für den Anderen sich durch den ›Zwang der Verhältnisse‹ zu einem Kalkül genötigt findet« (JS344). 543 Die Weise, wie der Andere von ihm selbst aus bezogen ist auf den Dritten, bestimmt Levinas als dessen Brüderlichkeit. »Der Andere ist von vornherein der Bruder aller Menschen.« (JS344) Genauer ist darunter zu verstehen – wie Levinas in der Passage von Totalität und Unendlichkeit, auf welche er von den zitierten Insofern scheint mir die von Thomas Pröpper (2011, 70924 ) gegen alteritätsbetonte Ansätze vorgebrachte These, es könne »weder gefordert noch ehrlich vollziehbar« sein, »daß ein Mensch seinen Wunsch nach Identität, Glück und Ganzheit tatsächlich aufgibt«, und von daher die Anfrage, ob man so nicht »in einen masochistischen Rigorismus« abgleite oder die Behauptung dieser Forderung nur »eine verbale Ersatzhandlung« sei, nicht auf Levinas beziehbar. 542 Dass auf diese Weise eine Berechtigung des Egoismus selbst besteht, nämlich als Recht des Anderen, kommt noch besser in der Übersetzung von Ludwig Wenzler zum Ausdruck: Der Andere habe »ein Recht auf diesen Egoismus« (Wenzler, 1984, 86). 543 In diese Richtung deuten auch die Aussagen, dass die Anderen »mich im Anderen bedrängen« und so »von vornherein mich an[gehen]« (JS346). Schon in TU schreibt Levinas: »In den Augen des Anderen sieht mich der Dritte an« (TU307 f.). 541

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Aussagen in Jenseits des Seins aus zurückverweist, ausführt –, dass der Andere sich immer schon präsentiert als der, der dem Dritten dient und darin gerade seine Meisterschaft besteht, mit der er mich in die Verantwortung ruft. 544 Die Ursprünglichkeit des Bezuges zum Dritten ist dabei dadurch gewahrt, dass es sich bei dieser Meisterschaft, wie dies bereits dargestellt wurde 545, nicht um eine phänomenologische Beschreibung des freien Verhaltens des Anderen handelt, sondern seiner ihm jederzeit zukommenden Heiligkeit, aus der heraus er mich unterweist. Wie die eigene ethische Einstellung, so ereignet sich für Levinas auch diese Heiligkeit konkret und erscheint als Dienst. Und da die Asymmetrie es ausschließt, dass ich den Anderen im Dienst mir gegenüber wahrnehme, erscheint sie unmittelbar als Dienst an einem Dritten. 546 Auf diese Weise zeigt Levinas, wie die 544 Vgl. das in TU308 beschriebene und in TU309 als Brüderlichkeit gedeutete Verhältnis: Der Andere »verbindet mich mit sich im Dienst, er befiehlt mir wie ein Meister«. Hier ist neben dem asymmetrischen Gefälle (vgl. dazu S. 416) die weitere wichtige Konnotation dieses Begriffes der Meisterschaft benannt, nämlich dass der Andere selbst schon eine Meisterschaft in der Ethik erreicht hat, sich in ihm Ethik schon auf eine vollkommene Weise ereignet (vgl. dazu S. 410–413). Selbst wenn Levinas in dieser nicht leicht zu interpretierenden Textpassage die Vermittlung zum Dritten allein in der »Nacktheit« des Gesichts sehen würde, welche »die Blöße des Armen« (TU308) (gemeint ist wohl die Ausgesetztheit und Bedrohtheit des Anderen) präsentiert und in der sich für ihn gerade anzudeuten scheint, dass der Andere mich »im vollen Licht der Öffentlichkeit« (TU307) betrifft, dann müsste doch der ethische Charakter dieser Beziehung auf den Dritten aus der Verantwortlichkeit des Anderen kommen. Dieses Phänomen ergibt sich hier auf jeden Fall. Die Blöße und Armut wären dann schon als ethische Haltung dem Dritten gegenüber zu verstehen. Zwar wird evtl. die Nacktheit auch nur angesprochen als die Offenheit des Anderen überhaupt über sich als Getrennten hinaus, die natürlich auch dessen Bezugnahme auf den Dritten bedingt, es ist aber doch auffällig, dass Levinas genau mit den starken Begriffen, die sonst für die ethische Haltung desselben verwendet werden (vgl. S. 764–765), hier den Anderen beschreibt: als fremd, arm und entblößt. Es ginge dann um die ethische Transzendenz des Anderen, die sich in seiner Armut ereignet als eine ethische Haltung, mit der er sich auf den Dritten bezieht. Indem dieser ebenso als arm erscheint – hier freilich zunächst in der Armut des Bedürftigen, von dem die Forderung zur Hilfe ausgeht –, ergibt sich auf diese Weise eine Gleichheit zwischen Anderem und Dritten. Eine Stelle, die man auch in diesem Sinne lesen kann, findet sich in MG76: »Sich demütig zeigen, als Verbündeter der Geschlagenen, der Armen, der Gehetzten – das heißt genau nicht sich in die Ordnung eingliedern.« 545 Vgl. S. 410–413. 546 Vgl. FA101: »Warum gibt es den Dritten? Ich frage mich zuweilen, ob seine Berechtigung nicht in Folgendem liegt: eine uneigennützige Verantwortung für den Anderen ermöglichen, schließt die Reziprozität aus; doch sollte der Andere sich nicht seinerseits ganz für den Anderen einsetzen? In diesem Fall braucht es einen Dritten.«

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Beziehung zum Gesicht des Anderen selbst die Beziehung zu einem Dritten beinhaltet. Sie impliziert den Bezug zur Gemeinschaft. Und so ist es auch möglich, Gemeinschaft ursprünglich von der Beziehung zum Gesicht her zu verstehen und nicht in einer neutralen Perspektive als eine rein biologische oder als Gemeinschaft unter einem Genus (TU309) oder als Mitsein um eine gemeinsame Aufgabe. 547 Ebenso kann Levinas auf diese Weise den naheliegenden Eindruck zerstreuen, es handle sich bei der von ihm beschriebenen Beziehung zum Anderen um eine beschränkte Form von Beziehung, eine, die abgegrenzt ist zu einer »verschwiegenen Gemeinschaft mit dem bevorzugten Seienden […], zum ›Ich-Du‹, das sich genügt und das Universum vergisst« (TU307). Der Andere steht für ihn vielmehr ursprünglich »im vollen Licht der Öffentlichkeit« (TU307). Die Meisterschaft begründet über den Verweis auf den Dritten die Ebene der Gerechtigkeit. Sie und der implizite Verweis bewegen sich aber ursprünglich jenseits von ihr auf der asymmetrischen Ebene, auf der mich die Heiligkeit des Anderen in einer Weise infrage stellt, dass jede Deutung des in ihr liegenden Dienstes als eines Dienstes an mir ausgeschlossen ist. Jenseits der Ebene der Gerechtigkeit ist diese Heiligkeit auch keine Verantwortlichkeit, auf die hin ich den Anderen beurteilen könnte. Und doch wird hierher deutlich, dass Levinas – anders als man dies von der Asymmetrie her erst einmal annehmen könnte – den Anderen auch auf der ursprünglichen Ebene der Beziehung zu ihm in seiner Verantwortung ernst nimmt und als Wesen auf der Höhe der ethischen Bedeutung beschreibt. Wie kommt es dazu, dass Levinas die Verantwortlichkeit des Anderen als dessen Brüderlichkeit benennt (JS344 u. TU310)? Hier beAuf keinen Fall kann für Levinas offenbar das Ich selbst für die Rolle des Dritten, die Rolle des Bedienten, in Betracht kommen, weil so die Asymmetrie verletzt würde. Vgl. FA120: »Der Andere kann sich einsetzen für wen er will, nur nicht für mich. Wahrscheinlich ist dies sogar der Grund, weshalb wir zahlreich sind in der Welt.« Aus diesen grundsätzlicheren Überlegungen, warum es überhaupt den Dritten gibt (in Bezug auf diese Frage ist Levinas auffällig zurückhaltend), kann deutlich werden, weshalb und auf welche Weise mich der Dritte im Anderen immer schon ansehen muss. Auch kommt an diesen Stellen zum Ausdruck, dass für Levinas der Andere auf einer ursprünglichen Ebene selbst ein Verantwortlicher ist. 547 Vgl. TU308: »Wir-sein, heißt nicht, sich um eine gemeinsame Aufgabe drängen oder stoßen.« Hier richtet sich Levinas vermutlich auch gegen Heideggers Verständnis von Mitsein, nach dem die Individuen verbunden sind über den gemeinsamen Bezug zum Sein und die Aufgabe, das Sein dasein zu lassen (vgl. dazu ZA18 sowie TU90 u. 123 f.).

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rührt sich die phänomenologische Analyse der Beziehung zum Gesicht des Anderen mit der der Fruchtbarkeit. Wie bereits dargestellt 548, geht diese zwar von der konkreten biologischen Beziehung aus, der Zeugung neuen Lebens, hebt dann aber Momente hervor, die zwar in der Kindesbeziehung besonders zum Vorschein kommen, aber in der Beziehung mit jedem Anderen bestehen: die Identität mit dem Anderen, die darin liegt, dass man dessen Möglichkeiten als die eigenen ansehen kann, die Erfüllung des Begehrens, nicht nur zu geben, sondern das Vermögen der Gabe oder das Begehren selbst zu geben, und die Einsetzung eines Anderen in die Einzigkeit des Verantwortlichen. Abstrakt formuliert ist die Vaterschaft für Levinas die »Stiftung einer Einzigkeit, mit der die Einzigkeit des Vaters eins ist und nicht eins ist« (TU309). So ist für ihn »die Biologie nicht eine bloß kontingente Ordnung des Seins ohne Beziehung mit seinem wesentlichen Ereignis« (TU409), sondern es verwirklichen sich in ihr Grundmomente der ethischen Beziehung. Ja die Vaterschaft und die Brüderlichkeit können für ihn nicht verstanden werden allein als biologische Verhältnisse, sondern nur vom Gesicht des Anderen her. 549 Und deshalb kann er die Ausdrücke und die Beschreibungen der Verwandtschaftsverhältnisse auch auf die ethische Beziehung und ihren Übergang zur Gemeinschaft übertragen (TU407–409): Auf den Anderen kann ich mich beziehen als auf meinen Vater, der mich zum verantwortlichen Einzigen erwählt, und zwar als selbst Einzigen. Weil der Vater aber nur getrennt sein kann in der Einzigkeit seiner Verantwortung und weil diese Verantwortung nicht gegenüber mir bestehen kann, da auf diese Weise nicht mehr ein asymmetrisches Verhältnis und so auch nicht mehr das Verhältnis von Getrennten gegeben wäre, muss sich der Vater auf weitere beziehen 550 und bin Vgl. oben, S. 378–381. Vgl. TU309: »Die Vaterschaft geht nicht zurück auf eine Kausalität, an der die Individuen auf geheimnisvolle Weise teilhätten und die durch eine nicht weniger geheimnisvolle Wirkung ein Phänomen der Solidarität hervorriefe. Meine Verantwortung gegenüber einem Antlitz, das mich wie ein absolut fremdes ansieht – und die Epiphanie des Antlitzes fällt mit diesen beiden Momenten zusammen –, macht das ursprüngliche Geschehen der Brüderlichkeit aus.« 550 So würde ich es jedenfalls interpretieren, wenn Levinas in TU408 schreibt, dass es den Dritten und weitere Dritte neben mir braucht, damit der Vater in der Beziehung der Auserwählung von Einzigem zu Einzigem doch »seine Trennung […] aufrechterhalten« kann – also genau im Sinne des oben angeführten Gedankens des Ausschlusses der Reziprozität, welche die Trennung vernichten würde. Vgl. auch TU309 f.: Seine Trennung, sein »Nichtzusammenfallen besteht konkret in meiner Stellung als 548 549

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ich so »Bruder unter Brüdern«, Einziger unter anderen Einzigen, Auserwählter »unter anderen Erwählten, unter Gleichen« (TU408). Zugleich kann Levinas von einer Gleichheit ebenso in Bezug auf den mich einsetzenden Anderen als selbst Einzigen sprechen, sowie von einer Brüderlichkeit direkt zu ihm. 551 Manchmal spricht er ganz allgemein von der »Verwandtschaft der Menschen« (TU309). Trotz dieser Gleichsetzung kann Levinas die Beziehung von Einzigem zu Einzigem weiter als asymmetrische verstehen, weil der Andere nur dem Dritten dient, mich aber erwählt. »Die Auserwählung des Ich, seine eigentliche Selbstheit, offenbart sich als Privileg und Unterordnung; denn sie versetzt das Ich nicht unter die anderen Auserwählten, sondern setzt es ihnen gerade gegenüber, damit es ihnen diene, und niemand kann an seine Stelle treten, um das Ausmaß seiner Verantwortung zu ermessen.« (TU408 f.) Rekapitulation der Gründe für Levinas’ Interpretation des Sollens Die Darstellung von Levinas’ Auseinandersetzung mit dem Es-gibt als Ausgangsproblem seines Philosophierens hat zum einen gezeigt, wie für ihn ein Ausweg aus der Bedrohtheit des Menschen durch eine existenzielle Absurdität und damit verbunden die Möglichkeit einer Rechtfertigung philosophischer Aussagen nur durch ein ethisches Sollen eröffnet werden kann. Zum anderen hat sich dabei schon die Richtung der Auslegung dieses Sollens angedeutet. Das Phänomen des Es-gibt als Belastetsein des Subjekts mit seinem Sein, welches sich einstellt, sobald das Subjekt nur von sich ausgeht und auf sich bezogen bleibt, ohne dass dies zugleich von einer Transzendierungsbewegung zum Anderen durchbrochen ist, scheint eine bloß autonome Erklärung des Sollens aus dem Selbstbezug des freien Subjekts auf sich auszuschließen. Das Phänomen der drohenden Auflösung des Subjekts, sobald es sich auf eine übergreifende Einheit des Seins oder der Vernunft als etwas Letztem bezogen sieht, weist darauf hin, dass sich das Sollen nicht aus einer solchen Instanz erklärt. Levinas’ Bruder; es impliziert andere Einzigkeiten neben mir«. Es wäre sehr unwahrscheinlich, wenn Levinas hier, wo er den Verweis auf den Dritten mit den Begriffen der Fruchtbarkeit beschreibt, einen anderen Grund anführen würde als dort, wo er diesen Verweis direkt aus der Beziehung zum Gesicht des Anderen erklärt. 551 Vgl. etwa TU408: »[D]ie Brüderlichkeit ist die eigentliche Beziehung mit dem Antlitz; in ihr vollzieht sich gleichzeitig meine Auserwählung und die Gleichheit, d. h. die Meisterschaft, die der Andere über mich ausübt«.

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differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Modell wird, da es hier um einen zentralen Unterschied zu Fichte geht, im folgenden Vergleichskapitel noch eingehender betrachtet werden. 552 Die Argumente werden sich dabei als abhängig von Levinas’ ethischer Grundintuition erweisen. Von dieser Intuition her – so konnte gezeigt werden – erklärt sich auch, wie Levinas das Es-gibt empfindet und beschreibt. Die Phänomene des Es-gibt können zwar auf eine bestimmte Auslegung des Sollens weisen. Der Hauptzugang muss jedoch direkt in der Analyse des Sollens liegen und von diesem Kern der ethischen Beziehung her muss sich ihre Beschreibung letztlich rechtfertigen. Es wurde gezeigt, wie Levinas selbst die Auslegung der Verantwortung als einer zunächst immer asymmetrischen, in der ich gegenüber dem Anderen verantwortlich bin, bevor ich ihn auf seine Verantwortlichkeit hin betrachten kann, als den eigentlichen Aufhängepunkt seines Philosophierens bestimmt. Von daher ergibt sich, dass sich das Sollen nicht aus der Autonomie des Subjekts erklären kann, denn dann würden dessen Verantwortlichkeit und die des Anderen von vornherein symmetrisch beurteilt werden. Ebenso schließt die Asymmetrie die Herkunft des Sollens aus dem Rückgriff auf eine Universalinstanz aus und erweist die Eingebundenheit des Subjekts in seine Perspektivität als das Ursprüngliche. So ergibt sich das Modell einer Transzendenzbeziehung getrennter Subjekte. Und aus dem Erfordernis von Getrenntheit (Bestätigung des Subjekts) und Transzendenz (Sichvon-sich-Lösen des Subjekts) erklärt sich die Problematik des Es-gibt. Die Konstitution des Sollens als Empfangen eines in keiner Weise im Subjekt schon vorhandenen, vom Anderen ausgehenden radikal Neuen zu verstehen, legt sich für Levinas zwar schon durch sein ausgehend von Husserls Empfindungsanalysen und Heideggers Beschreibungen der Angst gefasstes Intentionalitätskonzept nahe, als wirklich erforderlich erweist es sich jedoch für das Festhalten am Phänomen der fundamentalen ethischen Asymmetrie. Bestätigt wird diese für Levinas zum einen durch ihre direkte Beschreibung, zum anderen durch verschiedene Phänomene, die als Implikationen von ihr betrachtet werden können: ein zur Verantwortung gehöriges Nichtankommen in einem guten Gewissen, eine Dynamik des Anwachsens der Verantwortung sowie der Ferne zum Anderen in der ethischen Annäherung wie auch Phänomene der Stellvertretung. Es 552

Vgl. S. 477–483.

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handelt sich dabei für Levinas nicht um einfach unbezweifelbar gegebene Phänomene. Er geht, wie dies in der Darstellung seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach der objektiven Gewissheit herausgearbeitet wurde, über das hinaus, was die phänomenologische Reduktion mit einer objektiven Evidenz erschließen kann, und stützt sich auf einen sich nach einer unverfügbaren Sollensintuition richtenden Glauben. 553 Blickt man auf die differenzierte Argumentation von Levinas, dann wird deutlich, dass sich sein Insistieren auf einem vom Anderen ausgehenden Denken nicht einfach aus einem biographisch erwachsenden moralischen Impetus erklären lässt. Seine eigenen Erfahrungen der Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus sind sicher ein Anlass dafür gewesen, Phänomene ernst zu nehmen, die auf eine Vorordnung des Anderen vor dem Selbst und vor jeder Form von übergreifender Universalität und Totalität verweisen, sowie eine Motivation zum radikalen Überdenken der bisherigen Weise zu philosophieren. Seinen Ansatz aber als vor allem biographisch begründet darzustellen 554, nimmt Levinas zu wenig als Philosophen ernst und übersieht seine philosophisch relevanten Argumente. Genauso wird m. E. freilich umgekehrt das Niveau von Levinas’ Philosophieren unterboten, wenn einfachhin neuzeitliche Konzeptionen als untauglich für ein Denken nach Auschwitz abgetan werden.

2.1.2.3 Die Unterschiede zu Fichtes Interpretation des Sollens Nachdem Levinas’ Rekonstruktion des Sollens und ihre Begründung nachvollzogen wurden, können nun genauer die zentralen Unterschiede zu Fichtes Auslegung herausgearbeitet werden. Zur genauen Abgrenzung wird es nötig sein, die levinassche Verhältnisbestimmung von Heteronomie und Autonomie nachzuvollziehen. Dadurch kann sein Konzept der Beziehung zum Anderen noch einmal genauer gefasst und dessen philosophische Rechtfertigung erhellt werden. Meines Erachtens lässt sich die Verschiedenheit der beiden Konzepte 553 Von daher kann man sich m. E. für das Behaupten levinasscher Positionen im Diskurs nicht einfach auf die phänomenologische Reduktion berufen, wie das etwa bei Josef Wohlmuth verschiedentlich zu beobachten ist (vgl. etwa 2002, 43 u. 158). Zu Levinas’ eigener Bezugnahme auf die phänomenologische Reduktion vgl. oben, Anm. 405. 554 Dies geschieht etwa bei Klaus Müller (1998, 145–147).

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auf zwei Momente zurückführen. Sie hängen eng zusammen, sollen aber im Folgenden nacheinander behandelt werden. Um zu zeigen, was bloß vermeintliche Unterschiede sind, soll an diese beiden Punkte zunächst ausgehend von den Gemeinsamkeiten in der Beschreibung der Beziehung zum Anderen und des Verpflichtetseins ihm gegenüber herangeführt werden. Zu den Entsprechungen in der Beschreibung der ethischen Beziehung zum Anderen Die Begegnung mit dem Anderen kann von Fichte ganz ähnlich durch das Moment des Zurückschreckens in meinem natürlichen MichAusbreiten in der Welt beschrieben werden. 555 Denn auch für ihn findet die Beziehung zunächst auf der leiblichen Ebene statt, auf der wir uns gegenseitig in unseren praktischen Lebensvollzügen begrenzen und gemeinsam abhängig sind von derselben Nahrungsquelle. Und wie für Levinas ist für Fichte kategorisch eine unbedingte Achtung des Anderen unter Zurückstellung jeglicher Eigeninteressen gefordert. Indem für ihn der Andere eine Manifestation des göttlichen Lebens darstellt und ihm von daher auf eine Weise schon eine moralische Vollkommenheit zukommt, könnte er dieses Zurückschrecken ähnlich als Begegnung mit einer absolut zu achtenden Heiligkeit des Anderen beschreiben. In Bezug auf die Phänomene, die für Levinas den Kern seiner Auslegung des Sollens auf eine Asymmetrie hin ausmachen, lassen sich ebenso Übereinstimmungen bei Fichte feststellen. Auch er beschreibt die Eingebundenheit des Subjekts in seine subjektive Perspektive. Und indem er den Anderen nicht reduziert auf meine Vorstellung des Anderen, transzendiert dieser für ihn immer meine Subjektivität, ist uneinholbar eine Sphäre einer eigenen Freiheit und eines eigenen Bewusstseins, aus der heraus er mich erkennen, auf mich wirken und mit mir kommunizieren kann. Von daher könnte Fichte genauso das Phänomen des Kippens zwischen dem Erleben der subjektiven Konstituiertheit meines Bewusstseins des Anderen und des Nicht-von-mir-Konstituiertseins des Anderen

555 Vgl. etwa S204: »[W]ir fühlen unser Handeln zurückgestoßen innerlich; es ist eine Beschränkung unsers Triebes nach Handeln sogar; und daher schließen wir auf Freiheit außer uns. (Treflich druckt dies aus Herr Schelling […]h:i Wo meine moralische Macht Widerstand findet, kann nicht Natur seyn. Schaudernd stehe ich stille. Hier ist Menschheit! ruft es mir entgegen; ich darf nicht weiter.)«

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selbst beschreiben. Dass das Subjekt aus dieser subjektiven Perspektive heraus mit dem moralischen Imperativ konfrontiert ist, führt bei ihm dann sogar zur Beschreibung einer Asymmetrie in der Verpflichtung: Das Subjekt muss sich selbst als bloßes Mittel für die Realisierung des Imperativs, die Anderen jedoch als letzte Zwecke betrachten, und es findet sich zunächst als uneingeschränkt für alles verantwortlich. 556 Der entscheidende Unterschied, wie er unten unter dem Stichwort ›Auto-n o m i e ‹ herausgearbeitet werden wird, liegt freilich darin, dass Fichte diese Konfrontation versteht als Bezug auf ein mich verpflichtendes universales Vernunftleben, an dem die Individuen teilhaben. Er legt die Sollenserfahrung so aus, dass die neutrale universale Perspektive der subjektiven letztlich vorgeordnet ist. Und deshalb fallen für ihn trotz der Beschreibung einer Asymmetrie die Pflichten ganz symmetrisch aus. Zwar muss sich das ethische Subjekt weiter die Gesamtheit der Vernunftwesen angelegen sein lassen, zwar darf es sich dabei weiter nur als Mittel betrachten und muss deshalb idealerweise ganz selbstvergessen im Wirken für die Anderen aufgehen. Die Vorordnung der universalen Perspektive führt jedoch dazu, dass die Pflicht, die ich mir und dem anderen zuschreiben kann, mich selbst als Mittel zu achten, dasselbe Gewicht hat wie meine Pflicht, den Anderen als Zweck zu achten. Und da es nicht der Andere, sondern ein universaler Zweck ist, auf den das Individuum verpflichtet ist, kann man auch nicht wie bei Levinas sagen, dass alle Verpflichtung letztlich gegenüber dem Anderen besteht. Der Rekurs auf eine Universalinstanz, an welcher das Subjekt teilhat, ermöglicht es Fichte zudem, den Imperativ ursprünglich in dessen Autonomie begründet sein zu lassen, sodass eine Bindung an den Anderen auch nicht dadurch entsteht, dass der Imperativ letztlich immer auf ihn zurückgeführt werden müsste. Wo liegt in Bezug auf die Selbstkonstitution des Imperativs – im Folgenden unter dem Stichwort ›A u t o -nomie‹ behandelt – genau der Unterschied und wo bestehen vielmehr Übereinstimmungen? Wenn der Imperativ für Fichte ursprünglich aus der Autonomie erwächst, dann bedeutet dies nicht, dass es anders als für Levinas als eine aktive Leistung erscheinen würde, die ich in der Hand habe und die meiner freien Entscheidung entspringt. 557 Für beide finden sich Vgl. dazu u. zum Folgenden unten, S. 483–486. Von daher ist die durch Josef Wohlmuth ausgehend von Levinas gegen Thomas Pröppers autonomes Modell geäußerte Kritik, dass die Verantwortung bei ihm zu 556 557

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das Bewusstsein und die Freiheit unausweichlich mit dem Imperativ konfrontiert. Und für beide setzt das Subjekt, ohne dass dadurch ausgeschlossen wäre, dass es sich zum Imperativ auf einer sekundären Ebene wahlfrei verhalten kann und muss, bereits vor der Wahlfreiheit eine ursprüngliche Zustimmung zu ihm. 558 Das autonome Ethikkonzept Fichtes impliziert auch nicht, dass der Imperativ als etwas erlebt würde, dessen Gültigkeit von meiner Konstitutionsleistung bedingt ist und nicht unabhängig davon besteht. Der Vollzug der individuellen Autonomie wird als Nachvollzug der Tätigkeit des einen Daseins und diese wiederum als Nachvollzug des Gesetzes verstanden, welches das Absolute selbst ist. Man kann den Unterschied zu Levinas auch nicht so bestimmen, dass die autonome Konstitution bei Fichte lediglich aus dem Subjekt heraus erfolgen würde, ohne dabei auf etwas vom Anderen Ausgehendes angewiesen zu sein, und dass das Subjekt rein in sich abgeschlossen wäre. Dem levinasschen Modell kommt u. a. dadurch eine besondere Attraktivität zu, dass es das Subjekt als von vornherein geöffnet und in einem unmittelbaren Kontakt mit dem transzendenten Anderen versteht. Dies ist aber ähnlich bei Fichte der Fall. Auf der leiblichen Ebene wird die Beziehung zu anderem – blickt man auf sein Konzept des Anstoßes, und zwar im Rahmen seiner Spätphilosophie – ganz ähnlich wie bei Levinas als reales Eingeschränktsein meiner Aktivität durch den Anderen verstanden, als wirkliches passives Betroffensein durch ihn. Und diese Begrenzung ist nötig dafür, dass sich die autonome Setzung der Bewusstseinsgehalte entfalten kann. Für die autonome Setzung des moralischen Imperativs ist sogar ein vom Anderen ausgehender ethischer Aufruf nötig. Dieser Aufruf ist zwar über die Begrenzungen auf der leiblichen Ebene vermittelt und in seinem Gehalt autonom konstituiert. Aber blickt man auf das Interpersonalitätskonzept des späten Fichte, nach dem sich die Individuen in Abgrenzung voneinander aus einem überindividuell gemeinsamen Vollzug ausgliedern, dann impliziert dies ein unmittelbares Verhältnis auch zum individuellen etwas werde, was »aus der freien Entscheidung entspringt« (2006, 155, auch 157 u. vgl. ähnlich Dirscherl, 2006a, 254 f.), nicht auf Fichte (und m. E. auch nicht zu Recht auf Pröppers vom frühen Fichte her entwickelte Sollensanalyse) zu beziehen. 558 Von daher kann man m. E. den Unterschied zwischen beiden nicht wie Drew M. Dalton (2006, 23) so bestimmen, dass der Imperativ für Fichte immer durch den freien Willen angenommen oder abgelehnt werde, während er für Levinas eine moralische Notwendigkeit darstelle. Bei beiden finden sich beide Phänomene. Zur Bedeutung der wahlfreien Zustimmung bei Levinas vgl. unten, S. 469–471. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Anderen – nicht nur auf der leiblich-naturhaften Ebene, sondern zu ihm in seinem Subjektskern. Es finden sich – soweit ich sehe – zur Zeit der Anweisung bei Fichte keine ausdrücklichen Hinweise auf solch einen unmittelbaren Bezug, in seinen spätesten Schriften deutet es sich jedoch an, dass er selbst in diese Richtung gedacht hat. 559 Nach meiner Interpretation des Zusammenhangs zwischen Interpersonalspaltung und Naturorganisation ergibt sich freilich eine Begrenzung, die sich in einem Gefühl manifestiert, nur auf der leiblichen Ebene und so würde sich das Bewusstsein des Anderen nur über die verstehende Auffassung dieser Begrenzung entfalten. Und selbst wenn Fichte eine noch einmal darüber hinausgehende besondere Weise der

559 Vgl. die Bemerkungen von Reinhard Lauth in Bezug auf Fichtes späte Aufzeichnungen zum animalischen Magnetismus (1989, 205). Scott F. Scribner (2000, 154– 156) weist darauf hin, dass sich auch beim frühen Fichte das Konzept einer unmittelbaren Beeinflussung durch andere Geistwesen findet und rückt dies in die Nähe des unmittelbaren Betroffenseins durch den Anderen bei Levinas. Er stützt sich auf Fichtes Ausführungen in der Grundlage des Naturrechts (bes. GNR371–377) zu einem Unterschied zwischen einer groben Materie, die sich auf einen niederen Sinn, der in der Empfindung beschränkt ist, bezieht und einer subtilen Materie, die sich auf einen höheren Sinn oder ein höheres Organ bezieht, in welchen Fichte das Vermögen realisiert sieht, innerlich frei das Empfundene durch eine Art Nachbildung verstehend zu durchdringen, sowie das Vermögen, Vorstellungen für mögliche Handlungen zu fassen, ohne schon zu handeln. Die Aufforderung des Anderen wird von Fichte als etwas beschrieben, was sich, wenn sich der Andere auf das freie Wesen beziehen soll, an diesen höheren Sinn richten muss. Und dies ist der Grund dafür, dass Scribner hier von einer sich unmittelbar an das freie und verstehende Subjekt selbst richtenden Beeinflussung sprechen kann. Nicht einleuchtend ist freilich, wie er dies als eine Unterhöhlung des transzendentalen Ansatzes deutet, denn auch hier handelt es sich offensichtlich – das wird spätestens deutlich, wenn Fichte die subtile Materie mit Luft und Licht identifiziert – um eine, wenn auch besondere, leibliche Empfindung, die der autonomen verstehenden Auffassung bedarf, deren Procedere Fichte dann auch ausführlich in der GNR für die Auffassung eines Vernunftwesens klärt. Dazu kommt, dass sich Fichte, wie Harald Schöndorf (1982, 45–50) gezeigt hat, mit dieser Theorie der auf einen höheren Sinn bezogenen subtilen Materie in Ungereimtheiten verstrickt. In ihnen kann man m. E. begründet sehen, dass sie sich schon in der frühen Sittenlehre und auch später bei Fichte nicht mehr findet. Sie scheint zudem unnötig zu sein, da es durchaus denkbar ist, die verstehende Auffassung des Anderen als Anderen ansetzen zu lassen an Empfindungen, in denen ich ganz gebunden bin, und da diese Bindung nicht bedeuten muss, dass sie auf einen Akt des Anderen zurückgeht, in dem er mich wie eine bloße Sache und nicht als freies Wesen behandelt hat. Von daher erscheint es mir nicht angebracht, ausgehend von dieser Theorie das Modell des frühen Fichte in die Richtung einer unmittelbaren geistigen Beeinflussung zu interpretieren. Und deshalb bin ich auf diese Theorie oben im Teil zu Fichte auch nicht eingegangen.

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geistigen Beeinflussung annehmen sollte, würde die ethische Bedeutung für ihn doch auf eine autonome Weise konstituiert werden, die nicht noch einmal durch die Bezogenheit auf den Anderen durchbrochen wird. Darin liegt der eigentliche Unterschied, der nun im Folgenden genauer betrachtet werden soll. Erster Hauptunterschied: Vorgängigkeit zur A u t o -nomie Selbst wenn Fichte ein unmittelbares Bezogensein nicht nur auf den Anderen in der Form einer Begrenzung meiner leiblichen Tätigkeit, sondern als ein Affiziertwerden durch den Anderen in seiner individuellen Subjektivität angenommen haben sollte, wofür zumindest in seinem späteren Konzept durchaus Raum besteht, dann würde er trotzdem jedes Bewusstsein des Verpflichtetseins gegenüber dem Anderen, das mit dieser Affektion einhergeht, sei es als unausdrückliches Gefühl oder als klare Vorstellung, als von mir, meinem autonomen Vernunftvollzug und meiner intellektuellen Selbstanschauung aus konstituiert und gerechtfertigt gedacht haben – und nicht so, dass die Autonomie selbst noch einmal abhängig wäre von dieser Unmittelbarkeit zum individuellen Anderen. Dasselbe gilt für das Verhältnis zum Absoluten. Das Subjekt wird auf das Absolute nur dadurch verwiesen, dass es sein Dasein nicht begründen kann, nicht aber im Vollzug seines eigentlichen Grundwillens oder des göttlichen Lebens. Das Dass des autonomen Subjekts ist vom Absoluten gesetzt, und zwar, indem ihm das eigene Leben oder der eigene Wille Gottes mitgeteilt ist. Es vollzieht dieses Leben aber selbständig und ohne darin noch einmal auf das Absolute selbst verwiesen zu sein. 560 Für Levinas wird die ethische Bedeutung demgegenüber ausdrücklich nicht allein autonom 561 gesetzt, sondern abhängig von der 560 Insofern halte ich es zumindest für missverständlich, wenn Saskia Wendel im Zusammenhang eines Vergleichs mit Levinas auch für Fichte von einer »Heteronomie« – und offenbar nicht nur im Sinne des ursprünglich vorwahlfreien und notwendigen Charakters der Autonomie, sondern im Sinn einer der Autonomie inhärenten Verwiesenheit auf das Absolute – spricht (1996, 167). 561 Es wird hier vorausgesetzt, dass Levinas, wenn er das Wort ›Autonomie‹ verwendet, dasselbe meint wie Fichte, nämlich das Vermögen, aus sich heraus das sittliche Sollen zu artikulieren, aus so etwas wie einem ursprünglichen Wissen und einem ursprünglichen Wollen. Levinas verwendet ›Autonomie‹ durchaus in diesem Sinn und schließt sie so als Fundament der Ethik aus (etwa TU25, 84 u. 98). Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass er das Wort nicht immer in dieser Bedeutung gebraucht, sondern ebenso allgemeiner im Sinne einer Selbständigkeit und Selbstmäch-

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Beziehung zum Anderen, vom Affiziertwerden durch den Anderen, und, wie sich zeigen wird, noch ursprünglicher durch das Unendliche. Der ethische Imperativ ist zunächst nicht ein ethisches Urteil oder Bewusstsein, und sei dies noch so implizit und vorgegenständlich, sondern das Betroffensein durch den transzendenten Anderen. Er kann letztlich nicht autonom begründet sein, sondern muss sich als Bruch oder Überbietung meines autonom urteilenden Feststellens der Verantwortung ereignen. Es kann deshalb auch nicht sein, dass ich als Bedingung für dieses Affiziertwerdenkönnen schon ein ursprüngliches Wissen um die ethische Bedeutsamkeit mitbringen müsste, denn dann könnte ich das autonom entfalten, ohne Bezug auf den Anderen, oder nur so, dass dieser die Rolle eines notwendigen Anstoßes für die Entfaltung hätte – wie das bei Fichte gedacht ist –, ohne aber konstitutiv zu sein für die ethische Bedeutung selbst. Von daher kann man zwar für Levinas und Fichte gleichermaßen von einem Kippen in der Wahrnehmung des mich auffordernden Anderen zwischen dem Bewusstsein meiner Konstitution und dem Bewusstsein eines passiven Betroffenseins durch ihn als mir transzendentem sprechen; während aber bei Fichte dieses Kippen auf eine zwar an die sinnliche Erfahrung des Anderen anknüpfende, in der kategorialen Auffassung und der Füllung mit der ethischen Bedeutung aber autonome subjektive Leistung meinerseits zurückgeht, ist es bei Levinas fundiert in einem passiven Betroffensein durch den Anderen in seiner Anderheit. 562 Für Fichte wird die Fremderfahrung ganz ähnlich konstituiert wie für Husserl: durch eine Übertragung des aus der Selbsterfahrung Gewonnenen in die sinnliche Gegebenheit des Anderen. Gleichzeitig hält Levinas daran fest, dass mich der Anspruch des Anderen nicht auf eine Weise trifft, dass ich ihm nicht zugleich aus mir heraus zustimmen könnte. Das Phänomen der Autonomie – dass ich mich selbst auffordere, nicht nur von außen aufgefordert werde, tigkeit, die sich auch willkürlich vollziehen kann (TU82, 167 u. 236). Eine gewisse Vermischung scheint dabei Programm zu sein. Denn für ihn ist die Autonomie auch in der Form eines rein aus mir heraus, nicht willkürlich, sondern gemäß eines inneren Gesetzes gefällten sittlichen Urteils insofern unmoralisch wie jede rein selbstherrliche Tat oder willkürliche Meinung, als ich darin in meiner Immanenz bleibe und der Anderheit des Anderen nicht gerecht werde. 562 Insofern ist es m. E. zu wenig gesagt, wenn man wie Jakub Kloc-Konkołowicz (2007, 395 f.) lediglich auf die Übereinstimmung zwischen Fichte und Levinas in der Beschreibung des unmittelbaren Betroffenseins durch den zu achtenden Anderen in der leiblichen Begegnung abhebt.

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und dass ich die Aufforderung als aus mir gerechtfertigt erlebe – beachtet Levinas, versucht es in seinen Ansatz zu integrieren und gibt ihm innerhalb seines Konzepts einer Beziehung Getrennter sogar eine wesentliche Bedeutung. Das eigentliche ethische Geschehen, das dann zugleich als Ereignis des Unendlichen gedeutet wird, vollzieht sich nicht allein im Anderen, sondern in der Beziehung zwischen Ich und Anderem. Es ereignet sich entsprechend nicht nur in der Forderung des Anderen, sondern darin, dass diese das Ich tatsächlich trifft und infrage stellt. Die Forderung muss im Ich ankommen und das Ich muss dabei als selbständiger Pol der Beziehung erhalten bleiben. Dies geschieht dadurch, dass das Ich die Forderung autonom an sich selbst richtet. 563 Da die ethische Bedeutung für Levinas aber ursprünglich aus der Infragestellung durch den Anderen erwächst, muss er dieser Autonomie eine – wie er es nennt – Heteronomie vorordnen. 564 Es handelt sich dabei keineswegs um das, was Kant unter Heteronomie versteht, also nicht um ein Sichbestimmenlassen durch die eigenen Neigungen statt durch die Autonomie. 565 Die Infragestellung durch den Anderen lässt mich nicht nur meine Neigungsbestimmtheit überwinden, sondern verbindet mich auch nicht vermittels irgendwelcher versteckten Neigungen. Und anders als bei 563 Insofern würde Levinas die Frage, die Magnus Striet stellt, ob nicht auch er in seinem Modell eines In-die-Verantwortung-genommen-Seins vorgängig zum freien Sich-dazu-Verhalten zugleich anführen muss, dass sich die Unbedingtheit des Anspruches erst realisiert, wenn er sich an das Ich richtet als etwas, was dieses übernehmen soll, und wenn dieses ihn tatsächlich übernimmt (2013, 338), m. E. bejahen. 564 Vgl. etwa JS325, 277 u. TU213. 565 Vgl. AA 5 33. Den Unterschied zur kantischen Heteronomie und die Ähnlichkeit zu seinem Verständnis der jenseits von Eigeninteresse und Wahlfreiheit sich bewegenden und doch eigenen Aktivität der Autonomie hat Darin Crawford Gates (2002, v. a. 494–508) sehr genau herausgearbeitet, ohne aber zu klären, wie Levinas trotz seiner Form von Heteronomie an einer wirklichen Autonomie festhalten kann. Zudem kann Gates zeigen, wie auch bei Kant das moralische Gesetz an das selbstzweckliche Individuum gebunden ist (508–511). Er nivelliert dabei aber m. E., dass für Levinas im Unterschied zu Kant die Ebene des universalen Gesetzes immer nur sekundäre Bedeutung hat (513 f.). Auch der Unterschied in der Abhängigkeit des Betroffenseins durch den Imperativ vom Anderen wird nivelliert (511 f. u. 514 f.). Ähnlich geschieht dies bei Norbert Fischer (2005, 317 f. u. Fischer/Hattrup, 1999, 180 f.). Das gegenüber Kant bestehende kritische Potential der levinasschen Vorordnung der Heteronomie vor die Autonomie verschleiert Fischer m. E. zudem dadurch, dass er zwar wie Gates zeigt, dass Heteronomie bei Levinas nichts mit einem Bestimmtsein durch Neigungen zu tun hat, aber den Begriff der Autonomie nur in der Bedeutung der von einer Verpflichtung zunächst ganz losgelösten Selbstmächtigkeit herausarbeitet (vgl. zu dieser Verwendung Anm. 561).

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Kant ist in Levinas’ Heteronomie das autonome Sichbestimmen nicht ausgeschlossen, sondern integriert. Er nennt sie deshalb eine »privilegierte Heteronomie« (TU122). Für Levinas ist von vornherein klar, dass die Autonomie ihrem Phänomen nach so weitreichend ist, dass sie auf der Ebene meines freien und überhaupt meines bewussten Urteilens nicht mehr beschränkt werden oder abhängig sein könnte. Sie muss sehr viel ursprünglicher in einer Abhängigkeit stehen. Die genaue Bestimmung, um was für eine Abhängigkeit es Levinas hier geht, ist einer der schwierigsten Punkte in der Levinas-Interpretation. Um den Unterschied zu Fichte deutlich machen zu können, aber auch, weil sich hier Grundschwierigkeiten des levinasschen Ansatzes zeigen, an denen sich entscheidet, ob er mit einem schlüssigen Konzept überzeugen kann, muss eine möglichst genaue Interpretation versucht werden. Es soll im Folgenden zuerst geklärt werden, worauf sich für Levinas die Abhängigkeit bezieht, und als zweites, wie sie von ihm bestimmt und als möglich ausgewiesen wird. Worauf bezieht sich die Abhängigkeit vom Anderen? Das Anliegen von Levinas, die Autonomie auf grundlegende Weise abhängig sein zu lassen, sowie verschiedene Aussagen über eine Konstitution des Subjekts und ihre Verbindung mit dem Schöpfungsbegriff besonders aus der späteren Zeit 566 können die Interpretation 566 Levinas sagt etwa in JS234 über das Sich (– so bezeichnet er, um die Passivität auszudrücken, in JS das Subjekt): »Es entsteht als unauflösbare Verknüpfung in einer Verantwortung für den Anderen.« In JS232 schreibt er: »Das Sich kann sich nicht bilden, es ist bereits gebildet aus absoluter Passivität«. Noch mehr legt sich die genannte Interpretation nahe, wenn er diese Aussagen hier mit dem Begriff der Schöpfung verbindet, die er als eine creatio ex nihilo versteht. Man muss freilich sehen, dass er in diesem Kapitel über die Rekurrenz zwar von der Verantwortung ausgeht, die Rekurrenz und das Sich aber in den meisten Teilen unabhängig davon als eine allgemeine Grundstruktur des Subjekts erhellt, die er dann in JS241–243 ebenso im leiblichen Subjekt wiederfinden kann. Auch sonst wird m. E. zu wenig wahrgenommen, dass Levinas neben der ethischen eine leibliche Rekurrenz beschreibt und beides unterschieden werden muss (etwa bei Thomas Freyer, 1996, 120 f. u. 1997, 11 f.). Wenn der Leib hier als das angesprochen wird, »wodurch das Sich die Empfänglichkeit selbst ist« (JS24212 ), wird damit m. E. die Theorie der Vorgängigkeit der leiblichen Konstitution zur ethischen Beziehung aus TU bestätigt (vgl. dazu auch unten, Anm. 567). Die Rede von der Bildung des Sich kann also auch auf die leibliche Konstitution bezogen werden. Außerdem könnte damit nur die Bildung der Identität des Subjektes als eines verantwortlichen gemeint sein und nicht seine Entstehung über-

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nahelegen, dass für ihn der Anruf des Anderen an gar nichts auf der Seite des Angerufenen anknüpft, ja diesen sogar überhaupt erst setzt. Schon in Totalität und Unendlichkeit finden sich Formulierungen, die in diese Richtung weisen, etwa die von der »Einsetzung der Freiheit« (TU116). Schaut man, was »Einsetzung« hier bedeutet und auf was sich die Abhängigkeit dabei für Levinas genau bezieht, so ist es lediglich die Infragestellung der willkürlichen Freiheit. Und die Infragestellung knüpft für ihn an das freie, unabhängige, sich in der Immanenz des Bewusstseins und des Besorgtseins um sich und sein im Genießen befindliche Subjekt an. Das lässt sich für Totalität und Unendlichkeit belegen, und ebenso für Jenseits des Seins. 567 Also ledighaupt. In Bezug auf die Rede von der Schöpfung muss man sich klarmachen, dass Levinas das Wort ›Schöpfung‹ in JS mehr oder weniger nur noch als Metapher verwendet, um eine radikale Abhängigkeit von einer Exteriorität herauszustellen (vgl. dazu unten, Anm. 810). 567 Vgl. etwa TU293: Der »Skandal der Andersheit setzt die ruhige Identität des Selben voraus, eine selbstgewisse Freiheit, die in ihrer Ausübung keinen Skrupel kennt«. Wie noch gezeigt werden wird, muss für Levinas sogar die Infragestellung an ein unabhängig von der Beziehung zum Anderen als getrennt konstituiertes Subjekt anknüpfen, damit eine wirkliche Trennung und somit eine wirkliche Transzendenzbeziehung möglich ist (vgl. unten, S. 675–681). Wenn er in JS das Genießen als »Möglichkeit, sich, befreit von dialektischen Spannungen, in sich selbst zu gefallen« und insofern als »Bedingung des Für-den-Anderen« anspricht (JS167), dann kann man hier genau die Begründung aus TU wiederfinden. In JS hält Levinas auch an der früheren Phänomenologie des Genusses fest. Er bezieht sich JS13442 zurück auf deren ausführliche Entfaltung in TU, stellt sie daneben aber in JS164–169 auch noch einmal in geraffter Form dar. Und wieder betont er, dass das passive Für-den-Anderen, die Sensibilität, gerade an der Einsamkeit des Für-sich, am Genuss, ansetzt. »Das Für-denAnderen der Sensibilität zählt erst, wenn man so sagen kann, vom Genießen und vom Auskosten her. Gerade vom Auskosten und vom Genießen muß die Untersuchung der Sensibilität ausgehen« (JS134; vgl. auch JS148 f., 164 u. 167 f.). Wenn er vom »Herz des Für-sich, das im Genießen schlägt, im Leben, das sich in sich selbst gefällt« (JS134) spricht, dann ist hier die Theorie der Konstitution des Subjekts im Genuss ausgedrückt. Levinas kann auch weiter das Mich-Betreffen des Anderen so ausdrücken, dass »die Passivität der Besessenheit […] die naive Spontaneität des Ego in Frage« (JS206) stellt. Die im Genuss konstituierte Identität ist für ihn also weiterhin Bedingung für die Beziehung zum Anderen. Diese Kontinuität arbeitet auch Jakub Sirovátka (2006, 33 f.) heraus. Anders interpretieren etwa Bernhard Grümme (1998, 517) und Thomas Bedorf (2012, 70 f.), beide allerdings ohne Belege. Auch Branko Klun belegt seine These, der frühe Levinas sei rein vom getrennten Subjekt ausgegangen und habe, weil von da aus die absolute Anderheit des Anderen nicht erreichbar sei, später angenommen, dass die Bezogenheit auf den Anderen der Konstitution des Subjekts immer schon vorausgehe (2013, 217–219), nicht wirklich am Text. Meines Erachtens kann man weder für den späten Levinas nur von einer »methodischen Ausrichtung […] ›vom Anderen zu mir‹« noch für den frühen Levinas von einer Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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lich die Infragestellung der Freiheit oder die Umlenkung des Wollens aus dem Selbstbezug in den ethischen Bezug auf den Anderen soll vom Anderen ausgehen und nicht überhaupt das freie Subjekt erst von ihm her konstituiert verstanden werden. Soweit ich sehe, werden in Bezug auf die Abhängigkeit der A u t o -nomie in der Literatur drei Hauptanfragen an Levinas gestellt: 568 Ausrichtung lediglich »›von mir zum Anderen‹« (217) sprechen. Man muss sehen, dass die Idee einer Konstitution des Subjekts der Verantwortung aus der Infragestellung durch den Anderen keineswegs erst ein Konzept von JS ist. Sie ist in TU schon angelegt. Vgl. TU304, wo Levinas das Sichsetzen des Cogito abhängig sein lässt vom Anderen, und dann besonders TU360–362: Hier spricht Levinas vom Ruf in die Verantwortung als der »Auserwählung, in der das Ich sich als Ich vollzieht« (TU361) – der »Auserwählung, die die Subjektivität einsetzt« (TU362). Vgl. dazu auch TU259. 568 Die drei Anfragen lassen sich etwa in Klaus Müllers Kritik an Thomas Freyers theologischer Anknüpfung an Levinas ausmachen (1997, 176 f.): Erstens müsse dafür, vom Anderen in Anspruch genommen zu sein, Subjektivität »logischerweise erst überhaupt einmal gegeben sein« – eine Konstitution des Subjekts aus dieser Beanspruchung erscheint ihm also als fragwürdig. Zweitens werde auch ein ursprüngliches Vertrautsein des Subjekts mit sich vorausgesetzt. Drittens bezieht Müller sich zustimmend auf die Anfrage von Paul Ricœur (vgl. Ricœur, 1996, 407 f.), für den »das Hervorrufen einer verantwortlichen Antwort auf den Anruf des Anderen nur dann, wenn es eine Fähigkeit der Empfänglichkeit, der Unterscheidung und der Anerkennung voraussetzt«, möglich ist. Gemeint ist dabei von Ricœur eine Fähigkeit der Unterscheidung von berechtigten und unberechtigten Forderungen des Anderen aufgrund einer autonomen Kenntnis des gerechtfertigt Gesollten und von da aus die Möglichkeit einer Zustimmung zu Forderungen um ihrer Gerechtfertigtheit willen. Diese dritte Anfrage wird etwa auch bei Hansjürgen Verweyen greifbar in der These, er würde mit der Frage nach der autonomen Legitimierung des Sollensanspruchs des Anderen über Levinas hinausgehen (1997, 18669 ) und er könne für diese eine apriorische Struktur im Subjekt einführen, die keineswegs »der ›Geiselnahme‹ durch den Anderen im Sinne von Levinas im Wege steht« (2002, 16787 ). Verweyen verkennt dabei m. E., dass Levinas die Frage nach der Autonomie durchaus selbst stellt und dass er ganz entschieden jedem Modell widerspricht, das nicht eine Heteronomie der Autonomie vorordnet (auf ein solches Missverständnis weist ebenso Carsten Lotz 2008 7940 ). Auch Ives Radrizzani kritisiert den angeblichen Ausfall der Autonomie bei Levinas (2010, 294), neben der Anfrage, wie eine Erfahrung des Sollens ohne jede subjektive Aktivität erfolgen soll (293) und dem Vorwurf des Ausfalls einer transzendentalen Rückfrage überhaupt (292). Alle drei bei Müller artikulierten Anfragen deuten sich bei Johannes Brachtendorf an. Er deutet Levinas’ Vorordnung des Anderen so, dass er damit »den Anderen als absolutes metaphysisches Prinzip ansetzt, das Ich hingegen bloß als Prinzipat« (2013, 153). Von da aus stellt er die Anfrage: »Wie muß man sich den Vorgang der Konstitution des Ich durch den Anderen denken?« (151) Genauso fraglich ist ihm eine von außen erfolgende Konstitution der Immanenz des Bewusstseins: »Wie schafft die Exteriorität eine geschlossene Immanenz des Seins?« (151) Er argumentiert zwar nicht wie Müller gegen die Möglichkeit solcher Konstitutionen, stellt aber zumindest dieselben Punkte als problematisch heraus. Die

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Setzt ein Betroffenwerden durch anderes (ganz allgemein) nicht voraus, dass das Subjekt unabhängig davon überhaupt gegeben ist? Und setzt es nicht zudem voraus, dass es eine ursprüngliche Art von Selbständigkeit sowie eine ursprüngliche Bewusstseinsbezogenheit auf sich besitzt, die ja ein Subjekt gerade zum Subjekt machen und die auch nicht als in irgendeiner äußeren Vermittlung zustande kommend gedacht werden können? Zum einen wird hier auf die Widersprüchlichkeit aufmerksam gemacht, die entsteht, wenn man das Subjekt aus einer Beziehung zum Subjekt entstehen lässt, aber es für diese Beziehung schon voraussetzt. Zum anderen wird anknüpfend an Fichtes Einsicht in das Scheitern der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins die These der notwendigen Annahme eines ursprünglichen Beisichseins ins Spiel gebracht. Und ist drittens das Betroffenwerden durch den ethischen Anspruch nicht nur möglich unter der Bedingung einer Empfänglichkeit dafür? Beinhaltet diese nicht ein irgendwie implizites Wissen um die ethische Bedeutsamkeit? Und ist dieses Wissen nicht auch deshalb erforderlich, weil es wesentlich zur ethischen Ausrichtung gehört, dass sie nicht von außen kommende Geltungsansprüche übernimmt, sei es aus Neigung, Zwang oder Willkür, sondern sie aus sich als gerechtfertigt erkennt und von daher bejaht? Auch diese Anfrage entspricht der transzendentalphilosophisch die Bedingungen intern im Subjekt aufsuchenden Perspektive Fichtes. Während diese dritte Anfrage uns im nächsten Abschnitt noch weiter beschäftigen wird, können die ersten beiden mit der eben vorgetragenen Interpretation als hinfällig betrachtet werden. Sie beruhen auf einem Missverstehen des levinasschen Konzepts. Levinas selbst geht davon aus, dass die Infragestellung durch den Anderen an das freie und schon in einem ursprünglichen Selbstverhältnis stehende Subjekt anknüpft. Man muss zwar sehen, dass sich für ihn diese Infragestellung ursprünglich vor der Ebene des Bewusstseins ereignet und insofern nicht unmittelbar das bewusste Ich betrifft, aber das im Genuss sich vollziehende Subjekt ist für ihn schon vorgängig zum Bewusstsein gegeben, und auf eine Art selbständig und im Genuss in einem Selbstverhältnis. 569 dritte Anfrage deutet sich an in seiner von Ricœur aus formulierten Kritik, dass bei Levinas das Ich keine Instanz besitze, berechtigte und unberechtigte Forderungen des Anderen zu unterscheiden (152 f.), sowie in der sich an Derrida anschließenden Behauptung, die Achtung des Anderen setze ein »Vorverständnis des Seins« voraus (151 f.). 569 Zur positiven Aufnahme der Beschreibung eines ursprünglichen Beisichseins des Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Gerade wenn man die leibliche Dimension der Beziehung zum Anderen bei Levinas im Blick hat, könnte man gegen die vorgetragene Interpretation freilich vorbringen, dass das Subjekt für ihn zwar vielleicht nicht als vom Anderen als mich infrage Stellendem, wohl aber als im Genießen und in der Abhängigkeit von der Nahrung vom Anderen her leiblich konstituiert verstanden wird und diese Passivität ein wesentliches Moment im Betroffenwerden durch den Anderen darstellt, indem dieser sich sozusagen durch sie hindurch Bahn bricht. Wird hier nicht eine Konstitution von außen vertreten? Und stellen sich nicht hier die genannten ersten beiden Anfragen? Eine genauere Auseinandersetzung geschieht sinnvollerweise erst im Anschluss an die Darstellung der levinasschen Analyse des Genusses. Dort zeigt sich, dass Levinas zwar tatsächlich eine Abhängigkeit des Subjekts in seinem Sein von etwas Äußerem beschreibt, dies aber insofern nicht dem Anliegen der Einwände widerspricht, als hier der Selbstbezug des Subjekts selbst nicht als über ein Äußeres oder gar ein zeitliches Nacheinander vermittelt und die Existenz des Subjekts und seine Selbständigkeit nicht als aus seiner Beziehung zu anderem konstituiert gedacht wird. 570 Insofern diese Anfragen nicht treffen und auch Levinas das Subjekt und dessen Selbstbezug der Beziehung auf Anderes voraussetzt, besteht eine Übereinstimmung mit Fichte. Neben der genannten Abhängigkeit des Seins des Subjekts von der Nahrung liegt der Hauptunterschied freilich darin, dass für Fichte die ethische Bedeutung schon im ursprünglichen Selbstbezug des Subjekts angelegt ist, während sie für Levinas überhaupt erst vom Anderen her in es kommt. Dies hat damit zu tun, dass Fichte das einzelne Ich von vornherein als eine Art Ausgliederung aus der einen allgemeinen Vernunft versteht, die ihm zusammen mit dem Selbstbezug und der Selbständigkeit Subjekts durch Levinas vgl. S. 637–642. Meiner Interpretation nach lässt sich von daher Klaus Müllers These, Levinas lehne die Theorie ab, »die als Bedingung der Möglichkeit von Subjektsein ein präreflexives und unhintergehbares Vertrautsein des Subjekts mit sich selbst postuliert« (1997, 176), nicht halten. Vor dem Hintergrund der Ähnlichkeit in der Beschreibung des ursprünglichen Selbstverhältnisses des Subjekts bei Levinas und der transzendentalphilosophischen Tradition verwundert freilich umgekehrt, wie Erwin Dirscherl, der stark von Levinas her denkt, in einer Auseinandersetzung mit Thomas Pröppers Leibanalyse das von diesem beschriebene transzendentale Ich als etwas bloß Gedachtes und Fiktives kritisiert (2014, 109) und nicht als ein innerhalb der leiblichen Subjektivität zu abstrahierendes Moment des Ganzen würdigen kann. 570 Vgl. unten, Kap. 2.3.4.3.

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auch die ethische Bedeutsamkeit mitgibt. Dass diese für Levinas überhaupt nur in das Subjekt kommt durch die Infragestellung durch den Anderen ist weit mehr als die notwendige und primäre Bezogenheit der Verwirklichung der Ethik auf den Anderen bei Fichte 571 und mehr auch als die Abhängigkeit der Entfaltung des ethischen Bewusstseins von einem Aufruf durch den Anderen 572, welche Entfaltung ja immer für ihn anknüpft an ein ursprüngliches, schon im Subjekt liegendes autonomes Wissen. Durch die Vorgängigkeit zu dieser Autonomie muss für Levinas dieses Betroffenwerden eine »Passivität, die passiver ist als die mit dem Akt verbundene Passivität« (JS254), sein. Aus dieser Vorordnung folgt, dass Levinas den Selbstbezug des verantwortlichen Subjekts anders als Fichte versteht. Da für Fichte das Subjekt die ethische Dimension aus sich schöpfen kann, kann es als Verantwortliches ganz bei sich sein. Auch wenn es sich nicht objektiv fassen und zu keiner objektiven Gewissheit über diese Dimension seiner selbst kommen kann, auch wenn es mit seiner Reflexion immer nur nachträglich auf sich kommen und sich nie erreichen kann, so ist es für Fichte doch in einer intellektuellen Selbstanschauung bei sich. Für Levinas dagegen, da der Selbstbezug des verantwortlichen »Sich« – wie er, um die Passivität auszudrücken, die ethische Subjektivität nennt 573 – nur über den Bezug zum Anderen verläuft, trägt sich dessen diachrone Entzogenheit auch in den Selbstbezug ein. Und so ist es ausgeschlossen, ihn als Beisichsein zu deuten. Zwar bezweifelt Levinas genauso wie Fichte die Gewissheit des Cogito deswegen, weil es sich selbst entzogen ist, aber diese Entzogenheit ist 571 Vgl. dazu oben, S. 206 u. 204. In diesem Punkt könnte man sogar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Fichte und Levinas feststellen, auch wenn bei Fichte die Pflichten gegenüber sich selbst einen anderen Stellenwert haben als bei Levinas. 572 Vgl. dazu oben, S. 168–170. In TU139 u. 141 wendet sich Levinas sehr deutlich gegen die Idee, dass es den Anderen nur braucht, damit sich etwas schon Angelegtes entfalten kann. Da ich für ihn schon getroffen sein muss vom Anderen, damit so etwas wie eine Anlage zur autonomen Setzung der ethischen Bedeutung überhaupt in mir ist, finden sich dann bei ihm natürlich keine Überlegungen mehr dazu, inwiefern es der Begegnung mit dem Anderen zur Entfaltung dieser in mich gesetzten ethischen Bedeutung bedarf. Von daher ist m. E. eine Interpretation der Abhängigkeit des ethischen Bewusstseins vom Anderen bei Levinas im Sinne einer Abhängigkeit lediglich auf der Ebene der Entfaltung des expliziten Selbstbewusstseins ausgehend von einer bewussten Interpersonalbegegnung nicht angemessen (gegen Thomas Pröpper [1996, 35] u. mit Thomas Freyer [1997, 15 f. u. Anm. 87] sowie Cristiana Senigaglia [2010, 107 f.]; auch Josef Wohlmuth [2002, 44] grenzt sich gegen dieses Missverständnis ab). 573 Vgl. dazu unten, S. 655 f.

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bei Levinas zur Nichtobjektivierbarkeit hinzu auch eine zeitlich diachrone, und zwar nicht nur als die zeitliche Nachträglichkeit der Reflexion, sondern als das fortwährende Sichentziehen in jeder Annäherung. Die Dynamik des Anwachsens überträgt sich aus der Beziehung zum Anderen. Ich bin nicht ursprünglich schon immer bei mir und kann mich auf dieser ursprünglichen Ebene angekommen glauben, sondern werde vom Anderen immer weiter zu mir selbst geweckt. 574 Ich kann nie in einer Wachheit ankommen, sondern muss diese sozusagen immer wieder überbieten lassen durch die Uneinholbarkeit des Anderen und entsprechend durch die Uneinholbarkeit der eigenen Tiefe. Für diese Art des Selbstbezuges verwendet Levinas einen eigenen Terminus, den der récurrence (›Rückbezüglichkeit‹), und grenzt sein Verständnis gegen Konzepte der Subjektivität ab, die sie vom Für-sich des Bewusstseins her denken (JS227–229), meist in der Form der Teilhabe an einer »Wachsamkeit« des Seins oder an

574 Vgl. GP88 f.: »Das Andere im Selben, welches das Selbe nicht entfremdet, sondern es gerade weckt, Wecken; als Forderung, die kein Gehorsam begleicht, einschläfert: ein ›Mehr‹ im ›Weniger‹. Oder, um eine uns nicht mehr vertraute Sprache zu gebrauchen: Dies ist die Spiritualität der Seele, die ohne Unterlaß aus einem Zustand geweckt wird, in dem das Wachen selbst sich schon in sich selbst verschließt oder einschläft, um sich in den Grenzen seines Zustandes zur Ruhe zu setzen.« Vgl. zu dieser Dynamik des Gewecktwerdens besonders auch BW57–66. Hier wird sehr deutlich die »Differenz zwischen dem Selben und dem Selben« (BW63) und die »Exteriorität, die die Mitte des Innersten zerreißt« (BW59 f.), angesprochen sowie dass sie sich für Levinas aus der Beziehung zum Unendlichen und zum Anderen erklärt und hierher ihre Bedeutung hat. In As198–201 wird deutlich, wie Levinas anknüpfend an Husserl das Ich ganz ähnlich wie Fichte als eine Identität ansieht, die nicht eine Reflexion darstellt und sich auch nicht in einer Reflexion einholen oder objektivieren kann, wie es insofern »außer sich« ist, wie Levinas dies aber nicht als ein ursprüngliches Beisichsein, sondern als »Wachsamkeit eines unaufhörlichen Erwachens« (As200) deutet und dies mit dem Ruf des Anderen in Zusammenhang bringt (As202 f.). Die Entzogenheit dieser Identität für unsere Reflexion und die eigene konstituierende Aktivität hat für Levinas ihren Sinn aus der Passivität dieses Aufrufs. Vgl. dazu JS232: »Das sich in ›sich halten‹ oder ›sich verlieren‹ oder ›sich wiederfinden‹ ist nicht ein Ergebnis, sondern gerade die Matrix der Beziehungen oder der Geschehnisse, die in diesen reflexiven Verben zum Ausdruck kommen. Und die Andeutung der Mutterschaft in dieser Metapher der Matrix läßt uns den eigentlichen Sinn des Sich erahnen. Das Sich kann sich nicht bilden, es ist bereits gebildet aus absoluter Passivität, und es ist in diesem Sinne Opfer einer Verfolgung, welche jegliche Annahme und Übernahme lähmt, die noch im Opfer erwachen könnte, um ihm so eine Position für sich zu verschaffen«. Wieder wird hier jedoch nicht eine Konstitution des Selbstbezuges überhaupt vom Anderen her behauptet, sondern nur die Konstitution des Bezuges auf sich als verantwortliches Subjekt.

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einem »universalen Selbstbewusstsein« (JS229 f.). 575 Das Nichtankommen hat ohne die Ausrichtung auf den Anderen den Charakter einer irritierenden Leere. So bestimmt Levinas entsprechend auch das Es-gibt dynamisch als einen Abgrund, in den ich immer tiefer hinabsteigen kann, ohne dabei dieselbe Strecke zu durchlaufen (TU130). Diese Beschreibungen betreffen freilich nur den Selbstbezug des Subjekts auf sich als Verantwortliches. Für das Subjekt, wie es ursprünglich im Genuss konstituiert ist, geht Levinas, wie noch zu zeigen sein wird, durchaus von einem Beisichsein aus. 576 Zur Frage nach der Möglichkeit einer der Autonomie vorgängigen Heteronomie Wie kann es Levinas für möglich halten, dass die Bejahung der Verantwortung und das ursprüngliche Wissen um sie erst ausgehend vom Anderen in mich treten? Diese Frage stellt sich zum einen vor dem Hintergrund der konstitutiven Bedeutung der Subjektivität für alle ihre Gehalte, wie sie besonders in der transzendentalen Phänomenologie und der ihr vorausgehenden transzendentalphilosophischen Tradition herausgearbeitet wurde, und zum anderen im speziellen Fall der Ethik angesichts der Bedeutung der auch für Levinas zutreffenden Erfahrung, dass ich dem ethischen Anspruch aus mir heraus und so auch nur im eigentlichen Sinn moralisch – nämlich um dieses Anspruches in seiner Gerechtfertigtheit selbst willen – zustimmen kann. Wie kann mit solcher Autonomie aber eine vorgängige, vom Anderen ausgehende Heteronomie zusammengedacht werden? Dass sich Levinas dieser Problematik bewusst ist, wird an verschiedenen Stellen deutlich. 577 So zeigt sich ihm etwa in der Auseinandersetzung mit Husserl, wie es – denkt man die Subjektivität als 575 Vgl. auch JS234 f. Zur Auseinandersetzung mit diesem Teilhabekonzept vgl. bes. unten den Abschnitt zum zweiten Hauptunterschied. 576 Dieses wird natürlich nicht verstanden als Teil eines universalen Bewusstseins. Vgl. dazu S. 637–642; zum Verhältnis der beiden Selbstbezüge (daneben auch des Selbstbezugs ausgehend von der Fruchtbarkeit) vgl. S. 668–671. 577 Neben der im Folgenden behandelten Stelle vgl. etwa, wie Levinas im Aufsatz Die Spur des Anderen nach der Darstellung der Grundtendenz der Philosophie, Systeme der Autonomie auszubilden (SpA209–213), der Frage nachgeht, auf welche Weise »eine heteronome Erfahrung« (SpA214) möglich ist. Auch hier spielt im beharrlichen Aufgreifen dieser Frage (SpA217, 222 u. 226) der Rekurs auf das von der Idee des Unendlichen her verstandene Begehren des Unendlichen (SpA225 f.) und dessen weitere Auslegung als Illeität (SpA226–235) eine entscheidende Rolle.

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autonom ihre Gehalte konstituierende – von vornherein unmöglich zu sein scheint, einen dazu noch einmal vorgängigen Bezug zum Anderen anzunehmen (TU304). Bei Husserl sei die Problematik aufgetaucht, dass er zwar einerseits für die Begründung der Objektivität des Wissens einen Interpersonalbezug voraussetzen wolle, dieser aber bei ihm selbst nur auf der Basis einer monadischen Subjektivität konstituiert werde. In dem Zusammenhang gibt Levinas dann einen wichtigen Hinweis: Dem Problem könne man nur entkommen, wenn man wie Descartes das Cogito so verstehe, dass sein Setzen sich von vornherein nicht in einer von etwas ihm Transzendenten unabhängigen Weise vollziehen könne. Diese Bezugnahme auf Descartes spielt m. E. eine ganz wesentliche Rolle in der Überwindung dieser Problematik. Wie sie geschieht, soll im Folgenden erhellt werden. Descartes sieht sich zu diesem Konzept des Cogito ausgehend von folgender transzendentaler Überlegung gezwungen: Das Ich kann sich selbst als zweifelndes und darin unvollkommenes und endliches nur erkennen, wenn es zuvor die Idee des Vollkommenen hat. Diese Idee kann es aber aufgrund seiner Endlichkeit nicht aus sich haben. Es muss sie also von etwas Anderem bekommen haben, und zwar von einer Instanz, die diese Vollkommenheit aus sich haben kann. Es muss also in einer Beziehung mit einem Unendlichen stehen. Wie im Kapitel über Levinas’ Religionsphilosophie noch genauer gezeigt wird 578, kritisiert er zwar die cartesische Auffassung, auf diese Weise die getrennte Existenz des Unendlichen beweisen zu können, sowie dass Descartes nicht darüber hinausgekommen ist, die Beziehung zu ihm vom Medium des Denkens her zu verstehen. Und doch kann er dessen Gedanken als eine Auslegung oder eine Beschreibung von etwas gelten lassen, was für ihn phänomenologisch tatsächlich beschreibbar ist: eine Beziehung zum Unendlichen, wie sie sich als »Sehnsucht nach dem Guten« (GP103) 579 vollzieht, nach einer reinen Vgl. unten, S. 526–530. Rudolf Funk übersetzt désir hier nicht wie sonst üblich mit ›Begehren‹, sondern mit ›Sehnsucht‹. Ob in ›-sucht‹ tatsächlich der Charakter einer von außen das Subjekt verfolgenden Besessenheit zum Ausdruck kommt (Funk, 1989, 427) und nicht vielmehr eine extreme Selbstbezogenheit, ist m. E. die Frage. Die Begründung daher, dass ›Sehnsucht‹ im Deutschen positiver und ethischer konnotiert ist als ›Begehren‹, leuchtet aber ein. Mir scheinen beide Übersetzungen gleich gut oder schlecht zu sein. Das Wort ›Begehren‹ klingt m. E. ungewöhnlicher und kann damit auf die von Levinas ganz eigen gefasste Bedeutung verweisen. Vor allem weil es als Übersetzung des levinasschen désir gebräuchlicher ist, soll es hier verwendet werden. 578 579

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Güte oder moralischen Vollkommenheit. Diese ist für ihn zwar phänomenologisch nur zugänglich in der Beziehung zum Anderen, kann aber doch als eigene Beziehung analysiert werden. Auf diese Weise vermag er den cartesischen Aufweis eines jedem autonomen Setzen vorhergehenden passiven Empfangens nicht nur als begriffliches Modell, also bloße Formel, sondern als wirkliches – von ihm freilich phänomenologisch gewendetes – Argument für sein Konzept einer Subjektivität zu übernehmen, die sich von vornherein nur aus einem passiven Betroffensein durch die Transzendenz vollziehen kann. Außerdem ist es ihm so möglich, die Beziehung zum Unendlichen als reale Bedingung für die Betreffbarkeit durch den Aufruf des Anderen ins Spiel zu bringen und das Verhältnis von Gottesbeziehung und Beziehung zum Anderen sehr genau zu bestimmen. Wie geschieht dies im Einzelnen? Levinas sieht zwar, dass sich die Evidenz des Cogito-sum bei Descartes erst einmal unabhängig vom Bezug auf das Unendliche ergibt. Aber da für Levinas nicht nur die Erkenntnis des Ich als eines Endlichen, sondern überhaupt die Suche nach Gewissheit nur in Relation zum Unendlichen verstanden werden kann, beschreibt er doch auch die Erkenntnis des Cogito-sum als zumindest in ihrer ausdrücklichen Gewissheit von der Idee des Unendlichen abhängig. »Diese Gewissheit liegt an der Klarheit und Deutlichkeit des Cogito – aber die Gewissheit selbst wird gesucht wegen der Gegenwart des Unendlichen in diesem endlichen Denken« (TU305). Dass auf diese Weise bei Descartes von vornherein die Idee des Unendlichen im Zweifel am Cogito schon anwesend gewesen sei, habe ihn auch davor bewahrt, den Zweifel in eine unendliche, an keine letzte Bejahung sich haltende Bewegung, in die Levinas ihn stürzen sieht, weiterzutreiben (TU131). Die ethische Vollkommenheit eröffnet den Ausweg aus dem Zweifel, den sie selbst geweckt hat. Auf diese Weise findet Levinas bei Descartes das Modell eines Subjekts, das in jedem Erkennen von einem Bezug auf ein über alle Immanenz und Autonomie hinausliegendes transzendentes Unendliches – und somit von einer Heteronomie – abhängig ist. Dass auch von der Evidenz des Cogito her – nach der eigenen Sicht des Descartes – der Zweifel angehalten werden kann, besitzt für Levinas zumindest eine gewisse Berechtigung. Er hebt positiv hervor, dass auf diese Weise bei Descartes die Evidenz des Ich und die des Unendlichen nicht verschwimmen. Darin drückt sich für ihn die getrennte Selbständigkeit des Ich aus, die Bedingung ist für eine wahre Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Beziehung zu etwas Transzendentem (TU59). Die Bewahrung der Selbständigkeit des Ich geschieht für Levinas bei Descartes aber auch im Erkennen des Unendlichen selbst. Die Autonomie, die Levinas bei ihm dadurch der Sache nach angedacht sieht, dass das Subjekt alle seine Ideen erst einmal als aus ihm selbst kommend erfährt (SpA211), scheint zwar, da dies ja für die Idee des Unendlichen nicht gelten soll, bei ihr nicht gegeben zu sein. Levinas interpretiert dies aber differenzierter. Es sei Descartes gelungen, trotz der radikalen Passivität des Empfangens die konstitutive Rolle der Subjektivität, die Bedeutung der inneren Zustimmung des Subjekts und darin dessen Freiheit zu bewahren – sodass diese Passivität auch nicht eine im deterministischen, die Freiheit aufhebenden Sinne ist – und so einen Ausgleich zwischen der idealistisch einseitigen Auflösung zugunsten der Subjektivität und der realistisch einseitigen zugunsten des Anderen zu leisten. »Besser als ein Idealist oder ein Realist entdeckt Descartes eine Beziehung mit einer totalen Andersheit, die nicht auf die Innerlichkeit reduziert werden kann und dennoch der Innerlichkeit keine Gewalt antut; er entdeckt eine Rezeptivität ohne Passivität, ein Verhältnis zwischen Freiheiten.« (TU306) 580 Entsprechend beschreibt Levinas das ›Phänomen‹ der Beziehung zum Unendlichen auf eine Weise, dass das Moment meines Denkens und Fassens des Unendlichen in einer Idee wesentlich dazugehört, wenngleich an dieser Idee selbst, von ihrem Inhalt her, der als »Ideatum die Idee überflutet« (TU29; vgl. auch TU61), deutlich wird, dass sie meine Fassenskraft übersteigt, dass sie ursprünglich nicht Gedachtes, nicht Idee, sein kann und ich sie in ihrem Ursprünglichen nicht konstituiert haben kann. »Das Ereignis des unendlichen Wesens kann nicht von der Idee des Unendlichen getrennt werden; denn dieses Überschreiten der Gren580 Wie weit die levinassche Interpretation Descartes gerecht wird, braucht hier nicht näher untersucht zu werden. Levinas zumindest sieht die Entsprechung zur Einsicht der konstituierenden Herrschaft der Vorstellung bei Descartes in der Idee der Klarheit der Erkenntnis, in welcher der Gegenstand dem Erkennen vollkommen adäquat und ihm vollkommen immanent geworden ist (TU173 f.), von der aus ja Descartes dann auch alle Gehalte des Denkens als möglicherweise rein aus sich geschöpft ansehen kann (TU305 u. 60). Ob sich Descartes aber wie Levinas darüber klar war, dass auch die Idee des Unendlichen, zumindest insoweit sie als Idee gedacht wird, als eine autonome Setzung betrachtet werden muss, sei dahingestellt. Einen Anhaltspunkt dafür findet Levinas bei ihm zumindest darin, dass auch für ihn das Unendliche letztlich kein Gedanke sei, auch wenn er nicht positiv die Weise der Beziehung zum Unendlichen weiter befrage (TU305 f.; vgl. dazu in der III. Meditation den Absatz 25 [Descartes, 1992, 85]).

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zen geschieht gerade in der Unverhältnismäßigkeit zwischen der Idee des Unendlichen und dem Unendlichen, dessen Idee sie ist.« (TU28) Levinas findet in der Beziehung zum Unendlichen also die Struktur eines prima facie rein autonomen Setzens, das sich zugleich jedoch ausgehend vom Gehalt, den es setzt, als unfähig erfährt, ihn ursprünglich gesetzt zu haben, und das sich somit als passiv ihm gegenüber erfährt: Der Gehalt ist in mich gesetzt. Er findet hier genau das Ineinander von Autonomie und Heteronomie, wie er es in seinem Konzept der Ethik annehmen muss. Der Gedankengang von Descartes zeigt ihm, dass so etwas möglich ist und liefert eine ursprüngliche ›Anschauung‹ dieses Ineinanders, dieses Gebrochenseins der Autonomie. 581 Er kann zwar nicht erschließen, wie es genauer möglich ist – die Klärung dieser Frage entzieht sich wohl ohnehin dem Denken, das in seiner Objektivierung weder der Freiheit noch der Unendlichkeit des Unendlichen gerecht werden könnte. Auch kann er diese Möglichkeit nicht streng erweisen, da, wie sich in der Analyse seiner religionsphilosophischen Argumentation zeigen wird, das Phänomen einer Verwiesenheit auf Unendlichkeit für ihn nicht als Beweis für einen tatsächlichen Bezug auf ein wirkliches schlechthin Unendliches angeführt werden kann. Wie er sich im Klaren darüber ist, dass man eine Ethik auch allein aus der Autonomie des Subjekts erklären kann, dürfte er sich auch dessen bewusst sein, dass der Bezug auf Unendlichkeit aus der autonomen Setzung einer unbedingten Forderung entstehend gedacht werden kann, wie dies bei Fichte, welcher der cartesischen Argumentation nicht zustimmen würde, der Fall ist. Beides jedoch würde für ihn das ethische Phänomen, wie er es vor allem in den verschiedenen Phänomenen der Asymmetrie analysiert, nicht einholen. Da er sich von daher mit für ihn sehr starken Argumenten dazu veranlasst findet, der Autonomie eine Heteronomie vorzuordnen, genügt es ihm offenbar, Hinweise anzuführen,

581 Zum Ausdruck kommt dies etwa in TU282: »Wenn wir auf den cartesischen Gedanken des Unendlichen zurückkommen – auf die ›Idee des Unendlichen‹, die dem getrennten Seienden durch das Unendliche eingelegt ist –, so halten wir daran die Positivität fest, den Umstand, daß das Unendliche allem endlichen Denken und jedem Gedanken des Endlichen vorausgeht, daß es Exteriorität im Verhältnis zum Endlichen ist. Darin lag die Möglichkeit zum getrennten Seienden. Die Idee des Unendlichen, das Überflossenwerden des endlichen Denkens durch seinen Inhalt – realisiert die Beziehung des Denkens mit dem, was über sein Begreifen hinausgeht, mit dem, was dem Denken in jedem Augenblick beigebracht wird, ohne es doch zu verletzen.«

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welche die Möglichkeit einer solchen Vorordnung zumindest nahelegen, auch wenn sie sie nicht mit Gewissheit ausweisen können. Levinas kann auf diese Weise im Bezug auf das Unendliche eine Bestätigung für sein ethisches Konzept finden, und er kann darüber hinaus in ihm die Beziehung zum Anderen auch real ermöglicht sehen. Schon in Totalität und Unendlichkeit finden sich entsprechende Stellen, in denen er die Beziehung zum Unendlichen als Bedingung dafür anführt, vom Anderen betroffen zu sein. 582 Deutlicher wird dieses Bedingungsverhältnis in der Zeit danach artikuliert 583, freilich in einer ganz eigenen Weise der Aussage oder Nichtaussage der Bedingung, ie noch genauer betrachtet werden muss. 584 Entfaltet sehen kann man die Bestimmung dieses Verhältnisses vor allem im Konzept der Illeität, wie es schon bald nach Totalität und Unendlichkeit und später besonders in Jenseits des Seins greifbar wird. 585 Von diesem Konzept her kann dann auch genauer erhoben werden, wie sich Levinas die Ermöglichung des Betroffenwerdens vom Anderen durch die Beziehung zum Unendlichen denkt. Die Vermittlung geschieht über das Begehren und die Lenkung des Begehrens auf den Anderen. Für 582 Vgl. TU280 u. 286. Vgl. etwa auch in TU248 die Rede davon, dass der Andere nur aus der Dimension der Erhabenheit mich unterweisen kann, er selbst dafür eine solche Erhabenheit sein muss, und sonst »aus dem Unendlichen […] heraustreten« würde. 583 Vgl. bes. SpA229 f., wo das Unendliche als Bedingung, Begründung und als das, »aus dem das Antlitz kommt«, angesprochen wird. Vgl. auch GP104: »Die Liebe ist nur durch die Idee des Unendlichen möglich – durch das in mich gesetzte Unendliche, durch das ›Mehr‹, welches das ›Weniger‹ verwüstet und weckt«. In GP107 benennt Levinas das Unendliche als ein »Er auf dem Grund des Du«. Vgl. auch JS20331 : »Die Besessenheit durch den Anderen im Gesicht ist bereits die Verstrickung in das Unendliche hund die vom Unendlichen ausgehende Verstrickungi«. In JS205 f. spricht Levinas vom leeren Raum – ähnlich dem Es-gibt, das auch sonst (etwa GP108) als mit dem Unendlichen verwechselbar beschrieben wird –, in dem das Gesicht bedeutet, der aber keinen Horizont darstellt (dazu auch JS209). Vgl. auch in MG78 die Aussage, dass das Gesicht mich betreffen kann, weil es vom Unendlichen »stammt«. Meines Erachtens dient Levinas auch das Wort ›Spur‹ nicht nur als Metapher für die Betroffenheit durch ein Abwesendes, sondern auch als Metapher dafür, dass der Andere mich »in der Spur« des Unendlichen betrifft (zu diese Verwendungsweise vgl. etwa SpA235 sowie JS209, 211 u. 345), also sozusagen in der Spur, die das Unendliche schon vorgebahnt hat. 584 Vgl. unten, S. 492–510. 585 Am frühesten greifbar wird es, soweit ich sehe, in SpA226–235. Hier ist es noch nicht so ausgereift wie dann in JS (dort v. a. JS45–47, 272–275 u. 322–326) oder im diesbezüglich sehr erhellenden Aufsatz Gott und die Philosophie (hier v. a. GP100– 108).

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Levinas wird dieses ursprünglich und mit einer Vorgängigkeit zum Aufruf des Anderen durch das Unendliche »geweckt« (GP99–105). Die Beziehung zum Unendlichen wird so analysiert, dass es »das Denken zugleich verwüstet und ruft« (GP101), indem es die Idee des Unendlichen und darin die Bedingung überhaupt des Denkens in uns setzt, zugleich aber diese Idee und die Ebene des Denkens als inadäquat für die Beziehung zum Unendlichen negiert. Die ursprüngliche Ebene dieses Setzens einer Bewegung des Ich und seiner Durchbrechung durch das Unendliche ist nicht die des Denkens, sondern die des Begehrens (GP102 f.). Dass das Begehren geweckt wird, darf man nicht in dem Sinn verstehen, dass das Unendliche etwas im Subjekt schon als Vermögen Vorhandenes aufweckt. Zur Beziehung zum Unendlichen gehört gerade, dass ohne einen Anknüpfungspunkt in mir die Unendlichkeit in mich gesetzt wird. Vom Wecken des Begehrens spricht Levinas nur, weil sich dieses Setzen ereignet als ein immer weitergehendes Brechen der Autonomie und der Immanenz, aus der ich, da sie sich jedes Mal einstellt, ständig herausgerufen werden muss in den Bezug zu dem, was mir ganz transzendent ist und bei dem ich wesentlich nicht ankommen kann. 586 Die eigentliche Bedeutsamkeit des Unendlichen oder der Ethik kann sich nicht ereignen, ohne dass aktuell immer dieses Gebrochensein stattfindet. Die Idee des Unendlichen ist nicht einmal in mich gesetzt und dann habe ich sie, sondern sie ereignet sich beständig weiter 587 als dieses Brechen allen Habens. Sonst wäre sie nicht Transzendenzbezug. Für die Beziehung mit dem Anderen stellt das Begehren die bedingende Situation dar. Es wäre aber falsch, es eine subjektive Bedingung zu nennen, weil es gerade kein Vermögen des Subjekts ist, ja nicht einmal eine rein passive Möglichkeit oder Empfänglichkeit, sondern von vornherein diese dynamische Beziehung mit der Transzendenz aus einem radikalen Betroffensein heraus. Im Unendlichen oder »in der Spur« des Unendlichen 588 kann mich der Andere betreffen. Von daher ist es verständlich, wie Levinas von einer »Empfänglichkeit« für den Anderen sprechen kann, einer »Sensibilität« und einer »Verletzbarkeit« 589, und zugleich sagen, dass das nicht zu verVgl. dazu oben die Darstellung des Begehrens und seiner Dynamik, S. 424–427. Vgl. das »fortwährend« in TU262. 588 Vgl. oben, Anm. 583. 589 Levinas spricht in ganz allgemeiner Form von einer »Empfänglichkeit« (JS19 u. 49), verwendet daneben aber auch sehr stark die sinnlich-leiblich konnotierten Begriffe der »Sensibilität« und »Verwundbarkeit« (JS48 f., 124 u. ö.), da die Betreffbar586 587

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stehen ist als ein Vermögen des Subjekts, das alles, was es betrifft aus sich heraus »übernehmen« könnte wie die autonom konstituierende subjektive Tätigkeit, sondern »ohne ›aktive Synthesis‹« und als »Zerbrechen der Identität« (JS49 f.). Auf diese Weise ist das Begehren nicht nur die Bedingung für die Betreffbarkeit durch den Anderen, sondern auch dafür, dass sich der Andere in der Forderung immer zugleich anarchisch entziehen kann. Man kann das Bedingungsverhältnis zudem nicht so deuten, dass vom Unendlichen unabhängig vom Anderen die ethische Bedeutsamkeit in mich schon ganz gesetzt ist. Denn diese ist für Levinas wesentlich verbunden mit der Verantwortung gegenüber dem anderen Menschen. Sie kann nicht von ihm gelöst werden. Ohne ihn betrifft mich die ethische Bedeutung zumindest nicht in ihrer Ganzheit. Deshalb ist das Wecken des Begehrens für Levinas unlösbar damit verknüpft, dass mich das Unendliche an den Anderen verweist. Und dieser Verweis ist ebenso für die Transzendenz des Unendlichen selbst nötig. Erst mit dem Anderen kann es meine Bewegung auf es umlenken und so seine Transzendenz, die für Levinas noch tiefer reicht als die Transzendenz zum Du, das der Andere darstellt, sein Er-Sein, sich ereignen lassen (GP106–108). Von diesem Er(-il)-Sein her hat Levinas das Kunstwort illeité gebildet als Ausdruck für die Weise des Transzendierens des Unendlichen (JS45 f.). Auch werde ich nur durch diesen Verweis auf etwas ausgerichtet, das meinem Willen wesentlich zuwiderläuft und ihn so übersteigen kann. Im anderen Menschen bin ich über die sozusagen undramatische Beziehung zur Güte, die mir gut ist, hinaus auf ein leibliches Wesen bezogen, das wie ich bedürftig ist, zu dem die Beziehung etwas kostet, ja eventuell das Leben kostet, in einem Begehren des »Nicht-Ersehnenswerten« (GP103–105). 590 An dieser Stelle deutet sich schon eine wichtige Bedeutsamkeit des Leiblichen an. Es fällt auf, dass Levinas das Bedingungsverhältnis nicht nur in eine Richtung beschreibt. Nur in der Beziehung zum Anderen kann keit durch die ethische Forderung des Anderen für ihn unmittelbar zusammenhängt mit einer leiblichen Betreffbarkeit. Indem der Ausdruck ›Sensibilität‹ nicht nur das Ereignis des Betroffenwerdens, sondern auch die Empfänglichkeit dafür, und zwar auch die über das Leibliche hinausgehende Empfänglichkeit für die ethische Infragestellung des Anderen meint (zur Bedeutung dieses Ausdrucks vgl. unten, S. 738 f.), kann man in dem Wort zudem das mitausgedrückt finden, was für Levinas durch die Beziehung zum Unendlichen eröffnet wird. 590 Vgl. dazu auch oben, Anm. 522.

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sich für ihn die Dimension des Unendlichen öffnen und die Beziehung zu ihm ereignen. 591 Das ist einmal so zu verstehen, dass das, was Levinas als Relation auf das Unendliche beschreibt, ursprünglich phänomenologisch verortet und zugänglich ist »im empirischen Ereignis der Verpflichtung gegenüber dem anderen« (GP109 f.). Für Levinas muss jede phänomenologische Beschreibung ausgehen von der Erfahrung in ihrer sinnlichen Konkretheit und darauf zurückbezogen bleiben. 592 Es ist aber auch ein Hinweis auf die eben dargestellte Verflochtenheit der Transzendierung des Unendlichen mit meinem Gestelltsein in die Verantwortung gegenüber dem Anderen sowie auf die Gewährleistung der Selbstlosigkeit in dieser Transzendierung. Und indem der Andere dabei für Levinas keineswegs ein Mittel ist für das Ereignis des Unendlichen, ist der eigentliche Grund für dessen Verortung in der Beziehung zum Anderen im Anderen selbst zu suchen. In der Beziehung zu ihm eine andere Beziehung zum Unendlichen zu unterscheiden, bleibt für Levinas deshalb ambivalent. Der Andere ist selbst zurückgezogen in eine radikale Transzendenz. Er ist »Spur seiner selbst«. »Das Gesicht fungiert hier nicht als Zeichen für einen verborgenen Gott, der mir den Nächsten aufnötigen würde.« (JS210 f.) Der Andere betrifft mich selbst absolut und dies verhindert, ihn als bloßes Zeichen für das Unendliche oder als Mittel für dessen Transzendierung zu betrachten. Auf welche – ambivalente – Weise eine Artikulation von Bedingungsverhältnissen für Levinas trotzdem möglich ist 593 und auf welche Weise speziell das Verhältnis von Gesicht und Unendlichem verstanden werden muss 594, wird später noch genauer zu klären sein. Auch wenn für Levinas im Wecken des Begehrens unmittelbar ein Verweis auf den Anderen liegt und die ethische Bedeutung in mich erst ganz gesetzt ist, wenn mich in der Spur der Heteronomie des Unendlichen der konkrete andere Mensch betrifft, so ist für ihn doch die Infragestellung durch den Anderen auf diese Spur angewiesen. Und so wäre es zumindest missverständlich zu sagen, vorgängig zu ihr sei für Levinas im Subjekt in keiner Weise schon irgendeine

591 Vgl. etwa TU106–110 sowie JS45 f., 218 u. 307; manchmal spricht Levinas beide Richtungen des Bedingens auch in unmittelbarem Zusammenhang aus, etwa in TU280 u. 286 sowie GP112. 592 Vgl. oben, S. 358. 593 Vgl. dazu unten, S. 494–505. 594 Vgl. dazu unten, S. 523 f. u. 545–549.

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Verwiesenheit auf die ethische Bedeutung 595 oder Levinas frage nicht transzendentalphilosophisch zurück nach den Bedingungen der Empfänglichkeit für den Anruf des menschlichen Anderen im Subjekt und kläre nicht die Möglichkeit einer Autonomie. 596 Da diese ursprüngliche Verwiesenheit jedoch selbst nicht als bloße Autonomie, sondern nur als eine aus der Heteronomie des Unendlichen lebende und von ihr immer überflossene verstanden werden muss, wäre es ebenso missverständlich, diese Verwiesenheit bloß als eine im Subjekt liegende Bedingung oder Empfänglichkeit zu beschreiben. Zur Entfaltung der Autonomie auf der Basis der Heteronomie Es wurde gezeigt, wie Levinas es von der Idee des Unendlichen her als möglich ansehen kann, dass die ethische Dimension, obgleich ich sie als aus mir heraus bejaht erfahre, ursprünglich von etwas mir Transzendentem in mich gesetzt ist, zuerst vom Unendlichen und dann in dessen Spur durch den anderen Menschen. Wie die Ausrichtung meines Wollens aus der Selbstbezogenheit in die ethische Bezogenheit 595 Von hier aus ließe sich zumindest von einer gewissen Annäherung des levinasschen Modells in Bezug auf das von Willibald Sandler anlässlich der Debatte zwischen Klaus Müller und Thomas Freyer von Dieter Henrich aus vorgeschlagene Modell der Verbindung von Subjektivität und Alterität (vgl. bes. 1999, 299) sprechen. Auch Levinas geht nicht von der Möglichkeit einer rein innerweltlichen Heteronomie aus. Und zugleich lässt sich das Betroffensein durch den menschlichen Anderen als Bedingung für eine adäquate Realisierung der von Gott eröffneten Vertrautheit mit der ethischen Bedeutung ansehen. Der bleibende Unterschied scheint mir jedoch zum einen darin zu liegen, dass diese Vertrautheit bei Levinas nie als bloße Autonomie, sondern nur als in sich aus einer Heteronomie lebende und von ihr gebrochene Autonomie und so nie nur als subjektive Bedingung zu verstehen ist. Und in dieses Verhältnis schreibt sich auch die Beziehung zum Anderen ein. Zum anderen ist für Levinas die Betroffenheit durch den menschlichen Anderen nicht nur Bedingung für die Auslegung von etwas unabhängig von ihm schon Vorhandenem, sondern das Unendliche kann ursprünglich die ethische Bedeutung nur ganz in das Subjekt setzen vermittels des Anderen. 596 Gegen Ricœur, 1996, 407 f.; Müller, 1997, 176 f.; Verweyen, 1997, 186 69 u. 2008, 104; Schwind, 2000, 216–218, 311 f. u. 316–319 sowie Radrizzani, 2010, 292–295. Auch Thomas Pröppers Verdacht einer nicht hinreichend klaren Unterscheidung zwischen »transzendentallogische[r] Begründung moralischen Sollens« und der »Beschreibung der tatsächlichen Genese sittlicher Evidenz« (2011, 710) trifft von daher nicht zu. Levinas verwechselt beides nicht, würde es aber auch nicht wie Pröpper in der Weise unterscheiden, dass Erstere nur auf die Autonomie des Subjekts rekurrieren kann, ohne dass hier exteriore Instanzen, das Unendliche und sogar der geschichtlich begegnende Andere, eine Rolle spielen können.

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auf den Anderen von außen gelenkt werden und zugleich etwas sein kann, was ich als eigenen Willen und als etwas autonom als gültig Erkanntes erlebe, ohne dass dies bloßer Schein ist, bleibt dabei freilich ein Geheimnis. Zugute halten kann man Levinas, dass eine Einsicht in dieses Verhältnis aufgrund ihrer notwendigen Objektivierung ohnehin wohl weder der Selbständigkeit des Subjekts noch der Transzendenz des Unendlichen gerecht werden könnte. Und es ist zudem zu würdigen, wie Levinas sich – dies gilt es nun im Folgenden nachzuvollziehen – zumindest herantastet an eine genauere Verhältnisbestimmung von Heteronomie und Autonomie, an eine Vermittlung von Passivität und Aktivität, und dass von diesem Konzept her nachvollziehbar gemacht werden kann, wie es zum Phänomen der Autonomie als einer freien Bejahung eines sittlichen Urteils kommt. Hierfür ist zunächst ein Blick auf seinen Begriff des Zeugnisses zu werfen. Das Zeugnis ist für ihn die Weise, wie wir das Unendliche bezeugen, und zwar nicht durch etwas Gesagtes, sondern im Sagen selbst, in der Verantwortung bis zur Stellvertretung (JS324). Es ist in der ursprünglichsten Form bestimmt als die Weise, wie mich das Unendliche mit seinem Befehl trifft und dabei »sich vollzieht« (JS324 f.). Für Levinas hängt nun mit diesem Vollzug des Unendlichen und seinem Befehl ein unmittelbarer Gehorsam meinerseits zusammen, ein »Gehorsam, der allem Hören des Gebotes vorausgeht« – »der Befehl ist niemals vergegenwärtigt gewesen« – und ohne dass ich »eine Entscheidung hätte treffen können« (JS325 f.). Das Zeugnis bezeugt vor einer freien Übernahme der Verantwortung, und doch versteht es Levinas als meinen Vollzug. Es erklingt als »›innere […]‹ Stimme«, »durch meinen Mund«, »durch meine eigene Stimme« (JS322). Levinas beschreibt hier das Phänomen, dass mir der ethische Anspruch, wenn ich ihn in seiner eigentlichen Würde und nicht nur als äußerlich an mich herangetragene Erwartung wahrnehme, immer nur als einer bewusst wird, dem ich schon innerlich und aus dem Eigensten heraus zugestimmt habe. Und zwar beruft er sich hier auf ein Phänomen einer vor der freien Entscheidung liegenden Zustimmung. Ich bin frei, das Sollen für mich anzuerkennen, aber ich bin nicht frei, nicht von ihm betroffen zu sein oder es nicht zu kennen, und zwar als gültig gesolltes zu kennen und so in diesem Kennen ursprünglich zu bejahen. 597 In dem so Beschriebenen kann 597 Vgl. TU317: »Der Wille ist frei, diese Verantwortung zu übernehmen, wie es ihm gefällt; er ist nicht frei, diese Verantwortung selbst abzulehnen, er hat nicht die Frei-

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man eine Veranschaulichung von Levinas’ Konzept einer Aktivität gegeben sehen, die aus einer Passivität lebt, denn als solche kann sie auf der ursprünglichen Ebene nicht einer freien Wahl erwachsen. Und das Phänomen kann dieses Konzept plausibilisieren, indem man es bei einer als vorwahlfrei bestimmten Aktivität, anders als bei einer frei von mir gesetzten, nicht unbedingt als Widerspruch ansehen muss, wenn ihre Ausrichtung von außen in mir bewirkt worden sein soll. Ein Widerspruch muss auch nicht dann entstehen, wenn Levinas diese ursprüngliche Bejahung als eine immer schon antwortende beschreibt, als Phänomen einer »an-archischen Antwort« (JS326). Die Bejahung beschränkt sich für ihn nicht auf meinen aktiven Vollzug, sondern beinhaltet zugleich das Erleben, von außen aufgerufen und in die Verantwortung gestellt worden zu sein. Ich erlebe mich nicht auf dem absoluten Standpunkt einer Objektivität, auf dem ich unabhängig von allem selbst dieses Sollen aus mir schöpfen würde, sondern als in die Pflicht genommen vom Anderen. Indem diese Antwort aber ein unwillkürliches und doch selbst vollzogenes ursprüngliches Wissen um das ethische Sollen und eine darin implizierte ursprüngliche Bejahung darstellt, kann man in ihr den Kern dessen ausmachen, was Autonomie bedeutet. Levinas geht es um die Gewährleistung einer wirklichen Autonomie. Das wird zum einen daran deutlich, dass das Subjekt sich für ihn neben dieser ursprünglichen Zustimmung dazu auch wahlfrei verhalten kann und muss, vor allem aber daran, dass es für ihn diese Zustimmung als eigenen Akt ansehen und die wahlfreie Zustimmung sozusagen aus dem Eigensten heraus vollziehen kann. Es kann sich zum Imperativ verhalten als zu etwas, was in ihm selbst schon eine Bejahung gefunden hat, sodass er nicht als eine gewaltsam von außen aufgedrängte Forderung, als eine bloße Meinung eines Anderen erfahren wird. 598 Auf diese Weise heit, die vernünftige Welt, in die ihn das Antlitz des Anderen eingeführt hat, nicht zu kennen.« Levinas unterscheidet hier eine ursprüngliche Anerkennung im unausweichlichen Kennen der Verantwortung und eine wahlfreie Anerkennung. Entsprechend muss sich die Unmöglichkeit des Zweifels und der Abweisung der Verantwortung, von der er in TU288 spricht, auf diese ursprüngliche Ebene beziehen. 598 Sehr oft stellt Levinas heraus, dass die Forderung für ihn nicht als etwas zu verstehen ist, was das Subjekt »gewaltsam« trifft (etwa TU58, 247 f. u. 293) oder durch »Schmeichelei oder Verführung« (TU262) – also in kantischer Begrifflichkeit als etwas, das an eine Neigung anknüpft und heteronom ist (vgl. dazu oben, S. 445 f.) –, und deshalb auch nicht als eine lediglich äußerlich an ihn herantretende Meinung eines Anderen (TU25, 58 u. 248). Ausgehend von diesem begründeten Festhalten an der Autonomie trotz der Heteronomie scheint mir die Einschätzung von Saskia Wendel

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sind für Levinas »Autonomie und Heteronomie […] versöhnt« (JS325). 599 In dieser vorfreien Antwort bin ich zugleich passiver Empfänger der Aufforderung und zugleich ist es eine Aktivität von mir. Die ursprüngliche Aktivität bestimmt Levinas deshalb als eine, die »diesseits oder jenseits von frei und unfrei« (JS45) zu verorten ist. Es handelt sich bei dieser Bestimmung um ein Grundkonzept seines Denkens. Neben der Beschreibung der ethischen Beziehung hat sie eine wesentliche Bedeutung für die Frage, wie überhaupt eine begrenzte Freiheit philosophisch zu denken ist, und dafür, wie dies speziell auf der Ebene der Leiblichkeit geschehen kann. Nicht zuletzt deshalb lohnt sich ein genauerer Blick darauf. Gebildet ist der Begriff des »Diesseits oder […] Zuvor von frei und unfrei« 600 und des »diesseits von Aktivität und Passivität« 601 – dasselbe manchmal auch mit der Präposition ›jenseits‹ 602 – ausgehend vom Phänomen der ethischen Infragestellung durch den Anderen. Von einem Jenseits-der-Freiheit spricht Levinas wegen der Vorgängigkeit zur Wahlfreiheit, wie sie zum einen in der ursprünglichen vorfreien Antwort auf die Infragestellung durch den Anderen deutlich wird (JS319 f. u. 41), und zum anderen in dem, dass ich mich hier als verantwortlich ebenso für das, was der Andere tut, was ich also gar nicht frei getan habe, erfahre (JS272 u. 40). Außerdem spricht er von ihr wegen der Vornicht zutreffend zu sein, es bleibe bei Levinas – sie nennt ihn nicht ausdrücklich, aber die verwendeten Vokabeln zeigen, dass sie sich auf ihn bezieht – bei einem Denken in Herrschaftsverhältnissen, es werde nur die Herrschaft des Subjekts durch eine Herrschaft des Anderen ersetzt. Für sie tritt an »die Stelle der kritisierten Hypertrophie des Subjekts […] lediglich die Hypertrophie des Anderen, für das ich empfänglich, gehorsam sein soll, dessen Geisel ich bin und dem ich mich bedingungslos zu unterwerfen habe« (1998, 209). 599 Von einer solchen Versöhnung spricht Levinas auch in TU317 f., hier als Versöhnung zwischen der Erfahrung, die rein von etwas Exteriorem ausgeht – dem Moment der Heteronomie –, und »der alten sokratischen Forderung«, alles von außen Kommende als Maieutik eines anamnetisch schon im Subjekt Angelegten zu verstehen – dem Moment der Autonomie. 600 JS170; vgl. auch JS45, 257, 276 u. 319. 601 JS257; vgl. auch JS262, 272 u. 357; Levinas weist auch in TU schon auf eine Ebene »außerhalb der Dichotomien a priori und a posteriori, Aktivität und Passivität« hin (TU124). 602 Vgl. etwa JS45. Von einem Jenseits wird gesprochen aus der Perspektive des Subjekts auf dem Standpunkt der Wahlfreiheit bzw. Autonomie. Und Levinas kann dasselbe als Diesseits benennen, weil es ein Jenseits in die eigene Tiefe der Subjektivität hinein ist und es so auch aus dieser ›Position‹ heraus beschrieben werden kann. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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gängigkeit zu meinem Ursprungsein überhaupt – ebenso zur vorfreien autonomen Tätigkeit, die erst heteronom eingesetzt ist (JS41, 44 f. u. 170). In dieser Anarchie kann man dabei den Grund sehen auch für die zuerst genannten Eigenschaften; aus ihr ergibt sich sowohl, dass ich ursprünglich keine Verantwortung dem Anderen zuschreiben kann und so allein für alles verantwortlich bin, als auch das Ergriffene und Vorwahlfreie der ursprünglichen Zustimmung. Neben dem Diesseits-der-Freiheit spricht Levinas von einem Diesseits-der-Unfreiheit. Es handelt sich um keine Unfreiheit, weil die Infragestellung durch den Anderen für ihn nicht eine Form von Gewalt ist (JS257) und weil meine Freiheit durch sie nicht begrenzt wird, sondern, indem sie in eine höhere Form von Wollen eingesetzt wird, sogar »beseelt« (JS277). Diese Gewaltlosigkeit ist für Levinas der Tatsache zuzurechnen, dass die Infragestellung mich betrifft in einer ursprünglichen Form von Antwort auf sie, die dann die Basis ist für die Autonomie. Deshalb handelt es sich weder um »die Passivität der Wirkung in einer Kausalbeziehung« (JS136; vgl. auch TU166), verstanden als eine mechanische Wirkung auf etwas Materielles (JS275), noch die Passivität der leblosen Bewusstseinsobjekte, die »reglose Passivität des Bezeichneten« (JS254), in der die Wirkung jeweils gar nicht die Einsetzung in einen bestimmten Selbstvollzug bedeutet. Und weil die Heteronomie sich als Einsetzung in eine Autonomie vollzieht, ergibt sich ebenso aus der Stellvertretung – dem anderen genannten Grund für die Rede von einem Jenseits-der-Freiheit – nicht ein Widerspruch zur Freiheit, da sie sich ja genau aus der Heteronomie der Infragestellung ergibt. Daneben bedeutet die Stellvertretung für Levinas auch vom Phänomen her nicht eine Begrenzung durch den Anderen. »In der unvergleichlichen Beziehung der Verantwortung begrenzt der Andere nicht mehr den Selben; was er begrenzt, das trägt ihn.« (JS254) An dieser, wie Levinas sogleich hervorhebt, nicht ontologisch, sondern als Beschreibung eines ethischen Phänomens zu verstehenden Aussage wird deutlich, dass diese Form von Unfreiheit für das Subjekt nicht nur keine Begrenzung, sondern vielmehr eine Überbietung bedeutet, einen Zugang zu einer noch tieferen Existenz. Dass Levinas das Jenseits-von-Freiheit-und-Unfreiheit nicht in eine Richtung versteht, in der von Freiheit gar nicht mehr sinnvoll gesprochen werden kann, wird zudem deutlich, wenn er es als »eine andere Freiheit als die der Initiative« (JS254) oder als »eine wesentliche Modalität der Freiheit« (JS285; vgl. auch JS277) ansprechen kann. Dasselbe zeigt sich, wenn er nicht nur verneinend ein 466

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Jenseits-von-… aussagt, sondern davon spricht, dass auf dieser Ebene »Aktivität und Passivität ineinander über« gehen (JS254) oder eine »Gleichzeitigkeit von Aktivität und Passivität« (TU124) besteht. Bei der Analyse dieser Situation darf nicht aus dem Auge verloren werden, dass die Passivität der ethischen Infragestellung für Levinas anknüpfen muss an die Getrenntheit des im Genuss konstituierten Ich. Wie noch näher herausgearbeitet werden wird, muss die Existenz eines selbständigen und auf sich bezogenen Subjekts als Bedingung für das Betroffensein durch die Infragestellung angesetzt werden. 603 Und vorausgesetzt ist sie dann auch als Basis für das Moment der ursprünglichen Zustimmung wie der sekundären wahlfreien Bejahung. 604 Sie muss somit als integraler Bestandteil des Jenseitsvon-Freiheit-und-Unfreiheit angesehen werden. Gerade das Jenseitsder-Unfreiheit wäre ohne sie nicht verständlich zu machen. Dieser Interpretation widerspricht nicht, dass Levinas sich an verschiedenen Stellen (etwa JS312) dagegen ausspricht, für die ethische Passivität einen Rest an Aktivität anzunehmen. Denn dies bezieht sich nur auf eine Aktivität des ethischen Engagements, wie Levinas es häufig nennt (etwa JS123–126), auf eine Aktivität der freiwilligen Bejahung der Verantwortung (JS194) sowie auf jede einer solchen Freiwilligkeit vorgängige Aktivität der subjektiven Autonomie, die das ethische Betroffenwerden durch den Anderen immer nur abhängig von der eigenen sinngebenden Leistung konstituierte und deshalb die ethische Bedeutung ganz übernehmen könnte. 605 Die ethische Passivität soll in dem Sinn »passiver als jede Passivität« (JS122) sein, auch »passiver als alle Passivität des Erleidens« (JS136), wenn diese nur korrelativ gedacht wird zu einer subjektiven Aktivität. In diesem Sinne soll sie auch vorgängig sein zu jeder Passivität der Rezeptivität, wie sie als bezogen verstanden wird auf die sinngebende Leistung des »transzendentalen ich denke« (JS357). Nicht ausgeschlossen ist damit aber, dass diese Passivität anknüpfen muss an das leiblich konstituierte Subjekt in seiner Selbständigkeit und Aktivität. Vorausgesetzt ist dieses für Levinas zum einen, um eine Beziehung von Getrennten zu gewährleisten und als Basis für den Vollzug der Autonomie, zum anderen aber, wie noch herausgearbeitet werden wird, ebenso für die Vgl. unten, S. 675–681. Vgl. dazu unten, S. 648 f. 605 Gegen diese Möglichkeit der Übernahme wendet sich Levinas etwa in JS232, 252 u. 300. 603 604

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Passivität. 606 Wie die ethische Autonomie auf der Selbständigkeit des Genusses aufbaut, so die Passivität der Infragestellung auf der leiblichen Passivität. Auch im Blick auf die Passivität oder die Seite des Jenseits-der-Freiheit ist das leibliche Subjekt integraler Bestandteil des Jenseits-von-Freiheit-und-Unfreiheit. Diese ausgehend vom Phänomen der ethischen Infragestellung beschriebene Vermittlung von Aktivität und Passivität ist für Levinas bedeutsam als Modell, überhaupt eine Begrenzung der Freiheit denken zu können, zuerst einmal die Begrenzung, die im ethischen Sollen liegt, aber dann auch die leibliche Begrenzung – wieder sowohl die Vorgängigkeit der leiblichen Tätigkeit zur Wahlfreiheit als auch die Abhängigkeit von etwas Exteriorem. Dabei möchte Levinas das Leibliche letztlich vom Ethischen und von der Beziehung zum Unendlichen her verstehen, in der dieses Verhältnis für ihn ursprünglich phänomenologisch greifbar gemacht werden kann. 607 Wie wir gesehen haben, kann er hier zwar nicht genauer zeigen, wie eine aus der Passivität erwachsene Aktivität denkbar ist, wohl aber dass sie möglich ist. Daneben kommt der Unwillkürlichkeit der ursprünglichen Aktivität eine wichtige Funktion der Erklärung dieses Verhältnisses zu. Auf diese Weise beschreibt Levinas nicht nur das Jenseits-derFreiheit-und-Unfreiheit, sondern erhellt es in seiner Möglichkeit. 608 Mit dem genannten Problem einer Begrenzung der Freiheit setzt sich Levinas an verschiedenen Stellen auseinander und stellt heraus, wie man, geht man zuerst einmal nur von der Freiheit aus – sei es von der Freiheit als Wahlfreiheit oder auch von der vor der Wahlfreiheit liegenden Selbständigkeit der subjektiven Konstitution –, diese als eine völlig unbeschränkte causa sui auffasst, für die man eine Begrenzung dann nicht mehr denken kann. 609 Freiheit muss also von vornVgl. unten, S. 681–689. Vgl. dazu unten, S. 671–674. 608 Insofern scheint es mir problematisch zu sein, wie Thomas Freyer für die These, Levinas könne in seinem Modell eine wirkliche Autonomie integrieren, lediglich darauf rekurriert, dass es seinen »spezifischen Ort ›jenseits‹ der Dialektik von Autonomie und Heteronomie einnimmt« (1996, 123), und nicht näher erhellt, wie Levinas die Möglichkeit der Annahme einer ursprünglichen Vermittlung von Heteronomie und Autonomie aufklärt. Mit seiner Formulierung stützt er sich offenbar auf Levinas’ Rede von einem Jenseits-der-Freiheit-und-Unfreiheit. Levinas spricht freilich selbst nicht von einem Jenseits-der-Heteronomie, weil er Heteronomie von vornherein nicht als Unfreiheit versteht. 609 Vgl. TU235–239, 323–325, 368 u. JS275–277. In TU hat Levinas deshalb auch den Begriff der endlichen Freiheit als widersprüchlich abgelehnt. In JS kann er ihn für sich 606 607

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herein in einer Abhängigkeit stehend gedacht werden. Dies geschieht bei Levinas Begriff der Autonomie, die in einer ursprünglichen Abhängigkeit von einer Heteronomie steht und von dieser auch immer betroffen bleibt. Sie betätigt sich aus dieser Abhängigkeit heraus zunächst in einer vorwahlfreien Form. Auf deren Basis können sich dann aber, wie im Folgenden dargestellt werden wird, auch die wahlfreie, aus dem Eigenen heraus getätigte Zustimmung und das freie ethische Engagement als ursprünglich in Begrenzungen Stehende erheben. Auch wenn es in Levinas’ Texten nicht immer deutlich wird, so lässt sich doch zeigen, dass sich das Subjekt für ihn auf jeden Fall zusätzlich zur ursprünglichen Zustimmung zur Infragestellung des Anderen auch wahlfrei zu ihr entscheiden muss. 610 Wie dies möglich ist, lässt sich von daher nachvollziehbar machen, dass die Infragestellung der Freiheit an das freie und bewusste Ich anknüpft. Mit seiner Freiheit kann es sich dann auch zu ihr verhalten. Wie noch genauer gezeigt wird 611, kommt es zur Freiheit in ihrer völligen Ungebundenheit, in der sie ebenso aus der zunächst unausweichlichen Selbstbezogenheit gelöst ist, erst durch die Infragestellung und kann sich auch das für die Freiheit vorausgesetzte Bewusstsein sowie die Möglichkeit des Eingreifens in die Welt nur durch eine hintergründig wirksame Präsenz des Anderen entfalten. Die Basis aller freien Vollzüge ist aber die in der Konstitution im Genuss bereits gegebene Selbständigkeit. Und weil sie vor der Infragestellung gegeben ist, kann sich das Subjekt von ihr distanzieren und ihr frei zustimmen. Das Moment an dieser Zustimmung, dass sie aus dem Eigenen heraus erfolgen kann, ist dabei natürlich von der aus der Infragestellung erwachsenden vorpositiv aufgreifen, in einer Weise, in der vermieden wird, ihn nur ausgehend von der Freiheit zu denken. Wenn er auf diese Problematik aufmerksam macht und die bloße Freiheit auf den Begriff der causa sui hinauslaufen sieht, bezieht er sich teilweise auf die Freiheit als Wahlfreiheit (etwa TU324 u. JS275–277) und teilweise auf die Selbständigkeit der subjektiven Konstitution (etwa TU345, 424 f. sowie JS176 u. 192). 610 Vgl. oben, Anm. 597 u. unten Anm. 612. Von daher versteht Levinas Autonomie nicht nur im Sinn der vorwahlfreien ursprünglichen Zustimmung und blendet das Moment der freien Selbstbestimmung aus, wie das etwa Sakia Wendel (1996, 171) kritisiert. Anders als sie würde ich es bei Levinas sogar stärker als bei Fichte gewichtet sehen, da für ihn aufgrund seines personalen Denkens der freien Wahl als äußerster Realisierung der Getrenntheit eine viel tiefere Bedeutung zukommt als für Fichte, für den sie letztlich nur eine aufgrund der notwendigen Begrenzung des Endlichen entstandene Begleiterscheinung ist. 611 Vgl. unten, S. 690–713. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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freien Antwort her zu erklären. Auf diese Weise liegen in der ursprünglichen Situation des infrage gestellten Subjekts die Möglichkeiten für das, was Levinas das freie ethische Engagement nennt. 612 Dass dieser Raum für die Wahlfreiheit besteht, hat dabei für Levinas eine Dignität innerhalb des Geschehens der ethischen Transzendenzbeziehung und kommt nicht lediglich als Moment der selbstbezogenen Praxis zustande. Die Entfaltung der Freiheit des Denkens, Entscheidens und Handelns und die Möglichkeit auch einer freien ethischen Entscheidung in der Beziehung mit dem Unendlichen hat für Levinas wesentlich damit zu tun, dass sich das Unendliche auf das Freie bezieht und es sich auch nur ereignet als Beziehung zwischen Freien. Erst in der Freiheit als einem rein im Subjekt beginnenden Grundsein für eine Setzung hat sich die Trennung ganz entfaltet, die für eine wirkliche Beziehung vorausgesetzt ist 613, und nur so kann die Infragestellung wirklich in ihm ankommen. Die Wahlfreiheit ist für Levinas deshalb von wesentlicher Bedeutung – obwohl sie wie etwas Unethisches oder wie eine Ausnahme von der Ethik erscheinen muss, wenn sich die ethische Beziehung selbst als etwas ereignet, in dem ich mich ergreifen lasse, in dem alle Wahl aufgegeben ist und ich mich überhaupt nicht als Urheber betrachte. Deshalb sagt Levinas, es werde »diese Unfreiheit auf dem Wege einer Ausnahme wieder freigekauft durch die Güte des Guten« – nämlich des Unendlichen, das mich als 612 Dieser Fundierungszusammenhang kommt etwa in JS192 f. zum Ausdruck, wo Levinas das Engagement auf die Nähe zurückführt und diese bestimmt als ein Drittes zwischen Freiheit und Unfreiheit oder ein »diesseits von Freiheit und Unfreiheit«. Vgl. auch JS257 u. JS304: »Nicht das Engagement liefert die Beschreibung für die Bedeutung, die Bedeutung – das der-Eine-für-den-Anderen der Nähe – rechtfertigt alles Engagement.« Die verschiedenen Stellen zeigen, dass für Levinas Ethik nicht primär vom freien Engagement her zu verstehen ist, sondern dieses nur etwas Sekundäres ist, was sich auf der Basis eines vorwahlfreien Ereignisses entfaltet. Sie zeigen freilich auch deutlich, dass für Levinas dem freien Engagement eine Bedeutung zukommt in der Ethik. 613 Vgl. etwa RE25, wo sich Levinas gegen die Idee einer Auflösung in einem numinosen Göttlichen, welche die personale Beziehung Getrennter verlässt, richtet; ein solches Göttliches erscheine »als Anschlag auf die menschliche Freiheit und der Erziehung des Menschen zuwiderlaufend, die Einwirken auf ein freies Wesen bleibt. Nicht, daß die Freiheit ein Ziel an sich ist. Aber sie bleibt das Wertvollste, was der Mensch erreichen kann.« Es geht Levinas dabei um Freiheit im vollen Sinne des Aus-sichAnfangens; Freiheit bedeutet für ihn mit »Thomas von Aquin, ›die Würde einer Ursache‹« (RE21) zu haben, und zwar in einem von der Selbständigkeit des bloßen Lebewesens unterschiedenen Sinn, als bewusstes und insofern verantwortliches Anfangenkönnen.

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freies Subjekt meint (JS41; vgl. dort auch Anm. 7). Um dabei jedoch keinen Widerspruch zur eigentlichen ethischen Haltung entstehen zu lassen, muss sich für ihn idealerweise die freie Zustimmung ganz rückbinden lassen an die Passivität und sich ganz aus ihr heraus vollziehen. 614 Die freie Wahl setzt das Bewusstsein voraus. Auch dessen Entfaltung gilt es nachzuvollziehen. Das Zeugnis ist zunächst einmal einfach das Ereignis der Verantwortung. Es findet darin aber auch eine Bezeugung im gewöhnlichen Sinn des Wortes statt, ein Zeugnis für Andere sowie für mich selbst. Es ist eine Bezeugung vor jedem Gesagten, vor jedem Bewusstsein – und doch scheint es hier zu einer gewissen Phänomenalität zu kommen. Levinas verwendet die Ausdrücke »erklingen« und »offenbaren«; er meint damit zwar etwas, was »früher […] als alles Erscheinen, als alles ›Präsentwerden vor dem Subjekt‹« (JS322) ist, aber eine Art von Erfahrung scheint darin enthalten zu sein. Zumindest handelt es sich für ihn dabei um den Ansatzpunkt für eine Bewusstwerdung des Imperativs. Wie es generell zur Entfaltung des Bewusstseins auf der Basis eines im Genießen enthaltenen ursprünglichen Erlebens kommt, wird noch herausgearbeitet werden. 615 In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass die Bewusstwerdung des Imperativs sich speziell ausgehend von der eigenen ursprünglichen Antwort im Zeugnis eröffnet. Der Imperativ wird deshalb als eigener Befehl bewusst. Vordringlich als eigener wird der Befehl dabei bewusst und es besteht die Gefahr, ihn nur als eigenen Befehl wahrzunehmen, weil sein Ursprung wie auch die vorfreie Antwort anarchisch sind, in ihren Gründen nicht vergegenwärtigbar, sodass ich ihn naheliegenderweise mir zuschreibe (JS325 f.). Es kann so zu einer Autonomie kommen, die ihre Abhängigkeit vergisst. Gleichzeitig bleibt aber für Levinas immer ein Bezogensein auf sie und die Möglichkeit, das ethische Sollen nicht als etwas rein von mir und aus mir Konstituiertes wahrzunehmen, sondern als etwas vom Anderen Ausgehendes. Levinas spricht von einer Ambivalenz der Autonomie (JS325 f.), indem sie einerseits bezogen ist auf Passivität und andererseits die wesentliche Möglichkeit hat, diesen Bezug zu vergessen. Diese Erklärungen sind zum einen bedeutsam, weil sie zei614 Vgl. wie Levinas in JS285 dieses Ideal beschreibt: Es »geht das Auf-sich-Nehmen von Leid und Schuld des Anderen in keiner Hinsicht über die Passivität hinaus: es ist Passion«. 615 Vgl. unten, S. 690–713.

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gen, dass Levinas der Autonomie die Bedeutung für das Bewusstwerden des sittlichen Anspruchs sowie für die Möglichkeit der freien Bejahung gibt, die ihr dem Phänomen nach zukommt. 616 Zum anderen scheinen sie mir wichtig zu sein im Blick auf die Erfahrung der Dominanz des Eingeschlossenseins des Subjekts in seinen Selbstbezug, und zwar besonders in der Auseinandersetzung mit dem Modell einer Rekonstruktion des ethischen Imperativs rein aus einer Autonomie. Für dieses scheint zunächst einmal die Erfahrung zu sprechen, wie selten sich der Mensch tatsächlich auf den Anderen in seiner unerreichbaren und absolut zu achtenden Transzendenz bezogen erlebt. Dass es zumeist eines besonderen Aktes bedarf, sich dessen bewusst zu werden, scheint darauf zu weisen, dass diese Bezogenheit überhaupt von uns konstituiert ist. Levinas kann diese Phänomene demgegenüber aus der beschriebenen Verborgenheit des anarchischen Bezuges erklären. Entsprechend würde er den Akt, ihn sich bewusst zu machen, weniger als aktive Vergegenwärtigung sondern als ein Sichöffnen für eine hintergründige Passivität beschreiben. Wie sich das Bewusstsein des Imperativs und der wahlfreie Vollzug der Autonomie schon losgelöst haben aus der Passivität, so auch der Vollzug der Autonomie als eines allgemeinen Urteils. Das Wort ›Autonomie‹ hat für Levinas auch diese Konnotation. 617 In ihrer Ambivalenz bewegt sie sich immer schon auf der sekundären Ebene der 616 Von daher dürfte Levinas Magnus Striet zustimmen, wenn dieser in Bezug auf Levinas’ Beschreibung des Betroffenseins durch die zu achtende Exteriorität des Anderen hervorhebt, dass die Erfahrung der Aufforderung des Anderen schon ein Produkt eines Reflexionsaktes des Ich ist (2013, 339). Nicht zustimmen würde er ihm jedoch in der These, dass in der sinnlichen Erscheinungswelt zunächst immer nur ein nicht personales Etwas begegnet, das erst durch die Reflexion zu einem Personalen bestimmt werden kann. Er würde auf seine Sollensauslegung verweisen, durch die er sich dazu genötigt sieht, eine eigene Art der Intenionalität auf den infrage stellenden Anderen und ein entsprechendes vorgegenständliches Erleben anzunehmen, sowie auf seine Versuche, diese als möglich auszuweisen. 617 Etwa in JS283 wird die Autonomie in einer Reihe mit »Gerechtigkeit«, »Gleichheit« und »Gesetz« genannt. Auch wenn die deutliche Unterscheidung der sekundären Ebene der Gerechtigkeit von der primären Ebene der Beziehung zum Anderen erst in JS erfolgt (TU8), findet sich dieser Schritt über die primäre Ebene hinaus auch schon in TU. Es ist interessant, wie Levinas dort schon die Autonomie – hier in der Formulierung, dass ich »selbst Meister bin« – erstens mit der Bewusstwerdung der Verantwortung in Zusammenhang bringt, als deren vorauszusetzende Bedingung, und zweitens damit, dass ich allgemein urteilend Andere auf ihre Verantwortlichkeit anspreche (TU308). Auch dadurch wird noch einmal deutlich, welchen großen transzendentalen Stellenwert Levinas der Autonomie zuerkennt.

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Gerechtigkeit – wie Levinas in Jenseits des Seins die Ebene des allgemeinen Urteilens benennt. Die Lösung aus der Passivität hängt dabei unmittelbar zusammen mit der Möglichkeit dieses Urteils. Nur wenn ich heraustrete aus der Passivität kann ich aus der asymmetrischen Situation heraustreten und die ursprüngliche Zustimmung zu meiner Verantwortung als Urteil über die Verantwortung aller Subjekte vollziehen, als Urteil über ein allgemeines Gesetz, als Auto-n o m i e . Von diesem Phänomen der Auto-n o m i e her lässt sich im übernächsten Abschnitt der zweite Hauptunterschied zur Konzeption Fichtes herausarbeiten. Zunächst aber zur Frage, wie sich das in diesem Abschnitt Betrachtete zu Fichtes A u t o -nomiekonzept verhält. Der grundlegende Unterschied ist klar: Er liegt in der Vorordnung einer Heteronomie. Die Beschreibung aber des vorwahlfreien und doch eigenen Vollzuges der aus der Heteronomie entsprungenen Autonomie entspricht vom Charakter her der vorfreien selbständigen Aktivität bei Fichte. Ähnlich wie dieser verwendet Levinas auch das Wort ›Freiheit‹ teilweise für einen unwillkürlichen Selbstvollzug und nicht nur im Sinne der Wahlfreiheit. 618 Für Fichte weist zwar die unwillkürliche Aktivität der ursprünglichen Autonomie nicht in Bezug auf die Setzung der ethischen Bedeutung aus sich heraus auf ihren transzendenten Ursprung, sondern nur ausgehend vom Nicht-begründen-Können des eigenen Seins. Von diesem Gedanken her ist aber für ihn klar, dass die ursprüngliche Aktivität des Subjekts vom transzendenten Absoluten in die Selbständigkeit des Subjekts gegeben wurde. Und ganz ähnlich wie bei Fichte aufgrund der Unwillkür618 Sehr oft verwendet Levinas das Wort ›Freiheit‹ im Sinn der Wahlfreiheit (z. B. TU114 o. 324). Daneben benennt er damit aber auch die Selbständigkeit des Subjekts, das sich im Genuss konstituiert (TU205), das im Abstand von der Welt wohnt und sich gegenüber der Welt verhalten und in sie eingreifen kann – auch noch vor einer wahlfreien Gestaltung dieses Eingreifens (TU238 f.). Und ähnlich meint er etwas vor der Wahlfreiheit Liegendes, wenn er mit dem Wort ›Freiheit‹ die Selbständigkeit des Denkens bezeichnet, das alles aus sich rechtfertigt (TU51). Levinas ist sich darüber im Klaren, dass die Autonomie des Denkens keine Aktivität im gewöhnlichen Sinn einer von mir gelenkten Aktivität ist: »Die Vorstellung ist reine Spontaneität, obgleich sie diesseits aller Aktivität ist.« (TU175) Erst recht meint er etwas anderes als Wahlfreiheit, wenn er sogar den der Autonomie vorgängigen ethischen Vollzug des Subjekts, der ganz eingebunden ist in die Passivität, den ursprünglichen Zustand des Subjekts in der Stellvertretung, in dem es radikal passiv ist und ihm doch eine ihm unvertretbar eigene Verantwortung zukommt, als Freiheit oder genauer als »eine fundamentale Modalität der Freiheit« benennen kann (GTZ194; vgl. auch JS277 u. 285).

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lichkeit die beiden Seiten – Selbständigkeit des Vollzuges und Empfangenhaben des Vollzuges – zusammengehen können, so wird bei Levinas der Zusammenhang zwischen der Passivität der heteronomen Einsetzung – bei ihm nur nicht als Setzung des ganzen Grundvollzuges des Subjektes, sondern bloß der sittlichen Ausrichtung des Willens – zur Aktivität des Selbstvollzuges der Autonomie über diese unwillkürliche Bejahung gedacht. Weitere Übereinstimmungen werden sich dann auch in dem feststellen lassen, wie für beide auf der Basis eines unwillkürlichen Selbstvollzuges in einem Zusammenspiel von unwillkürlicher ethischer und unwillkürlicher leiblicher Aktivität die bewusste Wahlfreiheit erwächst. 619 Zu Levinas’ ausdrücklichen Bezugnahmen auf Fichte Es finden sich nur wenige Stellen, an denen sich Levinas ausdrücklich auf Fichte bezieht. Bei ihnen geht es fast immer um die Aktivität des Ich und somit um die Thematik, die hier als grundlegender erster Unterschied behandelt wurde. Levinas interpretiert Fichte als Verfechter der Idee eines absolut freien Ich, das Ursprung seiner selbst ist (JS354), aus dessen Setzung alles erwächst, das rein aktiv ist, ohne dass ihm eine Passivität, ein Leiden, vom Nicht-Ich zustoßen könnte, sondern das dieses Leiden vielmehr selbst setzt (HM3, JS275 u. 277). Wenn der frühe Fichte das Ich noch so beschreiben kann, dass es sein Sein setzt (GWL259) – dies kann man auch nur auf das Setzen des gewussten Seins hin interpretieren, aber die Formulierung macht zumindest die levinassche Interpretation als causa sui verständlich –, so ist für den späten ganz klar und ausdrücklich das Sein des Ich oder seine Möglichkeit des Setzens durch das Absolute gesetzt. Abgesehen von dieser Bestimmung als causa sui ist freilich zunächst einmal Levinas’ Interpretation schlüssig – zumindest für den späten Fichte –, da dieser tatsächlich davon ausgeht, dass das Ich, insofern es die Tätigkeit des einen Daseins ursprünglich mitvollzieht, Grund der Setzung zwar nicht des Seins des Daseins aber doch aller Differenzen im Dasein und damit auch jeder Form von Nicht-Ich ist. Zutreffend ist auch, wenn Levinas diese Grundbestimmung des Ich auf die sittliche Autonomie, auf ein »natürliches Wohlwollen« (JS277), bezieht und seinem Konzept einer heteronomen Ethik gegenüberstellt. Tatsächlich liegt für Fichte im Sollen kein Bezug auf eine dem Ich exteriore Instanz, von 619

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Vgl. unten, S. 721–726.

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dem es in der Sollenssetzung abhängig wäre. Jedes von außen an es herangetragene Sollen muss aus der Autonomie gerechtfertigt und verstanden werden, ja sogar ursprünglich gesetzt worden sein. Und diese Autonomie ist für ihn auch die Grundlage für sein Konzept des Ich. Nicht zutreffend ist es aber, wenn Levinas die Setzung des Ich bei Fichte als Bewusstseinssetzung beschreibt (JS223). Das Ich Fichtes ist nicht die transzendentale Apperzeption. Und es ist nicht das Erleben der Herrschaft des Vorstellungssubjektes über alle Vorstellungen, das zur fichteschen These des absoluten Ich, das jedes Nicht-Ich setzen muss, führt, sondern das Erleben der Autonomie, und zwar – darum wird es im folgenden Abschnitt gehen – gedeutet als Teilnahme am Vollzug der einen universalen Vernunft. Nur insofern es am Vollzug des einen Daseins teilnimmt, kann für Fichte das individuelle Ich, sieht man einmal von der Abhängigkeit vom Absoluten ab, nicht durch ein Exteriores bestimmt sein. Deshalb ist es zumindest irreführend, wenn Levinas in seinen Bezugnahmen auf Fichte nicht deutlich macht, dass dessen Ich keineswegs das bloß individuelle Ich meint oder von diesem her verstanden wird. Das individuelle Ich steht für ihn in einer wirklichen Passivität zum Nicht-Ich, ist real betroffen vom Anderen. Erst recht gilt dies, insofern es Bewusstseinssubjekt ist. Denn die Bewusstseinssetzung muss für Fichte ausgehen von einem wirklich passiven Begrenzt- und Bestimmtwerden des individuellen Ich durch Anderes. Zur beschränkenden Darstellung des fichteschen Ich als bloßen Bewusstseinssubjekts passt es nicht, dass Levinas, wie an einer Stelle deutlich wird, durchaus Fichtes Grundidee wahrgenommen hat, das Ich letztlich als Subjekt eines Sollens zu verstehen. Ganz ähnlich wie Platons Idee des Guten jenseits des Seins würdigt er dies als »eine Überschreitung des Seins« und eine »Unmöglichkeit der Totalisierung«. 620 Zumindest scheint für ihn Fichte mit der Transzendierung der Ebene des Theoretischen hin zum Praktischen in diese Richtung zu gehen. Es dürfte ihm klar gewesen sein, dass Fichte, indem das Sollen bei ihm aus einer Aktivität des Ich kommt und diese eingebun620 Ausführlicher lautet der Text: »Im Laufe der westlichen Philosophiegeschichte konnte sich die Unmöglichkeit der Totalisierung selbst zu vielfältigen Gelegenheiten zeigen: […] im Guten und im Begriff eines Jenseits des Seins bei Platon und bei Plotin; […] im fichteschen Sollen, das nicht eine einfache Machtlosigkeit ist, das Sein zu denken, sondern eine Überschreitung des Seins, nicht wiedereinholbar vom überschrittenen Sein und das letztendlich das Überschreiten der Illusion bewahrt« (eigene Übersetzung von TT67).

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den ist in eine die einzelnen Ichs übergreifende Tätigkeit, nicht den Bruch der Totalisierung im passiven Bezogensein auf den anarchisch entzogenen Anderen erreicht, wie er selbst ihn denkt. Zweiter Hauptunterschied: Vorgängigkeit zur Auto-n o m i e Die Differenz zum fichteschen Ansatz lässt sich allein mit dem Hinweis auf die Frage nach der Begründung der Ethik durch einen Selbstbezug und Selbstvollzug oder durch ein ihnen noch vorgängiges Betroffensein vom Anderen nicht einholen. Dies würde Fichte nicht gerecht werden, denn auch bei ihm erklärt sich das Sollen keineswegs aus einem bloßen Selbstbezug, sondern nur insofern dieser einen Bezug auf die universale Vernunft impliziert. Und vor allem liegt im Konzept eines solchen Bezuges ein weiterer wichtiger Unterschied zu Levinas, für den die eigentliche Identität des ethischen Subjekts nicht ausgehend von einer Universalinstanz verstanden werden kann. »Die Freiheit des Ich ist weder die Willkür eines isolierten Seienden noch die Übereinstimmung eines isolierten Seienden mit einem Gesetz, das, vernünftig und universal, sich allen aufnötigt. Meine willkürliche Freiheit liest ihre Schande in den Augen, die mich ansehen.« (TU368) Ein solches Gesetz ist für ihn nur ein sekundäres Phänomen. Und ein realer Vollzug einer Vernunfteinheit wird nicht angenommen. Nicht nur das ›αὐτό‹ im Wort ›Autonomie‹, auch der ›νόμος‹ wird von Levinas nicht als etwas Ursprüngliches angesehen. Den Weg, Ethik von einem allgemeinen Gesetz her zu verstehen, kann man wie selbstverständlich für Fichte dadurch vorgegeben sehen, wie Kant im ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die sittliche Grundintuition des Menschen auf den guten Willen hin, verstanden als ein Wollen der Pflicht um der Pflicht willen, auslegt, und nicht unmittelbar auf eine Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen. 621 Vom moralischen Gesetz Kants aus entwickelt Fichte seine Vorstellung vom einen Grundgesetz der Wirklichkeit. In der den ethischen Grundwillen erschließenden intellektuellen Selbstanschauung liegt für ihn zugleich eine Anschauung des Ich als eines Teiles des universalen Vernunftvollzuges und sie ist insofern zugleich Anschauung eines Überindividuellen, mit den Anderen sowie in gewisser Weise mit dem Absoluten Gemeinsamen. Der eigentliche Unterschied zu Levinas liegt dabei nicht in der Anschaulichkeit der 621

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Vgl. AA 4 393–405.

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intellektuellen Anschauung, sondern – neben dem Aspekt des reinen Selbstvollzuges – in ihrer Ausrichtung auf die Einheit. Auch für Fichte ist diese Anschauung nicht vergegenständlichend und sie ergibt keine objektive Gewissheit, sondern bedarf eines auf ein Wollen bzw. Sollen gestützten Glaubens. Auch verwirklicht sich für ihn Ethik – und überhaupt das, was die Bestimmung des Menschen ausmacht – letztlich nicht in einer Anschauung, sondern in einer Praxis, einem Leben – einem Leben freilich, das sich selbst unmittelbar und ursprünglich erhellt ist. Wenn sich Levinas dagegen wendet, die Beziehung zum Anderen als eine Form der intellektuellen Anschauung des Anderen zu verstehen (TU88), dann trifft das nicht Fichte, denn – einmal abgesehen davon, dass sich bei ihm diese Anschauung letztlich gar nicht auf das Individuum, weder das Ich noch den Anderen bezieht – verwirklicht sich Ethik für ihn eben als Praxis. Ebenso wenn Levinas es zurückweist, die Beziehung zum Anderen als einen dem Wissen vorgängigen Akt zu bestimmen, weil für ihn im »Begriff des Aktes […] wesensmäßig eine Gewalt enthalten« 622 ist, liegt darin nicht der eigentliche Differenzpunkt zu Fichte und trifft dies nicht die Form von Praxis, um die es Fichte geht. Das Individuum hat für ihn die ursprüngliche Vernunfttätigkeit nicht nur nicht in der Hand, sondern ist in ihr sogar über die individuelle Sphäre hinaus bezogen auf einen überpersönlichen Vollzug. Genau in der Annahme jedoch einer solchen universalen Ebene und ihrer Letztgültigkeit, mit der sie jede Asymmetrie und überhaupt die Bedeutung des Interpersonalbezuges zu relativieren droht, muss für Levinas die Problematik in Fichtes Denken liegen. Levinas setzt sich in Bezug auf diesen Punkt nicht ausdrücklich mit Fichte auseinander. Wenn er sich aber summarisch gegen die Position der Philosophie »von Spinoza bis Hegel« (TU120 f.) wendet, die den Willen in seinem Eigentlichen allein als Vernunftvollzug und nicht als freie Wahl ansieht, dann können seine Aussagen sehr gut auf Fichte bezogen werden. 623 Für das von ihm dabei in den Blick geTU29. Levinas spricht an dieser Stelle zwar vom »Akt des Denkens«, zugleich jedoch von einer »Inkarnation«, sodass er eine Art leibliche Praxis im Blick haben dürfte – ähnlich dem zum Wissen vorgängigen praktischen Umgang mit dem Zuhandenen bei Heidegger. Gegen dieses Konzept der Wissensbegründung positioniert er sich auch an anderen Stellen (etwa TU132 f., 113–115 u. 243 f.). 623 Levinas setzt sich mit sehr verschiedenen philosophischen Konzepten auseinander, die ein das Persönliche übersteigendes universales Prinzip enthalten (diese Vielfalt ist etwa greibar in TU399). Er führt entsprechend verschiedene Kritikpunkte an und man 622

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Der philosophische Ausgangspunkt: die Beziehung zum Anderen

nommene Konzept ist die eigentliche Wirklichkeit eine unpersönliche Vernunft, im Sinn einer »universalen Ordnung, die sich, wie der Gott des ontologischen Arguments, von selbst erhält und rechtfertigt« (TU121). Die individuelle Freiheit ist lediglich ihr »Reflex« (TU121), das individuelle Subjekt geht »aus jenem universalen Selbstbewusstsein des Geistes hervor« (JS230) und soll wieder in es zurückfinden. »Gemäß dieser Auffassung ist das Wissen der Weg, auf dem die Freiheit ihre eigene Zufälligkeit erkennt, der Weg, der sie in der Totalität zum Erlöschen bringt.« (TU121) Wenn er von einem »Erlöschen« spricht und schreibt, die »Freiheit bleibt nicht bestehen« oder »es verschwindet in dieser Sublimation das Ich« (TU121), dann besteht, zumindest an dieser Stelle, die Kritik nicht darin, dass in diesem Modell die Realität der Freiheit unmöglich wäre – sie wird ja gerade als das angesprochen, was sich erkennen soll als eins mit der Vernunft –, sondern, dass sie keinerlei Wert und Bedeutung in sich besitzt, sondern ihr Ziel lediglich ist, sich ganz mit dem Universalen zu vereinen – und insofern zu verschwinden. 624 Damit ist genau die Ansicht Fichtes kritisiert. Als ein wichtiger Hintergrund von Levinas’ Ablehnung dieser Sicht ist bereits die phänomenologische Skepsis herausgestellt worden gegenüber so weitreichenden Behauptungen wie der These einer Einheit der Vernunft, in welche die Individuen alle einbezogen

muss genau aufschlüsseln, welche auf Fichte zu beziehen sind. Wenn er das persönliche Ich in einem Universalen, das bloßer »Begriff« oder »ein System idealer kohärenter Beziehungen« ist, aufgehen sieht (TU313 f.), dann trifft dies nicht das Denken Fichtes, in dem die Vernunft nicht toter Begriff, sondern Leben ist. Ebenso wenn er ein System kritisiert, in dem die Einheit auf eine Weise verstanden wird, dass sich die Freiheit als bloßer Schein erweist (TU149). Sein Gegenargument, dass die bloße Existenz eines solchen Scheines ein der Einheit gegenüber differentes Prinzip bezeugt (TU314), lässt sich nicht auf Fichte beziehen, der ja von der Realität der Freiheit des Individuums ausgeht. Auch die Kritik an Einheitssystemen, welche die individuelle Freiheit (TU167 u. 316) und generell die Vielheit (JS316) nicht erklären und etwa der Vielheit im Sprachgeschehen keine Bedeutung geben können (TU314 f.), trifft Fichte nicht, da er sehr genau die Gründe dafür angibt, weshalb das eine Dasein nur in der Vielheit der freien Individuen wirklich werden kann. Auch wenn Levinas das Aufgehen des Individuums in einer Universalität in der konkreten Form eines Staates als einer mit allgemeinen Gesetzen und Formen geregelten Ordnung problematisiert (TU355 f.), ist dies nicht auf Fichte zu beziehen, da für ihn die positiven Gesetze eines Staates immer unterschieden werden müssen von den an sich gültigen Gesetzen der Vernunft, sodass es für ihn nie darum gehen kann, dass das Individuum einfach im Staat aufgeht. 624 In diesem Sinne sind wohl auch TU97–99, 177 f., 367, 399 u. 432 f. zu verstehen.

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sind. 625 Es ist die Anfrage, ob »die Möglichkeit der vollständigen Reflexion und der Einheit des Geistes jenseits der Vielheit der Seelen tatsächlich gewährleistet ist« (JS278) oder ob es sich bei solchen Annahmen nicht nur um »Philosophische Überheblichkeit« und »idealistische Vermutungen« (JS271) handelt. Es wird also die Begründungspflicht auf der anderen Seite gesehen. Die positiven Gründe, sich gegen diese Sicht zu stellen, ergeben sich für Levinas aus seiner Auslegung des ethischen Sollens. Etwa die Forderung der Wahrung der Freiheit des Individuums, die Levinas – Fichte würde ihm hier begründet widersprechen können – durch die Annahme einer ihm übergeordneten Vernunfteinheit zumindest gefährdet sieht 626, erklärt sich aus deren Notwendigkeit für die Ethik. Als Argument lässt Levinas nicht die Freiheit gelten, die auf den Wert ihrer von keinerlei Gesetz bestimmten Willkür beharrt: »Der Protest gegen die Identifikation des Willens mit der Vernunft gefällt sich nicht in der Willkür; eine solche Selbstgefälligkeit würde auf der Stelle aufgrund ihrer Absurdität und Unmoralität jene Identifikation rechtfertigen. Der Protest kommt aus der Gewißheit, daß das Ideal eines von Ewigkeit her erfüllten Seins, das nur sich selbst denkt, nicht als ontologischer Maßstab für ein Leben, für ein Werden zu dienen vermag, die der Erneuerung, des Begehrens und der Gesellschaft fähig sind.« (TU316) Das zentrale Argument ist hier das »Begehren« und die »Gesellschaft«, also die ethische Beziehung zum Anderen, verstanden als eine letztgültige Wirklichkeit und nicht nur etwas irgendwie Sekundäres zu einem in seinem Wesentlichen völlig einigen Leben, als bloße Form von dessen endlicher Verwirklichung. Und zwar eben Ethik in der Weise, wie Levinas sie vom Phänomen der Asymmetrie her analysiert und wie sie für ihn allein die Absurdität und Enge des Esgibt überwinden kann: als Beziehung zum mir transzendenten Anderen, von dem das Sollen ursprünglich ausgeht. Von daher kritisiert er die Identifikation von Willen und Vernunft als »Triumph des Selben über das Andere« (TU121). Er meint damit nicht den Egoismus des Genusses – dies würde Fichte auch nicht treffen –, sondern eine Verabsolutierung des für ihn nur aus dem Selbstbezug erwachsenden Moments der ethischen Universalität, mit welcher der Transzendenzbezug zum Anderen verdeckt wird. 627 625 626 627

Vgl. oben, S. 356–358. Vgl. oben, Anm. 623. Vgl. dazu oben, S. 388 f.

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Dass Levinas dem zeitlichen »Werden«, dem »Leben« und dessen »Erneuerung« einen letzten Wert entgegen dem »Ideal eines von Ewigkeit her erfüllten Seins« zuschreibt (TU316), ergibt sich daraus, dass er die Beziehung zum Anderen als etwas sich wesentlich in einer diachronen Zeitlichkeit und als Empfangen von radikal Neuem Ereignendes versteht. In dieser Linie kann Levinas ebenso die Überraschung, das Risiko sowie die Ungewissheit als positive Momente gegen das Modell der Identifikation des Subjekts mit dem Logos anführen (JS220 f.). Und dasselbe gilt für das Suchen und Fragen, nämlich »die Frage in ihrem fragenden Appell, die Frage als an den Anderen gerichtete Bitte« und die damit einhergehende »Unruhe« (GTZ118). Dass diese Dimensionen bei Levinas eine letzte Dignität bekommen, zeigt vielleicht am deutlichsten, wie sehr er sich von großen Teilen der klassischen philosophischen Tradition unterscheidet. Es ist nicht so, dass der fichtesche Ansatz der Faktizität dieser Momente nicht gerecht werden könnte. Sie kommen bei ihm vor. Sie bekommen nur keine letzte Dignität. Dies gilt ebenso für ein weiteres Phänomen: das Glück oder den Genuss. Wie noch deutlich wird, erfordert Levinas’ Sollensauslegung, dass das Subjekt ganz getrennt und unabhängig vom Anderen in einem Selbstbezug und im reinen Für-sich des Genusses leiblich konstituiert ist und dass der Genuss integraler Bestandteil der Beziehung zum Anderen bleibt. Er ist nicht nur, wie es für ihn im anderen Modell der Fall ist, ein vorbereitendes und untergeordnetes Moment der Selbstentfaltung der Vernunft, ein »bloß animalisches Prinzip« (TU314). Dies wird noch wichtige Konsequenzen für die Bedeutung der Leiblichkeit haben. Das Phänomen des Glücks liefert Levinas zudem ein eigenes Argument. Diesmal vor allem gegen Spinoza gewendet schreibt er: Die Identifikation mit der Vernunft bedeutet, »sich seiner subjektiven Substanz [zu] entleeren und den Genuß [zu] entsensibilisieren. Indem er sich diese grenzenlose Anästhesie ausmalt, bringt Spinoza die Trennung zum Verschwinden. Aber die Freude an dieser intellektuellen Koinzidenz […] bezeichne[t] einen Riß in der so gewonnenen Einheit.« (TU167) Es geht Levinas hier um die besondere Art des Glücks – er spricht von »Freude« –, die in dem kritisierten Modell zum höchsten Leben in der Einheit des individuellen Willens mit der Vernunft gehört. Und er fragt: Lässt sich nicht jede Form von Freude und Glück nur sinnvoll verstehen als Freude eines Individuums? Wenn man die Freude als Bestandteil des höchsten Lebens ansieht, zeigt dies dann nicht, dass die Einheit unter der Hand immer schon 480

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als in Individuen geteilte verstanden wurde und sozusagen ein »Riß« durch sie geht? Für Levinas wird deshalb »die ganze pathetische Erfahrung der Menschheit […] vom hegelschen oder spinozistischen Idealismus in den Bereich des Subjektiven oder die Einbildung verbannt« (TU315). Das wäre eine Möglichkeit, dem Selbstwiderspruch zu entgehen. Aber ist sie existenziell wirklich vollziehbar? Indem für Fichte dem höchsten Leben in der Vereinigung mit Gott eine zwar über jede sinnliche Lust hinausgehende und nicht selbstbezogene Seligkeit, aber damit eben doch eine Art Glück zukommt, trifft die beschriebene Anfrage von Levinas auch ihn: Lässt das Phänomen des Glücks nicht das Einheitssystem zerbrechen? An anderer Stelle schreibt er: »Gegen diese Ordnung behauptet sich der Mensch als unbedingte Einzelheit, die außerhalb der Totalität, in die der Mensch eintritt, bleibt; diese Einzelheit sehnt sich nach einer religiösen Ordnung, in der die Anerkennung des Individuums es in seiner Einzelheit betrifft; sie sehnt sich nach einer Ordnung der Freude, die weder das Aufhören noch die Antithese des Schmerzes noch auch die Flucht vor dem Schmerz ist« (TU356). Neben einer nicht mehr relativierbaren Sehnsucht nach einer selbstlosen Freude beruft sich Levinas hier auf ein Bedürfnis nach Anerkennung, auf die Apologie als das Verlangen danach, in seiner Identität als Verantwortlicher gesehen, anerkannt und beurteilt zu werden. Auch die Dimension der Verantwortlichkeit bleibt bei Fichte als etwas Letztgültiges stehen. Und sie kann offenbar schwer »in den Bereich des Subjektiven oder die Einbildung verbannt« (TU315) werden. Levinas kann hier auf dieselbe Weise fragen: Hat sie nicht immer nur einen Sinn als Verantwortlichkeit eines Individuums? Diese Anfragen widerlegen nicht einfach den fichteschen Ansatz, denn sie gründen selbst auf der Voraussetzung, dass Verantwortlichkeit und Glück nur als individuelle verstehbar sind. Dies ist freilich die zunächst gewöhnliche Sicht auf diese Phänomene. Und von daher zeigen Levinas’ Anfragen, wie eigenartig ihre Deutung bei Fichte letztlich wird. Neben der Auflösung einer letzten Bedeutsamkeit von Individualität und Interpersonalität sieht Levinas ein Denken, das von einer universalen Vernunft oder einer Einheit des Seins ausgeht, immer in der Gefahr, das Leben des Seienden, auch sein ethisches Leben, als Selbstverwirklichung seines Seins zu denken und so zumindest in der Logik des Interessiertseins zu verharren. 628 Letztlich möchte er 628

Vgl. Anm. 702.

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aber gegen ein solches Denken nicht von einer egoistischen Selbstbezogenheit her argumentieren. Dies wurde schon im Zusammenhang der Darstellung von Levinas’ Auseinandersetzung mit dem scheinbaren Ausweg aus dem Es-gibt über die Vereinigung mit einer universalen Vernunft herausgearbeitet. 629 Für ihn ist dieser Ausweg, indem das Seiende sich hier im Sein auflösen möchte, nicht in der Weise »Triumph des Selben über das Andere« (TU121) wie der des Genusses, sondern nur Triumph desselben, das in dieser überpersönlichen Einheit liegt, welcher nach seinem Modell nur eine sekundäre Rolle im Dienst für die ethische Beziehung zukommt. Insofern auch für Fichte das Individuum im Bezug auf die Vernunfteinheit alle eigenen Interessen transzendieren soll, würde Levinas auch sein Modell nicht als das einer egoistischen Selbstverwirklichung kritisieren. 630 Die Anfrage wäre eher, ob nicht das Fehlen einer letzten Würdigung der einzelnen Person dazu führt, den Anderen zu übergehen. Man müsste in dem Zusammenhang auf gewisse totalitäre Tendenzen besonders beim späten Fichte verweisen, in denen er in der Ausrichtung auf ein die Individuen übersteigendes Ziel diese doch Vgl. oben, S. 388 f. Wenn Thomas Freyer (1996, 124 u. 1997, 17 f.) gegenüber Ansätzen, die am Selbstbewusstsein und an der Autonomie ansetzen, ein deutlicheres Bewusstsein dafür einfordert, wie sehr diese mit dem Conatus essendi verbunden und somit beteiligt sind am faktischen Sündersein des Menschen, dann ist in Bezug auf Fichtes Ansatz zum einen hervorzuheben, wie bei ihm durch die Rückbindung der individuellen Autonomie an eine übergreifende Universalität eine ursprüngliche Öffnung über die Sorge um das eigene Sein gedacht ist, und zum anderen, wie Fichte selbst sehr deutlich die Gefahren des Selbstbezuges der Freiheit reflektiert und in ihm den Anlass sieht für die Allgemeinheit der Schuldhaftigkeit des Menschen. Indem Thomas Pröpper (1995, 101) den Haupteinwand von alteritätsphilosophischen Konzepten an einen autonomen Ansatz darin sieht, dass er »den Mitmenschen zur Funktion des eigenen Selbstseins depotenziere«, geht es ihm genau um den hier behandelten Punkt. Während man in Bezug auf Fichte für eine Transzendierung der selbstbezogenen Seinssorge ausgehend von seinem Rekurs auf eine das Individuum transzendierende Instanz argumentieren kann, so ist dies für Pröpper, der eine solche Instanz nicht ins Spiel bringen, sondern bei der transzendentalen Freiheit des Individuums stehen bleiben möchte, nicht möglich. Er argumentiert mit dem Hinweis darauf, dass mit der Bezogenheit auf die eigene Unbedingtheit der Freiheit »die Anerkennung des Anderen in der Unbedingtheit seiner Freiheit und somit auch die Freilassung in seine ursprüngliche Andersheit« (101) korrespondiere (vgl. dazu auch 1996, 35 u. 2011, 709 f.). Dies könnte auch zur Verteidigung Fichtes gegenüber Levinas angeführt werden. Sicher müsste die genannte Anfrage eingehender diskutiert werden. Die Spitze der levinasschen Argumentation scheint mir jedoch nicht in ihr, sondern in seiner spezifischen Auslegung des Sollens auf eine Asymmetrie hin zu liegen. 629 630

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nur auf ihren diesbezüglichen Nutzen hin zu bewerten und abzuwerten scheint. 631 Meines Erachtens lassen sich hier zu Recht Anknüpfungspunkte für eine Vereinnahmung Fichtes durch totalitäre Geister finden. Und in der Funktionalisierung der Personenwürde scheint mir tatsächlich eine gewisse Gefahr zu liegen, sie aufzulösen – freilich letztlich nur, wenn man sie missversteht. Denn tatsächlich folgt für Fichte aus der Achtung des Anderen als eines Teils der einen Vernunft eine unbedingte Achtung, ja in der frühen Sittenlehre legte er dar, wie der Andere im Unterschied zum Ich nicht einmal nur als Mittel zu achten ist, da man sich immer nur selbst zum Mittel für Sittlichkeit machen kann. Und aus einer bloßen Gefahr eines Ansatzes, kann m. E. kein Grund erwachsen, ihn abzulehnen. Dann müsste man genauso Levinas’ Ansatz ablehnen aufgrund der Gefahr, seine Vorordnung der Heteronomie im Sinne einer falschen Heteronomisierung, welche die Autonomie aufhebt, misszuverstehen. Das Argument für die Ablehnung einer Universalinstanz, das für Levinas grundlegend ist und in dem man m. E. auch das sehen muss, was zu einer Infragestellung des fichteschen Modells führen kann, liegt in der Beschreibung der Asymmetrie und der These, dass in ihr das ursprüngliche ethische Verhältnis aufscheint. Wie dargestellt wurde, beschreibt Levinas daneben auch die Phänomene einer symmetrischen ethischen Beurteilung. Er kann aus seinem Modell heraus rekonstruieren, wie es zu ihnen kommt – und dies ist ein wichtiges Element seiner argumentativen Absicherung. Er hält diese Ebene aber immer für eine bloß sekundäre. In dieser Bewertung – weniger in der Beschreibung – liegt der eigentliche Unterschied zu Fichte. 632 Umgekehrt beschreibt nämlich auch Fichte die Eingebun631 Auf diesen Zusammenhang zwischen der Funktionalität der Personenwürde, totalitären Tendenzen bei Fichte selbst und der Attraktivität der fichteschen Philosophie für totalitär Gesinnte weist Franziskus von Heereman hin (2010, 170–172). Er macht jedoch zugleich darauf aufmerksam, dass für Fichte aus der bloß funktionalen Personenwürde durchaus eine unbedingte Achtung des Anderen folge. Dies werde besonders an Fichtes zur damaligen Zeit ungewöhnlich entschiedener Argumentation gegen die Todesstrafe sichtbar. 632 Hans Georg von Manz (1994, 206) scheint mir demgegenüber beide Auffassungen des Universalen zu sehr zu parallelisieren. Auch sonst macht von Manz m. E. zu sehr nur auf die Übereinstimmungen aufmerksam, ohne jeweils die Differenzen herauszuarbeiten: in Bezug auf die passive Verwiesenheit auf eine Exteriorität (201 f.), die für Levinas auch außerhalb jeder Vernunfttotalität steht; in Bezug auf die Unmittelbarkeit des Betroffenseins durch den Anderen (209–212 u. 202–204), die bei Levinas nicht nur die Unmittelbarkeit des Bewusstseins des Anderen, sondern ein ursprüng-

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denheit des Subjekts in seine Perspektive. Und für ihn folgt dadurch, dass es in dieser Perspektivität mit dem ethischen Imperativ konfrontiert ist, sogar eine Asymmetrie: Ich kann mich als Selbstzweck nur ansehen, indem ich mich zugleich als Mittel für die Verwirklichung der Vernunft betrachte und dabei völlig selbst vergesse, während ich auf die Anderen rein nur als Zwecke ausgerichtet bin. 633 Dass für mich der Imperativ allein mich unmittelbar betrifft, lässt Fichte sogar zu Aussagen kommen, die – bei allen Unterschieden – in die Richtung der Stellvertretungsaussagen von Levinas gehen: »Jedem allein wird, vor seinem Selbstbewußtseyn, die Erreichung des Gesamtzwecks der Vernunft aufgetragen; die ganze Gemeine der vernünftigen Wesen wird von seiner Sorge und seiner Wirksamkeit abhängig, und er allein ist von nichts abhängig.« (S231) Wie für Levinas ist für Fichte das Subjekt auf einer Ebene vom sittlichen Aufruf als einem absoluten und uneingeschränkten betroffen und ebenso kommt er von da aus zu Beschreibungen eines universalen und uneingeschränkten Verpflichtetseins. 634 Der Unterschied ist freilich, dass dabei für ihn licheres Betroffensein meint und für welches bei ihm eine subjektive Konstitution ausgeschlossen ist; oder in Bezug auf die Unbedingtheit der Verpflichtung (212 f.), die bei Levinas noch durch eine Unabgrenzbarkeit bis hin zur Stellvertretung überboten wird. 633 Vgl. S230: »Wie verhalte ich mich, als Person, zum Sittengesetze? Ich bin dasjenige, an welches es sich richtet, und dem es seine Ausführung aufträgt; der Zweck desselben aber liegt außer mir. Ich bin sonach, für mich d. i. vor meinem eigenen Bewußtseyn nur Instrument, bloßes Werkzeug desselben, schlechthin nicht Zweck. – Durch das Sittengesetz getrieben vergesse ich mich selbst im Handeln; ich bin nur Werkzeug in seiner Hand. Wer auf das Ziel sieht, sieht sich nicht […]. – An andere Individuen außer mir richtet sich in mir und vor meinem Bewußtseyn das Gesetz nicht, sondern es hat sie nur zum Objecte. Sie sind vor meinem Bewußtseyn nicht Mittel, sondern Endzweck.« Zugleich gibt Fichte Kant Recht, dass jeder für sich selbst auch Zweck ist, nämlich »Zweck; als Mittel, die Vernunft zu realisiren« (S230). Vgl. zu dieser Asymmetrie bei Fichte auch oben, S. 203 f. u. 206. 634 Es ist erstaunlich, was sich hier in Bezug auf diese sehr ungewöhnliche Idee für Berührungspunkte zwischen Fichte und Levinas ergeben. Beide hier genauer zu vergleichen und zu analysieren, wäre sicher lohnenswert. So deutet sich eine Ähnlichkeit etwa auch an, wenn man sieht, wie Levinas in einer Auslegung der jüdischen Idee, dass Gott die Welt durch den gerechten Menschen hindurch schafft, auf den Stellvertretungsgedanken kommt. Er referiert hier zwar, im Konjunktiv, eine Theorie aus dem Nefesch hachajim von Chajim ben Isaak Woloszyner, scheint ihm aber zuzustimmen: »Gott hätte […] den gesetzestreuen Menschen gebraucht, um die Welten zu beseelen, zu heiligen, zu erleuchten und auf diese Weise existieren zu lassen. Jeder Mensch aber ist so verantwortlich für Leben und Tod aller anderen Welten und Menschen. […] Die Verantwortlichkeit für die Anderen wäre so für den Menschen gleich-

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das Subjekt von der universalen Vernunft als verpflichtender Instanz betroffen ist und nicht vom Anderen. Daher kann man für ihn nicht wie für Levinas festhalten, dass alle Verpflichtung letztlich gegenüber dem Anderen besteht. Und durch die Deutung der neutralen Perspektive als der eigentlichen Instanz, wird die zunächst bestehende Asymmetrie relativiert. Die Perspektivität ist durchbrochen von der Teilhabe an einem Standpunkt, der mich über alle subjektive Beschränktheit erhebt und allgemeingültige Urteile auch über die Verantwortung des Anderen ermöglicht, die nicht zu etwas nur Zweitrangigem relativiert werden müssen. 635 Ja ich bin daher sogar verpflichtet, den Anderen eher auf seine zu erfüllende Verantwortlichkeit hin zu sehen als auf seine mich in die Pflicht nehmende Bedürftigkeit. Daraus folgt zwar bei Fichte in keiner Weise, dass ich den Anderen eher belehren sollte als seiner Bedürftigkeit aufhelfen, dies zieht aber doch eine gewisse erzieherische Haltung bei jeder Form von Hilfe nach sich. 636 Die Durchbrechung der Perspektivität hat zwar nicht zur Folge, dass das Subjekt den Gesamtzweck einfach aufteilen könnte. Es muss sich weiter die Gesamtheit der Vernunftwesen angelegen sein lassen. Und es ist für sich weiter nur als Mittel Zweck und muss so idealerweise ganz selbstvergessen im ethischen Handeln auf den Anderen hin orientiert sein. Durch die Annahme eines absoluten Standpunktes fällt aber in der Beurteilung, welche Pflichten in welchem Maß bestehen, die Asymmetrie völlig weg. Die Pflicht, den Anderen als Zweck zu erhalten, hat für Fichte dasselbe Gewicht wie die Pflicht, mich selbst als Mittel zu erhalten. Der sich aufdrängenden Intuition, dass hier doch ein Unterschied zu machen ist, könnte man zwar m. E. dadurch entgegenkommen, dass man an dieser Stelle aus Fichtes Ansatz eine andere Schlussfolgerung zieht als er selbst. Ein sam die eigentliche Bedeutung seiner Identität als Ich. Sein Ich ist ursprünglich nicht ein Für-sich; ›aufgrund göttlichen Willens‹ ist es ein Für-die-Anderen. Der Mensch wäre daher seinerseits die Seele der Welt, ganz so, als würde er nach seinem Belieben über das schöpferische Wort Gottes verfügen, das ihm anvertraut ist, damit er es weiterklingen lasse oder damit er es unterbreche.« (VB66) Lassen sich von hier aus nicht Verbindungen ziehen dazu, wie bei Fichte jeder Mensch im Grunde das eine Dasein ist, in dem die ganze Welt existiert? Von der späten Wissenschaftslehre her betrachtet wäre es genau diese Position, die ihn ursprünglich zum Adressaten des ganzen Sittengesetzes macht. 635 Dasselbe gilt m. E. für die Asymmetrie, die Norbert Fischer für Kant herausarbeitet (Fischer/Hattrup, 1999, 178 f.) und die der bei Fichte sehr ähnlich ist. 636 Vgl. etwa die Beschreibung der angemessenen Motivation und Haltung bei konkreten Hilfeleistungen in A164. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Unterschied könnte ja zumindest dadurch entstehen, dass ich das eigentliche Ziel meiner Existenz, das Fassen eines sittlichen Willens, unmittelbar erfüllen kann, während mir dies für den Anderen nicht möglich ist, und ich in diesem Falle sein Leben als Bedingung für die Erfüllung dieses Zieles höher achten müsste als meines. 637 Auch in dieser Korrektur bliebe aber die Letztgültigkeit der universalen Perspektive erhalten. Für Levinas ist diese neutrale Perspektive zwar nicht einfach nur eine Verirrung, sondern sie besitzt eine positive Funktion für die Ethik. 638 Aber sie bleibt etwas nicht Ursprüngliches, etwas erst vom Ich Konstituiertes. Sie ist eine Abstraktion. Und verabsolutiert man sie, verfehlt man die eigentliche Ebene der ethischen Beziehung. Die Perspektivität und die Asymmetrie können von ihr her nicht relativiert werden. Was ich selbst autonom als allgemeingültiges Urteil denke, reicht in seiner Bedeutung nicht in die Tiefen der Wirklichkeit wie bei Fichte. Ich stehe damit nicht tatsächlich auf einem absoluten und neutralen Standpunkt. Und dies ist für Levinas kein Nachteil, sondern hat seine positive Bedeutung. Ein universaler Vernunftvollzug besitzt für Levinas von daher keine Realität. Real sind die getrennten Subjekte und ihre Beziehung. Und diese Beziehung findet nicht innerhalb einer ursprünglichen Einheit der Beziehungsglieder statt. Das Ziel der Ethik kann daher nicht in einem bestimmten Vollzug gesehen werden, sondern nur in einer Form von Passivität. Das Ziel ist nicht eine Verschmelzung mit dem Anderen in einer ursprünglichen Lebenseinheit, sondern die Ausrichtung auf ihn in seiner nie einholbaren Transzendenz. Und das macht für Levinas gerade das Positive dieser Beziehung aus und ist nicht »der schlechte Ersatz für eine unmögliche Vereinigung« (JS208). Wenn sich Levinas gegen das Modell einer Lebens- oder Ver637 Daneben müsste man sich überlegen, ob es innerhalb seines Ansatzes auch zu einem Unterschied zwischen unbedingt einforderbaren Pflichten und solchen, die einen gewissen Spielraum der Erfüllung und die Möglichkeit einer über die Pflicht im engeren Sinn hinausgehenden Erfüllung enthalten. Dadurch würde ebenfalls eine Asymmetrie entstehen, weil ich solch eine über das Verlangte hinausgehende Erfüllung nur von mir selbst, aber nicht vom Anderen erwarten könnte. Auch von daher könnte man evtl. eine Unvergleichbarkeit zwischen dem, was ich von mir, und dem, was ich vom Anderen erwarte, erklären. 638 Vgl. dazu u. zum Folgenden PT98: »Die Universalität wird konstituiert im Ausgang von einem Subjekt, das sich darin nicht resorbiert. Damit ist indes keineswegs gesagt, das Universale sei ein Existenzmodus, in den die Menschheit sich bloß verirrt habe. Sondern nur, dass das Universale, losgelöst vom Ich, durch das es konstituiert wird und das vom Universalen nicht erschöpft wird, eine abstrakte Existenzweise ist.«

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nunfteinheit richtet, dann bedeutet dies freilich nicht, dass er die Beziehung zum Anderen als bloße Differenz versteht. Vielmehr geht er von einer Art gegenseitiger Innerlichkeit aus, die durchaus Ähnlichkeit mit dem fichteschen Modell der Bezogenheit der individuellen Subjekte aufeinander besitzt. Wie versteht er sie? Wie für Fichte fällt auch für Levinas die objektive Raumform weg, um die Beziehung zum Anderen zu denken, denn diese ist als Form der Vorstellung auch auf sie begrenzt. Räumliche Verhältnisse sind nur die Weise, wie die reale Beziehung erscheint. Die Vorstellung selbst aber ist keine Beziehung, denn das Subjekt der Vorstellung begreift alles in sich. Hier kann keine Begrenzung stattfinden. Aus demselben Grund wie für Fichte muss für Levinas die reale Beziehung zu anderem, wie dies im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Husserls Intentionalitätskonzept deutlich wurde, auf einer zur Vorstellung vorgängigen Ebene stattfinden. Er beschreibt hier verschiedene Formen: Beziehung als Genießen, als kinästhetisch erlebtes Bewegen und Begrenztwerden des Subjekts, als Betroffensein von der Infragestellung durch den Anderen und als Gewecktwerden durch das Unendliche. Die ethische Beziehung mit ihrer Fundierung in der Beziehung zum Unendlichen hat dabei, wie schon angedeutet wurde, für Levinas die Bedeutung eines Leitmodells dafür, überhaupt Beziehung zu anderem zu denken, und ist somit ein wesentlicher Interpretationszugang auch für die leibliche Passivität. Diese ethische Beziehung versteht er als ein Verhältnis, das mir nicht äußerlich bleibt, sondern mich betrifft, genauer: mich in meinem Selbstvollzug betrifft. Es kann sich für ihn nicht um eine mich bloß äußerlich modifizierende Kausalwirkung handeln, in der ich nicht selbst beteiligt wäre. 639 Soll es aber eine wirkliche Beeinflussung durch den Anderen sein, so muss etwas vom Anderen in meinen Selbstvollzug gelangen. Levinas beschreibt die ethische Relation so, dass seine Aufforderung zu meiner eigenen wird. 640 Insofern dabei die Aufforderung des Anderen nicht von ihm selbst gelöst werden kann, er in ihr als der sie jeweils TranszendierenSehr deutlich erklärt Levinas diese Art der Wirkung in EG15 f.: »Gewaltsam ist jede Handlung, bei der man handelt, als wäre man allein: als wäre der Rest des Universums nur dazu da, die Handlung in Empfang zu nehmen; gewaltsam ist folglich auch jede Handlung, die uns widerfährt, ohne dass wir in allen Punkten an ihr mitwirken. In diesem Sinn ist fast jede Kausalität gewaltsam […]. Doch ist eine Ursache ohne Gewalt überhaupt möglich? Wer empfängt, ohne schockiert zu werden? […] nichts kann eine Vernunft schockieren. Sie arbeitet mit an dem, was sie vernimmt.« 640 Vgl. oben, S. 463–465. 639

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de anwesend bzw. abwesend ist, muss man sagen: Er selbst kommt in mich. Auf diese Weise ergibt sich bei Levinas die Beschreibung dieser Beziehung als ein »Der-Andere-in-mir« (JS278; vgl. auch JS157). Ähnlich muss für Fichte die Beziehung zum Anderen so gedacht werden, dass vom Anderen her ein bestimmter Selbstvollzug in mich gesetzt wird. Und zwar beantworten dabei beide die Frage, wie das Subjekt einerseits etwas durch den Anderen erleiden, andererseits aber innerlich, also in seinem Selbstvollzug, betroffen sein kann, auf ähnliche Weise über das Konzept einer vorfreien Tätigkeitsebene. Fichte kommt zu seinem Modell aber noch aus einem anderen Gedankengang heraus, nämlich ausgehend von der Idee einer Teilnahme an einer überpersönlichen Vernunfteinheit, die dann für ihn die Funktion einer Vermittlungsebene für die Beziehung bekommt. Hierher bestimmt sich die Verschiedenheit des Ineinanders in beiden Konzepten. Während Fichte unseren Selbstvollzug so begreift, dass wir auf einer überpersönlichen Ebene mit allen Vollzügen eins sind, zugleich aber, indem uns ein bestimmter Teil als individuelle Existenz und zur eigenen freien Verfügung gegeben wird, aus dieser Lebenseinheit ausgegliedert werden, sodass zwar das Individuum in einer wirklichen Passivität zu den anderen steht, diese Passivität aber unterfangen ist von einer überindividuellen Einheit mit allen, so besteht für Levinas trotz eines gewissen Ineinanders eine bleibende und weder mit dem Bewusstsein noch mit irgendeiner Form von Praxis einholbare oder immer schon eingeholte Entzogenheit des Anderen. Fichte müsste dabei Levinas’ Modell freilich nicht für unmöglich halten. Er kommt zu seinem auf einer überpersönlichen Einheit basierenden Konzept nicht, weil ihm das als die einzige Möglichkeit erscheint, eine Kommunikation von Subjekten zu denken, sondern aus seiner Ableitung des Endlichen, in der sich zunächst das eine überpersönliche Dasein ergibt. Positiv wird dies daran deutlich, wie für ihn zur Zeit der Bestimmung des Menschen das Absolute einen bestimmten Selbstvollzug ins Subjekt setzt, ohne dabei in einer überpersönlichen Einheit mit ihm zu stehen. 641

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Vgl. oben, S. 216–218.

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Die Konsequenzen für die philosophische Methode

2.1.3 Die Konsequenzen für die philosophische Methode Phänomenologie des Bruches der Phänomenalität Die Weise, wie Levinas die Beziehung zum Anderen analysiert und sie zum Ausgangspunkt seines Philosophierens macht, bestimmt das Verständnis der Methode, mit der seiner Meinung nach überhaupt philosophiert werden kann. Im Anschluss an die Darstellung seiner Rezeption der husserlschen Analyse der Empfindung wurde schon deutlich gemacht, wie er ausgeht von Husserls phänomenologischer Methode, sie aber ausweitet, indem er dessen Ansätze, zu vorgegenständlichen Intentionalitäten vorzustoßen, weiterverfolgt und ihnen ein besonderes Gewicht gibt. Das Erfordernis dieses Schrittes über den Bereich des phänomenal Gegebenen hinaus, legt sich schon in einer Betrachtung der Sinnlichkeit nahe. Der Grund, warum Levinas auf diesen Schritt solchen Wert legt, ist aber seine Analyse der Beziehung zum Anderen. Das Phänomen des asymmetrischen Betroffenseins durch den ethischen Imperativ des Anderen erfordert für ihn das Konzept eines intentionalen Bezugs auf ihn, der diachron vorgängig ist zum Bewusstsein des Anderen und in dem ich radikal passiv von ihm getroffen bin. Im Nachvollzug der levinasschen Analysen wurde noch einmal deutlich, wie er den Bruch der Phänomenalität selbst an Phänomenen festmacht und beschreibend erschließt. Vor allem das ›Phänomen‹ eines moralischen Zurückschreckens und dessen Artikulation in einer ethischen Sprache bekommen für Levinas eine zentrale Bedeutung dafür, den Widerspruch aufzuwiegen, in den die phänomenologische Beschreibung als Beschreibung des nicht Beschreibbaren gerät. 642 Es wurde auch deutlich, wie sich Levinas für diesen Rückgang hinter den Bereich der Phänomenalität notwendigerweise vom Ideal der objektiven Gewissheit verabschieden muss und sich doch auf Phänomene berufen kann, die sich uns aufdrängen, vor allem das Phänomen des ethischen Inanspruchgenommenseins. Transzendentalismus des Ethischen jenseits der transzendentalen Apperzeption Ebenso hervorgehoben wurde bereits, dass Levinas Husserls Methode nicht nur als beschreibende, sondern auch als transzendentale, d. h., 642

Vgl. dazu oben, S. 408–410.

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als Fragen nach den Bedingungszusammenhängen zwischen den Phänomenen und als rückfragende Erschließung der sinngebenden Horizonte und der Genese der Phänomene übernommen hat – freilich wieder in kritischer Absetzung von Husserl. Da Levinas’ Auslegung der ethischen Beziehung zum Anderen für seine Verwendung dieser Methode ganz wesentliche Konsequenzen hat, kann ihre genauere Bestimmung erst jetzt, nach deren Beschreibung, herausgearbeitet werden. Levinas setzt sich teilweise so kritisch von der Tradition der Transzendentalphilosophie ab, dass der Eindruck entstehen kann, er würde diese Methode ganz verlassen. Dem widersprechen jedoch andere Aussagen, sodass es wichtig ist, genau nachzuverfolgen, inwiefern er transzendental denkt und inwiefern nicht. Sowohl in Totalität und Unendlichkeit als auch in einem späten Interview kann er die Bezeichnung »transzendentale Methode« (TU25) oder »Transzendentalismus« (FA114) für sein Vorgehen gelten lassen. Beide Male ist es jedoch nötig, seine einschränkenden Bemerkungen zu berücksichtigen. Er möchte die transzendentale Rückfrage nach den Bedingungen weiter treiben als bis zur Totalität des subjektiven Erfahrungsraums, nämlich hin zu einer Situation, welche »die Totalität selbst bedingt«, hin zum »Erstrahlen der Exteriorität oder der Transzendenz im Antlitz des Anderen« (TU25). Es geht ihm »um einen Transzendentalismus, der mit dem Ethischen beginnt« (FA114). Da der Andere wesentlich die Totalität des Bewusstseins und Denkens übersteigt, bedeutet dieser Rückgang, »sich diesseits der objektiven Gewissheit zu halten« (IM142), sodass es auch nicht möglich ist, die erschlossenen Gehalte in einer Art transzendentalen Beweisführung zu rechtfertigen (TU25). 643 Wenn Levinas herausstreicht, dass seine Form der transzendentalen Methode »nicht auch noch die technischen Verfahren des transzendentalen Idealismus umfaßt« (TU25), geht es ihm 643 Zu Levinas Weise der philosophischen Rechtfertigung diesseits der objektiven Gewissheit vgl. oben, S. 396–400. Zu seiner Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit des Beweisens vgl. die Ausführungen unten zu Beginn des nächsten Abschnitts u. S. 541–553. Aus der Ablehnung eines transzendentalphilosophischen Beweisens erklärt es sich m. E., dass Levinas als Reaktion auf einen Vortrag von Marco Olivetti sagen konnte, er mache keine Transzendentalphilosophie, weil er nicht begründen wolle (vgl. Henrix, 1984, 14). Der Duktus des Vortrags, in dem Levinas unter der Perspektive der Ethikbegründung gelesen wird (vgl. etwa Olivetti, 1984, 62–67), hat ein Verständnis von Transzendentalphilosophie in dieser Form einer Begründung nahegelegt, und in diesem speziellen Sinn wollte sich Levinas offenbar davon abgrenzen.

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wohl genau darum, die Beschränkung auf einen Rückgang innerhalb der Sphäre der transzendentalen Apperzeption oder des transzendentalen Ich, die er bei Husserl findet 644, für sich auszuschließen. Die transzendentalphänomenologische Analyse dieses Raums der Vorstellung, der Bedeutung der subjektiven Konstitution und der Rolle des transzendentalen Ich behält für Levinas zwar seine Richtigkeit. 645 Er wendet sich aber dagegen, sich darauf zu beschränken 646, und fragt nach den Bedingungen der Vorstellung in der Sinnlichkeit, der Beziehung zum Anderen und der zum Unendlichen. Für Levinas zwingt vor allem die nicht autonom konstituierbare ethische Bedeutung dazu, die transzendentale Apperzeption als sinngebende Instanz abzusetzen. Teilweise verwendet er die Bezeichnungen ›transzendental‹ und ›transzendentalphilosophisch‹ in einem engeren Sinn für ein Vorgehen, das innerhalb dieser subjektiven Einheit verbleibt 647 (– in dem Sinn, in welchem er auch die Ausdrücke ›Idealismus‹ und ›transzendentaler Idealismus‹ gebraucht 648). Von daher erklärt es sich, wie er diese Bezeichnungen für sein Vorgehen teilweise von sich weisen kann 649, während er sie sonst im Sinne einer Bezeichnung allgemein für die Rückfrage nach den Bedingungen durchaus gelten lässt. 650 Dass er tatsächlich entlang dieser Frage vorgeht, wurde daran deut644 An anderer Stelle identifiziert Levinas ausdrücklich den Transzendentalen Idealismus mit Husserls Philosophie (UV126; UV134 u. IE158, implizit auch in TU172 u. 295). Die genannte Beschränkung kritisiert er etwa JS215. Dazu, in welcher Form er genau diese Beschränkung bei Husserl, den er ja durchaus auch vorgegenständliche Intentionalitäten erschließen sieht, feststellt, vgl. oben, S. 342–344. 645 Vgl. oben, Anm. 398. 646 Vgl. etwa GP106 u. 123; JS190; As202 u. TU8 f. Sehr anschaulich spricht Levinas in JS von der Niederlage (JS309), dem Zerbrechen (JS334), dem Zerbersten (JS325) und der Sprengung (JS332) der Einheit der transzendentalen Apperzeption. 647 Vgl. TU172, 179, 183 u. 295. 648 Vgl. TU25, 172, 295 u. 299. Jedes Mal handelt es sich um den Idealismus des sinngebenden Subjektes bei Husserl. In IE158 sowie UV126 u. 134 spricht Levinas auch ausdrücklich vom »transzendentalen Idealismus Husserls«. Levinas geht es an diesen Stellen offenbar nicht um eine Auseinandersetzung mit sonstigen idealistischen Positionen, etwa im sogenannten Deutschen Idealismus. 649 Vgl. etwa JS325 u. GP118. 650 Von daher stimme ich Josef Wohlmuth (2002, 43 f.) in seiner Kritik an Georg Schwind (2000, 323 f.) zu, der von einem Fehlen der transzendentalen Rückfrage bei Levinas spricht. Wenn es Schwind dabei freilich vor allem um die transzendentale Rückfrage nach den subjektiven Bedingungen der Empfänglichkeit des Subjekts geht, dann genügt m. E. allein der Hinweis auf die transzendentale Methode von Levinas nicht, sondern es müsste genauer gezeigt werden, wie er die Frage nach der Möglichkeit einer Autonomie trotz Heteronomie klärt.

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lich, wie er das Betroffensein durch den Anderen als Voraussetzung nicht nur für das Bewusstsein des Anderen, sondern etwa auch für die kritische Essenz des Wissens und die Beziehung zum Unendlichen ausgewiesen hat. Er kann von einem »Transzendentalismus, der mit dem Ethischen beginnt« (FA114), sprechen, weil er dieses Betroffensein als zentrale Bedingung für alle Momente der menschlichen Existenz herausarbeiten kann – wie sich zeigen wird, auch für die Entfaltung der ihm vorgängigen selbstbezogenen Existenz und in einer bestimmten Weise sogar für die von ihm unabhängige Konstitution des Subjekts im Genuss. Das Betroffensein durch den Anderen ist dabei für ihn jedoch nicht die einzige letzte Bedingung; neben ihr kommt der Beziehung zum Unendlichen – wie dies bereits sichtbar wurde – oder dann auch der Beziehung des Genießens eine ganz fundamentale Bedeutung zu. Dass Levinas mehrere solche letzten Momente nebeneinander stehen lässt, ohne sie noch einmal auf ein einziges Prinzip zurückzuführen, hängt daran, dass für ihn das Denken nicht nur als objektivierendes, sondern auch als autonom schlussfolgerndes und in eine Totalität einbindendes Denken überwunden werden muss. Das hat dann noch weitere Konsequenzen für das Verständnis der Rationalität des transzendentalen Rückganges. Levinas überschreitet nicht nur die Einheit des Bewusstseins, den letzten Bezugspunkt Husserls, sondern auch die Autonomie, den Bezugspunkt von Fichte, und zwar gerade auch in ihrer Form als Teilnahme an der Einheit einer universalen Vernunft. … jenseits des autonomen und universalen Denkens Der Rückgang auf die Beziehung zum Anderen als Bedingung kann sich für Levinas nicht nur deshalb nicht als ein Beweis mit objektiver Gewissheit vollziehen, weil sich diese nicht objektivieren lässt und weil sie die Unmittelbarkeit der Einheit des Bewusstseins übersteigt, sondern auch weil für ihn das Denken in seiner kritischen Essenz überhaupt erst vom Anderen her eingesetzt ist. »Der Gesprächspartner kann nicht deduziert werden, da die Beziehung zwischen ihm und mir in jedem Beweis vorausgesetzt wird.« (TU129) 651 Aber setzt mich 651 Vgl. dazu auch PI205 f.: »[W]enn diese Situation nicht den Beweis der Existenz des Anderen liefert, so deswegen, weil der Beweis bereits die Bewegung des freien Willens voraussetzt und seine Zustimmung, eine Gewissheit. Dergestalt, dass die Situation, in der der freie Wille eingesetzt wird, dem Beweis vorhergeht.« Dasselbe Problem kon-

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diese Beziehung nicht gerade in mein Vermögen ein, kritisch zurückzufragen? Durchaus. Levinas hält es selbst für möglich, zurückzufragen und den Anderen als Voraussetzung in Anschlag zu bringen. Als Deduktion und Beweis wäre dies aber ein Vollzug des autonomen Subjekts, und solcherart würde nur ein autonom von mir gesetzter Anderer erschlossen und nicht der Andere, der dieser Autonomie zugrunde liegt. Ihm ›entspreche‹ ich nur, wenn ich meine autonomen Vollzüge der Erkenntnis und Bejahung des Imperativs, auch in der wahlfreien Form, ganz zurückgebunden sein lasse in das Betroffensein durch den Anderen, in einer Offenheit für sie, die »in keiner Hinsicht über die Passivität hinaus[geht]« (JS285). Ein Beweis oder eine Deduktion des Anderen kann dies dann nicht sein. Noch in einem weiteren Sinn kann der Rückgang auf den Anderen als Bedingung kein Beweis sein, nämlich nicht als ein universal gültig behaupteter. Die Eigenschaft des autonomen Denkens, Aussagen in dieser Form zu treffen, entsteht für Levinas erst sekundär ausgehend vom Dritten und verfehlt mit ihrer Universalität die ursprüngliche asymmetrische Situation. Die Art der ›Evidenz‹ oder ›Gewissheit‹ jenseits der objektiven Gewissheit, mit der mich die Infragestellung des Anderen trifft und mit der ich ihn als vorgängig zu mir erfahre, ist weder die des autonomen Denkens noch eine, die ich als eine auch für die Anderen gültige behaupten könnte. Man darf dies freilich nicht so verstehen, dass dadurch die Ausrichtung des Denkens auf Gültigkeit und Wahrheit überhaupt relativiert würde. Die Geltung für mich wird gerade nicht relativiert, sondern nur, dass darin unmittelbar die Geltung für die Anderen impliziert wäre. Levinas wehrt sich ausdrücklich dagegen, aufgrund seiner Ablehnung der Deutung der Autonomie des Subjekts als einer absoluten Position für eine Art »Pragmatiker« oder gar »Irrationalist« gehalten zu werden (TU439). Nicht nur die Sätze, auch die Begriffe sind als allgemeine nicht geeignet, die Beziehung zum Anderen zu beschreiben. Sie ist nicht Beziehung eines Ich, sondern meine Beziehung. Diese Ebene kann mit allgemeinen Begriffen nicht eingeholt werden. Sie entspringen einer Perspektive der dritten Person, welche die fundamentale Per-

statiert Levinas auch in Bezug auf die Erschließung des Unendlichen: »[E]s ist vielleicht nicht sehr sinnvoll, eine Existenz dadurch zu beweisen, dass man eine Situation beschreibt, die dem Beweis und den Problemen der Existenz vorausgeht« (TU60). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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spektivität und deren Asymmetrie schon verlassen hat. Und doch gibt es ein Verstehen meiner selbst und des Anderen in dieser ursprünglichen Situation. »Nicht als Sonderfall des Universalen: ich als Sonderfall des Begriffs Ich; sondern als in der ersten Person gesagtes Ich hmoii, als ich … hjei, einzig in meiner Gattung. Zwar wird dieses ich …, selbst in den vorliegenden Ausführungen, schon zu etwas Universalem, aber so, daß ich den Bruch dieses Universalen denken kann und das Erscheinen des einzigartigen ich … immer der Reflexion vorausgeht« (JS304 f.). 652 Es geht Levinas dabei nicht nur um eine Auseinandersetzung mit überkommenen philosophischen Begrifflichkeiten, sondern um Charakteristika, die für ihn dem Denken wesentlich zukommen. Und der Rückgang vor die Ebene der allgemeinen Begriffe muss sie in ihrer Gesamtheit betreffen. Auch etwa die für das transzendentale Vorgehen notwendige Begrifflichkeit von Bedingung und Begründung muss rückbezogen werden auf das, was sich vorgängig zu ihr ›zeigt‹. Levinas macht darauf aufmerksam, dass sich die Verwendung eines Begründungsbegriffs als eines allgemeinen nur aus einem Modell der Teilhabe an einer Totalität rechtfertigen kann. Es ist das Modell, welches die »Subjektivität […] als Artikulation eines ontologischen Ereignisses verstehen« (JS220) möchte, in einer Teilhabe an einem vom Wissen her gedeuteten Seinsgeschehen und somit an einem Seinsverstehen, in dem wir die Urbegriffe für alles immer schon in uns haben. Auf diese Weise wäre das »geistige Abenteuer des Seins […] Selbstbesitz, Prinzipat, ἀρχή. Was ihm an Unbekanntem auch zustoßen mag, ist schon im voraus enthüllt, erschlossen, offenbar; es passt sich ein in die Form des Bekannten und vermag nicht wirklich zu überraschen.« (JS221) Diese Charakterisierung passt sehr gut auf das fichtesche Verständnis von Sein und Wissen. Und entsprechend kann seine Rechtfertigung etwa der Anwendung des Begriffs des Grundes aus einer Teilnahme unseres Selbstvollzuges an einem universalen Vollzug und somit der Möglichkeit, das Verstehen unserer selbst als eines Grundseins zu übertragen auf alles, sogar auf Gott, für Levinas keine Gültigkeit haben, weil für ihn vom Ande-

652 Vgl. auch JS283: »Die Behauptung, das Ich sei Stellvertretung, bringt folglich nicht die Universalität eines Prinzips, nicht das Wesen eines Ich zum Ausdruck, sondern, im Gegenteil, sie gibt der Seele ihre Egoität zurück, die keinerlei Verallgemeinerung verträgt.« Vgl. auch JS339 f. u. TU278 gegen eine Einheit der Gattung und TU44 gegen eine Einheit des Begriffs oder der Zahl für das Ich und den Anderen.

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ren nicht nur mein autonomes Wissen, sondern auch solch ein universaler Horizont hintergangen wird. In diesem Sinne nennt Levinas die Beziehung zum Anderen anarchisch. Im Begriff der Anarchie ist zum einen die Vorgängigkeit zu meinem autonomen Bewusstsein, in dem ich für alles, was in ihm auftaucht, Prinzip oder Grund (ἀρχή) bin, und die Vorgängigkeit zur darin stattfinden Herrschaft (ἀρχή) über das Andere 653 ausgedrückt sowie zum anderen die Verwendung des Begriffs eines Grundes überhaupt infrage gestellt. Das Problem liegt dabei nicht nur darin, dass das Denken objektiviert, eine Bedingung immer als Bedingung denkt, und in dieser Objektivierung dem Anderen nicht gerecht werden kann, sondern ebenso in der Übertragung eines vor aller Objektivierung liegenden Seinsverständnisses. Und doch zeigt sich für Levinas eine gewisse Vorgängigkeit des Anderen – wie sich ihm auch das einzigartige Ich vor jedem Begriff von Ich zeigt –, ohne dass man hier den Begriff des Grundes oder auch nur die Erfahrung des eigenen Grundseins auf den Anderen übertragen könnte. So sieht er sich gezwungen, auf scheinbar widersprüchliche Weise etwa zu schreiben: »Die Passivität des Einen – seine Verantwortlichkeit oder sein Schmerz – beginnen nicht im Bewußtsein, das heißt sie beginnen überhaupt nicht; diesseits des Bewusstseins bestehen sie in jener vor-ursprünglichen Einwirkung des Guten auf den Einen« (JS136). Einerseits wird der Begriff des Beginnens überhaupt abgelehnt, und andererseits wird von einer Einwirkung gesprochen. Levinas drückt diese Ambivalenz in der Rede von einer »Vor-Ursprünglichkeit« 654 oder auch einer »Unbedingung« 655 aus. Häufig bedient er sich, um diesem Problem auszuweichen, der zeitlichen und die Diachronie konnotieren könnenden Begriffe der »Vorzeitigkeit« (FA114) oder »Vorgängigkeit« (JS223). Wenn Levinas die allgemeine Verwendung einer Begrifflichkeit des Begründens und Bedingens ablehnt, so muss er es ebenso zurückweisen, den Anderen und die Beziehung zu ihm mit Begriffen eines Wertes oder eines Zieles zu denken, in einer Weise, bei der eine Übertragung eines im eigenen Seinsverstehen erschlossenen Wertseins 653 Neben dem Prinzipsein soll für Levinas auch dieser Bedeutungsaspekt des Beherrschens im Wort ›ἀρχή‹ mitschwingen. Vgl. im oben Zitierten die Rede vom »Prinzipat« (JS221) und ausführlicher über diesen Aspekt der Beherrschung JS226. 654 JS39; deutlich im Zusammenhang mit der Anarchie wird das Wort etwa in JS318 o. 348 verwendet. 655 JS30; die Ambivalenz kommt dabei deutlich zum Vorschein, wenn Levinas von der »Bedingung (oder Unbedingung) der Geiselschaft« spricht (ähnlich JS393).

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auf den Anderen stattfindet. 656 Der transzendentalen Rückfrage ist es weder möglich, einen umfassenden Bedingungszusammenhang noch einen teleologischen Zusammenhang zu erschließen. Wiederum kann aber Levinas auf der anderen Seite in Bezug auf die Weise, wie mich der Andere anarchisch in seiner Höhe oder Heiligkeit betrifft, durchaus von einem »Wertsein« sprechen (JS27528 ). Auch hier ist es zu verstehen als Ausdruck der asymmetrischen Erfahrung, die auf jede Behauptung einer Gemeinsamkeit verzichtet. Da Levinas phänomenologisch vorgeht und die transzendentale Rückfrage nicht vermittels des schlussfolgernden Denkens, sondern ausgehend von Phänomenen und deren Verhältnissen geschieht, ist er zunächst einmal von einem allgemein anwendbaren Denken nicht abhängig. Für Levinas ist die Phänomenologie aufgrund der in ihr gegebenen Möglichkeit, auf andere Intentionalitäten zu rekurrieren als die des logischen Denkens, so von entscheidender Bedeutung dafür, eine Beziehung zu einer wirklichen Anderheit über jede Umfassung eines Systems oder irgendeiner Gemeinsamkeit hinaus philosophisch herausarbeiten zu können (TÜ176 f.). Zugleich wurde freilich deutlich, wie er sich im Beschreiben unweigerlich der sonst abgelehnten Begriffe und Kategorien bedient. Wie muss dabei die Weise des Aussagens verstanden werden, damit ein Widerspruch vermieden wird? Kann er überhaupt vermieden werden? Bevor dem nachgegangen werden kann, stellt sich zunächst grundsätzlicher die Frage, ob ein Widerspruch überhaupt vermieden werden und wie weit eine Orientierung an logischen Gesetzen stattfinden muss. Sie stellt sich zum einen vor dem Hintergrund der Grundidee der Phänomenologie, nichts einfach voraussetzen zu wollen, sondern alles, auch die logischen Gesetze, phänomenologisch zu reduzieren. Zum anderen stellt sie sich konkret im Blick darauf, wie sich Levinas in seinen Beschreibungen immer wieder genötigt sieht, an den Rand dessen zu gehen, was widerspruchsfrei gesagt werden kann. So wird für ihn das teleologische Denken neben der Anwen-

656 Vgl. für den Begriff des Wertes TU382; JS136 u. 274 sowie für den des Zieles JS20331 u. 209. Levinas wendet sich deshalb auch gegen ein »telelogisches System« oder eine »Finalität des Seins« (TU21 f.), beides verstanden als Formen einer Totalität, die jedem Seienden vorgängig ist, sodass es nur aus diesem Zusammenhang mit dem Ganzen seinen inneren Wert und seine innere Wertausrichtung bekommt und sie ihm nur von da aus zugeschrieben werden können (vgl. dazu auch TU101, 137, 382 u. 404 sowie JS203 u. 27528 ).

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dung eines allgemeinen Begriffs eines Wertes oder Zieles auch dadurch problematisch, dass es alles entweder als Selbstzweck oder als Mittel zu einem Zweck denkt. Das Mittel kann als etwas, was auf ein Anderes zielt und für ein Anderes da ist, nicht zugleich als rein selbstgenügsam, als Selbstzweck, gedacht werden, und der Selbstzweck nicht zugleich als etwas, was eines Anderen bedarf. In einer mit dieser Begrifflichkeit erfolgenden Analyse der Welt wird für Levinas alles in einer Weise in einen totalen teleologischen Zusammenhang eingebunden, dass es auf ein Mittel für einen absoluten Selbstzweck reduziert wird. Zugleich wird es uneinsehbar, wie dieser Selbstzweck überhaupt noch Mittel nötig hat (JS214). Personale Beziehung, wie Levinas sie wahrnimmt, muss demgegenüber als etwas verstanden werden, in dem jedes der Beziehungsglieder ganz unabhängig vom anderen ist und zugleich wesentlich auf ihn verwiesen. »Man muß folglich […] auf ein Beziehungssystem zurückgehen, in dem die teleologischen Beziehungen ihrerseits nur einen Bereich bilden, auf ein System umkehrbarer – wenn nicht reziproker – Beziehungen, die die Hierarchie der Zweckbestimmtheit in der axiologischen Indifferenz außer Geltung setzen.« (JS214) Etwa das Verhältnis von Unendlichem und Anderem muss Levinas auf scheinbar widersprüchliche Weise so beschreiben, dass einerseits das Unendliche für seine radikale Transzendierung den Anderen braucht, dabei dieser andererseits aber nicht funktionalisiert wird für das Unendliche. 657 Auf ähnliche Weise wird für Levinas die Anwendung einer starren Nicht-Widerspruchs-Logik, die nicht vom Blick auf die Phänomene her kontrolliert wird, auch problematisch in Bezug auf die Verwendung der Begriffe von Ursache und Wirkung. Dies wurde deutlich in seiner Analyse des Betroffenseins durch die Infragestellung des Anderen, die einerseits im Subjekt als einem rein passiven nur Wirkung sein soll, ohne dadurch aber auszuschließen, dass sie das Subjekt zugleich selbständig aus sich vollzieht. 658 Auch in diesem Sinn eines nicht reinen Beherrschtwerdens des Subjekts durch den Anderen spricht Levinas von einem anarchischen Verhältnis. 659 Da das Festhalten an beiden Seiten als widersprüchlich erscheint, ist für ihn das gewöhnliche Kausaldenken auch nicht dafür geeignet, die

657 658 659

Vgl. JS210 f. u. oben, S. 460–462. Vgl. oben, S. 463–465 u. Anm. 639. Vgl. etwa JS234: »an-archisch weil [nicht] eine knechtische Entfremdung«.

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Schöpfung einer Freiheit zu denken 660, und er sieht es ebenso in seiner Analyse der leiblichen Konstitution des unabhängigen Subjekts aus der Abhängigkeit des Genießens, für welche er ein ganz ähnliches Wirkverhältnis wie in der Infragestellung durch den Anderen denkt, an seine Grenzen kommen. 661 Daneben lässt sich die Problematik der Nicht-Widerspruchs-Logik auch in Bezug auf die Begriffe von Identität und Differenz beobachten. Das Verhältnis der Vaterschaft beschreibt Levinas so, dass ich die Möglichkeiten eines Anderen als die meinen ansehen kann, dass ich auf diese Weise der Andere bin und dieser zugleich ein radikal Anderer bleibt. 662 Auch die Idee der Stellvertretung, nach der ich verantwortlich bin sogar für das, was der Andere getan hat, führt an die Grenzen der Logik, nach der meine Identität und Freiheit nicht die des Anderen ist. Für Levinas stellen die logischen Gesetze einen Zwang dar, das Sein so zu denken, dass es sich in einzelnen Seienden ereignet, denen das Sein nur für sich zukommt und deren Bezogenheit auf Anderes immer nur etwas Äußerliches ist (TU401). Er schlägt deshalb eine Verhältnisbestimmung für die Beziehung zum Anderen vor, die sich »von der Widerspruchslogik unterscheidet, der gemäß das Andere von A Non-A ist, Verneinung von A« (TU216). Mit der Idee einer dem Sein des Seienden wesentlichen Bezogenheit auf den Anderen möchte er jedoch zugleich auch nicht in eine dialektische Logik verfallen, »in der das Selbe dialektisch am Anderen teilhat und sich mit ihm in der Einheit des Systems versöhnt« (TU216; vgl. auch TU66 f.). Die problematische Eigenschaft unserer Rationalität, alles in eine Totalität einzubinden, zeigt sich für ihn genauso in einem Denken, das von der Einsicht ausgeht, dass alle Begriffe nur in Abgrenzung zu anderen ihre Bestimmtheit haben, somit dialektisch aus sich heraus auf anderes verweisen und auf diese Weise in einer umfassenden Einheit mit allem stehen. Auch in dieser Eigenschaft entsprechen die Begriffe für Levinas nicht 660 Vgl. TU166, 408 o. auch 406, wo Levinas eine geschaffene Freiheit als ein »Paradox« für dieses Denken bezeichnet. 661 Vgl. etwa TU149 die Bemerkung, dass »in der formalen Logik die Struktur des Glücks – Unabhängigkeit kraft der Abhängigkeit – oder Ich – oder menschliche Kreatur – nicht ohne Widerspruch abgebildet werden kann«. Zu seinem Verständnis dieser Struktur in Entsprechung zum ethischen Verhältnis vgl. S. 671–674. Zu den Problemen des Kausaldenkens in Bezug auf die Unabhängigkeit des leiblichen Subjekts vgl. unten, S. 656 f. 662 Vgl. TU391: »Die Vaterschaft bleibt eine Identifikation des Ich, aber in der Identifikation auch eine Unterscheidung; dies ist eine Struktur, die in der formalen Logik unvorstellbar ist.« Zum Begriff der Vaterschaft vgl. oben, S. 378–381.

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der Realität der Beziehung von Getrennten: »[I]m objektivierenden Denken spiegelt die Unterscheidung der Termini zugleich ihre Einheit. Die Beziehung zwischen mir und dem Anderen hat nicht die Struktur, die die formale Logik in allen Beziehungen wieder findet. Trotz der Beziehung, in der sie sich befinden, bleiben die Termini aus der Beziehung abgelöst.« (TU262 f.) Von seinem phänomenologischen Vorgehen her ist klar, dass die Logik für Levinas selbst etwas ist, was sich erst in der phänomenologischen Reduktion ausweisen muss und nicht als eine übergeordnete Beurteilungsinstanz vorausgesetzt werden kann für die Phänomene und ihre Beschreibung. 663 Der Blick auf das Phänomen der personalen Beziehung führt ihn nun zwar einerseits an manchen Punkten dazu, die gewöhnliche Nicht-Widerspruchs-Logik zu übersteigen. Von einer gänzlichen Verabschiedung kann jedoch – bei aller Faszination für Paradoxien und Zweideutigkeiten, die man bei Levinas beobachten kann – nicht die Rede sein. Möglich ist dies schon von daher nicht, dass er ja zu neuen Konzepten findet, die auf eine bestimmte Weise die Beziehung der Subjekte begreifen, die nicht verschwimmen oder austauschbar werden und somit immer noch den Satz der Identität bestätigen. Dass Levinas zunächst vielmehr selbstverständlich am Nicht-Widerspruchs-Prinzip festhält, wird etwa daran deutlich, wie er den im cartesischen Cogito-Argument liegenden Aufweis eines performativen Widerspruchs nicht dadurch zurückweist, dass er am Nicht-Widerspruchs-Prinzip zweifelt, sondern durch eine Unterscheidung von Ebenen zeigt, wie erst gar kein Widerspruch auftritt. 664 Entsprechend fühlt er sich in Bezug auf den Zusammenhang der Aussagen in seinen Beschreibungen und Argumentationen auf Konsistenz verpflichtet. Sichtbar ist dies daran – und damit kehren wir zu den beiden aufgeworfenen Fragen zurück – dass er sich selbst fragt, ob er sich nicht widerspricht, wenn er für die ursprüngliche Ebene der Beziehung zum Anderen die Möglichkeit von allgemeinen Aussagen, die Adäquatheit von allgemeinen Begriffen und – wie man jetzt außerdem sagen muss – die universale Geltung der Nicht-Widerspruchs-Logik negiert und zugleich auf der Ebene der Beschreibung dieser Beziehung dies alles unausweichlich in Anspruch nehmen muss. Wie im Folgenden deutlich wird, versucht er zu 663 Vgl. etwa PT99, wo Levinas diese relative Unabhängigkeit der Phänomenologie von einfach vorgegebenen logischen Normen herausstellt. 664 Vgl. dazu oben, S. 359–361.

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zeigen, wie hier kein Widerspruch auftritt und sich das Verhältnis beider Ebenen konsistent beschreiben lässt. In Jenseits des Seins, wo er noch konsequenter als in Totalität und Unendlichkeit die Inadäquatheit des Denkens, seiner Gesetze und seiner Begriffe, vor allem des Begriffs des Seins, für die Beziehung zum Anderen herausstellt, artikuliert er – nicht zuletzt ausgehend von den durch Derrida an ihn gestellten Anfragen – das angesprochene Problem deutlich. »Ein Anders-als-sein darstellen – das ergibt immer noch ein ontologisches Gesagtes, insoweit alles Zeigen ein sein darstellt.« (JS108) 665 Oder in Bezug auf die Universalität fragt er: »Wird nicht im bloßen Formulieren von Aussagen die Universalität des Thematisierten, das heißt des Seins, bestätigt, und wird sie es nicht sogar durch das Projekt des hier geführten Diskurses, der diese Universalität in Zweifel zu ziehen wagt? Bleibt dieser Diskurs dann noch kohärente und philosophische Rede?« (JS340) Wie räumt Levinas diesen anscheinenden Widerspruch aus? Nicht dadurch, dass er die Bedeutung von Kohärenz überhaupt bezweifelt, sondern indem er darauf aufmerksam macht, dass die Behauptung des Widerspruchs eine erst einmal unausgewiesene These voraussetzt, die These, es gebe nur die Ebene der Synchronie und nur eine »Kohärenz« als »Möglichkeit zur Synchronie« (JS340; vgl. auch JS19218 ). Dagegen macht er auf die Diachronie aufmerksam, von der die scheinbar selbstwidersprüchliche Aussage des Jenseits-des-Seins oder der Nichtuniversalität geprägt ist. Der Widerspruch »bricht nicht auf zwischen zwei gleichzeitigen Aussagen« (JS341). Die negierende Aussage entspringt einer Position jenseits des Gesagten, auch wenn sie sich im Vollzug der Aussage auf die Ebene des Gesagten begibt. Dass der Sprecher im Geschehen der anarchischen Beziehung zum Anderen, in diesem Jenseits-des-Gesagten, gehalten ist und aus dem Ergriffensein von der ethischen Bedeutung das Gesagte durch seine Negation unterbricht 666, ermöglicht, dass hier gerade kein Widerspruch entsteht 667, 665 Vgl. auch die Problemexposition in JS338–340 oder JS106 f. Levinas artikuliert das Problem zudem als unausweichliches Verstricktsein in den philosophischen Diskurs (JS366 f.) oder, in einer etwas anderen Wendung, als die Problematik, ob sich das Jenseits-des-Seins überhaupt artikulieren lässt (JS32 f.). 666 Vgl. JS108, wo Levinas über die Reduktion, die Rückführung auf das Jenseits-desSein sagt, dass sie »aus der Kraft der ethischen Unterbrechung des sein lebt«. 667 Vgl. auch JS34 in Bezug auf die scheinbare Widerlegung des Skeptizismus (dessen Negation für Levinas analog zur Aussage des Anders-als-Sein verläuft), dass »dem Widerspruch, den die Logik in ihm vernimmt, das ›zugleich‹ der beiden gegensätz-

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sondern ein sinnvoller Rückverweis auf diese Ebene. 668 Levinas kann auf diese Weise zeigen, dass man »den Bruch des Universalen denken kann« (JS305), freilich »in einem Denken, das noch nicht denkt oder das mehr denkt, als es denkt« (JS341). Diesen von einem Widerspruch oder einem einseitig aufzulösenden Dilemma unterschiedenen und doch von einer für das synchrone Denken nicht auflösbaren »Rätselhaftigkeit« gekennzeichneten Wechsel zwischen Sein und Jenseits-des-Seins benennt Levinas als »Ambiguität«, »Ambivalenz« und »Zweideutigkeit«. 669 Mit diesen Begriffen wird entsprechend auch die Weise der Artikulation des Unendlichen im Anderen 670 oder in mir 671 sowie die Bekundung der Heteronomie in der Autonomie beschrieben 672, die vom selben Ebenenwechsel gekennzeichnet sind. Um die Ambivalenz und Rätselhaftigkeit auszudrücken, spricht Levinas auch sehr häufig von der »Spur« als einer Weise der ›Erscheinung‹, oder besser Affektion, aus der sich das Erscheinende immer schon – anders als bei jeder im Materiellen hinterlassenen Spur, für welche das Wort gewöhnlich verwendet wird – unvergegenwärtigbar zurückgezogen hat. 673 lichen Thesen des Widerspruchs fehlt – weil eine heimliche Diachronie dieses zweideutige oder rätselhafte Sprechen beherrscht und weil überhaupt die Bedeutung über die Synchronie hinaus, über das sein hinaus bedeutet«. 668 Von daher erscheint Lorenz B. Puntels Vorwurf eines performativen Selbstwiderspruchs (2010, 298 f., auch 300 f. u. 308 f.) als nicht zutreffend. 669 In JS38 f. spricht er etwa von der »Ambiguität von Sein und Anders-als-sein«, die er dann auch als »Zweideutigkeit« und »Rätsel« benennt. Als eine Rätselhaftigkeit bezeichnet Levinas diesen Ebenenwechsel vor allem deshalb, weil mich das Jenseitsdes-Seins immer nur so betrifft, dass es in der Bewusstwerdung immer schon verschwunden und nicht wieder vergegenwärtigbar ist, sodass ich immer nur glauben kann, dass da etwas ist, oder – aufgrund der Diachronie – besser: war (RP245 f.). Zum Begriff des »Dilemmas« im Unterschied zu dem der »Ambivalenz« vgl. JS336. 670 Vgl. JS210 f. u. 45 sowie MG78. 671 Vgl. JS333, 336 u. 45. 672 Vgl. JS325 f. 673 Vgl. etwa JS44 f., wo Levinas von der Spur in engem Zusammenhang zu den Begriffen Rätsel und Zweideutigkeit und eben in genau deren Sinn spricht. Hier findet sich zudem sehr deutlich die Abgrenzung seiner Verwendung des Wortes gegenüber dem gewöhnlichen Spurbegriff: »Spur ist nicht das Überbleibsel einer Gegenwart« und das sich in ihr Artikulierende lässt sich »nicht an seiner Spur verfolgen wie das Wild durch den Jäger«. Eine Spur ist aber für Levinas nie reine Abwesenheit, sondern steht in einer Ambivalenz von Präsenz und Absenz. Von daher kann man m. E. nicht wie Saskia Wendel einen Vorzug des fichteschen Bildbegriffs gegenüber dem Spurbegriff bei Levinas darin sehen, dass jener anders als dieser »das Wechselspiel von Präsenz und Absenz berücksichtigt« (1998, 207). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Zusätzlich dazu, dass hier kein Widerspruch konstatiert werden kann und jenseits der Ebene der universalen Begriffe etwas ist, das bedeutet, kann Levinas zeigen, wie auch die Artikulation dieser Bedeutung in einem Gesagten seinen Sinn hat und auf diese Weise sogar positiv eine besondere Art der diachronen Kohärenz dieses scheinbar widersprüchlichen Aussagens entsteht. Dass überhaupt gedacht und geurteilt wird, liegt am zum Ereignis der Beziehung zum transzendenten Anderen unbedingt dazugehörigen Moment meiner Autonomie, zu der ich durch das Betroffenwerden durch den Anderen oder das Unendliche inspiriert werde. 674 Die Begriffe und Kategorien entstehen für Levinas auf der ursprünglichen Ebene als Vollzugsmomente des Zeugnisses, der aus der Passivität lebenden und in sie rückgebundenen Antwort auf die Infragestellung in der Form einer von mir vollzogenen Setzung und Bejahung der ethischen Bedeutung. 675 Dass das autonome Urteilen und seine Begriffe zudem die Gestalt der Allgemeinheit annehmen und sich aussprechen, gehört als Erfordernis der Begegnung mit dem Dritten ebenso als integrales Moment zu dieser Beziehung (JS341–353). Sie vollzieht sich als Aussagen eines Gesagten, muss jedoch, da dies im Dienst der ursprünglichen Beziehung zum Anderen oder des Sagens steht, auf dieses immer wieder zurückverweisen. Im Dienst dieses Rückverweises steht auch die philosophische Reflexion (JS353). Sie ist aufgerufen, die Verstellungen des Sagens im Gesagten zu reduzieren (JS340 u. 107), indem sie auf sie aufmerksam macht und das Jenseits-des-Seins artikuliert. Auf diese Weise kommt Levinas zur Beschreibung des philosophischen Vorgehens als eines Wechsels von Sagen und Widerrufen: 676 Dem Be674 Vgl. JS341: »Die Aussage des Jenseits-des-Seins profitiert von einer Doppeldeutigkeit oder einem Rätsel, die nicht das Resultat einer Unachtsamkeit, eines Nachlassens im Denken sind, sondern einer äußersten Nähe des Nächsten, in der das Unendliche sich vollzieht«, denn das Unendliche in seiner Transzendenz »vollzieht sich allein durch das Subjekt, das sie bekennt oder sie bestreitet. Umkehrung der Ordnung: die Offenbarung geschieht durch denjenigen, der sie empfängt, durch das inspirierte Subjekt«. Vgl. auch JS235–237, wo Levinas in die Problematik dieser Ambivalenz einführt, sowie JS345 u. 350. An den genannten Stellen geht es Levinas m. E. noch nicht direkt um die Eröffnung der Ebene der Universalität ausgehend vom Dritten, sondern um deren Bedingung, die Einsetzung in die Autonomie. 675 Zur Entstehung des Urteils und seiner Kategorien aus der Infragestellung als Bezeugung des Sollens vgl. unten, Anm. 700. 676 Vgl. JS33: »Das Anders-als-sein drückt sich aus in einem Sagen, das deshalb auch widerrufen werden muß«. Vgl. auch JS107: Das Gesagte müsse so artikuliert werden, dass sein »Sagen abwechselnd Bejahung und Zurücknahme ist«. Levinas spricht von

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schreiben muss eine Negation der Begriffe folgen; da diese erneut ein Gesagtes ergibt, muss erneut negiert werden; und so entsteht ein Prozess, der immer weiter alterniert. Er findet so zu einer eigenen Form von Rationalität, die sich nur als Geflecht scheinbar gegenläufiger Bewegungen vollziehen kann. Die Arten des Rückverweises auf die Ebene der Ethik, mit denen Levinas arbeitet, sind dabei verschieden. Die Negation erfolgt nicht immer über die Aussage der Negation oder des Jenseits, sondern auch durch eine Art deiktisches Verweisen auf das sich in der Produktion von Gesagtem und Geschriebenem immer vollziehende Hinwenden an den angesprochenen Anderen, auf das Ereignis des Sagens. 677 Daneben versucht Levinas über das propositional Gesagte hinaus zu verweisen, indem er etwa die grammatischen Strukturen und die gewöhnliche Wortverwendung verfremdet 678, an die Grenzen des Sinnhaften vorstößt 679 oder in der Form der Aussage die Atemlosigkeit, das wie von einer Besessenheit Getriebensein 680 und das Schmerzhafte seines Ringens um Ausdruck 681 bzw. der Mühe, die er dem Leser abverlangt, spürbar macht. Er lässt dabei die Kommunikation mit dem Leser zum Geschehen einer leiblichen Passivität werden, in der sich die ethische Passivität ereignen kann. Levinas hat sich eingehend einer immer weitergehenden »Alternanz« (JS305) oder einer »alternierenden Bewegung« (JS358). In EU82 sagt er: »Ich habe aus diesem Wider-Ruf sogar einen eigenen Modus des Philosophierens gemacht.« 677 Vgl. JS369: »Aber auch den letzten Diskurs, in dem alle anderen Diskurse zur Sprache kommen, unterbreche ich noch einmal dadurch, daß ich ihn demjenigen sage, der ihn hört und der außerhalb des durch den Diskurs formulierten Gesagten steht, außerhalb von allem, was der Diskurs umfaßt. Was im übrigen auch für den Diskurs gilt, den ich soeben, in diesem Augenblick gerade, formuliere. Diese Referenz auf den Gesprächspartner durchbricht beständig den Text, den der Diskurs zu weben beansprucht, indem er alles thematisiert und in sich birgt.« 678 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung von Thomas Wiemer (1988, 220 f.), der sich sehr eingehend mit den levinasschen Formen des über das Gesagte hinausverweisenden Sprechens auseinandergesetzt hat. 679 Vgl. JS36: »Man muss bis zum Nihilismus der poetischen Schreibweise Nietzsches gehen, der die unumkehrbare Zeit in ein wirbelndes Chaos stürzt – bis zum Lachen, das die Sprache verweigert.« 680 Wie über sein eigenes Schreiben bemerkt Levinas: »Dieses Jenseits kommt zur Sprache – und zeigt sich in ihr – durch ein atemloses oder den Atem anhaltendes Sagen, die äußerste Möglichkeit des Geistes, ja seine Epoché, durch die er sagt, schon bevor er sich in seinem eigenen Thema zur Ruhe setzt und sich darin vom sein vereinnahmen läßt.« (JS49) 681 Vgl. JS258 : Der »Zugriff der Sprache auf das Anarchische […] ist ein Ringen um 19 den Ausdruck und der Schmerz, den er kostet«. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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mit der Frage beschäftigt, wie es der Literatur möglich ist, auf das jenseits des Gesagten Liegende zu verweisen, und, wie noch herausgearbeitet wird, sieht er eine Möglichkeit in einer bestimmten, über den Text vermittelten Form der leiblichen Geste gegeben. 682 Besonders in der späteren Zeit hat er sich verschiedene literarische oder poetische Formen der Durchbrechung des Gesagten für sein eigenes Schreiben angeeignet. Wenn Levinas in Jenseits des Seins sehr stark zu diesen anderen Formen des Rückverweises aufs Sagen tendiert, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass für ihn das Gesagte durch sich selbst über sich hinausweisen kann. Diese anderen Formen, in denen neben dem faszinierenden Potential, den intendierten Gehalt auf eine ganzheitliche Weise und in einem wirksamen Ereignis zu vermitteln, m. E. immer auch die Gefahr liegt, den philosophischen Vortrag zu etwas Artifiziellem und Hermetischem zu machen und so den Hinweis auf das Sagen und das Sagen selbst zu erschweren, erscheinen nicht als unbedingt nötig. Man muss deshalb auch in der Interpretation nicht die gebrochene Schreibweise des späten Levinas aufgreifen, um seinem Denken entsprechen zu können. Auf welche Weise die Rückführung über das ausdrücklich Gesagte möglich ist, wird daran deutlich, wie Levinas den Bruch der Phänomenalität und des Denkens selbst an Phänomenen festmachen – zentral am Phänomen des asymmetrischen Sollens – und wie dieses in einem Gesagten artikuliert werden kann, in einer ethischen Sprache. Dies illustriert, wie Levinas allgemein schreibt, dass »die ontologische Form des Gesagten die Bedeutung des Jenseits-des-Seins, die sich in diesem Gesagten zeigt, nicht bis zu Entstellung verändern kann« (JS340). Solch eine Unterscheidung von Form und Inhalt nimmt Levinas auch an anderen Stellen vor, etwa in der Beschreibung, wie uns das Unendliche als ein bestimmter Inhalt trifft, der die Form der Idee, in der er für uns ist, widerlegt. 683 Die Rätselhaftigkeit liegt also nicht in einer das Gesagte unberührt lassenden bloßen Jenseitigkeit, sondern »in der Art, wie ein Sinn, der jenseits des Sinnes ist, sich dem Sinn, der in der Ordnung bleibt, einfügt, in der Art, wie er hervortritt, indem und während er sich zurückzieht« (RP246). Auf diese Weise ist das Gesagte für Levinas auch in seiner Logik fähig, diesen Sinn zu artikulieren Vgl. unten, S. 782–787. Vgl. GP96: »Die ›objektive Realität‹ des cogitatum läßt die ›formale Realität‹ der cogitatio platzen.« 682 683

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und zugleich über sich hinauszuweisen. 684 Konkret gezeigt hat er dies durch die beschriebene Klärung der nicht widersprüchlichen und auf eine Weise rationalen Form des Rückgangs. Wenn er von einer Rätselhaftigkeit spricht, so suspendiert er damit nicht von einer logisch präzisen und kohärenten Rede. Dass das jenseits des Gesagten Liegende auf eine Art im Gesagten hervortritt und dann in einer bestimmten Weise sozusagen aus ihm herausgeschält werden kann, führt Levinas zur sogenannten Methode der »Steigerung«, des »Superlativs« oder der »Emphase«. 685 Er geht hier immer aus von einem bestimmten Bedeutungsgehalt – etwa der Passivität –, der zuerst noch die Züge des Gesagten an sich trägt: Die Passivität ist als Begriff objektiviert und begrenzt im Unterschied zu einem anderen (der Aktivität); sie ist als von mir erfasste immer in Korrelation zu meiner Aktivität und entspricht nicht der dazu noch einmal vorgängigen Passivität, aus der diese Erfassung lebt; als Gesagte bewegt sie sich auf der Ebene des Theoretischen, die selbst dann nicht verlassen wird, wenn ich diese Mängel einfach nur negiere; ich muss sie erleben; und in ihrer eigentliche Tiefe erlebe ich sie nicht als nur leibliche Passivität, sondern nur als Passivität in ihrer ethischen Bedeutsamkeit; und nicht einmal das Erleben wird ihr gerecht, sondern nur das Leben, und zwar als ein Erleiden. Dennoch liegt aber schon am Anfang, im einfachhin gesagten und objektivierten Begriff, etwas vom gemeinten anarchischen Betroffensein, von der höchsten Passivität. 686 Deshalb kann diese artikuliert werden, indem sie gesagt 684 Vgl. dazu den wichtigen Hinweis in JS33 : »Die Bedeutungen, die über die formale 4 Logik hinausgehen, zeigen sich in ihr selbst, und sei es auch nur durch die genaue Anzeige des Sinns, in welchem sie sich von der formalen Logik abheben. Die Anzeige ist umso genauer, je strenger die Logik ist, mit der diese Rückbezüglichkeit gedacht wird.« Entsprechend kann er sagen: »[D]as Erscheinen einer Mehrdeutigkeit im unzerreißbaren Gewebe der Welt bedeutet weder eine Lockerung ihrer Maschen noch ein Versagen der sie durchdringenden Intelligenz« (MG76). 685 Vgl. zur Rede vom »Superlativ« JS33 u. 391, zur »Emphase« JS122 u. 265, zur 4 »Hyperbel« JS119 u. zur »Übersteigerung« JS391. Als eigene Methode findet sich das entsprechende Vorgehen ausführlich thematisiert in FA111–113. Wie Levinas in FA113 bemerkt, findet er in der Methode der Steigerung die traditionelle Via eminentiae wieder. 686 Die Möglichkeit der Methode der Steigerung sieht Levinas darin begründet, dass »die logische Ordnung und das Sein, dem sie sich anzupassen vermag, den Superlativ, der über sie hinausgeht« bewahren (JS334 ). Schon in TU ist die Idee greifbar, dass eine gewisse Ähnlichkeit und ein Nachahmungsverhältnis bestehen zwischen den greifbaren Formen und dem, was mit ihnen an letztlich Ungreifbarem ausgedrückt wird – hier etwa in TU344 in der Rede von einer »totalen Passivität, neben der die Passivität

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wird und indem dann die verschiedenen, die ursprüngliche Passivität schmälernden und verfälschenden Momente nach und nach von ihr abgehalten werden und so der Begriff in seinem eigentlichen Gehalt gesteigert wird. 687 Die Steigerung eignet sich zudem besonders dazu, in eine Atemlosigkeit des Sprechens sowie in eine poetische Sprache überzugehen und auf diese Art über das Gesagte hinauszuweisen. Wenn Levinas seine Negationen als Steigerung versteht, zeigt dies, dass es ihm dabei um die Affirmation eines positiven Gehaltes geht. Dies ist wichtig, um zu verstehen, wie Levinas’ häufiger Vergleich seines scheinbar widersprüchlichen Aussagens eines Jenseitsdes-Seins mit dem radikalen Skeptizismus einzuschätzen ist. Wenn der Skeptizismus für ihn gegen seine retorsive Widerlegung »als rechtmäßiges Kind der Philosophie wieder[kehrt]« (JS34), weil er sich wie die Aussage des Jenseits-des-Seins in eine jenseitige Ebene zurückziehen kann (im Fall des Skeptizismus ist es die Dimension der Absurdität des Es-gibt), dann bedeutet dies lediglich, dass Levinas sich zu ihm als zu einer legitimen Möglichkeit des Denkens bekennt, ohne ihn jedoch als seine Position anzunehmen. Er integriert den Skeptizismus höchstens wie das Es-gibt als ein durch dessen Widerlegung und dessen Gegenthese immer zu ergänzendes Moment der Artikulation der anarchischen Beziehung zum Transzendenten. 688 Für der Sinnlichkeit, die sich in Aktivität verwandelt, nur von ferne die Passivität nachahmt«. Auch findet sich hier bereits ein ähnlicher Gebrauch des Superlativs: »äußerste Passivität« oder »extreme Passivität« (TU350) oder auch »reine Passivität« (TU238). 687 Dieses Vorgehen und die verschiedenen genannten negierten Momente werden am Beispiel des Begriffs der Passivität etwa in JS164 deutlich: »Die Passivität, die passiver ist als jede zum Akt antithetische Passivität, eine Nacktheit, die nackter ist als jeder hgezeichnetei Akt, eine Nacktheit, die sich aussetzt bis dahin, daß sie sich ausgießt, daß sie sich verströmt und daß sie betet, eine Passivität, die sich als Ausgesetztheit nicht darauf beschränkt, dem Blick des Anderen ausgesetzt zu sein, vielmehr Verwundbarkeit und Leiden ist bis zur Erschöpfung, wie bei einer Blutung, Passivität, die noch das Aussehen, das ihre Nacktheit annimmt, entblößt, die noch ihre Ausgesetztheit aussetzt die sich ausdrückt – die spricht – die noch den Schutz, den ihr die bloße Form der Identität verleiht, aufgibt – Passivität des Seins-für-denAnderen«. 688 Vgl. JS370 f.: »Die beständige Wiederkehr des Skeptizismus bedeutet nicht so sehr das mögliche Zerbrechen der Strukturen als die Tatsache, dass sie nicht das letztgültige Sinngerüst bilden«. Levinas räumt der Position des Skeptizismus keinen Vorrang gegenüber der ihn widerlegenden Reflexion auf seine Teilnahme am Sinnhaften ein. Er sieht seine Bedeutung vor allem im Hinweisen auf das Jenseits der Totalität: »[D]ass der Widerspruch […] den Sprecher nicht abwürgt – auch das erinnert an den Riß […] in der universellen Gleichzeitigkeit«.

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diese Artikulation können deshalb bei ihm im Unterschied zum Skeptizismus sowie zu jeder Form eines umfassenden Relativismus zugleich Begriffe wie Wahrheit und Vernunft neben ihrer Problematisierung eine letzte Bedeutung behalten. 689 Was ergibt sich nun aus diesen Überlegungen für die Art des transzendentalen Denkens von Levinas? Von vornherein geht er nicht anhand des schlussfolgernd nach Bedingungen rückfragenden Denkens vor, sondern so, dass er Phänomene bzw. von Phänomenen her erschlossene Bereiche jenseits der Phänomenalität und ihre Beziehungen beschreibt. Wenn er hierbei Bedingungsverhältnisse feststellt, dann müssen die Momente, die der beschriebenen Situation der Beziehung zum Anderen inadäquat sind, welche die Begriffe aber mit sich bringen, abgehalten werden. Für das transzendentale Vorgehen sind dies: die mit der begrifflichen Fassung einhergehende Objektivierung; die Idee, das transzendental Erschlossene beweisen zu können; die Allgemeinheit, mit der die Aussage der Vorgängigkeit auch über das asymmetrische Verhältnis von mir zum Anderen hinausgehend behauptet wird; die im autonomen Urteilen liegende Übertragung des Selbstverstehens auf den Anderen; und überhaupt die Idee mit einem universalen Begründungsdenken den anarchischen Bereich als eine Totalität von Bedingungszusammenhängen bis auf ein letztes Prinzip hin erschließen oder gar von diesem Prinzip aus ableiten zu können. 690 Bei Levinas bleiben mehrere Vorgängige in einer 689 In JS ist zwar von Wahrheit meistens in einem problematischen Sinne die Rede, sehr häufig etwa JS65–78. »Die Wahrheit ist Wiederfinden, Zurückrufen, Erinnern, Versammeln unter die Einheit der Apperzeption.« (JS76) Daneben sagt Levinas aber ausdrücklich, »daß Wahrheit Zeugnis geben vom Unendlichen bedeuten kann« (JS265), »Zeugnis, das wahr ist, aber von einer Wahrheit, die nicht rückführbar ist auf die Wahrheit der Enthüllung« (JS317), »Zeugnis, welches das, was es bezeugt, nicht thematisiert und dessen Wahrheit nicht Wahrheit der Vorstellung, nicht Evidenz ist« (JS321). In JS364 ist sogar von der »Wahrheit des Skeptizismus« die Rede. Ähnlich unterscheidet Levinas verschiedene Arten von Vernunft (etwa JS363), wobei er das Wort ›Vernunft‹ anders als ›Wahrheit‹ in JS fast nur (außer etwa JS53 o. 271) im positiven Sinn verwendet, für »die vor-ursprüngliche Vernunft der Differenz – und der Nicht-Indifferenz, der Verantwortung« (JS363). 690 Zur Ablehnung eines absoluten Vernunftstandpunkts, von dem aus die Elemente der Wirklichkeit deduziert werden können, vgl. oben, Anm. 418. Neben der dort herausgearbeiteten in der Phänomenologie liegenden Skepsis gegen eine solche Annahme spricht für Levinas seine Analyse der anarchischen Beziehung zum Anderen positiv dagegen. Gegen eine Deduktion des Anderen oder auch des Unendlichen – verstanden nicht im Sinne einer Ableitung, sondern im Sinne eines Beweises von letzten Prinzipien – spricht sich Levinas in TU129 o. JS269 aus. Eine von ihnen aus-

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gewissen Unabhängigkeit voneinander stehen. Er stellt sich gegen transzendentalphilosophische Traditionen, die alles in einen Bedingungszusammenhang einbinden, der denkend in seiner Totalität erschlossen wird. Da er freilich davon ausgeht, dass mit den Begriffen durchaus etwas von der ursprünglichen Situation der Beziehung zum Anderen artikuliert werden kann, ist es für ihn nicht unmöglich, überhaupt sinnvoll von Bedingungsverhältnissen zu sprechen und die Beziehung zum Anderen, zum Unendlichen oder auch die des Genießens in ihrer bedingenden Vorgängigkeit herauszuarbeiten. Auch in seinen späteren Schriften, in denen er sehr viel deutlicher die Konsequenzen des Anders-als-Sein für seine Methode und seine Sprache zieht, geht er so vor. 691 Wenn er seine Methode als »Reduktion vom Gesagten auf das Sagen« (JS109) bestimmt – zu verstehen als Weiterentwicklung der phänomenologischen 692 wie vermutlich auch der transzendentalen Reduktion Husserls –, bedeutet »Reduktion« nicht nur die »Zurücknahme« (JS107) des Gesagten, sondern auch den »Rückgang« (JS109) auf die Ethik als Bedingung. Neben diesem Rückgang wird zugleich in die andere Richtung von ihm versucht, alles als Moment des Sichereignens der Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen zu erweisen. Gerade die Leiblichkeit wird, wie sich noch zeigen wird, sehr genau in ihrer Struktur daraufhin beleuchtet, dass sie eine Beziehung zum wirklich Anderen ermöglicht. 693 Teilweise hat man den Eindruck, dass Levinas geradezu konstruierend vorgeht – nach der Leitfrage: Wie müssen die Elemente der Wirklichkeit gedacht werden, damit sich eine Beziehung wirklich gehende ableitende Beweisführung lehnt er etwa in JS45 ab. In TU82 wendet er sich konkret gegen eine Ableitung der im Genießen konstituierten Getrenntheit als eines Moments der Beziehung zum Anderen. Obwohl er eine Beweisführung in beide Richtungen ausschließt (TU129 u. JS45), ist für ihn eine Art von rationalem Ausweis, wenn auch in einem anderen Verständnis, durchaus möglich. Er spricht teilweise sogar positiv davon, dass er etwas »ableiten« könne (JS19 u. 19117 ). Er kann sagen, dass sein rationaler Ausweis annähernd Beweischarakter haben kann (TU38 f.), oder er nennt ihn »eine notwendige, aber nicht analytische Deduktion« (TU31), und zwar in dem Sinne, wie für ihn jenseits der objektiven Gewissheit doch eine besondere Art von bedrängender Evidenz stattfinden kann (vgl. dazu oben, S. 396–400). 691 Etwa in JS359 f. wird die Beziehung zum Anderen als das herausgestellt, was dem autonomen Anfangenkönnen der Vernunft selbst als Bedingung vorausgeht, oder, sehr konkret in JS182, was die Verstehensvoraussetzung für die geometrischen räumlichen Verhältnisse darstellt. 692 Vgl. JS108, wo Levinas seine Reduktion von der »Einklammerung« abgrenzt, also der epoché, in der die phänomenologische Reduktion sich vollzieht. 693 Vgl. dazu unten, S. 675–689.

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Selbständiger ereignen kann? 694 Auch wenn sich in der Darstellung der Sinnzusammenhänge der Wirklichkeit ein solches Vorgehen teilweise beobachten lässt, so geschieht die Erschließung freilich letztlich nicht konstruierend oder schlussfolgernd, sondern phänomenologisch – alles wird an Phänomene und die Phänomene ihrer Verhältnisse zurückgebunden – und stellt keine Ableitung dar. Im Blick auf die Fragestellung dieser Untersuchung kann man jedoch sagen, dass Levinas’ Erhellungen der Bedingungsgefüge zwischen den Phänomenen – in dem eingeschränkten Verständnis, wie es hier dargestellt wurde – letztlich in gleicher Weise zur Frage nach der religiösen Be694 So liest sich etwa das Kapitel TU318–328 teilweise wie eine Konstruktion des Freiheitsbegriffs oder auch des Begriffs der Zeit oder des Subjektes in seinem Verhältnis zum Leib anhand der genannten Leitfrage. Man muss freilich sehen, dass diese Elemente in den Kapiteln vorher schon phänomenologisch erschlossen worden sind. Ähnlich konstruiert wirkt etwa die Entfaltung des Begriffs der Brüderlichkeit in TU408 oder des Begriffs der Beziehung zu einem wirklichen Anderen in DB33–36. Die Überlegungen von Levinas zur Frage »Warum gibt es den Dritten?« (FA101; vgl. auch FA120) erinnern geradezu an die metaphysischen Ableitungsüberlegungen Fichtes. Es geht aber jeweils nur darum, zu erhellen, wie die beschriebenen Phänomene in einem Sinnzusammenhang und einem gegenseitigen Bedingungsgefüge stehen. Man kann das Vorgehen vergleichen mit dem, was Levinas bei Heidegger als »›phänomenologische Konstruktion‹« wahrgenommen hat (BE59 f.), mit einer Erhellung des Bedingungszusammenhangs zwischen Phänomenen, die sich jedoch nicht vom Phänomen löst, weil sie der Annahme des Punktes einer unbedingten Vernunft in uns, von dem aus sich eine solche Lösung allein vollziehen könnte, misstraut. Für ihn »liegt der charakteristische Zug einer solchen Deduktion darin, dass sie niemals die Anwendung der ratio auf gegebene Daten ist. Der Übergang bleibt ein konkretes Ereignis der menschlichen Existenz« (BE59), die lediglich beschrieben wird. Diese Charakterisierung passt auch auf Levinas’ eigenes Vorgehen. In GP109 spricht Levinas es selbst an, dass der Eindruck einer Konstruktion der Begriffe entstehen könnte – hier in Bezug auf die vorhergehende Entfaltung des Begriffs einer passiven Subjektivität auf die Erfordernisse des Ereignisses wirklicher Transzendenz hin. Er zerstreut diesen Eindruck mit dem Hinweis, dass uns dieses scheinbar abstrakt Erschlossene »im empirischen Ereignis der Verpflichtung gegenüber dem anderen vertraut« (GP109 f.) sei. Schon vorher hat er auf seine ausführlichen phänomenologischen Analysen dieses Ereignisses verwiesen (GP105 f.), die im Hintergrund seines Gedankenganges stehen, der letztlich darauf abzielt, immer weiter den konkreten Ort des Ereignisses der Transzendenz zu erschließen. Sehr deutlich beschreibt er diese phänomenologische Rückbindung des Transzendenzbegriffs in WG13: »Es geht darum, seine phänomenologischen ›Umstände‹ zu beschreiben sowie deren positive Konstellation und eine Art konkreter ›Inszenierung‹ dessen, was sich anstelle von Abstraktem sagen lässt.« Das gilt freilich nicht nur für den Transzendenzbegriff. In TU251 erklärt er ganz generell, wie seine Methode darauf abzielt, die im Hintergrund der Phänomene stehenden existentiellen Grundbedingungen zu erschließen, wie diese aber nie von den »empirischen Situationen« oder der »Konkretisierung« gelöst verstanden werden können.

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deutung der Leiblichkeit beitragen wie Fichtes Ableitungszusammenhänge. Levinas macht jedes Phänomen verständlich in seiner Bedeutung für die Beziehung zum Anderen und damit für das Ereignis des Unendlichen. … jenseits des Seins Von der Überschreitung des autonomen und universalen Denkens her erklärt sich, weshalb Levinas in der späten Zeit sehr eindringlich die Beziehung zum Anderen »außerhalb ontologischer Kategorien« als ein »Anders-als-sein« oder »Jenseits-des-Seins« (JS52) bestimmt. Diese an Platon angelehnte Bestimmung findet sich schon in den frühen Texten. 695 Hier werden zwar letztlich schon dieselben Gründe angegeben für die Problematik des Seins: die Verhinderung des transzendierenden und mit Sinn erfüllenden Bezogenseins auf die Welt und den Anderen durch die Abgeschlossenheit des Seienden und die drohende Auflösung des getrennten Seienden durch ein übergreifendes Sein. Dass es dazu kommt, ist für Levinas aber begründet aus der Konfrontation mit dem gestaltlosen Materiellen sowie aus der selbstbezogenen Orientierung des Subjekts, die in der Lösung vom Genuss die Form der Sorge um das Sein annimmt – beides angelegt in der Genusskonstitution. Hier vollzieht sich die Bedrohung durch das Esgibt auch schon vorgängig zum Denken des Seins in einer neutralen Perspektive. Diese Gründe für die Problematik des Seins behalten zwar auch in der späteren Zeit noch ihre Bedeutung, in Jenseits des Seins erklärt Levinas sie jedoch vor allem ausgehend vom Eingebundensein in das Denken des Seienden sowie vom damit immer zusammenhängenden Denken des Seins. Auf diese Bindung hat er schon vorher aufmerksam gemacht, aber hier erklärt er eingehender, wie es zu ihr kommt. Sie ist für Levinas im Übergang von der anarchischen und heteronomen Infragestellung durch den Anderen zu dem begründet, was oben als autonomes und universales Denken bezeichnet wurde, oder, dasselbe als Sprachgeschehen betrachtend, im Übergang vom Sagen zum Gesagten. 696 Seine Kritik bezieht sich auf jedes Den695 Vgl. bes. VS11. Dazu u. zum Folgenden vgl. oben, bes. S. 362–365 die Darstellung von Levinas’ Problematisierung des Seins in der frühen Zeit. Vgl. auch das ganze Kapitel zu seiner Auseinandersetzung mit der Problematik des Es-gibt, die im Hintergrund der Rede vom Jenseits-des-Seins zu sehen ist. 696 Vgl. etwa JS52 f., wo Levinas die Entstehung dieser Ausrichtung auf das Sein aus dem Jenseits-des-Seins heraus genau auf diesen Übergang vom Sagen zum Gesagten

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ken, das sich letzlich als Suche nach der Wahrheit im Sinn des wie auch immer sich ereignenden Erkanntwerdens oder Sichzeigens des Seins versteht. 697 Unter Sein versteht Levinas also ganz allgemein das Korrelat zur Einstellung dieser Wahrheitssuche in Form der Frage ›Was ist das, was ist?‹ 698 Damit beschränkt sich seine Kritik nicht auf den Seinsbegriff bloß von Heidegger, auch wenn sich Levinas mit der Seinsfrage im Anschluss an dessen Denken auseinandergesetzt hat. Wie auch immer ein Philosoph die Beziehung zum Sein verstehen mag, überhaupt auf diese Weise nach dem Sein zu fragen, erklärt sich für Levinas aus der sekundären, sich aus der Autonomie und vom Dritten her ergebenden Einstellung. Und genau dessen Probleme übertragen sich auf die Rede vom Sein und machen die Gründe aus für den Rückgang vor das Sein. Negiert wird das Sein als eine Totalität, die sich als Korrelat eines übergreifenden Seinsverstehens ergibt, in welchem sich ein autonomes und allgemein denkendes Subjekt wähnen kann, weil es sich sekundär und um der Gerechtigkeit willen in es begeben muss. Das Sein als eine solche Totalität – sei es Totalität eines materiellen oder eines geistigen Vernunftseins – würde die Beausgehend vom Dritten zurückführt. Levinas kann denselben Übergang als Erkenntnis- wie auch als Sprachgeschehen bezeichnen (vgl. etwa JS342), insofern Sprache für ihn nicht nur einen »Kode«, ein konventionelles Zeichensystem darstellt, sondern das ganze Geschehen, in dem das mich sinnlich Affizierende verstanden wird, sowie das Geschehen der Kommunikation selbst. Deshalb kann er in JS87–106 auch die Entstehung der Gegebenheit des verbal oder als Ereignis zu verstehenden Seins wie in ihm des Seienden vom Sprachgeschehen der Verwendung von Verben und Nomen her erläutern. Er möchte aufweisen, dass nicht nur die Substantivierung, sondern auch schon die Gegebenheit des ihr vorgängigen Seinsereignisses Produkt der Sprache ist. Hier wie auch in der ausführlichen Erklärung des Grundes für diesen Übergang vom Sagen zum Gesagten in JS334–353 geht es ihm darum zu zeigen, dass diese Gegebenheit des Seins wie in ihm des Seienden keineswegs etwas Ursprüngliches, sondern vielmehr etwas Abgeleitetes darstellt. »Es gibt weder sein noch Seiendes hinter dem Gesagten, hinter dem Logos.« (JS98) 697 Vgl. JS65 f., den Anfang der eigentlichen Untersuchung von JS, und dann JS71–80, wo Levinas entfaltet, was sich von dieser Suche her als »Grundriß [der] Ontologie« (JS72) ergibt. Es ist auf diesen Seiten zwar spürbar, dass Levinas sich auch mit Heidegger auseinandersetzt, er bezieht sich auf ihn aber nicht ausdrücklich und entfaltet seine Ontologiekritik auffälligerweise ganz allgemein. 698 Vgl. JS66, wo Levinas ausdrücklich auf die Korrelativität des Seins zu dieser Frage aufmerksam macht. Von daher ist es auch zu verstehen, wenn Levinas rückblickend an TU »die ontologische – oder genauer: eidetische – Sprache« (TU8) kritisiert, also den Grundzug, mit seinen Analysen eine neue allgemeine Wesensbestimmung dessen vornehmen zu wollen, was ist. Dazu, wie er in TU tatsächlich so vorgeht, vgl. oben, S. 421. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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ziehung von Getrennten und die letzte Bedeutsamkeit dieser Beziehung und der Einzelnen verhindern. 699 Es entstünden dieselben Probleme, wie sie oben für ein universales Vernunftgesetz dargelegt wurden. Und negiert wird das Sein, insofern es – wieder im Dienst der autonomen Bezeugung der Verantwortung gegenüber dem Dritten 700 699 Vgl. etwa TU423 f. (– da Levinas in TU sich auch noch positiv ontologischer Begriffe bedient, wird hier die alle Transzendenz einebnende Totalität des Seins noch kritisiert mit der Einschränkung: »sofern die Begriffe der Totalität und des Seins sich decken«). Vgl. auch JS54–58, wo Levinas sich gegen Positionen richtet, in denen das Subjekt nur Moment eines übergreifenden Seinsgeschehens ist – des Geistes oder Begriffs bei Hegel oder des Ereignisses der Manifestation des Seins bei Heidegger. Diese Problematik des Seins wurde oben als der zweite Aspekt von Levinas’ Problematisierung des Es-gibt beschrieben (vgl. S. 362–365) und um ihn geht es vor allem in seiner Auseinandersetzung mit dem scheinbaren Ausweg aus dem Es-gibt durch die Vereinigung mit einer universalen Vernunft (vgl. oben, S. 388 f.). Wenn Lorenz B. Puntel Levinas’ Beschreibung der Einsamkeit im Sein kritisiert, und zwar ausgehend von seinem Verständnis des Seins als der Dimension, an der alle Menschen teilhaben, die allen gemeinsam ist und die Basis für ihre Kommunikation darstellt (2010, 303 f.), dann übersieht er, dass Levinas den Seinsbegriff neben seiner Verbindung mit der Einsamkeit gerade auch in diesem Verständnis problematisiert. Dagegen lässt sich wiederum nicht argumentieren, indem einfach nur behauptet wird, jede Beziehung setze einen Raum oder eine Dimension voraus, innerhalb derer sie stattfindet, und Levinas nehme diese implizit in Anspruch, wenn er von einer Beziehung spreche (306 f.). Puntel übersieht, dass Levinas sich der Implikationen seines Sprechens bewusst ist, dass er diese aber zugleich widerspruchsfrei negieren kann, indem er sich in einer Position jenseits des Gesagten hält (vgl. S. 500 f. u. Anm. 668). Er kann plausibel machen, dass eine Einheit des Seins als etwas nur vom Subjekt entsprechend der Einheit seines Erkennens Konsituiertes angesehen werden kann. Und er führt ausgehend von seiner Sollensauslegung Gründe dafür an, weshalb dies seiner Auffassung nach so betrachtet werden muss. In eine Diskussion darum tritt Puntel nicht ein. 700 Vgl. JS89–91, wo Levinas die Verwendung der Nomen, die Identifizierung von Seienden im Sein, nicht nur auf eine transzendentale Spontaneität zurückführt, sondern letztlich aus einer Form von »Kerygma«, aus einem Geschehen der Bezeugung und »Ernennung«, heraus versteht, die aus einem »Hören« lebt, »Kerygma auf dem Grunde eines fiat«, also genau dem sich dann sekundär auch bloß autonom und allgemein aussprechenden Zeugnis. Die Idee, dass sich das identifizierende Urteilen einem »Kerygma« verdankt, findet sich auch schon etwas früher (SN265–269), und es wird hier ebenso als ein Kerygma verstanden, das, obgleich es »die Idealität der Rede trägt, darüber hinaus Nähe zwischen mir und dem Gesprächspartner ist und nicht unsere Teilnahme an einer transparenten Universalität« (SN273 f.). In SN266 grenzt Levinas sich deutlich von der husserlschen Vorstellung ab, aus einer kategorialen Anschauung die Identität der Bewusstseinsgegenstände sowie die sonstigen kategorialen Bestimmungen begründen zu können. Für Levinas ist die Identität eine immer nur gemeinte, sie kann sich nicht in einer Anschauung erfüllen, ist also nicht korrelativ zu einer Anschauung, sondern entspringt einem Urteil. Dieses Urteil ist

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– als Sein eines Seienden gedacht wird. Da Sein in der Perspektive des allgemeinen Denkens so verstanden wird, dass es an die einzelnen Seienden sozusagen verteilt ist, wird es als etwas gedacht, was nur dem Einzelnen zukommt. Nimmt man das Sein als letzten Bedeutungshorizont, ist das Bezogensein des Subjekts auf den Anderen immer etwas nur Sekundäres. 701 Zudem kann für Levinas so jede Art des Strebens nur auf eine Weise gedacht werden, dass es dem Seienden darin um sein Sein geht. Der Andere wird eingebunden in das Selbstverwirklichungsgeschehen »als Grenze oder Ergänzung in bezug auf das Vollbringen des Seinsereignisses, das darin besteht, im Sein zu verharren« (JS52). 702 Das Ich hat am Sein und damit an einem umfassenden autonomen Seinsverstehen teil. Für die Anarchie des Anderen ist so kein Platz mehr. 703 Die Transzendenz wird verhindert und der Einzelne in sich eingeschlossen. … jenseits von Metaphysik? Das Problem besteht für Levinas nicht in einem falschen Seinsbegriff. Negiert wird nicht ein Sein im Unterschied zu einem anderen, wahreren Sein; es ist kein Übergang zu einer wahreren Ontologie. 704 Negiert wird aber auch nicht das Sein im Gegenüber zum Schein; es ist nicht ein Übergang zu etwas weniger Realem. Und negiert wird nicht das Sein im Gegenüber zum Nichtsein; es ist nicht ein Übergang zur

als ein verkündigendes, als ein Kerygma, als Ereignis der Nähe zu verstehen. Dass sich für Levians die Begriffe aus der ursprünglichen Bedeutsamkeit der Beziehung zum Anderen ergeben, wird etwa auch deutlich, wenn er in Bezug auf den Begriff des Wertes sagt, dass es die anarchische Verantwortlichkeit ist, »die allererst erlaubt, den Wert wahrzunehmen und zu denken« (JS275). 701 Vgl. dazu auch EU34 f. u. schon TU401. Dazu, wie die beiden Kritikpunkte am Seinsdenken sich schon in TU finden, vgl. auch oben, S. 421. 702 Vgl. auch JS26: »Sein ist Interessiertsein.« Dass das Streben ausgehend vom Seinsbegriff nur als etwas gedacht werden kann, in dem es dem Seienden um sein Sein geht, wird auch schon in TU438 deutlich herausgestellt. 703 So besteht für Levinas etwa in JS251 das Problem des »ontologischen Denkens« darin, dass wir selbst auf der Stelle des Prinzips von allem stehen und so alles umfangen, selbst das, was wir suchen. 704 Vgl. JS24: »Nicht anderssein, sondern anders als sein.« Der Rückgang vor das Sein bedeute nicht, »eine Ontologie durch eine andere zu berichtigen, von irgendeiner Scheinwelt zu einer wirklicheren Welt überzugehen« (JS109) oder »dass das Sein, so wie es erscheint, dem Sein im eigentlichen, im tiefen oder sublimen Sinne irgendwie nicht entspricht« (JS255). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Nichtexistenz. 705 Die Relativierung der Aussage des Seins geht offenbar nicht so weit, dass es nicht einen letzten Sinn behalten würde zu fragen, ob der Andere wirklich da ist oder nicht mehr ist, und danach zu fragen, wie ich über meine subjektive Sphäre hinaus auf den Anderen in seiner exterioren Eigenwirklichkeit bezogen bin. Kann man von daher sagen, dass die metaphysische Frage, mit der Levinas an das husserlsche Intentionalitätskonzept herangegangen ist, die Zurückweisung des ontologischen Denkens überdauert? Wie verhält sich Levinas zu dieser Frage? Wie in der Darstellung der levinasschen Auseinandersetzung mit der Thematik der Wissensbegründung deutlich wurde, ist sie für ihn in der frühen Zeit sinnvoll und er sieht sie beantwortet durch den Aufweis von »metaphysische[n] Relationen« (IM142), von Bezügen unserer Intentionalität auf die Sachen selbst, und zwar in der phänomenlogischen Analyse der Empfindung als eines Betroffenseins unserer leiblichen Praxis durch anderes. In Totalität und Unendlichkeit setzt Levinas dann den Akzent auf die Frage nach der Begründung speziell der kritischen Essenz des Wissens und erklärt sie durch das leiblich vermittelte und entsprechend der leiblichen Intentionalität verstandene Betroffensein von der Infragestellung des Anderen. Das Wort ›Metaphysik‹ versteht Levinas weiterhin als Bezeichnung für das philosophische Projekt 706, das sich auf das bewusstseinstranszendente Sein ausrichtet, um es zu erkennen, um unsere Beziehung zu ihm zu erhellen und um zu fragen, wie wahre Erkenntnis möglich ist. Da diese Erhellung für ihn von der Infragestellung durch den Anderen ausgeht und diese die »metaphysische Beziehung« (TU44) par excellence darstellt, verwendet er das Wort aber zugleich für die ethische Beziehung selbst 707 oder, in einer allgemeineren Form, für das Streben nach dem transzendenten Sein 708, das »metaphysische Begehren« (TU35). Damit wird eine Gewichtsverlagerung verdeutlicht: von der Metaphysik 705 Vgl. JS24: »Übergehen zum Anderen des Seins, anders als sein. […] nicht nichtsein. Übergehen ist hier nicht gleichbedeutend mit vergehen, sterben.« Vgl. auch JS77, wo das Jenseits-des-Seins als »das ausgeschlossene Dritte zwischen Sein und Nichtsein« bezeichnet wird. 706 Vgl. TU35, wo Metaphysik als etwas »in der Geschichte des Denkens« behandelt wird. 707 Vgl. etwa TU38: »Für das Unsichtbare sterben – das ist die Metaphysik.« 708 Vgl. TU32, wo die Rede ist ganz allgemein vom »Streben nach der radikalen Exteriorität, das wir aus diesem Grunde Metaphysik nennen, die Achtung vor jener metaphysischen Exteriorität, die man vor allem ›sein lassen‹ muß«.

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zur Ethik. Als eine Manifestation des metaphysischen Begehrens ist für ihn das philosophische Projekt einer Metaphysik jedoch weiter sinnvoll und möglich 709 – nicht als Metaphysik, die meint, beweisen zu können, nicht als unkritische Metaphysik, aber Levinas will angesichts der Destruktion aller objektiven Gewissheiten und der Einsicht in das Erfordernis eines moralischen Glaubens nicht bei der Kritik stehen bleiben. 710 Während man Totalität und Unendlichkeit noch in diesem Sinne interpretieren muss, kann man dies für Jenseits des Seins nicht mehr klar sagen. Levinas verwendet zwar das Wort ›me709 Vgl. TU49 u. 59–65. Diese Integration in das metaphysische Begehren ist auch sichtbar in der Verwendung des Begriffs der Erfahrung (TU26 u. 100) oder der absoluten Erfahrung (TU87 u. 318). Und die Frage nach dem Bezug des Wissens auf das bewusstseinstranszendente Sein ist für Levinas nicht nur legitim, sondern sie ist für ihn, wie wir gesehen haben, auch beantwortbar ausgehend von der Beziehung zum Anderen. Dass er dabei positiv klassische metaphysische Fragestellungen aufgreift, wird etwa deutlich in seiner Auseinandersetzung mit dem cartesischen Argument, das die Frage nach der Existenz des Subjekts ausgehend vom Cogito beantwortet (TU130 f.). Es ist auch hier die ethische Beziehung und das sich in ihr ereignende Unendliche, die vom immer zweifelhaft bleibenden »Phänomen zum Sein übergehen« (TU259) lassen. »Meine Existenz als ›Ding an sich‹ beginnt mit der Gegenwart der Idee des Unendlichen in mir« (TU259). Zumindest am Rande bezieht er sich auch auf das Solipsismu-Pproblem und die Frage nach der Existenz des Anderen (TU280 u. PI205 f.). Hier macht er deutlich, wie das Problem zwar ausgehend von seiner Analyse der Beziehung zum Anderen überwunden wird, wie dabei ein Beweis der Existenz des Anderen jedoch nicht möglich ist, weil von ihm her die kritische Essenz des Erkennens und damit die Ebene des Beweisens überhaupt erst eingesetzt sind (vgl. dazu auch TU129 u. JS348). Wie im folgenden Kapitel über Levinas’ Religionsphilosophie herausgearbeitet wird, lässt sich in TU für die Frage nach der Existenz Gottes ähnliches beobachten: Er wendet sich gegen die Idee eines Gottesbeweises, zweifelt jedoch nicht an der Sinnhaftigkeit dieser Frage und an der Möglichkeit einer phänomenologischen Beantwortung. Ob es überhaupt sinnvoll ist, nach der Existenz Gottes zu fragen, erwägt Levinas erst in späteren Texten (vgl. unten, Anm. 780–782). Meiner Interpretation nach wird in TU auch mit der Rede von Schöpfung noch ein metaphysisches Konzept angezielt (vgl. S. 553–558). Und Metaphysik betreibt Levinas hier m. E. außerdem an den Stellen, an denen er neben der Rede vom Jenseits-des-Seins doch noch versucht, in der neuen Form einer pluralistischen Philosophie die Struktur des Seins zu beschreiben und die Probleme des Seinsbegriffs durch ein anderes Seinsverständnis zu überwinden (vgl. S. 421). 710 Es stimmt von daher m. E. nicht, wenn Bernhard Casper schreibt, dass »Levinas sein Denken durchgängig nicht als Metaphysik im zeitgenössischen Verständnis des Wortes, sondern als Phänomenologie versteht« (Casper, 1991, 38). Beides schließt sich nicht aus. In TU zumindest behandelt Levinas u. a. auch metaphysische Fragen. Und auch für die spätere Zeit muss man m. E. genau sagen, in welchem Sinn er metaphysisches Denken ablehnt und in welchem es innerhalb seines Ansatzes evtl. als möglich angesehen werden kann.

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taphysisch‹ – anders als das Wort ›ontologisch‹ – auffälligerweise weiter affirmativ. Er versteht es aber ausgehend von der beschriebenen Verwendung des Wortes für die Beziehung zum Anderen und gebraucht es in Zusammenhängen, die gerade das Jenseits-des-Seins ausdrücken sollen. 711 Auch umgeht er in dieser Zeit metaphysische Fragen. Es fällt jedoch auf, wie er sich zugleich zurückhält zu behaupten, sie seien unbeantwortbar oder sinnlos. 712 Er bezweifelt nur eine ontologische Behandlung der Metaphysik. Dies wird etwa deutlich, wenn er sich in einem Aufsatz von 1977 mit einer Beschreibung der intentionalen Beziehung zum Unendlichen begnügt, ohne die metaphysische Frage nach seiner Existenz zu behandeln, und dazu anmerkt: »Die Metaphysik hat vielleicht keinen Sinn in der ontologischen Version, die man davon ausgibt, wo es sich doch um ein Jenseits des Seins handeln soll.« (HuJ1321 ) Die Frage, ob und in welcher Form eine nichtontologische Version einer Metaphysik innerhalb seines Ansatzes möglich sein kann, ist Levinas, soweit ich sehe, jedoch nicht angegangen. Sich hier dieser heiklen Frage zu stellen, scheint aus verschiedenen Gründen nötig zu sein. Es soll dabei nicht um Rückkehrversuche zu einer unkritischen Metaphysik gehen, sondern lediglich um ein durch das Scheitern objektiver Gewissheiten ernüchtertes, kritisches Suchen nach einer sinnvollen Form des metaphysischen Fragens oder Formulierens metaphysischer Hypothesen. Besteht die Gefahr, dass man deren Möglichkeit negieren muss, dann besteht die Gefahr, dass einem Gespräch mit Fichte – und nicht nur mit ihm – die Basis entzogen ist. Auch die Rezipierbarkeit des levinasschen Denkens für die Theologie wäre dann zumindest infrage gestellt. Darüber hinaus scheint ohne eine Klärung in dieser Frage auch die Interpretation von Levinas in einer unbefriedigenden Schwebe zu bleiben. Wie deutet man seine Rede vom Unendlichen und dessen Beziehung zu uns, wenn die Frage nach seiner Existenz möglicherweise sinnlos ist? Wie seine These, dass im Blick auf den Tod ein Danach erhofft werden kann? Droht so nicht auch die Theodizeefrage, die Klage, die angesichts des Leids an den Urheber der Welt gerichtet wird, sowie die Frage nach einer Instanz, die eine davon erlöste Existenz eröffnen 711 Vgl. die Rede von einer »metaphysische[n] Trennung vom Sein« (JS36) oder auch einem »metaphysische[n] Diesseits« (JS334 ) – im Sinne eines Diesseits-des-Seins. 712 Vgl. etwa unten, S. 557 f., dazu, wie er in JS von Schöpfung spricht. Vgl. auch unten, Anm. 780 zu seiner Umgangsweise mit der Frage nach der Existenz Gottes.

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kann, sinnlos zu werden? 713 Levinas möchte beide Fragen ganz entschieden stellen. Und droht ohne die Klärung der Sinnhaftigkeit metaphysischer Fragen die Rede vom Jenseits-des-Seins nicht zu etwas Okkultem zu werden? Muss sie nicht präzis von dem her bestimmt und begrenzt werden, was die Gründe für sie sind? Meines Erachtens gibt Levinas auf indirekte Weise, durch sein faktisches Vorgehen, selbst eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit einer nichtontologischen Metaphysik, und zwar dadurch, wie er von der Ethik her die Bedeutung des Seins des Seienden bestimmt. In Jenseits des Seins schreibt er über die ethische Beziehung in ihrer Passivität: Sie ist eine »Schwäche, in der der conatus nicht nachlässt, in der der Freitod Flucht ist, als wäre das Sein, indem es sich fremd wird, nichts als eine Modalität – eine Weltzeit der Herrschaft – jenes mehrfach notwendigen Dienstes im ›Sein für den Anderen‹, im ›derEine-für-den-Anderen‹, in der Nähe, die ernsthafter ist als das Sein oder das Nichtsein« (JS130). 714 Hier wird affirmativ vom Sein gesprochen, aber nicht deshalb, weil es zu einer universalen Perspektive und zu einer Thematisierung kommen muss, sondern weil mein Sein für die Beziehung zum Anderen bedeutsam ist, weil »der Freitod Flucht ist«, weil es nicht egal ist, ob ich existiere oder nicht. Man muss die Stelle entsprechend auch als Aussage nicht in einer neutralen Perspektive, sondern als Aussage nur über mein Sein lesen. Das Sein wird hier zudem nicht als Isoliertes genommen, sondern es wird aus der Beziehung zum Anderen heraus verstanden. Und es ist nicht ein Sein, in dem ich mich selbst verwirkliche, in dem es mir um mein Sein geht, sondern es geht mir um den Anderen. Oder besser: Es geht mir nicht für mich um mich, sondern für den Anderen. Es ist ein »›Sein für den Anderen‹«. 715 Es findet sich hier also eine von den be713 Diese berechtigte Anfrage kann man bei Magnus Striet artikuliert finden (2013, 339–343). Ihr gegenüber wird hier versucht zu zeigen, wie es innerhalb von Levinas’ Ansatz möglich ist, von der Sinnhaftigkeit metaphysischer Fragen auszugehen und wie Levinas somit konsistent an der Theodizeefrage sowie an seinen eschatologischen Überlegungen festhalten kann. 714 Vgl. dazu schon in VS11 die Aussage, die Bewegung hin zum Guten sei zwar »ein Ausweg aus dem Sein und aus den Kategorien, die das Sein beschreiben: eine Exzendenz. Aber die Ex-zendenz und das Glück fußen notwendigerweise auf dem Sein, und darum ist es besser zu sein, als nicht zu sein.« 715 Levinas spricht an anderer Stelle auch vom »Seienden, das nicht für sich ist, das für alle ist – Sein und zugleich Sich-vom-Sein-Lösen« (JS257). In diese Richtung geht schon die Rede in TU vom Angebot des Seins in der Beziehung zum Anderen (TU266), die er als »eine Umkehr des eigentlichen Seinsvollzugs« fasst (TU83).

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schriebenen Problemen der ontologischen Rede freie Thematisierung des eigenen Seins. Und eine solche, auch der ursprünglichen Situation der Beziehung zum Anderen adäquate Rede erscheint hier nicht nur als möglich, sondern als nötig für die Beschreibung dieser Beziehung, wenn zu ihr mein Sein notwendig gehört, und zwar ohne dabei lediglich auf die immer zu relativierende sekundäre Ebene zu treten. Ließe sich vielleicht auf ähnliche Weise auch vom Sein des Anderen sprechen, auf das sich das metaphysische Begehren richtet? Auf keinen Fall in derselben Weise wie von meinem Sein oder abhängig von meinem Seinsvollzug, auf den sich die Rede von meinem Sein stützt. 716 Besteht aber die ethische Beziehung zum Anderen nicht weiter darin, dass ich mich als von ihm selbst betroffen erfahre. Es ist weiter sinnvoll, dieses ›er selbst‹ von jeder bloßen Vorstellung und von jedem bloßen Phänomen des Anderen zu unterscheiden. Und ist eine Bezugnahme auf sein wirkliches Existieren, gegenüber dem Nichtexistieren, nicht sogar in der ethischen Beziehung selbst impliziert, indem sie darin besteht, ihn nicht zu töten, ihn vor dem Tod zu bewahren? Gibt es also nicht wie für das Sein des Ich unabhängig von der Notwendigkeit, eine universale Perspektive einzugehen, einen Grund, sich auf das Sein des Anderen zu beziehen? Und kann man nicht auf der Basis der von der Voraussetzung einer allgemeinen Begrifflichkeit oder Logik unabhängigen phänomenologischen Methode und der Beschreibung des asymmetrischen Betroffenseins von der Wirklichkeit des Anderen zu einer Thematisierung des Seins des Anderen kommen, die nicht in einer universalen Perspektive erfolgt, in der es mir nur um das Sein des Anderen geht, nicht um meines, nicht um das eines Dritten? Levinas hat sich, soweit ich sehe, zu diesen Fragen nicht geäußert. Meines Erachtens ist es jedoch auf der Basis einer genauen Bestimmung der Hinsichten, in denen für Levinas die ontologische Rede problematisch wird, möglich, weiter das zu thematisieren, was 716 Entsprechend kann m. E. die Aussage, dass das Ethische »ontologischer als die Ontologie« ist (FA114), nicht wie von Lorenz B. Puntel so interpretiert werden, dass Levinas hier gegenüber einer falschen Ontologie eine wahre Lehre über das Sein in den Blick nimmt (2010, 312 f.). Gegen diese Interpretation wendet sich Levinas ausdrücklich (JS109 u. 255). Er kann letztlich nicht von einem allgemeinen, sich in allen gleich ereignenden Sein ausgehen. Ontologischer als die Ontologie ist die Ethik für Levinas nur insofern, als sie die letzte Bedeutungsdimension erschließt, ohne dass dies als Bedeutung eines einen Seins angesehen würde. Entsprechend gerät Levinas auch nicht in den Selbstwiderspruch, den Puntel in dem Zusammenhang kritisiert.

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sich als reale Existenz des Ich oder was sich als Realität des Anderen aufdrängt, ohne in diese Probleme zu geraten. Und von daher ließe sich m. E. auch innerhalb des in der späten Zeit auf seine Konsequenzen hin durchdachten Ansatzes von Levinas weiter die metaphysische Frage wie in der frühen Zeit sinnvoll stellen und behandeln – natürlich nur in der klar begrenzten Weise, wie dies beschrieben wurde. Wie Levinas selbst die Realität des Subjektes jenseits des Seins artikulieren kann, wird m. E. auch sehr gut deutlich in seinen Beschreibungsversuchen einer sich aus der Ethik ergebenden Hoffnung auf ein »Danach« (GTZ71) zum Tod – schon an sich die Behandlung einer metaphysischen Fragestellung. Dieses Danach kann für ihn nicht als eine Weiterführung der Lebenszeit gedacht werden – er spricht von einer Ewigkeit – noch als Sein, indem es gerade nicht gedacht werden kann oder sich aus einem Denken ergibt, sondern aus der Ethik. 717 Der Tod verliert dadurch einerseits nicht seine Bedeutung als Ende des Seins, und doch verliert er – zumindest in einer Hoffnung, die nie Gewissheit werden kann – seine Bedeutung als Übergang in ein Nichts, das als einfache Negation des Seins verstanden wird. Der Tod wird selbst Moment der Beziehung zum Unendlichen. Es ist – so würde ich es interpretieren – der Übergang in eine Beziehung, in der, was für Levinas in diesem Leben gar nicht möglich ist, nicht nur jede Sorge um das eigene Überleben, sondern jede Intentionalität auf das Sein überhaupt – wie horizonthaft verborgen oder wie unthematisch und bloß praktisch vollzogen auch immer – verschwunden ist. Neben seiner Herangehensweise in dieser eschatologischen Frage kann m. E. auch Levinas’ Umgang mit der Frage nach der Existenz Gottes, wie sie im folgenden Kapitel dargestellt werden wird, die hier vorgetragene Interpretation des Jenseits-des-Seins unterstützen. 718 Zuvor gilt es jedoch, die weiter bestimmte levinassche Methode in ein Verhältnis zu setzen mit der von Fichte. Vergleich mit Fichte Im Anschluss an die Darstellung von Levinas’ Anknüpfung an die transzendentalphänomenologische Methode Husserls wurden schon zum einen die Ähnlichkeiten zur Methodik Fichtes hervorgehoben 717 718

Vgl. dazu unten, S. 577–581. Vgl. dazu unten, v. a. S. 546–549, bes. Anm. 782.

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und es wurde zum anderen auf den grundlegenden Unterschied aufmerksam gemacht, der in der Annahme einer intellektuellen Anschauung liegt. Eine Übereinstimmung kann man noch darin sehen, wie sich diese Annahme für Fichte nie auf eine objektive Gewissheit stützen kann, sondern nur auf einen Glauben, der von einer besonderen Art von Sollensevidenz getragen ist. Der Ursprung dieser Sollensevidenz liegt für Fichte jedoch nicht in der Infragestellung durch den Anderen, sondern in einem autonomen Vollzug der universalen Vernunft, der sich in seinem Selbstbezug anschaulich gegeben ist. Welche Unterschiede daraus für die transzendentale Methode folgen, kann nun deutlich gemacht werden, nachdem sie für Levinas genauer bestimmt wurde. Die transzendentale Rückfrage erfolgt auch bei Fichte nicht einfach schlussfolgernd, sondern anhand von anschaulich gegebenen Bedingungsverhältnissen. Aber da eine Anschauung einer Instanz eines universalen Seins oder Lebens angenommen wird, aus der alles hervorgeht und aus deren Selbstverstehen das Denken entspringt, so sind die Begriffe und Gesetze dieses Denkens (etwa der Begriff des Ich und der Satz der Identität sowie der Begriff des Wollens und Wirkens und der Satz vom Grund) als die alle Wirklichkeit bestimmenden gerechtfertigt und können so in der transzendentalen Rückfrage auch eine tragende Rolle spielen. Zwar geht auch Fichte nicht von einer unabhängig vorgegebenen Logik aus, sondern rechtfertigt diese erst aus der Anschauung des Selbstvollzuges. Und er lässt sie daher so in ihn rückgebunden und in ihm verflüssigt bleiben, dass er es sich, wenn er in der Bestimmung der Verhältnisse dieses Vollzuges teilweise zu widersprüchlichen Formulierungen genötigt wird, von der Logik nicht verbieten lässt. 719 Anders als dies für Levinas möglich wäre, sieht sich Fichte aber durch die beschriebene Rechtfertigung der Logik dazu befähigt, den letzten Schritt der transzendentalen Rückfrage hin zum Absoluten vermittels der bloßen Frage nach der Begründung zu gehen, dann in dem sozusagen jenseits des individuellen Ich liegenden und für die Anschauung undurchdringbaren Bereich Bedingungsverhältnisse zu analysieren und so die Wirklichkeit als aus einem Ursprung hervorgehende Totalität zu begreifen und abzuleiten. Da sich der Glaube auf die autonome Tätigkeit als eine der Wirklichkeit universal zugrunde liegende Tätigkeit bezieht, kann – freilich immer un719 Vgl. etwa oben, S. 89–91 zur Bestimmung des Verhältnisses zum Absoluten als Einheit mit ihm und zugleich Differenz.

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ter Voraussetzung des Glaubens – dem autonomen Beweisen anders als bei Levinas, für den diese Autonomie immer überschritten werden muss in einer Offenheit für die heteronome Infragestellung durch den Anderen, eine letzte Adäquatheit zukommen. Zwar problematisiert auch Fichte die objektivierende und in Unterscheidungsrelationen einbindende Form des Denkens und stellt ihr die intellektuelle Anschauung als einen der Lebendigkeit des Subjekts adäquaten Erkenntnisbezug gegenüber. Das, was er in ihr erreicht, ist jedoch immer noch Allgemeines. Das Ich ist Einzelnes zwar nicht des Begriffs ›Ich‹ – es ist lebendig –, aber Einzelnes eines universalen Ich. Ein Realgrund kann zwar niemals der als Grund gedachte Grund sein, sondern nur das lebendige Grundsein, aber anders als für Levinas ist für Fichte im eigenen Grundsein das Grundsein der einen Vernunft zugänglich, und man kann so das eigene Grundsein auf das Absolute sowie den Anderen übertragen und sie auf diese Weise innerlich verstehen. Wie Fichte unser Erkennen begreift – dass es in sich immer zwischen einer ursprünglichen intellektuellen Anschauung und einer sekundären, äußerlichen Weise der objektivierenden und begrifflichen Ausfaltung dieser Anschauung unterscheidet –, kann sehr differenziert das Denken als Vermögen gelten lassen, in diese Bereiche jenseits der Gewissheit einzudringen. Und auf diese Weise kann Fichte das Ich, den Anderen und das Absolute als wirklich Selbständige und sozusagen als getrennte Sphären bestehen lassen, weil sie eben nicht verobjektivierend und in begrifflichen Wechselverhältnissen gedacht werden. Ableitungsverhältnisse werden nicht in der Weise verstanden, dass behauptet würde, man könne denkend das jeweilige Bedingungsverhältnis erfassen, etwa das Verhältnis von Gott zur Freiheit oder der Freiheiten im einen Dasein untereinander. Es wird nur dafür argumentiert, warum es nicht ein Zufall sein kann, dass über Gott hinaus noch andere Selbständige existent sind, oder warum es viele sind und nicht nur einer. Das reale Verhältnis soll vorgängig sein zu solchen sekundärreflexiven Verobjektivierungen. Der ihm adäquate Erkenntniszugang wird als eine nicht objektivierende und so die lebendige Freiheit wahrende intellektuelle Anschauung verstanden. Die die selbständigen Ichs ausgrenzende Tätigkeit des einen Daseins versteht Fichte zwar vom Reflexionsgesetz her, das die Erkenntnis eines Anderen zur Selbsterkenntnis fordert, aber wieder ist zwischen der Ebene der Objektivierung und der des realen Vollzuges zu unterscheiden. Dies macht dann auch ein Modell der gegenseitigen Beeinflussung jenseits eines mechanistischen Kausaldenkens möglich. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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2.2 Die Religionsphilosophie

Nach der Rekonstruktion von Levinas’ Ansatz und Methode gilt es nun nachzuvollziehen, wie er auf dieser Basis die Beziehung zur göttlichen Transzendenz erschließt, innerhalb derer die Bedeutung der Leiblichkeit bestimmt werden soll. Zunächst wird im Folgenden versucht zu klären, auf welche Weise Levinas seine religionsphilosophischen Aussagen rechtfertigt. Da dies vor allem über die Beschreibung einer Instanz erfolgt, die das Subjekt ethisch in Anspruch nimmt, wird dadurch zugleich der für Levinas zentrale Aspekt der Gottesbeziehung herausgearbeitet: die Konfrontation mit einer Güte, die das Subjekt zur Annäherung an die Güte auffordert. Welche weiteren Aspekte in seinem Denken greifbar werden, gilt es in einem zweiten Schritt zu betrachten. Ausgehend von den positiven Bestimmungen des religiösen Verhältnisses kritisiert Levinas verschiedene uneigentliche Formen der Beziehung zur Transzendenz. Da auch in ihnen die Leiblichkeit eine wichtige Rolle spielt, müssen sie ebenfalls in den Blick genommen werden.

2.2.1 Die Beziehung zur Transzendenz als Begehren des Unendlichen In der Darstellung der levinasschen Verhältnisbestimmung zwischen Heteronomie und Autonomie musste bereits sein Rekurs auf das Unendliche thematisiert werden. 720 An den dort beschriebenen Begriff des Unendlichen knüpft seine Religionsphilosophie 721 an. Was er mit

Vgl. oben, S. 453–462. Die Verwendung des Wortes ›Religionsphilosophie‹ für das Denken von Levinas kann zwar insofern als problematisch angesehen werden, als er sich in seiner Artikulation der Transzendenz teilweise von der Philosophie als ganzer abzuwenden scheint. Dafür spricht aber (gegen Casper, 1991, 37), dass sich die Abgrenzung von der Phi720 721

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ihm meint, kann nur verständlich werden, wenn der Weg seiner Erschließung nachvollzogen wird. Nur so kann zudem geklärt werden, ob von ihm eine Beziehung zum Unendlichen letztlich nur behauptet wird und dabei theologische Prämissen einfließen oder ob er sie, wie er es selbst beansprucht, auf philosophischem Weg erschließen kann. Wie erfolgt also genau die philosophische Rechtfertigung der Rede von einem Bezug auf das Unendliche? Dass eine Klärung dieser Frage in der Literatur häufig umgangen wird, ändert nichts an ihrer Relevanz. Es ist nicht unwichtig, zuerst hervorzuheben, dass Levinas die religiösen Begriffe (Unendlichkeit sowie Heiligkeit, Herrlichkeit …) nicht nur verwendet als treffende Charakterisierungen in der Beschreibung der Beziehung zum Anderen – das freilich auch 722 –, sondern ebenso zur Beschreibung einer davon unterschiedenen eigenen Beziehung zu Gott. Betrachtet man etwa seine phänomenologischen Ausführungen zum Gesicht in Totalität und Unendlichkeit, dann fällt auf, dass er die Beziehung zum Unendlichen einerseits einfach mit der Beziehung zum Anderen zusammenfallen zu lassen scheint (TU282) und der Andere selbst in seiner Unendlichkeit 723 und Heiligkeit 724 angesprochen wird, dass er sie andererseits aber als etwas Eigenes unterscheidet, das sich »im« Bezug auf das Gesicht »ereignet« (TU282) oder sich »als Antlitz« »präsentiert« (TU286). Dass die Unterscheidung teilweise zu verschwinden und in dem Fall die religiösen Begriffe nur eine Metaphernfunktion zu erfüllen scheinen, liegt daran, dass, wie im folgenden Abschnitt noch genauer betrachtet wird, die Unterscheidung aufgrund der Anarchie der Termini von einer wesentlichen Ambivalenz gekennzeichnet ist. Ambivalenz bedeutet freilich, dass die Unterscheidung zugleich aufrechterhalten wird. Und das ist auch nötig, wenn Levinas das Ziel verfolgt, das, losophie nur auf ein bestimmtes Verständnis von Philosophie bezieht und er sich sonst durchaus auch positiv zur Philosophie zuordnen kann (vgl. oben, Anm. 473). 722 Vgl. etwa zur Rede von der Herrlichkeit und Heiligkeit des Anderen oben, S. 410– 413. Im Sinne einer bloßen Metapher verwendet Levinas offenbar in der späteren Zeit den Begriff der Schöpfung (vgl. unten, Anm. 810). 723 Vgl. TU278: »Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd«. TU280 spricht Levinas den »›Status‹ dieses Seienden als den eines Unendlichen« an. In TU284 ist der Andere der, welcher »unendlich meine Vermögen überschreitet«. In TU285 spricht er in Bezug auf den Anderen von der »Disproportion zwischen dem Unendlichen und meinen Vermögen«, in TU285 von der »Transzendenz seines Seins« und der »Unendlichkeit seiner Transzendenz«. 724 Vgl. dazu oben, S. 410–413. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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was er in der Religion, und zwar seiner jüdischen Religion, als eigene Beziehung zu Gott findet, philosophisch zu rechtfertigen. Dies zu versuchen, ist für ihn ein Erfordernis der Religion selbst, denn – er wendet sich ausdrücklich gegen Pascal – die Philosophie ist für ihn der rechtmäßige Ort, an dem über die Bedeutung oder Nichtbedeutung und die Rationalität jeder Sache – auch der Religion – entschieden wird (GP81–86). Er hält es für möglich, »dass das Wort ›Gott‹ aus einer religiösen Rede in die Philosophie gekommen ist« (GP94), also nicht aus deren eigenen Fragestellungen heraus. Aber dennoch muss sich seine Verwendung philosophisch rechtfertigen. Er selbst greift die Rede von Gott aus der Religion auf, und zwar in der Bedeutung der Artikulation einer Beziehung zur Transzendenz, und fragt philosophisch, ob etwas gefunden werden kann, was der Bedeutung dieses Wortes entspricht. Wenn Levinas bei dieser philosophischen Suche das Unendliche in der Beziehung zum anderen Menschen phänomenologisch verortet – im Sinne der Bindung der phänomenologischen Beschreibung an das Begegnende in seiner sinnlichen Konkretheit –, legt sich dadurch die Interpretation nahe, dass dies sein eigentlicher philosophisch-phänomenologischer Zugang zur Beziehung zum Unendlichen ist. Zwar kann er auf der Basis der Beschreibung der Beziehung zum Anderen die Möglichkeit aufweisen, über das ontologische Denken, das für ihn eine wirkliche Transzendenz ausschließt, hinauszugehen. Auch ergibt sich ausgehend von der Beziehung zum transzendenten Anderen eine Füllung religiöser Begriffe wie etwa Unendlichkeit, Heiligkeit oder Herrlichkeit und man könnte von daher das Erfordernis eines philosophischen Aufweises der Bedeutsamkeit religiöser Rede erfüllt sehen. Aber was rechtfertigt in dieser Phänomenologie des Gesichts die Rede von einer eigenen Beziehung zum Unendlichen? Ergibt sich diese Unterscheidung bei Levinas lediglich daher, dass er ebenjene religiöse Rede aufgreift, die von einer solchen Unterscheidung ausgeht? Dagegen spricht, dass Levinas den Unterschied selbst phänomenologisch beschreibt. Er hebt etwa das noch radikalere Transzendieren des Unendlichen hervor (GP108) oder die Seitlichkeit der Beziehung zu ihm, die darin besteht, dass es kein Du, sondern ein Er ist (GP106). Allein aus einer Beschreibung der Beziehung zum Gesicht des Anderen rechtfertigt sich diese Beschreibung nicht. 725 Woher dann? 725 Von daher scheint mir die Interpretation von Ludwig Wenzler nicht weit genug zu gehen. Levinas habe nur zeigen wollen, dass uns in der Begegnung mit der Trans-

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Ergibt sich die Annahme einer noch einmal eigenen Beziehung – und dann von daher eventuell die unterschiedliche Charakterisierung – daraus, dass für ihn, wie dies bereits dargestellt wurde, die Beziehung zum Unendlichen die Bedeutung einer Bedingung für die Beziehung zum Anderen bekommt? Da sich Levinas’ transzendentale Rückfrage jedoch, wie gezeigt, nicht löst von der phänomenologischen Analyse, dürfen die Stellen, an denen er die Beziehung zum Unendlichen im Zusammenhang der Frage nach der Ermöglichung einer Beziehung zu etwas die eigene Autonomie Transzendierendem thematisiert, nicht in der Weise verstanden werden, dass er schlussfolgernd auf sie führt, indem er argumentiert, es müsse eine vorgängige Beziehung zum Unendlichen als Bedingung dafür geben, dass mich der Andere betreffen kann, bzw. dafür, dass der Andere sich wirklich in der Transzendenz zu mir halten und mich aus der ethisch verstandenen Höhe heraus affizieren kann. 726 Entsprechend kann Lezendenz des Anderen und der eigenen Verunendlichung in einer unendlichen Verantwortung das Wort ›Gott‹, das offenbar als Wort einer religiösen Rede vorausgesetzt werde, »in den Sinn kommen« und es hierher auch »einen Sinn bekommen« (2013, 260) könne. Meines Erachtens versteht Levinas an der Stelle im Aufsatz Über die Idee des Unendlichen in uns, auf welche Wenzler sich für diese Formulierung bezieht (ÜI37), das In-den-Sinn-Kommen nicht nur im Sinne eines assoziativen Einfalls, sondern als Betroffensein von einer Wahrheit – freilich einer Wahrheit »in der Ambiguität von Wahrheit und Geheimnis« (ÜI37). Für die Erhellung dieses Betroffenseins führt er im weiteren Textverlauf eine phänomenologische Beschreibung der Beziehung zum Unendlichen ausgehend von Descartes’ Analyse der Idee des Unendlichen an, die für ihn, wie er hier – ausdrücklich wie sonst kaum an einer Stelle – sagt, mit einer eigenen Evidenz auf etwas jenseits von allem Endlichen Liegendes verweist (vgl. dazu unten, Anm. 729 u. 736). 726 Von einem solchen Gedanken her versucht etwa Rudolf Funk (1989, 420 f.) zu erklären, wie Levinas zur Rede vom Unendlichen kommt. Als weitere Überlegung findet sich bei ihm, dass das Phänomen des Begehrens des Anderen als des nicht Begehrenswerten in seiner Widersprüchlichkeit einen von anderswo herkommenden Verweis voraussetzen würde (429). Beide Interpretationen verkennen, dass Levinas nicht nur nicht selbst so argumentiert – Funk kann entsprechend keinen direkten Beleg für seine Thesen anführen –, sondern von seiner Methodik her auch nicht so argumentieren kann. Zugestanden sei, dass etwa besonders die Gedankenführung im Aufsatz Die Spur des Anderen durchaus zur Interpretation veranlassen kann, Levinas leite mit Hilfe der wiederholt vorgetragenen Frage nach der Ermöglichung des heteronomen Betroffenseins durch den Anderen auf eine der Beziehung zum Anderen noch einmal vorausliegende »Ordnung des Personalen« (SpA222) oder ein »Jenseits, aus dem das Antlitz kommt« (SpA226), was dann als Begehren des Unendlichen (SpA225 f.) und Beziehung zur Illeität (SpA226–235) ausgelegt wird. Die oben erarbeitete Analyse der transzendentalphänomenologischen Methode von Levinas lässt eine solche Interpretation jedoch sehr unwahrscheinlich werden und sie schärft den Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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vinas auch nicht aus Kontingenzphänomenen auf einen Schöpfer schließen und auf diese Weise das Unendliche vom Anderen sondern. 727 Phänomenologisch zeigt sich ihm ausgehend von der leiblichen Abhängigkeit sowie der Abhängigkeit vom Anderen in der Ethik nur so viel, dass das Subjekt nicht causa sui sein kann. Da weder das Materielle, von dem es lebt, noch der Andere sein Sein einsetzen und sich phänomenologisch nicht direkt das Verhältnis zu einem Schöpfer aufweisen lässt, bleibt hier eine Begründung offen. Auch hier führt die Begründungsfrage nicht zur Annahme eines vom Anderen unterschiedenen Unendlichen. Während für Levinas die Deutung des Unendlichen als eines Schöpfers fraglich bleibt, kann er ihm freilich seine Rolle als Bedingung für die ethische Beziehung zum Anderen tatsächlich zuweisen. Auf welches ›Phänomen‹ stützt sich aber die Artikulation dieses Bedingungszusammenhangs? Betrachtet man, wie Levinas die Beziehung zum Unendlichen einführt, so fällt auf, dass dies gewöhnlich über die cartesische Analyse der Idee des Unendlichen geschieht (GP95–102, TU25–29 o. 59– 62) und dass er erst in einem zweiten Schritt ihre Verortung als Beziehung zum Vollkommenen oder zur Güte in der Beziehung zum Anderen klärt (GP102–123 o. TU63 f.). Da Levinas den cartesischen Gedanken dezidiert nicht als Gottesbeweis übernehmen möchte (GP95 u. TU60), scheint erst einmal die Interpretation nahezuliegen, er habe ihn lediglich als treffende Formel zur Beschreibung einer Transzendenzbeziehung verwendet ohne jedes eigene Rechtfertigungspotential. 728 Dies folgt jedoch, wie im nächsten Abschnitt noch genauer dargelegt werden soll, aus der Ablehnung des Beweischarakters keineswegs unmittelbar. Auffällig ist, dass sich die an Descartes anknüpfenden aber in ihrer Differenziertheit über ihn hinausgehenden Charakterisierungen der Beziehung zum Unendlichen wie phänomenologische Beschreibungen lesen (vgl. etwa GP95–102). 729 Blick dafür, dass die Rückfrage in diesem Text nicht schlussfolgernd geschieht. Da Levinas den Rekurs auf das Begehren des Unendlichen in ihm nur kurz anführt und zudem die Beziehung zur Illeität noch nicht wie in der ausgereiften späteren Form (vgl. dazu unten, S. 526–528) als Verweis der Güte auf den Anderen und auf diese Weise als von der Beziehung zu ihm anarchisch zu differenzierende profiliert hat, bleibt die Artikulation dieser vorausliegenden Ordnung hier jedoch seltsam unbegründet. 727 Vgl. dazu u. zum Folgenden unten, S. 553–558. 728 So interpretiert etwa Rudolf Funk (1989, 422). 729 Dass es Levinas dabei tatsächlich um die Beschreibung eines Phänomens geht, wird etwa deutlich, wenn er sagt, wir »stehen mit der Idee des Unendlichen bei einer

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Worauf stützt sich Levinas dabei aber? Meist erst im Anschluss an diese Beschreibungen weist er auf das, was die in ihnen gefasste Struktur der Beziehung zum Unendlichen »entformalisieren oder konkretisieren« (TU62) kann oder was »die ›Intrige‹ des Sinns [ist], die sich – anders als die der Ver-gegenwärtigung und der Empirie – in der Idee des Unendlichen […] knüpft« (GP102) – die Intrige, verstanden als das konkrete Verstricktsein in ein Beziehungsgeschehen vor aller vergegenwärtigenden Erfahrung von ihm. Es liegt für Levinas in einer »Sehnsucht nach dem Guten« (GP103; vgl. auch TU63). 730 Diese Sehnsucht ereignet sich für ihn zwar konkret in der Beziehung zum Anderen (GP105 u. 109 f. sowie TU63). Zumindest in der späteren Phase seines Denkens macht er jedoch ausdrücklich einen Unterschied zwischen dem Begehren der Güte des Guten und dem Begehren des nicht begehrenswerten Anderen, d. h. der Beziehung, die das Ich immer etwas kostet, die immer ein schmerzliches Wider-Willen darstellt 731, in der aber für Levinas allein das Begehren davor bewahrt ist, sich in sich selbst zu gefallen (GP103–105), in der es allein auf wirklich selbstlose Güte hin ausgerichtet sein kann. »Die Güte des Guten biegt die von ihr gerufene Bewegung ab, um sie vom Guten wegzudrängen und auf den Andern und so einzig auf das Gute hin auszurichten.« (GP106) In der Beziehung zur Güte und in der »Umkehrung« oder »Ungeradheit«, im Verweis der Güte an den Anderen, den Levinas »Illeität« nennt (GP106), findet sich das – freilich vorphänomenale – ›Phänomen‹, das eine Beziehung zum Unendlichen in ihrer Unterschiedenheit von der Beziehung zum Anderen naheAusnahme von der geltenden Phänomenologie des Denkens« (ÜI39). Dass es sich bei der Beziehung zum Unendlichen in der Idee des Unendlichen um ein eigenes Phänomen für ihn handelt, wird deutlich, wenn er eine Analyse dieser Transzendenzrelation ausgehend von der Beziehung zum Anderen als eine mögliche »weitergehende phänomenologische Deutung« (ÜI40) bezeichnet. 730 Vgl. auch MG79: »Die Beziehung zum Unendlichen ist kein Wissen, sondern eine Nähe, die die Unvergleichlichkeit des Unumfaßbaren, das uns berührt, aber nicht aufhebt. Sie ist Sehnsucht«. Vgl. auch PI201: »Ein Denken, das mehr denkt, als es denkt, ist Begehren. Das Begehren ›ermißt‹ die Unendlichkeit des Unendlichen.« In der Folge rekurriert Levinas dann für die Beziehung zum Unendlichen ganz entsprechend der Beziehung zum Anderen auch auf das Phänomen der »Scham, die die Freiheit über sich empfindet« (PI204). Levinas sagt zwar einerseits, dieser »Zugang zum Jenseits des Denkens« (RP239) »geschieht im Gefühl« (RP2392 ). Es handelt sich dabei aber nicht um ein »Aufgehen in Gott in einer inneren Emotion« (TU306), nicht um ein Gefühl in der Immanenzstruktur des Bedürfnisses, sondern um eines, »dessen grundlegende Spannung das Begehren ist« (RP2392 ). 731 Vgl. unten, S. 747–749. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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legt. Neben der Beziehung zur Güte oder zum Guten kann Levinas auch von der »Forderung nach Heiligkeit« (EU80) sprechen, die mich niemals in einem guten Gewissen beruhigt sein lässt und so unendlich über mich hinaustreibt. Das vom Begehren des Anderen unterschiedene eigene Begehren der Güte ist das, was für ihn bei Descartes letztlich ausgelegt wird und auf das er sich stützt in seinen an Descartes anknüpfenden Beschreibungen der Beziehung zum Unendlichen. Wie weit reicht die Bezugnahme auf Descartes? Einen Ansatz dazu, die Beziehung zum Unendlichen das Denken überschreiten zu lassen, sieht Levinas schon bei Descartes selbst gegeben (TU305 f.). Auch deutet sich für ihn in dessen Beschreibungen dieser Beziehung die Ebene des Affektiven an. 732 Da Descartes seiner Ansicht nach diese Momente jedoch nicht positiv aufgreift, nicht genauer die Frage nach der Art des Verhältnisses zum Unendlichen stellt und es letztlich, indem er in einem Gottesbeweis argumentativ auf das Unendliche führt, doch dabei belässt, die Beziehung zu ihm nach der Struktur der Erkenntnis zu verstehen, sieht sich Levinas mit seinem Ansatz am Begehren an einem »Punkt, an dem wir uns vom wörtlich verstandenen Cartesianismus trennen« (PI201). 733 Und doch kann er Descartes’ Argumentation in gewandelter Form für seine Phänomenbeschreibung übernehmen. Levinas bezieht sich positiv auf den Grundgedanken der dritten Meditation, dass das Subjekt die Idee des Vollkommenen, die sich in ihm findet und die es dafür voraussetzt, sich selbst als zweifelndes und suchendes und damit unvollkommenes zu erkennen, gerade aufgrund dieser endlichen Unvollkommenheit im Unterschied zu allen anderen Ideen nicht aus sich selbst haben kann, sie also von einem Wesen, in dem diese Vollkommenheit gegeben ist, empfangen haben muss. 734 »Das cartesische Subjekt gibt sich 732 Vgl. ÜI40: »Affektion wie Gottesliebe und Gottesfurcht oder Anbetung und Blendung, die Descartes im letzten Absatz seiner dritten ›Metaphysischen Meditation‹ erwähnt.« 733 Stimmt man Levinas zu, dass Descartes das Verhältnis als Erkennen bestimmt, dann leuchtet m. E. seine Kritik ein, dass bei Descartes entgegen dem eigentlichen Resultat des Gedankengangs doch das Cogito »die Existenz Gottes begründet« (PI201) (gegen Schwind, 2000, 219 f.). Levinas’ Kritik in diesem Punkt führt jedoch nicht zu einer Ablehnung der transzendentalen Analyse von Descartes überhaupt (gegen Schwind, 2000, 217), sondern nur zu einer Überwindung der Immanenz des Denkens. Er greift sie, wie im Folgenden verdeutlicht, vielmehr positiv auf für seine Form einer transzendentalphänomenologischen Erschließung von absoluter Transzendenz. 734 Vgl. hierzu u. zum Folgenden TU304–306. Der Gedankengang findet sich bei Des-

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einen Standpunkt außerhalb seiner selbst, von dem aus es sich erfassen kann.« (TU304) Die Idee des Vollkommenen ist zum einen Bedingung für die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit, zum anderen – zumindest in der Rezeption von Levinas und entsprechend seinem Rückgang auf die Ebene des Begehrens – auch die Bedingung dafür, dass die Existenz überhaupt ihre unvollkommene Erkenntnis als Mangel empfindet und nach Gewissheit strebt. »Der Zweifel läßt sie die Gewissheit suchen. Aber diese Ahnung, dieses Bewußtsein des Zweifels, setzt die Idee des Vollkommenen voraus.« (TU118 f.) Wenn Levinas hier von der »Idee des Vollkommenen« spricht 735 – sonst verwendet er fast ausschließlich den Ausdruck ›Idee des Unendlichen‹ –, zeigt dies, dass er sie von Descartes durchaus mit der Konnotation der Vollkommenheit übernimmt. Die Vollkommenheit ist der eigentliche Aufhängepunkt von Descartes’ Argumentation und in ihr liegt die Entsprechung zu dem, worauf sich Levinas’ Phänomenbeschreibung bezieht. Es ist die ›Erfahrung‹, von einer reinen Güte – also einer ethischen Vollkommenheit, wie sie dann auch konkret vom Anderen her entgegenkommt – betroffen und deshalb zu einer Sehnsucht nach ihr geweckt worden zu sein, und zwar von einer Vollkommenheit, die es selbst mit sich bringt, dass das Ich sie nicht

cartes in der dritten seiner meditationes de prima philosophia. Er überprüft dort die Ideen, die sich in seinem Geist finden, daraufhin, ob sie auf ihn selbst als Urheber zurückgehen können. Er kann dies bei allen bejahen außer bei der Idee Gottes. Diese kann er nicht ausgehend von der Idee, die er von sich selbst besitzt, gebildet haben. Denn die Selbsterkenntnis als endliches, geistiges Seiendes ist schon abhängig von der Idee des Unendlichen, sodass »der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d. i. der Gottes dem meiner selbst gewissermaßen vorhergeht. Wie sollte ich sonst auch begreifen können, daß ich zweifle, daß ich etwas wünsche, d. i. daß mir etwas mangelt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn gar keine Vorstellung von einem vollkommeneren Wesen in mir wäre, womit ich mich vergleiche und so meine Mängel erkenne?« (III. Meditation, Absatz 24 [1992, 83]) Auf diese Weise ist die Idee des Unendlichen unmittelbar mit der Idee von mir selbst verknüpft und darin gegenwärtig, bringt aber zugleich die Einsicht mit sich, dass ich sie nicht aus mir selbst haben kann, und damit den Hinweis auf ihre Transzendenz (vgl. dazu auch in der III. Meditation den Absatz 38 [1992, 95]). 735 Neben TU118 f. vgl. etwa PI203 f. Von daher scheint mir die Interpretation von Jean Greisch, welche die Bezugnahme von Levinas auf die Idee des Unendlichen von einer Bezugnahme auf die traditionelle Bestimmung Gottes als ens perfectissimum abgrenzt (2013, 44), als nicht adäquat. Solange Vollkommenheit nicht als eine innerhalb einer Totalität des Denkens oder Seins verstandene Qualität gedeutet und solange sie rein von der ethischen Beziehung und nicht getrennt von ihr entwickelt wird, spielt sie in Levinas’ Annäherung an den Gottesbegriff eine zentrale Rolle. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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aus sich haben kann und sie somit einer Begegnung mit etwas zu ihm Exteriorem entsprungen sein muss. Indem sich für Levinas Descartes auf etwas tatsächlich phänomenologisch Greifbares stützt, kann er seine Phänomenbeschreibungen an ihn anknüpfen lassen. Descartes’ Erschließung des Unendlichen als Bedingung für das Selbstverstehen des Endlichen lässt sich als transzendentales Argument interpretieren. Es wurde bereits herausgearbeitet, dass Levinas selbst transzendental vorgehen kann, solange sich die Erschließung von Bedingungszusammenhängen auf phänomenal Aufgewiesenes stützt und als etwas Anarchisches und letztlich Ambivalentes verstanden wird. Insoweit sich also die descartessche Analyse als Beschreibung des von Levinas in den Blick genommenen Phänomens lesen lässt und insoweit sie die Bedingungsstruktur dieses Phänomens adäquat transzendental erhellt, kann Levinas sie in sein Denken integrieren und ihr ein Rechtfertigungspotential zugestehen. Wie genau hierbei eine Rechtfertigung stattfindet und wie sie sich von einem Gottesbeweis unterscheidet, gilt es im folgenden Kapitel noch zu klären. Zur transzendentalen Struktur bei Descartes gehört die Abhängigkeitsbeziehung zwischen Endlichem und Unendlichem. Levinas bezieht sich ausdrücklich positiv auf die cartesische Unterscheidung zwischen dem Verstehen der eigenen Endlichkeit und der ihm vorgängigen Idee des Unendlichen. 736 In der ›Erfahrung‹, dass die Güte 736 Vgl. TU282: »Wenn wir auf den cartesischen Gedanken des Unendlichen zurückkommen – auf die ›Idee des Unendlichen‹, die dem getrennten Seienden durch das Unendliche eingelegt ist –, so halten wir daran die Positivität fest, den Umstand, daß das Unendliche allem endlichen Denken und jedem Gedanken des Endlichen vorausgeht, daß es Exteriorität im Verhältnis zum Endlichen ist.« Vgl. auch noch den sehr späten Text in ÜI38: »Unabhängig davon [von der Frage nach dem Sein oder NichtSein Gottes, um die es Descartes gegangen sei] steht für uns die Frage: wie kann diese Idee des Unendlichen in einem endlichen Denken Platz und Halt haben? Wie es auch mit dem Beweis vom Dasein Gottes sein mag, […] die Kontraktion des Unendlichen im endlichen Denken – bezeichnet ein Ereignis, welches eher zum Sinn des Göttlichen gehört als zur Beschreibung einer innerweltlichen Gegebenheit«. In diesem Text scheint es Levinas nicht nur um die Endlichkeit des Selbst zu gehen, sondern auch um die des Anderen. Dass der Bezug auf die absolute Heiligkeit des Unendlichen nicht eine bloß »innerweltliche […] Gegebenheit« ausmacht, drückt wohl ebenso aus, dass für Levinas das exteriore Unendliche nicht allein der Andere sein kann. Es ist m. E. zu bemängeln, dass Levinas die Frage, ob dies nicht evtl. doch möglich sein könnte, zu wenig ausdrücklich erwogen hat. Es ist zwar nachvollziehbar, phänomenologisch zunächst einmal einen Unterschied zu sehen zwischen dem Bezug auf die Heiligkeit des Anderen und dem Bezug auf die Heiligkeit selbst, als welchen Levinas die Beziehung zum Unendlichen fasst. Müsste jedoch das Phänomen des Bezuges auf die Heiligkeit

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von sich aus auf ihre Exterorität verweist, spielt für ihn das Phänomen der eigenen Endlichkeit durchaus eine Rolle. Da sich sein Verständnis der Endlichkeit und ihres Verhältnisses zum Unendlichen gegen verschiedene andere Konzepte abgrenzt, ist es wichtig aufzuschlüsseln, wie es bei ihm genau zu interpretieren ist. Zum einen wendet er sich gegen eine Füllung des Begriffs der Endlichkeit völlig losgelöst von einem Bezug zum Unendlichen, etwa nur durch die Beschränkungen in der Sinnlichkeit oder in der Sterblichkeit, wie er sie bei Heidegger (vorbereitet durch Husserl), aber auch schon bei Kant wahrnimmt. 737 Das Festhalten am Begriff des Unendlichen bedeutet aber zum anderen keinen Rückschritt hinter Husserls »Idealismus ohne Vernunft« oder ohne die »Idee des Unendlichen« (PT86) zum System einer Seins- oder Vernunfttotalität wie etwa bei Hegel. 738 Das cartesische Unendliche greift Levinas zwar als etwas auf, das einem Universalen ähnlich ist – Güte bedeutet für das Unendliche nicht etwas Anderes als für den Menschen und sie soll sich in ihm ereignen, ja ereignet sich schon in ihm. Und doch ist sie ein Maß in der Form eines dem Menschen immer uneinholbaren und auch jede Vernunfttotalität transzendierenden Maßes, in der Form, »dass es Exteriorität im Verhältnis zum Endlichen ist«, und dadurch »die Mögselbst nicht genauer daraufhin hinterfragt werden, ob ihm evtl. nicht nur das Erleben der Heiligkeit des Anderen zugrunde liegt und ob es auf eine Art Hypostasierung zurückgeht, sich dabei auf eine reine Vollkommenheit bezogen zu sehen? Levinas behauptet freilich auch nicht, dass die Beschreibung eines solchen Bezuges auf eine reine Vollkommenheit von allen geteilt werden muss und dass sie ohne eine Art Glauben auskommt (vgl. unten, S. 541–544). 737 Zu Heidegger vgl. v. a. PI193; zu Kant TU281. »Die kantische Endlichkeit hat ihre positive Beschreibung in der Sinnlichkeit, wie die heideggersche Endlichkeit im Sein zum Tode.« (TU281) Beide können auf diese Weise die Endlichkeit ohne einen Bezug auf ein Unendliches bestimmen. Dass Heidegger so verfahren kann, ist für Levinas schon in dem allgemeinen Grundzug der husserlschen Phänomenologie ermöglicht, das, woran gewöhnlich die Endlichkeit des Menschen festgemacht wird, etwa die scheinbaren Mängel der immer auf unklare Gefühle angewiesenen und der Zeit unterworfenen Erkenntnis, einfach zu beschreiben, ohne es von einem über das Gegebene hinaus liegenden Ideal her als Endliches, Unvollkommenes usw. beurteilen zu müssen (BE56 f. u. 59–61). Auf diese Weise habe Husserl mit seiner Phänomenologie einen »Idealismus ohne Vernunft«, ohne »Bezug auf die Idee des Vollkommenen« (BE62) ermöglicht, den Levinas auch ausdrücklich in Entgegensetzung zu Descartes interpretiert (BE62–64). 738 In TU281 f. bezieht sich Levinas zwar insofern positiv auf Hegel, als er wie Descartes »an der Positivität des Unendlichen festhält«, kritisiert ihn aber dahingehend, dass er dieses Unendliche als rein gegensatzlose Einheit denkt, die alle getrennte Existenz in sich einverleibt und somit den Charakter des Es-gibt bekommt. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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lichkeit zum getrennten Seienden« offenhält (TU282). Die Güte ereignet sich für Levinas in der Beziehung zum Anderen und ist somit wesentlich etwas, bei dem das Ich nicht in einer Vollkommenheit ankommen kann. Sie ist ein unerreichbares Ziel – freilich in einer Weise, dass es dem Menschen in seinem Streben entsprechend der Struktur des Begehrens von vornherein nicht darum geht, es zu erreichen. Mit dieser Verhältnisbestimmung ist es für Levinas möglich, »den Sinn des Endlichen zu verstehen, ohne daß seine Begrenztheit inmitten des Unendlichen einen unverständlichen Verfall des Unendlichen forderte, ohne daß die Endlichkeit in einem Heimweh nach dem Unendlichen, in einer Sehnsucht nach Rückkehr bestünde« (TU422). Es steht auf diese Weise nicht in der Beziehung einer Teleologie und nicht in einer Teilhabe an einem Universalen, dem es gleich werden soll oder mit dem es sich sogar verschmelzen soll. Und doch ist diese Beziehung Begehren des Vollkommenen und liegt in dieser Ausrichtung auf die je größere Güte für Levinas eine Beziehung zu einem Unendlichen, das von einem »›unendlich Mehr‹« und einer »makellosen Fülle« (TU422) gekennzeichnet ist. Man darf es vermutlich nicht so verstehen, dass dieser Unterschied für Levinas die Exteriorität des Unendlichen selbst konstituiert – handelt es sich ja um eine personale Exteriorität, die in nichts Qualitativem besteht –, sondern dass dies nur die Weise ist, wie sie uns betrifft. Gegenüber der »makellosen Fülle« erlebt sich das Endliche als begrenzt in seiner Güte; es ist ihm gegenüber ein »Weniger«, wenn auch eben nicht »ein einfaches ›Weniger‹« (TU422) 739, indem das Verbleiben in der Annäherungsbewegung und in der Differenz für Levinas einen erkennbaren Sinn besitzt. Von hierher ergibt sich eine andere Einschätzung in Bezug auf die verschiedenen Gestalten der Beschränktheit des Endlichen: »[S]ie verbürgen das eigentliche Überfließen des Unendlichen« (TU422). Mit »Überfließen« ist die Uneinholbarkeit gemeint: Alles, was mir vom Unendlichen fassbar wird, ist zugleich immer überspült von seiner Transzendenz. 740 Die Beschränkung auf ein SubWenn Levinas es so formuliert, dass das Endliche nicht »ein einfaches ›Weniger‹« (TU422) ist, dann bedeutet dies, dass es für ihn durchaus ein ›Weniger‹ darstellt, gleichwohl eben nicht nur. Ähnlich sagt er andernorts, dass das Endliche nicht »schlicht und einfach als Minderung« und nicht als »ein schlichter ›Abfall‹ vom Unendlichen« (TU147) verstanden werden darf – also auch nicht einfach ohne Unterscheidung und eine gewisse Minderung. 740 Vgl. für die Rede vom Überfließen allgemein TU280 und speziell auf die Nahrung bezogen TU181. 739

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jekt, das nicht das Andere ist, die Pluralität und die absolute Freiheit, in der das einzelne Subjekt als besonderes besteht und getrennt ist vom Anderen, sind nicht Mangel, sondern sind Bedingung für die Güte. 741 Dass das Subjekt nicht in einer sozusagen beruhigten Güte ankommt und dass es von daher zeitlich ist, bekommt bei Levinas eine Bedeutung als der Transzendenz des Anderen ›adäquate‹ Form der Beziehung. 742 Auch die Passivität, und die Unmöglichkeit einer vollständigen Einholung des Seins ins Wissen 743, die man gewöhnlich als Zeichen »der Endlichkeit im pejorativen oder tragischen Sinne des Wortes behandelt«, bekommen einen positiven Sinn (JS208). Dass sich das Subjekt überhaupt als abhängig in seinem Sein erlebt, ist für Levinas bedeutsam, indem es so über das eigene Grundsein hinaus bezogen ist und indem sich auf diese Weise die anarchische Infragestellung ereignen kann. 744 Diese positive Grundbestimmung des 741 Vgl. TU422: Wenn die Güte Begehren ist, »versteht man, daß das Ereignis des Unendlichen die Trennung, das Ereignis der absoluten Willkür des Ich oder des Ursprungs verlangt«. In TU421 f. macht Levinas darauf aufmerksam, wie er sich dadurch gegen eine Position stellen muss, für welche »die Mannigfaltigkeit ein Verfall des Einen oder des Unendlichen [ist], eine Minderung im Sein, die jedes der mannigfaltigen Seienden zu überwinden hätte, um vom Mannigfaltigen zum Einen, vom Endlichen zum Unendlichen zurückzukehren«. 742 Vgl. JS208 über die Nähe: »Ist sie nicht in ihrer Beunruhigung und ihrer Verausgabung und ihrer Diachronie besser als jede Ruhe, als alle Fülle des angehaltenen Augenblicks?« Vgl. auch in ZA9 Levinas’ Aussage, dass er »die Zeit nicht als eine Abwertung der Ewigkeit« denken möchte. In SV91 fragt er, »ob die Nicht-Ruhe, die Beunruhigung, die Frage und ob folglich die Suche und das Begehren, geringgeschätzt unter den positiven Werten, eine bloße Minderung der Ruhe, der Antwort und des Besitzes sind«. Vgl. dazu auch HuJ99. Vgl. ebenso in MT63 f. die Würdigung der Position von Rabbi Schmuel: Er habe »ein Gespür für das permanente Bemühen um Erneuerung, das dieses geistige Leben verlangt«, und für ihn »artikulieren die menschliche Verfassung, ihre Grenzen und ihr Verlauf das Leben des Geistes selbst«. Levinas würdigt hier freilich zugleich die Gegenposition, die ein »quasi göttliches Leben« für den Menschen in den Blick nimmt, »das von den Einschränkungen der menschlichen Verfassung befreit ist« (MT64). Dies ist ihm dadurch möglich, dass für ihn der Mensch auf eine eschatologische Existenz ausgerichtet ist, in welcher er zumindest von den negativen Einschränkungen befreit wird (vgl. dazu unten S. 569– 584, bes. S. 581 f. u. Anm. 856). 743 Vgl. dazu auch schon TU320: »Die Unmöglichkeit der vollständigen Reflexion darf nicht negativ verstanden werden als die Endlichkeit eines erkennenden Subjekts, das, sterblich und schon eh und je in der Welt engagiert, keinen Zutritt zur Wahrheit hat; sie muß vielmehr gesehen werden als der Überschuß der sozialen Beziehung«. 744 Vgl. etwa TU117: »Das Wissen als Kritik, als Rückgang hinter die Freiheit – kann nur bei einem Seienden auftauchen, dessen Ursprung jenseits seines Ursprungs liegt – bei einem geschaffenen Seienden.«

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Endlichen wird sich noch als entscheidend wichtig erweisen für das Verständnis der religiösen Bedeutung des Leibes, an dem sich die Bedingtheit und Endlichkeit des Menschen festmachen lässt. 745 Für verschiedene Momente der leiblichen Existenz, die man zunächst als Formen von Beschränktheit ansehen würde, wie die Abhängigkeit von Nahrung oder die Sterblichkeit, beschreibt Levinas eine positive Bedeutung innerhalb der ethischen Beziehung. 746 Wenn er sagt, dass das Ereignis des Unendlichen die Trennung und die zu ihr gehörenden verschiedenen Momente der Endlichkeit »verlangt« (TU422), dann ist dies freilich von seiner Methode her nicht als Ableitung zu verstehen. 747 Auch werden dadurch nicht einfach alle Formen der Beschränkung des Endlichen als erforderlich ausgewiesen. Und es wird für Levinas deshalb nicht ausgeschlossen, dass es zumindest in Bereichen zu einer Entgrenzung des Menschen kommen kann. Dass für Levinas die Beschränkungen in einem gewissen Maß überwunden werden können, besonders die selbstbezogenen Aspekte der Trennung, wird an seinen noch genauer zu betrachtenden Überlegungen zu einer »messianische[n] Zeit«, einer »glücklichen Ewigkeit« nach dem Tod, deutlich. 748 Wenn Levinas zeigt, wie sich die Güte des Unendlichen in den endlichen Strukturen ereignet, wie diese dafür erforderlich sind und wie ihnen somit ein Sinn zukommt, so bleibt dies ein »Sinn des Endlichen« (TU422). Es sind für ihn dennoch Strukturen der Endlichkeit, in einer Unterscheidung zum Unendlichen. Der Sinnaufweis hindert Levinas nicht daran, das Unendliche noch einmal unterschieden sein zu lassen von dem, wie sich Güte im Endlichen ereignet, und es als Vollkommenheit der Güte zu verstehen. Levinas lässt jede Endliches und Unendliches übergreifende Totalität hinter sich. Die Unterscheidung erfolgt nicht innerhalb eines gemeinsamen Seins. Es gibt nicht ein gemeinsames Maß für Endliches und Unendliches. Entsprechend geht er auch nicht so vor, dass er das Unendliche einfach als das beschreibt, was von den Begrenzungen des Endlichen frei ist, oder genauer: Es wird nicht alles, was als Beschränktheit angesehen werden könnte, etwa die Beschränkung als ein Subjekt im Gegenüber zu Anderen oder die Beschränkung des Nichtwissens, als eine Beschrän745 746 747 748

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Vgl. dazu bes. unten, S. 675–689. Vgl. dazu unten, S. 735–765. Vgl. unten, S. 610 f. Vgl. dazu unten, S. 569–584.

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kung im Vergleich mit dem Unendlichen, als eine, die diesem nicht zukommt, bestimmt. Levinas ist sogar, wie im übernächsten Kapitel genauer behandelt wird, zurückhaltend, das Unendliche im Gegenüber zur Seinsabhängigkeit des Endlichen als einen in seinem Sein unabhängigen Schöpfer zu bestimmen. Was wirkliche Beschränkung des Endlichen ist, bestimmt sich vom Unendlichen her und für dieses hält sich Levinas allein an das, was sich phänomenologisch für ihn als mögliche Bestimmung des Wortes ›Gott‹ ergibt. Zunächst einmal ist dies das Erleben einer völlig unbeschränkten und von uns immer nur annäherbaren ethischen Vollkommenheit. Neben der Unendlichkeit oder Vollkommenheit der Güte findet sich bei Levinas als weiterer phänomenologisch aufweisbarer Gehalt für den Gottesbegriff die Ewigkeit. Die Rede von der Ewigkeit des Unendlichen kann in Totalität und Unendlichkeit zwar zunächst einmal auch so interpretiert werden, dass Levinas durch den »Abstand zwischen der Ewigkeit und der Zeit« (TU424) lediglich die völlige Transzendenz des Unendlichen ausdrücken und kein eigenes Verständnis von Ewigkeit artikulieren möchte. 749 Es finden sich aber auch Texte, in denen er die Ewigkeit des Unendlichen phänomenologisch als eine eigene Weise der Zeitlichkeit – wenn auch mit aller Vorsicht – in den Blick nimmt. Er fragt nach der Dimension, die den diachronen Übergang zur Zeit des Anderen, der jedes eigene Sein und Vermögen übersteigen muss, ermöglicht (SpA217), nach einer der diachronen Vergangenheit des Anderen nochmals vorausliegenden »absolute[n] Vergangenheit, die alle Zeiten eint« (SpA234). 750 Wenn er das, was er hier als etwas anspricht, in dem »sich die Ewigkeit abzeichnet« (SpA234), zugleich mit dem Phänomen der Unabänderlichkeit der Vergangenheit und der Unumkehrbarkeit der Zeit in Zusammenhang bringt (SpA229), dann wird deutlich, dass er Ewigkeit als ein Enthobensein über das Vergehen versteht. Unklar ist, ob er sie als eine völlige Zeitlosigkeit denkt. Zumindest ergibt sich für ihn nicht ein Begriff von Ewigkeit ausgehend von der sich scheinbar ganz gegenüber der Zeit haltenden transzendentalen Apperzeption oder ausgehend von der Idee eines darin liegenden autonomen Einbezo-

749 Der ganze Satz lautet: »Nichts vermag Totalität und Trennung besser zu unterscheiden, als der Abstand zwischen der Ewigkeit und der Zeit.« Die Stelle ist zudem zweideutig. In ihr könnte evtl. auch die Idee einer Ewigkeit generell einem Denken der Totalität zugeordnet werden. 750 Vgl. auch DB35 u. 58.

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genseins in eine zeitlose Vernunft, wie dies etwa bei Fichte geschieht. 751 Dagegen wendet er sich ausdrücklich. Er meint wohl sogar überhaupt keine in irgendeiner Weise von uns einholbare oder lebbare Ewigkeit. Was sich im Verwiesensein auf die absolute Vergangenheit ergibt, ist für ihn eher ein Sich-offen-Halten für eine noch einmal ganz andere Zeitlichkeit des Unendlichen. Neben der Frage nach einer Einheit der diachronen Zeit kann man phänomenologische Hinweise auf die Zeitenthobenheit Gottes bei Levinas eventuell auch darin sehen – wenngleich er dies nicht selbst ausdrücklich in die Richtung des Ewigkeitsbegriffs auslegt –, dass sich für ihn das Subjekt unabhängig davon, ob es sterben oder nach dem Tod weiterleben wird, in »eine sinnvolle Ordnung« (TU346) aufgenommen wissen kann. Ebenfalls scheint es über die Vergänglichkeit hinauszuweisen, wenn für Levinas die Verantwortlichkeit und die Schuld gegenüber dem Anderen nicht aufgehoben werden kann, weder durch den eigenen noch den Tod des Anderen. 752 Die von ihm ausdrücklich als eine Art Ewigkeit in den Blick genommene mögliche postmortale »messianische Zeit, in der das Fortwährende sich in Ewiges verwandelt« 751 Gegen eine Idee der Zeitlosigkeit ausgehend von der transzendentalen Apperzeption der Vorstellung wendet sich Levinas in IE168 f. (vgl. dazu auch oben, S. 336–338). Auf das Konzept einer von der abstrakten Autonomie her gedachten zeitlosen Vernunft, in der wir alle gleich und eins sind, und von daher auf eine Ewigkeit in diesem Sinne einer »abstrakten Ewigkeit« (TU245) bezieht sich Levinas negativ etwa in VE237–239, TU51 u. 176–178. In ZA24 findet sich entsprechend eine Deutung dieser Zeitlosigkeit als ein jede freie Subjektivität ausschließendes Es-gibt. Anders als Fichte muss es Levinas für unmöglich halten, aus einer Zeitlosigkeit der Vernunft, in die das Subjekt als autonomes einbezogen ist, dessen zeitlose Existenz oder auch die Ewigkeit Gottes zu erschließen. Darüber hinaus folgt für ihn aus der Analyse der leiblichen Bedürftigkeit positiv der Ausschluss einer Zeitlosigkeit im Subjekt (vgl. dazu unten, S. 633 f. u. 657 f.). 752 Vgl. JS239 f. : Entgegen der scheinbaren Hoffnung, durch den Tod »die Weite des 10 Nichtseins zu gewinnen«, ist die Verantwortlichkeit »ohne Möglichkeit der Ausflucht, des Entkommens; das heißt eine Verantwortung, die stärker ist als der Tod«. Von daher ergibt sich für Levinas zum einen in Bezug auf den Anderen das Phänomen der Beharrlichkeit seines Blicks auch über seinen Tod hinaus: Er »sieht mich an wie das Auge, das im Grab Kain ansieht« (TU340). Zum anderen kann Levinas von daher in Bezug auf das Ich sagen: »Das Grab ist kein Ort der Zuflucht – es ist keine Vergebung. Die Schuld bleibt.« (GP11225 ) Es liegt darin für Levinas »keineswegs irgendein Versprechen von Auferstehung, aber eine Verpflichtung, die auch der Tod nicht tilgt« (DV160). Wenngleich sich für ihn aus diesem Phänomen keine Perspektive auf ein Nach-dem-Tod ergibt (vgl. dazu auch unten, Anm. 835), so deutet sich hier m. E. dennoch eine Unabhängigkeit vom Vergehen und in diesem Sinn eine Dimension des Ewigen an.

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(TU416) und die, wie noch genauer betrachtet werden wird, als eine Art diachrone Zeit verstanden werden muss 753, lässt sich nicht im Sinne einer phänomenologischen Perspektive auf die Ewigkeit Gottes verstehen, da sie eine Existenzform des Endlichen betrifft, von der Levinas das Unendliche gerade abheben möchte. 754 Die Suche nach dem eigentlichen phänomenologischen Aufhängepunkt der levinasschen Rede von einer Beziehung zum Unendlichen setzte ein mit dem Erfordernis eines Phänomens, das einen Unterschied zur Unendlichkeit des Anderen rechtfertigen kann. Zunächst einmal konnte dieser Unterschied herausgearbeitet werden sozusagen anhand der Qualität des Unendlichen, wie sie im Begehren der Güte aufscheint, nämlich als einer Vollkommenheit im Unterschied zur endlichen Unvollkommenheit. Außerdem ließ er sich als Unterschied zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit bestimmen. Eine andere Art des Unterschiedes entsteht dadurch, wie das Unendliche das Ich aus der Beziehung zu ihm herauslenkt in die Beziehung zum Anderen. In der Illeität, durch den Verweis an den Anderen, steht das Ich mit dem Unendlichen nicht mehr in der Beziehung eines Gegenübers, sondern in einer seitlichen Beziehung. Es ist »dritte Person: Er« (GP107) und nicht ein Du (HuJ97). Seine Transzendenz ist so noch transzendenter als die des Anderen. Gott ist »nicht einfach der ›erste Andere‹ oder der ›Andere schlechthin‹ oder der ›absolut Andere‹ 755, sondern ein Anderer als der Andere, in anderer Weise ein Anderer, ein Anderer, dessen Andersheit der Andersheit des Anderen, der ethischen Nötigung zum Nächsten hin, vorausliegt und der sich von jedem Nächsten unterscheidet, der bis in die Abwesenheit, bis zu seiner möglichen Verwechslung mit dem Hin-und-Her-Treiben des Es gibt transzendiert« (GP108). Neben der anderen und tieferen Weise des Transzendierens wird an diesem Zitat deutlich, wie Levinas auf der Basis dieser Verhältnisbestimmung des Begehrens der Güte und des Begehrens des Anderen dann auf phänomenologische Weise auch die Rede von der Vorgängigkeit der Beziehung zum Unendlichen und Vgl. unten, S. 577–581. Josef Wohlmuth (2005, 69 f.) scheint mir in seiner Levinas-Interpretation zu wenig zwischen der Frage nach der Ewigkeit Gottes und der des Menschen zu unterscheiden. 755 Es ist hier nicht ganz klar, ob Levinas diese Bezeichnungen ablehnt oder nur nicht hinreichend findet. Er könnte sie ablehnen als Ausdrücke, in denen die Anderheit Gottes und des Anderen qualitativ einfach als gleich verstanden oder zumindest in eine Teilhabebeziehung gebracht werden. 753 754

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von deren Bedeutung als Bedingung für die Beziehung zum Anderen rechtfertigen kann. Wie gezeigt wurde, ist dies von fundamentaler Wichtigkeit dafür, ein mögliches Konzept für eine der Autonomie vorgängige Heteronomie entwerfen zu können. Religionsphilosophisch ist die phänomenologische Analyse der Vorgängigkeit des Unendlichen und der Unterschiedenheit im Transzendieren dadurch bedeutsam, als sich aus ihr für Levinas eine Anfrage an die Möglichkeit einer Inkarnation des Unendlichen, wie sie im Christentum geglaubt wird, ergibt. 756 Levinas versteht sie ausdrücklich als eine genuin philosophische und von eigenen religiösen Überzeugungen unabhängige Anfrage (MG74) – freilich auch lediglich als eine Anfrage. Eine Widerlegung folgt daraus für ihn nicht. Das Unendliche ist »in anderer Weise ein Anderer«, aber doch »Anderer«. Trotz der Verwechselbarkeit mit dem Es-gibt nennt Levinas das Unendliche ein Er und nicht ein Es. 757 Die Beziehung wird als eine in irgendeiner Weise personale verstanden. Und zwar ergibt sich für ihn dieser Charakter offenbar nicht erst vom anderen Menschen her, in dem sich das Unendliche konkretisiert. Für Levinas scheint eine Beziehung zu etwas dem Subjekt Exteriorem, das dennoch dieses nicht als eine überpersönliche Totalität beherrscht, per se nur adäquat als »ethische Beziehung« (TU305) verstanden werden zu können. Für ihn hat schon Descartes folgerichtig die Beziehung zur Exteriorität, 756 Vgl. JS352, wo Levinas im Zusammenhang des Verweises des Unendlichen an den Anderen und der darin liegenden noch radikaleren Transzendierung von der »Spur seiner unmöglichen Inkarnation« spricht. Der Zusammenhang wird an dieser Textstelle nicht deutlich benannt, ein nachvollziehbarer Grund für den Zweifel an der Möglichkeit einer Inkarnation scheint mir jedoch nur im Unterschied des Transzendierens zu liegen. Im Aufsatz Menschwerdung Gottes wendet sich Levinas zunächst einmal nur gegen eine Inkarnation im Sinne einer Vergegenwärtigung des Unendlichen in einer welthaften Erscheinung, in einem vom Denken ganz in seine Ordnung Einholbaren (MG77 f.) und als Ersehnliches oder als Ziel Identifizierbaren (MG78 f.), also nicht gegen eine Inkarnation im wirklichen Anderen, der ja diese Ordnung, wie Levinas hier deutlich hervorhebt, immer schon sprengt. Seine Problematisierung des Inkarnationsgedankens scheint sich so erst einmal lediglich auf ein doketisches Modell zu beziehen und so an der eigentlichen christlichen Vorstellung vorbeizugehen. Meines Erachtens muss jedoch auch hier die Idee der Vorgängigkeit und der radikaleren Transzendierung im Hintergrund stehend wahrgenommen werden – Levinas spricht sie ausdrücklich in MG78 f. an – und sie muss als der Grund dafür angesehen werden, dass er den Gedanken der Menschwerdung in einem wirklichen Anderen hier gar nicht in den Blick nimmt. 757 Vgl. auch in SpA235 die klare Abgrenzung: »Die Illeität jenes Ille ist nicht das Es der Sache«.

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die sich in der Idee des Unendlichen gezeigt hat, als eine personale gedeutet (TU305 f.). Descartes führe zwar argumentativ auf das Unendliche, und doch könne es bei ihm keine Beziehung des bloßen Denkens, weder des Schließens noch des Anschauens, sein, da sich das Unendliche gerade als nicht konstituiertes Exteriores erwiesen habe. Was diese Beziehung positiv sei, habe Descartes zwar nicht gefragt, sie jedoch folgerichtig als »Verhältnis zwischen Freiheiten« verstanden. Wenn sie in seinen Texten als »persönliche Beziehung« auftauche, dann dürfe dies nicht verstanden werden »als Stilfigur oder als kluge Ehrerweisung gegenüber der Religion, sondern als Ausdruck des Umstandes, dass sich die Idee des Unendlichen, zu der Descartes durch die Erkenntnis gelangt ist, in Majestät verwandelt, die als Antlitz angesprochen wird« (TU306 f.). Neben der Exteriorität scheint hier für Levinas auch die ethische Höhe (»Majestät«), die in der Idee des Vollkommenen liegt, für diesen Übergang zum personalen Verhältnis zu sprechen. Ganz in Übereinstimmung mit seinem Grundverständnis von personaler Beziehung als Beziehung getrennter Einzelner, aber doch bemerkenswert ist es, wie Levinas hier das Unendliche aufgrund der Personalität ausdrücklich als ein Freies bestimmt. 758 Als ›personale‹ Beziehung zu einem Transzendenten oder Getrennten kann die Relation auf das Unendliche keine Beziehung der Teilhabe sein. Mit der Teilhaberelation hat sie aber zumindest die Ähnlichkeit, dass sie sich für Levinas als meine Verunendlichung vollzieht, oder als Ereignis des Unendlichen in mir. Das Unendliche ist in Beziehung zu mir, indem es mich transzendiert. Und dieses Sichtranszendieren im Verhältnis zu mir bedeutet in mir ein passives Mir-Entzogen-Werden in einer unendlichen Bewegung, bedeutet damit meine Verunendlichung und insofern das Ereignis des Unendlichen. Die Bewegung der Verunendlichung wird von Levinas in Jenseits des Seins besonders durch das Wort gloire – ›Herrlichkeit‹ ausgedrückt. Es wird entsprechend der religiösen Verwendungsweise des Wortes als Übersetzung des hebräischen kavod vor allem für das Ereignis der Transzendenz der Unendlichen (etwa JS44 o. 316), für dessen anarchisches Transzendieren oder dessen »Verunendlichung« (JS210) verwendet. Die traditionell biblische Kavod-Vorstellung wird 758 Vgl. dazu auch die Verbindung, die Levinas in RE21 zwischen dem Ursachesein des Menschen, als welches er die Freiheit und Autonomie begreift, und dem Ursachesein Gottes herstellt.

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dabei zugleich umgedeutet. Die Herrlichkeit ereignet sich für Levinas nicht als lichter Glanz, als Erscheinung Gottes 759, sondern in der Verantwortung für den Anderen als Aus-sich-heraus-gerissen-Werden, als Transzendiertwerden und als Anwachsen der Verantwortung (JS317 u. 324 sowie GP114 f.). Wie Levinas vom Ereignis des Unendlichen spricht, kann teilweise den Eindruck erwecken, dass dieses in die Rolle des Seins gelangt, das sich in den Seienden ereignet. Das Ereignis darf jedoch gerade nicht als Teilhabe verstanden werden. Levinas beschreibt das Verhältnis zur Güte nicht so, dass wir an ihr teilhaben, sondern dass wir auf sie personal bezogen sind. Es konnte gezeigt werden, wie sich die levinasschen Beschreibungen der Beziehung zum Unendlichen aus der Analyse des Begehrens der Güte ergeben und wie er dieses als ein eigenes Phänomen von der Beziehung zum Anderen abheben kann. Dadurch lässt sich die These erhärten, dass Levinas keineswegs die Bezogenheit auf das Unendliche einfach nur ausgehend von der Beziehung zum Anderen beschreibt. 760 So würde sich kein Unterschied zwischen beidem ergeben. In der Beziehung zum Anderen scheint die Beziehung zum Unendlichen als eigene gerade zu verschwinden. 761 In ihrer Eigenständigkeit taucht sie – freilich immer in ambivalenter Weise – vielmehr nur dadurch auf, dass sie von vornherein relativ unabhängig als Begehren des Unendlichen eingeführt und phänomenologisch gerechtfertigt wird. 762 Dieses Begehren der unendlichen Güte »ereig759 Vgl. etwa EU82: »Der Begriff Herrlichkeit gehört nicht zur Sprache der Kontemplation.« 760 In diese Richtung interpretiert auch Branko Klun ausgehend von Levinas’ späten Beschreibungen der Illeität: Aus der »Darstellung von Gott und die Philosophie wird ersichtlich, daß Levinas’ Analysen nun nicht mehr vom Antlitz ausgehen und Gott nicht in einer Analogie zur ethischen Transzendenz des Anderen gedacht wird. Er ›manifestiert‹ sich vielmehr in der ethischen Subjektivität, die dem intentionalen Bewusstsein vorausgeht.« (2013, 224) Meines Erachtens besteht jedoch der Unterschied zur frühen Zeit nicht darin, dass erst jetzt die Transzendenz zum Unendlichen als eine verstanden würde, die in die Tiefe der Subjektivität hinein erfolgt, während sie vorher nur nach außen, zum Anderen hin, gedacht worden wäre – der Andere war für Levinas nie bloß außen –, sondern nur in der deutlicheren Abhebung des dem Begehren des Anderen immer auch vorgängigen Begehrens der Güte. 761 Bernhard Casper (1991, 47) stellt zwar eindringlich heraus, dass für Levinas der Andere ganz als er selbst das Subjekt betrifft und hier gerade kein greifbarer Verweis auf das Unendliche stattfindet. Er geht aber nicht auf die Frage ein, wie sich die Rede von einer eigenen Beziehung zum Unendlichen unabhängig davon rechtfertigen könnte. 762 Von daher erscheint mir die Einschätzung von Klaus Müller, dieses Verhältnis

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net« (TU280) sich zwar in der ethischen Beziehung zum Anderen und betrifft den Menschen von ihr her, ja das Unendliche transzendiert sich nicht gelöst vom Verweis an den Anderen. 763 Deshalb kann Levinas von der »verborgene[n] Geburt der Religion im Anderen« (GP112) sprechen. Deshalb kann er sagen, dass sich die Beziehung zum Unendlichen in der Beziehung zum Anderen »präsentiert« (TU286), dass sie nur von ihr her »vernehmbar« (JS307) und letztlich auch nur in dieser »Inszenierung« verständlich wird (ÜI41). Deshalb muss er die Beschreibung des Begehrens der Güte konkretisieren durch die Beschreibung der Beziehung zum Anderen und sie entsprechend seiner Methode 764 an dieses konkrete sinnliche Ereignis phänomenologisch rückbinden (GP109 f.). In ihm kann er das Begehren der Güte jedoch als etwas Eigenes herausheben und diesem sogar eine Vorgängigkeit zum Betroffensein durch den Anderen zuweisen. Die Eigenständigkeit geht so weit, dass er es zunächst unabhängig von seiner Konkretisierung in einer Fortführung von Descartes Analyse der Idee des Unendlichen beschreiben und erst in einem zweiten Schritt an der Beziehung zum Anderen bewähren kann. 765

2.2.2 Religionsphilosophische Rechtfertigung jenseits eines Gottesbeweises Nachdem betrachtet wurde, inwieweit Levinas den cartesischen Gedanken aufgreifen kann, gilt es nun noch näher zu klären, weshalb er ihn nicht als Gottesbeweis übernimmt, wie er mit ihm aber dennoch eine philosophische Rechtfertigung der Rede von Gott erreichen kann und welchen Rationalitätsstatus diese besitzt. Levinas bringt wiederholt zum Ausdruck, dass er den cartesischen Gedanken nicht als einen Gottesbeweis übernehmen möchte zwischen Anderem und Unendlichem bleibe bei Levinas »weitgehend thetisch« (1997, 17834 ), als nicht haltbar. 763 Zu dieser Bedingtheit des Betroffenseins vom Unendlichen durch den Anderen vgl. oben, S. 460 f. 764 Vgl. dazu oben, S. 358. 765 Vgl. PI198: »Die Erfahrung, die Idee des Unendlichen, bewährt sich im Rahmen der Beziehung zum Anderen«. Levinas geht auch hier so vor, dass er die Beziehung zum Unendlichen nicht von vornherein ausgehend von der Beziehung zum Anderen einführt, sondern sie zunächst von Descartes her – als eine »Erfahrung« –beschreibt und an der Beziehung zum Anderen nur »bewährt«. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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(GP95), und er macht auf verschiedene Probleme aufmerksam, welche die Möglichkeit eines solchen Beweises infrage stellen. Es fällt freilich auf, dass er dabei meistens zurückhaltend ist und nicht behauptet, ein solcher Beweis sei unmöglich. 766 Diese Zurückhaltung passt zu seiner spezifisch phänomenologischen Herangehensweise, welche die Ebene des Beweisens, zu der auch das Urteil einer Unmöglichkeit des Beweises gehören würde, insgesamt infrage stellt. Aufgrund der im Folgenden noch näher zu beschreibenden Probleme nennt er das Beweisen einen »gefährlichen Weg«, den man nicht vorschnell gehen sollte. Und er beschränkt sich deshalb auf die Frage nach einer möglichen Bedeutung des Wortes ›Gott‹ (GP83–85 u. WG13), für deren Klärung kein Gottesbeweis nötig ist. Gefährlich ist für ihn dieser Weg aus denselben Gründen, die oben bereits dargelegt wurden für Levinas’ Kritik einer transzendentalen Methode, die sich auf das Bewusstsein und das autonome und universale Denken beruft. Das dort Ausgeführte kann hier in Bezug auf die Gottesfrage angewendet und konkretisiert werden. Auch der cartesische Gedankengang lässt sich als ein transzendental rückschließender Beweis lesen. Was für den vom Anderen ausgehenden Imperativ schon deutlich gemacht wurde, gilt genauso für die darin liegende »Forderung nach Heiligkeit« (EU80), die das Begehren der Güte weckt: Zu ihr muss hinter die Sphäre des Objektivierbaren und hinter die Einheit der transzendentalen Apperzeption zurückgegangen werden. Deshalb ist keine objektive Gewissheit möglich (TU25 u. JS323), wenngleich für Levinas die Begegnung mit der Güte – ähnlich wie dies für die Beziehung zum Anderen herausgearbeitet wurde – mit einer spezifischen, in einem unausweichlichen Gefordertsein liegenden Evidenz jenseits sowohl der Gewissheit als auch der Ungewissheit

766 In GP95 übt Levinas nur vorsichtig Kritik daran, dass Descartes Gott als Seiendes denkt und in einer substantialistischen Sprache artikuliert, und er bemerkt lediglich, dass es nicht sein Gottesbeweis ist, was ihn interessiert, ohne die Unmöglichkeit eines solchen Beweises zu behaupten. In TU60 sagt er nur, dass er sich dem Beweis nicht anschließt, die Kritik fällt aber sehr zurückhaltend aus: Es sei »vielleicht nicht sehr sinnvoll, eine Existenz dadurch zu beweisen, dass man eine Situation beschreibt, die dem Beweis und den Problemen der Existenz vorausgeht«. In TU442 wird Levinas etwas deutlicher: »Auf diese Weise wird nicht Gott bewiesen; denn es handelt sich um eine Situation, die dem Beweis vorausgeht«. In JS210 wird das Beweisen lediglich als »gefährlicher Weg« bezeichnet, den man nicht »voreilig« betreten sollte. In JS45 findet sich jedoch auch die Aussage, dass man das Unendliche aus dem sittlichen »Gebot nicht ableiten kann«.

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und des bloßen Meinens einhergeht. 767 Dabei kommt dem Fehlen der Gewissheit eine positive Bedeutung im Beziehungsgeschehen mit dem Unendlichen zu. Der entsprechende Glaube »ist nicht der schwächliche Glaube, wie er nach dem Tode Gottes übrig bleibt, sondern der Urmodus der Anwesenheit Gottes, der Urmodus der Kommunikation. Kommunikation bedeutet nicht die Anwesenheit des Ich bei sich in der Gewissheit, d. h. einen ununterbrochenen Aufenthalt im Selben, sondern das Risiko, die Gefahr der Transzendenz. Gefährlich leben bedeutet nicht Verzweiflung, sondern die positive Großzügigkeit der Ungewissheit.« (MT76) »[D]as Verlangen, letzte Gewissheit zu haben« bedeutet eine Verhaftung an ein falsches »Interessiertsein« (JS212). Dem ethischen Begehren sowie dem davon zu unterscheidenden Begehren der Güte zu vertrauen, ist für Levinas etwas, worauf man sich – zumindest auf einer sekundären Ebene – einlassen kann oder nicht. Wie seine Texte zeigen, geht er dieses »schöne Wagnis« (JS368) ein. Seine phänomenologische Analyse beansprucht jedoch nur die Möglichkeit der Bedeutsamkeit einer solchen Beziehung zum Unendlichen aufzuweisen, unabhängig davon, ob man sich in dieser Beziehung sieht oder nicht; ja sie zeigt sogar, wie die Entscheidung zum Atheismus ebenso gerechtfertigt sein kann. 768 Für ihn ist es offenbar noch ungewisser und stellt ein größeres Wagnis dar, von einer wirklichen Beziehung zum Unendlichen auszugehen als von der Beziehung zum Anderen, der das Ich anders als das Unendliche neben seinem Sichentziehen in voller Konkretheit betrifft. Wenn Levinas in seinen philosophischen Texten von dieser 767 Vgl. JS323 zur »Verstrickung« der Illeität, die sich »nicht in Begriffen von Gewissheit und Ungewissheit zur Sprache bringen läßt« (JS323). In GP84–86 wendet sich Levinas gegen das Verständnis der besonderen Form von Rationalität oder »Rationalismus der Transzendenz« als einer Hinterweltungewissheit oder eines bloßen Meinens. Es gehe nicht um »bloße Ansichten ohne Notwendigkeit« oder »bloße Wortspiele« (GP121). Hier spricht Levinas sogar von einer »Intelligibilität der Transzendenz«. Zu dieser besonderen Form von ›Evidenz‹ jenseits der objektiven Gewissheit vgl. oben, S. 396–400. 768 Vgl. WG13: Es gehe ihm nur um »eine Untersuchung über die Möglichkeit […], das Wort Gott als ein Wort zu verstehen, das bedeutet. Diese Untersuchung wird unabhängig vom Problem der Existenz oder der Nicht-Existenz Gottes durchgeführt, unabhängig von der Entscheidung, die angesichts dieser Alternative getroffen werden könnte«. Levinas macht hier implizit deutlich, dass der Glaube an Gott für ihn die Sache einer Entscheidung ist. Er ist der Ansicht, dass man ausgehend von seinem Denken, indem er die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit des Atheismus aufweist, ebenso zu einer atheistischen Positionierung kommen kann (vgl. unten, Anm. 783).

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Beziehung ausgeht, dann ist der darin implizierte Glaube, obgleich er sich im Kern inhaltlich mit seinem jüdischen Glauben deckt, zunächst einmal als ein rational gerechtfertigter philosophischer Glaube zu verstehen und es kann ihm daher nicht der Vorwurf gemacht werden, er lasse versteckt theologische Prämissen in die Philosophie einfließen. 769 Indem Levinas die Beziehung zum Unendlichen ausgehend von der ethischen Infragestellung durch den Anderen analysiert, kann über diese nicht nur keine Gewissheit erlangt werden, sondern sie kann auch nicht als rein der Autonomie des Subjekts erwachsend angesehen werden. Wenn man von Fichte her an seiner Rezeption des cartesischen Arguments kritisieren müsste, dass ein Bezug auf Unbedingtheit auch allein aus der Autonomie erklärt werden kann, dann könnte dem Levinas vermutlich zustimmen. Für ihn würde aber die spezifische Gestalt der ethischen Forderung, wie er sie vor allem ausgehend von den Phänomenen der Asymmetrie beschrieben hat, auf diese Weise nicht eingeholt werden können und somit auch nicht die Verwiesenheit auf Vollkommenheit, die für ihn in dieser Forderung liegt. Seine Sollensauslegung ist ebenso die Basis für die Vorordnung der Heteronomie in seiner Analyse des Gottesbezuges. Und auch von daher muss ein Gottesbeweis ausgeschlossen werden. Denn dieser wäre nur als autonom schließendes Urteil möglich und würde als solcher der Vorgängigkeit des Unendlichen zur Autonomie nicht gerecht. 770 Ebenso wenig kann das Unendliche deshalb umgekehrt »als 769 Die von Johannes Brachtendorf (2013, 153) vorgebrachte These, es werde von Levinas »bloß behauptet«, dass in der Begegnung mit dem Anderen »Gott im Spiel sei«, trifft zwar auf eine Art durchaus zu. Mit der Kritik aber, dies werde »auf keine Weise begründet«, übergeht er Levinas’ ganze phänomenologische Rechtfertigung der Möglichkeit einer solchen Behauptung. Wenn er sich von da aus positiv auf Dominique Janicauds Einschätzung bezieht, bei »Levinas werde die Phänomenologie von einer Theologie, die sich aber als solche nicht zu erkennen geben wolle, in Geiselhaft genommen«, dann wird dies Levinas in keiner Weise gerecht. 770 Vgl. TU60 u. 442. Wenn für Levinas die Analyse der Beziehung zum Unendlichen »eine Situation beschreibt, die dem Beweis und den Problemen der Existenz vorausgeht« (TU60), dann bezieht er sich genau auf diese Vorgängigkeit der Heteronomie des Unendlichen, welche die Autonomie erst einsetzt. Dieses Argument wird hier ganz parallel geführt wie in Bezug auf den Anderen (vgl. TU129 u. PI205 f.). Aufgrund der Heteronomie ist Gott für Levinas »nicht analog einer Kriterien unterworfenen Idee, die dem Zwang ausgesetzt ist, sich als wahr oder falsch zu erweisen« (GP83). Und entsprechend kritisiert er in PI200 f. an Descartes: »Bei Descartes bleibt in diesem Punkt eine gewisse Zweideutigkeit, da das cogito sein Fundament in Gott hat, andererseits aber die Existenz Gottes begründet: Die Priorität des Unendlichen

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Ausgangspunkt einer Beweisführung dienen« (JS45). 771 Die Anarchie dieser Vorgängigkeit schließt jedoch nicht aus, dass sie auf eine Weise phänomenologisch greifbar wird – als Spur eines uneinholbar Vergangenen, als Bruch der Autonomie. Zu dieser anarchischen Vergangenheit wird Levinas durch die Beschreibung der ethischen Infragestellung geführt. Auf dieser Basis setzt er sie zudem voraus als einen Garanten für die eigene Identität, die wirkliche Selbständigkeit und Autonomie des Selbst gegenüber dem Unendlichen (JS325 f. u. 336), sowie als Garanten dafür, dass der Andere nicht für dieses funktionalisiert wird. 772 Die Anarchie gewährleistet die Getrenntheit desselben wie des Anderen. Und diese Getrenntheit gewährleistet wiederum die wirkliche Transzendenz des Unendlichen. Es absolviert sich, indem es das Ich in seine bis zur Möglichkeit des Atheismus autonome Selbständigkeit einsetzt (JS336 f., 341 u. 345). Und es absolviert sich sogar aus dieser Beziehung von Getrennten, indem es das Ich an den Anderen verweist (GP105). Die Einsetzung der Autonomie auf der einen Seite und der Bruch der Autonomie sowie die Negation alles vom Ich autonom Vorgebrachten auf der anderen Seite machen zusammen die Anarchie aus und eröffnen das Transzendieren des Unendlichen in eine uneinholbare Vergangenheit. Auf diese Weise ist Gott für Levinas – in einer auf die Erzählung von Moses Gottesbegegnung am Horeb (Ex 33) gestützten Formulierung – der immer schon vorübergegangene Gott. 773 Aufgrund der Anarchie bleibt die Beschreibung der Beziehung zum Unendlichen eingebunden in meine individuelle Perspektive. Auch in dieser Vorgängigkeit zu einer allgemeinen Aussage kann sie kein Beweis sein. Und es lässt sich aus ihr nicht nur kein Beweis formulieren, sondern nicht einmal eine These 774, denn auch die Begriffe und Urteilskategorien sind als aus einem autonomen Seinsverstehen gefasste nicht anwendbar, sondern nur in einer modifizierten Form ordnet sich der freien Zustimmung des Willens, der ursprünglich Herr seiner selbst ist, unter.« 771 Vgl. auch JS269, wo sich Levinas dagegen wendet, dass »die Besessenheit einem thematisch aussagbaren Prinzip untergeordnet wird, was gerade die Anarchie ihrer Bewegung zunichte macht«. 772 Vgl. dazu oben, S. 460 f. 773 Vgl. JS345 o. RP250: »[A]uf dem Fels Horeb erkühnt er sich zu erkennen, aber die Glorie widersetzt sich der Kühnheit, die sie sucht. Transzendenz – reines Vorübergehen –, zeigt sie sich vergangen. Sie ist Spur.« 774 Vgl. JS258 : Seine Analysen »bleiben Beschreibungen des Nicht-Thematisier19 baren, des Anarchischen und führen folglich zu keinerlei theo-logischer These«. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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als Momente einer Beschreibung meines passiven Betroffenseins durch das Unendliche. 775 Es erweist sich als vorgängig und kann doch nicht adäquat Ursache (JS45) oder Bedingung 776 genannt werden. Mein Begehren ist auf es gerichtet, und doch ist es weder Selbstzweck 777 noch Ziel. 778 Um jeden von mir gesetzten und mich befriedigen könnenden Sinn hintergehen zu können, bleibt der vom Unendlichen ausgehende Sinn immer bedroht und ambivalent. 779 Entsprechend kann es nicht in einen umfassenden kausalen oder teleologischen Zusammenhang oder ein Netz transzendentaler Bedingungsgefüge eingebunden werden. In seiner anarchischen Transzendenz kann das Unendliche weder als das Sein selbst noch als ein Seiendes angesprochen werden. Die Aussage des Jenseits-des-Seins beinhaltet beide Seiten. Levinas übt Kritik an Descartes’ Festhalten an einer »substantialistischen Sprache« (GP95) in Bezug auf das Unendliche. Es geht ihm dabei nicht nur um eine überholte traditionelle Begrifflichkeit, sondern um Probleme, die für ihn dem Denken, das unausweichlich mit dem Begriff des Seienden arbeitet, allgemein zukommen. Vor dem Hintergrund dieser Problematisierung des Seinsdenkens ist es auch nicht angemessen zu sagen, dass Levinas die Möglichkeit der Existenz Gottes aufweisen möchte. Wenngleich er nicht einfach behauptet, dass die Rede von der Existenz Gottes sinnlos ist, so ist sie doch aufgrund der Anarchie für ihn so problematisch, dass er sich damit begnügen 775 Zum genaueren Verständnis dieser Problematik und der eingeschränkten aber dennoch bestehenden Möglichkeiten der Begriffsverwendung vgl. oben, S. 492–510. 776 Vgl. JS320, wo von einer »Unbedingung« auch in Bezug auf den Ruf des Unendlichen die Rede ist. 777 Vgl. dazu oben, S. 496 f. 778 Vgl. WG17, wo sich Levinas gegen den Begriff des Ziels als eines Korrelats des Denkens richtet, mit welchem die Transzendenz des Unendlichen verunmöglicht und es zu einem Endlichen gemacht würde. Er spricht hier in Bezug auf das Begehren von der »›Deportation‹ oder der Transzendenz über jedes Ziel und Ende und jegliche Finalität hinaus: Denken des Absoluten, ohne daß dieses Absolute als ein Ziel und Ende erreicht würde, was immer noch Finalität und Endlichkeit bedeutet hätte«. Gegen einen teleologischen Zugang zum Unendlichen richtet er sich etwa auch in HuJ97. 779 Vgl. JS333: Der Anspruch der Transzendenz »muss sich dem Spott und der Ablehnung aussetzen lassen, bis dahin, dass das sie bezeugende ›hier, sieh mich‹ in den Verdacht gerät, der Schrei oder Lapsus einer kranken Subjektivität zu sein«. Die Sinnlosigkeit droht jederzeit und es kommt zu einer »Sinnalternanz«, einem Wechsel zwischen dem Auftauchen und der Negation des Sinns. Vgl. dazu auch GP108, wo die immer drohende Sinnlosigkeit des Unendlichen in der Rede von der »möglichen Verwechslung mit dem Hin-und-Her-Treiben des Es gibt« ausgedrückt wird.

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möchte zu zeigen, dass das Wort Gott möglicherweise etwas bedeutet. 780 In dieser Beschränkung ist für Levinas Gott ein hypothetischer oder »problematischer Begriff« – eben wenn man ihn nicht versteht als Hypothese im Sinne eines Hinterweltglaubens, in dem Gott zu einem unerkennbaren Seienden gemacht wird. 781 Dass der Begriff des Seienden nicht anwendbar ist, bedeutet jedoch keinen Atheismus. Es ist sinnvoll, von einer Beziehung, eben der Beziehung des Begehrens des Unendlichen, zu sprechen und dies meint nicht eine Beziehung auf Nichts, sondern auf eine ›Wirklichkeit‹. 782 Es geht nicht um 780 Vgl. WG13, wo Levinas sich ganz bewusst beschränkt auf »eine Untersuchung über die Möglichkeit, […] das Wort Gott als ein Wort zu verstehen, das bedeutet«. Und zwar solle sie »unabhängig von der Entscheidung über den Sinn oder Unsinn dieser Alternative« – gemeint ist die Alternative der Aussage »der Existenz oder Nicht-Existenz Gottes« – durchgeführt werden. Levinas weist hier implizit auf die Problematik der Rede von der Existenz Gottes hin, ohne aber deren Sinnlosigkeit einfach zu behaupten. 781 Zum einen wendet sich Levinas in GP85 entschieden gegen einen solchen innerhalb einer Ontologie verbleibenden Hinterweltglauben, zum anderen spricht er sich in GP84 für die rational ausweisbare Sinnhaftigkeit des Gottesbegriffs aus und wendet sich gegen die Aussage, er sei »kein problematischer Begriff«, sondern »überhaupt kein Begriff«. 782 Vgl. FA123: »Ich denke, daß, wenn das Unendliche ein Unendliches wäre […], ein Etwas überhaupt […], dann wäre es keinesfalls das absolut Andere, es wäre ein anderes ›Selbes‹. Und es liegt keinerlei Atheismus in dieser Weise, Gott nicht für einen Endpunkt zu halten. Ich meine, dass Gott keinen Sinn hat außerhalb der Suche Gottes.« Wie in Bezug auf den Anderen (JS24) macht Levinas auch in Bezug auf das Unendliche deutlich, dass die Nichtanwendbarkeit des Seinsbegriffs nicht die Negation des Seins, nicht Atheismus bedeutet. Es geht vielmehr um die Freilegung der ursprünglichen Form der Beziehung auf das Unendliche, die Levinas hier als »Suche« anspricht. Damit ist wohl in etwa dasselbe gemeint, was er sonst Begehren nennt. Auf die schier unbezwingbare Schwierigkeit, in der Artikulation dieser Beziehung des Begehrens die Rede von einer Existenz oder Nicht-Existenz Gottes zu vermeiden, macht Levinas etwa in RP254 eindrücklich aufmerksam: »Über das Sein hinausgehen – dies wäre die höchste Güte, sich verleugnend, während sie sich verkündet. Gewiß ist es möglich, sich erneut zu fragen, ob dieser Abschied, diese Bescheidenheit als Ab-solutes, ob diese Göttlichkeit existiert oder nicht. Und nichts vermöchte diese siegreiche Frage aufzuhalten. Wie transparent ist doch der Schatten, der die Helle der kohärenten Rede stört! Wie leicht die Stimme des ›flüchtigen Schweigens‹, die den siegreichen Lärm der Rede überdeckt; wie unwiderstehlich die Autorität des Rufes zur Ordnung! Aber: Wie leer ist der Raum, den das Wort dem Sein überläßt, das Wort, das zu sprechen weiß, als ob nichts gesagt worden wäre.« Erst das Jenseits-des-Seins kann das Sein bedeutsam machen. Zumindest darauf kommt es Levinas an. Dass er die Seinsrede in Bezug auf das Unendliche nicht schlechthin ausschließt, wird etwa auch in TÜ174 f. deutlich, wo er einerseits zurückhaltend ist gegenüber Kants postulatorischer Rede von der Existenz Gottes, andererseits aber erwägt, dass die Idee des Seins

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die Aussage des Nichts, sondern um die Aussage des Jenseits-desSeins. Sie vollzieht sich zwar als Widerrufen der Rede vom Unendlichen, aber dies geschieht – gesetzt freilich, man sieht sich wie Levinas in der Beziehung zum Unendlichen – in Form eines Wechsels zwischen Affirmation und Negation, der in einer Ambivalenz bleibt und nicht wie ein Dilemma auf eine Seite hin aufgelöst werden kann – auch nicht auf die Seite der Negation. 783 Levinas verwendet deshalb »in Gott vielleicht gerade in den Rang eines einfachen Attributes abgefallen ist«, eines Attributes zwar, das durch das Jenseits-des-Seins der Herrlichkeit »verfinstert« ist, ohne jedoch, weil hier »die Alternative Schein und Wirklichkeit verschwimmt«, zu bloßem Schein zu werden (vgl. auch TÜ188). Meines Erachtens muss die Rede vom Jenseits-des-Seins in Bezug auf das Unendliche genauso interpretiert werden wie die in Bezug auf das Ich und den Anderen (vgl. dazu ausführlich oben, S. 510–519). Der Unterschied liegt nur darin, dass die Ungewissheit darüber, ob man eine wirkliche Beziehung zum Unendlichen annimmt, noch einmal von anderer Qualität ist als in Bezug auf den Anderen, an dessen Wirklichkeit wegen der Konkretheit seines MichBetreffens wohl kein Mensch letztlich zweifeln dürfte, obwohl sie ebenso wenig objektiv gewiss ist. 783 Zu diesem Wechsel vgl. JS333 f. u. 336 f. Hier wird von einem Wechsel zur Negation Gottes gesprochen. In MG76 benennt Levinas dasselbe als »Hinundher der Seele vom Atheismus zum Glauben und wieder zum Atheismus«. Man muss hierbei m. E. unterscheiden zwischen dem Vertreten einer atheistischen Position und einem Atheismus als Teil der ambivalenten Bezeugung Gottes oder als Teil der Bekundung des Jenseits-des-Seins. Levinas geht es um Letzteres. Er kann sagen: In seiner Weise der Negation Gottes »liegt keinerlei Atheismus«, sondern ein Rückgang auf die Ebene des Begehrens oder der »Suche Gottes« (FA123). Sonst wäre auch nicht verständlich, wie es bei ihm überhaupt zum genannten Wechsel kommt. Die Dynamik von Sagen und Widerrufen muss ausgehen von einer Bejahung, von einem Betroffensein durch das Unendliche und einer Art glaubendem Ernstnehmen des Begehrens. Ohne dieses würde kein Schwanken entstehen, sondern man würde bei einem einfachen Atheismus stehen bleiben. Levinas setzt diesen Akt des Vertrauens auf das Begehren nach der Güte. Möchte man die Negation des Unendlichen bei Levinas Atheismus nennen, dann wäre es eine Art religiöser Atheismus. Mit dieser eigenen Positionierung schließt Levinas jedoch nicht die Möglichkeit aus, dass jemand auf eine gerechtfertigte Weise zu einer atheistischen Position gelangt. Er weist diese Möglichkeit vielmehr selbst als Implikat der Getrenntheit des Subjekts auf. In TU wird die Getrenntheit und darin die Möglichkeit zum Atheismus von Levinas selbst als Atheismus bezeichnet (TU75). Gemeint ist damit nicht eine atheistische Positionierung. Es ist ein Atheismus, der »früher ist als die Verneinung oder Bejahung des Göttlichen« (TU76). Es ist die Unabhängigkeit von Gott, die in der getrennten Existenz liegt. Nur diese ermöglicht eine wirkliche Beziehung auf das Unendliche, in der dieses das Subjekt nicht wie das Sein, an dem es teilhat, oder wie ein Numinoses in seiner Getrenntheit und Beziehungsfähigkeit auflöst (TU105). Zu dieser Unabhängigkeit gehört, dass es mit dem Unendlichen nicht durch ein objektives Wissen verbunden (TU106) und deshalb »zum Atheismus fähig ist« (TU76) oder mit der »Möglichkeit [des] Vergessens« des

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das Bild vom Blinken des Unendlichen. 784 Eine Ambivalenz ergibt sich dabei sowohl in Bezug auf die Unterschiedenheit des Unendlichen vom verantwortlichen und darin selbständigen Ich (JS335– 337) als auch in Bezug auf die Unterschiedenheit zum Anderen (JS210 f.). Beide Trennungen erfordern die anarchische Entzogenheit des Unendlichen und somit die Negation seiner Thematisierung. Wie diese Ambivalenz genauer zu verstehen ist und wie Levinas bei ihr den drohenden Selbstwiderspruch vermeidet, ist bereits dargelegt worden. 785 Nur in ihr jedenfalls kann die Bedeutsamkeit des Unendlichen bestehen 786 und als mögliche aufgewiesen werden. Die Anarchie fordert nicht nur die Negation aller Prädikate, sondern auch des Gesagten überhaupt, bis zum Verstummen (JS333). Dieses Erfordernis ist für Levinas an aller Gottrede unmittelbar spürbar: »[D]ie Sprache über Gott klingt falsch« und unglaubwürdig (JS26925 ). Dass er dies so empfindet, liegt nicht zuletzt daran, dass sich für ihn die Negation des Unendlichen nicht erst im Denken erUnendlichen existiert (TU263). Zugleich liegt in ihr aber die »Fähigkeit zum Glauben« (TU76). Die Benennung der in der Getrenntheit bestehenden Möglichkeit des Atheismus als Atheismus ist missverständlich, wenn Levinas das Wort zugleich für eine atheistische Positionierung verwendet. Vermutlich deshalb findet sich diese Redeweise später sehr viel spärlicher (in JS nur einmal). Bezeichnend dafür, wie Levinas in seinem Ansatz die Möglichkeit des Atheismus impliziert sieht, ist folgender Bericht über ein Interview: »Auf die Frage, ob das alles nicht auch ein Atheist nachvollziehen könne, erwiderte Levinas mit leiser Ironie, dann müsse dieser es von ihm gelernt haben.« (Wohlmuth/Dirscherl, 1999, 233) Levinas nimmt diese existentielle Möglichkeit sehr ernst. Die Ambivalenz der Gottrede und der Wechsel zur Negation Gottes implizieren für ihn, den Atheismus für bedenkenswert zu halten und als eine mögliche Position anzuerkennen, die ihre guten Gründe hat (DT110 u.MT81). Wenn Levinas in RE26 f. sagt, der Monotheismus integriere den Geist der autonom zweifelnden und nach Antworten suchenden abendländischen Philosophie, welche »das Risiko des Atheismus akzeptiert, das man eingehen, aber überwinden muß – als Preis ihrer Mündigkeit«, dann erfolgt diese Forderung eher auf dem Boden seiner eigenen religiösen Überzeugung als auf dem seiner Philosophie. Das Zitat verdeutlicht zugleich, welche Bedeutung der Möglichkeit des Atheismus in seinem Ansatz zukommt. Sie eröffnet für ihn – als Preis der Getrenntheit und Mündigkeit des Subjekts – allererst die Möglichkeit, ein Bezogensein auf einen wirklich transzendenten Gott anzunehmen – im Unterschied zu einer Philosophie der Einheit des Seins, der Teilhabe am Sein und dem autonomen Seinsverstehen, die für ihn auf einen Atheismus hinausläuft (PI189 u. SpA211) oder die Transzendenz zumindest verhindert (GP83 f. u. 86– 92). 784 Vgl. etwa JS203 u. 209; vgl. auch JS336 zum Bild des »intermittierenden Lichts«. 785 Vgl. oben, S. 499–505. 786 Vgl. JS333, wo neben der Ambivalenz des Sinns (vgl. dazu oben, Anm. 779) auch die der Bedeutsamkeit überhaupt ausgedrückt ist. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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gibt, sondern ursprünglich ein existentielles Ereignis darstellt. Durch die Einsetzung der Autonomie und den Verweis auf den Anderen, durch welche sich das Unendliche transzendiert, kommt es zu einer existentiellen Zurückweisung Gottes und seiner Zeugen oder auch zur Erfahrung eines Verlassenseins von Gott. In diesem Sinne spricht Levinas – und er bezieht sich hier positiv auf Kierkegaard – von der Wahrheit des Unendlichen als einer »verfolgten Wahrheit«, von der »Demut Gottes« (MG76 f.) und von »Gott, der sich nur offenbart in dem Maße, in dem er fortgejagt wird, dergestalt, dass die Subjektivität, verzweifelt in ihrer Einsamkeit, in der diese unbedingte Demut sie läßt, gerade der Ort selbst der Wahrheit wird« (RP246). »Es gibt auf dem Weg, der zu dem einen Gott führt, eine Station ohne Gott.« (DT110) Zum Glauben gehört diese Form eines existentiellen Atheismus. Der Glaube ist es sich deshalb »schuldig, auf die legitimen Forderungen des Atheismus einzugehen« (DT110). Er muss dabei freilich nicht selbst den Atheismus rein affirmativ vertreten. 787 Denn – und dies ist als ein Zeugnis des von Levinas persönlich auf der Basis seiner Sollensintuition gesetzten Glaubens zu lesen – »dieser Gott, der sein Antlitz verhüllt und den Gerechten seiner Gerechtigkeit ohne Sieg überlässt – dieser ferne Gott kommt alsbald von innen« (DT111). Ort der Wahrheit wird diese existentielle Ausgesetztheit durch die sich darin ereignende ethische Beziehung. Erst sie überwindet den Mangel auch jeder negativen Theologie, doch der Ebene des Denkens und des Gesagten verhaftet und hier letztlich völlig leer zu sein. 788 Insofern es Levinas um ein Verlassen dieser Ebene überhaupt geht, ist für ihn das negativ theologische Absprechen von Prädikaten nicht besser als deren positive Zuschreibung. Authentisch ereignet sich die Bezugnahme auf Gott nur im Begehren, vor aller ausdrücklichen Artikulation dieses Begehrens. Weder kann ein Denken, ein BewusstVgl. oben, Anm. 783. Vgl. SF168: »Die Transzendenz des Unendlichen wird nicht in Aussagesätzen eingeholt, und seien diese auch negativ.« Die Leerheit der negativen Theologie kommt etwa zum Ausdruck, wenn Levinas sagt, dass der Verweis auf die Verantwortung die »wortlose negative Theologie bricht« (VE265) oder die »anscheinend negative Aussage […] konkretisiert« (BS223). Gegen eine bloße negative Theologie wendet er sich auch in JS45 f., 20331 u. 332. Durch die Überwindung der negativen Theologie in einer Beschreibung des Unendlichen als Ereignis der Güte ist das levinassche Absolute gerade nicht, wie Saskia Wendel es interpretiert, »ein entleertes und quasi lebloses ›Jenseits des Seins‹« (1996, 16929 ). 787 788

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sein, eine Erfahrung usw. in irgendeiner Form dieser Beziehung ›adäquat‹ werden. Die Religionsphilosophie kann sich für Levinas nicht auf die »religiöse Erfahrung« stützen. 789 Noch kann sie sich als Erfahrungsbeziehung, als »Kontemplation« (TU250), ereignen. Sie findet nur statt in der gelebten oder erlittenen Passivität des Begehrens. Und dieses Begehren der Güte ereignet sich authentisch nur in der Beziehung zum Anderen. Insofern diese sich nur in leiblicher Konkretheit vollzieht, kommt dem Leib eine zentrale Bedeutung in der Bezugnahme auf Gott zu. Im konkreten Ereignis von Ethik kann es zu einer Art Ausdruck des Unendlichen kommen, nämlich in einem lebendigen »Zeugnis« (GP117 u. JS326 f.). Als Sagen vor allem Gesagten kann dieses Zeugnis sich auch aussprechen 790, zunächst aber nur in einem dem Anderen gesagten »›Hier, sieh mich‹ ! In dem Satz, in dem Gott sich erstmals unter die Worte mischt, fehlt noch das Wort Gott. Auf keinen Fall lautet dieser Satz: ›Ich glaube an Gott‹.« (JS327) »Das Zeugnis […] erfolgt vor aller Theologie« (JS327). Das Zeugnis im Sagen ist dabei weniger etwas von mir erst zu Vollbringendes, ein Akt, sondern etwas, was sich passiv schon an mir ereignet haben muss. Das Zeugnis »betrifft und umfaßt mich, indem es durch meinen Mund spricht« (GP117). Um den Wechsel von der Theologie zum lebendigen Zeugnis oder zum Sagen zu vollziehen, verwendet Levinas neben der Negation der Thematisierung des Unendlichen verschiedene Formen des Rückverweises auf das Sagen, indem er es in Gesagtem direkt anspricht oder auf andere Weise seinen Vollzug greifbar werden lässt. 791 Die konkret mit dem Anderen gelebte Beziehung, in der das Zeugnis besteht, nennt Levinas auch »Religion« – Religion vor aller Gottrede, ja vor aller freien und bewussten Aufnahme der Beziehung zu Gott oder auch ihrer Negation, »Religion – die die Psychologie des Glaubens und des Glaubensverlustes überschreitet« (JS365). 792 In 789 Vgl. GP94 f.: »Ein religiöses Denken, das sich auf angeblich von der Philosophie unabhängige Erfahrungen beruft, ist, insofern es auf Erfahrung gründet, bereits auf das ›Ich denke‹ bezogen«. »Die Thematisierung Gottes in der religiösen Erfahrung hat die Maßlosigkeit der ›Intrige‹, welche die Einheit des ›Ich denke‹ bricht, bereits verschwinden lassen oder verfehlt.« Vgl. auch GP117 u. 119. 790 In diesem Sinne kann Levinas auch von einem »Zugriff der Sprache auf das Anarchische« sprechen. Dieser Zugriff liegt jedoch nicht im Gesagten, auch nicht in einer Aktivität des Sagens, sondern darin, sich einer Passivität auzusetzen: Der »Zugriff ist ein Ringen um den Ausdruck und der Schmerz, den er kostet« (JS25819 ). 791 Vgl. zu diesen verschiedenen Formen oben, S. 502–506. 792 Vgl. auch JS26925 , wo Levinas »theologische Sprache« und »religiöse Situation der

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ähnlicher Weise verwendet er das ursprünglich spezifisch religiös konnotierte Wort ›Zeugnis‹. Und in ähnlicher Weise deutet Levinas das Wort ›beten‹ um und verwendet es für das Ereignis dieser Beziehung vor aller ausdrücklichen Kontaktaufnahme zu Gott. 793 Auch das Wort ›Herrlichkeit‹ wird entsprechend gebraucht. 794 Eine Umdeutung auf das Geschehen des Sagens geschieht bei Levinas ebenso mit der Messias-Vorstellung. Levinas möchte damit freilich nicht vertreten, dass die in das Ereignis von Ethik umgewendete Bedeutung die einzig legitime ist. Die Religion sowie in ihr die Ausrichtung auf den Messias und das Gebet werden nicht darauf beschränkt, sondern besitzen für ihn darüber hinaus noch einen Sinn. 795

Transzendenz« einander gegenüberstellt. In JS323 bezeichnet er die Illeität als »Verstrickung, die man versucht ist, als religiöse zu bezeichnen, […] die auf keinerlei positiver Theologie beruht«. 793 Vgl. JS327: »Das Zeugnis ist Demut und Geständnis, es erfolgt vor aller Theologie; es ist Kerygma und Gebet, Verherrlichung und Anerkennung.« Gebet wird hier als etwas verstanden, was sich vor jeder ausdrücklichen Gottrede im Ereignis einer ethischen Beziehung vollzieht, etwa in einem aufrichtigen Geständnis oder in einer ethischen Haltung wie der Demut, die in sich für Levinas schon Verherrlichung des Unendlichen sind. Wie Levinas hier das Gebet in eine Reihe bringt mit dem »SichVerströmen, Sich-›Ausliefern‹ an den Nächsten« so auch in JS164 in der Beschreibung der ethischen Passivität als einer »Nacktheit, die sich aussetzt bis dahin, daß sie sich ausgießt, daß sie sich verströmt und daß sie betet«. Dieser unmittelbare Wechsel von ethischen zu religiösen Bestimmungen findet sich auch in SV93: »Als Ge-duld des Wartens ist die Zeit Frage, Suche, Bitte und Gebet.« Die Bezeichnung der ethischen Passivität als Gebet ist von daher möglich, dass Levinas das Gebet selbst in seinem Grunde als eine solche Passivität versteht. In JC166 bestimmt er das Ausschütten des Herzens als »das eigentliche Gebet des Herzens, das Gebet der Seele«. Dass er es nicht als Mitteilen dessen versteht, was man alles auf dem Herzen hat, sondern sozusagen als Weggabe des Herzens oder ein Sich-das-Herz-Wegnehmen-Lassen, als Lösung von sich, in der für ihn die Erhebung der Seele zu Gott wie auch überhaupt der Psychismus, die Beseelung, des Menschen besteht, wird an seiner Auslegung des Nefesch hachajim von Chajim ben Isaak Woloszyner in VB68 deutlich: »Ist nicht das Beten die Seele selbst? […] Weit davon entfernt, eine an Gott gerichtete Bitte zu bedeuten, bestünde das Gebet darin, ›seine Seele zu erheben und auszuliefern, in die Höhe emporzusteigen und sich an sie zu binden‹. Aufsteigen wie Opferrauch. Sich des-interessieren, sich freimachen von der bedingungslosen Anhänglichkeit an das Sein.« 794 Vgl. dazu oben, S. 539 f. 795 Zu Levinas Interpretationen des Messianismus vgl. unten, S. 569–584. Zur Bedeutung des Gebetes auch in seiner ausdrücklichen Form und sogar als Bittgebet vgl. unten, S. 564 f. u. S. 593 f. Levinas verwendet ›Gebet‹ entsprechend ebenso in der gewöhnlichen Bedeutung. Da auch die Religion als ausdrückliche Glaubenseinstellung für ihn noch ihren Sinn besitzt, gilt dies genauso für die Verwendung von ›Religion‹ (etwa EU92).

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Das Unendliche als Schöpfer?

Die Beziehung zu Gott realisiert sich authentisch nur im Sagen. Und doch braucht für Levinas das Sagen auch sein Gesagtes. Ausgehend vom Dritten und dem Erfordernis der Gerechtigkeit besitzen das Gedachte und Gesagte allgemein sowie in der speziellen Form das ausdrücklichen Zeugnis und die Gottrede einen positiven Sinn für die Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen. Deshalb kommt es überhaupt nur zu dem Erfordernis, die Gottrede in ihrem Setzen zugleich zu negieren oder Gott zu bezeugen im Wechsel von Affirmation und Negation. Und auf diese Weise erst kann es Levinas rechtfertigen, Religionsphilosophie zu betreiben. In der hier beschriebenen differenzierten Weise von Rationalität, wie sie schon im Zusammenhang der Frage nach Levinas’ Form des transzendentalen Denkens dargestellt wurde, ist für ihn eine philosophische Rechtfertigung der Gottrede möglich. Von ihr her ist es zu deuten, wie sich Levinas auf das ›Phänomen‹ des Begehrens des Unendlichen, auf welches sich seine Religionsphilosophie stützt, beziehen und wie er es artikulieren kann.

2.2.3 Das Unendliche als Schöpfer? Wie streng sich Levinas an seine phänomenologische Erschließung hält und als Philosoph spricht, wird auch an seiner Zurückhaltung bei der Verwendung des Schöpfungsbegriffs deutlich. Seine eigenen Beschreibungen der Beziehung zum Unendlichen in Totalität und Unendlichkeit bringt er nicht direkt mit diesem Begriff in Zusammenhang. Dies fällt besonders vor dem Hintergrund auf, dass bei Descartes – wie Levinas an einer Stelle referiert, ohne dazu Stellung zu beziehen (TU305) – dieser Zusammenhang unmittelbar hergestellt wird. In späteren Texten ist Levinas sogar ausdrücklich zurückhaltend gegenüber der cartesischen Rückführung der Idee des Unendlichen auf eine Schöpfung (GP98 u. 100). Der Schöpfungsbegriff folgt für ihn auch nicht aus der platonischen Idee des Guten jenseits des Seins. Er sieht sie in großer Nähe zum vom Begehren her verstandenen Unendlichen, zumal für ihn Platon schon über die Kategorie des Bedürfnisses hinauszugehen scheint. Dieser habe »eine Ahnung von Strebungen, denen kein Leid und kein Mangel vorausgeht und in deren Umrissen wir das Begehren erkennen, Bedürfnis dessen, dem nichts fehlt, Streben dessen, der sein Sein zur Gänze besitzt, der über seine Fülle hinausgeht« (TU146). Gerade dadurch werLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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de einsichtig, wie das Gute jenseits des Seins stehen kann. Während man – denkt man das Streben als Bedürfnis – alles in eine Totalität einbindet, unterbleibt dies ausgehend vom Begehren. »Im Verhältnis zu den Bedürfnissen ist das Gute ein Luxus. Eben dadurch ist es jenseits des Seins.« (TU146) Die Idee des Guten eröffnet für Levinas so eine Möglichkeit, ein Absolutes zu denken, das neben sich andere Seiende in einer wirklichen Trennung zulässt. Er kann von daher schreiben: »[D]as Paradox der Schöpfung, verliert unter dieser Voraussetzung an Kühnheit«. Und sogar: In diesem Guten »kündigt sich ein strenger Begriff der Schöpfung an« (TU423). Er sieht ihn sich jedoch lediglich ankündigen und nicht schon aus ihm folgen. Meines Erachtens hängt dies damit zusammen, dass sich für Levinas phänomenologisch in der Beziehung zum Unendlichen erst einmal nur eine Beziehung zu einer Instanz, die das Begehren einsetzt, aber nicht zu einer Instanz, die das eigene Sein einsetzt, ergibt. Zwar impliziert die Einsetzung des Begehrens eine Erwählung 796 und das Unendliche erscheint insofern als eines, das will, dass ich existiere. Die Setzung der Existenz ist aber nicht enthalten. Freilich scheint sich Levinas in Totalität und Unendlichkeit auf einem anderen Weg phänomenologisch ein Verhältnis zum Grund auch des eigenen Seins und somit der Schöpfungsbegriff nahezulegen. Dies geschieht dadurch, dass für ihn aus der Abhängigkeit des Subjekts von etwas ihm Exteriorem – phänomenologisch aufgewiesen in der ethischen Beziehung zum Anderen 797 sowie in der Beziehung der Nahrung 798 – oder, abstrakt formuliert, aus dem SichereigVgl. dazu unten, S. 559–562. Vgl. TU113: Wenn die Freiheit sich infrage stellt, dann bedeutet das, dass sie sich nicht als causa sui begreift, sondern hinter sich selbst als Ursprung zurückfragt. Dies »bezeugt oder beschreibt eine geschaffene Freiheit« (TU113). Levinas sieht hier also einen Hinweis auf eine Schöpfung, spricht jedoch nur von einer Bezeugung und nicht etwa von einer Folgerung. Wenn er in TU117 sagt: »Das Wissen als Kritik, als Rückgang hinter die Freiheit – kann nur bei einem Seienden auftauchen, dessen Ursprung jenseits seines Ursprungs liegt – bei einem geschaffenen Seienden.«, dann folgt für ihn zwar offenbar notwendig, dass diese Freiheit nicht Ursprung ihrer selbst ist; ob das Attribut ›geschaffen‹ jedoch nur eine Metapher ist, eine Denkmöglichkeit artikuliert oder ein Schöpfungsverhältnis behaupten soll, ist fraglich. 798 Die Beschreibung des im Genuss abhängigen Subjekts als eines, »das nicht causa sui, das geschaffen ist« (TU211), liest sich zuerst wie eine selbstverständliche Schlussfolgerung von der Seinsabhängigkeit auf eine Schöpfung. Es bleibt jedoch unklar, ob hier der Ausdruck »geschaffen« evtl. nur metaphorisch gemeint ist oder nur eine Denkmöglichkeit zur Sprache bringt. Wenn Levinas in TU166 deutlicher artikuliert, dass sich aus der getrennten und in der Trennung abhängigen einsamen Genussexis796 797

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nen der Wirklichkeit als Beziehung von Getrennten 799 folgt, dass das Subjekt nicht Ursache seiner selbst sein kann. Es findet sich ein solcher argumentativer Zusammenhang und manche Stellen lesen sich so, als würde Levinas von einem realen metaphysischen Verhältnis zu einem Schöpfer ausgehen. 800 Genauer besehen geht für ihn das Argument jedoch nur so weit, dass es auf eine offene Frage nach dem Ursprung des Subjekts verweist und dies in einem schwachen Sinn eine Bezeugung für ein Schöpfungsverhältnis darstellt, indem dieses zumindest eine mögliche Antwort auf die Frage bietet. 801 Wenn Levinas schreibt, dass sich die Schöpfung einer von der Trennung ausgehenden Philosophie »als erste Wahrheit auf[drängt]«, dass sie geeignet ist, diese Trennung »zu charakterisieren«, ja dass diese »nicht besser ausgesprochen werden« kann 802 und dass von der Schöpfung her, unter der Voraussetzung ihres Bestehens, die Trennung »bestätigt« 803 wird (TU424), dann sind dies starke Aussagen, die Evidenz des Arguments wird in ihnen aber als beschränkt dargestellt. Wenn Levinas also scheinbar so spricht, als würde er von einem tatsächlich bestehenden Schöpfungsverhältnis ausgehen, indem er die Schöpfung real als Bedingung dafür anführt, dass das Subjekt zugleich wirklich tenz das »Problem des Ursprungs« ergibt und bemerkt: »Nur der Begriff der Schöpfung wird einem solchen Problem gerecht«, dann wird zumindest ausgedrückt, dass hier eine offene Begründungsfrage bleibt und der Schöpfungsbegriff eine adäquate Antwortmöglichkeit bietet. Es wird jedoch nicht im strengen Sinne eine Schöpfung erschlossen. 799 In TU75 spricht Levinas ganz allgemein vom »Bruch, den die Schöpfung im Sein bewirkt«. Dabei affirmativ den Bruch der Kontinuität der historischen Zeit und den Bruch zwischen den jedem Subjekt zukommenden eigenen Zeiten auf einen solchen Schöpfungsbruch zurückzuführen, setzte eine Art transzendentale Argumentation, eine Rückfrage ausgehend von den verschiedenen Formen der Trennung hin zu einem Urereignis der Trennung voraus. In TU84 formuliert es Levinas so, dass für ihn die Idee der Schöpfung die »Kraft« hätte, eine Grundlegung für ein getrenntes Seiendes zu liefern. 800 Vgl. etwa TU75 f., 113, 117 u. 149. 801 Vgl. oben, Anm. 797 u. 798. Dass Levinas es letztlich nur als eine Möglichkeit vorstellt, wird gut in dem Kapitel deutlich, in dem er sich gesondert dem Schöpfungskonzept widmet (TU423–425). Dort stellt er nur die Folgen oder Potentiale dieses Konzeptes vor, und zwar immer unter der Bedingung: wenn man davon ausgehen möchte. Zumindest eine mögliche Antwort ist der Schöpfungsbegriff für Levinas deshalb, weil er vom Begehren her gedacht das Geschaffene nicht in eine Totalität einbindet (TU146 f. u. 149) und weil er, indem er nicht als gewöhnliches Kausalitätsverhältnis auftritt, der Freiheit des Geschaffenen einen Raum lässt (TU166 u. 408). 802 In dieser Funktion ist der Schöpfungsbegriff etwa auch in TU84 u. 166 greifbar. 803 In dieser Funktion tritt er etwa auch in TU148 auf. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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frei und zugleich abhängig ist (TU149), dass es getrennt ist vom Unendlichen und zugleich betreffbar von der Idee des Unendlichen (TU149), dass es vom Anderen infrage gestellt werden (TU117) und seine Kreatürlichkeit erfahren kann (TU123) 804, und zwar durch einen ursprünglichen »Bruch, den die Schöpfung im Sein bewirkt« (TU75) und der sich ihr zufolge in diesen verschiedenen Beziehungen ereignet, dann ist dies letztlich innerhalb der hypothetischen Klammer zu lesen: falls man von einer Schöpfung ausgeht. Dasselbe gilt, wenn Levinas herausstellt, zu einer Schöpfung als Schöpfung eines getrennten und in der Trennung in Beziehung stehenden Subjekts gehöre es wesentlich, dass es über seine Existenz hinaus bezogen ist, dass es eine »Erinnerung an die Schöpfung aus dem Nichts festhält« (TU84) 805, eine Erinnerung, wie man sie in den verschiedenen Formen der Erfahrung einer Abhängigkeit von etwas Äußerem wiederfinden könne. Diese Aussagen machen deutlich, welch große Bedeutung dem Schöpfungsbegriff im levinasschen Denken zukommen würde. Das ›würde‹ ist jedoch zu betonen. Aus dem Nicht-in-sichStehen des Subjekts lässt sich für Levinas eine Schöpfung nicht folgern. Der Grund dafür scheint für ihn in der Zeit von Totalität und Unendlichkeit letztlich nicht darin zu liegen, dass man bisher theologisch »die Idee der Beziehung zwischen Gott und dem Geschöpf in der Sprache der Ontologie« (TU423) behandelt hat, denn wenn er hier Schöpfung als mögliches Konzept gelten lässt, hält er offenbar einen nicht ontologischen Begriff von Schöpfung ausgehend vom Trennungsdenken für möglich. 806 Der Grund ist m. E. vielmehr darin zu sehen, dass Levinas phänomenologisch vorgeht und auch die Rückfrage nach den Bedingungen ganz an phänomenologische Auf804 Meines Erachtens müsste man zudem die Beziehung der Vaterschaft und die Abhängigkeit des Genusses, die Levinas ebenfalls mit dem Schöpfungsbegriff in unmittelbaren Zusammenhang bringt, im Schöpfungsverhältnis bedingt sehen. Zur Vaterschaft vgl. TU406: Es »vollzieht und wiederholt die Kindschaft in jedem Augenblick das Paradox einer geschaffenen Freiheit«; vgl. auch TU408. Zum Genuss vgl. TU166 u. 211. 805 Vgl. auch TU123: »Das Wunderbare der Schöpfung besteht nicht nur darin, dass sie Schöpfung ex nihilo ist, sondern dass sie ein Seiendes hervorbringt, das fähig ist, eine Offenbarung zu empfangen, seine Kreatürlichkeit zu erfahren und sich in Frage zu stellen.« 806 Für Branko Klun scheint die Frage nach dem Grund des Existierens des Subjekts einfach ersetzt zu werden durch die Frage nach der Eröffnung der Getrenntheit und der moralischen Transzendenz des Menschen (2013, 207–209). Dies ist m. E. aber weder in Totalität und Unendlichkeit noch in der späteren Zeit, in der Levinas immer noch eine nichtontologische Metaphysik in Erwägung zieht, der Fall.

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weise gebunden bleibt. 807 Weder in der Abhängigkeit vom Unendlichen, noch in der vom Anderen 808, noch in der von der Nahrung 809 ist phänomenologisch direkt die Abhängigkeit von dem, was mich ins Sein setzt, zugänglich. Auch sonst führt Levinas kein Phänomen an, in dem sich für ihn diese Abhängigkeit unmittelbar artikuliert. Und man muss sich fragen, ob es überhaupt möglich ist, von einer solchen Abhängigkeit direkt in irgendeiner Weise betroffen zu sein. Bräuchte es für ein unmittelbares Betroffensein vom Unendlichen als dem Schöpfer nicht die Unmöglichkeit, dass das Subjekt zugleich vor oder außerhalb seiner wirklichen Existenz steht? In Jenseits des Seins ist Levinas noch zurückhaltender gegenüber dem Schöpfungsbegriff. Er verwendet ihn nur noch in der Funktion, die dieser u. a. bereits in Totalität und Unendlichkeit hatte: als eine treffende Beschreibungsweise, letztlich als eine Art Metapher. 810 Er fragt sogar ausdrücklich an, ob dieser Begriff »nicht barer Unsinn ist« (JS252) – ohne freilich diese Sinnlosigkeit affirmativ zu behaupten. Vgl. dazu oben, S. 507–510, bes. Anm. 694. Vgl. dazu oben, S. 446–448. 809 Vgl. dazu unten, S. 659–666. 810 In den Texten, in denen Levinas in JS von Schöpfung spricht, thematisiert er sie nicht mehr ausdrücklich als Bedingung oder mögliche Bedingung. Es lässt sich nur so viel aus ihnen sicher herauslesen, dass er sie in der Funktion einer treffenden Charakterisierung für ein radikal abhängiges Seiendes anführt (etwa JS232 o. 270). In JS252 fragt er: »Läßt sich in diesem Bild nicht die Bedeutung der – durch keinerlei Freiheit übernehmbaren – Verantwortung für den Anderen zur Sprache bringen?« Er stellt Ähnlichkeiten heraus, etwa die Ähnlichkeit darin, dass auch im Schöpfungsdenken eine Vorgängigkeit zur Möglichkeit (materia prima) und damit zum ontologischen Denken erreicht wird wie in der Artikulation der Besessenheit (JS243 f.), ohne dabei aber die Schöpfung als reale Bedingung dieser Besessenheit ins Spiel zu bringen. Auch im späten Aufsatzband Wenn Gott ins Denken einfällt scheint er den Schöpfungsbegriff nur noch als eventuelle Charakterisierung zu verwenden (BW72 f.). Die Aussage, dass er in der Beschreibung der uneinholbar diachronen Vergangenheit keineswegs »auf einen Schöpfergott zurückgehe« (FA125) liest sich wie ein Kommentar zu den Stellen, an denen er diese Vergangenheit als »Zeit der Geburt oder der Schöpfung« (JS232) und als »geschöpfliches Kennzeichen« (BS207) benennt. Von daher stimme ich mit der Interpretation von Bernhard Casper überein, für den Levinas mit dem Schöpfungsbegriff eine Antwort beschreibt auf die Frage nach dem Sinn von Sein und dabei mit ihm nur eine bestimmte Seinsweise gedacht wird, nicht aber ein ontologisches Begründungsverhältnis (2009, 53–59). Wenn ich recht sehe, versteht auch Josef Wohlmuth Levinas so, dass er sich auf »die anthropologische Konsequenz des Schöpfungstheorems« (2002, 157) beschränkt, ohne eine tatsächliche Schöpfung zu behaupten. Wie weit seine Rezeption des levinasschen Schöpfungsbegriffs für eine christliche Theologie ebenfalls innerhalb dieser Beschränkung erfolgt, wird nicht ganz deutlich. 807 808

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Der Unterschied zu Totalität und Unendlichkeit erklärt sich m. E. daraus, dass hier nun neben dem oben beschriebenen zweiten Grund, der fehlenden phänomenologischen Sinnfüllung des Schöpfungsbegriffs, auch der erstgenannte Grund bestimmend wird, da Levinas in Jenseits des Seins noch sehr viel umsichtiger versucht, das ontologische Denken zu vermeiden. Auch wenn er die Möglichkeit eines nichtontologischen metaphysischen Denkens weiter in Erwägung zu ziehen scheint, vermeidet er deshalb in dieser Zeit generell metaphysische Fragen. 811 Bis in die späteste Zeit beschränkt er sich darauf, die Abhängigkeit des Subjekts zunächst einmal nicht als »ontologische Kontingenz des Seins«, sondern als »dessen moralische Infragestellung« zu beschreiben (BS207). Beim Versuch einer Deutung des levinasschen Jenseits-desSeins wurde hier dafür argumentiert, dass es grundsätzlich möglich ist, innerhalb seines Ansatzes auf eine Weise metaphysische Fragen zu behandeln, welche die Probleme der ontologischen Rede umgeht. Diese Behandlung müsste sich freilich auf eine phänomenologisch irgendwie aufweisbare, wenn auch über alle Phänomenalität hinausführende, Gegebenheit stützen. Diese scheint für das Verhältnis zum Unendlichen als einer Instanz, welche das eigene Sein begründet, nicht gegeben zu sein, ja vielleicht kann sie gar nicht gegeben sein. Das Konzept einer Schöpfung für sinnvoll und möglich zu halten, muss man freilich nicht als davon abhängig ansehen. Meines Erachtens könnte man also zu Levinas’ Sicht auf den Schöpfungsgedanken zur Zeit von Totalität und Unendlichkeit zurückkehren. So wäre sein Ansatz auch rezipierbar für eine christliche Schöpfungstheologie.

2.2.4 Die verschiedenen Aspekte der Beziehung zum Unendlichen Fordernde Güte Bis hierher wurde die Beziehung zum Unendlichen als Beziehung zu einer fordernden Güte bestimmt, die sich konkret im Dienst am Anderen ereignet. Dies ist der Angelpunkt der levinasschen Religionsphilosophie. Er wurde bereits ausführlich dargestellt. Ausgehend von ihm beschreibt Levinas noch weitere Aspekte der Beziehung zum Unendlichen, die im Folgenden behandelt werden sollen. 811

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Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 513–519.

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Die verschiedenen Aspekte der Beziehung zum Unendlichen

Vaterschaft Zuerst hängt für Levinas ganz unmittelbar mit der Forderung zusammen, dass in ihr das Ich in seine Identität – oder »Nicht-Identität« (JS136) – als verantwortliches Subjekt eingesetzt ist. Diese in der Forderung beinhaltete Einsetzung des Subjekts drückt Levinas häufig mit dem Wort ›Erwählung‹ aus. Der Begriff ist von vornherein durch den darin anklingenden jüdischen Erwählungsbegriff religiös konnotiert und wird – zwar nicht nur, aber doch meistens – im Kontext der Beziehung zum Unendlichen verwendet. 812 Der Sinn dieses Begriffs lässt sich in verschiedenen Momenten beschreiben. Als Erwählendes bekommt das Unendliche eine Bedeutung als die Instanz, welche in der ethischen Forderung die letztgültige Wirklichkeit und Bedeutsamkeit des Subjekts bestätigt. 813 Sie macht es zu einem Einzigen – nicht der Zahl nach oder als Ausschluss der Erwähltheit des Anderen 814, sondern im Sinne des Unersetzbaren (JS135), in der asymmetrischen Stellvertretung aus jeder Allgemeinheit oder Vergleichbarkeit mit Anderen Herausgehobenen (JS282) und so gewissermaßen Privilegierten (TU408 u. JS282). Auch wird das Unendliche zur Instanz, welche den Sinn und die Berechtigung der Existenz des Subjekts verbürgt, freilich gerade indem es in ihm angesichts des Anderen den Zweifel und die Frage – für Levinas die Grundfrage der Philosophie – wach hält, mit welchem Recht es existiert (BS215–217 812 Zwar spricht Levinas von Erwählung auch außerhalb dieses Kontextes (JS122 u. 234). Es fällt jedoch auf, dass als Subjekt der Erwählung – soweit ich sehe – nie der Andere genannt wird, sondern wenn, dann das Gute (JS51 u. 136), mit dem Levinas das Unendliche meint (JS272–274), oder ausdrücklich Gott (EA254 f. u. 265 f.). In TU findet sich die Rede von der Erwählung jeweils schon im religiösen Kontext des sogenannten Gottesurteils (TU358–363) oder der Schöpfung (TU406–409). In engem Zusammenhang steht er auch mit dem Begriff des Messianismus (vgl. etwa MG82), für den Levinas als Interpretation einen Messianismus des zur universalen Stellvertretung erwählten Einzelnen vorschlägt (vgl. dazu unten, S. 569–570 u. Anm. 835). 813 In TU findet sich dieses Moment etwa im Begriff des Gottesurteils ausgedrückt, welches an das Ich in der Begegnung mit dem Anderen ergeht, und zwar als Erwählung in die Position der Einzigkeit und so als Erfüllung der Apologie (TU358–364; zum Begriff der Apologie vgl. unten, S. 683–687). Zur ganzen Thematik der Letztgültigkeit der Wirklichkeit und Bedeutung der Individualität vgl. oben das Kapitel zu Levinas’ Auseinandersetzung mit dem Problem des Es-gibt (S. 359–394) sowie den Abschnitt zur entsprechenden Abgrenzung von Fichtes Ansatz, der die Individualität relativiert (S. 443–483). 814 Vgl. TU407 zur Erwählung in der Vater-Sohn-Begrifflichkeit: »Der Sohn ist einziger Sohn. Nicht kraft der Zahl! Jeder Sohn des Vaters ist einziger Sohn, auserwählter Sohn.«

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u. 222–228). Der Begriff der Erwählung drückt dabei von vornherein aus, dass dies alles dem Menschen nur passiv von außen aus der Beziehung zum Unendlichen zukommen kann; er ist »Erwählter, der seine Erwählung nicht erwählt« (JS136). Zugleich gehört jedoch für Levinas zur in der Einzigkeit liegenden Identität die Autonomie – vom Eigenvollzug des Imperativs bis hin zum Vollzug eines universalen ethischen Urteils. Auch diese Momente führt er auf eine Einsetzung durch das Unendliche zurück, und zwar auf eine Einsetzung, die zugleich »in der Spur der Transzendenz« (JS345) durch den Anderen geschehen kann. Das Unendliche eröffnet eine Beziehung von Getrennten – sowie seine eigene Getrenntheit und Transzendenz – durch die Selbständigkeit des Subjekts im ethischen Urteil. 815 Außerdem ist in der Unendlichkeit des Unendlichen der Verweis auf den Dritten und die Eröffnung der Ebene der Universalität grundgelegt. 816 Dass dem Ich dabei eine getrennte Existenz eröffnet wird, es zu sich kommen und es sich wie die Anderen als selbst Anderen sowie als Träger von Rechten in den Blick nehmen kann, bezeichnet Levinas als »göttliche […] Gnade« und »Hilfe« (JS345). 817 Den Aspekt der Beziehung zum Unendlichen, dass es das Ich in die Einzigkeit und darin in eine Selbständigkeit einsetzt, drückt Levinas auch mit dem Begriff der Vaterschaft aus. Die Grundlage dafür ist Vgl. dazu oben, S. 545. Wenn Levinas in seinem Kapitel über den Dritten in JS immer wieder auf die Illeität Bezug nimmt (JS336 f., 341, 345 u. 350), dann liegt die Interpretation nahe, dass er sie hier als Grundlegung für den Bezug zum Dritten verstehen möchte. Es geht ihm an der Stelle jedoch nicht um diesen Punkt, auch nicht darum, Gott irgendwie als ursprünglichen Dritten ins Spiel zu bringen (dagegen wendet er sich ausdrücklich JS328), sondern um die im Unendlichen liegende Eröffnung der Autonomie (vgl. oben, Anm. 536). Zugleich benennt er hier jedoch den Bezug des Anderen auf den Dritten als Brüderlichkeit (JS344) und verweist dazu auf die Ausführungen in TU, welche diesen Bezug aus dem Horizont der Fruchtbarkeit oder der Vaterschaft erhellen (vgl. dazu oben, S. 432–436). Indem dieser Horizont für Levinas ursprünglich in der Beziehung zum Unendlichen eröffnet ist (vgl. unten, Anm. 819), ist für ihn also auch der Verweis auf den Dritten im Unendlichen grundgelegt. Zudem spielt hier evtl. der weitere Gedanke von Levinas mit hinein, dass zur Moral eine Forderung nach dem Sieg des Guten gehört, der von Gott dadurch verbürgt werden kann, dass er etwas über die eigene Stellvertretungsexistenz Hinausgehendes eröffnet (vgl. dazu unten, S. 569–577). Er hängt insofern mit der Vaterschaftsdimension eng zusammen, als sich das Ich auch in ihr über seine Verantwortlichkeit hinaus auf ein anderes moralisches Subjekt bezogen sieht. 817 Vgl. auch die Bemerkung, das Subjekt werde in der Konstitution seiner Selbständigkeit »freigekauft durch die Güte des Guten« (JS41, vgl. dort auch Anm. 7). 815 816

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die phänomenologische Analyse des Verhältnisses der Fruchtbarkeit – konkret von ihm untersucht und begrifflich gefasst als Vater-SohnVerhältnis –, in welchem er ein ethisches Aufruf- oder Erwählungsverhältnis entdeckt, das über die zuerst in den Blick genommene biologische Beziehung hinausgeht und im Prinzip in Bezug auf jeden Anderen besteht. 818 Auch die Beziehung zum Unendlichen beschreibt Levinas als Vater-Beziehung. In ihr sieht er offenbar die Vaterschaft als eine Seinsdimension überhaupt eröffnet – unter Vermeidung ontologischer Termini müsste man von einer ›Spur‹ von Beziehung sprechen –, die in verschiedenen Formen im Zwischenmenschlichen bis hinein in das Biologische, von dem aus sie analysiert wurde, wiederholt und vollzogen werden kann. 819 Die Einzigkeit im Verpflichtetsein ist für Levinas dabei dadurch eröffnet, dass sich die Erwählung immer schon als Liebe ereignet und Liebe – abgelesen an der Liebe des Vaters zum Sohn – den Anderen immer als Einzigen liebt, sozusagen als gäbe es nur ihn allein (TU407 f.). Auch die anderen Aspekte der Identität des Verantwortlichen, die Selbständigkeit und die vom Dritten ausgehende Universalität der Autonomie, werden von Levinas

Vgl. dazu oben, S. 378–381. Vgl. TU406: »Als Bruch, als Verleugnung des Vaters, als Anfang, vollzieht und wiederholt die Kindschaft in jedem Augenblick das Paradox einer geschaffenen Freiheit.« In TU408 wird die Schöpfung ausdrücklich als Beziehung der Fruchtbarkeit bezeichnet und als Bedingung für die Identität des erwählten Einzigen angeführt. In TU310 f. deutet Levinas den Monotheismus von der Vaterschaft her als Idee einer gemeinsamen Abstammung der so einander brüderlichen Menschen (ähnlich auch TU424). Es ist naheliegend, dass Levinas den von der biologischen Zeugungsbeziehung her entwickelten Begriff der Fruchtbarkeit mit der Beziehung der Schöpfung und nicht nur mit der zum Unendlichen verbindet. Wenn Levinas später gegenüber der Rede von einer Schöpfung zurückhaltend ist und die Gottesbeziehung affirmativ nur noch als Beziehung zum Unendlichen beschreibt, dann kann mit ihr die Dimension der Fruchtbarkeit oder Vaterschaft durchaus weiter verbunden bleiben – zwar nicht als Hervorbringung des Seins, so doch aber in dem Aspekt der Einsetzung in die Verantwortung. Die Rede von einer Seinsdimension der Vaterschaft lässt sich daraus rechtfertigen, wie Levinas über das Weibliche spricht, das, wie im Folgenden noch deutlich wird, strukturell dem Väterlichen gleichkommt. Er nennt es eine »Dimension des Weiblichen«, einen »Horizont […]«, er benennt es als das »weibliche Sein« (TU226) oder als eine »köstliche Ohnmacht im Sein« (TU223; vgl. auch TU215). Wenn Levinas später unter Vermeidung der Begrifflichkeit des Seins und der Teilhabe das Bedingungsverhältnis zwischen der Beziehung zum Unendlichen und der zum Anderen ausdrücken will, spricht er häufig von der Spur, in der sich etwas anderes ereignen kann (vgl. dazu oben, Anm. 583). 818 819

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aus der Dimension der Vaterschaft und so letztlich aus einer Väterlichkeit des Unendlichen erhellt. 820 Unendlichung durch Fruchtbarkeit Bevor die Auslegung des Erwähltseins durch den Vater fortgeführt wird, bietet es sich an, einen weiteren mit dem Begriff der Vaterschaft und der Fruchtbarkeit zusammenhängenden Aspekt der Transzendenzbeziehung zu benennen. Levinas beschreibt die Vaterschaft auch als ein Verhältnis, in dem das Subjekt selbst in die Position des Vaters kommt. Da dieses Verhältnis schon beschrieben wurde, soll es hier nur kurz charakterisiert und auf die Beziehung zum Unendlichen hin ausgelegt werden. In der Vaterschaft bezieht sich das Subjekt auf den Anderen als seinen Sohn und als selbst einen Verantwortlichen. Zum einen ist hierbei das Moment der Einsetzung des Sohnes in seine Verantwortung wichtig, zum anderen, dass das Subjekt sich mit dessen Verantwortlichsein und überhaupt mit dessen Möglichkeiten identifizieren und sich so über die Bindung an seine Existenz erheben kann. 821 Erst darin wird für Levinas die Problematik des Es-gibt überwunden. Mit dem Unendlichen steht dies zum einen insofern in Zusammenhang, als für Levinas, wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, die Dimension der Vaterschaft durch das Unendliche überhaupt eröffnet wird. Zum anderen vollzieht sich in dieser Identifikation mit dem Anderen erst letztlich die »Unendlichung« des Subjekts (TU410–412) – und damit das Ereignis des Unendlichen. Diese Unendlichung kann Levinas in der frühen Zeit noch ontologisch als die »Unendlichkeit des Seins« (TU406) bezeichnen. »Das unendliche Sein ereignet sich als Zeit, d. h. in mehreren Zeiten durch die tote Zeit hindurch, die den Vater vom Sohn trennt. […] Das Nichts des Intervalls – eine tote Zeit – ist das Ereignis des Unendlichen.« (TU415) Wenn Levinas in der späteren Zeit die Lösung von der Bindung an das eigene Sein im Ereignis der Stellvertretung gegeben sieht, dann wir dadurch die Beschreibung dieser Lösung in der Vaterschaft nicht

820 In TU408 sieht Levinas die Freiheit aus der Schöpfung, verstanden als Fruchtbarkeit, eröffnet. In TU307–311 wird die Bezogenheit auf den Dritten aus der Vaterschaft erhellt (vgl. dazu oben, S. 432–436), die als in der Vaterschaft des Schöpfers grundgelegt angesehen wird (hier indirekt angedeutet durch die Verbindung mit dem Monotheismus in TU310 f.). 821 Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 375–383.

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aufgehoben, sondern es wird vielmehr die Identifikation der Vaterschaft in das Stellvertretungsereignis integriert. Zwar ist die Möglichkeit der Identifikation mit dem Anderen unabhängig davon gegeben, ob dieser biologisch der eigene Sohn ist. Sie besteht jedoch nicht unabhängig von der Fruchtbarkeit überhaupt, denn nur durch sie kommt es zur Vielheit der Seienden. Beziehung als Seinsstruktur »verlangt an ihrer Basis eine durch das Diskontinuierliche hindurchgehende Fruchtbarkeit« (TU415). 822 Nach der im vorigen Kapitel vorgestellten Analyse lässt es Levinas offen, ob die Entstehung des Seienden und damit auch die Fruchtbarkeit letztlich in einer Schöpfung begründet sind. Wenn, dann wäre es das Unendliche selbst, das nicht nur die Dimension der Vaterschaft bzw. der Identifikation in der Stellvertretung eröffnet, indem es mit dem Subjekt eine Beziehung von Einzigkeit zu Einzigkeit unterhält, sondern das auch die fortdauernde Vielheit der Seienden begründet und es so dem Subjekt ermöglicht, völlig von der Bindung an sich gelöst und auf das Unendliche hin transzendiert – verunendlicht – zu sein. Mutterschaft Zurück zur Vaterschaft im Sinne der Erwählung des Subjekts. Dass der Vater die Einzigkeit des Sohnes einsetzt und er sich mit ihm identifizieren kann, bedeutet für Levinas umgekehrt ein Subsistieren des Sohnes im Vater und einen »Rückhalt« im Vater. »Der Sohn ist, ohne ›auf eigene Rechnung‹ zu sein, er lädt sein Sein dem Anderen auf und spielt folglich sein Sein; eine solche Daseinsweise ereignet sich als Kindheit mit ihrem wesentlichen Bezug zu der behütenden Existenz der Eltern.« (TU407) Um dieses Moment des Rückhalts im als Fruchtbarkeit beschriebenen personalen Einsetzungsverhältnis eigens auszudrücken, verwendet Levinas den »Begriff der Mutterschaft« (TU407). 823 Die sich auf traditionelle Geschlechterrollen stützende Benennung mag fragwürdig sein, der Sache nach ist die UnterscheiVgl. auch TU409 u. 436 f. Dies ist in TU die einzige Stelle, an der dieser Begriff verwendet wird. In JS findet er sich häufig, allerdings in einer anderen Bedeutung (vgl. bes. JS170 f., 162, 174 u. 204 f.). Er bezeichnet nicht mehr ein vom Ich oder vom Anderen ausgehendes, den eigentlichen Charakter der Forderung vorbereitendes, Rückhalt und Raum gebendes personales Verhältnis, sondern asymmetrisch das Verantwortlichsein gegenüber dem Anderen, das jedem freien Engagement vorgängige, konkret leibliche Sich-selbst-entrissen-Sein und das Tragen des Anderen bis zur Stellvertretung. 822 823

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dung nicht davon abhängig. Dieser Begriff der Mutterschaft entspricht in zentralen Momenten dem – in der Benennung genauso fragwürdigen – Begriff des Weiblichen, welchen Levinas, wie noch zu zeigen sein wird, im Zusammenhang der leiblichen Konstitution des Subjekts als Bedingung des Wohnens herausarbeitet (und der zu unterscheiden ist von dem des erotischen Weiblichen). 824 Auch das Weibliche, das als personales, aber seinen fordernden Ausdruck diskret zurückhaltendes Gegenüber, als raumgebende Wärme und Milde beschrieben wird, eröffnet eine der Verantwortung noch vorgängige Identität des Subjekts. Da für Levinas das identitätskonstituierende Aufforderungsverhältnis in der Beziehung zum Unendlichen grundgelegt ist, impliziert dieses auch das raumgebende Moment. Deshalb kann er den Begriff des Weiblichen auf sie übertragen. Die Konstitution des getrennten Seienden könne nicht durch ein bloß forderndes Unendliches geschehen, sondern nur zugleich in einer raumgebenden Milde, »kraft der weiblichen Anmut, mit der die Idee des Unendlichen sich ausbreitet« (TU216). Wenngleich von Levinas die Beziehung zum Unendlichen ausgehend von der ethischen Forderung beschrieben wird und dieser Charakter die Beziehung auch weitgehend in seinen Texten bestimmt, so finden sich auch Aussagen, in denen das Unendliche Bedeutung bekommt als Gebendes, Raumeröffnendes und die Identität des Ich Bestätigendes. Und zwar erfolgen sie schlüssig aus seiner Analyse der personalen Beziehung, die als Beziehung Getrennter nicht nur von der Bestätigung der getrennten Existenz in der erwählenden Forderung, sondern zunächst von der Konstitution dieser Existenz im Genuss sowie von ihrer Entfaltung in einer der Forderung vorgängigen personalen Beziehung bedingt ist. Es wurde bereits herausgearbeitet und wird in der Analyse der leiblichen Trennung noch genauer begründet werden, wie für Levinas die Selbsterhaltung nicht nur faktisch notwendig ist, sondern auch eine Berechtigung besitzt, indem sie einen integralen Bestandteil der ethischen Beziehung zum Anderen darstellt. Es ist also nur konsequent, wenn auch in der Beziehung zum Unendlichen diese Dimension integriert ist. Levinas deutet diese Seite des nicht fordernden, sondern gebenden Unendlichen sehr selten und, wie dargelegt, eher indirekt an. Er meidet entsprechend auch das Thema Dankbarkeit. Vorwiegend taucht es auf im Zusammenhang der Feststellung, dass eine wirklich 824

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Vgl. dazu unten, S. 693–700.

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selbstlose Großmut die Undankbarkeit des Anderen fordere (BS34 u. SpA216). Die Dankbarkeit wird jedoch auch positiv gewürdigt. An einer Stelle wird sie von ihm als eine Form der selbstlosen Beziehung zum Anderen genannt (JS49). Dies erscheint ausgehend von der ethischen Dignität der Selbstsorge und somit auch des Empfangens als konsequent – freilich nur solange man die Dankbarkeit als in die Ausrichtung auf den Anderen integriert versteht, als Dankbarkeit für alles, was zur Hingabe befähigt. Wenn sich an anderer Stelle andeutet, dass Levinas den Dank selbstverständlich als rechtmäßigen Teil des Gebetes und als Form des Zeugnisses ansieht (JS327 f.), dann würde sich auch das schlüssig in sein Denken einfügen. Es fehlen zwar nähere Ausführungen dazu. Wenn Levinas es aber innerhalb seines Verständnisses von Gebet, das für ihn nicht ursprünglich eine Bitte, sondern eine Erhebung der Seele zu Gott darstellt 825, doch für gerechtfertigt halten kann, Gott um etwas zu bitten, dann spricht dies dafür, dass er ebenso dem Dankgebet eine Bedeutung gegeben hat. Es geht für ihn zwar nicht an, dass »der Einzelne, wenn er betet, von seinen egoistischen Bedürfnissen« (VB69) spricht. Die Bitte für das Volk Israel ist für ihn jedoch erlaubt, und zwar dann, wenn es als »Träger der Offenbarung«, also im Dienst letztlich am Anderen, in Gefahr gesehen wird (VB69). Es findet sich hier dieselbe Struktur wie in der Argumentation für ein Recht der Sorge um sich selbst, das besteht, insofern das Selbst Bedingung ist für die Hingabe an den Anderen. Mit der Ausrichtung auf diese Hingabe kann Levinas offenbar sowohl die Bitte um etwas für sich selbst als auch den Dank dafür als gerechtfertigt ansehen. Um der Genauigkeit der Interpretation willen muss jedoch bemerkt werden, dass sich Levinas extrem selten in diese Richtung äußert und dass es einer gewissen interpretatorischen Zusammenführung seiner Gedankenlinien bedarf, um zumindest das Vorhandensein dieser Perspektiven herauszuarbeiten. Geschichtliches Wirken Gottes – angesichts des Leids und der Offenbarungsbedürftigkeit? Mit der Thematik des Bittgebets ist die Frage nach der Möglichkeit einer über die Schöpfung, die Eröffnung der getrennten Existenz und den ethischen Aufruf hinausgehende Hilfe Gottes angesprochen, und zwar zuerst einmal in der Form eines geschichtlichen Wirkens. 825

Vgl. oben, Anm. 793.

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Wenn Levinas vom existentiellen Alleingelassensein des Gläubigen, von der Demut und von der Ferne Gottes, der den Menschen ganz seiner Verantwortung überlässt, spricht 826, dann legt dies die Interpretation nahe, es folge für ihn aus seiner philosophischen Ethik, dass Gott nicht eingreift, eventuell sogar nicht eingreifen kann. Eindeutige Aussagen und Argumentationen hierzu finden sich, soweit ich sehe, jedoch nicht. Dass er, wie herausgearbeitet wurde, das Bittgebet in einer bestimmten Form für gerechtfertigt hält, lässt es zumindest als zweifelhaft erscheinen, er sei davon ausgegangen, Gott greife niemals ein oder es sei ihm dies unmöglich. Beides würde sich genau besehen auch tatsächlich nicht aus seinem Ansatz ergeben. Zwar ist für Levinas aufgrund der Asymmetrie der Verantwortung und ihrer bis zur Stellvertretung reichenden Absolutheit zuerst einmal jedes In-denBlick-Nehmen eines Beistands in der Verantwortung und somit ebenso eine göttliche Hilfe ausgeschlossen. 827 Ähnlich aber wie die damit einhergehende Negation Gottes nicht die Negation seiner Existenz bedeutet, ist damit auch nicht ein mögliches Eingreifen verneint. Levinas weist nur zurück, dass die Verantwortung in ihrer ursprünglichen Unabgrenzbarkeit eingeschränkt wird sowie dass man sich solch eine Einschränkung wünscht oder eine bestimmte Hilfe zur Bedingung für die Übernahme der Verantwortung macht. Wie dadurch die tatsächliche Hilfe eines anderen Menschen nicht ausgeschlossen ist, so gleichfalls nicht die Hilfe Gottes. Man muss nur bereit sein zur Verantwortung auch ohne diese Hilfe. Meiner Interpretation nach disqualifiziert sich für Levinas die Idee eines Eingreifens Gottes genauso nicht dadurch, dass Gott dabei zu einem Seienden gemacht und seinem Jenseits-des-Seins widersprochen würde. Dies lässt sich am Schöpfungsbegriff verdeutlichen, der ebenso den Begriff eines göttlichen Wirkens enthält. Die Problematik der ontologischen Begriffe führt zwar Levinas dazu, die Sinnhaftigkeit dieses Begriffs anzufragen, er schließt von seinem Konzept des Jenseitsdes-Seins her – m. E. konsequent – dessen Sinnhaftigkeit jedoch auch nicht einfach aus. 828 Vgl. oben, S. 549 f. Vgl. dazu bes. in JS337 die Rede von der »Verantwortung, bei der niemand mir beisteht«, die »zur Bestreitung des Unendlichen wird, aber zur Bestreitung, durch die alles mir obliegt«. Vgl. auch RE32 zur »Unmöglichkeit, in der Gott sich befindet, die Pflichten und Verantwortlichkeiten des Menschen auf sich zu nehmen«. Vgl. auch DG110–113. 828 Vgl. dazu oben, S. 557 f. Allein die Sinnhaftigkeit nicht auszuschließen, bleibt 826 827

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Diese Interpretation wird unterstützt und ergänzt, wenn man betrachtet, wie sich Levinas gegenüber der Theodizeefrage verhält. Das Leid in der Welt ruft nach einem helfenden Eingreifen Gottes. Zugleich scheint es zu zeigen, dass er nicht eingreift, ja dass er gar nicht existiert. »Wurde Nietzsches Wort vom Tod Gottes in den Vernichtungslagern nicht die Bedeutung einer quasi empirischen Tatsache verliehen?« (DL125) Zumindest nimmt diese Erfahrung den Glauben an einen Gott, der belohnend und bestrafend in die Welt eingreift und dabei »in seiner Güte die Menschen wie ewige Kinder behandelte«, und macht Platz für den erwachsenen Glauben an einen Gott, der »an die Reife des voll verantwortlichen Menschen appelliert« (DT110 f.), einen Glauben, der allein von der Ethik selbst seinen Ausgang nimmt. 829 Levinas formuliert hieraus aber nicht die These, dass Gott nicht eingreift oder es nicht kann. Auch folgt für ihn aus der Frage, ob die Idee eines Gottes, der auf die Welt als Urheber oder sonst in irgendeiner Weise wirkend bezogen ist, nicht seinem Jenseits-desSeins widerspricht, keine Lösung der Theodizeefrage. Das Leid des Anderen bleibt eine Infragestellung des Gottesglaubens (DL124–128) oder lässt ihn zumindest »schwieriger« werden (DL127). Die Theodizeefrage bleibt offen. Wie im nächsten Abschnitt herausgearbeitet wird, ist für ihn nicht nur das Leid des Anderen, sondern auch das eigene ein berechtigter Grund, philosophisch Ausblick zu nehmen auf eine eschatologische Befreiung, und zwar, weil auch das eigene Leid etwas ist, das die Entfaltung des Selbst und damit seine Möglichkeiten der Selbstgabe einschränkt und das insofern an sich nicht sein soll. Wenn er es für sinnvoll erachtet, sich angesichts dieses Leidens gegen Gott zu empören (DL113), legt dies nahe, dass er ein Eingreifen zumindest für möglich hält, auch wenn er angesichts der Erfahrung des hilflosen Leids nicht damit rechnet. Dadurch behält die Theodizeeproblematik ein großes Gewicht. Wenn Levinas aus ihr nicht m. E. freilich unbefriedigend. Dann könnte es immer noch möglicherweise sinnlos sein, wie Levinas selbst von einer möglichen Beziehung zu einem vom Anderen unterschiedenen Unendlichen spricht, wie er an dieses die Theodizeefrage heranträgt und wie er es als Instanz ins Spiel bringt, die evtl. eine Erlösung eröffnet. Deshalb wird hier versucht zu zeigen, wie es innerhalb von Levinas’ Ansatz sinnvoll sein kann, metaphysische Fragen zu stellen. 829 Vgl. die positive Bezugnahme auf Kants Vorordnung der Ethik vor den Glauben und die Gründung des Glaubens auf die Ethik DL1317 sowie auf eine Aussage aus dem Text Jossel Rackower spricht zu Gott von Zvi Kolitz: »Ich habe ihn lieb, aber seine Thora habe ich noch lieber. Und selbst hätte ich mich in ihm getäuscht – seine Thora würde ich weiterhüten.« (DT112) Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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die Konsequenz des Atheismus zieht, dann deshalb, weil für ihn im ethischen In-Anspruch-genommen-Sein bleibend eine Manifestation des Unendlichen liegt. 830 Auch würde für ihn der Unglaube »die Welt dem sinnlosen Leiden preisgeben« (DL127). Dass Levinas mit einer besonderen geschichtlichen Wirksamkeit Gottes zumindest nicht rechnet, wird auch deutlich, wenn man seinen Umgang mit dem Thema Offenbarung betrachtet. Für Levinas kommt dem Zeugnis für das Unendliche – und insofern der Offenbarung des Unendlichen 831 – eine große Bedeutung zu, und zwar nicht nur dem Zeugnis, das in der individuellen ethischen Tat liegt, sondern auch dem, das sich in besonderer Weise in einem Wort verdichtet, das tradiert wird und die ethische Sensibilität der Menschheit bildet. 832 Obwohl Levinas ein Bewusstsein hat für die Bedürftigkeit des Menschen nach einer Erhellung der eigentlichen Orientierung gebenden Bedeutung 833 und obwohl ihm von seiner jüdischen Tradition her die Idee einer besonderen göttlichen Hilfe durch Offenbarung nahe liegt, sieht er den biblischen Schriften dasselbe Ereignis einer vom Unendlichen oder vom Gesicht ethisch ergriffenen prophetischen Inspiration zugrunde liegen wie anderen Schriften aus Literatur und Philosophie und unterscheidet sie nicht durch ein besonderes Offenbarungswirken Gottes. 834 Gleichwohl wird auch im Zusammen830 Vgl. DT111: Das Leid »offenbart einen Gott, der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, an die Reife des voll verantwortlichen Menschen appelliert. Doch dieser Gott, der sein Antlitz verhüllt und den Gerechten seiner Gerechtigkeit ohne Sieg überläßt – dieser ferne Gott kommt alsbald von innen.« 831 Levinas selbst spricht von der »Offenbarung des Unendlichen« (TU25; vgl. ebenso TU28). Auch noch in JS kann für ihn das Zeugnis »offenbaren« (JS322 f.; vgl. ebenso JS341). Es kommt ihm zwar darauf an, diese Rede zu relativieren, indem die Beziehung zum Unendlichen nicht primär eine der Erkenntnis ist, sondern der ethischen Passivität (TU30). Die spezifische Weise des Erkennens, die damit einhergeht, wird für ihn jedoch besonders gut durch den Terminus ›Offenbarung‹ ausgedrückt, weil sie immer etwas ist, was von außen, aus der Exteriorität des Unendlichen heraus, auf das Subjekt trifft und in diesem Sinne keine natürliche Erkenntnis darstellt (TU81 u. 87). 832 Vgl. unten, S. 782–787. 833 Vgl. unten, S. 577. 834 Vgl. EU91: »Die Heilige Schrift ist nicht bedeutungsvoll aufgrund der dogmatischen Erzählung ihres übernatürlichen oder heiligen Ursprungs, sondern durch den Ausdruck des Antlitzes des anderen Menschen«. Und: »Ich denke, daß durch jegliche Literatur hindurch das menschliche Antlitz spricht«. Vgl. dazu auch EE15 u. EU14. Wenn Levinas trotzdem von einer »unvergleichlichen prophetischen Vorzüglichkeit des Buches der Bücher« (EU91) ausgeht, dann liegt der Grund für ihn offenbar nicht in einem besonderen übernatürlichen Ursprung.

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hang mit dieser Thematik dessen Möglichkeit nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Messianismus und Eschatologie Von größerem Gewicht als die Frage nach einem möglichen Eingreifen Gottes in die Geschichte ist die Frage danach, ob es in Levinas’ Ansatz möglich ist, dass Gott über die Eröffnung der ethischen Existenz hinaus einen Erlösungszustand herbeiführt, in dem Leid und Ungerechtigkeit überwunden sind. Sie kann von der ersten Frage unabhängig sein, da eine solche Erlösung auch außergeschichtlich, ja sogar als von einer besonderen Einwirkung Gottes unabhängig gedacht werden kann. Im Unterschied zu ihr äußert sich Levinas hier auch deutlicher. Wenn Levinas die religiöse Hoffnung eines von Gott eröffneten Heils der Welt, wie sie sich im Judentum als Messianismus oder im Christentum als Christusglaube findet, philosophisch in den Blick nimmt, dann tendiert er zwar dahin, zuerst einmal alle messianischen Aussagen zu interpretieren auf die Situation der Stellvertretung des Einzelnen hin. 835 Die phänomenologische Analyse kann zunächst 835 Paradigmatisch für eine philosophische Lesart des jüdischen Messianismus ist die Untersuchung Messianische Texte. Zur Methode der Interpretation der einschlägigen Talmud-Texte hinsichtlich ihres Potenzials zur philosophischen Auslegung der menschlichen Existenz hin vgl. hier v. a. MT69 f. Als eine mögliche Interpretation des Messianismus arbeitet Levinas in MT94 f. die Idee heraus, dass jeder Mensch Messias ist, indem er als ethisches Subjekt immer schon auf den Ruf der Verantwortung geantwortet hat und darin sich selbst befiehlt, sowie indem er sich in der Stellvertretung für alle befindet und konkret sich nicht dem entziehen kann, das Leid der Anderen zu tragen. Denn der »Messias ist der König, der nicht mehr von außen befiehlt«, und er ist »der Gerechte, der leidet, der das Leid der anderen auf sich geladen hat«. Durch die Apodiktizität, mit der Levinas diese Idee vorstellt, erscheint sie als eine Sicht des Messianismus, die er für philosophisch gerechtfertigt hält und sich darüber hinaus selbst zu eigen gemacht hat. Dies legt sich auch von daher nahe, wie er die Gedankenlinien der vorausgehenden Untersuchung auf sie hinauslaufen lässt (zusätzlich zu den beiden schon genannten Punkten sprechen für diese Sicht: einerseits der Ausschluss eines geschichtlichen und politischen Messianismus [MT82–84, 87 f. u. 91 f.] und andererseits die Tendenz zu einem inkarnierten und an die Geschichte gebundenen transgeschichtlichen Heil [MT61–69 u. 87]; die Verhältnisbestimmung von messianischer Zeit und zukünftiger Welt [MT60 f. u. 67–69]; das Zusammenspiel zwischen Freiheit und Hilfe Gottes [MT74–81]; die Idee eines Messianischen in einer in Sünde versunkenen Welt [MT80]; die beiden Widersprüche des Messianismus [MT81–84] sowie die Gottunmittelbarkeit der Erlösung [MT86–89]). Eine philosophische Interpretation unternimmt Levinas auch in Bezug auf die christologische

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eben dieses unabgegrenzte Verantwortlichsein als Form des Sichereignens des Unendlichen in der Subjektivität erschließen und insofern die Möglichkeit einer Deutung als Erfüllung religiös-messianischer Hoffnungen eröffnen. Levinas kann auf diese Interpretation des Messianismus eine traditionelle jüdische Position übertragen, die, statt von einem Messias, die Erlösung unmittelbar von Gott erwartet (MT87). Gott spielt hier freilich erst einmal nur eine Rolle als derjenige, der das Ich in die Verantwortung ruft und dessen Unendlichkeit sich insofern in ihm ereignet. Durch das, was sich so aus der philosophischen Analyse ergibt, ist für Levinas jedoch nicht ausgeschlossen, dass von Gott her nicht noch eine darüber hinausgehende Erfüllung eröffnet werden kann. Die präsentische Eschatologie ersetzt nicht einfach die futurische. Ja die philosophische Analyse drängt ihn sogar in die Richtung der futurischen. 836 Die Ethik fordert zwar, dass der Stellvertretungsvorstellung (MG79–82; zur Methode vgl. MG73 f.). Hier wird die Idee des Messianismus des Einzelnen in der Stellvertretung ausdrücklich als die sich philosophisch erschließende herausgestellt. »Das Ich ist derjenige, der vor jeder Entscheidung schon erwählt ist, die ganze Verantwortung der Welt zu tragen. Der Messianismus ist eben dieser Gipfel des Seins – die Umkehrung des Seins, das ›in seinem Sein beharrt‹« (MG82). In etwa findet sich diese Sicht auch schon in TU (hier angeschlossen an der eschatologisch-messianischen Idee des Jüngsten Gerichts und auf sie zugespitzt), wenn Levinas die Eschatologie mit der Situation identifiziert, in der das Ich in der Beziehung zum Unendlichen und in der Verantwortung gegenüber dem Anderen steht, die es in seine eigentliche Identität und Bedeutung einsetzen, ihm mit ihrer Anklage anders als jede geschichtlich-endzeitliche Eschatologie gerecht werden und das einzig wahre Urteil sprechen (TU21–27 u. 352–364): »Nicht auf das Jüngste Gericht kommt es an, sondern auf das Gericht all der Augenblicke in der Zeit« (TU22). Dieses beschreibt Levinas mit der »Idee des Gottesurteils«, das »mich im Antlitz des Anderen ansieht« (TU358 f.). 836 Gerade in TU wird deutlich, dass sich für Levinas philosophisch zwei Formen von Eschatologie erschließen. Zur präsentischen Eschatologie ausgehend von der Idee eines Gottesurteils vgl. oben, Anm. 835. Daneben ergibt sich für ihn auch die Perspektive einer futurischen Eschatologie. Es finden sich in TU verschiedene Gedanken, in denen sich eine Befreiung vom Tod andeutet, die aber noch nicht auf eine Existenz nach dem Tod weisen. So besteht die sich aus dem Gottesurteil ergebende »Möglichkeit, nicht zum Tode zu sein«, (TU364) lediglich darin, unabhängig vom Tod, unabhängig ob es ein Weiterleben gibt oder er ein Aus bedeutet, das Gerechtigkeitserfordernis erfüllt zu sehen, eine adäquate Beachtung seiner selbst sowie »trotz des Todes wieder einen Sinn zu finden« (TU346; vgl. auch TU340; JS255 u. 286–288 sowie GTZ196). Auch dass der fordernde Blick des Anderen seinen Tod überdauert (TU340) und die Verantwortung genauso durch den eigenen Tod nicht aufgehoben wird, was oben neben dem letztgenannten Punkt als Phänomen angeführt wurde, in dem sich für Levinas eine Perspektive auf eine Zeitlosigkeit eröffnet (vgl. S. 535–537), bedeutet für ihn »keineswegs irgendein Versprechen von Auferstehung« (DT160). Ebenso die

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Einzelne seine Verantwortung übernimmt ohne die Bedingung irgendeines diesseitigen oder jenseitigen Lohnes, und sei es der Lohn des Triumphes, die Wirksamkeit des eigenen moralischen Tuns mitFruchtbarkeit, in der sich in TU erst die Erfordernisse der Apologie lösen, indem sich das Subjekt über seinen Tod hinaus mit den Möglichkeiten eines Anderen identifizieren kann, eröffnet keine Perspektive auf eine eigene Existenz nach dem Tod (TU411 f.; vgl. auch TU393: »[D]ie unendliche Zeit bringt nicht einem alternden Subjekt ein ewiges Leben«). Genauso wenig ist sie darin impliziert, dass sich für Levinas die unendliche Zeit der Fruchtbarkeit als »Tod und Auferstehung« (TU415) ereignet. Vgl. dazu die für die ganze mit dieser Thematik befasste Untersuchung in Die Zeit und der Andere erhellende Bemerkung, es gehe in ihr nicht darum, »wie man dem Tod eine Ewigkeit entreißt«, sondern »wie es möglich ist, ihn anzunehmen« (ZA50). Erst das Erfordernis eines Schutzes »gegen die Rache des Bösen, dessen Rückkehr die unendliche Zeit nicht untersagt« (TU416), eröffnet eine solche Perspektive. Erst hier erschließt sich die Möglichkeit einer über den rein präsentischen Messianismus des Einzelnen in der Stellvertretung hinausgehenden »messianische[n] Zeit« (TU416). Levinas stellt in TU somit zwei Arten der Eschatologie vor: einen philosophisch ›gesicherten‹ präsentischen Messianismus und einen philosophisch als möglich aufgewiesenen futurischen Messianismus (futurisch freilich nicht im Sinn der synchronen Zeit). Vor diesem Hintergrund kann deutlicher hervortreten, dass im Aufsatz Messianische Texte auch über die ziemlich eindeutige, im Folgenden noch behandelte Stelle in MT80 hinaus die Gedankenlinien nicht ausschließlich auf den präsentischen Messianismus hinauslaufen (vgl. dazu oben, Anm. 835). Die dieser Abhandlung zugrunde liegenden Vorträge sind in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu TU entstanden und können, wenngleich hier die philosophische Argumentation in einer Talmudinterpretation versteckt ist, als eine Vertiefung der in TU nur angerissenen Gedanken zum Messianischen angesehen werden. Ausgehend von der sich dort andeutenden futurischen Eschatologie wird der Sinn deutlich, warum Levinas in MT immer wieder Positionen würdigt, die in die Richtung dieser Option gehen: die Idee eines von allen Beschränktheiten befreiten quasi-göttlichen Lebens des Menschen (MT64), das rein ist und gefeit gegen das Vergehen (MT66); die Idee der zukünftigen Welt als reinem Vollendungszustand bei aller Bindung an ein geschichtliches Werden (MT60 f. u. 67– 69) und die Idee der Notwendigkeit einer über die Moral hinausgehenden Wirksamkeit Gottes (MT74–81 u. 89). Nur so ist auch glaubwürdig und in seinem Sinn verständlich, wie Levinas immer wieder die notwendige Polarität und Pluralität nicht nur der vertretenen Positionen des jüdischen Messianismus, sondern auch der tatsächlichen Denkoptionen hervorheben kann (MT64, 66, 81, 86, 100 f. u. ö.). Für ihn kommt die Philosophie tatsächlich nicht zu einem eindeutigen Ergebnis in der Frage des Messianischen, sondern hält Optionen offen für den Glauben. Dies wird m. E. zu wenig berücksichtigt, wenn Volker Jacobs MT letztlich bloß auf den präsentischen Messianismus hin auslegt (1998, 192–199). Erst wenn man beide Perspektiven zusammennimmt, scheint mir zudem eine Möglichkeit eröffnet, die philosophische Auseinandersetzung mit dem Messianismus bei Levinas nicht nur in einem Widerspruch zur christlichen Hoffnung stehen zu lassen. Legt man sie nur auf den Messianismus des Einzelnen hin aus, dann scheint kein Platz mehr zu sein für eine besondere Messianität Jesu Christi. So bleibt es m. E. in Josef Wohlmuths Darstellung des MesLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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ansehen zu dürfen. 837 Er muss bereit sein, darauf zu verzichten. Und doch gibt es für Levinas »neben dem Traum vom Glück« einen davon unterschiedenen und offenbar nicht aus einer Selbstbezogenheit entspringenden »Traum einer glücklichen Ewigkeit«, der »nicht eine bloße Verirrung« darstellt (TU416). Diese glückliche Ewigkeit wird für ihn sogar aus dem heraus gefordert, was das Subjekt in seiner Wahrheit als ethisches ist. »Die Wahrheit fordert […] eine Zeit, auf die sie das Siegel setzen kann – eine vollendete Zeit«; Levinas nennt sie hier auch »messianische Zeit« (TU416). 838 Und zwar wird sie von ihr deshalb gefordert, weil sie ausgerichtet ist auf ein Glück, das – »geschützt gegen die Rache des Bösen, dessen Rückkehr die unendliche Zeit nicht untersagt« – nicht mehr bedroht ist (TU416). Mit der »Rache des Bösen« ist m. E. die in der Geschichte immer bestehende Möglichkeit gemeint, dass sich Menschen frei zum Bösen wenden und dadurch das Gute durch die Auswirkungen des Bösen in Mitleidenschaft ziehen. Ein solcher nicht aus einem Eigeninteresse entspringender Ausblick auf eine Befreiung vom Leiden ist für Levinas möglich, ja sogar philosophisch naheliegend, weil für ihn, wie gezeigt wurde, die Konstitution des getrennten Subjekts im Genuss Bedingung ist für die Beziehung zum Anderen, weil die Selbstsorge integraler Bestandteil der Sorge für den Anderen ist, weil das Leid als Schädigung des Lebens sianismus bei Levinas (2002, 169–185), die sich nur auf den präsentischen Messianismus und nicht auf die »messianische Zeit« bezieht und die besonders das kritische Potential für die Christologie hervorhebt (vgl. auch Wohlmuth, 1998, 216 u. 227), fraglich, wie er von hier aus noch an der besonderen Bedeutung Christi festhalten kann (183 f.; die Idee, die Wohlmuth früher noch geäußert hatte, die Stellvertretung Jesu könne evtl. als »der transzendentale Grund« für die eigene Stellvertretung angesehen werden (1996, 61), findet sich hier nicht mehr). Macht man deutlich, wie der Messianismus des Einzelnen für Levinas zusammengehen kann mit einem philosophischen Ausblick auf eine besondere Hilfe Gottes, dann lässt sich m. E. im Rahmen dieses Ausblicks auch wieder über die besondere Bedeutung Jesu Christi nachdenken. Für Levinas müsste es ein Messianismus sein, der den des Einzelnen nicht verdrängt und der sich jenseits dessen abspielt, was in einer bloß geschichtlichen Messias-Gestalt erhofft wird. 837 Vgl. SpA216 f. u. DB34 f. Daraus folgt für Levinas auch, dass sich eine Perspektive auf ein jenseitiges Heil völlig unabhängig von jedem Eigeninteresse ergeben muss (DP197 f. u. 202 sowie GTZ70 f. u. 73–78) und dass man, um dessen würdig zu sein, bereit sein muss zur Verantwortung auch ohne solch eine Perspektive (EU88 u. 92). 838 In MT findet sich eine dazu etwas veränderte Terminologie, indem hier zwischen der messianischen Zeit und der zukünftigen Welt unterschieden wird (MT60) und mit der ersten die noch geschichtliche Übergangszeit, das »Scharnier« (MT60), zur zweiten gemeint ist (vgl. auch die weitere Verhältnisbestimmung bis MT69).

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immer auch eine Einschränkung der Möglichkeit der Hingabe an den Anderen darstellt und somit der Andere selbst »ein Recht über diesen Egoismus« (TU46) hat. 839 Mit der in Totalität und Unendlichkeit nur angerissenen Thematik des Messianischen setzt sich Levinas ausführlicher in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft dazu in einer Auslegung messianischer Texte des Talmud auseinander. Es ist eine theologische Schrift, die aber den Anspruch hat, philosophische Einsichten oder zumindest Denkoptionen herauszuarbeiten. 840 Auch in ihr thematisiert Levinas eine Ausrichtung der Moral auf einen »Sieg des Guten« bzw. eine »Niederlage des Bösen« (MT80), des Bösen, das aufgrund der Freiheit, in welcher die Moral allein verwirklicht werden kann, in der Geschichte immer möglich ist. 841 Hier wird ausdrücklich Gott als die 839 Vgl. dazu oben, S. 431 f. Für die eschatologischen Konsequenzen der Konstitution des Individuums aus dem Glück vgl. auch unten, S. 683–687. 840 Vgl. oben, Anm. 835 u. 836. 841 Zu den neben MT80 ebenfalls über einen bloß präsentischen Messianismus hinausführenden Gedankenlinien in MT vgl. oben, Anm. 836. Levinas schreibt in MT80 verschiedentlich so, dass es klingt, als wolle er etwas allgemein Einsichtiges, das auch seiner eigenen Auffassung entspricht, zum Ausdruck bringen. Wo dies tatsächlich der Fall ist, ist jedoch nicht so klar auszumachen. Zuerst einmal wird die Position eines Talmud-Gelehrten beschrieben und interpretiert. Von diesem wird eine Erlösung vertreten, die nicht durch die moralische Anstrengung der Menschen, sondern, evtl. unverdient, durch Gott bewirkt wird, um zu verhindern dass die Welt, was aufgrund der Freiheit möglich ist, in völlige Unmoral fällt. Da es sich offenbar um die Vorstellung einer Erlösung in Form eines geschichtlichen Heilszustandes handelt, geht es wohl nicht darum, dass hier eine innere Umkehr des bösen Willens gegen die Freiheit bewirkt werden soll. Es geht nicht um das Problem, wie sich das Gute auch in den in Freiheit abgewendeten Menschen durchsetzen kann, sondern um das Problem, wie die Guten vor einer Welt bewahrt werden können, die in Unmoral versunken ist, wie also ein Sieg des Guten in diesem Sinn möglich ist. Dies entspricht in etwa dem beschriebenen Problem in TU, abgesehen davon, dass dort die Vorstellung eines geschichtlichen Heilszustandes überschritten wird. Zumindest insofern kann sich an dieser Stelle Levinas’ eigene Sicht ausdrücken. Ob dies auch der Fall ist, wenn hier in apodiktischen Formulierungen von diesem Sieg des Guten das Bestehen der Moral überhaupt abhängig gemacht wird, ist zweifelhaft. Indem dieser Sieg als allein durch Gott möglich angesehen wird, wird der Glaube an Gott hier notwendig mit dem Glauben an diesen Sieg und insofern an das Bestehen der Moral verknüpft (»Es gibt keine Moral ohne Gott«). Dass die Idee eines solchen Gottespostulats in Levinas’ philosophischen Versuchen der Artikulation einer Beziehung zum Unendlichen keine sichtbare Rolle spielt, und dass für ihn über das Erfordernis einer Erlösung nach dem Tod keine größere Gewissheit darüber erreicht wird, ob es ein solches Danach tatsächlich gibt (vgl. unten, S. 583), legt nahe, dass Levinas selbst nicht von einem notwendigen Zusammenhang zwischen dem Bestehen der Moral und einem von Gott herbei-

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Instanz herausgestellt, die diesen Sieg garantiert. Für eine breitere Bezeugung dieser Idee bei Levinas, und zwar bis in die späteste Zeit hinein, ist es außerdem wichtig zu sehen, wie positiv er in verschiedenen Schriften die kantischen Postulate Gottes und der Unsterblichkeit würdigt, ja sich sogar mit ihrer Grundidee zu identifizieren scheint. 842 Dies ist ihm möglich, weil auch für ihn die Moral eine geführten Sieg des Guten ausgeht. Nicht ausgeschlossen ist dadurch freilich, dass für ihn die Hoffnung auf einen Sieg des Guten wesentlich eine Hoffnung auf Gott bedeutet. Dass eine solche Verbindung gegeben ist, legt sich aus seiner positiven Würdigung des kantischen Postulats nicht nur der Unsterblichkeit, sondern auch Gottes nahe (vgl. GTZ71, 74 f. u. 77 f.). Dass Levinas von einer Ausrichtung der Moral auf einen Sieg des Guten und von Gott als dem Garanten dieses Sieges ausgeht, wird auch im Aufsatz Die Thora mehr lieben als Gott deutlich: Es gehöre zu einem erwachsenen Glauben einerseits, dass Gott »sein Antlitz verhüllt und den Gerechten seiner Gerechtigkeit ohne Sieg überlässt« (DT111). Andererseits aber gelte: »Das religiöse Leben kann sich in dieser heroischen Situation nicht vollenden. Gott muß sein Antlitz entschleiern, Gerechtigkeit und Macht müssen zusammenfinden« (DT113). Auch wenn Levinas diese Macht dann erst einmal nur als die Macht »gerechter Institutionen auf dieser Erde« genauer bestimmt, in denen der Mensch über die rein passive Hingabe hinausgeht, taucht hier m. E. dieselbe Idee auf wie oben: Es bedarf für die Moral auch einer wirklichen Verbesserung der Welt und eines Schutzes vor dem Leid. Der Übergang zur Macht wird hier nicht vom Dritten her begründet (zu dieser Option vgl. oben, S. 429–431), sondern ausgehend von diesem Erfordernis. 842 Vgl. besonders im eigens Kant gewidmeten Aufsatz Das Primat der reinen praktischen Vernunft, DP197–202. Es wird hier zwar nie ganz deutlich, wie Levinas eigentlich selbst zu Kant steht, er erhebt jedoch keine Einwände, leitet die Darstellung des Gottespostulats ein mit »Kant zeigt« (DP198) und beschreibt das diesem Postulat zugrunde liegende moralische Interesse ausführlich als eines, das nicht selbstbezogen ist (DP197 f. u. 202). Der letzte Satz des Textes liest sich wie eine Beschreibung seiner eigenen theologischen Option: »Das Interesse der reinen praktischen Vernunft steht, jenseits der Interessen der sinnlichen Natur, demzufolge im Gegensatz zu einer Theologie (und auch zu einer Politik), die die Befriedigung des natürlichen Menschen beteuert, oder die, wie Nietzsche sagt – nur Tröstungen verschafft. Der Gott des uneigennützigen Interesses überlebt den Tod des großen Pan, der nur eine höchste Kraft unter den Kräften gewesen ist, die die Natur übersteigen und die wie er – oder unter seinem Befehl – die Interessen der Menschen lenken« (DP202). Dieselbe zustimmende Haltung findet sich in den Darstellungen des kantischen Gedankens in Levinas’ Vorlesungen an der Sorbonne 1975/76 (GTZ70 f., 73–78 u. 165–167), sieht man einmal ab von seiner zwar den eigentlichen Unterschied zwischen Kant und Levinas markierenden, für die Postulatsthematik aber nicht relevanten Kritik an der Bestimmung der praktischen Vernunft ausgehend von der Idee der Universalität (GTZ76) sowie von seiner Kritik an einer kantischen »Rückwendung zur OntoTheo-Logie« (GTZ166 f.). Es sei »die große Stärke« (GTZ73) und »der große Beitrag« (GTZ70) der kantischen Philosophie, dass sie einen von der Ontologie unabhängigen Zugang zu Bedeutungen und somit auch zu einem Nach-dem-Tod, das nicht als Sein und als Fortführung der Zeit gedacht wird, aufgezeigt habe. Wie er diese Unabhängig-

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Form von selbstlosem Glück des Subjekts impliziert, wenn auch nicht wie für Kant als Erfüllung des Willens in der Übereinstimmung der Welt mit dem moralischen Gesetz, sondern als Bedingung für Beziehung. 843 Neben der Befreiung von den leidvollen Wirkungen des Bösen deutet sich in Levinas’ Kantrezeption noch eine weitere Art des keit vom Sein, die sich so bei Kant gar nicht findet, bestimmt (vgl. unten, Anm. 850), wie sich seine eigene Diktion in die Kantdarstellung mischt, wie er als Begründung der Nichtzeitlichkeit der Unsterblichkeit bei Kant eine Erklärung anführt, die in der Weise bei diesem ebenso nicht vorkommt, die aber seinem eigenen Zeitdenken nahesteht (vgl. unten, S. 578–581 u. Anm. 849 u. 851), und besonders wie er den kantischen Gedanken weiterentwickelt zu einer Deutung des Todes als eines Moments der Beziehung zum Unendlichen (GTZ74), zeigt, dass hier weniger die kantischen als die eigenen Gedanken vorgetragen werden. Sie knüpfen freilich positiv an Kants Postulatenlehre an. Auch in anderen Texten spricht sich Levinas nicht gegen eine solche Anknüpfung aus. In JS287 f. wendet er sich m. E. nicht gegen Kants Postulate, sondern würdigt sie gerade in ihrem Charakter, von der Ethik abhängige bloße Postulate zu sein. Auch in TÜ173 f. kritisiert Levinas nicht die kantischen Postulate selbst, sondern nur eine für ihn bei Kant mit ihnen einhergehende Haltung, das Streben nach einer Erkenntnis des Seins für das eigentliche Geschehen des Geistes zu halten (vgl. auch BW46 f. u. GTZ167). 843 Für Levinas impliziert die Ethik den Genuss als die Weise der Konstitution des getrennten Subjekts. Berechtigtes Ziel ist der Genuss für das Subjekt nur in einer Ausrichtung auf den Anderen. Neben dem leiblichen Genuss beschreibt Levinas verschiedene Formen von auf seiner Basis entstandenen selbstlosen Formen von Genuss. Vgl. dazu unten, S. 683–687. Auf Kants Idee einer Implikation des Glücks in die Moral referiert Levinas in eher vager Weise und indem er sie in seinem Sinn umdeutet in die Richtung einer »Forderung nach Glück als Prinzip der Individuation« (TU167). Auf das Postulat eines Siegs des Guten bezieht sich Levinas neben der spezifisch kantischen Form, in der Gott die »Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit« (GTZ71; vgl. auch GTZ74 f. u. 77 f.) garantiert, auch in der Form bei Hermann Cohen, wonach er »die Übereinstimmung der Freiheit mit der Natur und die Wirksamkeit einer ohne Erkenntnis entschiedenen Praxis garantiert« (TÜ174). Diese hat freilich einen Anhaltspunkt bei Kant selbst, für den die Glückseligkeit gerade darin liegt, dass »alles nach Wunsch und Willen geht«, d. h. in »der Übereinstimmung der Natur« mit dem Willen, und zwar dem einzig gerechtfertigten mit dem moralischen Gesetz einigen Willen (AA 5 224). Von hierher wird einsichtiger, wie Kant diese Orientierung auf Glückseligkeit als eine selbstlose denken kann. Levinas kann man so interpretieren, dass es ihm im Ausschluss der »Rache des Bösen« um solch eine Übereinstimmung der Welt mit dem moralischen Imperativ geht. Auf diese Weise kommt er auch Fichte sehr nahe, der Kant besonders in der zuletzt beschriebenen Formulierung des Postulats aufgreift. Ein Unterschied liegt zwar darin, dass Fichte die Übereinstimmung der Natur weniger auf die Glückseligkeit, als auf das Gelingen der guten Tat hin denkt und dieses Erfordernis dann ebenso für das gegenwärtige Leben herausstellt. Auch hierbei besteht jedoch eine Nähe zu Levinas, indem für diesen das Glück des Subjekts für den Anderen gefordert ist und so in gewisser Weise auch für ein ›Gelingen der guten Tat‹. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Erfordernisses von Vollendung an. Indem die Postulatenlehre nicht nur aus dem Zusammenhang von Sittlichkeit und Glückseligkeit argumentiert, sondern die Unsterblichkeit gerade aus der Forderung nach Heiligkeit folgert, die in diesem beschränkten zeitlichen Leben nicht verwirklicht werden kann, ist es möglich, dass für Levinas neben der Ausrichtung auf eine Befreiung von Leid auch die Idee einer im ethischen Imperativ liegenden Ausrichtung auf eine Vollkommenheit der Güte, die über die beschränkte geschichtliche Situation hinausweist, von Bedeutung ist – freilich ohne dass dies in der Weise einer Teilhabebeziehung als Sehnsucht nach Angleichung ans Unendliche, nach Rückkehr oder gar Auflösung im Unendlichen gedacht würde. 844 Dafür spricht außerdem, dass für ihn, wie noch gezeigt Wenn Levinas als Basis der Postulate Gottes und der Unsterblichkeit in GTZ die »Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit« (GTZ71; vgl. auch GTZ74 f. u. 77 f.) anführt, so meint er damit entgegen dem ersten Anschein vermutlich nicht nur das Erfordernis, dass der Sittliche auch der Glückseligkeit teilhaftig werden müsse. Kant selbst postuliert aus diesem Erfordernis lediglich die Existenz Gottes, während er die Unsterblichkeit als Bedingung der Möglichkeit der geforderten Heiligkeit erschließt (AA 5 219 f.). Auch dieses Erfordernis der Heiligkeit scheint in der Formel »Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit« impliziert zu sein. Indirekt dient nämlich, wie Levinas es andernorts darstellt, die Unsterblichkeit, indem sie die sittliche Vervollkommnung ermöglicht, auch der Glückseligkeit, derer man nur so würdig ist (»nur eine vom Tod nicht begrenzte Seele kann ihre Tugend vervollkommnen, um sich der Glückseligkeit würdig zu erweisen« [DP198]). Auch wenn Levinas in GTZ dieses zweite Moment nicht ausdrücklich benennt, so stellt er doch heraus, dass die Basis der Postulate, das »vollständige Gut«, beide Seiten gleichermaßen beinhaltet (GTZ75). Das Wirken Gottes betrifft für Kant auch die Sittlichkeit, und zwar nicht nur, indem er einen unendlichen Raum für die freie Selbstverbesserung des Menschen eröffnet. Kant hält es außerdem für möglich, dass hierfür eine »Verminderung der Hindernisse« oder sogar ein »positiver Beistand« (AA 6 A 45) durch Gott vonnöten sind. Diese Hilfe kann freilich nicht die Reinheit der Gesinnung (»die Heiligkeit der Maximen« [AA 6 A 49]) betreffen, sondern nur dem dienen, dass diese Gesinnung das ganze Tun des Menschen durchdringt und ihn in diesem Sinne heilig werden lässt (zu dieser Unterscheidung vgl. AA 6 A 48–52). Die Gesinnung ist freie Tat (AA 6 A 45–49 u. A 51). Und es ist die Heiligkeit in dieser letzteren Bedeutung, welche nach der Kritik der praktischen Vernunft die Möglichkeit eines unendlichen Progresses der Annäherung daran fordert und in der späteren Schrift Über das Ende aller Dinge sogar einen Überstieg über die Zeitlichkeit selbst (vgl. unten, Anm. 849). Für die Eröffnung dieser Ewigkeitsexistenz ergibt sich nochmals eine eigene Form des göttlichen Beistandes. Dass Levinas das Unsterblichkeitspostulat gerade in dieser ein Überschreiten der Zeit artikulierenden Form aufgegriffen haben dürfte, in welcher die Ausrichtung des sittlichen Imperativs auf eine reine Güte eigentlich erst in seiner ganzen Tiefe zur Geltung gebracht wird, spricht dafür, dass diese Idee auch für ihn Bedeutung hatte. Eine Nähe zu Kant entsteht zudem durch dessen Reserve gegen die 844

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wird, im Tod die Beziehung zum Unendlichen in eine »letzte Intensität« gelangt (GTZ74). In der Auslegung der messianischen Texte taucht zudem noch ein weiteres Moment der Vollendung auf, und zwar in einem Ausblick auf die zukünftige Welt als einer Möglichkeit, »den ersten Sinn der Wörter wiederzufinden, der auch ihr letzter Sinn ist« (MT67). Es handelt sich m. E. um die ebenfalls in der Ethik implizierte Sehnsucht nach einem unverstellten Blick auf die Wahrheit und die eigentliche Bedeutung der Welt – zu verstehen in Levinas’ ethisch gewendetem Sinn –, die Sehnsucht nach einem Zustand, wie Levinas später einmal formuliert, »in dem sich alles erhellen würde« (EU88). Auch dieses Moment könnte für ihn dazugehören zum berechtigten »Traum einer glücklichen Ewigkeit« (TU416). Es fällt auf, dass Levinas eine solche Vollendung an der behandelten Stelle in Totalität und Unendlichkeit von vornherein als eine der Veränderung enthobene Zeitlichkeit thematisiert, als Zustand, in dem »das Fortwährende sich in Ewiges verwandelt« (TU416). Was sind die Gründe dafür? Für Levinas kann zwar die Geschichte nie dem gerecht werden, worin sich das Unendliche ereignet: der Verantwortung desselben und der Achtung des Anderen. 845 Aus dem Grund ist für ihn auch die Vorstellung einer irgendwann auftretenden und einen geschichtlichen Heilszustand herbeiführenden einzelnen MesDeutung einer solchen Ausrichtung als mystische Tendenz der Auflösung im Absoluten (AA 8 513 f. u. evtl. schon AA 5 221). Für eine Rezeption des Heiligkeitsideals spricht auch, dass Levinas in MT den Wert der Sicht würdigt, die den Menschen deutet »auf ein quasi göttliches Leben hin, das von den Einschränkungen der menschlichen Verfassung befreit ist« (MT64) sowie auf eine »unbefleckte Reinheit und […] eine gegen das Vergehen absolut gefeite, dem natürlichen Determinismus entrissene Vollkommenheit« (MT66). 845 In TU argumentiert Levinas vor allem über das Problem, dass das »Urteil der Geschichte« (TU23 u. 353) dem Einzelnen nicht gerecht werden kann, sei es das Urteil eines hegelschen objektiven Geistes im Geschichtsverlauf (TU22 f.) und in den geschichtlichen Institutionen (TU353–356) oder sei es das Urteil des neutralen Beobachters, eines Beobachters, der »nicht mehr mit dem Seienden«, sondern über es spricht (TU353) – das Urteil also einer als Synchronie verstandenen Geschichte. Die mangelnde Anerkennung des Einzelnen konstatiert Levinas in MT auch für jede lediglich auf ein Kollektiv gerichtete Zuwendung (MT91 f.; vgl. auch MT60 f.). Darüber hinaus findet sich in MT das Argument, dass jede geschichtliche Tat, und sei sie noch so gerecht, eine Gewalt enthält im Vergleich mit der ethischen Passivität (MT82–84). Die Schaffung eines äußeren allgemeinen politischen Heilszustandes stellt Levinas hier zudem als etwas heraus, was dem nicht gerecht wird, dass das Individuum aufgrund seiner moralischen Qualität gewürdigt werden (MT84) und mit seiner Freiheit beteiligt sein muss (MT87 f.). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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siasgestalt nicht zu rechtfertigen. 846 Dies betrifft jedoch nur die in der synchronen Zeit betrachtete Geschichte und nicht die geschichtliche Situation der Beziehung zum Anderen in ihrer Diachronie. Der Überstieg der Zeit als einer fortwährenden in eine Ewigkeit ergibt sich hier aus einem anderen Grund, nämlich aus dem Erfordernis eines Vollendungszustandes, der vor der in der Geschichte immer bestehenden Möglichkeit geschützt ist, den Wirkungen der freien Entscheidung anderer Menschen zum Bösen ausgesetzt zu sein. Wenn Levinas sich sonst gegen die Vorstellung einer von der Vernunft her gedachten reinen Zeitlosigkeit wendet 847, dann kann die Entstehung dieses Schutzes freilich offenbar nicht so gedeutet werden, dass in dem, was Levinas hier Ewigkeit nennt, jede Zeitlichkeit und damit jede Möglichkeit einer freien Wahl ausgeschlossen ist. Wie denkt er jedoch dann diesen Schutz? Und um was für eine Ewigkeit geht es ihm? Eine genauere Vorstellung davon, was Levinas hier für eine Art von Ewigkeit im Blick hat und wie sie sich bei ihm begründet, geben seine Darstellungen des kantischen Unsterblichkeitspostulats. Indem sie immer wieder über eine bloße Kantinterpretation hinausgehen, verraten sie – so legt es sich nahe – Levinas’ eigene Sicht. 848 In seiner Deutung begreift Kant die Unsterblichkeit deshalb nicht als zeitliche, weil sie für ihn aus der Ethik resultiert und er die Ethik als einen von der theoretischen Vernunft unabhängigen Zugang zu Bedeutungen versteht, weil sie somit nicht etwas im Sinne der theoretischen Vernunft Gewusstes ist und, indem die Ethik bei ihm einen Zugang zum Noumenalen jenseits der Ebene des der theoretischen Vernunft zugänglichen Bereichs des Phänomenalen eröffnet, auch nicht Phänomen werden kann, und weil sich so eine Zeitlichkeit, die nur dem Phänomen als Anschauungsform notwendig wäre, für die Unsterblichkeit nicht ergibt. 849 Diesen Gedanken kann sich Levinas, von seiKritische Bemerkungen in diese Richtung finden sich etwa in MT58, 84 u. 87. Vgl. dazu oben, Anm. 751. 848 Vgl. oben, Anm. 842. 849 Vgl. GTZ77 u. 74. Wenn Levinas schreibt: »Kant denkt mit Sicherheit nicht, dass es eine Ausdehnung der Zeit zu denken gilt jenseits der begrenzten Zeit, er will keine ›Verlängerung des Lebens‹.« (GTZ71), dann überrascht diese These angesichts dessen, dass sich die Unsterblichkeit in der KpV aus dem Erfordernis von »einem ins Unendliche gehenden Progressus« (AA 5 220) ergibt und hier ausdrücklich die Idee eines zeitlosen Ankommens in der Heiligkeit kritisiert wird (221). Es ist anzunehmen, dass sich Levinas auf den späteren Aufsatz Das Ende aller Dinge stützt, in dem Kant diese Idee im Gegensatz zur KpV würdigt. Er geht hier, da »der Vernunft, in (praktischer) Absicht auf den Endzweck, auf dem Wege beständiger Verändrungen nie Genüge 846 847

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nem eigenen Ansatz her reformuliert, folgendermaßen aneignen. Indem die Ethik Beziehung zum Anderen ist, ergibt sich eine Perspektive über den Tod hinaus ebenso als eine solche Beziehung. Der Tod wird Moment der Beziehung zum Unendlichen (GTZ74). Die Ethik ist nicht nur unabhängig von der theoretischen Erkenntnis, sondern vom Sein überhaupt. Sie schließt letztlich nicht nur die Phänomenalität, sondern auch das Sein aus. 850 Über den kantischen Gedanken geht Levinas außerdem dadurch hinaus, dass sich bei ihm für den erlösten Zustand eine Zeitlichkeit nicht nur nicht erschließen lässt, sondern sie, indem er sie als synchrone Zeit des Wissens interpretiert, sogar positiv ausgeschlossen wird. 851 Damit wird jedoch nicht die Zeit getan werden kann« (AA 8 510, hier auch 512 f.), von einem Übergang in eine Existenz, »da alle Verändrung (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört« (511), aus. Nur aufgrund der Unmöglichkeit, diesen Zustand zu denken, muss er noch als unendlicher Progress – als Progress freilich in unwandelbarer Gesinnung, in der zumindest sich die Erhabenheit des homo noumenon über die Zeit für Kant andeutet – vorgestellt werden (510 f.). Levinas führt zwar als Begründung nicht die hier ausschlaggebende Ausrichtung auf ein Erreichen der Heiligkeit an, sondern argumentiert (anders als sich dies in Kants Text ausgedrückt findet, wenngleich dieser durchaus so argumentieren könnte) systematisch aus der Unabhängigkeit vom Phänomenalen. Die entschiedene Zurückweisung einer Interpretation der kantischen Unsterblichkeit als zeitliche Fortdauer ist jedoch kaum vorstellbar, wenn er diesen Schritt Kants über die KpV hinaus nicht zur Kenntnis genommen hat. 850 Levinas stellt es so dar, als ob dies bei Kant schon in der Weise gedacht wäre: Er erschließe »kein Jenseits, das ist (das wäre)« (GTZ73; vgl. auch GTZ75 f.). Kant dagegen arbeitet sogar ausführlich heraus, wie das Existenzurteil sowie die anderen Urteile bzw. Kategorien der theoretischen Vernunft in den Postulaten Verwendung finden können, ohne dass sie dadurch Erkenntnisse der theoretischen Vernunft würden (AA5 245 f.). Und Levinas kritisiert in anderen Zusammenhängen gerade diese Bindung Kants ans Sein (vgl. oben, Anm. 842). Es kommt hier also vielmehr sein eigenes Denken zum Ausdruck. 851 Einerseits lesen sich einige Stellen so, dass Levinas dies schon Kant zuschreibt (vgl. bes. GTZ71 u. 73), andererseits ergibt sich in seiner Darstellung der Begründung der kantischen Unzeitlichkeit kein positiver Ausschluss der Zeit (GTZ77). Auch dieser ist wieder der Seite seines eigenen Denkens zuzuschlagen. Levinas spricht zwar nicht ausdrücklich von der synchronen Zeit. Wenn er in GTZ75 auf die eigene Zeitlichkeit der Hoffnung bzw. der Ewigkeit führt, indem er in der aufgewiesenen »Beziehung zu etwas Unmäßigem« die alles in die Adäquation fassende Vorstellung oder das Wissen ausschließt, dann schließt er damit auch die Zeitlichkeit dieses Wissens aus – und das ist die synchrone Zeit. Damit knüpft Levinas an seine phänomenologische Analyse der Beziehung zum Tod in TU73 f. an, nach welcher »der Tod nicht einem Ende entspricht, das ein Überlebender feststellt«, und zwar weil sich die »persönliche Zeit« oder die »innere Zeit« nicht der Zeit des Beobachters, der »Geschichtszeit« oder der »objektiven Zeit« – diese bezeichnet er später als synchrone Zeit – integrieren lässt. Daraus kann in TU freilich noch nicht folgen, »dass die Existenz, sterblich zwar, aber Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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an sich negiert, sondern vielmehr »eine andere Zeitlichkeit« (GTZ74) in den Blick genommen. Diese wird ausdrücklich als Zeitlichkeit der Beziehung zum Anderen gedeutet, als Zeit der Beziehung »zu dem, was nicht kommen kann, nicht weil das Erwarten vergeblich wäre, sondern weil das Erwartete zu groß für das Erwarten ist« (GTZ78). Diese Beziehungszeit ist die diachrone Zeit. Die Ewigkeit ergibt sich so als Form einer Beziehung zum Anderen oder zum Unendlichen, in welcher »der Tod und sein Nichts die letzte Intensität darstellen und notwendig sind für diese Beziehung« (GTZ74). Der Tod hat hier freilich »eine andere Bedeutung als die, die er aus dem Nichts des Seins schöpft« (GTZ74). Es ergibt sich ein wirkliches »Danach« (GTZ71) für Levinas. Der Tod ist nicht bloßes Ende, sondern vielmehr das Moment in dieser dem Anspruch des Unendlichen so radikal entsprechenden Beziehung, dass jede Intentionalität auf eine Zeit, über die verfügt werden kann, sowie auf das Sein – Intentionalität, in der eine radikale Selbstlosigkeit immer schon begrenzt wird – aus dem Blick geraten ist. 852 Wenn die sich so ereignende andere Zeitlichkeit als diachroner Bezug zum Anderen unter Wegfall der synchronen Zeit interpretiert wird, hat Levinas die in Totalität und Unendlichkeit noch offengebliebene Frage, ob die »Ewigkeit eine neue Struktur der Zeit oder eine äußerste Wachsamkeit des messianischen Bewusstseins« (TU416) ist, hier eher in Richtung des Letzteren beantwortet, wenngleich man aufgrund des Fehlens der Synchronie auch von einer neuen Struktur sprechen könnte. Die Hoffnung auf ein Danach ist so jedenfalls keine, welche »die Sterblichkeit widerlegen könnte« (GTZ73), und zwar nicht nur, weil sie, wie noch zu betrachten ist, unfähig zu vergehen, nach ihrem Tode noch gegenwärtig wäre« oder »überleben würde«, auch wenn Levinas diese »Weigerung für den Toten, in die Zeit des Anderen zu fallen« hier »in der Idee der Ewigkeit der Seele ausgedrückt« sieht. Eine Perspektive auf ein Überleben erschließt sich nur ausgehend von den Überlegungen zur messianischen Zeit (vgl. dazu oben, Anm. 836). 852 Dass dieser Übergang zu einem Jenseits-des-Seins, der nicht ein Übergang ins Nichts ist, von Levinas als Negation des Seins im Sinne des Korrelats der Vorstellungsintentionalität gedacht wird, kommt etwa in GTZ75 zum Ausdruck: »Hoffnung als Beziehung zu einem mehr als Sein, das niemals als existierend behauptet werden könnte oder als das bedeutet, was mit einem Wissen in Zusammenhang steht.« Neben der Vorstellungsintentionalität dürfte auch jede Intentionalität der Sorge um das Sein und der Arbeit, die für Levinas der Grund der Vorstellung ist, ausgeschlossen sein. Zu dieser Deutung des Todes als Übergang ins Jenseits-des-Seins passt die Rede vom Sein als einer »Weltzeit der Herrschaft« (JS130). Allgemein zur Deutung der Rede vom Jenseits-des-Seins vgl. oben, S. 510–519.

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keine Gewissheit erlangen kann, sondern auch durch die radikale Negation von Sein und Zeit. Der Tod bleibt ein Ende des Seins. Die Philosophie kann nicht behaupten, »dem Tod seinen Stachel genommen« 853 zu haben. »Diese Hoffnung kommt einem Bedürfnis zu überleben nicht entgegen« (GTZ74), wie diese sich aus dem Bedürfnis auch nicht ergeben hat. Levinas könnte an dem früheren Diktum einer »Eschatologie ohne Hoffnung für sich« (SpA217 u. DB35) festhalten, wenn damit nicht auch jede selbstlose Form der Hoffnung ausgeschlossen wäre. Levinas nimmt hier eine Existenzform in den Blick, die nicht mehr in diesem Leben steht, sondern in einem »Danach« (GTZ71). Die Beschreibung einer Lösung von der Selbstsorge, von der Intentionalität auf das Sein und die synchrone Zeit deutet an, dass es ihm dabei überhaupt um ein gewisses Heraustreten aus der Einbindung in die Bedingtheiten dieses Lebens geht. Von daher kann verständlich werden, wie er dies als einen Zustand erhoffen kann, der »geschützt [ist] gegen die Rache des Bösen« (TU416). Freilich ist zu prüfen, wie weit dieses Heraustreten für Levinas gehen kann, wenn er, wie dies schon herausgestellt wurde, die endlichen Bedingtheiten in ihrer positiven Bedeutung würdigt – »sie verbürgen das eigentliche Überfließen des Unendlichen« (TU422) 854 –, und wenn sich für ihn, wie die Analyse der Rolle der Leiblichkeit in der ethischen Beziehung zeigen wird, einige Momente dieser Bedingtheit als erforderlich, wenn auch nicht im strengen Sinn einer Deduktion, erweisen für eine Beziehung Getrennter. 855 Um dieser Analyse nicht zu widersprechen, kann Levinas nicht davon ausgehen, dass der Selbstvollzug des Genießens, in dem für ihn das Subjekt konstituiert sein muss, und die damit einhergehende Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen sowie die diachrone Zeitlichkeit, in denen sich die den Genuss unterbrechende Beziehung zum Anderen ereignet, aufgehoben werden können. Und davon scheint er tatsächlich nicht auszugehen, wenn er für die eschatologische Existenz nicht die Zeit überhaupt eliminiert, sondern nur in eine radikale Diachronie überführt sein lässt. Dagegen spricht ebenso, dass 853 JS287. Diese Aussage wird zwar zunächst in Bezug auf Levinas’ philosophische These, dass trotz des Todes der Mensch von der Ethik her einen Sinn finden kann, getroffen, sie wird dann jedoch auch auf »die Prediger der Verheißung in den Religionen« bezogen. An sie nähert sich Levinas zumindest an, wenn er philosophisch die Möglichkeit eines den Tod überragenden Vollendungszustandes in den Blick nimmt. 854 Vgl. oben, S. 530–538. 855 Vgl. unten, S. 610 f u. 675–689.

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er den Tod, in dem sich die leibliche Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen und die schmerzhafte Unterbrechung des Genusses konkretisieren, als bleibendes Moment der Beziehung zum Unendlichen ansieht. Nicht ausgeschlossen scheint es m. E. jedoch von Levinas’ Ansatz her zu sein, dass sich der faktische Vollzug des Genießens ohne ein Sichsorgen um das Sein ereignet und so das Subjekt in eine weit größere Nähe zur Vollkommenheit des Unendlichen treten kann, sodass die diachrone Intentionalität auf die Transzendenz ohne die zeitliche Synchronie auskommt sowie dass sich die leibliche Passivität und die Unterbrechung des Genusses auf die bloße Ausgesetztheit reduzieren und eine Befreiung von den weitergehenden in diesem Leben bestehenden Möglichkeiten des Erleidens von Verletzung und Schmerz stattfindet. In dieser Weise könnte man m. E. zumindest verstehen, wie Levinas – an den Grenzen des phänomenologisch Möglichen und deshalb immer mit einer gewissen Zurückhaltung – eine eschatologische Perspektive entwerfen kann, die in der Kohärenz zu seinem sonstigen Philosophieren bleibt. Es wäre der Versuch, das Subjekt weitgehend von den sowohl die ethische Vollkommenheit als auch das berechtigte Glück beeinträchtigenden leiblichen Beschränkungen befreit zu denken, ohne es doch von den Dimensionen der Leiblichkeit, die als der ethischen Existenz wesentlich beschrieben werden, zu lösen. 856 Levinas positioniert sich auf diese Weise nicht nur nicht gegen die theologische Idee einer leiblichen Auferstehung, sondern bietet m. E. sogar Ansätze einer philosophischen Annäherung an sie. 857 856 Von daher kann verständlich werden, wie Levinas in MT den Wert der Sicht würdigen kann, die den Menschen deutet »auf ein quasi göttliches Leben hin, das von den Einschränkungen der menschlichen Verfassung befreit ist« (MT64) sowie auf eine »unbefleckte Reinheit und […] eine gegen das Vergehen absolut gefeite, dem natürlichen Determinismus entrissene Vollkommenheit« (MT66), und wie dies nicht bloße Rhetorik ist, um seine Pluralismusidee zu unterstützen. Diese Würdigung impliziert natürlich nicht, dass er das, was er zunächst als eine im Talmud faktisch vorfindliche Position beschreibt, einfach übernimmt. Wenn er ihr das »Ideal eines desinkarnierten Geistes« (MT63) zuschreibt, dann kann er sich dies m. E. nur in einem eingeschränkten Sinn zu eigen machen. Seine Eschatologie scheint zwar mit der Idee einer gewissen Befreiung von leiblichen Beschränkungen einherzugehen, nicht jedoch mit einer generellen Aufhebung der Leiblichkeit. 857 Josef Wohlmuth (2005, 183 f.) hat versucht, von Levinas’ Beschreibungen des inkarnierten Subjekts her die Auferstehung im Tod als ein den ganzen, nicht nur den geistigen Menschen umgreifendes Geschehen zu verstehen. Meines Erachtens können die hier vorgetragenen Interpretationen der eschatologischen Überlegungen von Levinas zeigen, dass er – über das hinaus, was Wohlmuth an Anknüpfungspunkten

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Wenn Levinas schreibt, die »Wahrheit fordert […] eine vollendete Zeit« (TU416), dann dürfte dies von ihm nicht in einem starken Sinn von Forderung gemeint sein. Denn für ihn ist die Möglichkeit, dass der Tod ein bloßes Ende darstellt, dadurch nicht ausgeschlossen. Er schreibt andernorts: »Vielleicht ist der Tod eine absolute Negation – wo ›die Musik aus ist‹ (im übrigen weiß man davon nichts).« (EU36) Das Postulat eines Danach enthält für ihn offenbar weniger Gewissheit als der Glaube an den moralischen Imperativ, der für ihn zumindest eine Art von Gewissheit, wenn auch keine objektive Gewissheit besitzt, und eventuell sogar weniger als der Glaube an das Unendliche. So wäre zumindest erklärbar, weshalb diese Postulatsidee in Levinas’ Versuchen eines philosophisch-phänomenologischen Ausweises der Gottesbeziehung keine sichtbare Rolle spielt. 858 Ein Grund dafür könnte freilich auch sein, dass der primär maßgebliche Kontakt zum Unendlichen für ihn im asymmetrischen moralischen Imperativ liegt und er generell extrem zurückhaltend ist, etwas zu artikulieren, was mit einer für das Ich erhobenen Forderung einhergeht. Indem die Philosophie nur die Möglichkeit einer Hoffnung auf ein Danach aufzeigt, gehört der Glaube daran in den Bereich der Religion. Ihr gesteht Levinas einen zwar von der Philosophie kontrollierten, aber zugleich über sie hinausragenden eigenen Raum zu. Es ist der Bereich einer individuellen Glaubensentscheidung, die sich im Rahmen einer bestimmten Tradition bewegt. Wenn Levinas, wie bereits thematisiert wurde, für die Hl. Schrift nicht von einer besonderen Offenbarung ausgeht 859, dann stützen sich für ihn die religiösen bei ihm findet – selbst philosophisch die These einer ›Auferstehung im Tod‹ in den Blick genommen hat und sich dabei mit der Beschreibung des Todes als eines Moments der Beziehung zum Unendlichen und darin der Beschreibung der diachronen Zeitlichkeit in der Konsequenz seines Leibdenkens bewegt. Wohlmuths Aussage, Levinas habe sich »immer geweigert, über das Danach des Todes etwas zu sagen oder auch nur Vermutungen zu äußern« (155), scheint mir von daher zu sehr zugespitzt zu sein. Sie verwundert außerdem vor dem Hintergrund, dass Wohlmuth selbst auf Levinas’ Ausblick auf eine »messianische Zeit« Bezug nimmt (69 f.). 858 Auffällig ist dies besonders vor dem Hintergrund, dass für Kant, auf den sich Levinas bezieht, in dieser Idee der eigentliche Aufhängepunkt seiner Religionsphilosophie liegt. Levinas hat die Ausrichtung des ethischen Imperativs auf einen Vollendungszustand offenbar nicht in der Weise wie Kant als notwendiges Implikat der Gültigkeit des moralischen Imperativs angesehen. Vgl. dazu Kants Definition des Begriffs des Postulats in AA 5 220, nach der dieses »einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt«. 859 Vgl. dazu oben, S. 568 f. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Traditionen für die Artikulation dieser Hoffnung zwar offenbar nicht auf eine eigene Erkenntnisquelle, die sich von der der sonstigen kulturellen Traditionen wie auch der Philosophie unterscheidet. Und doch scheint für ihn die Religion gegenüber der Philosophie, welche sich darauf beschränkt, diese Hoffnung als eine gerechtfertigte Möglichkeit auszuweisen, durch den Glauben und das Glaubenszeugnis etwas kategorial Anderes zu sein. Für ihn ist »die Religion nicht identisch mit der Philosophie, die nicht notwendigerweise den Trost mit sich bringt, den die Religion zu geben weiß.« (EU92) Dabei tritt für ihn die Philosophie nicht in einen Widerspruch zur Religion. »Der Prophetismus und die Ethik schließen den Trost der Religion in keiner Weise aus; aber […]: Vielleicht ist nur eine Menschheit dieses Trostes würdig, die sich seiner auch enthalten kann.« (EU92) 860 Levinas macht hier zugleich auf die Bedeutung der Philosophie als der Instanz aufmerksam, welche Kriterien erschließt für eine gerechtfertigte religiöse Hoffnung. Unmöglich erscheint von seiner Ethik her eine Form von Erlösungszustand, in welchem der Mensch, indem er nicht bereit ist, auch unabhängig von einem Heilswirken Gottes in der Ethik einen Sinn zu sehen und die Verantwortung in ihrer bis zur Stellvertretung reichenden Unabgegrenztheit und reinen Selbstlosigkeit auf sich zu nehmen, hinter das zurückfällt, worin sich philosophisch das Ereignis des Unendlichen erschlossen hat. 861 Daneben ergibt sich für Levinas auf philosophischem Weg auch etwas zur Übergeschichtlichkeit und zur besonderen Zeitlichkeit dessen, was erhofft werden kann, und deutet sich eine philosophische Perspektive auf die eschatologische Leiblichkeit an.

860 Die Rede vom Trost bezieht sich hier offenbar auf die Thematik, die vorher in EU88 bezüglich der Frage auftaucht, die Levinas an sich gestellt sieht, »ob die messianische Idee für mich noch einen Sinn hätte und ob es notwendig wäre, die Idee eines allerletzten Stadiums der Geschichte aufrechtzuerhalten, in dem die Menschheit nicht mehr gewalttätig wäre, in dem die Menschheit definitiv die Kruste des Seins durchstoßen hätte, in dem sich alles erhellen würde«. Es geht also genau um die Frage nach einem eschatologischen Trost. Zur Zuweisung des Trostes an die Religion vgl. auch PGR138: »[D]ie ganze tröstliche Seite dieser Ethik überlasse ich der Religion«. 861 Vgl. EU88 u. 92. In den prophetischen Texten »finden die Menschen Trost. Doch stellt das in keiner Weise die strenge Struktur […] in Zweifel, wo immer ich es bin, der verantwortlich ist und das Universum trägt, wie auch immer der Fortgang der Geschichte sei.« (EU88) Hier wird zugleich noch einmal deutlich, dass für Levinas das Hoffen und der Trost widerspruchslos zusammengehen können mit dem Festhalten an der unabgrenzbaren Verantwortlichkeit.

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2.2.5 Uneigentliche Beziehungen zur Transzendenz Heidnische Naturgötter Wiederholt ist im vorigen Kapitel hervorgetreten, dass für Levinas die Beziehung zum Unendlichen als einem Gebenden – etwa in der Form einer raumöffnenden Milde oder in der Gestalt des die messianische Zeit heraufführenden Gottes – immer als eine personale und auf die Ethik hingeordnete verstanden werden muss. Sonst wird die wahre Transzendenz Gottes verdeckt. Dies wird besonders daran deutlich, wie Levinas ausgehend von einer nichtpersonalen Abhängigkeit von der Nahrung – ihre phänomenologische Erschließung wird noch eingehend dargestellt werden – die Möglichkeit eines uneigentlichen Gottesbezuges herausarbeitet. Der Genuss der Nahrung wird als bedroht erfahren, die Nahrung als nicht unter der eigenen Verfügung stehend, sondern passiv zukommend oder verweigert. Darin liegt die Möglichkeit, sich auf eine das Ich übersteigende Macht bezogen zu sehen, auf etwas Göttliches. »Die Zukunft des Elements als Unsicherheit wird konkret erlebt als mythische Gottheit des Elements.« (TU202) Levinas spricht zwar von einer Gottheit, meint dies aber gerade nicht personal. Seiner Analyse nach kann als Ursprung des Elements unmittelbar nur ein unpersönliches Nichts auftauchen. Das Aufnehmen der Nahrung ereignet sich vor jedem Begreifen des Genossenen und vorgängig zur Beziehung zum Anderen. Sie wird deshalb ursprünglich nicht als Moment eines Dinges oder einer Person erlebt, sondern als bloßes formloses Genossenes. Dafür verwendet Levinas den Begriff des Elementalen. Es wird so erlebt, dass es »von nirgends« (TU201) auf uns zukommt, nicht ausgehend von etwas. Seine Herkunft zeigt sich weder als dingliche noch als personale, sondern als ein Nichts. Besonders aufgrund des Fehlens der personalen Dimension kann Levinas dieses Nichts mit dem für sein Philosophieren grundlegenden Phänomen des Es-gibt identifizieren. »Das Element verlängert sich in das ›Es gibt‹.« (TU203) 862 Seine Götter tragen entsprechend den Charakter des Es-gibt, sind »Götter ohne Antlitz, unpersönliche Götter, mit denen man nicht spricht« (TU202). Sie existieren zwar »außerhalb des Seins und der Welt«, aber »ohne sich zu offenbaren« (TU203). Levinas nennt diese Götter mythisch oder heidnisch, um die Gottesvorstellung als unentwickelt und unwahr 862

Vgl. auch TU273. Zum Es-gibt vgl. oben, S. 359–394, bes. S. 362–365.

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zu charakterisieren. Sie ist für ihn freilich ein notwendiges Durchgangsstadium oder zumindest eine notwendige Gefahr. »Das getrennte Seiende muß die Gefahr des Heidentums eingehen« (TU202). Da die Trennung nur dann wirkliche Trennung ist, wenn sie nicht von vornherein das dialektische Gegenstück zur personalen Beziehung darstellt, muss sich das, worin sich die Trennung vollzieht, der Genuss, ohne diese Beziehung ereignen – mit dem Risiko eines uneigentlichen Bezuges zu einer höheren Macht. Zugleich drängt jedoch für Levinas das Geschehen des Genusses, indem es auf die Entwicklung der Selbständigkeit des Subjekts angelegt ist, selbst auf die Überwindung dieser Gefahr. 863 Levinas beschreibt, wie der Mensch im Zuge dieser Entwicklung die Fähigkeit erwirbt, durch die Arbeit und den Erwerb von Besitz seinen Genuss zu sichern und sich so vom Entzug des Elementalen unabhängig zu machen. Zudem kann er durch das Bewusstsein das Sein an die Dinge binden und beherrschen. Es wurde bereits dargestellt 864, wie der Mensch für Levinas durch den Genuss, die Arbeit und das Bewusstsein das Ausgesetztsein an das Es-gibt zwar, solange die Orientierung an der ethische Beziehung noch fehlt, nicht aufheben, sie aber doch zumindest vorläufig überwinden kann. Ohne dass er so schon dauerhaft »über die Rückkehr der mythischen Götter siegt« (TU273), kann er doch den »Tod dieser Götter« (TU202) herbeiführen. Die Konstitution der Trennung drängt zum Atheismus und in der Möglichkeit zum Atheismus bewährt sich die wahrhafte Trennung, die erst eine freie Beziehung zum Anderen wie zum Unendlichen eröffnet. 865 Notwendig für die Trennung ist nicht nur die 863 Vgl. dazu u. zum Folgenden TU75 f., 106 u. 202 f. Vgl. auch TU230: »Die Arbeit wirkt im Bereich des Phänomens. Sie greift nur das Gesichtslose der heidnischen Götter an, deren Nichtigkeit sie von nun an offenkundig macht. Prometheus, der vom Himmel das Feuer stiehlt, symbolisiert die geschickte Arbeit in ihrer Unfrömmigkeit.« Vgl. auch TU282 über den »Menschen, der vom Es gibt erfaßt ist, jeden Augenblick durchdrungen von Göttern ohne Antlitz, gegen die er die Arbeit aufbietet, um die Sicherheit zu gewinnen, in der das ›Andere‹ der Elemente sich als das Selbe erweist«. 864 Vgl. dazu oben, S. 367–371. 865 Levinas reduziert dabei keineswegs den Atheismus lediglich auf eine Überwindung einer heidnisch-primitiven Gottesvorstellung. Auch die auf den von der Vernunfteinheit her erlebten Gott ausgerichtete Religiosität, die dem zweiten scheinbaren Ausweg aus dem Es-gibt entspricht und im Folgenden als eine weitere Fehlform noch thematisiert werden wird, tendiert für Levinas – ebenfalls aufgrund des Selbständigkeitsstrebens, jetzt des autonomen Vernunftsubjekts – zu einem Atheismus (EA234; PI189 u. SpA211). Außerdem würdigt Levinas den Atheismus unabhängig von einer Zuweisung zu Fehlformen der Transzendenz als eine zu Recht

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Gefahr des Heidentums, sondern ebenso das »Risiko des Atheismus« (RE26 f.). Diese Beobachtungen sind für die Frage nach der religiösen Bedeutung des Leibes von zentraler Bedeutung, insofern sie zeigen, dass für Levinas die aus dem Bezug zum Anderen gelöste Leiblichkeit für sich nicht zu einem wahren Gottesverhältnis führen kann, wenngleich dieses in ihr entscheidend grundgelegt wird. In diesem Sinne kann er schreiben: »[D]as Element verstopft in gewisser Weise das Unendliche. Das Element trennt uns vom Unendlichen« (TU187). Innerhalb der Beziehung zum Anderen, in der sich die Beziehung zum wahrhaften Unendlichen in den verschiedenen dargestellten Aspekten ereignet, spielt die Leiblichkeit freilich, wie noch zu zeigen sein wird, auf unterschiedliche Weise eine entscheidende Rolle. Die Nähe der Leiblichkeit zum Es-gibt kann auf eine Richtung ihrer Bedeutung aufmerksam machen, insofern Levinas zumindest in der späteren Zeit dem Es-gibt aufgrund seiner das Ich transzendierenden Kraft innerhalb der Beziehung zum Anderen – und erst recht in der Beziehung zum Unendlichen mit seinem noch radikaleren Transzendieren – eine positive Funktion zuschreibt. Die Öffnung des Selbstbezuges des Subjekts, seine Beunruhigung, die Sinnlosigkeit, das Lastend-Mühevolle, die Dunkelheit – dies alles sind Momente, die sowohl die Leiblichkeit als auch das Es-gibt kennzeichnen und eine positive Rolle spielen in der Beziehung zum Anderen. 866 Von daher werden verschiedene Weisen aufgezeigt werden können, in denen die Konfrontation mit dem Es-gibt in der Leiblichkeit wie in der Begegnung mit den Dingen eine Bedeutung bekommt in der Transzendenzrelation. 867 Nicht von ungefähr macht Levinas auf die Verwechselbarkeit des Esgibt mit dem Unendlichen aufmerksam – mit Gott, der Er ist, über dem Du, »der sich von jedem Nächsten unterscheidet, der bis in die Abwesenheit, bis zu seiner möglichen Verwechslung mit dem Hinund-Her-Treiben des Es gibt transzendiert« (GP108). Ja er kann die Schlaflosigkeit in ihrer das Subjekt aus seiner Immanenz beständig aufweckenden Funktion selbst als Unendliches ansprechen (GP89). Wie dem Es-gibt eignet dem Unendlichen eine radikal negierende Kraft. Es ist ein »Aufklaffen eines Abgrundes« – jedoch »in der vertretbare Position, deren Möglichkeit in der Beziehung zum wahrhaften Unendlichen impliziert ist (vgl. oben, Anm. 783). 866 Vgl. dazu oben, S. 384–387. 867 Vgl. unten, S. 750 f., 760–762 u. 781 f. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Nähe«; es unterscheidet sich »vom bloßen Nichts dadurch, daß es den Nächsten meiner Verantwortung aufträgt« (JS209; vgl. auch JS206). Und dieser Unterschied ist radikal. Das Es-gibt allein führt für Levinas nicht zum Unendlichen. Die Religion der unpersönlichen Götter ist nicht in der Form eine Vorstufe, dass aus ihr »eines Tages der Gott der entwickelten Religionen entstehen wird – diese Unpersönlichkeit beschreibt ganz im Gegenteil eine Welt, in der nichts das Erscheinen eines Gottes vorbereitet. Statt zu Gott, führt uns der Begriff des es gibt zur Abwesenheit Gottes« (VS73). Aus seinem Eigenen führt das Es-gibt nicht über sich hinaus. Es braucht ein Betroffensein durch den Anderen oder das Unendliche. Von diesem her kann Levinas die Vermittlungsfunktion des Nichts des Elements und seiner Götter aber durchaus würdigen: Durch das Konfrontiertsein mit der »mythologischen Dichte, die das Element verlängert und in die es sich verliert […][,] öffnet sich in der Innerlichkeit eine Dimension, durch die hindurch die Innerlichkeit die Offenbarung der Transzendenz erwarten und empfangen kann« (TU215). Wie an Levinas’ Ausführungen zum von ihm so genannten Heidentum deutlich wird, ergibt sich aus seiner von der Ethik her gefassten Religionsphilosophie ein normativer Anspruch. Seine Bestimmung des Verhältnisses zum Unendlichen stellt ihm ein Kriterium zur Verfügung, faktisch religiöse Vorstellungen, Haltungen und Praktiken zu kritisieren. Die in den Texten aufscheinende einfache Gegenüberstellung von Heidentum und wahrer Gottesverehrung, die von einem biblischen Topos geprägt sein dürfte, darf nicht verstellen, dass er sich von recht verschiedenen Formen der Religiosität abgrenzt. Als Gemeinsamkeit kommt ihnen zu, dass es sich um Weisen des Verhaftetseins am Selben oder am Sein und somit um Weisen des Verfehlens wahrer personaler Transzendenz handelt. Diese Gemeinsamkeit lässt sich auch als Orientierung auf das Es-gibt hin ausdrücken. Die dargestellte, aus der Entzogenheit des Elementalen sich ergebende Form des Heidentums ist eine der möglichen Gestalten, die diese Orientierung annehmen kann. Um das kritische Potential von Levinas’ Religionsphilosophie vor Augen zu bekommen, lohnt es sich – soweit dies ausgehend von seinen teilweise nur kurzen, schlagwortartigen Äußerungen überhaupt möglich ist – zu betrachten, mit welchen Formen er sich auseinandersetzt. Wenn Levinas die heidnischen Götter als gesichtslos bezeichnet, dann hat er dabei weniger altorientalische, griechische oder römische Polytheismen in einer von personalisierten Gottesvorstellungen ge588

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prägten Form im Blick, wie man dies aufgrund seiner jüdischen Perspektive vermuten könnte, sondern eine sich auf unpersönliche Mächte beziehende Religiosität, wie er sie bei dem Ethnologen Lucien Lévy-Bruhl in Bezug auf die damals so genannten primitiven Kulturen beschrieben findet. Mit seinen Schriften hat er sich schon früh auseinandergesetzt und dies hat offenbar prägenden Einfluss ausgeübt auf sein Konzept des Es-gibt. 868 Charakteristisch für die dort beschriebene Religiosität ist die Beziehung zu höheren Mächten in einer, wie Lévy-Bruhl sie nennt, mystischen Partizipation, d. h. einer Form der Teilhabe, in der die Beziehungsglieder, die Götter wie die Menschen, nicht in wirklicher Selbständigkeit begriffen werden, sondern in einer unpersönlichen Einheit verfließen. Diese Form des Religiösen entspricht insofern dem oben ausgehend von Totalität und Unendlichkeit beschriebenen Bezug auf die mythischen Götter des Elements, als auch sie auf der Ebene des Naturhaften verbleibt und eine Personalität der Götter in ihr nicht greifbar ist. Das Zerfließen ebenfalls des menschlichen Subjekts deutet sich in den oben behandelten Texten nur indirekt durch die Identifikation mit der Auflösung im Es-gibt an. In anderen Zusammenhängen stellt Levinas ausdrücklich heraus, dass für ihn in der Ausrichtung auf das bloße Element durch den Verlust des Gegenstandsbezuges auch das diesem gegenüberstehende Subjekt sich nicht mehr greifbar ist, sondern sich im Genießen und Empfinden des Elementalen verliert. 869 Sakralität Einer solchen Form von Religiosität ordnet Levinas mehr oder weniger auch das zu, was er bei Rudolf Otto beschrieben findet als »Erfah868 Dieser Zusammenhang wird deutlich in VS72–74, wo Levinas das Es-gibt und die auf es bezogene heidnische Religiosität von Lévy-Bruhl her bestimmt. Besonders in seinem Aufsatz Lévy-Bruhl und die zeitgenössische Philosophie wird deutlich, welchen Einfluss dessen Beschreibungen der participation mystique auf sein Konzept des Es-gibt sowie sein Philosophieren überhaupt hatte: durch die eigene, die Vorstellung hintergehende Intentionalität (LB59–62), durch die Überwindung des gewöhnlichen Denkens, v. a. des Denkens in den Kategorien der Substanz und der Kausalität (LB64 f.), sowie durch die Idee einer das Individuum verflüssigenden Teilhabe an einer anonymen Macht (LB63–66), welche für Levinas der Struktur des Seins, das sich in den Seienden ereignet, nahekommt (LB66–68) und eine große Ähnlichkeit zu seinen Beschreibungen des Verhältnisses zum Es-gibt besitzt. 869 Vgl. VS72 f. über den Zusammenhang zwischen der Auflösung des Gegenstandsbewusstseins und der Auflösung des Subjekts; vgl. dazu auch unten, S. 595 f.

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rung in Bezug auf das Numinose oder Sakrale, das weder ein Objekt noch eine sprechende Person ist« (LB64 870). 871 Levinas setzt sich verschiedentlich mit der Vorstellung des Sakralen oder Numinosen (die Begriffe werden von ihm parallel verwendet) auseinander. Er bezieht sich dabei meist nicht ausdrücklich auf Otto. Dessen Bestimmung des mysterium tremendum et fascinans dürfte jedoch – neben alttestamentlichen Vorstellungen – immer im Hintergrund stehen. Levinas versteht das Sakrale vor allem als Erschreckendes: Das Individuum kann nicht vor ihm erscheinen, ohne zerstört oder in einer alle Selbständigkeit negierenden Teilhabebeziehung aufgelöst zu werden. 872 Das Heilige (saint), welches dem Menschen, indem es ihn in die Verantwortung nimmt, die Selbständigkeit gerade gibt, unterscheidet Levinas vom Sakralen (sacré). 873 Die Ausrichtung auf das Sakrale gehört für ihn noch der naturhaften Ebene in der Orientierung auf den Genuss an. Auch insofern steht es in großer Nähe zum oben beschriebenen Heidentum. Wenngleich es spirituell erscheinen mag – auf »dem Heiligen [sacré] zu beharren ist unendlich materialistischer, als den – unbestreitbaren – Wert von Brot und Steaks im Leben der Menschen zu propagieren« (EG16). Diese Ausrichtung auf ein numinoses Göttliches ist für Levinas etwas, dem die faktischen Religionen – auch die entwickelten monotheistischen – immer noch teilweise verhaftet sind: »[D]ie Gläubigen der positiven Religionen sind nur unvollkommen aus den Bindungen der Teilhabe gelöst, sie ergeben sich darein, ohne ihr Wissen« (TU106). Verschmelzungsmystik Von der Beziehung zum Sakralen, die Levinas vor allem durch eine zurückweichende Furcht vor Zerstörung oder Auflösung charakterisiert, sind Formen des Religiösen zu unterscheiden, in denen die Auflösung positiv erlebt wird. So erscheint die Aufhebung des Individuums in der mystische Partizipation bei Levinas nicht als etwas Bedrohliches. Neben der darin beschriebenen Form einer ursprünglichen, nicht verlassenen Einheit, kritisiert Levinas – ebenfalls unter Die Übersetzung von Frank Miething wurde hier leicht verändert. Dass es Levinas um ein zumindest ähnliches Phänomen geht, wird deutlich, wenn er auch in seiner Bezugnahme auf Lévy-Bruhl vom Sakralen spricht (VS73) oder wenn bei ihm das Sakrale mit dem Begriff der Teilhabe verknüpft ist (TU107 u. 109). 872 Vgl. VS73 f.; RE24 f.; TU105, 109, 311 u. 394 sowie GP93. 873 Diese Unterscheidung wird etwa in TU105 u. 279 sowie SH89 u. 118 deutlich. 870 871

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der Begrifflichkeit des Mystischen oder der Mystik – auch die gezielte Suche nach einer Vereinigung mit Gott, in der sich die Person auflöst. 874 Teilweise wendet er sich gegen eine »nostalgische Rückwendung« zu seiner Ansicht nach überholten naturreligiösen Einstellungen (LB71). Teilweise nimmt er die vom Neuplatonismus geprägte abendländische Mystik, wie sie ihm etwa in der Kabbala begegnet, in den Blick 875, die sich von der naturreligösen Mystik in der Qualität der übergreifenden Einheit, in die das Individuum zurückkehren möchte, unterscheidet. Die neuplatonische Mystik entspringt für ihn nicht einer gefühlten naturhaften All-Einheit, sondern einer Einheit, die ausgehend vom Erkenntnisstreben als jenseitiger Grund des Wissens über dem Wissen erschaut wird (EA229–234). Noch tiefer sieht er ihr eine ethische Ausrichtung zugrunde liegen (EA234). Sie entspricht somit dem, was bereits als zweiter scheinbarer Ausweg aus dem Es-gibt beschrieben wurde: der Vereinigung mit der aus der Ethik entspringenden universalen Vernunft. 876 Auch sie kann Levinas als eine Art Religion ansehen, als Religion, in welcher »der Einsame sich mit der unpersönlichen Wirklichkeit des Göttlichen vereint« (TU121). Dieser Kategorie wäre mehr oder weniger auch die fichtesche Religion zuzuordnen. Solche Formen von Mystik kann Levinas insofern in einem Atemzug mit der Religiosität der mystischen Partizipation und der Ausrichtung auf das Numinose kritisieren 877, als auch in ihnen durch die Einebnung der personalen Trennung die wahre Transzendenz verfehlt wird. Beide Arten können als ein Sichverlieren in der Einheit des Seins oder dem Es-gibt betrachtet werden. Wie sich für Levinas die Ausrichtung auf die Einheit beim zweiten scheinbaren Ausweg aus dem Es-gibt aus einer versteckten, den Anderen negierenden Selbstbezüglichkeit erklärt, so ist für ihn auch die Mystik von einer Selbstbezogenheit und letztlich einer Genussorientierung charakterisiert. 878 Während diese Ausrichtung auf den Genuss in der mythischen Religiosität zu einer Vereinigung mit einer Vgl. TU65 u. 291 sowie PI197. Von Mystik spricht er in Bezug auf den Neuplatonismus etwa in EA233. Auf die Kabbala bezieht er sich kritisch in EG14 f. 876 Vgl. oben, S. 388 f. 877 Vgl. EG14 f., wo Levinas die Kabbala mit einer Verehrung des Numinosen und mit mythischen Formen der Religiosität in eine Reihe stellt. Vgl. auch TU291 f., wo ganz Verschiedenes unter der Bezeichnung ›mystische Beziehung‹ angeführt wird. 878 Vgl. in JS379 die Rede vom »Interessiertsein, in dem die Mystiker ihr Heil suchen«, oder EA233 zu den »mystischen Tendenzen und Heilsbedürfnissen«. 874 875

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naturhaften Ganzheit führt, ist die Mystik für Levinas dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über die naturhaften Bedingungen gerade erhebt. 879 Diese Unterscheidung deutet sich bei Levinas nur an, sie liegt jedoch im Gefälle seiner Überlegungen und ist insofern wichtig, weil ihr zufolge in den dem zweiten Ausweg aus dem Es-gibt nahestehenden Formen von Religiosität der Leiblichkeit eine andere Bedeutung zukommen dürfte. Einer Ausweitung des Leibes stünde eher eine Entleiblichung gegenüber. 880 Anders als für Fichte, für den die Vereinigung mit der Vernunft nicht mit einer Flucht aus dem Leiblichen einhergeht, dürfte dies für Levinas deshalb der Fall sein, weil er nicht von einer realen Vernunfteinheit, die zudem die Einheit der Natur miteinbegreift, ausgeht, sondern die Vernunft nur als eine geistige Abstraktion betrachtet. Levinas beobachtet sowohl im Säkularen als auch in seiner eigenen Religion mystische Tendenzen in der natur- oder der vernunftorientierten Form. So versteht er etwa die religiöse Ausrichtung auf das Sein, die sich für ihn in Heideggers Philosophieren andeutet, letztlich als eine Form des auf den Genuss und dessen Entzug bezogenen Heidentums. 881 Skeptisch betrachtet er im Säkularen auch eine Faszination für die naturreligiöse Mentalität und eine »Renaissance 879 Vgl. in TU65 die Ausführungen zur »Philosophie der Transzendenz«; in ihr »findet das wahre Leben woanders statt; zu diesem wahren Leben findet der Mensch Zugang durch die Flucht von hier in den bevorzugten Augenblicken der liturgischen, mystischen Erhebung«. Vgl. auch BE55, wo Levinas die »Möglichkeit, die menschliche Bedingung zu transzendieren«, bei Bergson »etwas Mystisches« nennt. 880 Das deutet sich bei Levinas etwa in BW70 an, wenn er von einer Bewegung spricht, »die vom individuellen Bewußtsein ausgeht und sich durch die ekstatische oder engelhafte Ausschaltung von dessen irdischem Gewicht […] zum ›Bewußtsein im allgemeinen‹ erhebt«. Mit dieser Bewegung ist vermutlich etwas Ähnliches gemeint wie der beschriebene zweite vermeintliche Ausweg aus dem Es-gibt. Ihr stellt Levinas hier das Gewecktwerden des Bewusstseins durch den Anderen gegenüber, in welchem »die menschliche Körperlichkeit kein Hindernis, sondern einen Weg« bietet. 881 In TU56 interpretiert Levinas die heideggersche Ausrichtung auf das Sein als eine Art Naturreligiosität: »Die Ontologie wird Ontologie der Natur, der Natur als unpersönlicher Fruchtbarkeit, großmütiger Mutter ohne Antlitz, Gebärerin der besonderen Seienden, unerschöpflicher Muttergrund der Dinge.« In JS389 f. ordnet er auch Heideggers Verständnis von Transzendenz als Sichzuschicken und Sichentziehen des Seins in der Gegenwart in diese Kategorie ein und schreibt: »Verkommen diese ekstatischen Momente in ihrem sein nicht schon zu Spiegelungen unserer eigenen Blicke, zu Trugbildern unserer Bedürfnisse, zum Echo unserer Gebete? […] – all das schwächt das widerliche Rauschen des Es-gibt nicht ab«. Diese Zuordnung geschieht außerdem indirekt dadurch, dass Levinas das Nichts des Elements als »Tiefe der Abwesenheit, Sein ohne Seiendes« (TU203) bezeichnet.

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der Mythologie, die Erhebung des Mythos in den Rang eines überlegenen Denkens« (LB71). Innerhalb des Judentums wendet er sich gegen Versuche, die als moralistisch vereinseitigt erlebte, am Talmud orientierte Glaubenspraxis durch die Erfahrung des Numinosen oder durch die kabbalistische Mystik mit einer scheinbar spezifisch religiösen Substanz zu bereichern (EG14 f.), in einer scheinbaren »Spiritualisierung des Dogmas und der Moral« (LB71). Mit diesen Abgrenzungen und der meist negativen Verwendung des Wortes ›Mystik‹ soll freilich bei ihm offenbar nicht pauschal alles, was unter dieser Bezeichnung läuft, abgelehnt werden. Gerade in der jüdischen Mystik findet er auch Haltungen, in denen bei aller Annäherung an Gott die personale Transzendenz gewahrt bleibt (FA122 u. EU81 f.). Ritualisiertes Gebet Als Fehlformen der mystischen Ausrichtung kritisiert Levinas auch bestimmte liturgische Praktiken, und zwar besonders eine Ritualisierung des Gebets. 882 Das zeremoniell Feierliche am Gebet, das Rituelle und Liturgische – Levinas verwendet das Wort ›Liturgie‹ meist in diesem Sinn einer Ritualisierung 883 – sind für ihn zumindest der Tendenz nach etwas, in dem durch eine besondere erhebende Stimmung auf einen sublimen Genuss oder auch auf ein Aufgehen der Person in etwas scheinbar Höherem abgezielt wird. 884 Abgesehen von diesen Formen besitzt das Gebet für Levinas freilich seinen positiven Sinn. Er hat selbst die rituellen Gebete verrichtet. Das Kriterium ist die Ethik. Für sinnvoll kann er das Gebet halten, weil er es als Dienst am 882 In TU65 ist etwa kritisch von einer »liturgischen, mystischen Erhebung« die Rede; in TU291 wird das »zu Ritus und Liturgie werdende Gebet« als Form der mystischen Beziehung verhandelt. 883 Vgl. oben, Anm. 882. Daneben gebraucht Levinas das Wort ›Liturgie‹ entsprechend der ursprünglichen Verwendung des griechischen Wortes für die »Ausübung eines Amtes […], das nicht nur ganz und gar umsonst ist, sondern von dem, der es ausübt, einen verlorenen Einsatz fordert« (SpA218), auch als Bezeichnung für die ethische Tat. Einerseits wird der ethischen Tat dadurch selbst eine religiöse Bedeutung gegeben (vgl. dazu auch die Bezeichnung der von ihm ebenfalls als ethisches Beziehungsereignis verstandenen Texthermeneutik als ›Liturgie‹ [EU15]). Andererseits deutet sich hier an, dass Levinas das liturgische Gebet selbst als wahren religiösen Vollzug verstehen kann, wenn es in seinem Kern eine solche ethische Ausrichtung darstellt (vgl. dazu im Folgenden). 884 In TU291 u. 65 betrachtet es Levinas als Mittel für solch eine Auflösung. In II40 u. JS389 wertet er es eher als eine Art Selbstbefriedigung ab.

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Anderen und an der Welt verstehen kann. Es ist für ihn in seinem eigentlichen Kern weder Befriedigung religiöser Bedürfnisse noch Bittgang zu einem Wünsche erfüllenden Gott, sondern ein Erhebenlassen der Seele und dabei eine Loslösung von sich selbst hin zum Unendlichen 885, und zwar zu dem Unendlichen, welches das Subjekt an den Anderen verweist, sodass seine Anrede im Gebet übergeht vom Du zum Er (EU81 f.). Aufgrund dieser Deutung des Gebets kann Levinas das Ereignis des Unendlichen in der Beziehung zum Anderen dann auch unabhängig von einer ausdrücklichen oder unausdrücklichen Hinwendung zu Gott als Gebet bezeichnen. 886 Neben dem Erhebenlassen der Seele kommt für ihn dem rituellen Gebet zudem eine Bedeutung zu als beständige Bewusstmachung der ethischen Berufung, die er nicht allein der naiven Regung des Herzens oder der Leidenschaft überlassen möchte (EG14). Kunst-Religion Eng in Zusammenhang mit Levinas’ Kritik an rituellen Formen steht seine Auseinandersetzung mit der Kunst. Dies liegt zum einen daran, dass es genuin künstlerische Formen sind, vor allem der Dichtung und der Musik, die das Gebet zu einem Ritus werden lassen. Zum anderen besteht dieser Zusammenhang, weil sich für Levinas in der Kunst – und auf diese Weise bekommt sie für ihn im Rituellen ihre Bedeutung – etwas Ähnliches ereignet, nämlich eine Auflösung des Menschen in einem unpersönlichen Seinsgeschehen und eine sublime Form von Genuss. Das ist ein Grund dafür, dass er die Kunst selbst teilweise als etwas Heidnisch-Religiöses behandelt und kritisiert. 887 Zum Ausdruck kommt dies besonders in der Bezeichnung des Kunstwerks als Idol oder der Kunst als Idolatrie und ihrer Gegenüberstellung zum Monotheismus und seinem Bilderverbot. 888 Auch Vgl. oben, Anm. 793. Vgl. oben, S. 551 f., bes. Anm. 793. 887 In WS78–81 stellt er das wesentlich von der Bildhaftigkeit her verstandene Ereignis der Kunst in die Nähe des Schicksalsglaubens und des Heidentums, die er dann durch den Monotheismus und dessen Bilderverbot überwunden sein lässt. In WS70 wird das Mitgerissensein in der Kunst mit ekstatischen religiösen Riten in Zusammenhang gebracht. Ähnlich hat Levinas schon in VS gleichermaßen die Kunst (VS62–69) wie die heidnische Religiosität in der Beschreibung von Levy-Bruhl (VS72–74) als Formen des Aufgehens im Es-gibt thematisiert. 888 Vgl. bes. WS78–81. Von einem Idol spricht Levinas zum einen in der ursprünglichen Bedeutung als von einem Götzenbild (etwa JS57), zum anderen allgemein, 885 886

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wenn hierbei Levinas’ jüdischer Hintergrund eine wichtige Rolle spielt, unternimmt er eine genuin philosophische Kunstkritik. Weil in ihr sehr stark die Themen Leiblichkeit und Religion verknüpft sind, lohnt sich ein genauerer Blick auf seine phänomenologischen Analysen dessen, was sich im Kunstwerk ereignet. Wie Levinas’ Kunsttheorie schon insgesamt sehr vielgestaltig ist und er besonders in der späteren Zeit neben Gefahren diverse positive Möglichkeiten der Kunst sieht, so nimmt er auch verschiedene Prozesse in den Blick, in denen ein Kunstwerk zu einer Auflösung im Esgibt führen kann. Meines Erachtens muss man zumindest drei Weisen unterscheiden. 889 Die erste Form, die sich in ›Vom Sein zum Seienden‹ beschrieben findet (VS62–69), steht am nächsten zur partizipativen Beziehung zu den anonymen heidnischen Göttern in der Ausrichtung auf das Elementale und wird dort auch in einen engen Zusammenhang mit ihr gebracht (VS72–74). Levinas beschreibt, wie sich besonders die Musik, aber ebenfalls eine vornehmlich am Klang orientierte Dichtung sowie die moderne Malerei, sowohl vom Bezug auf einen dargestellten Gegenstand als auch vom Selbstausdruck des Künstlers lösen und stattdessen mit der bloßen Empfindung, dem bloßen Element, in Kontakt bringen. Diese Loslösung, zusammen wenn etwas Relatives als Absolutes, Letztes oder Eigentliches angesehen wird (etwa TU250 o. JS107). Im Falle der Kunst ist es die Relativität des Bildhaften als eines nur Äußeren, Unwirklichen, Unlebendigen, das besonders über die Schönheit – als spezifischer Vollkommenheit gerade dieser bloßen Form (VS47; WS76; TU101, 200 u. 276 sowie JS23110 ) – seine Relativität verbirgt (WS76 u. JS32921 ). Neben der Ersetzung des wahren Absoluten in der Bildhaftigkeit sowie der Materialität ergibt sich die Bezeichnung des Kunstwerks als Idol auch aus der von Levinas beschrieben Eigenschaft der statuenhaften Zeitlosigkeit (WS76–80 u. JS32921 ). Die Bezeichnung erfolgt also nicht direkt darüber, dass sich für ihn in der Kunst das als heidnisch beurteilte Geschehen der Auflösung im Es-gibt ereignet und sie so als Ersetzung der wahren Gottesverehrung und insofern als Idolatrie charakterisiert würde – wenngleich sich für Levinas dieses Ereignis des Aufgehens im Es-gibt teilweise auch aus der Bildlichkeit (VS62–69) sowie aus der stehenden Zeitlichkeit des Kunstwerks (WS76–78) ergibt. 889 Zwar macht Levinas auf die Unterschiede nicht aufmerksam und lässt die jeweilige Beschreibung absolut auftreten, die verschiedenen Texte lassen sich jedoch nicht als Beschreibungen einfach desselben Phänomens interpretieren. Auch in der späteren Zeit lässt er ganz verschiedene Analysen der Kunst unverbunden nebeneinander stehen (JS100–102 u. 31810 ). Man muss die Analysen nicht im Widerspruch zueinander sehen. Levinas kann hierbei einfach verschiedene mögliche Wirkweisen der Kunst beschreiben. Auf den Unterschied zwischen VS und WS hat schon Wolfgang Krewani deutlich aufmerksam gemacht (vgl. 1992, 87–101 u. auch noch 2006, 174, wenn auch in abgeschwächter Form). Bei Wiemer, 1988 u. Bahlmann, 2008 fehlt diese Differenzierung. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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mit der dem Kunstwerk generell eigenen Unabhängigkeit von der umgebenden Welt des Betrachters und seinem Gebrauch, führt dazu, dass der Rezipient das Werk nicht mehr objektivieren und in seine Welt integrieren kann, dass es ›exotisch‹ bleibt, und er so auch sich selbst ihm nicht mehr als Subjekt gegenüberstellen kann, sondern sich in der Empfindung verliert. Er wird auf diese Art einbezogen in das Ereignis der Elementarität des Seins, in das Ereignis der Materialität in ihrer Losgelöstheit von aller Form, in ihrer Formlosigkeit, Unverstehbarkeit, Dunkelheit, Hässlichkeit und Absurdität, in ihrer Losgelöstheit aus den Sinnbezügen des Subjekts, in ihrem An-sichSein, ihrer Fremdheit, oder, wie Levinas dies auch nennt, ihrer Nacktheit. 890 Das Kunstwerk mit seinen verschiedenen Elementen, die zu dieser Wirkung beitragen, vollzieht so »das eigentliche An-sich ihres Seins, das Absolute der Tatsache, daß es etwas gibt, das nicht seinerseits ein Objekt, ein Name ist« (VS68). Den Kontakt mit dem Elementalen legt Levinas hier – obwohl sich in der Bezeichnung des Materiellen als »Alterität« (VS63), »Demut« und »Nacktheit« (VS68) eine Verbindung zur Nacktheit des Gesichts andeutet – nicht auf eine Vermittlungsfunktion für die Passivität gegenüber dem Anderen aus 891, sondern darauf, dass er losgelöst aus dieser Beziehung zum Anderen mit dem anonymen, sinnlosen Es-gibt konfrontiert. Während Levinas in Vom Sein zum Seienden die Bildlichkeit über den Exotismus auf das Ereignis der Nacktheit des Seins führen sieht, stellt er in Die Wirklichkeit und ihr Schatten den Aspekt heraus, dass das Bild die Wirklichkeit ersetzt und den Betrachter auf seiner Ebene der Unwirklichkeit oder des Schattens gefesselt hält. Das Anziehende des Bildes, mit dem es diese Fesselung bewirkt, liegt für Levinas zum einen in der Schönheit. Er versteht sie als die spezifische Weise der Vollendung des bloß Phänomenhaften, Bildlichen oder der Form und darin als Möglichkeit des ästhetischen Genusses. 892 Zum anderen besteht die Anziehungskraft darin, dass das Auf890 In der Darstellung von Levinas’ Leibanalysen wird dies noch als die Nacktheit der Dinge thematisiert werden (vgl. unten, S. 626 f.). 891 Dazu, dass dies durchaus möglich wäre und im Gefälle von Levinas’ Denken liegt, vgl. unten, S. 781 f. 892 Levinas argumentiert in WS dafür, dass das Spezifische des Kunstwerks nicht von der Vermittlung von Einsichten, sondern vom Formalen und der Vollendung der Form her zu verstehen ist (WS65–67). Diese Vollkommenheit der Form, welche die Begrenztheit und bloße Bildhaftigkeit des Kunstwerks verbergen soll, bezeichnet Levinas in WS76 als Schönheit (in diesem Sinn auch VS47; TU101, 200 u. 276 sowie

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gehen in der bloßen Empfindung und ihren Reizen bis zum depersonalisierten Zustand der Partizipation eine Flucht vor den Widrigkeiten der Realität und vor der Verantwortung eröffnet. 893 Die Materialität erscheint hier als das, was die Beschränktheit und das Unwirkliche des Bildes zum Vorschein kommen lässt. 894 Materialität bedeutet Realität. 895 Sie soll durch die Form und die Schönheit verdeckt werden, ohne dass dies jedoch vollständig gelingen könnte. Auch die moderne Kunst, die Levinas zuvor noch allein auf die hässliche Materialität bezogen sah, versteht er hier als Suche nach der Schönheit, wenn auch, da sie gegenüber der Klassischen Kunst um die Begrenztheit der schattenhaften Bildwelt weiß, nach Schönheit als einem »traurige[n] Wert«. 896 Die Partizipation wird nun nicht beJS23110 ). Wenn er von ästhetischem Genuss spricht (WS66 u. 82), dann meint er offenbar diese spezifische Form des Genusses, der durch die Schönheit der Form eröffnet wird – etwa im Unterschied zum Genuss beim Essen. Zur Schönheit als einer Weise, eine Sache dem Genuss zuzuführen, vgl. TU200 u. 152. Die Schönheit, die in der Formvollendung liegt, ist zu unterscheiden von dem, was er später »die junge Epiphanie, […] die – noch essentielle – Schönheit des Gesichts« (JS203; vgl. auch JS209) nennt, die ethische Anziehungskraft und lebendige Ausstrahlung des Anderen. Und zu unterscheiden ist sie auch von der »Schönheit des weiblichen Antlitzes« (TU284), in der die Schönheit des Gesichts eine erotische Form annimmt, indem sich das Begehren in Bedürfnis und Genuss verkehrt. 893 Vgl. WS82 f. Zum Aufgehen in der Empfindung und dem sich darin eröffnenden Zustand der Partizipation vgl. WS68–72. Ein ähnlicher Zustand der Depersonalisierung wird in WS76–81 als Zustand der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an das Schicksal, der sich ausgehend von der spezifischen Zeitlichkeit des Kunstwerks, der stehenden »Zwischenzeit« in ihrer Abhebung von der lebendigen realen Zeit, einstellt, beschrieben. 894 Vgl. WS81: »In der Statue weiß die Materie um den Tod des Idols.« In WS76 ist in Bezug auf das Bild von der »Beschränktheit seines idolischen Charakters« die Rede, der darin liegt, dass die Schönheit die Bildhaftigkeit nie ganz verdecken kann. Das, was die schöne Form verdecken soll, ohne es je zu können, ist die Materialität in ihrer Nacktheit. Diese Zusammenhänge macht Levinas besonders in VS47 f. sowie TU100 f. u. 276 deutlich. Überhaupt ist die Kunstauffassung von TU ganz auf diese zweite Beschreibung von Kunst als Produktion einer schönen Form zum Verdecken der Nacktheit und für die Zuführung zum ästhetischen Genuss begrenzt (vgl. auch TU199 f., 384 f. u. 321, wo sich Levinas ausdrücklich auf WS bezieht). 895 Wenn Levinas die Materialität in WS sowie schon in VS auf die Seite der Realität stellt, diese aber letztlich von der Beziehung zum Anderen her verstehen möchte (WS84), dann handelt es sich insofern nicht um einen Widerspruch, als die Beziehung zur Realität des Anderen für Levinas immer über das konkrete leibliche Leben vermittelt ist. Die Materialität ist zwar sekundär zum Ereignis der Beziehung, sie ist aber nicht bloße Erscheinung. 896 WS81 f.; vgl. auch WS85. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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schrieben als Aufgehen im Ereignis der Materialität des Seins, sondern eher als eine Art Traumzustand und als Flucht ins Virtuelle. 897 Levinas spricht von einer »Entleiblichung der Realität durch das Bild« (WS72), insofern unter Leiblichkeit die konkrete Verwurzelung des Subjekts in der Realität verstanden wird. Gleichwohl kann die Entstehung des Phänomenalen und die Möglichkeit der Ablösung des Bildhaften in eine Eigenwelt auch als ein Aspekt der Leiblichkeit betrachtet werden. Nicht zu übersehen ist, dass sich Levinas hier nur dagegen wendet, diese Flucht in die Ästhetik als Form des eigentlichen geistigen Lebens anzusehen und zu verabsolutieren, dass er ihr aber durchaus einen berechtigten »Platz – aber eben nur einen unter anderen – innerhalb des menschlichen Strebens nach Glück« (WS83) zuspricht. Während Levinas in Die Wirklichkeit und ihr Schatten das Ereignis des Bildhaften als etwas Dunkles der lichten Offenbarung oder der Erkenntnis des Seins in seiner Wirklichkeit gegenüberstellt, beschreibt er in Die Bedeutung und der Sinn sowie in Jenseits des Seins, wie die Kunst auch als Moment dessen fungieren kann, was er bei Heidegger als Entbergung oder Lichtung des Seins beschrieben findet. Dies ist für Levinas freilich – das macht er zumindest in diesen späten Schriften sehr deutlich – sekundär zum Jenseits-des-Seins der Beziehung zum Anderen und stellt für sich genommen ebenfalls ein Ereignis des Es-gibt dar. 898 Levinas begreift die Kunst in ihrer offen897 Dies ergibt sich aus dem ganzen Duktus der Untersuchung als einer Phänomenologie des Bild- und Schattenhaften, wird aber an einzelnen Stellen besonders greifbar. Das »mitten unter den Dingen sein« der Partizipation bezieht sich auf die Dinge als bloße Objekte und wird mit der »imaginären Welt des Traumes« parallelisiert (WS70). Der Kontakt mit der Realität wird als leibliche Aktion beschrieben und die Bildbeziehung wird davon abgegrenzt: Sie »neutralisiert diese reale Beziehung« (WS68). Entsprechend kommt es zur Rede von der »Entleiblichung« (WS72). Der ästhetische Genuss verbleibt auf der Bildebene und ist nicht wie das Geschehen der Nahrung in die Wirklichkeit eingebunden. 898 Vgl. JS100–102, wo Levinas die Kunst als Erklingenlassen des verbalen Seins versteht, das er zusammen mit dem nominalen, in dem es sich schon zum Seienden substantialisiert hat, als Form des Gesagten, sekundär zum Sagen, ansieht und das für ihn gelöst davon ein Ereignis des Es-gibt darstellt (etwa JS307 u. 354–356). Diese Kunstdeutung entspricht weitgehend der in Die Bedeutung und der Sinn (bes. DB15–22) dargelegten. Sie ist von Merleau-Ponty und indirekt von Heidegger inspiriert, auf welche sich Levinas zustimmend bezieht (DB39; vgl. auch SpA220), wenngleich er insgesamt den Ausdruck der Bedeutung des Seins in der Kunst der Ethik und der ethischen Bedeutung unterordnet (DB28–33, 39–41 u. 47–50). Eine Entsprechung dazu findet sich in dem sehr späten Aufsatz Philosophische Bestimmung der Idee der

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barenden Funktion so, dass sie das Sichzeigen des Seins fortentwickelt und immer wieder verschiedene Aspekte des Seinsereignisses zum Ausdruck bringt (DB21 f. u. JS100 f.). Indem sowohl die Materialität als auch die Bildhaftigkeit und Ästhetik Aspekte des Seins darstellen, kann die spätere Beschreibung der Wirkweise von Kunst als eine allgemeine Theorie angesehen werden, die auch die beiden anderen miteinbegreift, zumindest insoweit diese eine verstehende oder interpretierende Auffassung des Kunstwerks integrieren und sich nicht – in der frühen Zeit hat Levinas sie eher auf diese Möglichkeit hin akzentuiert – dagegen abschließen. 899 Die Grundidee einer Lichtung des Seins, wie sie besonders in Die Bedeutung und der Sinn greifbar wird, besteht darin, dass jedes Verstehen ein Seinsverstehen voraussetzt, dass in diesem das Sein verschieden erhellt sein kann und dass es sich in der Geschichte entwickelt. 900 Die ursprüngliche Form von Seinsverstehen, welche die bleibende Basis ist für das immer sekundäre denkende Erfassen, ist der konkrete leibliche Vollzug des Seins in einer bestimmten Seinsweise, der zugleich den leibhaften Ausdruck des in ihm implizierten Kultur, in dem Levinas der »Barbarei des Seins« (PB227), zu welcher er die hier ebenfalls von Merleau-Pontys Ideen her beschriebene Kultur und Kunst zuordnet, eine »Ethische Kultur« (PB227) gegenüberstellt. Wie sich Levinas genauer zu den beiden Autoren verhält, auf die er sich bezieht, kann hier nicht weiter verfolgt werden. 899 Levinas spricht in JS99 ganz offen von verschiedenen »Seinsweisen«, die zum Klingen gebracht werden. Im in JS101 angeführten Beispiel eines Cellowerks von Iannis Xenakis, welches das Sein des Cello selbst, ohne sich abzulösen in die das Holz und sein Kratzen überdeckende harmonische Welt der Melodie, zum Klingen bringe, geht es m. E. um den Aspekt des Ereignisses der Materialität des Seins. Levinas kann dieses also offenbar selbst als Weise des Sichzeigens des Seins begreifen. In JS100 kommt die Kunst als Produktion von Schönheit in den Blick und Levinas kann sie in JS32921 nahe an WS, worauf er hier ausdrücklich verweist, von der Bildlichkeit, seiner spezifischen Zeitlichkeit und Schönheit her verstehen. Auch dies kann man m. E. eingefügt sehen in das Verständnis von Kunst als Offenbarung des Seins. In WS beschreibt Levinas zwar das Ereignenlassen des Schattens nicht als erhellende Enthüllung, sondern als Verdunklung des Seins (WS74 f.) und akzentuiert die Kunst so auf ihre Möglichkeit hin, nicht als Ausdrucksgeschehen zu fungieren (WS64–68), sondern sich gegen das Verstehen abzuschließen. Dies hängt freilich damit zusammen, dass er hier das Kunstwerk sowohl von der Sprachlichkeit als auch einer interpretatorischen Aneignung zu lösen versucht (WS66 u. 83 f.). In JS sieht er es gerade darauf verwiesen. Die in WS in den Blick genommene Verdunklung ist m. E. als nur eine Möglichkeit unter anderen zu betrachten. Levinas selbst deutet hier unabsichtlich die andere Möglichkeit an, wenn er fragt, ob nicht »der Künstler eben die Dunkelheit des Wirklichen kennt und zum Ausdruck bringt« (WS68). 900 Vgl. dazu u. zum Folgenden v. a. DB15–22. Vgl. dazu auch PB220 u. 222 f. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Seinsverstehens und kinästhetisch 901 den Ausgangspunkt der ausdrücklichen Wahrnehmung dieses Verstehens bzw. seines Ausdrucks darstellt. Die Tätigkeit des Künstlers wird in besonderer Weise als ein Geschehen verstanden, in dem eine bestimmte Weise des leibhaften Seinsvollzuges wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht wird. Die Äußerungen der Kultur allgemein und speziell die Kunst sind auf diese Weise »ontologisch schlechthin: [S]ie machen das Erfassen des Seins möglich« (DB20). Dem Leib kommt hier eine Bedeutung zu als dem ursprünglichen Ort eines geschichtlichen Sichzeigens des Seins und seiner verschiedenen Seinsweisen in einer besonderen »kulturellen Geste« (DB19). Diese Geste oder diesen leibhaften Ausdruck im Kunstwerk versteht Levinas in Jenseits des Seins auch als sprachliches Ereignis, und zwar als verbales Klingenlassen des Seins. Es ist nicht bloßer Seinsvollzug, sondern schon ein Ausdruck, ein Zum-Erscheinen-Bringen des Seins. Damit es aber zu einem wirklichen Verstehen und einer verstehenden Aneignung kommen kann, bedarf es zusätzlich der Sprache im eigentlichen Sinne in Form einer sprachlich verfassten Interpretation des Kunstwerks. Nur so wird das – wie Levinas es benennt – Exotische des Kunstwerks überwunden und das in ihm liegende Seinsverständnis in die Welt, den jeweiligen Verstehenshorizont, des Betrachters eingebunden. Auch wenn die Bedeutung dieses Ausdrucks nur bedeuten kann ausgehend vom Ursprung aller Bedeutung, der Ethik 902, auch wenn der Ausdruck wie alles Gesagte in den Dienst treten kann für die Gerechtigkeit, auch wenn er selbst als Teil der Beziehung zum Anderen, an den er sich richtet, verstanden werden kann (DB39 u. JS31810 ), für sich genommen bleibt er Gesagtes, Ontologie, Auflösung im Es-gibt. Und vom Ausdruck des Seins aus allein führt kein Weg zum Gesicht, weil dieses – selbst völlig unabhängig von jeder Form – jede Form im Ausdruck gerade durchbricht und stört. 903 Als Teil des Es-gibt wird 901 Zur im Begriff der Kinästhese gefassten Abhängigkeit der Wahrnehmung von einer leiblichen Bewegung vgl. oben, S. 339–341. Hier bekommt dieser leibliche Vollzug über seine Bedeutung als Orientierung für die Anordnung und die verstandesbegriffliche Auffassung der sinnlichen Eindrücke eine Bedeutung als Träger der konkreteren Bedeutungshorizonte der Wahrnehmung (DB17 f.). 902 Vgl. dazu DB28–33, 39–41 u. 47–50. 903 Vgl. DB40 f.: »Die kulturelle Bedeutung […] findet sich durch eine andere Gegenwart völlig aus der Ordnung geworfen und durcheinandergebracht, durch eine abstrakte (oder, genauer, absolute), der Welt nicht integrierte Gegenwart.« Die lebendige Gegenwart des Gesichts »besteht darin, die Form zu zerstören, in der sich alles Seiende in dem Augenblick, in dem es in die Immanenz eintritt – das heißt, in dem es sich

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auch die Kunst in ihrer Entbergungsfunktion zur Idolatrie. Zu einer religiösen Aufladung und Überhöhung der Kunst kommt es für Levinas dadurch, dass sie in einer atheistischen Gesellschaft eine Bedeutung als zentrales Ereignis der Offenbarung des Seins bekommt. 904 Bei allen drei Wirkweisen wurden Möglichkeiten angedeutet, wie die Kunst auch eine positive Bedeutung im ethischen Leben bekommen kann. Besonders in der späteren Zeit hat Levinas dies ausdrücklich hervorgehoben. Worin sie konkret bestehen und was sich von daher für die Frage nach der Bedeutung der Leiblichkeit in der Ethik und in der Beziehung zum Unendlichen ergibt, wird noch an anderer Stelle untersucht werden. 905 Hier ging es zunächst nur darum, die drei verschiedenen Weisen darzustellen, in denen für Levinas die Leiblichkeit die Kunst zu einer Form der Auflösung im Es-gibt und dadurch zu etwas Pseudoreligiösem werden lässt. Levinas’ Kunsttheorie, die sich nicht scheut, problematische Potentiale anzusprechen, die aber in ihrer Vielschichtigkeit die Kunst nicht auf eine bestimmte Wirkweise festlegt, kann einen wichtigen Beitrag erbringen für eine differenzierte Wahrnehmung dessen, was durch die Kunst am Menschen geschieht. Interessengeleitete Formen von Gottesbeziehung Bis hierher wurde betrachtet, wie Levinas ausgehend von seiner Religionsphilosophie verschiedene religiöse Vollzüge kritisiert, die zu einer Auflösung in einem Unpersönlichen tendieren. Seine Erschließung eines Gottesbezuges ausgehend von der Ethik lässt für ihn daneben auch solche Formen von religiöser Praxis als uneigentliche Weisen des Transzendenzbezuges erscheinen, in denen der Mensch zwar in eine personale Beziehung mit Gott tritt, aber nicht in einer ethisch-selbstlosen, sondern in einer selbstbezogenen Ausrichtung. als Thema aussetzt –, schon verbirgt«. »Die Nacktheit des Antlitzes ist eine Entblößung ohne jedes kulturelle Beiwerk – eine Absolution –, eine Ablösung von seiner Form inmitten des Sich-Ereignens der Form.« (DB41) 904 In DB20 bemerkt Levinas, es sei vor dem Hintergrund der ontologischen Bedeutung der Kunst »kein Zufall, daß das gegenwärtige Geistesleben von der überschwänglichen Hochschätzung der Kultur und der Kulturen, von der Hochschätzung des künstlerischen Aspekts der Kultur geleitet wird; dass die Museen und die Theater […] – so wie einst die Tempel – die Kommunion mit dem Sein möglich machen und daß die Poesie als Gebet gilt«. In PB223 bemerkt er, dass die Kunst »im Wissensatheismus unserer westlichen Kultur den Platz eines unbekannten Gottes einnimmt«. 905 Vgl. unten, S. 782–788. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Wie dies bereits dargestellt wurde 906, geschieht für Levinas schon mit der Thematisierung Gottes, wenngleich sie ursprünglich noch im Dienst der Ethik, auf der Ebene der Gerechtigkeit, stehen und sich auf diese Weise entwickeln kann, schon eine gewisse Loslösung vom ursprünglichen Ort des Ereignisses des Unendlichen. Die Rede von Gott hat für Levinas immer etwas Falsches und Unglaubwürdiges. Und hat man Gott einmal als Thema objektiviert, kann er auf verschiedene Weise in die eigenen Pläne eingebunden werden, sodass er »in permanenter Gefahr steht, zu einem Schutzherrn für alle Egoismen verwandelt zu werden« (JS351). 907 Letztlich vom Eigennutz getragen ist für Levinas auch die moralisch auftretende Idee von Gott als Belohner und Bestrafer. Dass Gott faktisch der scheinbaren »Verpflichtung, die Tugend zu belohnen und die Laster zu bestrafen« (JS28), nicht nachkommt, macht den mit dieser Idee auftretenden Gottesglauben für Levinas zu Recht unglaubwürdig. 908 Die Einbindung Gottes in unsere Interessen kann sehr subtil sein. Sie wird etwa von Levinas – ohne dass er damit die Möglichkeit einer anderen Motivation wohl ausschließen möchte – auch dort vermutet, wo versucht wird, die Existenz Gottes oder sonstige Glaubensinhalte zu beweisen, um mit ihnen sicher rechnen zu können (JS212). Indem die Theologie wesentlich mit den Heilserwartungen des Menschen zu tun hat, ist sie für ihn zudem allgemein – nicht nur, wenn sie Beweise erbringen möchte – in der Gefahr, einen billigen Trost zu spenden. Entsprechend wendet er sich etwa gegen eine »Eschatologie, die mehr mit letzten Zielen und mit Versprechungen beschäftigt ist als mit Verpflichtungen hinsichtlich der Menschen« (DV164 f.). Dadurch ist zwar, wie dies gezeigt wurde 909, für Levinas die Möglichkeit eines eschatologiVgl. oben, S. 549 f. Vgl. auch in SuH172 die Kritik der Vorstellung eines »Gottes, der, obwohl höchste, gerechteste und allein anzubetende Gewalt, noch wie eine Macht unter anderen agiert, von dem die Menschen Beihilfe in ihren Kriegen und Liebesabenteuern erhoffen, und von dem sie Glückseligkeit erwarten, wie man ein Monatsgehalt erwartet«. Hier klingt auch die Kritik an der Vorstellung von Gott als Belohner und Bestrafer an. 908 Vgl. dazu ebenso TU26 o. auch DT110: »Was bedeutet dieses Leid der Unschuldigen? Zeugt es nicht von einer Welt ohne Gott […]? Die einfachste, normalste Reaktion wäre, auf Atheismus zu erkennen. Auch die gesündeste Reaktion für alle diejenigen, denen ein etwas einfältiger Gott bisher Preise verteilte, Sanktionen auferlegte oder Fehler verzieh und in seiner Güte die Menschen wie ewige Kinder behandelte. Doch mit welch borniertem Dämon, welch merkwürdigem Zauberer habt ihr denn euren Himmel bevölkert, ihr, die ihr ihn heute für verödet erklärt?« 909 Vgl. oben, S. 569–584. 906 907

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schen Trostes nicht ausgeschlossen. Dieser muss aber die Bereitschaft zum Verzicht auf jede Selbstsorge integrieren, denn »[v]ielleicht ist nur eine Menschheit dieses Trostes würdig, die sich seiner auch enthalten kann« (EU92). Auf ähnliche Weise wurde gezeigt 910, wie Levinas die Möglichkeit von Bitte und Dank an die selbstlose Ausrichtung auf den Anderen bindet.

2.2.6 Vergleich mit Fichtes Religionsphilosophie Die Unterschiede im Ansatz und in der Methode von Fichte und Levinas, wie sie bereits herausgearbeitet wurden, müssen auch deren Religionsphilosophie, bei allen Ähnlichkeiten, auf unterschiedliche Bahnen lenken. Beide entfalten sie zwar ausgehend von dem, was für sie das Eigentliche des Menschen ausmacht, seine Existenz als verantwortliches Subjekt. Indem sich dieses für Fichte jedoch auf einem universalen Standpunkt befindet, ist auch die Möglichkeit eröffnet, mit dem daraus gerechtfertigen Denken zurückzufragen nach dem Grund des Seins des Subjekts und auf diese Weise Gott als rein in sich stehendes Sein vorauszusetzen. Den Weg dieses im weitesten Sinne kosmologischen Arguments kann Levinas aufgrund des Konzepts eines anarchischen Bezogenseins über die Universalität und sogar die Autonomie hinaus nicht gehen. Entsprechend ist für ihn das Unendliche nicht Sein, sondern jenseits des Seins. Dass er phänomenologisch in diesem ethischen Bezogensein ein gesondertes Moment der Verwiesenheit auf eine über die eigene Endlichkeit hinausgehende reine Güte herausarbeitet, welche eine Beziehung zu einem transzendenten Unendlichen nahelegt oder zumindest die Möglichkeit eröffnet, sinnvoll davon zu sprechen, könnte wiederum von Fichte in der Form nicht nachvollzogen werden, da für ihn im autonomen Subjekt selbst schon der vollkommene, wenn auch noch nicht vollkommen verwirklichte ethische Vollzug angetroffen wird und so die Möglichkeit für ein Argument in der Art des cartesischen Gottesbeweises nicht entsteht. Diese fichtesche Relativierung des cartesischen Arguments kann für Levinas keine Gültigkeit haben, da durch seine Auslegung der Beziehung zum Anderen schon per se ein anarchischer Überstieg auch in Bezug auf die Idee des Unendlichen gefordert ist. Die Struktur der Verwiesenheit auf eine reine Güte, die es mit 910

Vgl. oben, S. 564 f.

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sich bringt, dass das Subjekt sie nicht aus sich haben kann, wird zwar bei Levinas auf ein tatsächliches Sichereignen des Unendlichen im endlichen Subjekt ausgelegt. 911 Dies wird aber nicht als einfache Selbstmitteilung und in der Folge als Teilhabe am selben Leben verstanden, wie dies bei Fichte aufgrund seines Ansatzes an einem universalen Standpunkt geschieht, auf dem wir im Grunde schon eins sind mit dem Absoluten. Entsprechend vollzieht das Subjekt für Levinas keine teleologische Rückkehrbewegung in das Unendliche. Dieses bleibt uneinholbare Vollkommenheit der Güte, ohne dass es dabei ein Ziel darstellen würde, das erreicht werden soll. Die Ausrichtung auf das Unendliche wird mit der spezifischen Struktur des Begehrens beschrieben. Die bleibende Transzendenz wird von Levinas als Beziehungsdifferenz gefasst, auch wenn sie sich anders vollzieht als die Beziehung zum Anderen. Wenn sich für Fichte der Bezug des Menschen zu Gott demgegenüber nicht als personale Beziehung erschließt 912, dann ist dies nicht aus seinem Teilhabedenken begründet – in diesem ergibt sich gerade eine wirkliche Getrenntheit von Freiheiten und insofern eine Transzendenz, wenn auch nicht im anarchischen Sinne wie bei Levinas 913 –, sondern daraus, dass er der Personalität und Interpersonalität keine letzte Bedeutung zuschreibt. Auch wenn Fichte von Aufruf und Berufung spricht und man darin eine Ähnlichkeit zum Erwählungsbegriff bei Levinas sehen kann, so fehlt doch bei ihm das Moment des personalen Gemeintseins sowie überhaupt eine letzte Bedeutsamkeit des personalen Gegenübers. 911 Insofern halte ich es für sinnvoll, wie Saskia Wendel den fichteschen Bildbegriff mit dem der Spur bei Levinas zu parallelisieren (1996, 169). Neben der Ähnlichkeit müsste man aber außerdem auf die Differenz aufmerksam machen, die in Levinas’ Ablehnung des Teilhabegedankens liegt. Von daher scheint mir die Kritik von Carsten Lotz, dass Wendel »die kritischen Potentiale der Levinas’schen Philosophie nivelliert« (2008 96126 ), berechtigt zu sein. 912 Gegen die Interpretation von Hans Georg von Manz, der die Liebe in Fichtes Anweisung interpersonal versteht (1994, 207 f.). 913 Die von Levinas her formulierte These Thomas Freyers (1992, 142–145), dass ein Denken, das von einer universalen Einheit der Vernunft oder des Seins ausgeht, der Transzendenz Gottes nicht gerecht werden kann und ihn zu einem Objekt unserer Erkenntnis sowie unserer Interessen macht, trifft von daher m. E. Fichte nicht. Fichtes Ringen um das Verhältnis von Wissen und Absolutem mündet in die realistische Option, welche Gott dem Wissen als einen von diesem nie einholbaren Grund vorordnet. Auch wird das Absolute nicht in die Ziele des Menschen eingespannt, sondern umgekehrt der Mensch in die des Absoluten. Indem dies Raum lässt für die wirkliche Selbständigkeit und Freiheit des endlichen Subjektes, wird auch insofern eine Transzendenz nicht verhindert.

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Von daher könnte auch die Eröffnung der selbständigen Existenz, wenn man sie bei Fichte als eigenen Aspekt des Verhältnisses zu Gott unterscheiden würde, nicht wie in Levinas’ Begriffen von Vaterschaft und Mutterschaft in personalen Kategorien beschrieben werden. Für Fichte geht es dem Absoluten nicht um mich als Individuum. Wenngleich man ebenso für Fichte in Entsprechung zu Levinas’ Analyse der Verunendlichung in der Vaterschaft sagen könnte, dass es um eine Lösung des Subjekts von der Bindung an sich geht, dass sich erst darin Gott in ihm ereignen kann und dass die Möglichkeit dazu in einer ursprünglichen Identifikation mit etwas jenseits der eigenen individuellen Existenz von Gott eröffnet ist, so wäre dies jeweils nicht personal zu verstehen: Es wäre die Identifikation mit dem überpersönlichen einen Dasein und die Loslösung von sich nicht hinein in den Anderen, sondern hinein in dieses Überpersönliche. Der Methodenunterschied zwischen beiden Autoren wirkt sich darin aus, dass Fichte für den denkerischen Weg zum Absoluten die Begriffe als allgemeine rechtfertigen kann und dass es ihm demzufolge möglich ist, diesen Weg – freilich auf der Basis einer von Levinas ganz ähnlich beschriebenen Glaubensvoraussetzung – als einen Beweis zu verstehen. Auch für ihn müssen zwar negativ-theologisch alle Begriffe von Gott abgehalten werden, im eigenen Grundsein und dessen intellektueller Anschauung ist aber Gott zugänglich und von dort her kann zugleich ein differenzierter Begriffsgebrauch begründet werden. Man kann zwar an Fichtes Gottesbeweis bemängeln, dass die Notwendigkeit eines Grundes des Seins nicht hinreichend geklärt wird. Innerhalb seines Ansatzes würde dadurch jedoch nicht wie bei Levinas positiv die Unmöglichkeit eines Gottesbeweises folgen. Levinas muss aufgrund der anarchischen Transzendenz des Unendlichen über das Beweisen sowie über das Anwenden von allgemeinen Begriffen hinausgehen, bis dahin, dass er nicht einmal die These der möglichen Existenz Gottes formulieren kann. Erst recht nicht wird Gott als in sich stehendes Sein verstanden. Dass Gott viel unbestimmter bleibt, wirkt sich aus in einer offeneren Behandlung von theologischen Fragen. So scheint sich für Levinas etwa in der Frage nach dem Sinn des Bittgebetes oder der Frage nach dem Eingreifen Gottes angesichts des Leids die Antwort nicht unmittelbar wie für Fichte aus dem Wesen Gottes zu ergeben. Er scheint von der Möglichkeit eines solchen Eingreifens auszugehen. Die Anarchie im Verhältnis zum Unendlichen bewegt Levinas sogar dazu, den Sinn der Rede von einer Schöpfung infrage zu stellen. Wenn sich Fichte gegen diese Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Rede wendet, dann nicht aus Gründen der negativen Theologie, sondern weil er die Idee einer Wahlfreiheit Gottes ablehnt. Unabhängig davon kann er die Rede vom Erschaffen des Endlichen durchaus für sinnvoll halten, indem er von einem absoluten Gesetzsein des endlichen Seienden durch das Absolute und in dem Sinn vom Kerngehalt des Schöpfungsbegriffs ausgeht. 914 Meines Erachtens kann man das levinassche Jenseits-des-Seins innerhalb seines Ansatzes zwar so interpretieren, dass es eine nichtontologische metaphysische Rede und so ein Festhalten am Schöpfungsbegriff sowie an der Rede vom Sein Gottes zulässt, dabei würde jedoch die Anarchie nicht verlassen und vom Sein nicht wie bei Fichte mit einem allgemeinen Seinsbegriff gesprochen werden. Die Wendung von der negativen zur positiven Theologie im Sichereignen Gottes in der Ethik vor allem Begreifen findet sich zwar bei beiden Philosophen. Beide binden auch das religiöse Verhältnis an die Ethik. Und dies äußert sich in einem ähnlich kritischen Umgang mit den faktischen Erscheinungen der Religion: in einer Relativierung des ausdrücklichen Glaubens gegenüber einer impliziten Grundhaltung, einer Relativierung religiöser Vollzüge wie des Gebets und ihrer Umdeutung und Rechtfertigung lediglich als Mittel für die Ethik, oder auch in der Ablehnung gegen eine bloß kontemplative Religiosität und Lebensführung. Eine Ähnlichkeit kann man zudem darin sehen, dass sich für beide Gott nicht in einem freien Akt des Menschen ereignet und nicht in etwas, was dieser herstellen kann,

914 Ausgehend von Fichtes Weise des Rückgangs auf den Grund der Existenz des Ich könnte daher Thomas Freyers gegen das Modell von Dieter Henrich und Klaus Müller formulierte Anfrage, wie ein Ansatz, der an »der geltungstheoretischen Unhintergehbarkeit menschlicher Subjektivität« festhält, eine wirkliche creatio ex nihilo denken kann (1996, 123 f.), beantwortet werden. Man müsste Fichtes Ansatz dann auch nicht dem einer verdankten Subjektivität gegenüberstellen, wie Freyer dies in Bezug auf Müllers und Henrichs Ansätze tut (118–124 u. auch noch 1997, 18 f.). Wenn Josef Wohlmuth die Unmöglichkeit herausstellt, »die unbedingte Verdanktheit menschlicher Existenz transzendentallogisch zu beweisen (nicht nur über sie nach-zudenken)«, dann ist er hier auf einer Linie mit Fichte, für den das Faktum der endlichen Existenz nicht abgeleitet, sondern nur festgestellt werden und nur auf der Basis dieser Feststellung in einem zweiten Schritt nach den Bedingungen für sein Zustandekommen gefragt und die Beziehung mit dem es setzenden Absoluten analysiert werden kann. Insofern dies wesentlicher Bestandteil des fichteschen Bildbegriffs ist, ist es nicht nachvollziehbar, wie Wohlmuth (2002, 15732 ) in Bezug auf Hansjürgen Verweyen, der sich auf diesen Begriff, wenn auch modifizierend, stützt (2002, 154–159), das Fehlen einer Schöpfungstheologie konstatieren kann.

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Vergleich mit Fichtes Religionsphilosophie

sondern nur in einem Ergriffensein. Während aber bei Fichte das, was den Menschen ergreift, zunächst einmal die eigene vorfreie Praxis ist und durch deren Deutung als einer von Gott in einem teilgebenden Akt gesetzten Wirklichkeit der Passivität gegenüber Gott keine eigene Bedeutung zugeschrieben wird, ist die Instanz, die bei Levinas den Menschen letztlich ergreift, der exteriore Andere und das Unendliche, die jedem eigenen Vollzug transzendent sind. Das Unendliche ereignet sich nicht in einer ethischen Praxis, sondern in einer ethischen Passivität. In Bezug auf die Frage nach einer den Tod überdauernden Existenz lässt sich zwischen beiden Denkern insofern eine Übereinstimmung feststellen, als sie sich beide an das kantische Postulat anlehnen und vom Erfordernis – allgemein formuliert – einer Übereinstimmung der Welt mit dem Ereignis der Ethik ausgehen. Zusätzlich dazu, dass sich für Fichte in der späteren Zeit die unendliche Fortdauer des Individuums unmittelbar als Implikat seines metaphysischen Konzepts der Entfaltung des einen Daseins ergibt und für diese nicht mehr eigens ein Wirken Gottes zu postulieren ist, unterscheiden sich beide auch darin, was für sie dieses Erfordernis genauer bedeutet. Fichte legt es aus als Erfordernis der möglichen Realisation des sittlichen Willens. Dem Individuum kommt dabei keine eigene Bedeutung zu, was sich besonders deutlich darin zeigt, dass für ihn in der spätesten Zeit nur noch die Teile des überpersönlichen Willens des einen Daseins zeitlos sind und fortdauern, während die Individuen vergehen können. Außerdem ist bei ihm für die Realisation des sittlichen Wollens eine Befreiung von Leid nicht notwendig. Für Levinas ergibt sich aus dem genannten Erfordernis dagegen deshalb eine Perspektive auf eine Fortdauer des Individuums, weil sich Ethik nur als Beziehung und deshalb unter der Bedingung der getrennten Existenz des Individuums ereignet. Indem diese für ihn im Genuss konstituiert ist, impliziert die Fortdauer das Glück des Individuums, ja, insofern das Leid die Möglichkeit der Hingabe einschränkt, ein von über die Beziehungspassivität und die damit einhergehende Widrigkeit hinausgehendem Leiden freies Glück. Für ihn ist deshalb eine glückliche Ewigkeit erforderlich, die geschützt ist gegen die negativen Auswirkungen der unsittlichen Freiheit. Levinas nimmt dafür einen Überstieg über die geschichtliche Sphäre in den Blick. Bei Fichte bleibt diese, wenn auch eventuell in einer etwas anderen Form, erhalten, weil er die Zeitlichkeit sowie die Leiblichkeit als notwendige Momente des endlichen Daseins erschließt. Dadurch bleibt der Mensch Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Die Religionsphilosophie

auch der Einwirkung des Bösen ausgesetzt. 915 Bei Levinas findet zwar keine vollständige Lösung von der Zeit statt – die diachrone Zeit bleibt erhalten –, und zwar aus einem ähnlichen Grund, nämlich deshalb, weil diese sich, wenn auch nicht in einer strengen Herleitung, als Grundbestimmung des endlichen ethischen Daseins gezeigt hat. Offenbar behält auch die Leiblichkeit eine weitere Bedeutung, ebenso die Wahlfreiheit. Die Leiblichkeit soll aber eine solche Form bekommen, dass sich die Möglichkeit eines Schutzes vor dem Bösen eröffnet. Als eine Fortentwicklung des kantischen Postulatsgedankens kann bei Fichte auch die Idee einer göttlichen Weltregierung angesehen werden – in der späteren Zeit in der Form einer Lenkung der Entwicklung des einen Daseins durch das göttliche Gesetz auf die Hervorbringung der notwendigen Bedingungen der Realisation von Sittlichkeit hin. Außerdem denkt Fichte innerhalb dieses Konzepts auch eine Lenkung der Geschichte durch eine in individuellen Berufungen erfolgende Offenbarung von Aspekten des göttlichen Lebens. Levinas stellt die Frage nach der Adäquatheit der vorfindbaren Gestalt der Welt für das Ereignis der Ethik nicht ausdrücklich, geht aber selbstverständlich von einer solchen aus. Und sie scheint für ihn im Unendlichen begründet zu sein, das dem Sein seine Grundstruktur vorgibt. Die Idee von individuellen Berufungen oder auch von verschiedenen Aspekten einer qualitativ gefüllten göttlichen Wirklichkeit findet sich bei Levinas nicht. Der Gedanke einer fortschreitenden Offenbarung taucht jedoch bei ihm auf, und zwar dadurch, dass er die Vorstellung der Entwicklung einer Seinslichtung in sein Denken integriert, auch wenn er dieser eine lediglich sekundäre Bedeutung gegenüber der eigentlichen Offenbarung im Gesicht des Anderen zuschreibt. Vergleichbar sind beide Denker darin, wie sie von ihrer Religionsphilosophie her die Möglichkeiten uneigentlicher Gottesvorstellungen erschließen und von daher faktische religiöse Erscheinungen kritisieren. Überein kommen beide in der Kritik an Formen, in denen Gott zum Diener von selbstbezogenen Bedürfnissen gemacht wird, sei es als Spender von Wohltaten oder als Belohner der Tugend. 915 Dies wäre etwas anders im späteren Modell in den Tatsachen des Bewusstseins von 1810/11, in dem nur die sittlich entschiedenen Individuen in ein Leben nach dem Tod übertreten und Fichte davon ausgeht, dass sie, obgleich sie weiter frei sind, in dieser Entschiedenheit auch bleiben (TB126 f.).

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Vergleich mit Fichtes Religionsphilosophie

Aus diesem Grund würde Fichte etwa auch eine Religiosität, die sich auf eine leiblich-naturhafte Alleinheit beschränkt, der ersten Stufe der Weltsicht zuordnen und ihr kritisch gegenüberstehen. Während Levinas eine solche religiöse Ausrichtung zudem als Form der Aufhebung der personalen Trennung kritisieren würde, läge für Fichte darin vermutlich kein Problem. Wenngleich bei ihm die Freiheit und Unabhängigkeit des endlichen Daseins und sogar des Individuums immer bestehen bleibt, schreibt er der personalen Trennung keine letzte Bedeutung zu und kann entsprechend die ideale Beziehung zu Gott als eine Art Verschmelzung verstehen. Die Bezugnahme auf die Mystik fällt bei ihm von daher eher positiv aus. Nach der hier vorgetragenen Interpretation kann Fichte auch Phänomenen der Vereinigung auf der Ebene des Natürlichen und Leiblichen eine zumindest relative Bedeutung geben. Die levinassche Kritik an einer Religion der Auflösung in einer universalen Vernunft würde Fichte durchaus treffen. Umgekehrt lässt sich die fichtesche Kritik an der Vorstellung einer radikalen Transzendenz, in der Gott auf eine Weise jenseitig bleibt, dass er den Geschöpfen nicht sein eigenes Leben mitteilt, so nicht auf Levinas beziehen. Denn bei ihm verhindert die Transzendenz nicht, dass sich das Unendliche im Endlichen ereignet. Und er begreift das unendliche Mehr der Güte Gottes nicht als ein Ziel, demgegenüber der Mensch zurückgesetzt wäre. Auch die Kritik an einer Vorstellung, die Gott nicht als Selbstzweck, sondern als Diener der Sittlichkeit ansieht, findet auf Levinas keine Anwendung, da sich bei ihm keine Konkurrenz zwischen Gott und Anderem ergeben kann. Wiederum lässt sich aber umgekehrt die levinassche Kritik an der Idee Gottes als eines letzten Selbstzwecks, dem es rein um sich geht, auf Fichte beziehen. Die Unterschiede im Verständnis des religiösen Lebens, die speziell die Bedeutung des Leibes in ihm betreffen, werden behandelt, wenn geklärt wurde, wie Levinas diese bestimmt. Zunächst muss dazu im Folgenden seine phänomenologische Analyse der Leiblichkeit nachvollzogen werden.

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2.3 Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

2.3.1 Vorbemerkungen zur methodischen Herangehensweise Während Fichte im Anschluss an seine transzendental rückfragende Erschließung des Verhältnisses zu Gott zusammen mit den Grundmomenten des Daseins auch den Leib als Bedingung für den Vollzug dieses Verhältnisses ableitet, erschließt Levinas seinen Leibbegriff nicht in einer solchen Deduktion, sondern indem er in einem eigenen transzendentalphänomenologischen Gang nach dem ursprünglichen Vollzug des leiblichen Subjekts zurückfragt und von da aus die Entfaltung der verschiedenen in ihm angelegten Momente der Leiblichkeit beschreibt. Die hier vorgelegte Untersuchung hätte insofern mit der Darstellung dieser Erschließung bereits im ersten Kapitel einsetzen können. Es wird sich aber zeigen, dass Levinas für die seinem Leibbegriff wesentliche Deutung des Genießens als des Grundereignisses der Trennung auf die Analyse der Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen zurückgreifen muss. 916 Daher war es sinnvoll, diese zuerst zu behandeln. Levinas’ Argumentation zufolge muss die Beziehung zum Anderen an ein unabhängig von ihr konstituiertes und in diesem Sinne getrenntes Subjekt anknüpfen. Er findet dieses in dem wieder, was er als Subjektivität des Genusses phänomenologisch beschreibt. Viele von deren Charakteristika kann Levinas als Bedingung für die Beziehung zum Anderen rekonstruieren. Auch wenn sich dabei manches wie eine Deduktion liest, ist dies nicht sein Anliegen. Eine solche Deduktion ist für ihn nicht möglich. Die Begründung dieser Unmöglichkeit kann nicht einfach dieselbe sein wie beim Ausschluss einer Ableitung etwa der Beziehung zum Anderen. Denn der Leib stellt zunächst keine anarchisch entzogene Anderheit dar, sondern ist der eigene immanente Vollzug des Subjekts. Die Anarchie spielt in dieser Begründung erst insofern eine Rolle, als der 916

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Vgl. dazu u. zum Folgenden unten, S. 675–689.

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Vorbemerkungen zur methodischen Herangehensweise

Leib durch seine Abhängigkeit vom Materiellen von dessen anarchischer Entzogenheit geprägt ist und diese zwar in einigen Aspekten als Bedingung für die Anarchie des Anderen begreifbar ist, insgesamt jedoch eine eigene Entzogenheit darstellt und somit die Leiblichkeit unableitbar bestimmt. 917 Außerdem folgt aus der Entzogenheit des Anderen in der Trennungsbeziehung, von der eine Deduktion ausgehen müsste, dass diese nicht möglich ist. Aus dem Genannten dürfte zudem begründet sein, dass für Levinas aus der Vermittlungsfunktion des Leibes seine Gestalt nicht in jeder Hinsicht verstehbar ist, sondern nur in einigen Grundstrukturen, die dann erst durch die phänomenologische Beschreibung ihre eigentliche Konkretisierung erfahren. Für Levinas ist die leibliche Konkretion, in der die Beziehung zum Anderen gelebt wird, nicht etwas, worin sich die Bedingung dieser Konkretion, das Grundverhältnis der Beziehung des Getrennten zum Anderen, lediglich ausfaltet, ohne dass diesem etwas an Wirklichkeitsverständnis hinzugefügt würde. Vielmehr schreibt er ihr »eine ontologische 918 Rolle zu, die den Sinn der begründenden Möglichkeit präzisiert, einen Sinn, der in der Bedingung selbst unsichtbar bleibt« (TU252). Wie sich die Beziehung zum Unendlichen in der Beziehung zum Anderen konkretisiert (TU62 f.), so konkretisiert sich die Beziehung zum Anderen in der Leiblichkeit. Levinas bezeichnet diese Konkretisierung auch als Entformalisierung (TU62 u. 160) und stellt sie dem »Abstrakten« (TU160) gegenüber. Darunter versteht er nicht die Formalität und Abstraktheit des Begriffs, auch wenn diese ebenfalls eine Konkretion in der Beziehung zum Anderen bzw. in der Leiblichkeit erfährt, sondern die losgelöst von ihrer Konkretion genommene Beziehung zum Unendlichen bzw. zum Anderen. Die folgende Darstellung wird wieder von Totalität und Unendlichkeit ausgehen. Hier entfaltet Levinas seine Phänomenologie der Leiblichkeit im zweiten Teil – nach der Vorstellung seines Ansatzes und vor der genaueren Beschreibung der Beziehung zum Gesicht des Anderen. Auf weitere Texte wird Bezug genommen, soweit sie zur Darstellung hilfreich sind oder soweit sie eine wichtige Ergänzung bringen. Besonders in Jenseits des Seins finden sich Weiterführungen 917 Diesen Zusammenhang macht Levinas besonders in Bezug auf die Konkretion des Wohnens deutlich, vgl. dazu unten, S. 692 f. 918 Das Wort ›ontologisch‹ wird in TU noch positiv verwendet, und zwar im Sinne einer Erhellung der Bedeutung des Seinsereignisses, das hier letztlich in der Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen verortet wird. Im späteren Kontext könnte man stattdessen von einer ›bedeutungstragenden Rolle‹ sprechen.

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

der Gedanken aus Totalität und Unendlichkeit. 919 Die dort ausführlich entfaltete phänomenologische Analyse der selbstbezogenen Subjektivität im Genießen wird dabei nicht revidiert, sondern zustimmend vorausgesetzt. Levinas verweist ausdrücklich auf sie zurück und rekapituliert sie kurz. 920 Ein Teil des transzendentalphänomenologisch rückfragenden Weges ausgehend von der unmittelbaren Bewusstseinsgegebenheit wurde hier schon im ersten Kapitel im Zusammenhang mit Levinas’ kritischer Anknüpfung an Husserls Intentionalitätskonzept nachvollzogen. Von da aus konnten bereits wesentliche Klärungen des Leibbegriffs vorgenommen werden. Da die beschriebenen Analysen einen wichtigen Verstehenshintergrund für die Untersuchung in Totalität und Unendlichkeit darstellen, die von da aus zu noch tieferen Bedingungen vorstößt, wird die folgende Darstellung an sie anknüpfen. Beide Analysen zusammengenommen vollziehen eine Kreisbewegung: Sie beschreiben, wie Levinas mit der unmittelbaren Bewusstseinsgegebenheit in der Vorstellung beginnt und von da aus zurückfragt nach der tiefsten leiblichen Bedingung, dem Genuss. Auf der Basis des Genusses verfolgen sie, wie sich die verschiedenen selbstbezogenen leiblichen Lebensvollzüge entfalten, bis zurück zur Vorstellung. Dabei wird die Leiblichkeit in ihrem Verhältnis zu den Vollzügen des Wohnens, des Wirkens in der Welt, des Besitzens und des Erkennens sowie zu den selbstbezogenen Beziehungen zum Anderen erhellt. Ihr Verhältnis zur ethischen Beziehung wird Gegenstand des darauffolgenden Kapitels sein.

2.3.2 Leiblichkeit als Genießen Der Rückgang hinter das Können Es wurde bereits beschrieben, wie Levinas an Husserls Analyse der Empfindung anknüpft und in der Urimpression sowie deren Einbindung in eine leibliche Bewegung und Kinästhese eine der Vorstellung 919 Zur vertieften Sicht auf die leibliche Abhängigkeit des Lebens-von-… in ihrer Bedeutung als Ermöglichung eines rückhaltlosen Sich-genommen-Seins vgl. unten, S. 682 f. Zur ausführlicheren Beschreibung der leiblichen Passivität in ihrer Schmerzhaftigkeit vgl. unten, S. 744–765. 920 Vgl. bes. Kapitel III, Abschnitt 4 unter der Überschrift »Das Genießen« und den Rückverweis auf TU in JS1698 .

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vorgängige Intentionalität und eine ihr entsprechende, der transzendentalen Apperzeption vorgängige inkarnierte Subjektivität erschließt. 921 Das leibliche Ich ist nicht mehr konstituierend, sondern passiv betroffen. Es bleibt nicht in sich, sondern steht in einem Bezug zu anderem. Es ist nicht nur auf Phänomene bezogen, sondern auf sich und das andere als Reale. Das leibliche Ich ist nicht nur aktiv als Vorstellungskonstitution und verhält sich gegenüber der Welt lediglich ruhig objektivierend, es ist vielmehr selbst in der Welt aktiv. Auch bleibt es nicht in einem bloßen Gegenüber zur Zeit wie in der Objektivierung der synchronen zeitlichen Abläufe, sondern vollzieht sich selbst zeitlich, in einer diachronen Entzogenheit zur synchronen Zeit. Ebenso hält es sich den Raum nicht wie das Vorstellungssubjekt lediglich gegenüber, sondern ist durch die Einbindung in die Welt selbst konkret verortet. Im Unterschied zur objektiv vorgestellten Räumlichkeit meint Raum hier das Relationiertsein auf Anderes im leiblich praktischen Vollzug. Der Leib ist dabei das Subjekt selbst in der so beschriebenen Inkarniertheit. Er ist weder ein Ding noch ein Objekt auf der Ebene des Vorgestellten oder des Phänomens, sondern nicht objektivierbarer lebendiger Vollzug. Levinas’ Analyse des Leibes als eines Subjektseins relativiert und ergänzt die szientistische Sicht auf das Materielle, auch durch dessen Einbindung in die Bedeutungshorizonte des Subjekts. Die Analyse der kinästhetisch eingebundenen Urimpression betrachtet den Leib als Praxis oder als Können. Bereits in Vom Sein zum Seienden (1947) und in Die Zeit und der Andere (1948) weist Levinas, indem er Heideggers Rückfrage hinter die Vorstellungsintentionalität zu der des praktischen Gebrauchens des Zuhandenen fortführt, demgegenüber darauf hin, »daß die Welt, bevor sie ein System von Werkzeugen ist, eine Sammlung von Nahrungsmitteln ist« (ZA36). 922 Heidegger habe die Existenz als Handeln und entsprechend die Welt als zuhandenes Werkzeug bestimmt, weil es für ihn der Existenz um die Existenz selbst gehe und sie in der Sorge um sie handle. Levinas macht dagegen auf das einfache Phänomen aufmerksam, dass der Mensch nicht isst, um sich am Leben zu erhalten, sondern um seinen Hunger zu stillen, es ihm also nicht um die bloße Existenz geht, sondern um Vgl. dazu u. zum Folgenden S. 332–344 u. 352–354. Zum Folgenden vgl. VS44 u. 50–54 sowie ZA36. Die hier artikulierte Kritik hält sich durch bis in die späte Zeit. Vgl. etwa JS166: »Das Heineinbeißen ist irreduzibel auf das In-die-Hand-Nehmen«. 921 922

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

einen bestimmten Genuss. Der Rückgang hinter die Praxis der Seinssorge wird in Vom Sein zum Seienden zwar noch detaillierter begründet, auch wird der Genuss noch genauer beschrieben, am differenziertesten geschieht dies jedoch in Totalität und Unendlichkeit. Die dortige Argumentation lässt sich folgendermaßen beschreiben: Zwar dienen die Dinge, die wir genießen, faktisch auch der Existenzerhaltung. Dies ist aber zum einen nicht immer so und zum anderen »werden sie nicht als solche erlebt« (TU153). In unseren Bedürfnissen sind sie selbst unmittelbar das Ziel und werden nicht nur als Mittel zur Existenzerhaltung erstrebt. »Das Nahrungsbedürfnis hat nicht die Existenz zum Ziel, sondern die Nahrung. Die Biologie lehrt die Verlängerung der Nahrung bis hin zur Existenz – das Bedürfnis ist naiv.« (TU190) Selbst wenn sich auf der biologischen Ebene für die Bedürfnisse ein sinnvoller Funktionskonnex feststellen lässt, werden sie unmittelbar erlebt als ein »Zusammen von unabhängigen Zweckmäßigkeiten, die sich gegenseitig ignorieren. […] Das Menschliche ist eine unsystematische Anhäufung von Beschäftigungen und Vorlieben« (TU189). Selbst wenn man psychologisch einen Bereich des Unbewussten beschreiben kann, in dem hinter der Ausrichtung der Bedürfnisse noch andere Motivationen stehen, richtet sich das Bedürfnis einfach auf das, wonach es unmittelbar verlangt: »Sich-Halten […] im Inneren des eigenen Gesichtskreises […], sich aufrichtig mit dem begnügen, was empfunden ist […], ohne Gedanken sein, d. h. ohne Hintergedanken, ohne Zweideutigkeit« (TU197). Das Bedürfnis ist für Levinas von einer Aufrichtigkeit gekennzeichnet. Auch dann, wenn der Mensch sich von der unmittelbaren Bedürfnisorientierung distanziert und ihre Befriedigung bewusst einem bestimmten Zweck zuordnet, etwa der Existenzerhaltung, so ist er dabei doch letztlich auf die Inhalte des Lebens ausgerichtet, die er genießt und die ihm das Leben lebenswert machen. »[M]anchmal sterben wir lieber, als sie zu entbehren« (TU153). Darüber hinaus muss das Sein selbst als ein Inhalt des Genusses betrachtet werden (TU157). Dasselbe gilt für das Handeln. Das Tun um des Tuns willen ist ein Genuss dieses Tuns: Die »Weise des Aktes, sich von seiner Aktivität selbst zu ernähren, ist der Genuss« (TU154). Auch wenn die Arbeit noch einem anderen Zweck dient, so soll sie doch immer Selbstzweck sein dürfen. »Man lebt von seiner Arbeit, die unseren Bestand gewährleistet; aber man lebt auch von seiner Arbeit, weil sie das Leben erfüllt (erfreut oder traurig macht). In das ›Leben von seiner Arbeit‹ in diesem zweiten Sinne fließt der erste Sinn zurück – 614

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wenn die Dinge ihre Ordnung haben.« (TU154; vgl. auch TU188 f.) Levinas verschließt nicht die Augen davor, dass das Arbeiten im zweiten Sinne häufig eher die Ausnahme zu sein scheint. Er hält es aber für das Ursprüngliche und beruft sich dafür auf das Phänomen, dass es als nicht ›in Ordnung‹ erlebt wird, wenn die Arbeit nicht selbst Erfüllung bedeutet. Er beruft sich auf die Problematik »einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft, die dem Bedürfnis weder Zeit noch Bewußtsein läßt« (TU161), weil der Mensch vor lauter Armut die Nahrung nur noch als Mittel zum Ausgleich eines lebensbedrohlichen Mangels und zur Existenzerhaltung erlebt. Es ist eine Gesellschaft, in welcher der Mensch in eine »Wirtschaftsmaschinerie« eingespannt wird, die der Arbeit und der Nahrung lediglich einen außer ihr liegenden Zweck zugesteht und so den Menschen mit seiner Arbeitskraft ausbeutet. »Nur in einer Welt der Ausbeutung kann die Nahrung als Zeug gedeutet werden.« (TU191) Für Levinas gerät hierbei aus dem Blick, dass der Mensch zu allen Momenten seines Daseins immer schon eine Beziehung des Genießens (sei es als Befriedigung oder als Ausbleiben der Befriedigung) unterhält. Dies gilt nicht nur für die Nahrung oder die Arbeit, sondern auch für die Werkzeuge der Arbeit, die er entsprechend gestaltet, damit sie seinem Empfinden angenehm sind (TU152 u. 187 f.). »Sogar der Besitz und alle Beziehungen mit abstrakten Begriffen schlagen in Genuß um.« (TU188) Neben dieser Analyse der Finalität unseres Handelns und Lebens wendet sich Levinas gegen die heideggersche Idee eines ursprünglich nackten Seinsvollzugs, dem es lediglich um das Sein geht und der nur dafür aktiv ist, auch ausgehend von der für ihn grundlegenden Erfahrung des Schreckens des Es-gibt. Dass diese im Hintergrund steht, wird in seiner Analyse des Genusses in Totalität und Unendlichkeit zumindest vereinzelt greifbar. So schreibt er etwa: »Ist das Leben auf die bloße und nackte Existenz reduziert […], so löst es sich selbst in Schatten auf.« (TU155) 923 Levinas spricht hier von der 923 Auf die Leere des Es-gibt nimmt Levinas im Verlauf seiner Analyse in verschiedenen Formen Bezug. Es begegnet dem Ich etwa als unpersönliche Geschichte, von der es sich im Tätigsein und im Genuss unabhängig hält (TU157; mit »Kontinuität« ist hier wahrscheinlich wie in TU71 die objektive Geschichte gemeint; es könnte damit jedoch evtl. auch eine Zeitlichkeit des Elements und insofern eine Manifestation des »anonymen Sein[s]« angesprochen sein). Es begegnet ihm in der Unpersönlichkeit des Elements (TU200–203, 204 u. 210) oder auch in der universalen Vernunft (TU167). Jedes Mal wird der Genuss als die Weise beschrieben, wie sich das Ich dazu in Unabhängigkeit hält.

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bereits ausführlich beschriebenen Erfahrung, in der sich das Subjekt in der Ausrichtung auf das eigene Sein aufgelöst findet in einem Übergreifenden und sich nur ausgehend vom Genuss als Individuum erleben kann, das sich gegenüber dem Sein in einem Abstand hält. Dem Genuss kommt dadurch diese Bedeutung zu, dass Genießen immer Genießen für das Subjekt ist. Insofern der Genuss auf das individuelle Ich ausgerichtet ist, erlebt es sich darin. Selbst eine aus einer ethischen Haltung entspringende Freude, die nicht um ihrer selbst willen angestrebt wird, enthält dieses Für-sich und bestätigt so die Individualität (TU167). Es wurde dargestellt, wie sich Levinas gegen jedes Konzept einer übergreifenden Universalität auf diese Freude beruft. 924 Der Genuss eröffnet zwar nur eine unvollkommene Form der Befreiung aus dem Es-gibt. Levinas stellt den Genuss jedoch deshalb als die ursprüngliche Form des Subjektsvollzuges heraus, weil für ihn die Infragestellung des Anderen, in der die eigentliche Befreiung liegt, anknüpfen muss an das getrennt für sich seiende Subjekt und sich dieses ursprünglich als Genuss ereignet. Wie noch genauer betrachtet werden wird 925, begründet Levinas dies damit, dass die Trennung nur dann wirkliche Trennung ist, wenn sie nicht schon immer dialektisch auf die ethische Beziehung verwiesen ist. In dem Fall wäre der Selbstbezug nur Moment der Beziehung zum Anderen; die Beziehung somit nicht Beziehung von Getrennten. Oder es wäre umgekehrt die Beziehung zum Anderen nur Moment des Selbstbezuges und so nicht wirkliche Beziehung zum Anderen in seiner Anderheit. Ohne ursprüngliche Verwiesenheit auf die Achtung des Anderen muss das Subjekt sich zunächst in einem reinen Selbstbezug, einem reinen Für-sich, ereignen. Das ist der Genuss. Phänomenologie des Genusses Auf der Basis dieser Argumentation beschreibt Levinas das Leben in seinem ursprünglichen Vollzug als Genießen. Das Leben lebt nicht als eine nackte Existenz, sondern es ist in einem Bedürfnis auf einen Genuss ausgerichtet. Die Stillung des Bedürfnisses geschieht um dieses Genusses selbst willen. Da Genuss wesentlich ein Für-mich darstellt, bedeutet das Um-des-Genusses-willen ein Um-meinetwillen. Es besteht keine finale Bezogenheit auf etwas Anderes. Der Genuss ist 924 925

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Vgl. oben, S. 480 f. Vgl. dazu u. zum Folgenden, S. 675–689.

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Leiblichkeit als Genießen

deshalb keine bloße Notwendigkeit für anderes. Es »sind die Dinge immer mehr als das im engen Sinne Notwendige, sie machen die Anmut, den Reiz des Lebens aus« (TU154). Aufgrund der Selbstzwecklichkeit eignet dem Genuss etwas Spielerisches (TU189 f.). Das Orientiertsein auf den Genuss ist dabei derart fundamental, dass es unmöglich ist, sich im Ganzen davon zu distanzieren. Abgesehen von der ethischen Ausrichtung, die zunächst noch ausgeklammert wird und überhaupt zum Genuss immer sekundär hinzukommt, ist die Distanzierung von einem Genuss nur um eines anderen Genusses willen möglich. »Jeder Gegensatz zum Leben nimmt seine Zuflucht beim Leben und bezieht sich auf die Werte des Lebens.« (TU206) Aus diesem Grund betrachtet Levinas etwa den Selbstmord als etwas in sich Widersprüchliches: Die Lebensverneinung sucht hier eigentlich das Leben (TU208). Auf einer ursprünglichen Ebene, die zudem nie ganz verlassen werden kann, ist für ihn der Mensch mit dem genießenden Dasein zufrieden; es kennzeichnet eine »primäre Annehmlichkeit« (TU204). Der Mensch empfindet sich nicht als an sich nacktes Sein, das nur sekundär in eine qualitativ bestimmte Welt gesetzt ist. Er ist keine bloße Freiheit, die sich in die Begrenzungen dieser Welt geworfen erlebt – Levinas teilt das existentialistische Lebensgefühl der heideggerschen Geworfenheit nicht. Auch ist für ihn der Mensch kein bloßes freies Subjekt, für welches das Genießen lediglich etwas Äußeres ist, das als illusorisch zu entlarven wäre (TU205 f.). Für Levinas ist der Mensch auch mit seiner Bedürftigkeit zufrieden, denn von ihr lebt der Genuss. »Das Bedürfnis wird geliebt, der Mensch ist glücklich, Bedürfnisse zu haben.« (TU208; vgl. auch TU159 u. 205) Denn der Genuss ist Genuss als Befriedigung eines Bedürfnisses. »Der Genuß ist aus der Erinnerung an den Durst gemacht, er ist Stillung.« (TU157) Dies ist nicht so gemeint, »daß am Anfang der Hunger wäre; die Gleichzeitigkeit von Hunger und Nahrung macht den anfänglichen paradiesischen Zustand des Genusses aus« (TU193). Vom Bedürfnis, das unmittelbar eins ist mit seiner Befriedigung, ist das schmerzhafte Bedürfnis zu unterscheiden, das den Menschen dann betrifft, wenn die Befriedigung ausbleibt oder das Ausbleiben zumindest droht (TU205 f.). Den paradiesischen Zustand des Genusses als das Ursprüngliche zu setzen, bedeutet nicht, das Schmerzhafte im Leben zu übersehen. Da der Genuss, wie noch herausgearbeitet wird, für Levinas von etwas Anderem abhängig ist, ist das Ausbleiben der Befriedigung immer möglich; er ist damit immer schon einer Bedrohung durch den Schmerz ausgesetzt. »Die AndersLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

heit, von der er lebt, treibt ihn schon aus dem Paradies.« (TU237) Der Genuss ist deshalb, zumindest latent, immer von Unruhe, von Unsicherheit, Furcht und Sorge geprägt. Der Genuss ist jedoch insofern primär gegenüber Schmerz und die Bedürftigkeit, als diese nur in Bezug auf ihn erlebt werden können. »Die empfundene ›Leere‹ setzt voraus, dass sich das Bedürfnis, das sich der Leere bewusst wird, schon im Genuß hält – sei er nur Genuß der Luft, die man atmet.« (TU206) Dabei ist das Bedürfnis immer Bedürfnis nach Genuss und nur sekundär und nie nur nach dem Ende des Schmerzes. »Das Leiden des Bedürfnisses findet seinen Frieden nicht in der Empfindungslosigkeit, sondern in der Befriedigung.« (TU208) Keine Form von Schmerz kann das Gehaltensein im ursprünglichen Genuss und die Ausrichtung auf ihn zerstören. »Das Glück des Genusses ist stärker als alle Unruhe: Wie sehr auch immer das Danach beunruhigen mag, das Glück zu leben – zu atmen, zu sehen, zu fühlen – (›eine Minute noch, Herr Henker!‹) –, bleibt in der Unruhe das Ziel für jede Flucht aus der Welt, auch wenn die Welt bis zum Unerträglichen durch die Unruhe aufgewühlt ist. Man sucht Zuflucht vor dem Leben beim Leben.« (TU214) Wie für Levinas der Schmerz den ursprünglichen Genuss nicht widerlegt, so folgt für ihn auch aus der Möglichkeit des Unbefriedigtseins nicht, dass das, was wir genießen können, uns prinzipiell nicht entspricht. Grundsätzlich »konveniert« es unserem Bedürfnis (TU201; vgl. auch TU221). Der Genuss ist für Levinas immer »eine Form der Intentionalität« (TU170), zwar nicht Vorstellungsbeziehung, aber doch Beziehung. Selbst wenn das Genussleben »selbst stetig und wesentlich sein eigener Inhalt wird« (TU170), ist der intentionale Bezug weiter da und »bleiben das Leben, das ich lebe, und die Tatsache, es zu leben, unterschieden« (TU170). Neben einer bestehenden Beziehung des Genießens auf den Vollzug selbst ist der Genuss auch immer auf einen bestimmten Gehalt bezogen (TU153–155). Es sind immer bestimmte Inhalte, die das Sein als Genuss wertvoll machen. Der Genuss steht in einer »Beziehung zu Inhalten, die nicht mein Sein sind, sondern teurer als mein Sein: denken, essen, schlafen, lesen, arbeiten, sich an der Sonne wärmen« (TU155). Auf diese Weise analysiert Levinas ausgehend vom Genussgeschehen das Sein als etwas Transitives: Es hat immer ein Objekt. Und in diesem Objekt ist es von etwas Äußerem und Anderem abhängig. 926 926

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Insofern sich Levinas’ Leibphänomenologie von Anfang an zwischen Selbst- und

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Leiblichkeit als Genießen

Die so erschlossene Abhängigkeit ist eine wirkliche Passivität. Sie ist nicht nur eine vorgestellte und somit vom Subjekt immer übernehmbare Passivität. Sie ist auch nicht nur die Passivität der Begrenzung der Aktivität oder die Passivität der Empfindung, in der das Subjekt von anderem bestimmt wird. Sie ist Abhängigkeit von Nahrung. Als wesentliches Moment ist für Levinas im Genuss das Phänomen der »Stärkung« enthalten, und zwar unmittelbar, unabhängig von der nachträglichen Beobachtung einer existenzerhaltenden Funktion (TU153; vgl. auch TU181). Levinas rekurriert dazu auch auf das korrespondierende Phänomen der leiblichen Bedürftigkeit (TU179 f.), auf die Erfahrung der Hinfälligkeit der eigenen Kraft und des Angewiesenseins auf eine Stärkung durch etwas von außen Kommendes. Die Rede von der Stärkung bezieht sich auf das Phänomen der konkreten Aufnahme von Energie. »Eine andere Energie, […] wird im Genuß meine Energie, meine Kraft, Ich.« (TU153) Ich lebe von ihr, habe in ihr einen »Grund« (TU193), so »daß sie sogar den Akt trägt, der sich auf sie richtet« (TU153). Neben dem dargestellten transzendentalen Rückgang, der den Genuss ausgehend vom Können über das Phänomen der finalen Genussorientierung erschließt, beschreibt Levinas anhand des Phänomens der Bedürftigkeit und der Stärkung noch einmal einen eigenen Argumentationsgang hin zum Genuss, und zwar indem er direkt bei der Vorstellung ansetzt, die noch unmittelbarer gegeben ist als das Können. 927 »Die Vorstellung besteht in der Möglichkeit, den GegenFremdbezug, Aktivität und Passivität, Selbständigkeit und Abhängigkeit bewegt und beide Seiten zutiefst prägend sind, verwundert es, wie Thomas Bedorf zur These kommt, Levinas lege »eine alteritätstheoretische Phänomenologie des Leibes nicht selber vor« (2012, 80). In den folgenden Ausführungen wird deutlich, dass Levinas die fundamentale Abhängigkeit des leiblichen Subjekts von Anderem weder erst im Spätwerk beschreibt noch dies lediglich auf metaphorische Weise durchführt, wie Bedorf behauptet (68–71 u. 78–80). 927 In JS führt Levinas daneben noch mit einem weiteren Argument über die Vorstellungsintentionalität hinaus. Er beruft sich auf das Phänomen einer finalen Ausrichtung der Vorstellung, die in einer Befriedigung mündet. Bei Husserl sieht er die Vorstellung so beschrieben, dass sie etwas intendiert, das durch eine Anschauung erfüllt oder enttäuscht wird. Mit dieser Intention kippt in der Vorstellung selbst die Dominanz der Vorstellung – auf eine Weise, dass sie »den ›objektivierenden Akt‹ bereits auf die Spezifizierung der Neigung reduziert, eher als dass sie aus dem Hunger einen Spezialfall des ›Bewußtseins von …‹ macht« (JS153). Zumindest »stört« diese Bedeutsamkeit des Hungers »die zu Wissen gewordene Empfindung« (JS165). Dieses Argument ist freilich nur ein erster Schritt. Eine solche Art von Hunger ist noch nicht geeignet, »den letztgültigen Sinn der Sensibilität zu konstituieren« (JS165). Dieser Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

stand so aufzufassen, als sei er durch ein Denken konstituiert, als sei er Noema« (TU180). Die Unausweichlichkeit dieses idealistischen Grundzuges der Vorstellung analysiert Levinas in Zustimmung zu Husserl ausführlich (TU171–179). Die Bedürftigkeit und die Stärkung, zunächst Inhalt der Vorstellung, gehen jedoch nicht darin auf, bloßes Noema zu sein. »Im ›leben von …‹ kehrt sich der Prozeß der Konstitution, der sich überall abspielt, wo es Vorstellung gibt, um.« (TU180) Es zeigt sich, »dass das auf seinen Sinn reduzierte Konstituierte hier seinen Sinn überschreitet; inmitten der Konstitution wird es die Bedingung des Konstituierenden oder, genauer, die Nahrung des Konstituierenden. Dieses Überfließen des Sinnes kann durch den Terminus ›Nahrung‹, ›Alimentation‹ fixiert werden. Der Überschuß an Sinn ist nicht seinerseits Sinn, der als Bedingung vorgestellt würde; damit würde das Aliment wieder zu einem vorgestellten Korrelat. Das Aliment bedingt sogar dasjenige Denken, das das Aliment als Bedingung denkt.« (TU181) Es ist der Form nach dieselbe Umkehrung wie in Bezug auf das Unendliche und den Anderen. Levinas spricht hier gleichermaßen von einem »Überfließen«. 928 Wie dort führt er auch hier sehr präzise anhand von Phänomenen über den Bereich der Phänomenalität hinaus zu einer der Vorstellung vorgängigen Intentionalität. Er beschreibt für sie in diesem Zusammenhang die verschiedenen Charakteristika, die eingangs dieses Abschnitts schon benannt wurden, etwa die reale Einbezogenheit des Subjekts oder die diachrone Vergangenheit. Ausdrücklich stellt er heraus, dass diese sozusagen umgedrehte Intentionalität nicht nur erschlossen wird. Die Bedingtheit wird nicht »erst nachträglich festgestellt« (TU181). liegt in einem Hunger, der nicht nur Hunger nach Bildern ist. Levinas verweist auch von hier aus auf das noch weiterführende Phänomen der Nahrung. Diese ist ein »Überspringen der Bilder« (JS165). 928 Vgl. TU280 in Bezug auf das Betroffensein durch den Anderen sowie TU293 f. u. 422 in Bezug auf das Unendliche. In TU295 wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem Überfließen des Unendlichen und dem leiblichen, indem der Leib als »Inkarnation dieses Überfließens« des Unendlichen bezeichnet wird. Darin kommt zum einen zum Ausdruck, dass das Unendliche selbst sich nur auf das im Genuss und seiner Passivität konstituierte Subjekt beziehen kann. Zum anderen soll gesagt sein, dass das Subjekt durch den Leib die Möglichkeit hat, dass sich dieses Überfließen in der ethischen Konkretion ereignet – durch den Leib als »Vermögen zu empfangen und zu geben, das Vermögen voller Hände, das Vermögen der Gastlichkeit«. In Bezug auf das leibliche Nahrungsgeschehen kann Levinas statt von einem Überfließen, in dem das Andere das Bewusstsein von ihm hintergeht, auch umgekehrt von einem »SichErgießen des Bewusstseins in die Dinge« sprechen (TU218).

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Vielmehr sind wir selbst bei jeder Vorstellung schon in ihr Sichereignen eingetreten, vollziehen sie, oder besser: werden vollzogen. »Die Originalität der Situation liegt darin, dass die Bedingtheit sich in der Beziehung des Vorstellenden zum Vorgestellten, des Konstituierenden zum Konstituierten ereignet; diese Beziehung findet man zunächst in jeder Bewusstseinstatsache. Das Essen etwa reduziert sich gewiß nicht auf die Chemie der Ernährung. Aber Essen reduziert sich ebenso wenig auf die Gesamtheit der Empfindungen geschmacklicher, geruchlicher, kinetischer oder anderer Art, die das Bewusstsein des Essens ausmachen. Dieser Biß, dieser Zugriff auf die Sachen, der in ausgezeichneter Weise zum Akt des Essens gehört, ermißt das Mehr dieser Wirklichkeit der Nahrung gegenüber der vorgestellten Wirklichkeit« (TU181). Levinas analysiert das ›Phänomen‹ dieser Bedingtheit vornehmlich an Phänomenen des Essens. Entsprechend benennt er das Geschehen mit dem Terminus ›Nahrung‹. Die Stärkung liegt für ihn jedoch in jedem Genuss, nicht nur im Essen. 929 »[J]ede Bedürfnisbefriedigung ist irgendwie Nahrung« (TU182). Auch etwa im Sehen liegt für ihn ein Sichnähren. 930 Es geht Levinas dabei zunächst nicht um die These, dass jedem Genuss biologisch eine Aufnahme von Energie in den Leib entspricht. Gemeint ist zwar das Geschehen einer realen Energieaufnahme, aber ausgehend vom Phänomen der Stärkung handelt es sich zunächst um die Ernährung des Ich. Es ist von da aus nicht unmittelbar deutlich, was dies für die Energieaufnahme des materiellen Leibes bedeutet, auch wenn beides, da sich das Ich materiell ernähren soll, auf irgendeine Weise zusammenhängen muss. Der Kontakt zu dem, was mich nährt, ist für Levinas ein ganz unmittelbarer. Er wird nicht erst hergestellt. »Die Nahrung kommt wie ein glücklicher Zufall.« (TU202) Sie kommt unverfügbar und ohne greifbaren Grund auf mich zu. Zumindest auf einer ursprünglichen Ebene kann ich diesen Kontakt nicht herstellen. Ich brauche dies auch nicht, denn ich lebe immer schon in ihm, greife immer schon auf Nahrung zu und genieße. Zur Befriedigung des Bedürfnisses bedarf es zuerst auch keiner Kenntnis; »sie ist eine Aktion, die

929 Vgl. SN278: »Wir haben das Beispiel der Geschmacksempfindung gewählt, weil sich dieses Schema des Verzehrs in allen Formen der Sinnlichkeit wiederfindet und weil die Welt zu empfinden immer eine Art ist, sich von ihr zu ernähren.« 930 »›Einen Anblick genießen‹ oder ›mit den Augen verschlingen‹, sind solche Ausdrücke rein metaphorisch?« (JS155)

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durch das Ziel ausgelöst wird und sich ohne die Kenntnis der Mittel – d. h. ohne Werkzeug – vollzieht« (TU194). Unmittelbar ist der Kontakt außerdem insofern, als ich den genossenen Inhalt nicht final auf etwas Anderes beziehe. Indem er dabei nicht um seiner selbst willen angezielt wird, sondern um des Genusses willen, verschwindet zudem die Differenz zu ihm. Als Genussobjekt verliert der Inhalt seine Anderheit. Die Nahrung ist zwar zunächst tatsächlich Anderes, aber sie wird im Unterschied zum anderen Menschen, der mich ethisch fordert und »von dem ich nicht lebe« (TU247), zu etwas Eigenem. Sie wird durch das Ich »seiner Identität einverleibt« (JS166), wie Levinas es treffend in Jenseits des Seins ausdrückt. In der beschriebenen Unmittelbarkeit und in der Auflösung von Differenz ist das ursprüngliche Genießen ein Zustand, in dem das Subjekt völlig aufgeht. Vermutlich erklärt sich die Verwendung des Wortes jouissance, das sexuell konnotiert ist, aus der Absicht, dieses Aufgehen zum Ausdruck zu bringen.

2.3.3 Materie und Elementales Phänomenologie des Gegenstandes der Genussintentionalität Von der ›Intentionalität‹ des Genusses her ist die Eigenart dessen zu verstehen, was genossen wird. Indem der Genuss transzendentalphänomenologisch als der eigentliche Grundvollzug der selbstbezogenen Existenz und der Leiblichkeit analysiert wurde, ist er auch der phänomenologische Zugang zum Materiellen oder zum Elementalen, wie Levinas es häufig nennt. Levinas macht darauf aufmerksam, dass der Genuss sich anders als die Vorstellung, die Handlung und das Besitzen auf das Materielle nicht als ein identisches Ding bezieht. Das Ding ist für ihn, wie später noch genauer beschrieben wird, das Korrelat der Vorstellung und – vorher noch, als Basis der Vorstellung – der Aktivität des Zugreifens auf das Materielle, die sich vollzieht, um es als Besitz zu sammeln, und die dabei bewegbare Einheiten aus ihm ablöst. 931 Die Identität von Dingen erscheint für uns nur als eine von uns konstituierte. Es »bezieht das Ding seine Natur von einer Perspektive, bleibt bezogen auf einen Standpunkt – die Situation des Dinges macht daher sein Sein aus. Das Ding hat im eigentlichen Sin931

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Vgl. etwa TU185 u. ausführlich unten, S. 703 f.

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ne keine Identität« (TU199). Deshalb kann es auch umgewandelt werden, ohne dass dies den Untergang einer Identität bedeuten würde. »Das Ding existiert inmitten seiner Auflösung.« (TU199) Da sich jedoch nur das Ding auflöst und nicht das, aus dem es konstituiert wurde, muss dieses als Materie von der wandelbaren Form des Dinges unterschieden werden. »In den Dingen ist die Unterscheidung von Materie und Form wie auch die Auflösung der Form in der Materie wesentlich.« (TU199) Einen Zugang zum bloß Materiellen vor jeder Dingidentität lässt sich durch den Rückschritt hinter die Vorstellung und die Handlung auf das, von dem aus sie das Ding konstituieren, erreichen. Die »Identität der Dinge […] verschließt nicht den Rückweg zum Element« (TU199). Der ursprüngliche Bezug zu ihm ist der Genuss. Er richtet sich auf den bloßen Inhalt. »Im Genuß kehren die Dinge zu ihren elementalen Qualitäten zurück.« (TU190) Wenn Levinas das Element als bloße Qualität bestimmt oder davon spricht, dass wir die sinnlichen Qualitäten genießen (TU191–195), sind damit noch nicht die Qualitäten gemeint, wie sie in der Vorstellung objektiviert, sondern wie sie vorgängig dazu Korrelat des Genießens sind. »Man erkennt die sinnlichen Qualitäten nicht, man lebt sie: das Grün dieser Blätter, das Rot dieses Sonnenuntergangs« (TU191 f.). Sie befriedigen mich und nähren in der Befriedigung. »Erfüllen, befriedigen […] das meint gerade die Bilder überspringen« (JS165). »Der Geschmack als Stillung, der Geschmack, insofern er einen Hunger befriedigt, ist Zerbrechen der Form des Phänomens, das sich auflöst zu amorphem ›Rohstoff‹. Die Materie geht vor sich, ›tut ihr Werk als Materie‹, ›materialisiert‹ im Stillen, das eine Leere erfüllt, bevor sie eine Form annimmt und sich dem Wissen um diese Materialität anbietet und ihrem Besitz – in Form von Gütern. Das Kosten ist zunächst Stillen. Die Materie ›materialisiert‹ im Stillen, das über jede intentionale Beziehung der Erkenntnis oder des Besitzes, des ›In-dieHand-Nehmens‹ hinaus ein ›Hineinbeißen‹ bedeutet.« (JS165 f.) Das Materielle in seinem ursprünglichen Sichereignen – in seinem Materialisieren, wie Levinas in Entsprechung zu Heideggers Redeweise etwa vom Welten der Welt sagt – ist im Nahrungsgeschehen gegeben. Die Konstituiertheit der Dinge, die durch ein Herausgreifen aus dem, was als bloß Materielles genossen wird, entstehen, zeigt, dass dieses Materielle noch kein Ding ist. Auch erweist sich das Materielle dadurch als etwas, das sich zwar der Aneignung anbietet, aber ursprünglich nicht besessen, noch im Ganzen besitzbar ist. Dieser ursprüngliche Bezug zum Materiellen ist für Levinas noch erlebbar in Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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unserer Beziehung zu den Elementen, der Luft, dem Wasser usw. Deshalb versucht er auch von ihr aus eine phänomenologische Annäherung an das Objekt des Genusses. Von ihr her erklärt sich dessen Benennung mit den Ausdrücken ›Element‹ oder ›Elementales‹ (TU184–187). Die Entsprechung liegt darin, dass die Elemente nicht als Dinge begriffen werden und dass wir die Dinge aus ihnen herausgreifen. Dabei können wir uns Teile von ihnen aneignen, sie sind im Ganzen jedoch nicht besitzbar. Sie sind Gemeingut. Diese Weise der phänomenologischen Annährung über – man könnte sagen – RealMetaphern, über Alltagsphänomene, in denen sich ein fundamentaleres Geschehen noch spürbar ereignet und die deshalb als Metaphern für dieses verwendet werden können, wird etwa auch in der Analyse des Wohnens wiederbegegnen. Es wurde schon herausgestellt, wie der Genuss immer von einer Furcht begleitet ist, weil die Befriedigung abhängig ist von etwas Äußerem, das ihr unverfügbar zukommt. Diese Furcht ist für Levinas dadurch charakterisiert, dass sie sich auf ein Nichts bezieht. Denn indem das Element weder selbst ein Ding ist, noch ursprünglich an einem Ding erlebt wird, kommt es von nirgends auf uns zu (TU200 f.). Für Levinas liegt eine Unsicherheit schon allein in diesem Charakter der »reinen Qualität, der die Kategorie der Substanz, das Etwas, fehlt« (TU201). Vor der Möglichkeit, das Element durch die Arbeit und die Vorstellung zu substanzialisieren und zu beherrschen, steht die Unruhe. Sie ist für Levinas eine eigene, der Vorstellung vorgängige Intentionalität – in Anlehnung daran, wie Heidegger den ursprünglichen Bezug zum Nichts in der Angst phänomenologisch analysiert hat. Es wurde schon herausgearbeitet, wie Levinas dieses Nichts des Materiellen als Es-gibt beschreibt und wie es für ihn als mythische Gottheit erlebt werden kann. 932 In der Unsicherheit betrifft uns die Exteriorität und Unabhängigkeit des Elements. »Der Genuß scheint in dem Maße ein ›Anderes‹ zu berühren, als sich im Element eine Zukunft ankündigt und das Element mit Unsicherheit bedroht.« (TU194) In der Unmittelbarkeit des Genusses, die jeder Beunruhigung vorhergeht, wird es noch völlig einverleibt; eine andere Energie wird meine und stärkt mich. Das, was genossen wird, ist nichts, was sich in seinem Selbstsein behauptet, es »bejaht sich nicht für sich, sondern gibt sich von Anfang an hin« (TU207). Diese Entsprechung und diese Fügsamkeit geht so weit, dass 932

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Vgl. oben, S. 585–587.

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der Genuss keinerlei »Gegensetzen und in diesem Sinne von Anfang an ein Selbstgenügen« (TU207) darstellt. In der Unsicherheit taucht dagegen die Anderheit der Nahrung auf. Sie reicht dabei aber nicht so weit, dass sie den Egoismus des Genusses unterbrechen würde. »Das Glück des Genusses ist stärker als alle Unruhe« (TU214). Der Genuss ist weiter das Ziel und er ist zumindest begleitend immer präsent, da der Schmerz und die Unruhe nur abhängig von einem Erleben des Genusses erlebt werden können (TU206). Zugleich ist der Genuss über seine ursprüngliche Unmittelbarkeit hinaus jedoch immer schon latent der Bedrohung ausgesetzt. Aufgehen im Genuss und Schmerz oder auch nur Drohung des Schmerzes sind gleichzeitig (TU237). So ergibt sich das Phänomen einer »Ambivalenz der Nahrung, die sich zwar anbietet und befriedigt, die sich aber schon entfernt, um sich im Nirgends zu verlieren« (TU202). Die ursprüngliche Unmittelbarkeit zum Genossenen benennt Levinas in Fortführung seiner phänomenologischen Beschreibung ausgehend von unserer Beziehung zu den Elementen – der Luft, die wir atmen, dem Wetter, dem wir ausgesetzt sind, oder dem Wasser, in dem wir schwimmen – als ein Baden im Element (TU185 f.), und zwar im Sinn eines unmittelbaren Darinseins. »Im Verhältnis zum Element bin ich immer innen.« (TU186) Levinas beschreibt dies, innerhalb der Metapher verbleibend, im Unterschied zum Wohnen: Wie wir, bevor wir eine schützende Wohnung haben, den Elementen ausgesetzt sind, so ist dieses Darinsein vorgängig zum leiblichen Wohnen, in dem wir, wie noch beschrieben werden wird, in einen gewissen Abstand zur Ausgesetztheit und Bedrohtheit durch das Element getreten sind. Auch von der Wohnung aus können wir uns auf das Element nur in einem Baden beziehen; »die angemessene Beziehung mit dem Element ist keine andere als die des Badens« (TU186). Das Genossene kommt auf mich zu, ich brauche es nicht erst zu suchen, ich bin immer schon in es eingetaucht, ohne Abstand, und kann es unmittelbar genießen. Es »kommt hier die Bewegung unaufhörlich über mich wie eine Welle, die verschlingt, mitreißt und in der ich versinke. Unaufhörliche, endlose Bewegung des Zuströmens, umfassender nahtloser Kontakt, ohne Leere, von der die reflektierte Bewegung eines Denkens ausgehen könnte; darinsein, im Inneren von … sein.« (TU191) Es findet kein Abstand statt und es bedarf keiner Aktivität. Die »Unmittelbarkeit ist zunächst die Leichtigkeit des Genießens, […] Kopfsprung in die Tiefen des Elementes« (JS148). Die Unmittelbarkeit auf der ursprünglichen Ebene bedeutet jedoch zugleich, dass Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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keine Möglichkeit zur Aktivität besteht und das Subjekt ohne Abstand der Abhängigkeit vom Element ausgeliefert ist. Sie bedeutet so immer zugleich, »der Verletzung im Genuß ausgesetzt« zu sein (JS148). Die Nacktheit der Dinge Wie schon die kinästhetische Intentionalität, so bezieht sich auch der Genuss nicht nur auf Phänomene, sondern auf etwas Reales. Sein Objekt erlebt als das, was mich tatsächlich nährt. Levinas spricht vom »Reale[n], das ich verzehrt habe« (TU182). Auch wenn das Materielle nicht die Identität eines Dinges hat, so besitzt es doch eine Eigenwirklichkeit, in Unabhängigkeit von mir. Nach Levinas’ Beschreibung sind die Elemente im anderen Menschen und in mir verortet; indem sie mich nähren, werden sie sogar mit mir identifiziert (»die Kräfte, die im anderen waren, werden meine Kräfte, werden Ich« [TU182]). Sie sind für ihn zugleich aber nicht nur unselbständiges Moment des eigenen Daseinsvollzuges, sondern unabhängig. Das Materielle kommt de facto von außen und in der Beunruhigung des Genusses betrifft mich zudem seine Unabhängigkeit. Während diese in der Genussintentionalität nur innerhalb der Selbstsorge aufscheint, kann das Materielle in der Distanzierung vom Genuss ausgehend von der Infragestellung durch den Anderen auch in seiner Selbständigkeit gegenüber dieser finalen Einbindung und in dem Sinn in seiner Eigenwirklichkeit erlebt werden. Levinas beschreibt dies als das Phänomen der Begegnung mit der »Nacktheit« der Dinge (TU100 f.). Man empfindet ein Ding (z. B. eine ›nackte Mauer‹) als nackt, wenn es schmucklos ist, d. h. wenn es sich nicht dadurch, dass es schön gemacht ist, dem Genuss anbietet. Schmucklos werden die Dinge häufig dann gelassen, wenn sie für uns ganz »in der Erfüllung der Funktion aufgehen, für die sie gemacht sind«, wenn sie also bereits auf diese Weise in unsere Selbstsorge und insofern in den Genuss eingebunden sind. Gerade in dieser Schmucklosigkeit können die Dinge jedoch manchmal auch aus ihrer Finalität heraustreten und uns in ihrem Eigensein betreffen. Diese Möglichkeit besteht bei allen Dingen. »Von irgendeiner Seite sind sie immer wie jene Industriestädte, in denen zwar alles auf ein Produktionsziel abgestimmt ist, die aber, verpestet, voller Schmutz und Trauer, auch für sich selbst existieren.« (TU101) Wegen der Herauslösung aus der Finalität spricht Levinas von einer Nacktheit. »Die Nacktheit einer Sache besteht in dem Überschuß 626

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ihres Seins über ihre Finalität.« (TU101) Dieses Eigensein taucht auf, wenn die Dinge »nicht ganz in ihrer Form aufgehen« (TU101). Es ist in Unterscheidung zur Form die Materialität der Dinge. Wenn Levinas das Auftauchen des Eigenseins eine »Wahrnehmung individueller Dinge« (TU101) nennt, ist mit Individualität nur das Eigensein der Materialität gemeint, denn die Abgrenzung als einzelnes Ding ist schon Teil der Form. Indem die Form immer eine Beziehung auf unseren Genuss, seine Sinnfüllung und seine Finalität bedeutet, wird die bloße Materialität hier auch als »Nutzlosigkeit«, »Absurdität« und »Hässlichkeit« benannt; in der Vorgängigkeit zum Verstehen ist sie eine »Undurchdringlichkeit« (TU101). Wie bereits thematisiert, hat Levinas schon in Vom Sein zum Seienden die Materialität mit denselben Attributen beschrieben – hier als etwas, das durch die Kunst zum Vorschein gebracht wird. 933 Eigenwirklichkeit des Materiellen, des anderen Menschen und der anderen Lebewesen Die Nacktheit der Dinge grenzt Levinas ab von der Nacktheit des Gesichts. Dies ermöglicht eine noch genauere Bestimmung der Eigenwirklichkeit des Materiellen. Bei beiden Arten der Nacktheit geht es zwar um ein Betroffenwerden durch ein Eigensein jenseits der Phänomenalität, der Form oder der finalen Einbindung in den Genuss. Während aber die Dinge in ihrer Materialität auf eine Weise nackt sind, dass sie jeder Bedeutung entleert sind und eine Bedeutung nur von außen, durch die Form, die wir ihnen geben, empfangen, trägt die Nacktheit des Gesichts immer schon eine Bedeutung, indem sie zwar »von aller Form entblößt ist, aber durch sich selbst einen Sinn hat, κατ’ αὐτό; noch bevor wir das Licht auf sie werfen, bedeutet sie« (TU101). Dies wurde bereits ausführlich im Zusammenhang mit Levinas’ phänomenologischer Analyse der Begegnung mit dem Anderen als dem Ausgangspunkt des Sollens beschrieben. Der Andere ist ein einzelnes Gegenüber, er hat eine Innerlichkeit, und zwar eine, die sich mir als zu achtende präsentiert. Das Materielle trifft mich nicht als Einzelnes oder als viele Einzelne. Es kommt nicht von etwas, sondern aus einer Art Nichts. Es hat auch kein verborgenes oder transzendentes Inneres wie der Andere. Levinas schreibt über diese fehlende Tiefe: »Man kann das Metall der Dinge einschmelzen, um neue 933

Vgl. oben, S. 595 f.

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Gegenstände daraus zu machen, das Holz einer Kiste benutzen, um daraus durch Hobeln, Sägen und Behauen einen Tisch zu machen: Das Verborgene wird offen und das Offene wird zum Verborgenen. Diese Betrachtung mag naiv aussehen – als ob das Innere oder das Wesen der Sache, welches sich in der Form verbirgt, in einem räumlichen Sinne aufgefaßt werden müßte; aber in der Tat kann der Tiefe der Sache keine andere Bedeutung zukommen als der Tiefe ihrer Materie, und die Offenbarung der Materie ist wesentlich oberflächlich.« (TU275 f.) Im Unterschied zum Anderen präsentiert sich das Materielle in einem Mangel an Tiefe oder Innerlichkeit, an Identität und an Beständigkeit. Auch zeigt es sich nicht wie der Andere in seinem Eigenwert. Es hat keinen Wert, sondern nur einen auf den Genuss bezogenen Preis. »Die Dinge haben kein Antlitz. Als konvertible […] haben sie einen Preis. Sie stellen Geld dar, weil sie den Charakter des Elementalen haben, Reichtümer sind.« (TU199 f.) Levinas geht so weit, dass er selbst in Bezug auf die Tiere keine ethische Intentionalität auf etwas Werthaftes oder zu Achtendes annimmt, sondern allein in Bezug auf den anderen Menschen. Zwar sind für ihn die Tiere nicht einfach nur etwas Materielles, bloße Maschinen wie bei Descartes, ohne eigene Identität und Innerlichkeit. 934 Das Tierische und selbst das Pflanzliche werden als Genussexistenz verstanden, wobei das Tier für Levinas der Pflanze voraus hat, dass es schon in einen Abstand von der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung getreten ist und für deren Sicherung sorgen kann. 935 Er be934 In SN286 f. thematisiert Levinas die cartesische Sicht auf die Tiere als bloße Maschinen – ohne sich davon zu distanzieren, freilich auch ohne Zustimmung. Positiv aufgegriffen wird von ihm hier wohl nur Descartes’ These, dass die Tiere keinerlei Sprache haben – Sprache verstanden als Ereignis der ethischen Existenz. 935 Vgl. TU214, wo er das Tierische als eine Existenz des Genusses bestimmt, die noch nicht den Abstand vom Genuss genommen hat, der sich durch die Infragestellung durch den Anderen eröffnet (vgl. auch TU261). Levinas geht aber offenbar davon aus, dass das Tier schon in den Abstand gekommen ist, in dem es die Unsicherheit des Genusses betrifft und in dem für die Sicherung des Genusses gekämpft und gearbeitet werden kann: »Das animalische Bedürfnis ist von der vegetativen Abhängigkeit befreit, aber diese Befreiung ist Abhängigkeit und Ungewissheit. Das Bedürfnis eines Tieres ist untrennbar vom Kampf und von der Furcht.« (TU162) Hier spricht Levinas auch vom Vegetativen, und zwar als von einem abstandlosen Aufgehen im Genuss. Zumindest indirekt wird dadurch deutlich, dass er auch das pflanzliche Leben als Genussexistenz versteht. Der Abstand, den das Tier im Unterschied zur Pflanze hat, ist der des Wohnens. Entsprechend beschreibt Levinas das Wohnen in Abgrenzung zur »Verwurzelung des getrennten Seienden im Boden […] in pflanzenartigem Austausch mit den Elementen« (TU224). Für Levinas ist die Entstehung des Abstands des Woh-

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schreibt sogar, wie das Tier auf eine Art ein Gesicht hat, wie es uns anblickt. Dieser Blick vollzieht sich für ihn jedoch in einer Weise, dass das Tier »in seiner animalischen Stumpfheit noch nicht zu sich gekommen ist« und so seinem Ausdruck nicht selbst als der »Herr des Sinnes, der von ihm ausgeht«, beisteht (PI199). Das Tier ist noch nicht zum Bewusstsein der Verantwortung erwacht und kann mich so auch noch nicht als zu achtende Heiligkeit betreffen. 936 Da Levinas zwischen der absoluten ethischen Achtung und dem Genuss keine andere Weise der Beziehung einführt, wird das Tier für ihn zum bloßen Genuss- oder Gebrauchsobjekt. Wenn Jagd und Tötung eines Lebewesens nicht Mord sind, so sind sie eine Form der Arbeit (TU284). Diese Reduktion des Tieres auf ein Objekt der Arbeit wird auch an folgender Bemerkung deutlich: »Schon bei der leichten Berührung eines Tieres verhärtet sich das Leder in der Haut.« (SN280) Da eine Berührung für Levinas im eigentlichen Sinn nur in der Beziehung mit dem Anderen erfolgen kann, ist die Berührung des Tieres nur abhängig von dieser Beziehung Berührung. Sie wird von ihr her übertragen, und zwar weil die ethische Beziehung alles als Vermittlung in sich einbindet und dabei durch ihre Bedeutung prägt. Das Tier wird dabei in eine Reihe mit den Dingen gestellt. Da die ethische Beziehung nur übertragen ist, kann sie umschlagen in eine Beziehung des Genusses und des Gebrauchs. Die Haut wird Leder, das Fleisch Steak. Außer dem anderen Menschen ist für Levinas alles in eine Beziehung des Genusses eingebunden. Auch kann uns nur der Andere, der den Genuss infrage stellt, über die Genussbeziehung erheben, wie dies bereits im Zusammenhang der Frage nach der Entstehung der kritischen Essenz des Wissens herausgearbeitet wurde. 937 Deshalb kann uns die Nacktheit der Dinge auch nicht selbst unmittelbar betreffen. Die Eigenwirklichkeit des Materiellen kann nur auftauchen, wenn wir durch den Anderen vom Genuss gelöst sind. Ihre Nacktheit erscheint deshalb von Anfang an nicht nur in Relation zum Genuss nens zwar abhängig von der Begegnung mit dem Anderen, jedoch nur mit dem sogenannten weiblichen Anderen, in dem das Subjekt von der ethischen Forderung noch nicht betroffen wird. Er widerspricht auf diese Weise also nicht der These, dass sich dem Tier die ethische Dimension noch nicht eröffnet hat. Und eine Abhängigkeit von einem vorethischen sozialen Verhältnis ist für das Tier durchaus vorstellbar. 936 Zu dieser Heiligkeit, wie sie Levinas für den anderen Menschen beschreibt, und zu deren Zusammenhang mit dem ethischen Bewusstsein des Anderen vgl. oben, S. 410– 413. 937 Vgl. oben, S. 331–333, 359–361 u. v. a. 394–396. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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als nutzlos, hässlich usw., sondern in Relation zur Bedeutung des Anderen in ihrer eigentlichen Sinnlosigkeit. Auf diese Weise tritt uns in der Nacktheit der Dinge das Es-gibt in seiner ganzen Bedeutungsfülle oder besser Bedeutungsleere entgegen. Wie das sich ins Nichts verlaufende Elementale über diese Bezogenheit auf das Es-gibt für Levinas Anlass ist zu einer uneigentlichen Form von Religion, wurde bereits dargestellt. 938 Das Materielle und die naturwissenschaftliche Perspektive Geht es darum, die Eigenwirklichkeit des Materiellen herauszuarbeiten, ist eine weitere wichtige Frage zu klären, nämlich die nach dem Verhältnis des phänomenologisch vom Genuss aus Beschriebenen zum Gegenstand der Physik oder der auf die Physik aufbauenden weiteren Naturwissenschaften. Levinas geht einerseits davon aus, dass man sich beide Male auf dasselbe bezieht. So kann er die biologische Beschreibung des Organismus als eines Funktionszusammenhangs zugleich als Beschreibung des Materiellen, das wir genießen und von dem wir uns als Subjekte zugleich unabhängig halten, gelten lassen (TU189; vgl. auch TU194). Dasselbe gilt für die physikalische Beschreibung von Naturgesetzen (TU185). Er hebt sogar Übereinstimmungen zwischen beiden Perspektiven hervor, etwa zwischen der Verletzlichkeit und Sterblichkeit des Körpers in der biologischen und der in der Innenperspektive (TU334) oder zwischen der quantitativen Betrachtung der Physik und der von innen erlebten Materialität, die vorgängig ist zur Form mit ihrem Dingkonzept und den qualitativen Wahrnehmungsbestimmungen (TU199). Eine Übereinstimmung besteht für ihn offenbar auch zwischen dem Phänomen der Stärkung und den biologisch beschriebenen Energieaufnahmeprozessen (TU153). Freilich stellt er in dem Zusammenhang gerade die Unabhängigkeit der Innenperspektive heraus. Sie ist ein eigener Zugang und sie ist der umfassendere. Levinas benennt konkret, wo die äußere Betrachtung hinter der inneren zurückbleiben muss, etwa wenn die Physiologie die Bedürfnisbefriedigung nur als Ausgleich eines Mangels ansehen kann, während innerlich der Genuss und die Bedürftigkeit als etwas Positives erlebt werden (TU159). Oder er weist auf das Verschwinden der Zweckursächlichkeit im von der Naturwissenschaft verwendeten Begriff einer objektiven Kausalreihe 938

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Vgl. dazu oben, S. 585–590.

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sowie auf die Unmöglichkeit, ihn zusammen mit einer Freiheitsbestimmung zu denken, hin. 939 Der naturwissenschaftliche Zugang ist für ihn immer abstrakt. Er abstrahiert von der phänomenalen und vorphänomenalen Bedeutungsfülle. Die Wirklichkeit kann auf das von ihm in den Blick Genommene nicht reduziert werden. »Das Essen etwa reduziert sich gewiß nicht auf die Chemie der Ernährung.« (TU181) Der naturwissenschaftliche Zugang ist außerdem ein sekundärer Zugang, weil er von der immer sekundären Vorstellung ausgeht, für welche die eigentliche Wirklichkeit schon verborgen ist. Die Nachträglichkeit der vorstellenden Perspektive wird besonders an Levinas’ Ausführungen zum Raum deutlich. Der geometrische Raum entfaltet sich für ihn erst auf der Basis der Trennung, der Trennung in der Form unseres Verhältnisses zur Nahrung als einer exterioren, und zwar ausgehend von unserer ursprünglichen und unmittelbaren Verortung in Bezug auf die Nahrung (TU243). 940 In der Weise sind wir einerseits »nicht räumlich und doch dem geometrischen oder physischen Raum nicht fremd« (TU243). Es wurde schon dargestellt, wie sich für Levinas das Subjekt zunächst durch seine leibliche Aktivität in einer Räumlichkeit bewegt, die vorgängig ist zum vorgestellten Raum, die im Relationiertsein der Bewegungen zur Welt besteht, die vorgegenständlich erlebt wird und auf deren Basis es erst zu einer räumlichen Vorstellung der leiblichen Vollzüge und der Welt kommt. 941 In Totalität und Unendlichkeit wird der Ursprung der Räumlichkeit noch tiefer in der den leiblichen Bewegungen oder dem arbeitenden Zugreifen auf die Welt vorgängigen Relation des Genießens gesehen. Im Genießen als ursprünglichem Relationiertsein liegt sozusagen die Keimzelle der Räumlichkeit. In ihm findet freilich zunächst weder ein Abstand noch das Gewahrsein eines Abstandes statt. Dazu kommt es für Levinas erst ausgehend vom Wohnen, welches mit der Distanz zum Element zugleich Arbeit und Bewusstsein eröffnet. »Durch das Haus tritt unsere Beziehung mit dem Raum als Entfernung und als Ausdehnung an die Stelle des einfachen ›im Element baden‹.« (TU186) In Jenseits des Seins fragt Levinas, die transzendentale Analyse noch weiter zurück führend,

939 940 941

Vgl. dazu unten, S. 656 f. Zur unmittelbaren Verortung vgl. auch TU218 u. oben, S. 338 f. Vgl. dazu oben, S. 339–341.

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ob der Raum nicht letztlich nur auf der Basis der ethischen Nähe 942, der Unmittelbarkeit des ethischen Betroffenseins durch den Anderen, welches den tieferen Bedeutungshorizont auch für die leibliche Passivität darstellt, verstehbar ist. Konkret trägt er die Idee vor, die Kontiguität des Raumes in der Berührung durch den Anderen und seine Homogenität in der im Dienst am Dritten eingenommenen Perspektive der Gerechtigkeit wurzeln zu lassen (JS182). 943 Daneben findet sich bei ihm der Gedanke, dass »die Offenheit des Raumes das Außerhalb, in dem nichts durch irgendetwas bedeckt wird, die Ungeschütztheit«, d. h. die Ausgesetztheit des ethischen Subjekts, bedeutet (JS384). Das Raumverstehen wurzelt für ihn im leibhaften Erleben der Nähe. Der vorgestellte Raum ist sekundär dazu konstituiert und in seiner geometrischen Reinheit eine Abstraktion. Im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Raum stellt Levinas außerdem heraus, dass die ethische Bedeutsamkeit nicht nur als der letzte Bedeutungshorizont für eine menschliche Subjektivität, die als etwas bloß Subjektives einer von ihr entleerten rein physikalischen Welt gegenübergestellt wird, verstanden werden darf, sondern das Ursprüngliche zu ihr sein muss (JS182 f.). In der noch ontologischen Sprechweise von Totalität und Unendlichkeit könnte man formulieren: Das Sein ereignet sich als ethische Beziehung und die physikalische Welt ist als ein bloßes Moment von ihr zu betrachten. Auf diese Weise wird nicht nur ein reiner Physikalismus oder Materialismus zurückgewiesen, sondern auch jede Form der Überordnung einer Dimension, die nicht ethische Transzendenzbeziehung ist, sei sie materiell oder in anderer Weise bestimmt. Durch die Vorordnung des phänomenologischen, Subjektivität erschließenden Zugangs vor den naturwissenschaftlichen ist für Levinas außerdem eine Klärung in Bezug auf das Verhältnis von Körper und Geist möglich. Indem die objektivierende Außenperspektive als eine Form der Betrachtung des in seiner Fülle innerlich Erschlossenen angesehen wird, kommt es zu einer Überwindung der scheinbaren Unvermittelbarkeit von res extensa und res cogitans. Dadurch wird 942 Zu diesem Begriff und seiner Abgrenzung von der räumlichen Nähe vgl. unten, S. 740. 943 Hier formuliert Levinas noch vorsichtig: »Man kann sich sogar fragen, ob« … Entschiedener klingt es in JS26422 : »Das Überall des Raumes ist das Von-überallher der Gesichter, die mich betreffen und mich in Frage stellen […]. Zum prä-geometrischen Wesen des Raumes gehört, daß er durch die Anderen bewohnt wird, die mich angehen.« Vgl. dazu auch JS343.

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es möglich, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Subjekt und dem Materiellen zu beschreiben. Das Verhältnis ist ursprünglich nicht zugänglich über die Objektivierung des Materiellen, über den physischen Körper, sondern im Verhältnis des inkarnierten Subjekts zu seiner Nahrung, wie es im ›Phänomen‹ des Lebens-von-… analysierbar ist. Auf diese Weise besteht »keine Dualität: eigener Leib und physischer Körper, die es zu versöhnen gälte« (TU238). 944 Man kann vielleicht sogar so weit gehen zu sagen, dass Levinas das Materielle, indem er es ausgehend vom Nahrungsgeschehen als Kraft und Energie des Subjekts beschreibt, als etwas selbst auf eine Weise Subjektives erschließt.

2.3.4 Das getrennte Subjekt und der Genuss 2.3.4.1 Das vom Genuss her verstandene Subjekt In der Darstellung von Levinas’ Rezeption der husserlschen Intentionalität wurde bereits herausgestellt, dass Levinas nicht nur eine eigene vortheoretische Intentionalität der Kinästhese und der Urimpression analysiert, sondern von ihr her auch das Subjektskonzept bestimmt sein lässt. 945 An Husserl kritisiert er, dass dieser die tiefere Intentionalität letztlich dem Subjekt der Vorstellung als dessen Vollzug zuschreibt. Zwar ist dieses tiefere Geschehen für Levinas durchaus auf ein Subjekt zu beziehen – es ist Ereignis einer Subjektivität und nicht etwas rein Physisches – aber es ist zu beziehen auf ein von dieser ursprünglicheren Form von Intentionalität her anders verstandenes Subjekt. Entsprechend muss dies nun, nachdem hinter das Können zurückgegangen wurde, vom Genuss her geschehen. Die Abhängigkeit des Lebens-von-… ist im Abschnitt über die Phänomenologie des Genusses ausführlich dargestellt worden. Von ihr her ist das Subjekt so zu verstehen, dass es in seiner Aktivität nicht nur nicht wie das Vorstellungssubjekt über den Bezugspunkt seiner Intentionalität hinausreicht und ihn übernimmt oder wie das Subjekt der Praxis von diesem begrenzt wird, sondern dass es im Vollzug dieser Praxis selbst von ihm abhängt. Dadurch ist das Subjekt auch in einer noch radikaleren Weise als ein zeitliches zu denken. Es 944 945

Zur hier verwendeten Begrifflichkeit vgl. oben, S. 352–354. Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 342–344.

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steht nicht nur insofern nicht auf einem Ewigkeitsstandpunkt, als es sich nicht wie das Vorstellungssubjekt der Zeit gegenüber halten kann, sondern sich selbst zeitlich vollzieht. Es ist vielmehr in der Abhängigkeit von der Nahrung in der Form einer immer weiter zu führenden Nahrungsaufnahme in seiner ganzen Existenz als getrenntes Seiendes »an die Zeit gebunden«, und zwar real, sodass sich »die Artikulation der Trennung in der Zeit an sich selbst ereignet und nicht nur in zweiter Linie für uns« (TU245). Durch »seine wirkliche Setzung in der Zeit« ist es von einer grundlegenden »Labilität« bedroht (TU204), von Krankheit und Tod (TU237 f.). Es ist in seinem Sein betreffbar von außen. »Die materiellen Dinge, das Brot und der Wein, die Kleidung und das Haus wie die Spitze des Stahls, haben Macht über das ›Für-sich‹ des Willens. Was der Materialismus an ewiger Wahrheit enthält, liegt an der Tatsache, dass der menschliche Wille durch seine Werke angreifbar ist. Die Spitze des Schwertes – eine physische Realität – kann aus der Welt eine vernünftige Tätigkeit, ein Subjekt, ein ›Für-sich‹ ausschließen. Diese große Banalität ist indes höchst erstaunlich; das Für-sich des Willens, unerschütterlich in seinem Glück, setzt sich der Gewalt aus; die Spontaneität leidet, schlägt in ihr Gegenteil um.« (TU333) Levinas beschreibt auf diese Weise eine radikale Seinsabhängigkeit. Seine Charakterisierungen zeigen jedoch zugleich: Diese Abhängigkeit ist Abhängigkeit eines Subjektes, das in ihr und aus ihr heraus eine Unabhängigkeit besitzt, dem in der Passivität eine Aktivität zukommt. Das Phänomen der Nahrung offenbart »die Seinsweise dessen, der nicht nur gesetzt ist, sondern sich setzt« (TU210). Das Subjekt hält sich auf der Erde und nur in Abhängigkeit vom Element, aber es hält sich (TU195 f. u. 237). Es ist in der Abhängigkeit vom Element an einen Ort gesetzt, kommt aber zugleich als das, das sich dort selbst hält, von sich her an diesen Ort (TU69). Eine genauere Beschreibung dieser ursprünglichen Unabhängigkeit und Aktivität im Genuss wird im nächsten Kapitel erfolgen. Grundsätzlich ist es eine Aktivität, die noch ganz eingebunden ist in die Passivität des Genusses: eine ergriffene und vorfreie Aktivität, eine Bejahung vor jeder Möglichkeit einer Bejahung oder Verneinung, ein Aufnehmen vor jedem Zugreifen, ein Fühlen vor jeder Übernahme des Gefühlten und vor jeder Distanz zu ihm. Alles Weitere geht von diesem anfänglichen Subjektsvollzug aus, der sich leiblich konkret als Genuss ereignet. Das Subjekt ist ursprünglich nicht das leiblose Bewusstseinssubjekt, dem der Genuss sekundär als ein Vollzug zugeschrieben und das 634

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so verleiblicht würde, sondern das Bewusstsein hebt sich hervor aus der ursprünglichen Leibsubjektivität. »Das Bewusstsein fällt nicht in einen Leib – wird nicht verleiblicht; es ist eine Entleiblichung – oder genauer: ein Aufschub der Leiblichkeit des Leibes.« (TU239) Wenn Levinas von einer »Inkarnation des Bewusstseins« (TU30 u. 219) spricht, ist dies nicht im Sinn eines Prozesses zu hören, in dem etwas zunächst nicht Leibliches erst leiblich wird. Es ist zu hören als Inkarniertsein. Dies gilt genauso, wenn Levinas in Jenseits des Seins nicht in Bezug auf das Bewusstseinssubjekt, sondern die ethische Subjektivität von der »Inkarnation des Subjektes« (JS179) spricht; auch diese wird für ihn nicht verleiblicht. Die ethische Infragestellung knüpft vielmehr an das immer schon leibliche Subjekt an. 946 Wenn dem Leibsubjekt nicht ursprünglich schon die ethische Subjektivität zur Verfügung steht, kann es sich auch von ihr aus von der Leiblichkeit nicht distanzieren. Genauso wenig steht ihm dafür das Vorstellungssubjekt zur Verfügung. Für Levinas lässt sich das Subjekt überhaupt nicht in eine Distanz setzen zu seinem ursprünglichen Vollzug, dem leiblichen Genuss. Wie man etwa die Innerlichkeit nicht »wie ein Attribut, wie eine psychologische Eigenschaft unter anderen« (TU210) ansehen kann, sondern sie das Ich selbst ausmacht, so auch der Genuss. Der Genuss »ist das Ereignis des Ich und nicht eine Erfahrung unter anderen, die dem Ich ›widerfährt‹« (TU211). Der Genuss ist nicht ein Zustand, dem man das Subjekt unbeteiligt gegenüberstellen könnte. Insofern ist »das Ich nicht der Träger des Genusses« (TU165). Levinas beschreibt das Ich deshalb bildhaft als »Pol einer Spirale, deren Bewegung des Einrollens und Einwickelns im Genuß vorgezeichnet ist: Der Herd der Windung gehört mit zur Windung« (TU165 f.). Von einem Einrollen spricht er, weil das Subjekt von einer fortzusetzenden Nahrungsaufnahme abhängig ist. Dies wird auch in der Rede von der »Bahn der Lust« 946 Von daher führt es m. E. in eine falsche Richtung, wenn Thomas Wiemer in JS157 »Inkarnation« mit dem Wort »Verkörperung«, das einen Prozess konnotiert, näher bestimmt. Dasselbe Problem besteht, wenn er im Zusammenhang mit dem Inkarnationsbegriff vom »Leib, durch den das Geben möglich wird« (JS242), spricht. Wörtlich würde man den französischen Text (»par lequel le donner est possible« [AQ139]) übersetzen mit: ›durch den das Geben möglich ist‹. Manchmal drückt sich Levinas freilich selbst missverständlich aus, etwa wenn er in JS27126 /AQ15626 schreibt: »Diesseits der Neutralität der Dinge wird [se fait] diese absolute Passivität [gemeint ist die Passivität der ethischen Subjektivität] Inkarnation, Leiblichkeit – wird sie empfänglich für Schmerz, Schmach und Elend«. Das Verb versteht man zunächst einmal dynamisch. Es muss freilich nicht unbedingt so verstanden werden.

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(TU213) veranschaulicht. Das Spiralbild soll ausdrücken, dass das Subjekt als Pol ganz an den Genuss als an die Spirale gebunden ist. Man kann zwar nicht sagen, das Subjekt sei einfach das Genießen. Genießen ist immer Genießen eines Subjekts. Im Vollzug des Genießens ist impliziert, dass er nur ein persönlicher sein kann. Aber dieses Subjekt ist, was es ist, nur als Genießen und hat keine Instanz ihm gegenüber. Das Subjekt ursprünglich vom Genuss bestimmt sein zu lassen, hat sich bis hierher aus der phänomenologischen Rückfrage ergeben, die den Genuss als das den anderen Subjektsvollzügen vorgeordnete Geschehen erschlossen hat sowie als ein Geschehen, von dem sich das Subjekt nicht distanzieren kann, gegenüber dem es keine weitere Instanz mehr besitzt. Die Distanz, die durch das Betroffensein vom Anderen eröffnet wird, kann nicht als ursprünglich angesehen werden, da für Levinas aus seiner Analyse der ethischen Beziehung als Transzendenzbeziehung Getrennter folgt, dass die Infragestellung an das genießende Subjekt anknüpfen muss. Um diese Begründung nachvollziehbar zu machen, wird im drittnächsten Kapitel der bereits angedeutete Zusammenhang von Genuss und Trennung näher behandelt. Dort wird sich auch zeigen: Dass das Subjekt im Genuss anhebt, ist für Levinas nicht nur faktisch so, es ist für ihn gar nicht anders vorstellbar. Um die These von der Ursprünglichkeit des Genusses plausibel zu machen, sind außerdem noch folgende Fragen zu klären: Wie können sich auf der Basis des Genusses die weiteren Subjektsvollzüge entfalten? Welche verschiedenen Momente machen für Levinas den Genuss aus, damit diese Entfaltung denkbar wird? Eine Anfrage an das beschriebene Subjektskonzept ergibt sich zudem in Bezug auf das zunächst widersprüchlich erscheinende Verhältnis von Unabhängigkeit und Abhängigkeit: Wie kann es möglich sein, dass das Subjekt in der Abhängigkeit von der Nahrung seine Unabhängigkeit gewinnt? Mit diesen zwei Fragen beschäftigen sich die beiden folgenden Kapitel.

2.3.4.2 Die Momente der Spontaneität im Genuss Um genauer zu verstehen, was Levinas mit der Unabhängigkeit im Genuss meint, muss man sich klarmachen, dass er sie in verschiedenen Momenten beschreibt. Dies ist besonders deshalb wichtig, weil nur so nachvollziehbar ist, wie sich auf der Basis des Genusses die 636

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späteren Subjektsvollzüge erheben können. So schreibt Levinas etwa: Das »Bewusstsein des Bewusstseins ist nicht Reflexion. Es ist nicht Wissen, sondern Genuß; es ist, wie wir sagen werden, der eigentliche Egoismus des Lebens« (TU155). Wenn man hierbei unter Egoismus, wie das naheliegt, nur das Auf-sich-bezogen-Sein des Strebens im Genuss versteht, dann kann m. E. nicht begreifbar werden, wie auf dieser Basis der Selbstbezug des Bewusstseins entstehen können soll. Dies leuchtet nur ein, wenn klar wird, dass das Genießen, wie Levinas es analysiert, in sich differenziert ist, dass es als ein Moment eine ursprüngliche und jeder Reflexion sowie jedem objektivierenden Wissen vorgängige Form von Setzung und Selbstsetzung des Subjekts enthält und dass mit ›Egoismus‹ neben dem Selbstbezug des Strebens auch ganz allgemein die sich als Genuss ereignende von Anderem getrennte Selbstheit des Ich bezeichnet wird. 947 Meines Erachtens müssen in Levinas’ Beschreibungen des Genusses eine Unabhängigkeit – das meint: ein Selbstvollzug und eine Immanenz – der Bewusstseinssetzung, des praktischen Zugreifens und des bedürftigen Strebens unterschieden werden. Diese Unterscheidung trifft er nicht ausdrücklich. Sie lässt sich jedoch, wie im Folgenden verdeutlicht werden soll, an seinen Texten festmachen. Eine ursprüngliche Form von Sinnlichkeit und Selbstbewusstsein Auf welche Weise im Genuss eine ursprüngliche Form von Bewusstsein enthalten ist, bestimmt Levinas recht deutlich, wenn er den Genuss als Sinnlichkeit beschreibt und damit einhergehend um eine genaue Bestimmung des Verhältnisses zur Dimension der Erfahrung ringt. Er stellt einerseits heraus, dass die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Form »nicht einer Vorstellung gleich« (TU191) kommt, dass sie »nicht zur Ordnung des Denkens« (TU191) zählt und »nicht dem Bereich der Erfahrung« (TU194) angehört. »Man erkennt die sinnlichen Qualitäten nicht, man lebt sie« (TU191). Und doch spricht er von einer Überwindung des Zustandes, in dem wir »blind und taub« (TU191) sind, von einem »Fühlen« (TU192) und einer »Ord-

947 Vgl. etwa TU165, wo »Egoismus« parallel mit »Selbstheit des Ego«, oder TU204, wo es nahe am griechischen Wortsinn als Bezeichnung für das »Wesen […] des Ich«, das Ich-Sein, verwendet wird. Auch in TU166, wenn Levinas vom Glück des Ich spricht, »das für seinen Egoismus selbst konstitutiv ist«, ist damit das Selbstsein überhaupt gemeint.

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nung des Gefühls« (TU191), von einer »Zugänglichkeit der Welt im Genuß« (TU196) und einer »Helle des Glücks« (TU211). Inwiefern ist dieses Fühlen keine Erfahrung? Es ist nicht nur so, dass der Genuss sich ohne jede Kenntnis vollzieht (TU194) und im Genuss nicht die Distanzierung des Bewusstseins zu den Bewusstseinsobjekten stattfindet, er sich nicht »nach außen richtet« (TU191) und keinerlei Entfaltung des Gegenstandes, keine Formung, kein denkendes Auffassen, kein denkerisches Leisten enthält, sondern sich auf das bloße Element bezieht (TU194 f.). Es findet nicht nur insofern kein Erkennen statt, als die Befriedigung des Genusses bei sich im Endlichen endet, während sich das Erkennen immer schon auf ein Unendliches bezieht (TU192). Für den Genuss besteht auch keinerlei Veranlassung zu solch einer Erkenntnis (TU194). Zunächst drängt nichts auf ihre Entfaltung, und zwar deshalb, »weil das rationale Ungenügen der Welt in dem Genuß, den sie mir verschafft, nicht einmal zum Vorschein kommt« (TU192). Es geht ihm nicht um das Erkennen, sondern um die Befriedigung. 948 Es findet noch keine Bezugnahme auf das Erkennen statt, von der her der Genuss als unvollkommenes, undeutliches Erkennen empfunden würde und eine Veranlassung entstünde zu einer deutlicheren Auffassung. Der Genuss ist »nicht Unkenntnis des Anderen, sondern seine Ausbeutung« (TU161). Das ist möglich, weil Genuss und Befriedigung etwas Eigenes sind und nicht vom Erkennen her als eine »stammelnde […] Vorstellung« (TU191) verstanden werden müssen. Insofern kann Levinas schreiben: Die »Sinnlichkeit ist nicht eine niedere theoretische Erkenntnis, die, sei es auch auf das engste, mit affektiven Zuständen verknüpft ist« (TU193). Sie »gehört dem Bereich des Nützlichen und nicht des Wahren an« (TU192). Das ändert aber nichts daran, dass sich die Befriedigung mit einem Fühlen ereignet und in diesem Fühlen »implizit« (TU196) etwas gegeben ist, was sich dann als Erkenntnis entfaltet. Diese Entfaltung geschieht nicht deshalb, weil sich der Genuss selbst als unvollkommene Erkenntnis erleben und so schon dialektisch auf das Erkennen bezogen sein würde, sondern nur ausgehend von einer Begegnung mit dem Anderen. »Für den Übergang vom Impliziten zum Expliziten bedarf es eines Meisters, der die Aufmerksamkeit fordert« (TU196 f.). Von einer Entfaltung spricht Levinas an dieser Stelle nicht in Bezug 948 Vgl. auch TU68: Es »besteht die ursprüngliche Rolle des Psychismus nicht darin, das Sein nur zu reflektieren«. Das »nur« kann dabei als Ausdruck dafür angesehen werden, dass für Levinas die Dimension des Bewusstseins dennoch impliziert ist.

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auf die kritische Dimension des Wissens, denn diese knüpft an keine implizite Potenz an. Für ihn kommt es dazu vorgängig zu einer Entfaltung des Bewusstseins ohne diese Dimension – unten wird dies noch genauer als Geschehen des Wohnens dargestellt werden. Dieses Bewusstsein eröffnet sich zwar ausgehend vom Anderen, aber einem Anderen, der seine Forderung verbirgt, dem, wie Levinas es nennt, weiblichen Anderen. 949 Genau diese Form von Bewusstsein ist für ihn auf eine implizite Weise im Genuss gegeben. Das Wohnen erzeugt nicht überhaupt erst das Bewusstsein, sondern eröffnet nur eine Distanz im Bewusstsein. Über die erste Distanz zum Genuss durch die Beunruhigung des Genusses hinaus ist das wohnende Subjekt nicht mehr nur bedroht von der Zukunft, sondern hält es sich zugleich in einem Abstand zur Zukunft. Es hat Zeit und kann, um diese Zeit nutzen zu können, die Zeit überblicken. Im Fühlen, das der Genuss ursprünglich impliziert, ist das Subjekt nicht nur auf den Inhalt des Genusses bezogen, sondern auch auf sich selbst. Das Für-sich des Ereignisses der Befriedigung rein für sich selbst setzt zwar »nicht eine Vorstellung meiner selbst im idealistischen Sinne des Terminus voraus« (TU195). Aber es impliziert doch ein ursprüngliches Beisichsein, und zwar ein durch das Subjekt selbst vollzogenes. Dies tritt schon andeutungshaft hervor, wenn Levinas im Anschluss an die zitierte Stelle vom vorstellenden oder denkenden Selbstbezug den des Genusses abgrenzt, in dem sich das Subjekt im Elementalen hält, und zwar auf eine Weise, dass es in der Aktivität des Sichhaltens noch ganz eingebunden ist in die Passivität des Gehaltenwerdens. Im Sichhalten ist es in der Abhängigkeit vom Element an einen Ort gehalten, aber es kommt dabei von sich her. In diesem Von-sich-her kann man die grundlegende Bestimmung des Subjektseins überhaupt sehen. 950 Das Subjekt identifiziert sich von sich her und nicht vom Element und von sich her ist es der Bezugspunkt für jedes Verhältnis. In seiner Abhängigkeit vom Element, die es im Materiellen verortet, ist das Subjekt von sich aus in dieser Verortung als ein Hier der Ausgangspunkt für jedes räumliche Verhältnis. 951 Diesen Ausgangspunkt – und in der Weise deutet sich an dieser Stelle der ursprüngliche fühlende Selbstbezug an –, diese »primäre […] Beziehung mit mir selbst«, diese »Koinzidenz mit mir«, beschreibt Levinas 949 950 951

Vgl. unten, S. 708 f. Vgl. dazu unten, S. 651 f. Vgl. dazu oben, S. 338 f. u. unten, Anm. 974 u. S. 662 f.

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hier nicht nur als auf sich bezogene Aktivität des Sichhaltens, nicht nur als bloße Selbstidentifikation, als »Ich bin ich selbst«, noch nur als »ich bin hier«, sondern auch als »ich bin […] bei mir« (TU196). Deutlicher tritt dieses Beisichsein im Genuss hervor, wenn Levinas dem Genuss eine ursprüngliche Selbstsetzung zuschreibt. Die Unabhängigkeit im Genuss besteht nicht nur darin, dass das Element nicht als anderes auftaucht, sondern auch darin, dass es in diesem Bezogensein auf sich und nicht auf anderes selbst aktiv ist. Wie das Gehaltenwerden mit einem Sichhalten zusammengeht, so ist auch das Beisichsein nicht nur etwas rein Passives, sondern eine ursprüngliche Selbstsetzung. Levinas benennt dies ausdrücklich so in einer Beschreibung des Phänomens der Abhängigkeit von der Nahrung (TU210). In ihm zeigt sich für ihn eine »Zweideutigkeit der Konstitution«: Einerseits stellt das Ich die Nahrung vor, andererseits bedingt die Nahrung die Vorstellung. Die Vorstellung wird dabei aber nicht dadurch hintergangen, dass keine Vorstellung stattfinden könnte, sondern durch ihr eigenes Bedingtsein von der Nahrung. Im Genuss ist die Dimension des Idealen nicht ausgeschlossen, sie ist nur in ihrer Abhängigkeit zu sehen. »Das Lebensmittel ist nicht unvorstellbar; es unterfängt seine eigene Vorstellung, aber in ihm findet sich das Ich wieder. Die Zweideutigkeit einer Konstitution, in der die vorgestellte Welt den Akt der Vorstellung bedingt, ist die Seinsweise dessen, der nicht nur gesetzt ist, sondern sich setzt.« (TU210) Die Rede vom Setzen meint hier nicht eine praktische Aktivität, sondern die Bewusstseinssetzung, und zwar hier ausdrücklich in der Form eines Sichselbst-Setzens. Nicht nur im Sichhalten hat sich das Ich, sondern auch in dieser Setzung. Wie im Sichhalten ist das Ich in der Selbstsetzung freilich so zu verstehen, dass es eingebunden ist in eine Passivität und in den nicht theoretischen Zusammenhang der Befriedigung, die das Setzen immer schon hintergehen. Dadurch ist die idealistische Tendenz der Vorstellung überwunden und auf diese Weise ist, wie dies gezeigt wurde, ausgehend vom Genuss eine Befreiung aus dem Zweifel am Cogito-sum, eine Befreiung aus dem Es-gibt und ein Zugang zur Realität des Ich möglich. Das Beisichsein im Genuss ist ursprünglicher als das Beisichsein, das von der Vorstellung her als transzendentale Apperzeption analysiert wird. 952 Es ist damit auch vorgängig 952 Auf die Nachträglichkeit des Subjekts in dieser Form geht Levinas etwa in TU219 ein – hier auf seine Nachträglichkeit zum Bei-sich des Wohnens, das selbst noch nachträglich ist zu dem des Genießens. Man habe die transzendentale Rückfrage nicht weit

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zu jeder Reflexion des vorstellenden Bewusstseins. Es ist für Levinas unmittelbar bei sich. 953 Auch irgendeine andere der Vorstellungsreflexion vorgängige Zusammenfügung scheint für ihn ausgeschlossen zu sein. Levinas spricht im Zusammenhang mit dem Sichsetzen auch von der »Innerlichkeit« (TU210). Der Ausdruck ist gebildet in Abgrenzung gegen die äußere objektivierte Welt oder Geschichte, der gegenüber sich das Ich immer in einem unzugänglichen Bereich hält (TU70). Die Innerlichkeit umfasst so zwar nicht nur die aus dem Selbstbezug lebende Immanenz des Bewusstseins, sondern auch das Subjekt insofern es selbst will und handelt. Das Wort wird entsprechend auch in diesem Sinn verwendet (TU70–75), meist aber – und dies ist auch an der hier in den Blick genommenen Stelle der Fall – in der ersteren Bedeutung, im Sinne von »bewußtem Leben« (TU210). Die Innerlichkeit als die völlig aus dem Selbstbezug und nicht aus dem Bezug auf anderes sich ereignende Immanenz benennt Levinas hier sogar als das, was die Trennung des Individuums begreifbar sein lässt. Das Individuum ist zwar ursprünglich als Genießendes zu bestimmen, weil es sich ausgehend vom Glück – und noch ursprünglicher von der Verantwortung – ergibt, dass die Wirklichkeit sich überhaupt in Individuen und als Beziehung von Individuen ereignet. Das »Glück ist ein Individuationsprinzip, aber die Individuation begreift sich nur vom Inneren her, durch die Innerlichkeit« (TU210). Wenn Levinas in seiner Analyse des Wohnens schreibt, dass sich die »Innerlichkeit […] durch das Haus vollzieht« (TU220), dann ist damit nicht eine Abhängigkeit ihrer Konstitution überhaupt vom Wohnen genug getrieben: »[D]er Begriff eines idealistischen Subjekts ist daraus hervorgegangen, daß man den überfließenden Charakter der Konkretisierung verkannt hat« – gemeint ist das Umschlagen der Vorstellung in die Abhängigkeit vom Materiellen im Wohnen und im Genießen. 953 Die Bemerkung in TU155, »das Bewusstsein des Bewusstseins ist nicht Reflexion« (vgl. auch TU165 u. 195), könnte man noch als Ausschluss bloß des Wissens für diesen Selbstbezug deuten (»es ist nicht Wissen, sondern Genuß«). Die Feststellung in JS232, dass das Sich nicht als »Ergebnis« eines Sichhaltens zu verstehen ist, könnte evtl. nur die Begründung in einer rein aktiven und selbst vollzogenen Setzung zurückweisen. Der Ausschluss der Reflexion in As200 u. 201 ist jedoch im dortigen Kontext der Beschreibung der ursprünglichen und von nichts Anderem her bestimmbaren Einzigkeit des Subjekts als Ausdruck der Unmittelbarkeit des Selbstbezuges zu verstehen. Es geht Levinas dabei nicht nur um die Einzigkeit des Ich der transzendentalen Apperzeption, sondern auch um die des in der Beziehung zum Anderen getrennten Ich (As203). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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in der Bleibe gemeint, sondern dass die Innerlichkeit sich in dieser Abhängigkeit erst entfaltet. Die Bleibe wird ausdrücklich beschrieben als »Konkretisierung« der Sammlungsbewegung des Subjekts, als etwas, zu dem es nur kommt, »[w]eil das Ich existiert, indem es sich sammelt« (TU220). Die Sammlung des Subjekts ist schon eine Entfaltung des ursprünglichen Beisichseins im Genuss, sie ist schon eine »Bewegung der Aufmerksamkeit, die vom unmittelbaren Genuß befreit ist«, die nicht mehr in ihm aufgeht, sondern in eine gewissen Distanz zu ihm und so zu einer »größeren Aufmerksamkeit auf sich selbst« gekommen ist (TU220). Diese Belege dürften deutlich gemacht haben, wie für Levinas in der Passivität des Genusses eine Unabhängigkeit impliziert ist, und zwar u. a. in der Form der Bewusstseinssetzung. Ohne diese Klärung sind einige Aussagen von Levinas leicht misszuverstehen. Wenn er etwa schreibt, dass das Für-sich des Genusses zunächst nicht das der Vorstellung ist (TU165), bedeutet dies nicht, dass sich in diesem Genuss nicht ein ursprüngliches Beisichsein und ein Sichsetzen ereignet. Und nur so kann verständlich werden, wie für ihn das »Bewusstsein des Bewusstseins […] nicht Reflexion […] nicht Wissen, sondern Genuß« (TU155) sein kann und wie es möglich ist, dass sich auf der Basis des Genusses das explizite Bewusstsein entfaltet. Wie verhält sich die soeben dargestellte Beschreibung der Ursprünge des Empfindens zur oben bereits vorgestellten Analyse der Empfindung als einer kinästhetisch eingebundenen Urimpression? 954 Die ursprüngliche Passivität der Empfindung im Genuss zu verorten fügt sich mit der Theorie, dass die Bewusstwerdung der Empfindung von der Kinästhese abhängig ist, insofern, als es für Levinas, wie noch genauer zu sehen sein wird 955, ausgehend vom Genuss erst vermittels der Arbeit zur Vorstellung kommt. So kann die leibliche Bewegung weiter Bedingung sein für die Auffassung der Urimpression. Von ihr ausgehend bestimmen sich die Formen zur Auffassung des Gegenstandes. Die Urimpression selbst, noch ohne Ausrichtung auf solch eine Auffassung, muss jedoch im Genuss verortet werden, der vorgängig ist zu jeder leiblichen Bewegung. Der Gehalt der Empfindung entspringt nicht aus einer Begrenzung der Aktivität, sondern aus der Inhaltlichkeit des Genusses.

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Vgl. dazu oben, S. 336–341. Vgl. dazu unten, S. 705–707.

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Das getrennte Subjekt und der Genuss

Eine ursprüngliche Praxis Ganz ähnlich wie in Bezug auf die Dimension des Theoretischen geht Levinas auch auf die Herausforderung ein, das Verhältnis des Genusses zum Praktischen, und zwar zuerst einmal zum aktiven Verfügen über das Element oder – wie er es nennt – zur Arbeit zu bestimmen. Levinas unterscheidet diese Form von Tätigkeit von der theoretischen Tätigkeit und er sieht sie beide im Genuss wurzeln. Es ist, »[a]ls ob sich im Erbeben des getrennten Existierens wesensmäßig ein Knoten schürzte, in dem sich eine Bewegung der Verinnerlichung und eine Bewegung der Arbeit und des Erwerbs, die auf die unergründliche Tiefe des Elements gerichtet ist, begegneten« (TU235). In Bezug auf die Arbeit bestimmt er den Genuss als »paradiesischen« Zustand, in dem »der Unterschied von Aktivität und Passivität in der Annehmlichkeit zusammen[fällt]« (TU235). Die Annehmlichkeit wird als Entsprechung zwischen Element und Subjekt beschrieben: Das Subjekt muss an ihm nicht wie an einer Begrenzung leiden und es muss es weder unterdrücken noch sich mit ihm versöhnen. Die ursprüngliche leibliche Aktivität in Bezug auf das Element ist noch ganz in die Passivität eingebunden. Sie muss nicht erst in Aktion treten, denn das Element kommt ihr entgegen und entspricht ihr. Sie stößt nirgends an und taucht deshalb als Aktivität nicht auf. Erst ausgehend von einem Abstand zum Baden im Element, ausgehend vom Wohnen, kann »die Hand als Hand auftauchen« (TU235). Dass Aktivität und Passivität noch nicht in einen Unterschied getreten sind, bedeutet nicht, dass keine Aktivität stattfindet. Auch an anderer Stelle spricht Levinas für die der Arbeit vorgängige Situation des Genusses von einer »Aktion« 956 in Bezug auf das Element oder von einer »Verfügung«. 957 Er nennt diese Aktivität außerdem 956 Vgl. TU194. Für Levinas geht die hier genannte Aktion zwar vom Bedürfnis aus. Jedoch ist nicht das Bedürfnis gemeint, in dem wir bereits auf der Basis des Wohnens in einen Abstand zum Genuss getreten sind, sondern das Bedürfnis in der »Gleichzeitigkeit von Hunger und Nahrung« im »anfänglichen paradiesischen Zustand des Genusses« (TU193). Die festgehaltene Unabhängigkeit von einer »Kenntnis« könnte zwar auch die Arbeit kennzeichnen, vom ganzen Kontext her wird jedoch deutlich, dass Levinas hier eine ihr vorgängige Aktion im Genuss beschreibt. 957 Wenn er in TU224 f. beschreibt, wie sich die Arbeit aus dem Abstand vom Genuss entfalten kann, weist er darauf hin, dass dies nur unter der »Voraussetzung« möglich ist, dass »die Beziehung des Ich mit den Elementen« aus dem Genuss weiterhin besteht. »Die Elemente stehen dem Ich weiterhin zur Verfügung«. Daraus folgt, dass für Levinas schon im Genuss solch eine »Verfügung« stattfindet.

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eine »Herrschaft« (TU236), und zwar wieder in der Form, dass sie in der Annehmlichkeit unterschiedslos zusammen geht mit der Passivität. »Herrschaft und Unterwerfung sind gleichzeitig.« (TU236) Einmal beschreibt er dies so, dass die Elemente »gleichzeitig gegeben und empfangen« (TU204) werden. ›Empfangen‹ ist ein treffender Ausdruck für eine in die Passivität eingebundene Aktivität. Diese Aktivität wird außerdem als eine Art von Besitzen bestimmt: Sie ist ein »Besitz ohne Erwerb […]; die Sinnlichkeit badet im Element, sie ›besitzt‹, ohne zu ergreifen« (TU227). 958 Auch als Freiheit kann Levinas sie bezeichnen, solange sie nicht allein von der Freiheit her verstanden wird, sondern ausgehend von der Situation der Unabhängigkeit in der Abhängigkeit des Genusses. Es »stellt sich die Freiheit als eine der Möglichkeiten des ursprünglichen Doppelsinns dar, der sich im autochthonen Leben abspielt. Die Existenz dieses Doppelsinnes ist der Leib. Die Herrschaft des Genusses und ihre Unabhängigkeit ernährt sich von einer Abhängigkeit im Verhältnis zum Anderen.« (TU236 f.) Zuletzt kann man das Moment der Aktivität in seiner ursprünglichen Verbindung mit der Passivität auch in der Rede von der Berührung ausgedrückt finden. Im unmittelbaren Baden im Element ist das Subjekt »Ding unter Dingen und in Berührung mit Dingen«; »aber in dieser Berührung kommt es von sich her«. Berührung impliziert ein Subjekt, das berührt wird und somit neben dem Berührtwerden immer auch ein Berühren. Wie lässt sich genauer verstehen, dass der Genuss eine Aktion enthält, die aber noch nicht Arbeit, sondern Genuss ist? Die Vorgängigkeit zur Arbeit ist bereits im Zusammenhang mit Levinas’ transzendentalphänomenologischem Rückschritt hinter das Können herausgestellt worden. 959 Wie schon in Bezug auf das Theoretische geht es nicht nur darum, dass diese Aktion in ihrer phänomenalen Qualität noch unterschieden ist von der Arbeit, dass Aktivität und Passivität in ihr noch nicht auseinandergetreten sind, dass eine Begrenzung noch nicht auftaucht und somit weder die eigene Aktivität noch die ihr als Bewegliche entgegenstehenden Dinge. Es geht vielmehr darum, dass »der Genuß eine Unabhängigkeit sui generis« (TU160) darstellt, die nicht von der Arbeit her verstanden werden kann. »Bedürfnis und 958 Wenn Levinas in dem Zusammenhang sagt: »Keinerlei Tätigkeit geht der Sinnlichkeit voraus«, dann schließt er nicht die Seite der Aktivität überhaupt aus, sondern nur das arbeitende Ergreifen. 959 Vgl. oben, S. 613–615.

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Das getrennte Subjekt und der Genuss

Genuß decken sich nicht mit den Begriffen der Aktivität und der Passivität« (TU159). Die ursprüngliche Aktion im Genießen ist das, was sie ist, nicht von einer impliziten Bezugnahme auf die Arbeit her. Sie bewegt sich deshalb auch nicht von sich aus zur Arbeit hin. »Die Fähigkeit, sich an das Unmittelbare zu halten, verweist auf nichts; sie bedeutet nicht die Schwäche des Könnens, die dialektisch die Voraussetzungen des Unmittelbaren entfalten, in Bewegung setzen und durch die Erhebung aufheben würde.« (TU196) Für sich hat der Genuss keinerlei Veranlassung, über das bloße Aufnehmen der Nahrung hinauszugehen. Erst der Abstand vom Genuss eröffnet die Möglichkeit, zur Überwindung seiner Unsicherheit, die unmittelbare Befriedigung aufzuschieben, die Nahrung dem Genuss zu entziehen und sie zur Sicherung des Genusses als Besitz zu sammeln, der sich dann im Verhältnis zu dieser Bewegung nicht mehr als Element, sondern als bewegliche Einheit – als Ding – präsentiert (TU224 f.). Das Subjekt tritt dabei in Aktion in einem »ursprünglichen Zugriff« (TU234), im Ergreifen des Besitzes. Die Arbeit ist somit ursprünglich auf den Besitz und darin auf den Genuss bezogen. Die Arbeit muss vom Genießen her verstanden werden. Es geht dem Subjekt nicht um die Tätigkeit, sondern um den Genuss, auch wenn der Genuss immer in einer ursprünglichen Form von Aktion vollzogen wird. Wie schon in der im Genuss sich ereignenden ursprünglichen Form von Fühlen ist das Subjekt auch in der Praxis nicht nur auf das Element bezogen, sondern ebenso auf sich selbst. Die Herrschaft im Genießen beschreibt Levinas als ein »sich auf der Erde halten« (TU237). Darin liegt zum einen ein Halten der Erde – ein weiterer Ausdruck für die ursprüngliche Aktivität in Bezug auf das Element – und zum anderen ein Halten seiner selbst. Sichhalten heißt für Levinas: »Herr seiner selbst sein« (TU237). Es bedeutet also nicht einfach nur, selbständig Subjekt einer Aktion zu sein, sondern über diese Aktion selbst zu verfügen. Das ist die Bedingung dafür, dass das Subjekt in der Arbeit seine Tätigkeit – oder sich in seiner Tätigkeit – selbst bestimmen und lenken kann. Man kann darin ebenso die Bedingung sehen für die selbständige Lenkung der Bewusstseinssetzung wie auch des Strebens, welches im Folgenden als eigenes Moment noch herausgearbeitet wird. Als Sichhalten im Genuss ist die Herrschaft des Subjekts noch unmittelbar verbunden mit dem Sichhalten auf der Erde und mit dem Gehaltenwerden durch die Erde 960, von der es 960

Levinas spricht auch ausdrücklich von der »Erde, die mich hält« (TU195).

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sogar in der Aktivität des Haltens selbst abhängig ist. So ist seine Existenz im Genuss immer bedroht. Sie ist ausgesetzt dem »immer möglichen Umschlag vom Herrschaftsleib zum knechtischen Leib, von der Gesundheit in die Krankheit. Leib sein, das heißt einerseits, sich halten, Herr seiner selbst sein, und andererseits, sich auf der Erde halten, im Anderen sein und dadurch mit seinem Leib belastet sein« (TU237). Eine ursprüngliche Form des Strebens Als drittes Moment, das für Levinas in einer ursprünglichen Form in der Spontaneität im Genießen enthalten ist und das etwas kategorial Anderes darstellt als ein ursprüngliches Fühlen oder ursprüngliches Verfügen, ist das zu betrachten, was Levinas Bedürfnis nennt. Für ihn ereignet sich das Genießen nur als Stillung eines Bedürfnisses und somit nur auf dessen Basis. »Der Genuß ist aus der Erinnerung an den Durst gemacht, er ist Stillung.« (TU157) 961 In seiner ursprünglichen Form beschreibt Levinas das Bedürfnis als ein völlig im Genießen impliziertes, in einer »Gleichzeitigkeit von Hunger und Nahrung«; diese Gleichzeitigkeit macht »den anfänglichen paradiesischen Zustand des Genusses aus« (TU193). Dieses Bedürfnis in der Form der »Leere, des schon im Genuß eingerichteten Appetits« unterscheidet Levinas ausdrücklich vom Bedürfnis in der Form des Nicht-befriedigt-Seins, in der es das Subjekt allererst als solches, als vom Genuss unterschiedenes, betreffen kann, vom Bedürfnis in der Form der »Not, […] weil das, wovon das Leben lebt, ihm eventuell abgeht«, sei es als tatsächliches Unbefriedigtsein oder als bloße Bedrohung durch die Not, wie sie im ursprünglichen Erleben der Unsicherheit des Genusses impliziert ist (TU205 f.). Die ursprüngliche Gleichzeitigkeit von Genuss und Appetit ist nicht so zu verstehen, dass etwa »am Anfang der Hunger wäre« (TU193). Das Subjekt ist nicht ohne Genuss, jede subjektive Bewegung lebt immer schon aus dem Genuss. Und doch ist der Genuss Ereignis eines Subjekts, das von sich her auf die Nahrung bezogen ist – auch in dem, dass es das Element nährt und

961 Auch in TU161 wird auf diese »Erinnerung« im Genuss aufmerksam gemacht und gesagt, dass sie »seine Glut entfacht«. Am Anfang des Kapitels über das Bedürfnis, in TU161–164, spricht Levinas offenbar noch über das Bedürfnis in dieser grundlegenden Form und geht später zur vom Genuss distanzierten Form über, ohne beide ausdrücklich voneinander zu unterscheiden.

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beglückt. Bedürfnis bedeutet, trotz der Abhängigkeitsbeziehung zum Ziel »von seinem Ziel getrennt« zu sein (TU194), in einem »Abstand« zu sein, der das »Wesen des Bedürfnisses« ausmacht (TU161). Das Moment des Bedürfens beschreibt Levinas auch als »Finalität«, und zwar als eine, die sich in völliger Unmittelbarkeit zum Ziel, ohne Vermittlung einer Kenntnis oder eines Werkzeuges und in dem Sinn als »reine Finalität« (TU194) vollzieht. Außerdem lässt dieses Moment sich m. E. in dem ausmachen, was Levinas als ursprüngliche Bejahung des Subjekts, vorgängig zu jeder Annahme oder Verweigerung dessen, was es nährt, beschreibt. 962 Indem das Subjekt von Anfang an Bedürfnis ist, bejaht es immer schon sein Leben sowie die Inhalte seines Lebens und kann sich davon nicht distanzieren. Das Bedürfnis ist Bedürfnis des Subjekts, es ist aber ein Selbstvollzug in einer ergriffenen, vorfreien und in die Passivität eingebundenen Form. Insofern das Bedürfnis ganz eingebunden ist in den Genuss und indem es von ihm her zu verstehen ist, kann Levinas in einer Reihe mit der Theorie und der Praxis ebenso die Finalität als ursprünglichen Verstehenszugang zum Ich ausschließen: »Für das Ich heißt ›sein‹ weder sich etwas entgegensetzen noch sich etwas vorstellen, weder sich einer Sache bedienen noch sie anstreben, sondern sie genießen« (TU167). Auch im Moment des Bedürfens findet neben dem Bezug auf das Element ein Selbstbezug statt. Das Bedürfnis richtet sich zwar auf die Nahrung, aber nicht für sie, sondern für den Genuss und somit für das Subjekt. Dieses ist das Ziel. Und das Ziel im Genuss des Subjekts ist ein Ende. Im Unterschied zum Begehren kann das Bedürfnis gestillt werden oder genauer: kann sich seine Stillung als Ruhe und Immanenz ereignen. Denn es bezieht sich nicht auf ein transzendentes Anderes, das in jeder Annäherung zugleich entfernt bleiben muss, sondern auf das sich ihm fügende Element. »Die Gegenstände befriedigen mich in ihrer Endlichkeit, ohne mir vor einem Hintergrund des Unendlichen zu erscheinen. Das Endliche ohne das Unendliche ist nur möglich als Befriedigung.« (TU192) Dieses Enden ohne Transzendenzbezug, dieses Enden in der Immanenz, Enden bei sich, bezeichnet Levinas als »Genügsamkeit des Ich« (TU203). Den Ausdruck suffisance verwendet er dabei so, dass sowohl die Selbstbezogenheit als auch die Befriedigung als gesättigtes Enden gemeint 962 Vgl. TU204/TI116. Nikolaus Krewani übersetzt »agrément« mit »Annehmlichkeit« und macht in seiner Anmerkung t darauf aufmerksam, dass das Wort neben dem Angenehmsein auch eine Einwilligung oder Bejahung bedeutet.

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sind 963 – entsprechend deren innerem Zusammenhang. Die darin liegende Unabhängigkeit sowohl vom Element als auch von jedem Bezug auf das Unendliche bestimmt Levinas als eine Art Freiheit: »freier Flug«, »Anmut«, »ungezwungene Leichtigkeit der glücklichen Stunde« (TU211). Diese Unabhängigkeit ist zu unterscheiden von der oben beschriebenen Unabhängigkeit, die darin liegt, dass das Bedürfen selbst vollzogen wird. Das im Genuss enthaltene Moment des Bedürfens ist die ursprünglichste Form einer voluntativen Bewegung oder eines Strebens im weitesten Sinne des Wortes. Zunächst ist es noch ganz eingebunden in den Genuss. Im Erleben seiner Unsicherheit kann es sekundär dazu als vom Genuss unterschiedene Bedürftigkeit auftauchen. Noch mehr geschieht dies im Wohnen, auf dessen Basis das Subjekt den Genuss aufschieben, für seine Sicherung arbeiten und somit den Abstand ausweiten kann (TU161 f.). Jedoch kann auch hier die Befriedigung des Bedürfnisses nur um der Befriedigung willen aufgeschoben werden und nur insofern ist das Subjekt frei. Eine Distanzierung überhaupt von der Bindung an den Genuss wird erst dadurch eröffnet, dass der Genuss vom Anderen infrage gestellt wird und sich in eins damit das Streben des Subjekts als Begehren und Achtung des Anderen ereignet. Erst dadurch wird es ein ganz ungebundenes und somit ein zurechenbar freies Streben. Während der Egoismus vorher moralisch neutral ist, kann er jetzt moralisch qualifiziert werden. Auf diese Weise eine vom Bedürfen ausgehende Entwicklung des Strebens zu beschreiben und dabei von einer Einheit des Strebens auszugehen, rechtfertigt sich daher, dass auch im Begehren, indem es sich als Bruch und Überflossenwerden jeder ethischen Verlangensbewegung des Subjekts vollzieht, eben eine solche Bewegung impliziert ist. Entsprechend kann Levinas das Begehren mit dem Bedürfnis in dem Punkt für vergleichbar halten, dass beide eine Form des Verlangens (er verwendet in dem Zusammenhang für beide das Wort désir!) darstellen. 964 Insofern wird vom Unendlichen, wenn es sich auf Suffisance wird gewöhnlich im Französischen nur im Sinne von Selbstgefälligkeit, also im Sinne der egozentrischen Bewegung verwendet. Levinas lässt aber zusätzlich die Bedeutung des zugrunde liegenden suffire – ›ausreichen‹ mitkonnotiert sein. Da ›Genügsamkeit‹ im Deutschen eher eine Haltung der Bescheidenheit bedeutet, ist suffisance vielleicht besser mit ›Selbstgenügen‹ zu übersetzen. 964 Vgl. TU36, wo Levinas neben der »Enttäuschung der Befriedigung« eine Ähnlichkeit zwischen Bedürfnis und Begehren in der »Erregung der Nicht-Erfüllung und des Verlangens [désir]« sieht. 963

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das Subjekt des Bedürfens und Genießens bezieht und es infrage stellt, nicht überhaupt erst die Dimension des Strebens in es hineingesetzt. Vielmehr wird das selbstbezogene Streben in ein ethisch orientiertes und von der Anderheit des Anderen immerzu überflossenes verwandelt. Dass für Levinas die durch die Einsetzung des Begehrens eröffnete freie Ausrichtung des Strebens auf dem leiblichen Streben aufbaut, erhellt sich auch daraus, dass sie für ihn vom Leiblichen her grundsätzlich wieder außer Kraft gesetzt werden kann: »[D]ie Schmerzen der Folter […] können die innere Freiheit auslöschen« (TU354). Dass Levinas trotz der radikalen Unterscheidung von Bedürfnis und Begehren von einer gewissen Einheit des Strebens oder des Voluntativen ausgeht, wird außerdem daran deutlich, wie er in Totalität und Unendlichkeit als allgemeine Bezeichnung für das getrennte Subjekt häufig die Wörter ›Wille‹ und ›Wollen‹ verwendet 965, und zwar für die verschiedensten voluntativen Bewegungen ausgehend vom bloßen »Lebenswillen« (TU120) im Genuss bis hin zur vorfreien ethischen Zustimmung sowie zur freien Bejahung bzw. Nichtbejahung der Verantwortung. 966 Von daher kann man das im Genuss enthaltene Strebensmoment auch als ursprüngliche Form eines Wollens benennen – Wollen in einem ganz weiten Sinn, nicht schon festgelegt auf den zurechenbar freien Willen, zu dem es erst ausgehend von der ethischen Infragestellung kommt. Zur Einbindung der drei Momente in den Genuss Die Momente des Setzens sowie des Verfügens sind final völlig eingebunden in die Bedürfnisbefriedigung und von daher ist ihre ursprüngliche Gestalt bestimmt. Deshalb muss man dem zuletzt herausgearbeiteten voluntativen Moment einen gewissen Vorrang vor 965 Vgl. die Kapitelüberschrift in TU66 u. 313. Vgl. auch die Bestimmung der Verwendung des Wortes ›Wille‹ ausgehend vom atheistischen Bruch der Teilhabe in TU76. Zur Getrenntheit des Willens von der Vernunft vgl. etwa TU121 o. 313–317. 966 Neben TU120 zum ursprünglichen Wollen in der Form eines Lebenswillens vgl. etwa TU239 zum Wollen aus dem Abstand des Wohnens heraus. Wenn Levinas in TU317 schreibt: »Im Empfang des Antlitzes öffnet sich der Wille der Vernunft«, dann wird hier zum einen die Vorgängigkeit des Willens zur Infragestellung deutlich und zum anderen, dass es dieselbe Instanz des Willens ist, die sich der Infragestellung öffnet oder besser: zu ihr geöffnet wird – in einer vorwahlfreien und doch autonomen Zustimmung. In TU317 wird für die Willensbewegung sowohl diese Vorgängigkeit zur Wahlfreiheit festgehalten als auch für eine zweite Ebene die Möglichkeit einer wahlfreien Zustimmung.

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den anderen Momenten einräumen. Dieser besteht auch insofern, als, wie noch genauer behandelt werden wird, in der Analyse der Trennung als Genuss dem Auf-sich-Bezogen-Sein des Strebens eine besondere Rolle zukommt. Das erklärt, weshalb Levinas manchmal vom voluntativen Für-sich her das ganze Geschehen des Genusses und das ursprüngliche Sichereignen des Subjekts im Genuss insgesamt bestimmen kann. 967 Der eigentliche Ausgangspunkt ist dabei freilich weniger das Für-sich-Streben, sondern die Befriedigung des Sichnährens, von der her auch das Streben zu verstehen ist. Als umfassend kann der Genuss zudem insofern betrachtet werden, als die beschriebenen Momente, in ihrer impliziten oder entfalteten Form, nicht nur final auf ihn bezogen, sondern selbst Gegenstand des Genusses sind, der sich neben dem Element immer auch auf die Lebensvollzüge selbst richtet. 968 Die drei Momente wurden als Momente der Spontaneität des Genusses bestimmt. Sie stellen sich alle als Vollzüge eines darin selbständigen Subjekts dar. Im folgenden Kapitel werden diese Spontaneität und ihr Verhältnis zur Passivität näher beleuchtet. Für die Seite des Selbstvollzugs des Subjekts, von der Levinas häufig allgemein und unabhängig von den drei Momenten spricht, verwendet er verschiedene Ausdrücke. Neben ›Unabhängigkeit‹, ›Freiheit‹, oder ›Aktivität‹ gebraucht er manchmal auch das Wort ›Spontaneität‹ (z. B. TU238). Dieser Ausdruck wurde hier für die Beschreibung der Momente des Genusses in ihrer ursprünglichen Form herausgegriffen, weil in ihm die Vorgängigkeit zur Wahlfreiheit sowie zu jedem InAktion-Treten 969 sehr gut zum Ausdruck kommt. Diese Eigenschaft konnte für alle drei herausgearbeitet werden. Die drei Momente konnten jeweils nicht nur insofern als Unabhängigkeit beschrieben werden, als ihnen diese Spontaneität zukommt, sondern auch in dem Sinne, dass ihr Selbstbezug von einer

967 Vgl. etwa TU165, wo er von diesem Für-sich her die Genügsamkeit und von ihr her das Ich bestimmt: »Die Genügsamkeit ist für sich wie mit dem Ausdruck ›jeder für sich‹, für sich wie ein hungriger Bauch für sich ist«. »Die Genügsamkeit ist die eigentliche Kontraktion des Ich.« 968 Vgl. TU156: »Hinter der Theorie und der Praxis steht der Genuß der Theorie und der Praxis«. 969 In diesem Sinn verwendet es offenbar auch Levinas selbst – z. B. in Bezug auf die Vorstellung in TU175: »Die Vorstellung ist reine Spontaneität, obgleich sie diesseits aller Aktivität ist.«

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Immanenz gekennzeichnet ist, dass er sich nicht aus einem Bezug auf anderes, sondern unabhängig davon bestimmt. Dies ist bei allen drei Momenten dadurch bedingt, dass sie sich neben der Beziehung auf das Element immer auch in einem Selbstbezug ereignen. Indem Levinas sowohl die Immanenz als auch die Spontaneität »Unabhängigkeit« nennt 970 und manchmal ganz allgemein, ohne dass man genau ersehen könnte, welche Art von Unabhängigkeit er meint, von der »Unabhängigkeit des Glückes« (TU168) spricht, ist es wichtig, die Unterscheidung zwischen beidem zu beachten. Wenn es darum geht, als Erfordernis für die ethische Beziehung die Getrenntheit des Subjekts zu beschreiben, kommt freilich beiden Formen eine wesentliche Bedeutung zu. Die drei Momente kommen außerdem darin überein, dass sie eine grundlegende Veränderung durch den Abstand im Wohnen erfahren. Die Konstitution des Wohnens, des Aufschubs der Bedürfnisbefriedigung, des Zeithabens und von da aus der Arbeit sowie der Vorstellung wird im Folgenden noch eigens dargestellt werden. Hier konnte herausgearbeitet werden, wie Levinas die Unmittelbarkeit des Genusses so beschreibt, dass in ihm die erforderlichen Bedingungen für die Entfaltung der genannten Vollzüge angelegt sind, und wie diese Entfaltung somit nachvollziehbar gemacht werden kann.

2.3.4.3 Der Zusammenhang von Spontaneität und Abhängigkeit »Wir haben die Spontaneität des Lebens nicht in Zweifel gezogen.« Levinas spricht häufig von der Selbständigkeit des Subjekts ganz allgemein, unabhängig von den drei beschriebenen Formen des ursprünglichen Selbstvollzuges. Dass das Subjekt selbst Subjekt oder Urheber von Vollzügen ist, findet sich in vielen verschiedenen Begriffen bei ihm ausgedrückt. Er spricht von der »Unabhängigkeit« (TU157–160), »Selbständigkeit« (TU105), »Spontaneität« (TU238) und »Freiheit« (TU204) des Ich. Er bezeichnet es ferner als »Kön970 In TU152 ist etwa von der Unabhängigkeit von einem finalen Bezug auf Anderes oder in TU196 von der Unabhängigkeit vom Bezogensein auf das Unendliche die Rede. In TU157 spricht Levians im Unterschied dazu von der Unabhängigkeit, die darin liegt, dass der Genuss immer Genuss eines Subjektes ist. Auch in TU158–160 geht es im Gegenüber zur Abhängigkeit von der Nahrung um die Unabhängigkeit als Spontaneität.

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nen« 971, »Ursprung« (TU71, 347 u. 410), »das Erste« (TU76), »Prinzip« (PT96), »Anfang« (TU157, 204 u. 211) oder »unaufhörliches Wiederanfangen« (TU396). Die Selbständigkeit lässt sich auch identifizieren in Ausdrücken wie »von sich her« (TU239) oder »durch sich« (PT97). Wenn Levinas von der »Willkür der Freiheit« (TU118) spricht, dann ist dies ebenfalls eine Charakterisierung dieser Selbständigkeit. In ihr wird ausgedrückt, dass das Ich rein von sich ausgehen kann, ohne sich an irgendetwas Anderes als Grund zu halten. Entsprechend wird die Willkür nur überwunden durch einen Rückgang hinter die Freiheit, in welcher für Levinas das eigentliche ethische Potential ursprünglich noch nicht enthalten ist (TU116 f.). Benannt sehen kann man die Selbständigkeit außerdem, wenn Levinas von »Tätigkeit« oder »Aktivität« (activité) (TU157), »Handlung« (action) (TU204) und »Akt« (acte) (TU157 u. 204) spricht. Insofern diese Begriffe auch für ein unpersönliches Ereignis verwendet werden könnten, wird es von ihm teilweise eigens hervorgehoben, wenn sie als von einem Subjekt ausgehend verstanden werden sollen. 972 Um jedes Missverständnis angesichts seines Passivitätsdenkens zu vermeiden, sagt Levinas ausdrücklich: »Wir haben die Spontaneität des Lebens nicht in Zweifel gezogen.« (TU238) Wenn er die Freiheit in dem Zusammenhang als »so etwas wie das Nebenprodukt des Lebens« (TU238) bezeichnet, dann bezieht sich dies auf die zum Genuss sekundäre und auf ihn hingeordnete Freiheit des Arbeitens. Diese entsteht erst auf der Basis der Spontaneität als einer vorfrei ergriffenen Form von Aktivität. Wie dadurch der Freiheit nicht die Realität abgesprochen werden soll, so auch nicht, wenn er sie eine »virtuell nichtige Freiheit« (TU238) oder »ursprünglich nichtige Freiheit« (TU326) nennt. Damit soll nur ihre Sterblichkeit ausgedrückt sein. Levinas bezweifelt die Spontaneität nicht nur nicht, sondern stellt heraus, dass ein Subjekt nur mit ihr überhaupt Beziehungssubjekt sein kann. Das Subjekt ist nur als getrenntes. Und als getrenntes, das nicht aufgeht im anonymen Es-gibt des Materiellen, sondern sich davon nährt, das gegenüber der Zeitlichkeit des unpersönlichen und in diesem Sinne kontinuierlichen Materiellen eine eigene Zeit hat, das

971 Mit dem Wort ›Können‹ wird meistens die schon weiterentwickelte Selbständigkeit des Arbeitens benannt. Etwa in TU410 wird damit aber auch die Selbständigkeit des Subjekts ganz allgemein ausgedrückt. 972 Vgl. etwa TU157: »Das Glück ist die Bedingung für die Tätigkeit, wenn Tätigkeit Anfang in der gleichwohl kontinuierlichen Dauer bedeutet.«

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»sich in einem Augenblick, der der Kontinuität der Zeit entrissen ist, aufrecht« (TU204) hält – in dieser Getrenntheit ist das Subjekt nur als Anfangen oder als Handlung. Das »Ich unterbricht die Zeit, indem es sie durch Anfänge skandiert […]. Dies ereignet sich in Gestalt der Handlung. Der Anfang inmitten einer Kontinuität ist nur als Handlung möglich.« (TU204) 973 Dabei ist das Ich zwar ganz an die Zeit gebunden. Es hat seine Freiheit »nicht kraft eines Privilegs, das ihm von Ewigkeit her zukäme« (TU204). Es ist aufgrund seines Entstehens in der Abhängigkeit von fortgesetzter Nahrung immer nur zeitlich und vergänglich. »Das Glück ist die Bedingung für die Tätigkeit« (TU157) und diese kann somit keine zeitlose sein. Levinas benutzt deshalb für die Selbständigkeit des Subjekts gerne den Ausdruck ›Anfangen‹, der die Einbindung in die Zeit konnotiert. Trotz der radikalen Abhängigkeit und Zeitlichkeit kommt dem Subjekt aber eine wirkliche Unabhängigkeit zu. Von sich ausgehen zu können, ist fundamental für das Subjektsein. Es kann der Bezugspunkt für alle Verhältnisse, etwa für die räumlichen als Hier oder die zeitlichen als Jetzt, nur von sich her sein 974, ja es kann seine Identität nur haben, wenn es sich, trotz aller Abhängigkeit, von sich aus identifiziert. 975 973 In TU211 wird dieses Anfangen in der Kontinuität als »Freiheit« bezeichnet, in TU157 als »Tätigkeit« und »Akt«. Vgl. auch TU410: »Gegen die Anarchie des Es gibt ereignet sich das Seiende, Subjekt dessen, was geschehen kann, Ursprung und Anfang, Können.« 974 Wenn Levinas in TU195 f. die primäre Beziehung des Ich zu sich von der Position her deutet, vom Sichhalten an einem Ort, dann könnte man noch meinen, dass es für ihn die Verortung, die Einbindung in die Materialität durch die Abhängigkeit der Nahrung und der Sinnlichkeit, ist, die es in ein Verhältnis zu sich setzt. Es geht ihm hier jedoch vor allem darum, dieses Verhältnis nicht von der Vorstellung her zu verstehen. In TU69 wird deutlicher, dass für ihn das Selbstverhältnis im Subjekt selbst und in seinem Sichhalten begründet ist. Er schreibt dort: Es »ist das Seiende, das an einem Ort ist, dank des Psychismus nicht an diesen Ort gebunden; gesetzt an einen Ort, an dem es sich hält, ist es dasjenige, das von woanders her dorthin kommt«. Von »woanders her« kommt es, weil es von sich her kommt. Es hält sich, ist von sich her auf sich bezogen. In PT95 sagt Levinas, dass die Sinnlichkeit in diesem Sichhalten immer »im Verhältnis zu sich« situiert ist. Es ist das Subjekt selbst, das als Grund seiner Aktivität, in der es sich auf sich bezieht – bei aller Passivität, aus der diese Aktivität erwächst –, ein ursprüngliches Hier und ein ursprüngliches Jetzt ausmacht (PT96 f.). »Das Ich als das Jetzt definiert sich durch nichts anderes als durch sich« (PT97). 975 Vgl. TU40–42: »Das Ich ist nicht ein Wesen, das immer dasselbe bleibt, sondern dasjenige Seiende, dessen Existieren darin besteht, sich zu identifizieren« – freilich »sich zu identifizieren, indem das Ich in der Welt bei sich zu Hause ist«, also in einem Selbstvollzug, der immer in der Abhängigkeit von der Welt als Nahrung und Wohnung steht.

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Das Subjekt ist ein »Ursprung, der seine Identität von sich selbst hat« (TU410). Was Levinas in Bezug auf die Innerlichkeit schreibt, kann deshalb auch auf das Ursprungsein oder das Anfangen übertragen werden: Es ist nicht »wie ein Attribut«, sondern es »ist die Trennung an sich, die Weise, der gemäß ein Geschehen wie die Trennung sich in der Ökonomie des Seins ereignen kann« (TU210). Wenn Levinas schreibt: »Wir haben das Ich nicht durch die Freiheit bestimmt« (TU211), dann bedeutet dies vom dortigen Zusammenhang her nicht, dass er das Ich nicht als Freiheit versteht, sondern, dass es für ihn nicht allein von der Freiheit her bestimmt werden kann, weil man es dann als causa sui 976 und nicht als abhängiges denken würde. Beginnt man mit dem Begriff der Freiheit, dann denkt man sie seiner Ansicht nach als causa sui und dann ist es nicht mehr möglich, sie als abhängige oder begrenzte zu denken. In dem Sinn wendet sich Levinas auch gegen alle »Termini der begrenzten oder endlichen Freiheit« (TU236), die für ihn immer von der Freiheit ausgehen und so deren Begrenzung nur behaupten, nicht aber überzeugend konzipieren können (TU324–326 u. 368). Dass Levinas den Ausdruck ›endliche Freiheit‹ nicht auf dieses Verständnis festlegt, wird deutlich, wenn er in Jenseits des Seins die beschriebene Fehlkonzeption dieses Begriffs unterscheidet von seinem eigenen Freiheitsverständnis und dafür den Ausdruck ›endliche Freiheit‹ positiv aufgreift (JS275–277). Es geht ihm nicht um Worte, sondern um die Sache: Die Freiheit muss ursprünglich begrenzt sein, man muss sie sozusagen aus der Beziehung zum Anderen hervorgehen lassen. Man muss »die Freiheit als eine der Möglichkeiten des ursprünglichen Doppelsinns« (TU236) des leiblichen Nahrungsgeschehens ansehen. In diesem Sinne und nur in diesem ist es dann auch zu verstehen, wenn Levinas schreibt: »[D]ie Freiheit ist eine Abstraktion« und erweist »sich als widersprüchlich […], sobald man ihr eine Begrenzung zuschreibt« (TU325). Dasselbe gilt für die Aussage: »Der freie Wille ist eher entspannte und vertagte Notwendigkeit als endliche Freiheit« (TU326). Allein von der Freiheit auszugehen, ist daneben auch deshalb problematisch, weil die ursprüngliche Weise der Freiheit nur adäquat bestimmt werden kann, wenn man sie in ihrem »Bezug […] zum Glück« sieht, wenn man sieht, dass sie »aus Glück besteht«, d. h., sich als Genuss ereignet (TU211). Entsprechend ist 976 Gegen das Verständnis des Subjekts als causa sui wendet er sich etwa auch in TU76, 321, 324 o. 238.

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Das getrennte Subjekt und der Genuss

auch folgende Aussage zu verstehen: »Wer sagt, daß die Subjektivität in der Person beginnt, dass die Person in der Freiheit beginnt, daß die Freiheit die erste Ursache ist, verschließt den Blick für das Geheimnis des Sich, für seine Beziehung mit dem Vergangenen.« (DS327) Auch hier schließt Levinas die wesentliche Selbstidentifikation und die Freiheit nicht aus. Dies wird deutlich, wenn er diese Beziehung zugleich so bestimmt, dass das Subjekt keineswegs »bloßes Resultat des Vergangenen« ist (DS327). Auch der verwendete Ausdruck des Sich dient dazu, die Verschränkung von Passivität und Aktivität zum Ausdruck zu bringen. Vom Sich spricht Levinas, um auszudrücken, wie das Subjekt neben seinen Möglichkeiten des freien Bestimmens sich immer als sich bereits Vollziehendes vorfindet. Es findet sich wie einen Anderen, wie etwas, das es nicht in die Hand bekommen kann, etwa in der »Naivität seines Denkens, das ›vor sich hin denkt‹« (TU40) oder auch in seinem bloßen Dasein, dem es sich immer als einem Faktum gegenübergestellt sieht. Zugleich findet es darin jedoch sich. Es ist mit diesem Ich, das es als Objekt, als Sich – daher die Bezeichnung – gegeben findet, identisch. Es ist selbst das, welches da denkt oder auf das es sich als faktisch Daseiendes bezieht. Es ist »unfähig, sich von diesem überraschenden ›Sich‹ zu distanzieren« (TU40). Diese Passivität des Sich ist freilich bei Levinas nicht nur die des vorfreien Selbstvollzuges 977, sondern eine Passivität in Form einer Abhängigkeit von etwas Äußerem. Das wird etwa sichtbar, wenn er vom Sich spricht, das im Genuss entsteht (TU165 f.) oder vom Sich, das wir als Verantwortliche sind (TU396). Deutlich wird dies besonders auch, wenn er in Jenseits des Seins die rekurrente Struktur des Sich herausstellt (JS106 u. 230–243). 978 Hier füllt er seine Bedeutung zudem ausgehend von der Verwendung des Wortes ›sich‹ in der Bildung des pronominalen Passivs. 979 Wenn man etwa sagt, dass »die Gedanken sich verstehen lassen« (JS35), ist dies aktivisch formuliert – Subjekt sind die Gedanken –, aber passivisch gemeint – die Gedanken sind Objekt Das herauszustellen ist auch deshalb wichtig, weil Levinas in TU40 f. diese Differenzeinheit durch die hegelsche Analyse des Selbstbewusstseins erläutert, von der sich sein Konzept aber gerade unterscheidet. 978 Hier spricht er sehr häufig vom Sich. Er verwendet den Ausdruck zwar fast nur in Bezug auf das Subjekt in der Verantwortung, kann aber weiter damit auch das Leibliche benennen, wie dies etwa in JS123 f. deutlich wird. 979 Vgl. dazu JS35, wo er diese Konnotation einführt. Vgl. auch JS106 u. dort die erklärende Anmerkung k des Übersetzers Thomas Wiemer. 977

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meines Verstehens. Das Sich eignet sich auf diese Weise gut dazu, die Passivität, die eine Aktivität nicht ausschließt, auszudrücken. Zur Vermeidung des Kausalitätsbegriffs Levinas lehnt es nicht nur ab, das Subjekt als Ursache seiner selbst zu bestimmen, sondern es überhaupt als Ursache im Sinn der ersten Ursache in einer kausalen Reihe zu begreifen. Er vermeidet in der Beschreibung des Subjekts deshalb die Ausdrücke cause oder causalité. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er Freiheit überhaupt nicht als Grundsein versteht, wie besonders seine positive Verwendung der Ausdrücke ›Ursprung‹ (origine) und ›Anfang‹ (commencement) deutlich macht. Er schließt lediglich einen bestimmten Ursachenbegriff aus. 980 Es geht um den Begriff der Ursache in einer kontinuierlichen Verkettung von Ursachen, wie er auf die objektive Welt selbstverständlich angewandt wird. Dieser Begriff ist aus verschiedenen Gründen inadäquat für das Subjekt. Levinas beschreibt zum einen, wie man in diesem Modell die Ursachenkette, da man sie als ganze sozusagen überschaut, gleichermaßen vorwärts und rückwärts lesen kann, als Wirkursächlichkeit und als Zweckursächlichkeit (TU240–242). In der leiblichen Handlung schwebt dem Subjekt die Zweckursache im Unterschied dazu nicht vor als etwas, was ihm mit allen Zwischengliedern klar vor Augen steht, sodass es den Zweck einfach durch diese hindurch bewirken könnte. In der Vorgängigkeit zur Vorstellung vollzieht sich die Arbeit primär als »versuchende[s] Herumtasten« (TU241) und kann sich davon auch bei aller Übung und bei allem Überblick nicht lösen. 981 Indem sich das Subjekt so immer diesseits der objektivierten Kausalreihe hält, bleiben Zweckursächlichkeit und Wirkursächlichkeit geschieden. Und so kann überhaupt die Zweckursächlichkeit, die in der naturalistischen Sicht verloren geht, als etwas Eigenes bestehen. Sie weist auf die Dimension der Innerlichkeit. Die Analyse der leiblichen Tätigkeit des Subjekts zeigt, dass sie lediglich »nachträglich in Termini der Kausalität ausgedrückt werden kann« (TU241), dass dessen eigentliches Ursprungsein so jedoch nicht verstanden wird. Vgl. PT96: »Das Subjektive […] inauguriert den Ursprung [origine], den Anfang [commencement] und – in einem von Ursache [cause] oder Prämisse [prémisse] sehr verschiedenen Sinn – das Prinzip [principe].« 981 Vgl. unten, S. 703. 980

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Eine zweite Problematik tut sich dadurch auf, dass die Welt nach dem Kausalbegriff als kontinuierlicher kausaler Zusammenhang begriffen wird. In einem solchen ist »die Tätigkeit eines Willens, der inmitten der historischen Kontinuität in jedem Augenblick einen neuen Ursprung aufbrechen läßt«, »absurd« (TU71). Von einem solchen Ursachenbegriff aus könnte höchstens noch der Begriff der ersten Ursache, welche die ganze Reihe anfängt, gebildet werden. Diese könnte dann freilich nur als absoluter Anfang gedacht werden, sodass der Begriff der »Kausalität […] zur Idee der causa sui führt« (TU325). Als causa sui kann Levinas Freiheit aber nicht begreifen. Levinas lehnt also einen Begriff ab, der nur zwei Extreme kennt: den völlig selbst verursachten Anfang der Kette und das völlig von einem anderen verursachte Glied der Kette. Diese Begrifflichkeit ist untauglich für ein Verständnis der Freiheit. Die Problematik des zweiten Extrems tritt auf, wenn es darum geht, die verschiedenen Abhängigkeiten des Subjekts so zu denken, dass es dabei als Selbständiges bestehen gelassen wird. Entsprechend weist Levinas den Kausalitätsbegriff oder die Begrifflichkeit von Ursache (cause) und Wirkung auch für die Bestimmung der Abhängigkeit von der Nahrung (TU153) und der Abhängigkeit in der ethischen Beziehung zum Anderen (TU139) sowie für die Behandlung der Frage nach dem Ursprung überhaupt des Subjekts oder der Schöpfungsthematik zurück (TU166 u. 408). 982 Abhängigkeit im Sein – das konstituierte Subjekt Die genauere Betrachtung von Levinas’ Aussagen zur Spontaneität des Subjekts hat gezeigt: Er hält einerseits deren Wirklichkeit fest, lässt sie andererseits aber ursprünglich abhängig sein. Der Grund für die Bestimmung der Abhängigkeit liegt in der Analyse des leiblichen Nahrungsgeschehens. Wie noch deutlich werden wird, steht im Hintergrund außerdem die Analyse der Beziehung zum Anderen, die sich vermittels einer radikal abhängigen Leiblichkeit ereignen muss. Die Frage ist, wie diese Abhängigkeit genauer verstanden wird und ob Levinas dabei sowohl der wirklichen Subjektivität als auch der Passivität gerecht wird. Es wurde schon herausgearbeitet, dass Levinas die Abhängigkeit von der Nahrung und die Bedrohtheit, die in der Bedürftigkeit aufscheint, so deutet, dass das Subjekt in seinem Sein von der Nahrung 982

Vgl. dazu auch oben, S. 497 f.

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abhängig ist. 983 Das Ich hat aus sich selbst keinen Stand, ist nicht causa sui, sondern hat einen Grund außerhalb seiner selbst. In dem Zusammenhang kann Levinas sogar, abweichend von seinem sonstigen Sprachgebrauch, von einer »Ursache« (cause) (TU76) des Ich sprechen. Mit der Zeitlichkeit des Nahrungsgeschehens ist das Subjekt in dieser Abhängigkeit selbst radikal zeitlich, besitzt in keiner Weise eine zeitlose Existenz. Auch wenn es für Levinas offen ist, ob nach dem Tod noch etwas kommt, auch wenn sich für ihn philosophisch sogar ein Nach-dem-Tod nahelegt 984, so würde dies nicht aus einer Zeitlosigkeit des Subjekts folgen. Die Abhängigkeit von der Nahrung zeigt für ihn, dass das Subjekt vom Tod im Sinne einer reinen Vernichtung der Existenz bedroht ist. Es muss in jedem Moment im Sein gehalten werden. Insofern bezieht er sich positiv auf die creatio continua bei Descartes, in der jeder Augenblick gewissermaßen eine Geburt darstellt (TU74). Seinsabhängigkeit bedeutet, dass das Subjekt konstituiert ist. Wenn Levinas davon spricht, dass sich das Ich im Genuss (TU205/ TI117 u. 221/128) oder als Genuss (TU434/TI275) konstituiert, dann meint er damit die Entstehung des Subjekts. Constituer bedeutet in der Konstruktion se constituer dans …/comme … ›bilden‹. Da Levinas nicht von einer Selbstbildung, sondern von einer passiven Bildung ausgeht, ist diese Konstruktion als pronominales Passiv zu verstehen: ›das Ich bildet sich‹ im Sinne von ›das Ich entsteht‹ oder ›wird gebildet‹. Dass sich das Ich im Genuss konstituiert, bedeutet also nicht nur, dass das Ich sozusagen seine Anfänge hat im Genuss und dieser sein ursprüngliches Sichereignen darstellt, sondern dass es hier ein Entstandenes ist. Von der Wortbedeutung her liegt es nahe, dass es Levinas nicht nur um die Ausbildung einer bestimmten Gestalt des Ich geht, sondern um dessen Entstehung überhaupt. Deutlich wird dies etwa auch, wenn er herausstellt, dass man das Ich in keiner Weise dem Genuss voraussetzen darf, und schreibt: »Das Ich bildet sich erst im Genuß.« (TU206/TI118) Levinas verwendet hier den Ausdruck se cristalliser – ›sich kristallisieren‹. Das Bild des Kristalls, der aus der Nährlösung auftaucht, ist gut geeignet, um die Entstehung einer Sache auszudrücken. Inwiefern Levinas dadurch, dass er se constituer parallel mit Ausdrücken verwendet, die einen Prozess beschreiben (mit se cristalliser oder in TI275 mit s’accomplir – ›sich vollenden‹), 983 984

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Vgl. dazu oben, S. 633 f. Vgl. oben, S. 569–584.

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diese Konstitution als Prozess versteht, wird noch zu klären sein. Auf jeden Fall würde dies nicht ausschließen, dass es ihm um ein Entstehen überhaupt des Subjektes geht. Dasselbe ergibt sich, wenn man betrachtet, wie die Rede von der Konstitution phänomenologisch vorkonnotiert ist. Auch wenn Levinas sieht, dass Husserl die subjektive Konstitution letztlich an eine Passivität anknüpfen lassen möchte, so versteht er doch die Vorstellungskonstitution, wenn man sie rein von der Vorstellung her analysiert, in der Weise, dass sie alles scheinbar Passive zu übernehmen vermag, also im Sinne einer Produktion (TU171–176). Abgrenzung von inadäquaten Interpretationen der Konstitution des Subjekts Die Frage danach, ob Levinas auf eine überzeugende Weise zugleich an der Spontaneität und deren Abhängigkeit festhalten kann, ist die Frage nach der Nachvollziehbarkeit seiner Beschreibung der Konstitution des Subjekts im Genuss. Wie hängt das abhängige Entstandensein mit dem Genuss zusammen? Betrachtet man, wie Levinas die Konstitution des Ich mit dem Genuss ins Verhältnis setzt, dann fällt auf, dass er nicht schreibt, der Genuss konstituiert das Ich, sondern das Ich (oder auch sein Selbstbezug) konstituiert sich »als« Genuss (TU434) oder »im« Genuss (TU205 u. 221). Wenn Levinas an anderer Stelle davon spricht, dass das Glück »für seinen Egoismus selbst konstitutiv ist« (TU166), ist auch damit nicht gesagt, dass das Glück das Ich-Sein konstituiert, sondern die Aussage ist als Ausdruck der dort im Kontext entfalteten und im folgenden Kapitel noch genauer zu beleuchtenden These zu lesen, dass das Ich individuell ist aufgrund des Genusses, genauer: dass sich die Wirklichkeit in Individuen ereignet, weil ihr Ereignis das einer personalen Beziehung Getrennter ist und diese Getrennten sich zunächst als Genießende vollziehen müssen. In dieser These wird der Genuss sozusagen nicht als Wirkursache, sondern als eine Art Finalursache angegeben. In diesem Sinn ist es deshalb m. E. auch zu verstehen, wenn Levinas schreibt: »Das Ich existiert als getrenntes durch den Genuss« (TU82/TI34) 985, oder wenn er schreibt, dass die Trennung »sich durch den Egoismus voll985 Die Übersetzung wurde hier verändert. Wenn Nikolaus Krewani »Le moi existe comme séparé par sa jouissance« mit: »Das Ich existiert als getrenntes kraft des Genusses« übersetzt, legt er das »par« m. E. zu sehr im Sinne der Wirkursächlichkeit fest.

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zieht« (TU209/TI120). Das »durch« (»par«) ist vor dem Hintergrund der genannten These eher im Sinne von ›aufgrund‹ zu hören. Entsprechend ist auch die Rede vom Glück als »Prinzip der Individuation« (TU167; vgl. ebenso TU210) zu interpretieren. Offenbar geht es Levinas nicht darum, den Genuss als eine Art Wirkgrund für die Entstehung des Subjekts anzuführen. Das würde außerdem in Widerspruch dazu stehen, dass für ihn der Genuss von sich aus schon impliziert, dass es ein persönlicher ist 986, er also von Anfang an als Genuss eines Subjekts zu verstehen ist. Konstitution des Subjekts im Genuss bedeutet nicht, dass das Subjekt aus einem zuerst nicht subjektiven Genussvollzug entstanden ist. Gegen eine solche Deutung spricht zudem, dass Levinas das Subjektsein entschieden abgrenzt von jedem unpersönlichen Ereignis oder Vollzug. Wie sollte es also für ihn aus einem bloßen Vollzug des Genusses entstehen? Entsprechend ist sein Bild von der sich aufwickelnden Spirale zu verstehen, deren Pol schon mit zur Windung gehört (TU165 f.). Wenn dieses Bild ausdrücken soll, dass das Subjekt in keiner Weise dem Genuss vorausgesetzt werden kann, so soll damit nicht gesagt werden, dass umgekehrt der Genuss dem Subjekt vorauszusetzen ist. Wenn Konstitution im Genuss nicht bedeutet, dass der Genuss das Subjekt konstituiert, so auch nicht, dass die Beziehung zur Nahrung das Ich entstehen lässt. Mit dieser Interpretation wäre neben den genannten auch das Problem verbunden, das Subjekt unter der Hand schon vorauszusetzen. Denn wie soll man eine Beziehung ohne das Subjekt als Pol der Beziehung denken? Sagt man, das Subjekt entsteht erst aus der Beziehung, enthält dies einen impliziten Selbstwiderspruch. Kann man zur Verteidigung dieser Deutung Levinas’ kritische Einstellung gegenüber der Nicht-Widerspruchs-Logik anführen? Wie herausgearbeitet wurde, verabschiedet Levinas das Nicht-Widerspruchs-Prinzip nicht einfach und versucht selbst, Widersprüche zu vermeiden. 987 Darum sollte man sich zunächst auch in der Interpretation seiner Aussagen bemühen. Wenn Levinas schreibt: »durch dieses Wohnen im ›Anderen‹ […] gewinnt die Seele ihre Identität« (TU160), ist dies m. E. nicht so zu lesen, dass das Subjekt erst aus seinem Wohnen entsteht, sondern dass es Subjekt ist nur in Abhängigkeit von der Exteriorität der Nahrung und Wohnung. 988 986 987 988

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Vgl. oben, S. 480 f. Vgl. oben, S. 496–500. Eine Entstehung aus der Beziehung wird außerdem nahegelegt, wenn Nikolaus

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An der Rede von der Konstitution des Subjekt fällt außerdem auf, dass Levinas nicht sagt, das Ich sei aus dem Materiellen oder durch dieses konstituiert bzw. die Nahrung konstituiere das Ich. Die Idee, dass die Subjektivität aus dem, was in der objektiven Einstellung als im Raum ausgedehntes Materielles vorgestellt und von der Physik erforscht wird, konstituiert werde, scheidet von vornherein aus. Es soll aber offenbar auch nicht gesagt werden, dass das Ich aus dem entsteht, was Levinas vom Genuss aus als Materie beschreibt. Dieses Materielle ist sozusagen schon viel weniger materiell als das im Raum ausgedehnte. Das genossene Materielle wird von Levinas als eine Art Kraft beschrieben, die das Subjekt in sich als eigene Kraft integrieren kann. Es ist auch nicht eine Vielheit von Einzelteilen, sodass das Problem entstehen würde, wie aus einer Vielheit ein Subjekt entstehen können soll oder wie das Subjekt als Einfaches aus einer Zusammensetzung hervorgehend gedacht werden kann. Das Problem bei einem solchen Konstitutionskonzept wäre vielmehr, dass für Levinas die Subjektivität etwas wesentlich Unterschiedenes ist zu dem, was er als anonymes Materielles beschreibt. Eine Entstehung des Subjekts einfach aus dem Materiellen erscheint von daher als unmöglich. Dass Levinas so etwas nicht vertreten möchte, wird auch anhand seiner Beschreibung des Überflossenwerdens der Vorstellung deutlich. Er stellt dafür zuerst das Phänomen der Vorstellung, die alles Vorgestellte konstituiert, heraus. Es läge von daher nahe, die im Phänomen der Nahrung auftauchende Abhängigkeit der Vorstellung vom Vorgestellten so auszudrücken, dass sie von diesem konstituiert ist. Levinas schreibt zwar: Es »kehrt sich der Prozeß der Konstitution […] um« (TU180), oder: Es ist »die eigentliche Bewegung der Konstitution, die sich verkehrt« (TU183). Die Umkehrung reicht aber nicht so weit, dass er sagen könnte, die Nahrung konstituiert oder produziert das Ich. Er schreibt nur, dass sie es »bestimmt« (TU180), »trägt und nährt« (TU184), »begründet« 989 (TU182/TI102), »bedingt« (TU181) Krewani »Le rapport du moi avec le non-moi se produisant comme bonheur qui promeut le moi« (TI116) übersetzt mit: »Die Beziehung des Ich mit dem Nicht-Ich, die sich als Glück ereignet und das Ich konstituiert« (TU204). Meines Erachtens muss das »qui« auf »bonheur« bezogen und übersetzt werden: ›die sich als Glück ereignet, welches das Ich fördert‹. Das »promeut« ist m. E. eher mit ›fördert‹ zu übersetzen und zu deuten als Ausdruck für die Stärkung und das Erbeben durch den Genuss und nicht für eine Konstitution durch den Genuss. 989 Weniger missverständlich wäre es wohl, das Wort fonder hier mit ›fundieren‹ zu übersetzen. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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oder dass es in »Abhängigkeit« (TU181) zu ihr steht. Er schreibt, dass im Nahrungsphänomen die Freiheit »in ihrem eigenen Produkt für sich einen Grund finde[t]« (TU182), nicht aber, dass sie sich in ihrem Produkt selbst als Produkt findet. Entsprechend lehnt Levinas auch den Begriff der Ursache ab: »Die Abhängigkeit des Glücks vom Inhalt ist aber nicht die Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache.« (TU153) Wenn Levinas schreibt: »[D]ie als sinnlich bezeichnete Welt […] konstituiert […] die eigentliche Zufriedenheit der Existenz« (TU192), dann ist damit, obgleich für Levinas natürlich der Genuss von der Existenz nicht zu trennen ist, nicht eine Konstitution der Existenz benannt. Diese Bemerkung ist ähnlich zu verstehen wie Aussagen, in denen Levinas etwa von einer Konstitution des Wohnens ausgehend von der Vertrautheit des ›Weiblichen‹ (TU223) oder von der Konstitution der ethischen Autonomie durch die Anklage des Anderen (JS261) spricht, auch wenn in diesen Arten der Konstitution das Äußere nur jeweils eine bestimmte Weise des Selbstvollzuges und nicht wie im Nahrungsgeschehen die Existenz überhaupt bedingt. Wenn Levinas an einer Stelle schreibt: »Das Seiende erscheint sich als das Erzeugnis des Milieus, in dem es indes, selbstgenügsam, badet« (TU236), dann beschreibt er hier m. E. nur – das »erscheint« weist in diese Richtung –, wie sich das Subjekt spontan im Nahrungsgeschehen auffassen kann, nicht aber, wie er selbst die Konstitution denkt. Dass Levinas nicht eine Konstitution des Subjekts einfach aus dem Materiellen vertritt und beides als etwas wesentlich Verschiedenes ansieht, wird außerdem deutlich, wenn er herausstellt, dass das Individuum nicht – wie eine traditionelle Theorie angibt – Individuum ist aufgrund der Materie (TU76 u. As200). Er lehnt hiermit nicht nur die Idee einer Individuation in Bezug auf eine allgemeine Gattung ab, sondern auch die Idee, dass es zur Individuation durch die materielle Verortung, »durch eine irreduzible Stellung im Raum und der Zeit« (As200), kommt. Die Identität oder Einzigkeit des Subjekts ist etwas kategorial Verschiedenes zu einer Verortung. Wenn Levinas die ursprüngliche Weise des Selbstbezugs des Subjektes, von dem aus jedes weitere Verhältnis orientiert ist, als Sichhalten an einem Ort, als Position, bestimmt (TU195 f.), soll damit nicht die Verortung als das benannt werden, was das Subjekt zum Subjekt macht. Es soll vielmehr ausgedrückt werden, dass das Subjekt wegen der Abhängigkeit des Genusses in seinem ursprünglichen Selbstvollzug schon als verortet zu denken ist. Subjekt und Orientierungspunkt ist 662

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das Subjekt von sich aus und in Bezug auf sich 990, auch wenn es natürlich Orientierungspunkt für die räumlichen Verhältnisse ausgehend nicht nur von sich, sondern von sich in seiner unmittelbaren Verortung durch den Genuss ist. Für die Deutung des Zusammenhangs zwischen Nahrung und Subjekt kann es erhellend sein, wie Levinas das Verhältnis der materiellen Konfiguration der Wohnung zum Wohnen des Subjekts bestimmt: »Die Isolierung des Hauses erweckt die Sammlung, die menschliche Subjektivität, weder auf magischem Wege noch ruft sie sie ›chemisch‹ hervor. Man muß die Termini umkehren: Die Sammlung, die das Werk der Trennung ist, konkretisiert sich als Existenz in einer Bleibe, als ökonomische Existenz. Weil das Ich existiert, indem es sich sammelt, sucht es empirisch Zuflucht in einem Haus.« (TU219 f.) Zwar ist das Subjekt nicht vorgängig zur Nahrung, wie es vorgängig zur materiellen Konfiguration des Hauses ist, aber auch für das Nahrungsgeschehen gilt, dass das Subjekt nicht »magisch« (im Sinn des Bestimmtseins eines Subjektiven von einem rein Materiellen) durch die Nahrung hervorgerufen wird, und dass die Nahrung nur ausgehend vom Subjekt und für das Subjekt Nahrung ist. Levinas beschreibt das Verhältnis des Ich zum anonymen Sein des Materiellen teilweise wie einen Prozess der Herauslösung. Er spricht etwa vom Subjekt als von einem »Teil des Seins, der sich von dem Ganzen, in dem es verwurzelt war, losgemacht hat« (TU162). 991 Abgesehen davon, dass dies nicht als eine Bewegung des Materiellen, sondern des Subjektes selbst veranschaulicht ist und schon von daher kaum dessen Entstehung benannt sein kann, wäre es auch nicht nachvollziehbar, wie das Subjekt lediglich ein Teil des Materiellen sein könnte, der sich dann irgendwie unabhängig machte oder unabhängig gemacht würde. Die Beschreibungen eines Ablösungsprozesses muss als Ausdruck der Erfahrung der Befreiung aus dem Es-gibt durch den Vgl. oben, . 651–654, bes. Anm. 974. Vgl. auch die Aussage in TU157: Es »realisiert […] der Genuß inmitten der Kontinuität die Unabhängigkeit von dieser Kontinuität« – Kontinuität als »anonyme[s] Sein«. Vgl. auch die Rede vom »Anfang inmitten einer Kontinuität« (TU204), vom »Wunder der glücklichen Stunde, die sich heraushebt aus der Kontinuität der Stunden« (TU211) oder in TU210 f. die Aussage: »[D]as Seiende bricht die ruhige Ewigkeit seiner Existenz als Sperma oder Keimzelle, um sich in einer Person einzuschließen, die, indem sie von der Welt lebt, bei sich lebt«. Hier wird zwar in einer eher objektivierenden Perspektive gesprochen (von »Sperma oder Keimzelle«, daneben auch vom »Instinkt […]«), gemeint ist jedoch das Materielle, von dem das Seiende im Genuss lebt. 990 991

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Genuss 992 interpretiert werden. Wenn die Orientierung auf den Genuss aus dem Blick gerät, kann sich das Subjekt aufgelöst erleben im anonymen Es-gibt. Die Rückbesinnung auf den Genuss macht dem Subjekt wieder seine Existenz und seine sinngefüllte Identität zugänglich, was als eine Bewegung des Sichherauslösens aus dem Esgibt erlebt wird. Von diesem Phänomen aus kann zwar erhellt werden, dass das Subjekt ursprünglich im Genuss konstituiert ist. In ihm ist jedoch nicht diese Konstitution selbst unmittelbar zugänglich. Im Erleben des Aufgelöstseins im Es-gibt werden weder der Genuss noch die Existenz noch das Subjektsein des Subjekts außer Kraft gesetzt. Auch ist im Erleben dieser Auflösung schon die Beziehung zum Anderen impliziert, von der aus es erst zu einer Lösung vom Genuss kommen kann. Levinas beschreibt in ähnlicher Weise eine Herauslösung aus der historischen Kontinuität, in der das Materielle schon objektiviert ist (TU74 f.), oder eine Herauslösung aus der Sphäre der allgemeinen Begriffe (TU164 f.), welche ebenso Manifestationen des Es-gibt darstellen. Hierbei kann auf keinen Fall eine Konstitution des Subjekts benannt sein. Abhängigkeit von der Nahrung, Schöpfung und Fruchtbarkeit Die Auseinandersetzung mit verschiedenen inadäquaten Interpretationen der Konstitution des Subjekts hat gezeigt: Das Materielle sowie das Geschehen der Nahrung sind für Levinas ein Grund, aber nicht einfach der Grund des Subjekts. Das Phänomen der Nahrung macht zwar deutlich, dass es in seinem Sein abhängig ist, aber es erschließt nicht die Abhängigkeit überhaupt des Subjekts oder gar die Entstehung des Subjekts. Es bleibt hier also eine offene Stelle. Bestätigt wird diese Interpretation dadurch, dass Levinas die offene Frage nach dem Ursprung des Subjekts selbst artikuliert und als mögliche Antwort eine Schöpfung durch das Unendliche ins Spiel bringt. 993 Die Konstitution im Genuss ist im weiteren Zusammenhang der levinasschen Konzepte der Schöpfung und der Fruchtbarkeit zu begreifen. Das Subjekt kann zwar nur in Abhängigkeit von der Nahrung existieren. Es ist nur als Genießendes und benötigt die Nahrung als Objekt des Genusses sowie als Quelle der Energie. Die Nahrung müsste also bei der Entstehung des Subjekts – wie diese auch immer erfolgt, 992 993

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Vgl. dazu oben, S. 367–371. Dazu u. zum Folgenden vgl. oben, S. 553–558.

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in einer Erschaffung durch das Unendliche oder in einer anderen Weise – ein Mittel sein. Diese Entstehung würde jedoch nicht bloß durch die Nahrung geschehen. Diese würde nur die Genussobjekte und die Lebensenergie liefern, nicht aber die Subjektivität selbst. Wie Levinas im Schöpfungsbegriff einen möglichen Ursprung der Entstehung des Subjekts konzipiert, zeigt außerdem, dass das Subjekt für ihn nur aus einem vom Begehren her verstandenen personalen Wesen entsprungen sein kann. Deutlich wird dies ebenso an Levinas’ Begriff der Fruchtbarkeit, mit dem er zunächst auf der Ebene des Biologischen das Geschehen der Entstehung eines neuen Subjekts beschreibt, dieses Verhältnis aber zugleich personal versteht. 994 Von daher kann er die Begrifflichkeit der Fruchtbarkeit direkt für das Schöpfungsverhältnis verwenden. 995 Wenn sich für den Ursprung des Subjekts für ihn eine personale, vom Begehren geprägte Beziehung nahelegt, dann geht es ihm primär um die Wahrung einer wirklichen Trennung. Im Hintergrund dürfte jedoch auch die Idee eine Rolle spielen, dass der Ursprung der Subjektivität nicht etwas Anderes sein kann als Subjektivität. Diese Idee würde nicht gegen das Trennungsdenken und die ethische Asymmetrie verstoßen, da Levinas die Fruchtbarkeit gerade als Beziehung von gleichermaßen Einzigen und als Identität in einer radikalen Unterschiedenheit versteht. Über die genannten Bestimmungen der Entstehung des Subjekts hinaus (personaler Ursprung, mit Hilfe der Nahrung) wird sie von Levinas freilich weiter im Dunkeln gelassen. Insofern für ihn die Entstehung selbst weder in der Abhängigkeit des Genusses noch in der ethischen Abhängigkeit vom Anderen oder vom Unendlichen noch in einem anderen Geschehen phänomenologisch greifbar wird und die Möglichkeit einer phänomenologischen Greifbarkeit darüber hinaus infrage gestellt ist, scheint dies auch die einzig adäquate Umgangsform damit zu sein. Dass Levinas das Geschehen der Fruchtbarkeit, wie er es ausgehend von der Zeugung neuen Lebens aus der erotischen Verbindung von Mann und Frau oder ausgehend von der BeVgl. oben, S. 378–381; zur Deutung der Fruchtbarkeit als Zeugung vgl. bes. Anm. 448. 995 Vgl. TU408, wo Levinas die Schöpfung als »Beziehung der Transzendenz – der Einheit und der Fruchtbarkeit« anspricht, o. vgl. in TU424 die Rede von der »Verwandtschaft« der Seienden, welche durch die Schöpfung bestätigt werde, eine Verwandtschaft, die Levinas in TU309 mit der Kategorie der Fruchtbarkeit bestimmt. Im Zusammenhang dieser Stelle wird zudem von der ganzen Beschreibung dieser Kategorie her deutlich, wie nahe sie dem Schöpfungsbegriff steht. 994

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ziehung des Vaters zum Sohn fasst, möglicherweise in einer Schöpfung 996 grundgelegt sieht und die Schöpfung selbst als Fruchtbarkeit beschreibt, zeigt m. E., dass er eher dazu tendiert, die Entstehung des Subjekts letztlich auf eine Schöpfung zurückzuführen. Ob es für ihn möglich ist, die Entstehung neuen Lebens auch allein in der innerweltlichen Furchtbarkeit begründet zu sehen, erhellt sich aus seinen Texten nicht. Dafür würde sprechen, dass er durch seinen Ansatz eine atheistische Position nicht für ausgeschlossen hält. Fruchtbarkeit müsste dann freilich über einem rein materiellen oder biologischen Geschehen als personales verstanden werden. Zeitlichkeit der Konstitution und Unmittelbarkeit des Subjekts zu sich Ein weitere Problematik ergibt sich daraus, wie Levinas die Konstitution des Subjekts in dynamischen Begriffen benennt: als ein Auskristallisieren (TU206), als Entfaltung (TU433), als Kontraktion (TU165), als bebende Exaltation (TU165), als Einrollen oder Aufwickeln einer Spirale (TU166). Inwiefern kann die Entstehung des Subjekts jedoch eine zeitliche sein? Wenn die Konstitution nicht so gedeutet werden darf, dass das Ich aus einem erst unpersönlichen Vollzug oder aus dem Materiellen entsteht, wenn außerdem das Problem umgangen werden soll, das Subjekt unter der Hand seiner Entstehung schon vorauszusetzen und sich so selbst zu widersprechen, dann darf sie offenbar ebenso nicht als Entstehen in einem zeitlichen Nacheinander begriffen werden. Zudem scheint in die Unmittelbarkeit des Subjektes zu sich keine zeitliche Disparatheit hineinpassen zu können. Levinas hebt selbst die Vorgängigkeit des Beisichseins zu jeder Reflexion sowie seine Unmittelbarkeit hervor. 997 Soll er dennoch eine Entstehung des dem bewussten Ich immer schon gegebenen Selbstbezugs in einem zeitlichen Nacheinander behauptet haben? Die Zeitlichkeit in den oben genannten Ausdrücken für die Konstitution könnte zwar eventuell nur die Zeitlichkeit der Metaphern sein, denen man sich zur Beschreibung des Geschehens bedienen 996 Vgl. TU406: »Als Bruch, als Verleugnung des Vaters, als Anfang, vollzieht und wiederholt die Kindschaft in jedem Augenblick das Paradox einer geschaffenen Freiheit.« Hier wird die Schöpfung m. E. als grundlegendes Ereignis der Trennung angeführt, auf deren Basis sich die Fruchtbarkeit ereignen kann, und zwar in der Weise, dass sie dieses Schöpfungsereignis »vollzieht und wiederholt«. Vgl. dazu oben, S. 560–562. 997 Vgl. oben, Anm. 953.

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muss. Aber Levinas hält darüber hinaus ausdrücklich fest, dass das Entstehen des Subjekts an die Zeit gebunden (TU245), dass dieses in der Zeit gesetzt ist (TU204). Dies meint zunächst freilich keine Entstehung in einem Nacheinander, sondern nur, dass sich aus dem Phänomen der Abhängigkeit von fortgesetzter Nahrungsaufnahme die radikale Zeitlichkeit, das Fehlen jedes zeitlosen Existenzmoments im Subjekt, ergibt. 998 In diesem Sinn hat das Subjekt für Levinas seine Freiheit nicht aus einem zeitlosen Akt, sondern ereignet es sich als in der Zeit fortgesetztes Anfangen (TU204). Und in diesem Sinn bezieht er sich positiv auf das cartesische Konzept einer diskontinuierlichen 999, nicht vom Subjekt ausgehenden, sondern in einer creatio continua jeden Moment neu eröffneten Zeit, in welcher gewissermaßen »[j]eder Augenblick […] eine Geburt« darstellt (TU75). Wie dies schon nicht bedeutet, dass das Subjekt in einem Nacheinander ins Nichtsein übergeht und wieder ins Sein tritt, so ist in diesem fortgesetzten Entstehen oder dieser Erhaltung erst recht kein Platz für eine Zusammenfügung des Selbstbezugs des Subjektes in einem Nacheinander. Sollte Levinas dann von einem solchen Nacheinander für das ursprüngliche Entstehen ausgehen? Dagegen, das Entstehen oder Erhaltenwerdens selbst als ein zeitliches Geschehen zu deuten, spricht zudem, dass dieses für Levinas phänomenologisch gar nicht zugänglich ist. Das Phänomen der Nahrung zeigt nur das fortgesetzte Erhaltenwerden. Wenn Levinas in diesem Zusammenhang von einer Bezogenheit auf die Nahrung in einer uneinholbaren und doch »erlebte[n] Vergangenheit« (TU211) 1000 spricht, dann meint dies nur die Entzogenheit des Nahrungsgeschehens gegenüber dem vorstellenden Bewusstsein, das immer zu spät kommt. Nicht aber ist damit eine Bezogenheit des Subjekts auf die sozusagen in der Vergangenheit vor seiner Existenz ihm exteriore Nahrung gemeint, die es dann nährt und in deren Abhängigkeit es Vgl. dazu oben, S. 633 f. u. 657 f. Es ist zu bemerken, dass Levinas mit dieser Diskontinuität in TU75, die er andernorts von der Kontinuität eines Aus-mir-Hervorgehens der Zeit abgrenzt (TU414 f.), einen anderen Begriff von Diskontinuität verwendet, als wenn er von der Diskontinuität spricht, mit welcher das Subjekt die Kontinuität der objektivierend überschauten historischen Zeit durchbricht (TU71). Indem es um sie auch in TU75 geht, vermischt Levinas hier beide Begriffe von Diskontinuität. Von den beiden genannten Arten von Kontinuität ist außerdem die Kontinuität des vor aller Objektivierung liegenden Materiellen zu unterscheiden (TU157 f., 204 u. 210 f.). 1000 Vgl. etwa auch TU182 u. 184. 998 999

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erst konstituiert wird. Eine solche Bezogenheit erscheint als unmöglich, da sie der Existenz des Subjekts vorhergehen müsste. Zwar enthält die Diachronie im Nahrungsgeschehen nicht nur einen diachronen Bezug auf den vorbewussten Selbstvollzug, sondern auch einen Bezug auf die jedem Selbstvollzug vorgängige Nahrung. Es muss dies aber nicht so verstanden werden, dass das Subjekt auf die Nahrung vor seiner Existenz bezogen ist, sondern nur so, dass es als Existierendes auf die es gegenwärtig nährende Nahrung als etwas bezogen ist, was es im Bedürfnis als auf es unverfügbar zukommend und so exterior erlebt hat und was es deshalb auch im gegenwärtigen Augenblick des Genusses, in dem das Subjekt es sich einverleibt und die Stärkung erfährt, als Exteriores erlebt. Die erlebte Dynamik ist nicht die Dynamik des Entstehens selbst, sondern die Dynamik des fortgesetzten und sich als immer weitergehende Befriedigung ereignenden Genusses. In diesem Sinne ist die Beschreibung des Subjekts als »bebende Exaltation« (TU165) und als »Einwicklung« (TU166) zu verstehen. Von Ausdrücken wie ›Kontraktion‹ oder ›Auskristallisieren‹, welche die Entstehung des Subjekts überhaupt artikulieren, muss eine zeitliche Konnotation ferngehalten werden; ebenso wenn Levinas schreibt: »[D]urch dieses Wohnen im ›Anderen‹ […] gewinnt die Seele ihre Identität« (TU160). Die Übersetzung von »individuation« (TI30) mit »Individuationsprozess« (TU76) ist als missverständlich anzusehen. Das Subjekt wird ›in einem Schlag‹ gesetzt zusammen mit seiner Abhängigkeit von der Nahrung. Man muss von einer ›Gleichzeitigkeit‹ von Freiheit und Abhängigkeit sprechen – freilich nicht im Sinn von synchroner Gleichzeitigkeit und ohne dabei eine Gleichursprünglichkeit mitauszusagen. Durch das diachrone Verhältnis in Bezug auf die Nahrung wird die Entstehung des Subjekts nicht in ein Nacheinander gesetzt. Aber wird die Unmittelbarkeit des Subjekts zu sich nicht dadurch bei Levinas gebrochen und wird es nicht dadurch in eine zeitliche Disparatheit zu sich gebracht, dass es zu sich selbst diachron verschoben ist? Wie im Zusammenhang von seiner Auseinandersetzung mit Husserls Analysen der Empfindung dargestellt wurde 1001, fasst Levinas unter dem Begriff der Diachronie zunächst das uneinholbare Vergangensein der Urimpression für die Vorstellung, die das Vergangene und Zukünftige in der Gegenwart versammelt und so synchronisiert. Das Subjekt ist hier zwar zu sich selbst zeitlich verschoben. Diese 1001

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Vgl. dazu bes. oben, S. 336–338.

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Phasenverschiebung wird jedoch so verstanden, dass sie einbehalten ist in der Einheit der Urimpression, aus der heraus sie sich entfaltet, und die von Husserl her als »›inneres Bewusstsein‹« beschrieben wird, als ein in seiner Unmittelbarkeit zu sich durch die Vorstellung, genauer: das reflexe Bewusstsein des Bewusstseins, nicht einholbares Bewusstsein (IE172). Wenn Levinas später, um die Passivität in der Urimpression herauszuarbeiten, einen über diese Einheit sowohl des Bewusstseins als auch der Aktivität des Subjekts überhaupt hinausgehenden Bezug zum Exterioren behauptet, den er ebenso zeitlich als Bezug in ein für die Aktivität des Subjekts uneinholbares Schon-vergangen-Sein des Betroffenseins bzw. ein für den Versuch der Einholung Immer-noch-zukünftig-Sein bestimmt und damit den Begriff der Diachronie neu und weiter fasst als Diachronie der Beziehung zum exterioren Anderen 1002, dann wird dabei keineswegs das Zugleichbestehen der Unmittelbarkeit des Subjekts zu sich ausgeschlossen. Es wird nur gesagt, dass dieser Selbstbezug immer schon zusammen konstituiert ist mit einem Bezug über ihn hinaus auf das Exteriore, von dem die Konstitution des Subjekts letztlich abhängig ist, und dass er davon immer schon geprägt ist. In dieser Form entwirft Levinas einen anderen Subjektsbegriff als Husserl. Eine solche diachrone Bezogenheit besteht für Levinas im Verhältnis zum Materiellen, im Verhältnis zum exterioren Anderen, das sich in der ursprünglichen Offenheit auf die Nahrung hin ereignet, sowie für das Verhältnis zum Unendlichen. 1003 Da das Subjekt in seine ethische Identität als Verantwortlicher erst durch den Anderen und das Unendliche eingesetzt wird, überträgt sich zwar auch die diachrone Entzogenheit in der Dynamik der Annäherung an den Anderen in das Selbstverhältnis zu sich als Verantwortlichem. 1004 Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Subjekt im Genuss in einer ursprünglichen Unmittelbarkeit zu sich konstituiert ist. Die Infragestellung lässt diese weiterbestehen und verwandelt sie daneben außerdem in die Unmittelbarkeit der ethischen Autonomie. Nur zur eigentlich ethischen Identität kann es keine Unmittelbarkeit geben. Vgl. dazu oben, S. 336–338 u. 342–344. In JS86 wird die Diachronie in Bezug auf die sinnliche Empfindung ausgesagt, in JS58 als »Diachronie der Verantwortung für den Anderen«. Zur Diachronie im Verhältnis zum Unendlichen vgl. oben, S. 578–581 sowie S. 535–537 zur Thematisierung eines der Diachronie zum Anderen nochmals vorausliegenden Bezuges in eine »absolute Vergangenheit, die alle Zeiten eint« (SpA234). 1004 Vgl. oben, S. 451–453. 1002 1003

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Der Eindruck einer Konstitution des Subjekts in einem zeitlichen Nacheinander kann auch durch solche Textstellen bei Levinas entstehen, die nahezulegen scheinen, er habe die Diachronie zum Anderen selbst als Zeitlichkeit der Konstitution des Subjekts gedeutet. So beschreibt er die diachrone Zeit in Abgrenzung zum bergsonschen Konzept einer kontinuierlichen, sich aus der Gegenwart des Subjekts für dessen Selbstverwirklichung ekstatisch entfaltenden Zeit: 1005 »Die Augenblicke hängen nicht aneinander, […] vielmehr entfalten sie sich vom Anderen her zu mir. Die Zukunft kommt nicht auf mich zu aus einem Gewimmel ununterscheidbarer Möglichkeiten, die meiner Gegenwart entgegenströmen und von mir ergriffen werden; sie kommt durch ein absolutes Intervall hindurch auf mich zu; nur der absolut andere Andere […] ist fähig, das andere Ufer des Intervalls abzustecken« (TU414). Es ist das Intervall »zwischen zwei Zeiten« (TU75), zwischen der eigenen Zeit und der Zeit des Anderen, die nicht synchronisierbar sind. Zwar geht Levinas in Totalität und Unendlichkeit davon aus, dass die eigene Fortdauer vom Unendlichen her in einer kontinuierlichen, eine zeitliche Diskontinuität setzenden Schöpfung eröffnet wird sowie dass diese Schöpfung das Subjekt zugleich als Beziehungssein konstituiert und so in einen diachronen Bezug setzt. 1006 An der zitierten Stelle geht es aber nicht um das Unendliche, sondern um den Anderen. Entsprechend geht es nicht um die Konstitution der eigenen Fortdauer 1007, als vielmehr um die Konstitution der Struktur der Zeitigung der eigenen Zeit, die sich letztlich nicht nur als Zeit des Selbstvollzuges, sondern als Zeit des Bezugs zum Anderen ereignet, der das Subjekt so betrifft, dass dieses Betroffensein immer schon vergangen ist im Verhältnis zum Selbstvollzug bzw. uneinholbar zukünftig. Diachronie und Diskontinuität des passiven Empfangens der Fortdauer hängen zwar zusammen, indem darin, dass sich die Beziehung zum Anderen in seiner Anderheit nur auf diese Weise vollziehen kann, sozusagen der finale Grund dafür liegt, dass sich das Dasein überhaupt in der zeitlichen Bewegung eines Nacheinanders Vgl. dazu neben TU414 auch ZA52 f. sowie TU404 u. 406. Vgl. TU75: »Der Bruch der historischen und vereinheitlichenden Dauer, den die tote Zeit vollzieht, ist nichts anderes als der Bruch, den die Schöpfung im Sein bewirkt.« Zur Deutung der Schöpfungsaussagen in TU vgl. oben, S. 553–558. 1007 Der Eindruck, es gehe darum, kann auch dadurch entstehen, dass im Zusammenhang dieser Stelle der Begriff der Fruchtbarkeit eine große Rolle spielt. Sie wird hier jedoch nicht genannt als Grund des eigenen Seins, sondern als Grund für das Sein eines Anderen, von dem her sich die Zeit nur als Diachronie ereignen kann. 1005 1006

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ereignet. Auch erschließt sich diese Diskontinuität ausgehend vom diachronen Bezug zur Nahrung im Bedürfnis. Sie ist aber darin nicht unmittelbar gegeben und sie ist von der Diachronie zu unterscheiden. Zuletzt ist zu fragen, ob die Unmittelbarkeit des Beisichseins nicht darin aufgehoben wird, wie für Levinas zur Zeitigung des Subjekts ein beständiger Bruch der Bindung an die eigene Existenz gehört. Da sich das Subjekt in der Beziehung zum Anderen von dieser Bindung frei machen kann 1008, beschreibt Levinas seine Zeitlichkeit als beständige »Wiederauferstehung. In seiner Fortsetzung findet der Augenblick einen Tod und steht wieder auf. Tod und Auferstehung machen die Zeit aus.« (TU415) Wie dies aber schon nicht die Identität aufhebt, sondern vielmehr nur den Charakter der ethischen Identität neu bestimmt, so ändert es – wie auch schon bei der ethischen Diachronie – nichts am Bestehen der Unmittelbarkeit des Beisichseins des genießenden Subjekts. An verschiedenen Punkten entstand die Frage, ob Levinas die Unmittelbarkeit des Selbstbezugs des Subjekts durch ein zeitliches Nacheinander bricht. Bei genauerem Hinsehen war dies aber nirgends der Fall. Das Subjekt entsteht in seiner Unmittelbarkeit zu sich ›in einem Schlag‹. In einem Nacheinander vollzieht sich die Konstitution nur insofern, als das Subjekt – sichtbar an der Abhängigkeit vom fortgesetzten Sichnähren – in jedem Moment neu im Sein gehalten werden muss. Abhängigkeit von der Nahrung und Abhängigkeit vom Anderen Nachdem dargestellt wurde, wie Levinas sowohl eine wirkliche Spontaneität als auch eine radikale Abhängigkeit, ein Konstituiertsein des Subjekts, beschreibt, nachdem verschiedene problembehaftete Interpretationen der Konstitution des Subjekts im Genuss zurückgewiesen und die Rolle des Genusses in der Konstitution näher bestimmt wurde, gilt es nun zu betrachten, wie Levinas ausgehend von der ethischen Beziehung das Abhängigkeitsverhältnis zur Nahrung in seinem Charakter und vor allem in seiner Möglichkeit zu erhellen versucht. Zunächst einmal fällt auf, dass Levinas den Zusammenhang von Aktivität und Passivität in der Abhängigkeit des Subjekts von der 1008 Vgl. dazu oben die Beschreibungen des Verhältnisses der Fruchtbarkeit, S. 378– 381.

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Nahrung ganz ähnlich beschreibt wie das Jenseits-von-Freiheit-undUnfreiheit in der ethischen Beziehung zum Anderen: 1009 Es »fällt der Unterschied von Aktivität und Passivität in der Annehmlichkeit zusammen« (TU235), »Herrschaft und Unterwerfung sind gleichzeitig« (TU236), die Nahrung ist »gleichzeitig gegeben und empfangen« (TU204). Weder kann hierbei von einer bloßen Freiheit gesprochen werden. Denn im Genuss ist das Subjekt von Äußerem abhängig und betreffbar. Noch ist es unfrei. Der Genuss impliziert eine Herrschaft, eine selbständige Aktivität. Die Abhängigkeit von anderem verunmöglicht diese Selbständigkeit nicht; sie wird auch zunächst nicht begrenzt durch das Andere, insofern dieses sich dem Genuss fügt und der Genießende mit dem Bedürfnis zufrieden ist (TU235 f. u. 207 f.). Wie in der Beziehung zum Anderen »geschieht keine Gewalt« (TU236). Auch wenn das Subjekt von der Nahrung noch radikaler in seinem Sein abhängt, besteht eine Entsprechung mit der ethischen Beziehung darin, dass es das Exteriore trifft, indem es einen Selbstvollzug eröffnet. Die Nahrung wird eigene Kraft (TU153). Wie die Beziehung zum Anderen ist die Beziehung zur Nahrung als eine Innerlichkeit zu verstehen, welche die Exteriorität nicht aufhebt. 1010 Auch wenn im Unterschied zum Anderen die Nahrung einverleibt wird und ihr gegenüber gerade nicht die Dynamik des Begehrens entsteht, bleibt das Subjekt in der Abhängigkeit von fortgesetzter Nahrungsaufnahme auf sie doch als etwas ihm Äußerliches bezogen. Wie in der ethischen Beziehung geht die Innerlichkeit und Unabhängigkeit so weit, dass das Subjekt diese Abhängigkeit vergessen und sich lösen kann von seiner »Vergangenheit« (TU210 u. 69 f.). Zugleich bleibt es aber betroffen von der Rückbezogenheit, der Rekurrenz, über das eigene Ursprungsein hinaus auf etwas Exteriores und kann sich darin auch erleben. In Jenseits des Seins beschreibt Levinas die Struktur der Rekurrenz gleichermaßen für die ethische wie die leibliche Abhängigkeit. 1011 Entsprechend der Passivität der Abhängigkeit von etwas Äußerem vollzieht sich die Aktivität des Genießenden ähnlich wie die ursprüngliche ethische Bejahung zunächst Vgl. dazu oben, S. 465–468. Zur Weise der innerlich-äußerlichen Bezogenheit auf den Anderen vgl. oben, S. 486–488. 1011 Zwar führt Levinas zu seinem Begriff der Rekurrenz (JS227–243) erst einmal ausgehend von der ethischen Infragestellung, beschreibt diese in der Folge aber als eine allgemeine Struktur der Subjektivität und bezieht sie in JS241 f. auch ausdrücklich auf das Subjekt in seiner leiblichen Abhängigkeit. 1009 1010

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auf eine spontane Weise, vor jeder freien Annahme oder Verweigerung (TU204). Aufgrund dieser Übereinstimmungen verwundert es nicht, dass Levinas in Jenseits des Seins beide Ebenen ausdrücklich in ein Verhältnis setzt und die Idee vorträgt, dass die Möglichkeit der Entstehung eines leiblichen Selbstvollzugs auf der Basis einer Abhängigkeit von etwas Exteriorem »wahrscheinlich« von der ethischen Beziehung her zu klären ist. 1012 Außerdem möchte er von ihr her für die Ebene der leiblichen Subjektivität die Möglichkeit eines Selbstvollzuges im Bewusstsein, der doch zugleich passiv ergriffen ist, sowie die Möglichkeit der Herausbildung der Freiheit aus diesem passiven Selbstvollzug erhellen. Levinas macht dabei nicht ausdrücklich, welche Vorbehalte ihn zu dem »wahrscheinlich« veranlassen. In Bezug auf die zuletzt genannten Punkte erscheint es m. E. durchaus plausibel, genauso wie die ursprüngliche ethische Zustimmung auch das leibliche Leben als vorfreien und doch selbständigen Vollzug zu analysieren und dann auf dieser Basis die Herausbildung der Freiheit zu verstehen. Wenn in diesem Fall die an der ethischen Beziehung analysierte Struktur für das Verständnis des leiblichen Phänomens zwar hilfreich ist, es aber grundsätzlich auch aus sich erhellt werden kann und das Ethische dazu nicht unbedingt benötigt wird, so verhält sich dies anders, wenn es um die Frage der Möglichkeit der anarchischen Betroffenheit von etwas Exteriorem geht. Die grundsätzliche Möglichkeit dieser Struktur hat sich für Levinas auf der Ebene der ethischen Beziehung, und zwar ausgehend von ihrer Form als Beziehung zum Un1012 In JS275 trägt Levinas die Idee vor, dass wahrscheinlich die Frage, wie ganz allgemein eine begrenzte Freiheit denkbar ist, und zwar in der Form einer Bezogenheit der Freiheit auf anderes, von dem her zu verstehen ist, wie sich dies in der ethischen Beziehung zum Anderen verhält. Dass er hierbei auch die Frage nach der Begrenztheit der Freiheit im Leiblichen im Sinn hat, tritt klarer in JS192 f. hervor, wo er schreibt: »[W]ahrscheinlich ist auch von der Nähe her das schwierige Problem einer inkarnierten Subjektivität anzugehen«, und zwar von deren »›diesseits von Freiheit und Unfreiheit‹«. Hier wird das Problem, wie eine vorgängig zu jedem Engagement in die Nähe eingebundene Subjektivität und die Entstehung des Engagements auf der Basis der Nähe denkbar ist, mit dem Problem parallelisiert, wie das Ich einerseits Herr der Vorstellungen sein und sich doch andererseits in ihnen passiv finden kann. An dieser Stelle kann damit der passive Selbstvollzug selbst gemeint sein oder aber die Passivität des Betroffenseins von Anderem in der Wahrnehmung, aus der sich die Passivität des Selbstvollzuges erklärt. In JS171 f., wo Levinas ebenfalls in dieser Weise die ethische und leibliche Ebene parallelisiert, geht es explizit um die Passivität der Wahrnehmung.

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endlichen, klären können. 1013 Von hierher lässt sich die Annahme einer solchen Struktur auch im Leiblichen rechtfertigen. Indem die leibliche Konstitution vorgängig ist zur ethischen Infragestellung und zur Beziehung zum Unendlichen, kann diese zwar nicht als reale Bedingung für das leibliche Verhältnis in Betracht kommen. Eine solche Bedingung erscheint jedoch als nicht zwangsläufig erforderlich, wenn die anarchische Struktur als grundsätzlich möglich ausgewiesen ist. Auf jeden Fall ist freilich, da die Nahrung allein für die Konstitution des Subjekts nicht hinreichend ist, die Beziehung zur Nahrung in der Beziehung zum eigentlichen Grund des Subjekts fundiert, der für Levinas ein personaler sein muss. Wie noch deutlich werden wird, ist ein Bezug auf einen personalen Grund auch deshalb vorauszusetzen, da sich die Trennung ereignet für eine personale Beziehung. 1014 Ist dieser Grund das Unendliche als Schöpfer, was für Levinas als möglich erscheint, wäre die Beziehung des Unendlichen zum Subjekt – vorgängig dazu, dass es dieses als solches betrifft – die reale Grundlage auch für das Nahrungsgeschehen. Zu transzendentalphilosophischen Anfragen an die Theorie der leiblichen Konstitution des Subjekts Die Möglichkeit eines anarchischen Betroffenseins im Ethischen wurde ausgehend von Anfragen geklärt, die von transzendentalphilosophischer Seite an Levinas erhoben werden. 1015 Es wurde dort bereits darauf hingewiesen, dass diese Anfragen auch an das Konzept der leiblichen Konstitution des Subjekts im Genuss zu stellen sind. Zum einen wird in ihnen auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der sich ergibt, wenn man das Subjekt aus einer Abhängigkeitsbeziehung zu etwas Anderem entstehen lässt, dabei aber für diese Beziehung das Subjekt zugleich voraussetzt. Zum anderen wird darauf verwiesen, dass die Subjektivität auf sich selbst in einer Weise bezogen ist, dass dieser Bezug nicht als durch etwas Äußeres oder in einem zeitlichen Nacheinander vermittelt gedacht werden kann. Von Fichte her wäre außerdem ins Spiel zu bringen, dass es kaum denkbar ist, wie das Ich aus etwas Unichlichem entstehen könnte. Im Verlauf dieses Kapitels, das versuchte, Levinas’ These von einer Konstitution des Subjekts im 1013 1014 1015

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Vgl. dazu oben, S. 453–462. Vgl. unten, S. 678 f. Vgl. oben, S. 448–450.

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Genuss und seine Bestimmung des Verhältnisses von Spontaneität und Abhängigkeit konsistent zu interpretieren, sind die genannten Anfragen bereits thematisiert worden und es konnte jeweils gezeigt werden, dass sie sein Konzept nicht treffen. Dies geschah vor allem in den beiden Abschnitten, die eine Deutung der Konstitution aus einem bloßen Vollzug des Genießens, aus der Beziehung zur Nahrung oder aus dem bloßen Materiellen sowie eine Konstitution in einem zeitlichen Nacheinander zurückgewiesen haben. 1016 Levinas verstrickt sich deshalb nicht in Probleme, weil er neben der Beschreibung der Gestalt des entstandenen Subjekts nur das Dass einer fortgesetzten Entstehung sowie einer Abhängigkeit vom Materiellen und von einer personalen Dimension behauptet, die Entstehung selbst aber im Dunkeln belässt.

2.3.4.4 Zur Bedeutung des Genusses im Geschehen der Trennung In der Auseinandersetzung mit inadäquaten Interpretationen der Konstitution des Subjekts im vorigen Kapitel wurde bereits auf Wendungen hingewiesen, in denen Levinas von einer Konstitution durch den Genuss spricht. Wie gezeigt wurde, kann dies nicht heißen, dass der Genuss das Subjekt hervorbringt. Für die positive Deutung wurde auf Levinas’ Theorie verwiesen, welche die Beziehung zum Anderen und für sie den Genuss als Grund dafür angibt, dass das Individuum getrenntes Individuum ist. Diese gilt es nun genauer zu betrachten. Sie ist neben der Klärung der Konstitutionsaussagen für die Grundfrage dieser Arbeit außerdem insofern von besonderer Bedeutung, als in ihr der Grundansatzpunkt für die Analyse der Bedeutung des Leibes in der Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen liegt. Was bei Levinas das einzelne Subjekt ist, bestimmt sich aus der Trennung; und was Trennung bedeutet, bestimmt sich aus dem, wie er die ethische Beziehung analysiert. Nicht zufällig erklärt er über den Beziehungsbegriff der Einsamkeit, weshalb sich die Einzigkeit des Subjekts als Genuss vollzieht und als Genuss zu verstehen ist: »Die Einzigkeit des Ich ist Ausdruck der Trennung. Die Trennung par excellence ist Einsamkeit, und der Genuß […] ist die eigentliche Vereinzelung.« (TU164) Der Bruch der Totalität ergibt sich aus der ethischen Beziehung. Da diese ein getrennt für sich seiendes Ich vo1016

Vgl. oben, S. 659–664 u. 666–671.

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raussetzt, ereignet sich das einzelne Ich zuerst einmal als eines, das nur bei sich ist, das einsam ist. 1017 Und dieses Nur-bei-sich-Sein, Auf-sich-bezogen-Sein, ist der Genuss. Wie dieser Gedankengang genauer begründet ist, wird von Levinas in einem eigenen Kapitel mit dem Titel »Genuß und Trennung« (TU210–216) erläutert. »Egoismus, Genuß und Sinnlichkeit […] sind erforderlich für die Idee des Unendlichen – oder für die Beziehung mit dem Anderen, die sich vom getrennten und endlichen Seienden aus einen Weg bahnt.« (TU212) Das meint: Das getrennte Seiende darf nicht erst aus der Beziehung zum Anderen, sondern muss unabhängig davon und vorgängig dazu seine getrennte Existenz haben. Die Infragestellung muss an das schon getrennte Seiende anknüpfen. Der Grund dafür ist: Hätte es seine Trennung nur aus der Beziehung, dann bestünde von vornherein ein übergreifendes Ganzes, in dem entweder der Andere oder die Beziehung das Ich übergreifen und eine wirkliche Trennung – im Sinne von Levinas’ Analyse der ethischen Beziehung – verhindern würde, oder in dem das Ich den Anderen übergreifen und eine Beziehung zu einem wirklich Anderen unmöglich mache würde. Nur wenn die Trennung nicht nur Trennung aus der Beziehung ist, wenn sie nicht in einem ursprünglichen dialektischen Verhältnis zu ihr steht, folgt auch die Infragestellung des Anderen nicht dialektisch aus der Trennung. Nur so sieht Levinas eine Möglichkeit, dem Phänomen der Trennung, wie er es analysiert hat, gerecht zu werden. »Genauso wie die Innerlichkeit des Genusses sich nicht aus der Beziehung der Transzendenz herleitet, leitet sich diese nicht in Gestalt der dialektischen Antithese vom getrennten Seienden ab […]. Weder das getrennte Seiende noch das unendliche Seiende ereignen sich als antithetische Termini.« (TU212) »Wenn das Selbe sich kraft des bloßen Gegensatzes zum Anderen identifizierte, wäre es schon Teil einer das Selbe und das Andere umfassenden Totalität.« (TU43) Dasselbe darf also zunächst nicht Bezogenheit auf den Anderen, sondern muss Bezogenheit auf sich selbst sein. Es ist nicht eine Bewegung des Strebens hin zum Anderen, sondern eine, die sich allein auf sich bezieht, für sich ist und sich bei sich befriedigt. Das Streben hin zum Anderen bedarf, damit in ihm die Trennung besteht, einer Immanenzform des 1017 Dazu, wie das Beisichsein des Ich vom Anderen her als Einsamkeit bestimmt wird, vgl. TU164 f.: »Es ist bei sich. So ist das Ich die Weise, wie sich konkret der Bruch der Totalität vollzieht, der die Gegenwart des absolut Anderen bestimmt. Das Ich ist in ausgezeichneter Weise Einsamkeit.«

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Strebens. 1018 Diese ist keine Befriedigung, in welcher in der Dynamik der Verunendlichung aufgrund der uneinholbaren Anderheit des Anderen der Hunger immer weiter wächst, sondern eine Befriedigung, die endet. Jeder Bezug auf den Anderen oder das Unendliche muss hier fehlen. Auch sonstiges anderes, was eventuell zu dieser Befriedigung notwendig ist (dass es überhaupt anderes für sie braucht, wird erst in einem zweiten Schritt erhellt werden), muss etwas sein, welches das Subjekt nicht für dieses selbst bejahen muss, sondern ganz für sich nehmen kann, das sich nicht in einer diesen Selbstbezug immer beunruhigenden Exteriorität hält, aus der heraus es das Subjekt betrifft oder begrenzt, sondern das sich in der Befriedigung ganz einverleiben lässt. Auf diese Weise lassen sich die Grundcharakteristika des Genusses und seines Gegenstandes erklären. Auf diese Weise ergibt sich: Dass das Subjekt ursprünglich Genuss ist, ist nicht nur ein faktisches, zufälliges Ergebnis der transzendentalphänomenologischen Rückfrage, sondern besitzt einen Sinn im größeren Zusammenhang und ist notwendige Bedingung für die Beziehung zum Anderen. Von hierher leuchtet ein, wie Levinas sagen kann, dass das Subjekt gar nicht anders denkbar ist denn als Genießendes, dass es wesentlich Genießendes ist. 1019 Es handelt sich bei diesem Gedankengang um keine reine Ableitung des Genusses. Der Zugang zum Ge1018 Wenn Levinas, um die Trennung gewährleistet sein zu lassen, das Begehren als eine Beziehung bestimmt, die »in einem Seienden, das schon glücklich ist« (TU82), stattfindet, und wenn sich für ihn das Seiende auf den Anderen in der Weise des Begehrens, das nicht Bedürfnis ist, bezieht, »weil ihm in einem gewissen Sinne nichts fehlt« (TU80), dann ist damit nicht gemeint, dass durch die Befriedigung in sich ausgeschlossen würde, dass wir uns auf den Anderen in der Form eines Bedürfnisses beziehen. Denn dies ist keineswegs der Fall. Vielmehr ist damit der hier behandelte Punkt angesprochen, dass es für das Streben hin zum Anderen einer Immanenzform des Strebens bedarf. Dass Levinas das Subjekt überhaupt vom Streben her versteht, ergibt sich offenbar daraus, dass die Grundbestimmung des Subjekts für ihn die Beziehung zum Anderen ist, die sich wesentlich als ein Streben ereignet. Von hierher vom Erfordernis einer Immanenzform des Strebens zu sprechen und den levinasschen Gedanken auf eine Weise zu interpretieren, in der Bedürfnis und Begehren gleichermaßen als eine Art Streben verstanden werden, geht deshalb nicht an Levinas’ Ansatz vorbei, weil er selbst von einer Vergleichbarkeit beider und offenbar auch von einer gewissen Einheit des Voluntativen oder des Strebens ausgeht (vgl. oben, S. 648 f.). 1019 Vgl. TU82: »Man kann sich in der Tat nicht vorstellen, dass das Ich zunächst existierte und zusätzlich mit Glück begabt wäre, dass also das Glück zur Existenz als Attribut hinzukäme.« Levinas begründet dies hier auch unmittelbar daraus, dass das Ich nur durch den Genuss ist: »Das Ich existiert als getrenntes kraft des Genusses [m. E. besser zu übersetzen mit ›durch den Genuss‹, vgl. Anm. 985]«.

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nuss ist vorher schon phänomenologisch geschehen und für Levinas kann nur auf dieser Basis der Bedingungszusammenhang mit der Beziehung zum Anderen erhellt werden. Auch braucht es für Levinas die Phänomenologie, um den Genuss in seiner Konkretheit zu erschließen, wie sie sich aus einer Ableitung nicht ergeben könnte. 1020 Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs wird einsichtig, weshalb Levinas, wie dies in der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit einer Heteronomie deutlich wurde, in Totalität und Unendlichkeit immer davon ausgeht, dass die ethische Infragestellung an die Genussexistenz anknüpfen muss. Und ausgehend von der fundamentalen Bedeutung dieses Zusammenhangs ist m. E. auch die Deutungsoption für die Stellen in Jenseits des Seins, die man eventuell in eine andere Richtung interpretieren könnte 1021, klar. Der dargestellte Gedanke führt auf folgendes Problem: Auch wenn Trennung sich nicht aus der Beziehung zum Anderen oder zum Unendlichen ergibt, ist es doch die Beziehung, welche die Trennung »fordert« oder »verlangt«, wie Levinas verschiedentlich deutlich macht. 1022 In irgendeiner Weise muss also der Genuss doch in einem Verhältnis stehen zum Unendlichen. Die Frage, was für ein Verhältnis dies sein kann, löst sich offenbar vom phänomenal Gegebenen und der Phänomenologe kann sie zunächst einmal auch beiseite lassen. Er beschreibt die ›Intentionalität‹ des Genusses sowie die der ethischen Beziehung, analysiert deren Bedingungen und zeigt, wie diese faktisch im Genuss gegeben sind und dieser so sinnvoll mit ihr verknüpft ist. Damit begnügt sich Levinas in Totalität und Unendlichkeit. 1023 Indem sich für ihn der Genuss aber tatsächlich von der ethischen Beziehung her erklärt, steht die Frage dennoch weiter im Raum. Wenn Levinas es teilweise so formuliert, dass die Trennung sich nicht als »eine abstrakte Replik auf den Begriff der Beziehung« 1020 Zur Unmöglichkeit einer Ableitung und zur Bedeutung der Konkretion vgl. oben, S. 610 f. 1021 Vgl. dazu oben, S. 446–448, bes. Anm. 566. 1022 Vgl. etwa TU78: »Die Idee des Unendlichen, obwohl sie das getrennte Seiende nicht dialektisch entstehen läßt, fordert die atheistische Trennung« o. TU82: »[D]as Begehren des Anderen über das Glück hinaus verlangt dieses Glück, diese Autonomie des Sinnlichen in der Welt, selbst wenn diese Trennung sich weder analytisch noch dialektisch vom Anderen ableitet«. 1023 Vgl. TU212 f., wo er erst einmal aufzeigt, was für die ethische Beziehung erforderlich ist und dann diese Erfordernisse in dem erfüllt sieht, was er bereits für den Genuss beschrieben hat. Bezeichnend ist die Überleitung TU213: »Diesem einzigartigen Anspruch entspricht der Genuß in der Tat«.

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Das getrennte Subjekt und der Genuss

(TU212) ereignet, muss man sich fragen, ob er vielleicht nur eine dem Genuss vorgängige begreifende und letztlich objektivierende Intentionalität in Bezug auf den Anderen ausschließen möchte. Dagegen spricht, dass Trennung für ihn nicht nur bedeutet, die übergreifende Vorstellung oder ein übergreifendes begriffliches Denken zu hintergehen, sondern auch die Einheit eines lebendigen Begriffs sowie überhaupt jede Form einer ursprünglichen übergreifenden Einheit. Um das getrennte Seiende vor dem Aufgehen in einer solchen Totalität zu bewahren, darf es von sich aus im ursprünglichen Ereignis der Trennung noch nicht auf den Anderen oder das Unendliche bezogen sein, darf hier keine Form der Intentionalität stattfinden. Die Hinordnung des Subjekts auf das Ereignis des Unendlichen muss sich also auf die Instanz beschränken, die das Subjekt in seiner Getrenntheit konstituiert, die Beziehung einer Fruchtbarkeit oder – diese Möglichkeit scheint Levinas in Totalität und Unendlichkeit zu präferieren – einer Schöpfung. Geht man von einer Schöpfung aus, dann müsste das Verhältnis so verstanden werden, dass zunächst für die eigentliche Entstehung nur der Schöpfer auf das Geschöpf bezogen ist und sich ein Bezug des Geschöpfes auf ihn nur ausgehend von der Infragestellung, die an die Genussexistenz anknüpft, ereignet. 1024 Das Anknüpfen muss dabei nicht in einem zeitlichen Später erfolgen. Es ist denkbar, dass das Subjekt auf eine latente Weise (wie dies für die Beziehung zum ›Weiblichen‹ noch beschrieben werden wird) von Anfang an auf den Anderen und ›vorher‹ noch auf das Unendliche bezogen ist. Wegen der Beziehung zum Anderen braucht es ein getrenntes Ich. Aber die Trennung darf sich nicht aus dem Begehren des Anderen heraus ereignen, sondern aus einem Selbstbezug des Strebens. Insofern ereignet sie sich aufgrund des Genusses. In diesem Sinne sind m. E. die genannten Stellen zu interpretieren, in denen Levinas von einer getrennten Existenz »durch« den Genuss spricht (TU82 u. 209). Und in diesem Sinne ist der Genuss »Prinzip der Individuation« (TU167). Verständlich ist von daher, warum Levinas ihn ausdrücklich nur »ein Individuationsprinzip« 1025 nennt, nämlich offenbar deshalb, weil er das nur aufgrund der ethischen Beziehung als noch grund1024 Dazu passt, dass sich in der Analyse der Schöpfungsbeziehung eine eigene Intentionalität direkt für diese Beziehung als schwer vorstellbar gezeigt hat und sie für Levinas auch tatsächlich in keinem Phänomen greifbar wird. Vgl. dazu oben, S. 557. 1025 TU210. Die Kursivierung findet sich nicht im Original.

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legenderem Individuationsprinzip ist. Im beschriebenen Sinne ist es außerdem zu verstehen, wenn Levinas das Wort ›Egoismus‹ u. a. als Ausdruck ganz allgemein für die Selbstheit verwendet (TU165 u. 204). So ist nachvollziehbar, wie er im Kontext der von der Einsamkeit ausgehenden Erklärung der Einzigkeit als Genuss sagen kann, die »Einzigkeit […] ist der eigentliche Egoismus des Glücks« (TU165) und »der Genuß […] ist die eigentliche Vereinzelung« (TU164) oder an einer späteren Stelle: Die »Selbstgefälligkeit der Subjektivität« ist dasjenige, »worin ebendie ›Egoität‹ der Subjektivität besteht, ihre Substantialität« (JS148). Es heißt: Dass sich die Wirklichkeit als Einzelne ereignet, erklärt sich aus der Notwendigkeit dieser Selbstbezogenheit des Genusses; deshalb ist der Genuss die ursprüngliche Form, wie sich dieses Einzelne ereignet, und deshalb ist dieses ganz von ihm her zu verstehen. Dass sich in der transzendentalphänomenologischen Analyse der Genuss als ursprünglicher Subjektsvollzug herausstellt, würde allein nicht zu der Formulierung veranlassen, die Einzigkeit des Subjekts sei der Genuss oder bestehe aus Genuss, sondern erst die Feststellung dass sie sich ursprünglich so ereignen muss und wesentlich Genuss ist. Die Einzigkeit als Genuss zu verstehen, bedeutet freilich nicht, die Einzigkeit des Subjekts einen bloßen Vollzug zu begreifen. Das Subjekt ist nicht Genuss, sondern Genießendes. Auch bedeutet es nicht, dass allein die Selbstbezogenheit des Strebens das bestimmt, was ein Subjekt ursprünglich ist. Genuss meint zunächst das ganze Ereignis der Befriedigung. Dem Moment des selbstbezogenen Strebens kommt dabei zwar die zentrale Stellung zu, in der Befriedigung sind jedoch neben ihm auch ein Fühlen und eine ursprüngliche Form von Praxis enthalten. 1026 Levinas hält offenbar die Innerlichkeit sogar für geeigneter als die Befriedigung bei sich, um das zu begreifen, was ein Subjekt ist. 1027 Auch denkt Levinas zwar die These der Konstitution im Genuss vor allem ausgehend von der Dimension des Strebens und dem Erfordernis einer Immanenz des Strebens. Das hängt offenbar damit zusammen, dass er die Beziehung zum Anderen wesentlich als Begehren fasst. Daneben beschreibt Levinas diese Beziehung aber auch in anderen Kategorien, in der Kategorie der Erfahrung – einer Erfahrung, die ganz eingebunden ist ins Begehren – sowie in der eines vor aller Freiheit aus dem Imperativ Vgl. oben, S. 636–651. Vgl. TU210: »Das Glück ist ein Individuationsprinzip, aber die Individuation an sich begreift sich nur vom Inneren her, durch die Innerlichkeit.« 1026 1027

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heraus ergriffenen Tuns für den Anderen. Und es wäre von daher zu überlegen, ob nicht auf ähnliche Weise ausgehend von diesen Momenten eine Immanenz des Erfahrens und eine des Tuns erschlossen werden könnten. Es fällt zumindest auf, dass Levinas die Einsamkeit, mit der er die Trennung von der Beziehung her bestimmt, auch in die Richtung der Innerlichkeit auslegen kann (TU164 f.). Ausgehend von der Trennungsbeziehung bestimmt Levinas in einem zweiten Schritt neben dem Selbstbezug des Genusses auch dessen Abhängigkeit: »[D]iese Verschlossenheit darf der Innerlichkeit nicht verbieten, aus sich herauszugehen, damit die Exteriorität zu ihr sprechen« (TU212) kann. »Die Innerlichkeit muss gleichzeitig verschlossen und offen sein.« (TU213) Diese Offenheit in der Verbindung mit der Verschlossenheit findet Levinas in dem, wie er den Genuss faktisch phänomenologisch analysiert hat als Abhängigkeit von der von außen kommenden Nahrung. Dabei gilt: Die Offenheit muss der Innerlichkeit erlauben, dass sie »nicht nur scheinbar ist, sondern real bleibt« (TU212). Diese Abhängigkeit muss also mit einer wirklichen Freiheit zusammen bestehen können sowie mit deren Immanenz und Unabhängigkeit von einem Bezug auf das Unendliche oder den Anderen. Das Andere, von dem das Ich abhängt, muss so beschaffen sein, dass in der Beziehung mit ihm die Bezogenheit nach außen ganz verschwinden kann. Und es muss eine ganz anders geartete Abhängigkeit sein als die vom Anderen oder Unendlichen. Dies ist im Genuss dadurch gegeben, dass die Nahrung, die das Ich nährt, sich ganz einverleiben lässt. Es wird die Offenheit nur deshalb für die Beziehung zum Anderen benötigt, weil ein absolut geschlossenes Seiendes nicht mehr weiter betreffbar sein könnte. Es braucht sie von daher nicht in der Form, dass sich in ihr die Beziehung zum Anderen schon vorausereignet. So stellt diese Offenheit auch keine Empfänglichkeit dar, in welcher die ethische Bedeutsamkeit ursprünglich schon impliziert wäre. Vermutlich deshalb nennt sie Levinas nicht Möglichkeit, sondern »Gelegenheit« (»occasion«, TU213/TI123). Die Offenheit erklärt insofern auch nicht die Betreffbarkeit durch den Anderen. Die Klärung der Möglichkeit einer solchen Betreffbarkeit ausgehend von der Beziehung zum Unendlichen, wie sie hier dargestellt wurde 1028, kann durch den Hinweis auf die leibliche Offenheit nicht ersetzt werden. Die Abhängigkeit von der Nahrung und die Abhängigkeit vom Anderen sind zwei verschiedene Intentionalitäten. Und doch ereignet 1028

Vgl. oben, S. 453–462.

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sich die ethische Betroffenheit durch die leibliche hindurch, indem die Infragestellung an das Genusssubjekt anknüpft und es nur in der Genussabhängigkeit offen ist für das Exteriore. Daraus erklärt sich, weshalb sich die ethische Infragestellung als Begegnung mit einem Gesicht, das von mir betreffbar ist und von dem ich betroffen werden kann, ereignet. Darüber hinaus sind die dargestellten Überlegungen, in denen Levinas die Grunderfordernisse für die ethische Beziehung mit dem Anderen bestimmt und sie in dem gegeben sieht, wie er das Subjekt als Genießendes analysiert hat, überhaupt die Basis für die Bestimmung der Bedeutung des Leibes in der Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen. Auf sie wird in der späteren Darstellung dieser Bedeutung zurückgegriffen und von ihnen her werden ihre verschiedenen Momente entwickelt werden. Die Sicht auf die Bedeutung des Genusses als der ursprünglichen Form von Abhängigkeit und Betreffbarkeit vertieft Levinas noch einmal in Jenseits des Seins. Abhängigkeit bedeutet hier für ihn wesentlich, der Verletzung, und zwar unmittelbar der »Verletzung im Genuß ausgesetzt« zu sein (JS148). Dies hat deshalb eine zentrale Bedeutung, weil es »der Verletzung ermöglicht, an die Subjektivität des selbstgefälligen, sich selbst setzenden und nur für sich selbst stehenden Subjekts heranzukommen« (JS148). Für die Beziehung zum Anderen ist es nicht nur nötig, irgendwie offen zu sein, sondern in seinem Sein betreffbar zu sein. Das wird genau im Genuss ermöglicht, indem das Subjekt im Genuss in seinem Sein abhängig und betreffbar ist. Auf diese Weise wird der Sinn des Genusses auch darin, dass er Leben-von-… ist, eingeholt. Zudem wird daraus deutlich, dass das Subjekt aus sich und unabhängig vom Anderen nicht nur keine ethische Instanz, sondern auch sonst keine Instanz besitzen kann, von der her es sich vom Genuss distanzieren könnte. Sonst könnte es auch in der Beziehung zum Anderen distanziert bleiben und sich nicht in seinem Sein betreffen lassen. Levinas stellt schon in Totalität und Unendlichkeit diese Distanzlosigkeit heraus: Die Freiheit ist zuerst einmal nicht durch eine ursprüngliche »vollständige Reflexion« (TU220) begabt. Erst ausgehend von Jenseits des Seins wird dies jedoch als Erfordernis für die ethische Beziehung erhellt. Keine Distanz zu haben, bedeutet, zunächst einmal in einer unhintergehbaren Liebe zum Leben zu stehen, in einer »Annehmlichkeit, die in der Innerlichkeit nicht überschritten werden kann, da sie die Innerlichkeit ausmacht« (TU214). Vor dem Hintergrund dieses Erfordernisses tritt die These, dass in der »Selbstgefälligkeit der Subjektivität […] eben682

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die ›Egoität‹ der Subjektivität besteht, ihre Substantialität« (JS148), noch deutlicher hervor. Den Genuss zu unterbrechen, konkret »als risse man das Brot vom Munde dessen fort, der es gerade mit Genuß verzehrt«, bedeutet eine »›Entkernung‹ des Genusses«, bedeutet, dass »der Kern des Ich unterwandert wird« – Kern im Sinne des Ich selbst (JS149). Da in der ethischen Beziehung das Subjekt radikal passiv sein muss, sodass jede autonome ethische Aktivität immer zugleich durch eine Heteronomie hintergangen ist, muss es schon im Genuss für so ein radikales Hintergangenwerden offen sein. Die ethischen Begriffe bringt Levinas deshalb in einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem leiblichen Begriff der Verletzbarkeit (JS148 f.). Dass es dabei um ein Geschehen der Güte und nicht der bloßen Selbstdestruktion geht, wird deutlich, wenn Levinas den Zusammenhang auch ausgehend von seinem Verständnis der Ethik als Selbstgabe in einem Sich-genommen-Werden darstellt. Das Sein-für-den-Anderen, konkretisiert etwa darin, dass »ich selbst noch das Brot gebe, das ich esse«, setze den Genuss voraus; man muss »zuvor sein Brot genießen, nicht um sich so verdient zu machen, wenn man es gibt, sondern um darin sein Herz zu geben – um sich zu geben, wenn man gibt« (JS164). Im Zusammenhang der Erhellung der Einzigkeit durch den Genuss macht Levinas deutlich, dass die Notwendigkeit der Anknüpfung der ethischen Beziehung an ein unabhängig davon getrenntes und somit genießendes Subjekt nicht nur etwas Anfängliches ist, sondern eine bleibende Situation darstellt. Nach der Infragestellung bleibt als Erfordernis für die Trennung zum einen die Möglichkeit, doch nur nach Genuss zu streben oder auch in einer Art höherem Genuss Ethik nur als Selbstverwirklichung zu leben, in einer Weise, welche die Anderheit des Anderen nicht beachtet oder vergisst. Und zwar kann der Mensch, da sonst die Trennung nicht radikal wäre, diese Möglichkeit »ungestraft« (TU250) realisieren, ohne dass es ihm irgendwelche Einbußen an Genuss und Selbstverwirklichung einbringen würde, sowie »ohne inneren Widerspruch« (TU251). 1029 Vgl. TU251 f.: »[D]iese Möglichkeit, die Transzendenz des Anderen zu vergessen – ungestraft alle Gastlichkeit (d. h. alle Sprache) aus seinem Haus zu verbannen, daraus die transzendente Beziehung […] zu verbannen –, bezeugt die absolute Wahrheit, den Radikalismus der Trennung«. Neben TU250–252 vgl. dazu TU260–262 u. 313. Es ist für Levinas »eine Trennung, die so tief ist, dass die Idee des Unendlichen dem Vergessen anheim fallen kann. […] [D]ie Möglichkeit dieses Vergessens ist für die Trennung notwendig« (TU262). Das Vergessen hat freilich daran seine Grenze, dass man für Levinas die Infragestellung zugleich niemals überhaupt nicht kennen 1029

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Zum anderen behält der Genuss auch in der Achtung der Anderheit des Anderen seine Bedeutung. Dass die Infragestellung einen Abstand vom Genuss bewirkt, dass es möglich ist, sich durch sie vom Genuss lösen zu lassen und ihn nicht mehr um seiner selbst willen zu verfolgen, kann nicht seine Aufhebung bedeuten, da er doch gleichzeitig in jedem Moment vorausgesetzt wird. »Der Bruch der Totalität, der sich im Genuß der Einsamkeit – oder der Einsamkeit des Genusses – vollzieht, ist radikal. Wenn die kritische Gegenwart des Anderen schließlich diesen Egoismus infrage stellt, wird sie nicht seine Einsamkeit vernichten.« (TU166) Gemeint ist damit nicht nur, dass die Immanenz nicht aufgehoben wird. Auch der Genuss bleibt auf eine Weise bestehen. »Das Ich, das spricht, plädiert für das Glück, das für seinen Egoismus konstitutiv ist, welche auch immer die Wandlungen seien, die dem Egoismus vom Wort widerfahren werden.« (TU166) Auch wenn der Genuss nicht mehr um seiner selbst willen angestrebt wird, wird er doch als grundlegendes Ereignis der Existenz erfordert. Er wird insofern gerechtfertigt gewollt und es wird zu Recht für ihn »plädiert«. Auch bleibt der Genuss ein Für-sich, und zwar insofern, als er von seinem Wesen her unaufhebbar ein Fürsich ist, selbst wenn das Ich ihn nicht für sich anstrebt. 1030 Das ist der Grund dafür, dass Levinas die ethische Beziehung als Aufwickeln und Abwickeln eines Knäuels (JS167), als Diastole und Systole des Herzens (JS241) oder als Einatmen und Ausatmen 1031 beschreibt. Dabei müssen sich die Sammlung des Ich und seine Hingabe nicht nur abwechseln, sondern aufgrund der notwendigen Anknüpfung an den Genuss auch immer gleichzeitig vollziehen. 1032 Wenn Levinas dies kann (TU317; vgl. dazu oben, S. 463–465). Es kann also nur eine Form von Verdrängung sein. 1030 Man kann sich fragen, ob darin nicht sogar das ursprüngliche Ereignis des Genusses zugänglich ist, indem er zuerst noch nicht mit der intentionalen Kraft eines sorgenden Strebens für sich auftritt. 1031 Vgl. JS241. Einatmen und Ausatmen werden hier als Bild sowie als Konkretion für das Gegenüber »der Kontraktion der Selbstheit und ihres Zerspringens« herangezogen. Auch in JS49 steht das Ausatmen für die Hingabe und das Einatmen für die Sammlung des Ich. Das Bild ist jedoch beweglich. Den Aspekt des immer auch schmerzvollen Einsatzes für den Anderen kann Levinas neben dem Ausatmen außerdem festmachen am Anhalten des Atems (JS28), an der Atemlosigkeit (JS52), der Ruhelosigkeit des Atmens (JS385) oder der Ausgesetztheit des Inneren an das Außen der Luft (JS384). 1032 Vgl. dazu JS179 f., 245 u. 386, wo die beiden Bewegungen in einem spannungsvollen Zugleich thematisiert werden. Nur in diesem Zugleich können die Trennung

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Das getrennte Subjekt und der Genuss

als Einatmen und Ausatmen beschreibt, ist der Atem mehr als nur ein Bild. Der leibliche Vollzug des Atmens sowie die Leiblichkeit im Ganzen stellen das konkrete Ereignis dessen dar, dass in der Konstitution des Selbst zugleich die Möglichkeit des Seins-für-den-Anderen besteht (JS241 f.). Die ethische Ausrichtung auf den Anderen ereignet sich nur als Genuss und Bruch des Genusses. Dies ist für Levinas’ ethischen Ansatz auch insofern von Bedeutung, als es deshalb, wie dies bereits dargestellt wurde, zu einer Rechtfertigung der Sorge um sich kommen kann – der Sorge in der Form einer Sorge um sich für den Anderen. 1033 Und aus diesem Grund gibt es für Levinas eine gerechtfertigte, nicht selbstbezogene eschatologische Hoffnung: den »Traum einer glücklichen Ewigkeit« (TU416). 1034 Nicht von ungefähr bezieht er sich im Zusammenhang seiner Überlegungen zur fundamentalen Bedeutung des Genusses auf die kantische Forderung nach Glückseligkeit innerhalb der Postulate von Gott und Unsterblichkeit. Sie wird von ihm freilich umgedeutet und nicht auf die Übereinstimmung der Welt mit dem Sittengesetz, sondern auf die für die Ethik selbst als Prinzip der Individuation notwendige Apologie zurückgeführt. »Wie wäre das kantische Reich der Zwecke möglich, wenn die vernünftigen Wesen, die ihm angehören, nicht ihre Forderung nach Glück als Prinzip der Individuation bewahrt hätten, ein Prinzip, das auf wunderbare Weise dem Zusammenbruch der sinnlichen Natur entkommen ist?« (TU167) Dass Levinas, wenn er die konstitutive Bedeutung des Egoismus hervorhebt, von »Wandlungen« (TU166) des Egoismus spricht, erlaubt es, die Fortdauer des Genusses, der nicht nur in der Form des bloßen leiblichen Genusses bleibt, präziser zu bestimmen. Die beschriebene Notwendigkeit des Egoismus und entsprechend die Selbstbehauptung des Ich als eines genießenden Subjekts nennt Levinas »Apologie« (TU166). Die Wandelbarkeit des Egoismus kann man von daher auch ausgedrückt finden in Levinas’ Hinweis, dass die und die Transzendierung offengehalten werden. Es ist aber sinnvoll, neben dem Zugleich in den genannten Bildern auch ein Nacheinander ausgedrückt zu sehen. Von daher ist folgende Interpretation der Rede von der Systole und Diastole bei Werner Stegmaier (2002, 109 f.) m. E. zutreffend: »Levinas bleibt auch hier ganz nüchtern. Der ethischen Herausforderung des Ich durch den Andern muß periodisch die Rückkehr zur ›Freiheit‹, zur ›Autonomie‹, zum ›Solipsismus‹ folgen, damit das Ich seine Kräfte wiederherstellen kann. Das heißt auch: die Rückkehr zum Genuß.« 1033 Vgl. oben, S. 431 f. 1034 Vgl. dazu oben, S. 569–584. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

»Apologie eine andere Richtung« (TU83) bekommt durch die Infragestellung. Zunächst einmal meint Apologie ganz allgemein die Selbstbehauptung des Ich in seiner Beziehung zum Anderen als eines von diesem Getrennten (TU48 f.). Ursprünglich ist sie die Selbstbehauptung in der Ausrichtung des Genusses auf sich. Diese bleibt nach der Infragestellung als berechtigtes Erfordernis des Glücks. Aus der Infragestellung erwächst jedoch noch eine andere Form der Apologie. Sie ist für Levinas auch weiter gegeben in der »Güte, in die die Apologie einmündet« (TU166). Wie sich das Individuum in der Güte behauptet, lässt sich auf verschiedene Weisen beschreiben. Da ist zunächst einmal die Apologie in der Form der Suche nach Anerkennung durch den Anderen als verantwortliches und darin in seiner Einzelheit bestehendes Subjekt. 1035 Levinas spricht hierfür auch von einer »Freude« 1036, einer vom sinnlichen Genuss unterschiedenen Form von Genuss, die aus dieser Anerkennung erwächst. Im Zusammenhang der Ausführungen zum Fortbestehen der Apologie aufgrund der Trennung spricht er zudem von einer Freude in einem anderen Sinne: von der Freude, die daraus erwächst, dass man der moralischen Forderung entspricht (TU167). Diese Freude ist ebenfalls anderen Wesens als die sinnliche. Zwar ist für Levinas eine einfache Entsprechung nicht möglich, weshalb in der Beziehung zum Anderen das Gewissen immer ein schlechtes sein muss. Die Dimension der Rechtfertigung ist dadurch aber nicht per se ausgeschlossen. 1037 Die Rechtfertigung muss sich vielmehr nur so ereignen, dass jedes gute Gewissen immer überflossen wird von einem schlechten Gewissen. Das 1035 Vgl. TU352 f. u. 356–359. In dieser im Vergleich zur bloßen Selbstbehauptung im Genuss veränderten Form ist die Apologie »nicht blinde Bejahung des Selbst, sondern schon Appell an den Anderen« (TU367). Dass für Levinas in JS nicht mehr das Erfordernis besteht, sich selbst angesichts des Todes von der Apologie zu befreien, sondern das Subjekt von ihr schon in der Stellvertretung für den Anderen befreit ist (vgl. dazu oben, S. 381–383), bedeutet nicht, dass das Subjekt nicht mehr als Getrenntes und insofern Apologetisches aufgefasst wird, sondern nur, dass die Apologie in der Form eines von sich ausgehenden Beharrens auf dieser Trennung in Beziehung zum Anderen schon von vornherein überwunden ist. Deshalb fällt m. E. auch der philosophische Anknüpfungspunkt für eine eschatologische Hoffnung nicht weg. Levinas kann sie auch in der späteren Zeit in Konsistenz zu seinen sonstigen Aussagen weiter ins Spiel bringen. Die Hoffnung muss nicht aus einer Bewegung der Selbstbehauptung gefasst werden, sondern kann dem Ich vom Anderen her entgegenkommen. 1036 TU356. Er bestimmt sie hier im Unterschied zum sinnlichen Genuss und seinem Schmerz: Sie ist »weder das Aufhören noch die Antithese des Schmerzes noch auch die Flucht vor dem Schmerz«. 1037 Vgl. dazu oben, S. 422–424.

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Das getrennte Subjekt und der Genuss

Begehren ist nicht einfach etwas, das nicht gestillt wird, sondern dessen Stillung auf eine Weise erfolgt, dass sie immer überflossen wird, durchbrochen wird und in der das Begehren so immer weiter wächst. 1038 In dieser Form von Freude wird ebenfalls eine Weise greifbar, wie der Genuss durch die Infragestellung verwandelt wird. Die Freude ist deshalb nicht überhaupt etwas Neues und Eigenes, sondern eine Wandlung der ursprünglichen Selbstbehauptung im Genuss, weil die Infragestellung durch den Anderen die getrennte Existenz nicht setzen kann. Sie muss an diese Existenz in ihrer ursprünglichen Form des Genussselbstbezuges anknüpfen und diesen verwandeln. Deshalb genügt als eschatologische Forderung auch nicht jene nach der Freude, die in der Bestätigung der Einzelheit des verantwortlichen Individuums oder in der ›Erfüllung‹ des Begehrens liegt, sondern braucht es den leiblichen Genuss, und zwar, weil das leibliche Leiden immer auch eine Einschränkung der Möglichkeiten der Hingabe darstellt, in einer möglichst leidfreien Form, als ein wirkliches Glück. Neben den beiden beschriebenen Formen der Freude, die auf der Basis der ethischen Beziehung zum Anderen entstehen, erfährt die Apologie eine weitere Wandlung durch die Begegnung mit dem Anderen in der Gestalt des sogenannten Weiblichen. Dieser Begegnung erwächst eine eigene Form der Befriedigung. Sie ist unterschieden vom leiblichen Genuss, indem das Subjekt vom Weiblichen nicht lebt, sondern dessen Milde genießt. Unterschieden ist sie aber auch von der Befriedigung im Begehren, welches in ihr noch nicht erwacht ist. Die Wandlung der Apologie wurde hier in Bezug auf das Moment der Befriedigung des Strebens verfolgt. Sie wird daneben auch an der Freiheit oder an der Suche nach Wissen sichtbar, auf welche sich Levinas neben der Freude als Formen der getrennten Einsamkeit bezieht. 1039 1038 Deshalb kann die Freude in TU167, in der Levinas zuerst einmal ein Element aus Spinozas Ethik aufgreift, als etwas angesehen werden, was für ihn selbst ein Beschreibungsmoment des Begehrens darstellen kann. Dass er selbst es für sinnvoll hält, von einer solchen moralischen Freude zu sprechen, ergibt sich außerdem bereits daraus, dass er diese Freude als Phänomen anführt, das den Bruch der Totalität anzeigt. Dem widerspricht es nicht, wenn Levinas etwa in TU260 das Begehren »außerhalb aller Perspektive auf Befriedigung oder Nichtbefriedigung« sieht, da die moralische Freude nur entstehen kann, wenn sie nicht in den Blick genommen und angezielt wird und weil sie dadurch sowie durch das Überflossenwerden jeder Befriedigung auf einer ganz anderen Ebene steht als eine bloße Befriedigung. 1039 Vgl. TU167 u. 166. Vgl. auch TU434, wo das autonome Wissen als eine Form der Genügsamkeit beschrieben wird. Zur Wandlung der Freiheit vgl. oben, S. 462–473; zu der des Wissens vgl. unten, S. 705–713.

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

Wenn sich Ethik nur ausgehend von der Genussimmanenz und somit immer als Genuss und Bruch des Genusses, als Freude und schlechtes Gewissen, als Autonomie und Heteronomie ereignet, hat dies zur Folge, dass sie immer etwas Schmerzhaftes und dem eigenen Willen Entgegenlaufendes beinhaltet. In Totalität und Unendlichkeit stellt Levinas zumindest heraus, dass die Betreffbarkeit von außen in Form der leiblichen Abhängigkeit die Möglichkeit des Schmerzes impliziert. »Daß die Lust der Befriedigung von der Not gezeichnet sein kann, daß wir Zugang zum Genuß durch die Arbeit und das Bedürfnis haben, statt die schlichte und einfache Fülle zu besitzen, diese Konstellation liegt gerade an der Struktur der Trennung. Die Trennung, die sich durch den Egoismus vollzieht, wäre nur ein Wort, wenn das getrennte und genügsame Seiende, wenn das Ich nicht die dumpfe Brandung des Nichts vernähme, in das die Elemente zurückströmen und sich verlieren.« (TU209) Deshalb wird von Levinas die Erklärung der Einzigkeit als Genuss auch so formuliert: »[D]er Genuß – Glück oder Unglück – ist die eigentliche Vereinzelung« (TU164). Darüber hinaus impliziert die ethische Beziehung aber nicht nur die Möglichkeit des Schmerzes, sondern, indem sie sich als Genuss und Bruch des Genusses vollzieht, auf eine gewisse Weise dessen Wirklichkeit. Sie impliziert, wie Levinas es nennt, ein Wider-Willen. 1040 Ethik kostet etwas. Besonders in Jenseits des Seins und anderen späteren Schriften hebt Levinas diesen Aspekt der Ethik hervor. 1041 Dies steht in einem inneren Zusammenhang damit, dass erst hier die Idee in ihrer Deutlichkeit greibar wird, dass das Subjekt mit der ganzen Tiefe seines Seins infrage gestellt und zum Anderen geöffnet werden muss und dies einen Bruch der Genussexistenz bedeutet. Von daher wird auch nicht zufällig erst in der späteren Zeit die positive Funktion, die das Es-gibt in der Beziehung zum Anderen erhalten kann, herausgestellt. 1042 Dass sich die Trennung in der Weise des Genusses ereignet, ist am Genuss selbst unmittelbar erlebbar. Er vollzieht sich ohne Bezug auf den Anderen oder das Unendliche und ohne dass die Abhängigkeit vom Anderen des Materiellen auftaucht. Darüber hinaus bedarf es auch noch keiner Bezugnahme auf das Allgemeine. Es braucht die Vgl. dazu unten, S. 747–749. Vgl. unten, S. 744–765, wo fast ausschließlich mit Bezügen auf JS und andere spätere Schriften gearbeitet werden muss. 1042 Vgl. oben, S. 384–387. 1040 1041

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Das getrennte Subjekt und der Genuss

Perspektive auf das Allgemeine nicht, damit er sich vollziehen kann. Indem sie etwas Sekundäres ist, kann sich das Selbstsein im Genuss immer getrennt davon finden. Es ist nicht »Individuation eines Begriffes« (TU164). Das Subjekt ist »Ablehnung des Begriffes« (TU164) und »Nichtteilhabe an der Gattung« (TU165). Auch jedes Konzept, welches das Individuum nicht von einem abstrakten, sondern von einem lebendigen Begriff her versteht, einem allgemeinen Vernunftvollzug, und dabei der individuellen Existenz keine letzte Bedeutung zuschreibt, scheidet für Levinas aus. Dies folgt für ihn nicht nur aus der Analyse der ethischen Beziehung, sondern allein schon vom Phänomen des Genusses her, der wesentlich etwas Persönliches ist. Das Glück, liege es im bloßen Genuss oder in einer ethisch qualifizierten Freude, ist für Levinas dadurch, dass es etwas wesentlich mich Beglückendes, ein Für-mich, darstellt, nur sinnvoll verstehbar als Glück eines Individuums. 1043 Darüber hinaus liegt für Levinas in der Unabhängigkeit des Genusses von der Vernunft eine Überwindung der Vorordnung eines universalen Standpunktes vor den perspektivischen und asymmetrischen Standpunkt: »Die Empfindung reißt jedes System nieder« (TU77). Levinas stellt heraus, dass der Genuss unmittelbar die Unabhängigkeit vom Sein verkörpert (TU166 f.), indem es ihm nicht um das Sein geht, sondern um sich, und indem für ihn das Sein selbst Objekt des Genusses ist (TU155–157). Nur als ein solchermaßen sowohl vom Sein als auch von jedem sonstigen übergreifenden Universalen ursprünglich Unabhängiges, kann das Subjekt offen sein für die Infragestellung durch den Anderen, wie Levinas sie analysiert. Und ausgehend von dieser Beziehung zum Anderen und der für sie erforderlichen Trennung kann Levinas den Sinn und die Notwendigkeit dieser am Genuss selbst unmittelbar erlebbaren Charakteristika erhellen. Bevor vom hier dargestellten Grundgedanken her die Bedeutung des Leibes für die Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen untersucht wird, müssen im Folgenden die sich auf der Basis des Genusses erhebenden selbstbezogenen, vor der Ethik stehenden Vollzüge des Selbst sowie deren Abhängigkeit von einer vorethischen Beziehung zum Anderen behandelt werden. Erst in ihnen kommt die Trennung zu der Entfaltung, von der aus eine Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen möglich ist. 1043 Vgl. TU160: »[W]eil das Leben Glück ist, ist es persönlich«. Vgl. auch TU167 u. oben, S. 480 f.

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

2.3.5 Leiblichkeit als Wohnen Schon in Vom Sein zum Seienden hat Levinas die Vorgängigkeit der Wohnung zu jedem finalen Gebrauchen herausgestellt – in Entsprechung zum Genuss und ebenfalls gegen Heideggers Sicht auf die Welt als sogenanntes Zeug: Bevor sie als Gebrauchsgegenstand betrachtet werden kann, ist sie ein »›Zu-Hause‹« (VS50). Levinas beschreibt dieses Zuhause ausführlich als leibliche Gründung des Subjekts an einem Ort und hebt dessen Vorgängigkeit zum Bewusstsein hervor (VS83–88). Er fasst es hier jedoch noch nicht ausdrücklich unter dem Begriff des Wohnens und sein Verhältnis zum Genuss wird noch nicht bestimmt. Auch die Darstellung seiner Theorie des Wohnens soll im Folgenden von Totalität und Unendlichkeit ausgehen. Levinas macht auf das Phänomen aufmerksam, dass uns die Welt nicht nur Nahrung ist und nicht nur Mittel für unser Tun, sondern uns auch ein Zuhause bietet (TU217 f.). Dieses Zuhause, etwa konkret ein Haus, kann zwar auch selbst Gegenstand des Genusses werden, aber darin geht seine Bedeutung nicht einfach auf. Ebenso kann es als ein Mittel innerhalb der Finalität des Lebens gebraucht werden und etwa zum Schutz vor dem Wetter dienen. Aber bevor es Mittel für unsere Tätigkeit ist, ermöglicht es schon die Tätigkeit selbst. Für Levinas muss alle Tätigkeit von einem Zuhause ausgehen. »Der Mensch verhält sich zur Welt wie jemand, der zu ihr von einem privaten Bereich her gekommen ist, von einem Zu-Hause, in das er sich jeden Augenblick zurückziehen kann.« (TU218) Levinas beschreibt dieses Zuhause zunächst so, dass es nicht nur das Beisichsein eines nackten unleiblichen Subjektes ist, wie man es etwa von der Vorstellung her konzipieren könnte, sondern schon eine konkrete leibliche Verortung, vorgängig zu jeder Vorstellung des Ortes (TU218 f.). In dieser Verortung befindet sich das Subjekt freilich schon im Genuss. In der Abhängigkeit von der Nahrung bedeutet der Genuss neben der Unabhängigkeit des Subjekts zugleich die Einbindung an einen Ort. Was Levinas mit dem Wohnen meint, geht darüber hinaus. 1044 »Das 1044 Vgl. TU222: »Das einfach Leben von …, die spontane Annehmlichkeit der Elemente, ist noch nicht das Wohnen.« An manchen Stellen verschwimmt freilich diese Unterscheidung, etwa in TU41 f., wenn Levinas hier die ursprüngliche Form des Selbstbezuges in der Beziehung zur Welt als »Aufenthalt in der Welt« und »Wohnen« benennt. Wenn Levinas schreibt, die »eigentliche Weise, sich zu halten, ist das Wohnen«, dann ist das nicht falsch, weil das Wohnen auch ein Sichhalten an einem Ort ist und von hierher die Einbindung des Ich in die Welt verdeutlicht werden kann. Er

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Leiblichkeit als Wohnen

Haus bedeutet nicht die Verwurzelung des getrennten Seienden im Boden, um es in pflanzenartigem Austausch mit den Elementen zu belassen.« (TU224) Das Wohnen ist schon ein »Rückzug aus den Elementen« (TU219), eine »Extraterritorialität« (TU215). Levinas spricht von einer »Sammlung« und versteht sie »im geläufigen Sinn des Wortes« als »eine Unterbrechung der unmittelbaren durch die Welt hervorgerufenen Reaktionen zugunsten einer größeren Aufmerksamkeit auf sich selbst, auf die eigenen Möglichkeiten und auf die Situation« (TU220). Nur in diesem Abstand ist das Subjekt von der Notwendigkeit der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung befreit. Nur so kann der Genuss aufgeschoben werden, kann es zur arbeitenden Sicherung des Genusses und zur Entfaltung des Bewusstseins kommen. Auf diese Weise besteht eine Vorgängigkeit des Wohnens in einem Abstand im Verhältnis zur Arbeit und zur Vorstellung. Der Rückzug ereignet sich dabei nicht auf eine Weise, »als ob ich einfach aus diesen Elementen herausgerissen wäre«, er »vernichtet nicht die Beziehung mit den Elementen« (TU224). Nur so kann er Ausgangspunkt sein für ein arbeitendes Zugreifen auf die Elemente. Da das Subjekt weiter aus dem Genuss lebt, weiter genießt und der Genuss wesentlich ein unmittelbarer ist, muss man den Abstand so verstehen, dass das Subjekt zu sich selbst als dem, das aufgeht im Genuss, zugleich einen Abstand hat. Wie das Genusssubjekt vollzieht sich auch sein Rückzug, obgleich dieser gerade darin besteht, sich aus der unmittelbaren Abhängigkeit von den Elementen zu lösen, nicht nur als etwas rein Innerliches, sondern konkret materiell, vermittels einer Bleibe in der Welt. Wie sich das Leben-von-… auf die Nahrung, das Materielle, bezieht, hat auch das Wohnen einen ›intentionalen‹ Bezugspunkt: eine bestimmte Konfiguration im Materiellen, die Wohnung, das Haus. Bevor das Subjekt die Wohnung vorstellt ist es in der vorgegenständlichen Intentionalität des Wohnens auf sie bezogen, in »einer spezifischen Intentionalität der Konkretisierung« (TU219), die wie die Nahrung das Bewusstsein im Phänomen eines Überfließens über die Vorstellung erreicht. Wie schon das Materielle nicht einfach die Ursache ist für das Geschehen der Nahrung, so gilt auch hier: »Die Isoübergeht jedoch, dass das ursprüngliche, dem Wohnen noch vorgängige Sichhalten bereits im Genuss stattfindet. Vielleicht hängt die Beschreibungsweise hier auch damit zusammen, dass man den Genuss selbst schon als Aufenthalt in der Welt – freilich in einer noch ganz unbehausten Weise – ansehen kann. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Phänomenologie der Leiblichkeit anhand der selbstbezogenen Leibvollzüge

lierung des Hauses erweckt die Sammlung […] weder auf magischem Wege noch ruft sie sie ›chemisch‹ hervor. Man muß die Termini umkehren: Die Sammlung […] konkretisiert sich als Existenz in einer Bleibe […]. Weil das Ich existiert, indem es sich sammelt, sucht es empirisch Zuflucht in einem Haus.« (TU220) Erst von der Sammlung her wird das Haus auch als privater Raum und Rückzugsort konnotiert. Zugleich bestimmt aber die Konkretion die Gestalt der Versammlung, fügt ihr in der Abhängigkeitsbeziehung etwas hinzu, was in ihr nicht schon enthalten und aufgrund der Entzogenheit des Materiellen auch nicht herleitbar war: »[D]ie ›Konkretisierung‹ reflektiert nicht nur die Möglichkeit, die sie konkretisiert, um die in dieser Möglichkeit enthaltenen Artikulationen zu explizieren«, sie »öffnet neue Möglichkeiten, die nicht analytisch in der Möglichkeit der Versammlung enthalten waren, die aber für ihre Energie wesentlich sind und sich erst zeigen, wenn sie sich entfaltet« (TU220). Das Wohnen bestimmt sich sowohl aus der Bewegung des Subjekts als auch durch die materielle Konfiguration, von der es abhängig ist. In dieser Verbindung entsteht der Zusammenhang zwischen innerer Sammlung und äußerem Aufenthalt an einem Ort, der »Ansiedlung am Rande einer Innerlichkeit« (TU234). Auch ist ihr entsprechend das Hinausgehen aus der Innerlichkeit in die Welt mit dem Verlassen des privaten Bereichs der Bleibe und der Rückzug in die Innerlichkeit mit dem Rückzug in ihn verbunden (TU218). Ähnlich wie Levinas die phänomenologische Analyse des Materiellen von der Beziehung konkret zu den Elementen, dem Wasser, der Luft usw., ausgehen lässt und sich daher die Bezeichnung für das Materielle ergibt, geschieht dies in der Analyse des Wohnens, die konkret am Verhältnis zu einer Wohnung, einem Haus ansetzt. Es geht ihm dabei freilich um etwas Grundlegenderes, das an diesem Verhältnis nur greifbar wird. Das Wohnen vollzieht sich zwar auch durch das Gebäude, das bewohnt wird, aber das Geschehen des Wohnens ist nicht einfach an dieses oder jenes Gebäude gebunden. Es scheint sogar überhaupt nicht an ein Gebäude gebunden zu sein. Eine Unabhängigkeit von der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung und eine Möglichkeit der Sammlung eröffnet schon die materielle Konfiguration, die der Leib selbst darstellt. In ihm müssen m. E. zumindest die Ursprünge des Geschehens des Wohnens verortet werden, auch wenn Levinas auffälligerweise nirgends ausdrücklich den Leib selbst als Wohnung anspricht. Dies könnte damit zusammenhängen, dass der Leib als Bleibe nicht auszureichen und selbst einen 692

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Das mütterliche und erotisch ›Weibliche‹

Aufenthalt in der äußeren Welt zu benötigen scheint. De facto verlängert sich jedenfalls das Wohnen im Leib in ein Wohnen an einem Aufenthaltsort, sei dies ein Gebäude oder sonst eine Form der Bleibe.

2.3.6 Das mütterliche und erotisch ›Weibliche‹ Es fällt auf, dass Levinas die Sammlung bei sich als »Intimität« bezeichnet (TU221). Es kann damit zwar auch die Intimität gemeint sein, in der das Ich mit sich intim ist, sie ist für ihn jedoch ausdrücklich auch Intimität mit jemand Anderem. Und zwar ist die Sammlung für ihn nicht nur faktisch dadurch konnotiert, dass der Mensch in sozialen Beziehungen lebt, die ihm ebenfalls so etwas wie ein Zuhause geben, sondern die Sammlung kann sich für ihn nur abhängig von solchen Beziehungen vollziehen. Dafür argumentiert er folgendermaßen (TU220 f.): Die Unabhängigkeit im Wohnen ist mehr als die Unabhängigkeit, die das Subjekt im Genuss hat. Wenn aber diese Unabhängigkeit so verstanden wird, dass sie nicht in sich die Kraft der Distanzierung hat, dass sie nicht in sich schon eine »vollständige Reflexion« (TU220) darstellt, sondern nur in der Abhängigkeit von einem Anderen besteht, so ist dieses Andere ebenso nötig für den Abstand des Wohnens. Die Bestätigung des Subjekts in der Annehmlichkeit des Elements führt jedoch noch nicht zum Wohnen und von ihr soll das Subjekt gerade Abstand nehmen. Auch in der Verunsicherung des Genusses, die schon eine gewisse Distanz zum Genuss bedeutet, ist noch nicht etwas anderes aufgetaucht, von dem her sich das Subjekt von ihm lösen könnte. Diese Lösung ist also nicht möglich, »ohne diese Bestätigung von woanders zu empfangen« (TU221). Die Bestätigung muss entsprechend im Charakter anders sein als die, welche von den Elementen ausgeht, die sich dem Leben-von-… fügen. Sie muss von etwas kommen, von dem das Subjekt nicht lebt, das ihm jedoch ebenso eine Art von Bestätigung zukommen lässt. »Dieser Rückzug impliziert ein neues Geschehen. Ich muß mit etwas in Beziehung gewesen sein, von dem ich nicht lebe.« (TU247) Die beschriebenen Anforderungen findet Levinas in dem erfüllt, was er eine personale »Milde« nennt, »Milde, die aus einer Freundschaft für dieses Ich herfließt« (TU221). »Die Sammlung bezieht sich auf einen Empfang.« (TU221) Damit die Sammlung des Subjekts möglich ist und es nicht schon aus ihr herausgerisLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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sen wird in eine Beziehung zur Transzendenz, darf in dieser Milde der Andere das Subjekt nicht als forderndes Gesicht betreffen; »die Gegenwart des Anderen muß sich vielmehr, gleichzeitig mit dieser Gegenwart, in seinem Rückzug und in seiner Abwesenheit offenbaren. Diese Gleichzeitigkeit ist nicht eine abstrakte Konstruktion der Dialektik, sondern das eigentliche Wesen der Diskretion.« (TU222) »Der Andere, der in der Intimität empfängt, ist nicht das Sie des Antlitzes, das sich in einer Dimension der Höhe offenbart – sondern gerade das Du der Vertrautheit: Sprache ohne Unterweisung, stille Sprache, Verstehen ohne Worte, Ausdruck im Verborgenen. […] Diese Andersheit liegt auf einer anderen Ebene als die Sprache und stellt keineswegs eine verstümmelte, stammelnde, noch elementare Sprache dar. Ganz im Gegenteil, die Diskretion dieser Gegenwart schließt alle Möglichkeiten einer transzendenten Beziehung mit dem Anderen ein. Sie ist nur zu verstehen und übt ihre Funktion der Verinnerlichung nur vor dem Hintergrund der vollen menschlichen Persönlichkeit aus, die indes […] sich gerade zurückzuhalten vermag, um die Dimension der Innerlichkeit zu öffnen.« (TU222 f.) Auf diese Weise ist für Levinas eine über das Aufgehen im Genuss hinausgehende Entfaltung der Trennung von vornherein grundgelegt in einer personalen Beziehung. 1045 Das ursprüngliche Ereignis der Trennung ist freilich unabhängig davon. Entsprechend lässt Levinas das Nahrungsgeschehen selbst nicht durch die raumöffnende personale Zuwendung bestimmt sein, indem er etwa die Nahrung als Gabe beschreiben würde. Ein wirkliches Getrenntsein kann sich für ihn ursprünglich nur unabhängig von der Beziehung zum Anderen ereignen. Dadurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass ausgehend von der sekundären Beziehung zum milden Anderen sozusagen rückwirkend auch die Nahrung konnotiert wird, sei es dadurch, dass sie de facto als von einem Anderen gegeben erlebt wird, oder indem das Ereignis der Trennung im Genuss in den tieferen Horizont des Sozialen eingebunden wird, für den es stattfindet. Eine solche nachträgliche Konnotation des Materiellen beschreibt Levinas selbst in dem, was er »Poesie der Welt« (SN280) nennt – hier als Übertragung der Besessenheit durch den Anderen

1045 In TU216 klingt es so, als ob sich für Levinas die Trennung nur durch das Wohnen und somit durch den Anderen ereignen würde. Es kann hier jedoch nur um die Entfaltung der Trennung gehen.

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auf die Dinge. 1046 In ähnlicher Weise könnten die Nahrung sowie die Bleibe als Gabe konnotiert werden. 1047 Der Leib als wohnender, der Leib im Abstand zum Aufgehen im Genuss, ist für Levinas somit von vornherein ein personales Ereignis. Besonders deutlich macht er dies in Bezug auf die Aufrichtung des Leibes (TU163). Die Aufrichtung ist für ihn die Konkretisierung dessen, dass der Mensch den Leib als Organ zur Realisierung bestimmter Zwecke gebrauchen kann, ist die Konkretisierung des Leibes als Ichkann. Die Aufrichtung gehört von daher zum Ereignis des Wohnens, das sich als Abstand zur Erde ereignet und die Bedingung für die Arbeit darstellt. Indem der Abstand des Wohnens vom Anderen eröffnet ist, ist diese Aufrichtung, diese leibliche Erhöhung, für Levinas Ausdruck und sogar das konkrete Ereignis der Ausrichtung auf den Anderen, auf seine ethische Höhe, die das Ich für das Wohnen zumindest latent getroffen haben muss: »[D]er menschliche Egoismus geht durch den menschlichen Leib über die bloße Natur hinaus; der menschliche Leib ist von unten nach oben gerichtet, er hat die Richtung auf das Hohe eingenommen. Der Leib ist nicht die empirische Illusion dieser Ausrichtung, sondern das ontologische Ereignis und das unauslöschliche Zeugnis. Das ›Ich kann‹ kommt aus dieser Höhe.« (TU163) 1048 Daneben weist auch die spezifische Zeitlichkeit des Wohnens für Levinas auf die Beziehung zum Anderen (TU163). Sie ist über die Beunruhigung durch die Zukunft des Elements hinaus ein Aufschub in Bezug auf diese Zukunft, »Vertagung und Frist« (TU215), ein Zeithaben (TU162 f.). 1049 Die Nahrung kann dem Subjekt diesen Abstand nicht eröffnen, da sie von ihm einverleibt wird, sondern nur der Andere, der sich in einer wesentlich uneinholbaren Zukunft hält. Das Bedürfnis, das Zeit hat, »beruht schon auf dem Begehren« (TU163).

Vgl. dazu unten, S. 779–781. Insofern ist m. E. Bernhard Casper zuzustimmen, der die Leiblichkeit des Wohnens bei Levinas als Gabe interpretiert (1999, 166). 1048 Vgl. dazu auch TU38, wo sich Levinas auf Platons Verbindung der Ausrichtung nach oben mit dem nicht sinnlich Wahrnehmbaren (vgl. Politeia, 529b) bezieht. Vgl. auch DB48: »Nicht, weil die Menschen durch ihren Leib eine Erfahrung des Vertikalen haben, tritt das Menschliche unter dem Zeichen der Hoheit auf, sondern weil das Sein der Hoheit untergeordnet ist, hat der menschliche Leib seinen Ort in einem Raum, in dem das Hohe und das Niedere unterschieden werden«. 1049 Vgl. dazu auch TU209: »Wir werden sehen, wie das Nichts der Zukunft umschlägt ins Intervall der Zeit, in das der Besitz und die Arbeit einrücken.« 1046 1047

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So sehr der Übergang vom Aufgehen im Genuss zum Abstand dazu für Levinas bereits von der Beziehung zum Anderen geprägt ist, so wenig findet hier schon ein Übergang zu einer ethischen Existenz statt. Levinas beschreibt ihn als Schritt vom Vegetativen zum Animalischen (TU162 u. 224). Dies ist zum einen eine Metapher. Levinas nimmt aber darüber hinaus an, dass der Mensch tatsächlich diese Existenzweise mit den Tieren teilt. 1050 Indem er für sie das Betroffensein von etwas über die Nahrung Hinausgehendem, von etwas, das sich einer Einverleibung widersetzt, für notwendig hält, müsste er davon ausgehen, dass auch den Tieren eine soziale Dimension wesentlich ist. Indem für ihn jedoch das Gesicht der Tiere noch nicht die ethische Dimension ausdrückt, müsste die soziale Begegnungsweise bei den Tieren anders beschrieben werden als beim Menschen, dessen milde Zuwendung für Levinas davon geprägt ist, dass der fordernde Ausdruck zumindest latent im Hintergrund anwesend ist. Wie das Wohnen wird ebenso das Phänomen der milden Gastlichkeit des Anderen in Bezug auf eine Konkretion beschrieben und von daher benannt: als Weibliches. Das Diffuse sowie das Fragwürdige dieser Bezeichnung veranlasst dazu, genau zu betrachten, welches Phänomen Levinas hierbei im Blick hat. In Totalität und Unendlichkeit spricht er vom ›Weiblichen‹ auch im Zusammenhang mit dem Eros. Es lassen sich zwar über die Bezeichnung hinaus verschiedene Übereinstimmungen zum ›Weiblichen‹, das als Bedingung des Wohnens beschrieben wird, feststellen, zugleich bestehen jedoch wesentliche Unterschiede, die eine Abgrenzung erforderlich machen. Zumindest in Andeutungen nimmt Levinas eine solche Abgrenzung selbst vor. Indem der Eros bei Levinas ebenfalls eine wichtige Form des auf eine Art noch selbstbezogenen Subjektvollzugs darstellt und der Leiblichkeit in ihm eine zentrale Bedeutung zukommt, soll im Folgenden die im Kapitel zur Problematik des Es-gibt bereits vorgenommene Beschreibung des Eros durch die Beschreibung des erotisch Weiblichen ergänzt und die nähere Bestimmung des Weiblichen des Wohnens in Unterscheidung zu diesem betrachtet werden. Levinas beschreibt beide Gestalten des ›Weiblichen‹ als »Ohnmacht« (TU215 u. 373) und »Milde« (TU216 u. 373). Während das Weibliche im Eros für ihn aber von einer Schwäche gekennzeichnet ist, der man »zu Hilfe kommen« (TU372) möchte, und zwar in einer Liebkosung (TU375), soll in Bezug auf das andere Weibliche damit 1050

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Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 628 f.

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ausgedrückt werden, dass es nicht als forderndes Gesicht, sondern als raumgebende Freundlichkeit auftritt und die Sammlung nicht durch eine »Kraft der Gegensetzung« (TU216) hervorruft. Zwar wird auch die Beziehung zum erotisch Weiblichen so beschrieben, dass sie auf eine Art eine Beziehung zum Gesicht ist, dessen fordernder Charakter zugleich zurückgenommen ist. Er spricht von einer »Flucht inmitten seiner Erscheinung« (TU373). Ähnlich sagt er über das Weibliche im Wohnen, dass »dessen Anwesenheit auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist« (TU222). Während jedoch in diesem das Gesicht nur latent da ist, muss es das Ich im erotisch Weiblichen schon ganz getroffen haben und wird erst auf dieser Basis zurückgenommen (TU384). Levinas beschreibt dieses deshalb als »Schamlosigkeit« (TU374), der man mit einer »Respektlosigkeit« (TU384) begegnet. Es hat für ihn zudem etwas Animalisches, Unernstes und Spielerisches. »Das Antlitz wird stumpf und in seiner unpersönlichen und ausdruckslosen Neutralität geht es in zweideutiger Weise in das Animalische über. Die Beziehungen mit dem Anderen werden gespielt – man spielt mit dem Anderen wie mit einem jungen Tier.« (TU387 f.) In der Vorgängigkeit zur Moral, als Ermöglichung erst der Trennung, findet gegenüber dem Weiblichen des Wohnens keine Zurücksetzung der Dimension der ethischen Heiligkeit statt. Für das eine spricht Levinas von »Profanation« (profanation bedeutet ›Entweihung‹) (TU374/TI234), für das andere von »Diskretion« (TU222). Beim einen präsentiert sich das Antlitz in einer »Zweideutigkeit« (TU374), beim Anderen in einer Art Latenz. Zwar kommen beide darin überein, dass sie anders als die Beziehung zum Gesicht eine Art von Genuss eröffnen. Während aber das Weibliche des Wohnens der Immanenz des Ich zur Entfaltung verhilft und es in der Immanenz einer Befriedigung belässt, ist der Genuss, den Levinas in der Liebkosung oder der Wollust beschreibt, einer, der zugleich die Struktur des Begehrens hat. Die Wollust besteht für Levinas darin, dass sie sich an der Wollust des Anderen freut (TU389 f.). Indem das Subjekt so etwas außerhalb seiner selbst sucht, befindet es sich in einer Transzendierungsbewegung auf ein Uneinholbares, in welcher der Hunger in der Annährung wächst (TU375 f.). Das Subjekt ist für ihn dabei freilich nicht einfach bezogen auf die andere Person, sondern auf eine jenseits des Gesichts liegende und dieses profanierende und relativierende Dimension, die dann auch das Selbst in sich hineinzieht. »Ein gestaltloses Nicht-Ich reißt das Ich mit in eine absolute Zukunft, in der es sich entflieht und seine Position als Subjekt einbüßt.« (TU379) Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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»Neben der Nacht im Sinne des anonymen Brausens des Es gibt erstreckt sich die Nacht des Erotischen, […] des Versteckten, des Heimlichen, des Geheimnisvollen, das Vaterland des Jungfräulichen« – Jungfräulichkeit als »unaufhörlicher Neuanfang«, als Zukunft dessen, »was noch nicht ist« (TU377). Levinas bezieht sich hier zum einen auf das Phänomen einer Entäußerung der Subjekte im Eros in eine jenseits der Person liegende Dimension. Zum anderen lässt er, wie dies schon im Zusammenhang seiner Beschreibung einer Befreiung aus dem Es-gibt durch den Eros kritisch beleuchtet wurde 1051, im erotisch Weiblichen unmittelbar die Dimension der Fruchtbarkeit, der Entstehung neuen Lebens, anwesend sein. Wie dort ebenfalls hervorgehoben wurde, findet in dieser Transzendierungsbewegung zwar keine bloße Depersonalisierung statt, aber doch eine Lösung des Subjekts von sich. Im Unterschied dazu liegt im Weiblichen des Wohnens durch die Weise, wie es sich an das Subjekt für es selbst wendet, die Ermöglichung der Sammlung bei sich. Es richtet sich auf das Ich in einer »Freundschaft« (TU221). Von ihr unterscheidet Levinas den Eros, der sich nicht einfach auf den Anderen, sondern auf eine Dimension jenseits von ihm bezieht: »Die Freundschaft richtet sich auf den Anderen, die Liebe sucht, was nicht die Struktur des Seienden hat« (TU389). Das Freundschaftliche ist wohl auch gemeint, wenn Levinas von der »weiblichen Anmut« spricht – m. E. muss man hier die in »grâce« enthaltene Bedeutung von ›Gnade‹ mithören (TU216/ TI125). Das erotisch Weibliche grenzt er davon ab, wenn er sagt, dass es in seiner Milde zwar dem »Anmutigen« ähnelt – auch in »le gracieux« schwingt für Levinas wohl die Konnotation ›Freundliches‹, ›Gnadenvolles‹ mit –, durch die profanierende Abgründigkeit jedoch unterschieden ist (TU375/TI234). Eine weitere zumindest andeutungshafte Unterscheidung der beiden Gestalten des Weiblichen findet sich bei Levinas, wenn er schreibt: Das Weibliche des Wohnens ist »nicht das verwirrende Mysterium der animalischen und katzenhaften Präsenz, deren eigentümliche Zweideutigkeit zu beschwören Baudelaire sich gefällt« (TU223). Er setzt hier offenbar einen Unterschied nicht nur zu Baudelaire, sondern auch zum von ihm beschriebenen erotischen Weiblichen. Für seine Beschreibungen des Weiblichen des Wohnens bezieht sich Levinas als Konkretion nur ganz allgemein auf eine Frau im Haus. Es klingt so, dass er dabei das für ihn reale Phänomen der 1051

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Vgl. dazu oben, S. 377 f.

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Hausfrau im Blick hat. Auch hierdurch wird die Unterscheidung des Weiblichen des Wohnens vom Weiblichen des Eros verdeckt, da in diesem Phänomen beide Dimensionen enthalten sind. Die dargestellte Verschiedenheit beider legt m. E. nahe, das Weibliche des Wohnens eher in die Richtung dessen zu deuten, was Levinas in einem anderen Zusammenhang als Mutterschaft bezeichnet, wenngleich er in den Beschreibungen dieses Weiblichen nie ausdrücklich auf das Phänomen der Mutterbeziehung referiert. Dies geschieht nur unabhängig davon, wenn er als Ergänzung zum Begriff der Vaterschaft, als ethischer Einsetzung des Subjekts, den »Begriff der Mutterschaft« einführt, als Ausdruck des behütenden »Rückhalt[es]«, den das Kind in seinen Eltern hat, das seine Existenz noch nicht selbst übernimmt, sondern sie »spielt« (TU407). In dieser Mutterschaft lässt sich m. E. das Weibliche des Wohnens wiederfinden, indem es in ihm ebenso um die Eröffnung einer der Verantwortung noch vorgängigen Identität des Subjektes geht. Fragwürdig ist zwar, wie Levinas die raumgebende personale Zuwendung mit Weiblichkeit verbindet und so überkommene Geschlechterrollenvorstellungen festzuschreiben scheint. Daran ändert auch nichts, dass er ausdrücklich nicht behaupten möchte, »jedes Haus setze de facto eine Frau voraus«, sondern es ihm nur um eine »Dimension des Weiblichen« (TU226), um ein Seinsgeschehen, eine »köstliche Ohnmacht im Sein« (TU223), geht und diese für ihn etwa auch im Unendlichen liegt. 1052 Die phänomenologische Analyse dieser Dimension der Beziehung zum Anderen kann jedoch auch unabhängig von der geschlechtlichen Zuschreibung in der Benennung als Weibliches betrachtet werden. Ebenso sind zumindest einige Momente seiner Phänomenologie der Beziehung zum Anderen im Eros unabhängig von bestimmten Geschlechterrollenvorstellungen. Zu würdigen ist an Levinas’ Beschreibungen, dass er sie ganz aus seiner individuellen Perspektive heraus vornehmen und sich nicht in eine scheinbar neutrale Position begeben möchte. Die von ihm so empfundene Unmöglichkeit, sich in die Perspektive einer Frau zu versetzen, macht, neben dem, dass sie Gesicht ist, die spezifische Weise aus, wie er sich in der geschlechtlichen Beziehung von der uneinholbaren Anderheit betroffen erlebt. Das Desiderat einer Beschreibung der Geschlechterdifferenz auch aus der anderen Perspektive, in Bezug auf

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Vgl. oben, S. 563 f.

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das Männliche, deutet er an. 1053 Freilich steht auch hier die zu hinterfragende Vorstellung im Hintergrund, man könne allgemein von Männlichkeit, von Weiblichkeit und von einer wesentlichen Unterschiedenheit von zwei Geschlechtern sprechen. In Zusammenhang mit beiden Formen des ›Weiblichen‹ werden Beziehungsweisen beschrieben, die, indem sie noch von einer Orientierung auf sich selbst geprägt sind, unterschieden sind von der Beziehung zum Gesicht als dem eigentlichen Zugang zum Unendlichen, die aber dennoch die Beziehung zum Unendlichen mitbestimmen. Wie sie sich genauer zur ethischen Beziehung und zu der zum Unendlichen verhalten und welche Rolle hierbei die Leiblichkeit spielt, wird im Kapitel über die religiöse Bedeutung des Leibes besprochen werden.

2.3.7 Der Leib als Ich-kann (Besitzen und Arbeiten) und die Konstitution des Dinges Oben wurde herausgearbeitet, wie im Genuss ein der Vorstellung vorgängiges Fühlen, eine vor jedem aktiven Zugreifen liegende Verfügung über die Nahrung sowie das Element des Bedürfens enthalten sind und wie diese eine mögliche Basis darstellen für die Entfaltung des Theoretischen, Praktischen und Voluntativen. Nachdem die Bedingung für diese Entfaltung, die Abstandnahme im Wohnen, dargestellt wurde, kann nun genauer verfolgt werden, wie sie sich vollzieht. Levinas beschreibt dabei nicht nur das, wovon seine transzendentalphänomenologische Rückfrage den Ausgang genommen hat, und behauptet, dass es sich aus dem entfaltet, was in dieser Rückfrage sichtbar wurde, sondern versucht einsichtig zu machen, wie es zur Entfaltung kommt. Das Bedürfen erfährt schon eine gewisse Wandlung dadurch, dass der Genuss durch die Abhängigkeit vom sich fügenden, aber zugleich sich entziehenden Elementalen über seinen paradiesischen Zustand der Stillung des Bedürfnisses hinaus immer schon von der Nichtbefriedigung bedroht und der Not und dem Schmerz ausgesetzt 1053 Vgl. ZA13, im späteren Vorwort zu ZA von 1979, in Bezug auf die Anderheit im Weiblichen: »[M]an müßte sehen, in welchem Sinne sich das auch von der Männlichkeit oder von der Mannhaftigkeit, das heißt, vom Unterschied der Geschlechter allgemein, sagen ließe«.

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ist. 1054 Durch das Wohnen kann das Subjekt dann sowohl gegenüber dem Genießen als auch der Not in einen Abstand treten. Auf »der Grundlage der Bleibe bricht das getrennte Seiende mit der naturhaften Existenz, die in einem Milieu badet, in dem der Genuß, ohne Sicherheit und verkrampft, sich in Sorge verwandelt« (TU224). Der Drang des Bedürfnisses, unmittelbar gestillt werden zu müssen, wird in der vom ›Weiblichen‹ getragenen Sammlung unterbrochen und die Sorge entkrampft. Die Notwendigkeit der Stillung wird nicht ganz überwunden, aber zumindest aufgeschoben. Das Wohnen ist ein »Aufschub des Genusses« (TU225) und ein »Aufschub des Verfalls« (TU237). Indem die Bedrohung bleibt, wird das Subjekt zur Sicherung des Genusses veranlasst. Seine Fähigkeit dazu kann es nun auf der Basis des Abstandes realisieren. Da es von der unmittelbaren Abhängigkeit befreit ist, kann es auf die Möglichkeiten der Sicherung aufmerksam werden 1055, kann es im eröffneten Freiraum dafür in Aktion treten 1056, kann es den Genuss aufschieben, die Nahrung dem unmittelbaren Genuss entziehen und als Besitz für künftigen Genuss sammeln. 1057 Die Wohnung ist dabei für Levinas auch insofern Bedingung, als es ihrer als Ort der Aufbewahrung der Nahrung bedarf, damit die Hand frei ist für die Arbeit. 1058 Die Besitznahme der Nahrung ist für ihn die ursprüngliche Weise, in der das Subjekt in Aktion tritt oder, wie er meist sagt, in der es arbeitet. »Dieser Zugriff, der am Elementalen stattfindet – ist die Arbeit.« (TU227) Das Genießen als 1054 Vgl. dazu oben, S. 617 f. u. 624 f. Dies geschieht für Levinas durchaus schon vor dem Wohnen. Das Wohnen ist »ein Rückzug aus den Elementen (d. h. aus dem unmittelbaren, aber schon ob des Danach beunruhigten Genusse)« (TU219). Vgl. auch TU221, 227 u. 237 f. 1055 Vgl. in TU220 die Bestimmung des Wohnens als »Aufmerksamkeit auf sich selbst, auf die eigenen Möglichkeiten und auf die Situation«. In der Vorgängigkeit des Wohnens zu jeder Vorstellung kann es sich nur um eine Art Gefühl für diese Möglichkeiten handeln. 1056 Vgl. TU239: »Die Arbeit kennzeichnet […] ein bedrohtes Seiendes, das indes über Zeit verfügt, um der Drohung zu begegnen.« 1057 Vgl. TU228: Die Arbeit geschieht so, dass »sie ihren Erwerb von dem unmittelbaren Genuß trennt, indem sie den Erwerb in der Bleibe ablegt und ihm den Status eines Habens zuteilt«. Diese Trennung vom Genuss kommt auch in TU232 zum Ausdruck, wenn Levinas über den Besitz schreibt: »[E]r erhält sich, verbraucht sich nicht im Genuß, der verzehrt und verbraucht«, er ist »in einem gewissen Maße das NichtVerzehrbare«. 1058 Vgl. TU232 über den arbeitenden Zugriff auf die Nahrung: Er »legt sie auf Vorrat, besitzt sie in einem Haus. Die Bleibe bedingt die Arbeit. Die Hand, die erwirbt, belastet sich mit ihrer Beute. Sie begründet nicht von sich aus den Besitz.«

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eine Art von Verfügen und Besitzen »ohne zu ergreifen« (TU227), in dem das Subjekt ursprünglich in die Welt eingebunden und in dem ihm zumindest prinzipiell eine Verfügung über alles in der Welt eröffnet ist (TU42), kann durch das Wohnen, indem es dem Subjekt einen Freiraum eröffnet und es zugleich im Kontakt mit den Elementen belässt (TU224 f.), zu diesem »ursprünglichen Zugriff« (TU226) werden. Nach dem dargestellten Rückschritt hinter das Können kann Levinas deshalb den Leib sekundär zum Genießen auch mit der von Husserl übernommenen Bestimmung des Ich-kann benennen. 1059 Das Können und die Arbeit sind dabei jedoch nicht Selbstzweck (höchstens insofern, als sie selbst ebenso Objekt des Genusses sind), sondern sie sind ganz auf den Besitz und den Genuss ausgerichtet. So ist »jede Umwandlung der Welt durch Fleiß und Geschicklichkeit […] eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse« (TU234). Wie sich schon das Wohnen leiblich konkret vollzogen hat, so nun auch die Arbeit. Levinas beschreibt sie als leibliche Aktion durch ein »Organ«, und zwar am Beispiel der Hand (TU228). Die Hand ist für ihn in besonderer Weise das Organ der Arbeit, sodass er dieses entsprechend seiner Neigung zur Verwendung von Realmetaphern manchmal einfach als Hand bezeichnet – natürlich ohne damit sagen zu wollen, dass die Hand das einzige Organ der Arbeit ist. Gemeint ist mit der Hand nicht ein äußeres Werkzeug, dessen sich der Mensch bedient. Ein Werkzeug ist schon ein Ding, dessen sich die Hand bedient (TU232) und das von ihr überhaupt erst aus dem Elementalen herausgegriffen wurde. Gemeint ist mir ihr das Können selbst in seinem konkreten leiblichen Vollzug oder der Leib als Ich-kann. Insofern dieses Können schon im ursprünglichen Verfügen im Genuss angelegt ist, schreibt Levinas nicht, dass durch das Wohnen die Hand erst entsteht, sondern dass dadurch »die Hand […] als Hand auftauchen« (TU235) kann. 1060 Durch das Wohnen wird zum einen die Nah1059 Vgl. etwa TU163, wo Levinas den Leib als Möglichkeit der Arbeit auch als »›Ich kann‹« bezeichnet. In TU90 wird deutlich, dass er diese Beschreibung von Husserl übernommen hat. Darüber hinaus ist für ihn das phänomenologische Überschreiten der Vorstellung hin zur Praxis, die »Verlängerung des Denkens in Leiblichkeit, des Ich denke in Ich kann« der »Prototyp […] für die Kategorie des Leibes oder des inkarnierten Denkens, die zum Teil die gegenwärtige Philosophie beherrscht« (TU295) und die er noch einmal übersteigen möchte mit seiner Analyse des Genießens. 1060 Wenn er schreibt: »Die Hand bringt die elementaren Qualitäten zum Genuß und nimmt und bewahrt sie gleichzeitig für den künftigen Genuß« (TU231), dann bezieht sich der erste Teil evtl. auch auf das im Genuss selbst liegende Verfügen.

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Der Leib als Ich-kann (Besitzen und Arbeiten)

rung zur Verfügung gestellt (TU225), zum anderen aber auch der Leib selbst. Wir besitzen ihn durch das Wohnen als etwas, womit wir arbeiten können. »Wir verfügen über unseren Leib« (TU233) und vermögen vermittels des Leibes überhaupt zu verfügen und zu wirken. So kann Levinas den Leib nicht nur als Können bestimmen, sondern auch sagen: »Der Leib ist der eigentliche Selbstbesitz« (TU162). Dies ist er freilich nicht ursprünglich, sondern erst ausgehend vom Wohnen; »der Leib als nackter Leib ist nicht der erste Besitz, er ist noch außerhalb des Habens und Nicht-Habens« (TU233). Erst das Wohnen eröffnet die Freiheit des Arbeitens. Vermittels der Arbeit kann das Subjekt seine Freiheit außerdem ausweiten, indem es sich weitergehende Handlungsmöglichkeiten erwirbt. In diesem Sinn schreibt Levinas: »Freisein heißt, eine Welt konstruieren, damit man darin frei sein kann.« (TU239) Die Arbeit vollzieht sich vorgängig zur Vorstellung und somit »vor jeder Ausführung eines Plans, vor jeder Projektion eines Entwurfs« (TU228). Sie kann somit keine bewusste und frei gesetzte, sondern nur eine »spontane« (TU227) Tätigkeit sein. Sie kann sich nur nach dem unmittelbaren Gefühl des Genusses und des Bedürfnisses richten, durch welches sie ausgelöst ist. Ohne die Vorstellung kann sie sich nur in der Form eines »ersten und blinden Greifens in das Gewimmel« (TU228) vollziehen. Für Levinas »streckt sich die Hand blindlings aus und macht ihr Ziel aus; dabei ist ein unvermeidlicher Anteil von Glück oder Pech […]. Die Hand ist ihrem Wesen nach Herumtappen […]. Das versuchende Herumtasten ist nicht eine Aktion, die technisch unvollkommen wäre, sondern die Bedingung aller Technik.« (TU241) Der Abstand zu einem beherrschten Tasten »kann mehr oder weniger groß sein; in der durch Gewohnheit eingeübten Geste kann sich die Distanz erheblich zusammenziehen. Aber selbst wenn es sich um eine gewohnheitsmäßige Geste handelt, bedarf es der Gewandtheit und der Geschicklichkeit, um die Gewohnheit zu leiten.« (TU241) Durch die Veränderung der Aktivität ändert sich auch deren ›intentionales Objekt‹. Durch das Ergreifen wird das Element in seinem unabhängigen Auf-mich-Zukommen und in seiner Entzogenheit beherrscht und zur Ruhe gebracht. »Die ungewisse Zukunft des Elements wird suspendiert«, wird zumindest aufgeschoben; das »Element gewinnt Festigkeit […], es kommt im Besitz zur Ruhe« (TU226). Diese Ruhe ist für Levinas der eigentliche Grundcharakter dessen, was man Substanz oder Ding nennt. Die Arbeit setzt das Element »als Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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das, was in der Zeit bleibt und dauert – als Substanz« (TU231). Neben der Suspendierung der ungewissen Zukunft ist es ein Bleibendes auch insofern, als es vom Genuss, »der verzehrt und verbraucht«, entfernt ist (TU232). Durch die Arbeit kommt es, zusätzlich zur Ruhe, zu abgegrenzten Einheiten, und zwar dadurch, dass sich korrelativ zur Bewegung des Ergreifens im Elementalen bewegliche Einheiten ergeben. »Ding ist alles, was man loslösen und forttragen kann. […] Das Ding ist Möbel.« (TU231) Auf diese Weise verliert sich das Element nicht mehr im Nichts, sondern wird als Eigenschaft an einem Etwas aufgefasst. Die Einheiten sind freilich wandelbar: ein Stuhl oder nur sein Stuhlbein oder nur ein Stück des Stuhlbeins. Die Einheiten sind korrelativ zu unserem Vermögen des Ergreifens oder auch Zerbrechens. Das Ergreifen ist das, was das Ding konstituiert. Zum einen bedeutet dies, dass es von sich aus keine Identität hat und sich immer schon auflöst ins bloß Materielle (TU199). Das Ding ist kein Gesicht, das von sich her ein Einzelnes ist. Und es ist als solches nicht zu achten. »Weil das Ding nicht an sich ist, kann es ausgetauscht und folglich verglichen und quantifiziert werden, […] in Geld wiedergegeben werden.« (TU233) Es behält zwar immer ein Eigensein, aber nur als Materie. 1061 Zweitens bedeutet dies, dass die Dinge das, was sie sind, immer in Bezug zu unserem Können sind. Das Ding »bewahrt eine gewisse Proportion im Verhältnis zum menschlichen Leib, eine Proportion, die es der Hand unterwirft« (TU231). Außerdem wird darin deutlich, dass die Dinge ursprünglich nicht durch die Vorstellung konstituiert werden, sondern durch die Praxis. Das Seinsverstehen, die »Ontologie, die das Sein des Seienden ergreift – die Ontologie als Beziehung mit den Dingen und als Erscheinen der Dinge – ist eine spontane und vortheoretische Leistung« (TU227). In der Vorgängigkeit zum Theoretischen sind für Levinas die Dinge ursprünglich »unverständlich« und behalten somit etwas von der Anonymität der Materie (TU229). Erst recht sind sie ursprünglich noch nicht auf das Unendliche bezogen, sondern lediglich auf das eigene Bedürfen und Können (TU229). Die Alterität des Materiellen, die im Genuss als Beunruhigung auftaucht, stellt nun einen Widerstand gegenüber der Arbeit dar. Sie ist allerdings entsprechend der Fügsamkeit im Genuss und im Unterschied zum absoluten Widerstand des Gesichts ein »virtuell über1061 Vgl. dazu sowie überhaupt zum Verhältnis von Materie und Ding oben, S. 622– 630.

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wundener Widerstand« (TU230). Die Materie »widersteht […] nicht direkt, sondern so, als danke sie schon ab« (TU230). Dies bedeutet nicht, dass die Arbeit immer leicht ist. Levinas blendet die »Anstrengung der Arbeit« (TU253) nicht aus. Es bedeutet auch nicht, dass der Arbeit nicht faktisch »ein unüberwindlicher Widerstand« begegnen kann – »als Härte des Felsens, an dem die Anstrengung der Hand zerschellt, als Ferne eines Sterns in der Unermeßlichkeit des Raumes« (TU283). Es bräuchte hier jedoch nur eine größere Kraft, bessere Mittel oder eine längere Zeit der Arbeit. Im Unterschied dazu widersteht der Widerstand des Gesichts – selbst wenn es ein Leichtes ist, den Anderen zu töten – der Macht prinzipiell. Sein Widerstand ist ganz anderer Art: Er stellt die Macht infrage. Nur ihm gegenüber kann die Tätigkeit des Subjekts sinnvoll als Gewalt bezeichnet werden. Es kann »die Arbeit nicht Gewalt heißen« (TU230). Sie richtet sich nur gegen das Unpersönliche. Wenn Levinas von der »Unfrömmigkeit« (TU230) der Arbeit spricht, insofern sie das Es-gibt des Materiellen und somit die mythischen Götter überwindet, dann ist dies nur im übertragenen Sinne gemeint, nur im Sinne der Entzauberung eines uneigentlichen Göttlichen. Der Arbeit kommt dabei zwar die positive Bedeutung zu, dass in ihr die Materie ihre numinose Qualität verliert, dass »der Tod dieser Götter das getrennte Seiende zum Atheismus und zur wahren Transzendenz zurückführt« und sie so die Offenbarung des Unendlichen vorbereitet (TU202). Sie selbst bezieht sich jedoch noch in keiner Weise auf dieses Unendliche. Sie ist Manifestation der Selbstbehauptung des Ich, das noch nicht auf den Anderen hin transzendiert ist. Sie ist eine »Bewegung auf sich zu. Sie ist keine Transzendenz.« (TU229) Gleichwohl kommt der Arbeit neben der Überwindung der falschen mythischen Transzendenz, wie noch zu zeigen sein wird, dadurch eine wichtige Funktion in der ethischen Beziehung und somit in der Beziehung zum Unendlichen zu, als sie den Besitz hervorbringt, über den das Ich infrage gestellt werden und den es dem Anderen geben kann.

2.3.8 Der Leib und das Vorstellen Zur Entfaltung der Trennung in ihrer ganzen Unabhängigkeit gehört für Levinas wesentlich die Vorstellung. Es wurde schon gezeigt, dass für ihn dabei das Bewusstsein nicht überhaupt aus dem Wohnen hervorgeht, sondern in der Form eines Fühlens bereits im Genuss entLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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halten ist. Neben einem gewissen Selbstgefühl findet sich hier ebenso ein Gefühl des Genossenen, eine ursprüngliche Form von Sinnlichkeit. In ihr kann man die Urimpression wiederfinden, den Ausgangspunkt der Konstitution der objektiven Wahrnehmung. Auch kommt es in der Verunsicherung des Genusses schon zu einer gewissen Verbreiterung des Fühlens, indem es nicht mehr rein im augenblicklichen Genuss aufgeht, sondern von der Zukunft des Elements betroffen ist. Die Vorstellung aber, weil in ihr die Welt als etwas zur ruhigen Vorhandenheit Gebrachtes objektiviert wird, setzt für Levinas die Beruhigung des Elements und das Herausgreifen der Dinge durch die Arbeit voraus (TU235). Sie setzt das Wohnen außerdem insofern voraus, als für ihn die der Vorstellung eigene Distanz, in der sie die Welt auf Abstand überschauen kann, die Distanz ist, die sich als Aufschub des Genusses ereignet. Das Bewusstsein ist für Levinas ausgehend von der im Genuss aufgehenden leiblichen Existenz »eine Entleiblichung – oder genauer: ein Aufschub der Leiblichkeit des Leibes. Dies geschieht nicht im Äther der Abstraktion, sondern als das ganze Konkrete der Bleibe und der Arbeit.« (TU239) Das Subjekt ist zwar schon im Genuss setzendes Subjekt und insofern in einer Trennung vom Element. Aber die Distanz zur Wirklichkeit, wie sie in der Vorstellung gegeben ist, findet sich hier noch nicht. Sie muss erst eröffnet werden, und zwar, weil das Subjekt leiblich ist, als leibliche Distanznahme vom Ausgeliefertsein an das Element durch das Wohnen sowie durch die Arbeit, die den vom Wohnen eröffneten Freiraum des Subjekts noch vergrößert. In diesem Sinne kann Levinas sagen: »Bewusstsein haben, genau das heißt, Zeit haben.« (TU239; vgl. auch TU348) Es geht ihm nicht darum, Bewusstsein und Können als etwas kategorial Verschiedenes zu identifizieren, sondern um die Aussage, dass die Distanz des Bewusstseins nicht einfach durch die Vorstellung selbst entsteht. »Bewusstsein bedeutet nicht, in einem Entwurf, der die Zukunft vorwegnimmt, über die Gegenwart hinausgehen, es bedeutet vielmehr, von der Gegenwart selbst einen Abstand haben« (TU239). Es soll nicht gesagt werden, dass die Vorstellung nicht mit einer Protention und sogar einer entwerfenden Objektivierung der Zukunft geschieht, sondern dass die Distanz der Vorstellung, die dafür vorausgesetzt ist, sich ursprünglich ereignet als die Abstandnahme der Bleibe. Daneben ist die Vorstellung insofern von der Arbeit abhängig, als es zu ihr für die Praxis kommt. Sie hat ursprünglich eine praktische Bewandtnis, ist »Möglichkeit, die Zeit zu nutzen« (TU239). Als ein »Vorhersehen der Gewalt, die in die Zeit, die noch 706

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bleibt, hineinsteht« (TU348), sowie als Bewusstsein für die eigenen Möglichkeiten und als Planenkönnen bedeutet sie eine wesentliche Ausweitung der Freiheit gegenüber dem bloß spontanen und blinden Arbeiten. Die Vorstellung beschreibt Levinas hierbei in ihrer Bedingtheit durch die Zeitlichkeit, wie sie sich im leiblichen Geschehen der Trennung ereignet. Deren Gestalt hat sich bis dahin über verschiedene Etappen entwickelt. Dem Genuss selbst kommt eine Zeitlichkeit zu, insofern er sich als fortgesetztes Sichnähren ereignet und insofern er auf die Nahrung als diachron vergangene sowie zukünftige bezogen ist. Trotz der radikalen Diachronie bedeutet die Unmittelbarkeit des Genusses freilich zunächst einmal ein Aufgehen im Augenblick. Erst in der Bedrohung durch die Unsicherheit ereignet sich ein Betroffensein durch die Zukunft. Es ist ein zur Vorstellung vorgängiges, im Gefühl der Furcht liegendes Betroffensein: eine »Zeit, die früher ist als die Vorstellung – nämlich Drohung und Zerstörung« (TU201). Von ihr unterscheidet Levinas die »Zukunft in ihrer Bedeutung als Vertagung und Frist […] – Aufschub und Frist, durch die hindurch die Arbeit über die Ungewißheit und Unsicherheit der Zukunft Herr wird« (TU215) – die Zeitlichkeit des Wohnens. Erst in dieser Frist, in diesem Abstand, kann die Vorstellung auftauchen mit der ursprünglichen praktischen Bewandtnis als Zeithaben. In der Vorstellung kommt es dann auf der Basis dieses zu ihr vorgängigen Bezogenseins auf die Zukunft sowie daneben auf der Basis des diachronen Bezugs des Empfindens auf die Vergangenheit zur Synchronisierung der Zeit in Retention und Protention und in einem zweiten Schritt zu einer Objektivierung von Vergangenheit und Zukunft. Wenn Bewusstsein für Levinas bedeutet, »von der Gegenwart selbst einen Abstand haben« (TU239), dann meint dies nicht ein zeitliches Früher zur Gegenwart. Das Bewusstsein ist sogar nachträglich zum unmittelbaren Betroffensein. Es ist vielmehr der Abstand gemeint, der darin liegt, nicht unmittelbar dem Element ausgesetzt zu sein, in dieser Unabhängigkeit über es verfügen, es vorstellen und insofern dem IhmAusgesetztsein zuvorkommen zu können. In die Nachordnung des vorstellenden Bewusstseins zur Arbeit fügt sich die Kinästhesen-Theorie ein, die Levinas von Husserl übernimmt: 1062 die Beobachtung, dass die Anordnung der Empfindungen zu einer Vorstellung deren Einbindung in eine leibliche Bewegung 1062

Vgl. dazu oben, S. 339–341.

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und das vorgegenständliche Erleben dieser Bewegung voraussetzt. Die leiblichen Bewegungen liefern für Levinas ein ursprüngliches Verständnis der räumlichen und kategorialen Ordnung der Welt sowie darüber hinaus – hierfür bezieht er sich auf Merleau-Ponty – auch ein Verstehen für die kulturell gewachsenen Bedeutungen, in denen die Dinge der Welt immer schon situiert sind. 1063 Das Denken bringt nicht die Welt hervor, indem es sie in einer unleiblichen transzendentalen Operation aus Bedeutungen konstituiert, sondern es vollzieht sich ursprünglich als leibliche Geste, es »geht auf Abenteuer aus, sofern es weder von einer vorherigen Vorstellung noch von diesen Bedeutungen noch auch von den zu artikulierenden Sätzen ausgeht. Das Denken arbeitet also gewissermaßen im ›Ich kann‹ des Leibes.« (TU297) 1064 Neben einer anderen Auffassung des Denkens ergibt sich daher zudem eine andere Auffassung der Sprache. Sie ist nicht allein Ausdruck eines innerlich Vorgestellten, sondern das Vorgestellte ist selbst von leiblichen Sprachvollzügen bedingt, in denen sie sich zunächst ereignet (TU296 f.). Die Abhängigkeit der Vorstellung von der Bleibe beobachtet Levinas auch in Bezug auf deren Möglichkeit, sich selbst als alleiniges Konstituens seiner Objekte zu betrachten (TU245). Diese Möglichkeit liegt zum einen daran, dass die Dinge als vorgestellte tatsächlich vom Subjekt konstituiert sind. Dass dieses die vorgängige Abhängigkeit von der Passivität des Empfindens und noch früher die Abhängigkeit seiner Aktivität selbst von der Nahrung vergessen kann, setzt aber außerdem voraus, dass es durch die Bleibe von ihr einen Abstand bekommen hat, dass sie aufgeschoben ist. Levinas geht darüber hinaus davon aus, dass diese Möglichkeit letztlich erst dann gegeben ist, wenn das Subjekt durch die Infragestellung durch den Anderen vollständig unabhängig gemacht wurde von der Orientierung auf den Genuss (TU246–249). Wenn Levinas in diesem Zusammenhang auf die Bedingtheit der Vorstellung durch die Beziehung zum Anderen aufmerksam macht, dann unterscheidet er zwischen der Bedingtheit durch das ›Weibliche‹, welches allererst den Aufschub des Genusses eröffnet, in dem sich die distanzierte Vorstellung ereignen kann, und der Bedingtheit der interessensfreien Vorstellung durch das Betroffensein durch das Gesicht (TU247). Es wurde schon ausführlich dargelegt, wie Levinas 1063 1064

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Vgl. dazu oben, S. 598–601. Vgl. dazu auch oben, S. 598–601.

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für die Abhängigkeit der Einstellung einer kritischen, von Eigeninteressen unabhängigen Wahrheitssuche von der Infragestellung durch den Anderen argumentiert. 1065 Dass die Potenz der Vorstellung, sich völlig von der Nahrung unabhängig zu sehen, nur durch beide Momente zusammen eröffnet wird, erklärt, weshalb Levinas es hier so darstellt, dass die Vorstellung insgesamt erst durch die ethische Infragestellung entsteht. Und doch weist die genannte Unterscheidung auf zwei Stufen der Entwicklung der Vorstellung. Zunächst einmal beschreibt Levinas die Entstehung des Bewusstseins als eines in der Unabhängigkeit der Praxis sich haltenden und auf diese Praxis ausgerichteten. Dieses ist zwar durch die Beziehung zum Anderen bedingt, aber zu ihm als dem die ethische Forderung zurückhaltenden und das Subjekt in seiner Selbstbezogenheit belassenden ›Weiblichen‹. Tatsächlich lässt sich eine Art von Vorstellung denken, die noch nicht in die kritische Distanz einer interessensfreien Wahrheitssuche getreten ist, und es würde nicht recht einleuchten, weshalb diese erst aus der Infragestellung durch den Anderen entstehen können soll, zumal Levinas selbst hinreichend die Möglichkeiten deren Entstehung rein innerhalb der Arbeit beschreibt. Nur so ist zudem nachvollziehbar, wie er die Vorstellung und das Denken nicht nur als Formen des metaphysischen Begehrens, sondern wesentlich als Weisen der selbstbezogenen Unterdrückung des Anderen darstellen kann: »›Ich denke‹ läuft auf ›Ich kann‹ hinaus – auf eine Aneignung dessen, was ist, auf eine Ausbeutung der Wirklichkeit.« (TU55) Bewusstsein und Wissen bedeuten für Levinas Macht. 1066 Für die Entfaltung der Vorstellung in der Form eines noch selbstbezogenen Bewusstseins könnte als ein Faktor auch das Scheitern der Praxis eine Rolle spielen, welches Levinas als Begründung für die Entstehung der Vorstellung in der Form einer interessensfreien Ausrichtung auf Wahrheit verständlicherweise nicht gelten lässt. Wenn er dabei zurückhaltend bemerkt, dass die Hemmung der Praxis das Wesen der Theorie nicht »erschöpft« (TU244) und den spezifischen Charakter der kritischen Vorstellung »nur oberflächlich« übersetzt (TU244), zeigt dies m. E., dass für ihn dieses Moment doch zumindest ein Stück weit seine Berechtigung besitzt. Vgl. oben, S. 331–333, 359–361 u. v. a. 394–396. Vgl. JS186, wo Levinas vom »mit Wissen oder (was auf dasselbe hinausläuft) mit Macht begabten Ich« spricht. Hier bestimmt Levinas das Bewusstsein auch als »Bewusstsein eines Möglichen, Vermögen, Freiheit«. 1065 1066

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Diese Unterscheidung von zwei Entwicklungsstufen der Vorstellung ist auch nötig, wenn man darauf sieht, dass für Levinas das Bewusstsein in einer gewissen Weise Bedingung ist für die Entstehung der Beziehung zum Anderen. Diese Seite kommt in seinen Texten weniger deutlich zum Vorschein, weil es ihm vor allem darum geht, die Vorgängigkeit der Infragestellung zum Bewusstsein herauszustreichen. Sie ist aber nicht zu übersehen. Die Begegnung mit dem Gesicht wird beschrieben als Erscheinung des Anderen und Durchbrechen der Erscheinung. 1067 Das Bewusstsein des Anderen ist also integraler Bestandteil. Der sittliche Imperativ kommt im Ich nur an als autonom erkannter, bei dem die Autonomie immer zugleich hintergangen wird durch eine Heteronomie. 1068 Die Heteronomie ist vorgängig zu ihrem Bewusstsein und sie ist der Grund für die Autonomie. Sie kommt jedoch beim Ich nur an in der Autonomie. Erst im gebrochenen autonomen Bewusstsein um die ethische Infragestellung bekommt das zu diesem vorgängige Betroffensein durch den Aufruf des Anderen eine ihm entsprechende Bezugnahme im Ich. Wie für Levinas das Subjekt zunächst von der Infragestellung des Anderen betroffen ist, ohne dass diese in ihm wirklich ankommt, wird greifbar in seiner Beschreibung der Beziehung zum ›Weiblichen‹. 1069 In diesem muss der ethische Imperativ auf eine Art das Ich schon treffen, jedoch noch auf eine latente, eine verborgene Weise. Er trifft das Ich, kann aber noch keine ihm entsprechende Einstellung hervorrufen. Erst wenn sich auf der Basis der Begegnung mit dem Weiblichen das Bewusstsein entwickelt, kann der Imperativ das Ich treffen. Das, was das bloß leibliche, man kann auch sagen das animalische Leben, von einem Leben unterscheidet, das zugänglich ist für die Infragestellung durch den Anderen, ist das entfaltete Bewusstsein. Levinas versteht nicht nur die kritische Suche nach wahrer Erkenntnis als Form des metaphysischen Begehrens, sondern er stellt 1067 Vgl. dazu besonders die Beschreibung des Verhältnisses von Phänomen und Gesicht in TU263 f. Vgl. auch TU283 f.: Es »öffnet sich diese neue Dimension in der sinnlichen Erscheinung des Antlitzes. Die bleibende Öffnung der Konturen, die dem Antlitz im Ausdruck eine Form geben, fängt diese Öffnung, die die Form sprengt, in einer Karikatur ein.« Vgl. auch TU90 zur Weise, in der sich der Andere auf das Ich bezieht: Sie »besteht darin, von sich selbst herzukommen, fremd zu sein und sich mir dennoch zu zeigen«. Auch noch in JS338 hebt Levinas dieses »In-Erscheinung-Treten« hervor. In TU wird es zudem sichtbar, wenn Levinas die Beziehung zum Gesicht als Erkenntnis und Erfahrung bezeichnet (TU100; vgl. dazu oben, Anm. 399). 1068 Vgl. oben, S. 443–473. 1069 Vgl. oben, S. 693–695.

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auch die Bedeutung der Vorstellung dabei heraus, und zwar dafür, dass das Subjekt mit dem Anderen in Beziehung und zugleich von ihm getrennt sein kann. »Das erkennende Seiende bleibt vom Erkannten getrennt.« (TU59) Wenngleich sich die Transzendenz in der Erkenntnis nicht durch die Vorstellung, sondern durch die Sprache ereignet, beschreibt Levinas die Erkenntnis als die Weise, wie sich diese Transzendenzbeziehung ereignet, als erkennende Achtung vor dem der Erkenntnis selbst exterioren Sein (TU84 f.). Daneben besitzt die Erkenntnis eine Bedeutung als die Weise, in der das Andere ein Stück weit aus der unmittelbaren Einbindung in die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse gelöst ist. Diese Lösung wird von der Begegnung mit dem Weiblichen als ein Aufschub des Genusses eröffnet, in dem sich das Bewusstsein entfalten kann. Das Bewusstsein ermöglicht dann jedoch noch eine weitergehende Unabhängigkeit, weil es die Möglichkeiten der arbeitenden Vorsorge verbreitert. Die Entstehung des Bewusstseins ist bedingt durch die Distanznahme vom Genuss durch das Weibliche und die Arbeit, aber das Bewusstsein ist auf dieser Basis die Weise, in der sich diese Distanz zum Genuss ereignet und in der sie sich vergrößern kann. Zwar erreicht die Vorstellung die Form, in der es sich das Andere als wirklich Anderes und gelöst von Eigeninteressen gegenüberstellt, die Form der eigentlichen Objektivierung, erst, wenn die Infragestellung bei ihm angekommen ist 1070; diese kommt jedoch nur als Bewusstsein an, setzt also ein gewisses Maß an Bewusstsein und in ihm eine gewisse Distanz zur Bedürfnisbefriedigung schon voraus. Letztlich geht dies freilich alles vom Anderen aus. Man muss es so beschreiben, dass der weibliche Andere durch seine ursprüngliche Befreiung von der unmittelbaren Bindung an den Genuss die Voraussetzungen dafür hervorlockt, das Subjekt als zu achtender Anderer betreffen zu können. Die Zuwendung des Weiblichen eröffnet das Bewusstsein nicht nur als Hilfe für die Praxis, sondern ebenso als Bedingung für die Beziehung zu ihm als Anderem. Im Bewusstsein ist allererst eine Beziehung auf den Anderen als getrennten Anderen möglich und in ihm kann auch die Trennung des Subjekts erst ganz zu ihrer Entfaltung kommen, weil erst mit dem Bewusstsein der freie Wille möglich ist. Zu diesem kommt es zwar 1070 Vgl. TU94: »[D]ie Objektivierung und das Thema, die der objektiven Erkenntnis zugänglich sind, beruhen schon auf der Unterweisung. Die Infragestellung der Dinge im Dialog ist keine Modifikation ihrer Wahrnehmung; sie fällt zusammen mit ihrer Objektivierung.«

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letztlich erst mit der Infragestellung, indem erst diese das Subjekt aus der Genussorientierung löst und vor die Möglichkeit stellt, nicht selbstbezogen zu wollen. Zugleich ist es aber ebenso frei, nicht auf die Infragestellung des Anderen einzugehen, und zwar, weil es seine Freiheit nicht einfach nur als Moment dieser Infragestellung besitzt, sondern aus der unabhängig von ihr als Innerlichkeit des Genusses konstituierten Getrenntheit. Die Weise, wie das Subjekt gelöst ist aus der unmittelbaren Bindung an die Befriedigung eines Bedürfnisses ist das Bewusstsein. Entsprechend ist das Bewusstsein die Weise, wie sich das Subjekt aus der Infragestellung lösen kann. In ihm hat das Subjekt diese absolute Freiheit, nicht von einem Antrieb, sei er Bedürfnis oder Begehren, einfach bestimmt zu werden, sondern rein von sich aus zu wollen. Diese Freiheit wird für das Ereignis des Unendlichen, für die Beziehung von wirklich Selbständigen, vorausgesetzt 1071, weil in ihr die Trennung erst ganz entfaltet ist. Die Entstehung der kritischen Vorstellung ist in ihren verschiedenen leiblichen Bedingungen erhellt worden. Sie muss ausgehen vom im Genuss enthaltenen Fühlen sowie vom vorgegenständlichen kinästhetischen Verstehen. Außerdem setzt sie den Abstand vom Genuss voraus, wie er sich leiblich als Wohnen sowie von ihm aus als Arbeiten ereignet, weil sich nur unter dieser Bedingung das Fühlen zu einem vorstellenden Bewusstsein öffnen kann und das kritische Bewusstsein von diesem bedingt ist. Dies ist es zum einen insofern, als es auf seiner Basis durch die Einsetzung der kritischen Essenz in der Infragestellung entsteht, und zum anderen, weil nur mit ihm diese Infragestellung des Anderen im Subjekt ankommen kann. Zuvor ist die Einsetzung des kritischen Bewusstseins aber noch auf eine weitere Art leiblich bedingt. Levinas macht darauf aufmerksam, dass sich die Begegnung mit dem Anderen »nicht außerhalb der Welt« ereignet, sondern konkret leiblich als Infragestellung des Besitzes und als Gabe des Besitzes (TU252). Von daher ist die der Vorstellung eigene »Universalisierung« in ihrer ursprünglichsten Form »nicht der Eingang einer sinnlichen Sache in ein no man’s land des Idealen, […] sondern das Angebot der Welt gegenüber dem Anderen« (TU252). Diese Form der Universalisierung ist zu unterscheiden von der Universalität des allgemeinen Urteils. Auch in der Entstehung des kritischen Bewusstseins müssen verschiedene Ebenen und Faktoren unterschieden werden. Die Infragestellung führt nur grundsätzlich die 1071

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Vgl. oben, S. 469–471.

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Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe

kritische »neue Energie« (TU244) ein und verwandelt das zunächst rein selbstbezogen Empfundene in eine »gemeinsame Welt« (TU252). Die Infragestellung eröffnet außerdem schon ein autonomes Urteil. Als Urteil, das die Welt nicht nur als gemeinsame, sondern in einer symmetrischen Allgemeinheit begreift, vollzieht es sich jedoch erst vom Dritten her. Nachdem die Trennung ausgehend vom Genuss auf den verschiedenen Stufen ihrer Entfaltung nachvollzogen und von da aus Levinas’ Phänomenologie der Leiblichkeit innerhalb der selbstbezogenen Lebens dargestellt worden ist, soll diese nun, bevor ihre Rolle in der Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen untersucht wird, mit dem Leibkonzept Fichtes verglichen werden.

2.3.9 Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe Die Übereinstimmungen und die Unterschiede zu Fichte sollen im Folgenden entlang der Entwicklung des Leibbegriffs herausgearbeitet werden. Besonders vor diesen für die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung zentralen Vergleichsüberlegungen ist es wichtig, ihre Schwierigkeit und ihre Begrenztheit hervorzuheben. Sie bestehen zum einen, weil auf dem Weg der für die Verständigung über die Sache notwendigen Übersetzung immer Bedeutungsaspekte verloren gehen, und zum anderen, weil jedes Theoriemoment aus dem ganzen Ansatz sowie aus der Methode, die bei beiden Autoren von grundlegenden Differenzen geprägt sind, seine spezifische Bedeutung bekommt und so jede Feststellung einer Übereinstimmung wie auch eines Unterschiedes immer etwas Unrichtiges hat. Man muss dies in Kauf nehmen, will man den Schritt von der Interpretation zum Diskurs über die Sache vollziehen. Begrenzt muss ein solcher Vergleich zudem deshalb sein, weil es zu weit führen würde, alle Differenzierungen, die sich bei den beiden Autoren finden, mit aufzunehmen und in ein Verhältnis zu setzen. Gleichwohl kann die folgende Betrachtung als eine Zusammenfassung der Entfaltung der Leibbegriffe beider Autoren angesehen werden. Für die Beschreibungen der Leiblichkeit, die sich ausgehend von der dargestellten Analyse der Intentionalität in der Urimpression und der Kinästhese ergeben, lässt sich eine weitestgehende Entsprechung zu Fichte feststellen. Auch ihn führt die Frage nach den Bedingungen Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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der Vorstellung zu einem vor jeder objektivierenden Anschauung liegenden und ihr entzogenen Gefühl. Das Gefühl ist für ihn etwas Ursprüngliches und er widerspricht wie Levinas der These, man müsse, »um zu fühlen, sich den Gegenstand des Gefühls vorstellen« (TU243). In diesem Gefühl empfindet sich das Subjekt in seinem praktischen Vollzug bestimmt und begrenzt. Auch bei ihm ergibt sich so eine Subjektivität, die vorgängig ist zur Einheit des Bewusstseins, die – zumindest im späteren Modell – nicht allkonstituierend, sondern passiv betroffen ist und die sich nicht rein aus sich heraus, sondern nur vermittels dieser passiven Bestimmung verwirklichen kann. Sie steht in einem Kontakt nicht nur mit der eigenen Realität, sondern auch mit der des begegnenden Anderen. Sie ist auf der Ebene, auf der dieser Kontakt stattfindet, nicht nur ideal tätig, sondern konkret leiblich engagiert. Sie befindet sich dabei selbst in einem zeitlichen Vollzug und einer Verortung und Bewegung, welche vorgängig sind zu Zeit und Raum in der Vorstellung, denen sich das Subjekt als Objektivierendes immer gegenüber halten kann. Der vorgestellte Raum entsteht nur als Erscheinungsform für das Bewusstsein der konkreten Praxis des Subjekts in ihrer Relationierung zu dem, was sie begrenzt und bestimmt. Levinas akzentuiert diese Vorgängigkeit zum Bewusstsein zwar viel stärker, weil er durch sie den Leib als Vermittlungsinstanz für die ebenfalls das Bewusstsein hintergehende Beziehung zum Anderen herausarbeiten kann. Sie findet sich aber ebenso bei Fichte. Wenn sich Levinas dagegen wendet, das Subjekt ursprünglich von der transzendentalen Apperzeption her zu verstehen als eines, das sich der leiblichen und zeitlichen Bewegung nur gegenüber hält, dann trifft dies Fichte nicht. Für ihn vollzieht sich das Subjekt wie für Levinas in einer inneren Zeitlichkeit und in einer relationierten Praxis, auch wenn er dieses bewegte Subjekt letztlich als eine Verleiblichung des auf einer Ebene zeitlosen Subjektes versteht, das für ihn als Teil eines zeitlosen übergreifenden Vernunftvollzugs entsteht. Dieses wird aber gerade nicht von der Vorstellung her verstanden, es ist nicht die transzendentale Apperzeption. Auch kommt es zu seiner Verleiblichung nicht infolge eines Abfalls, »eines Sturzes oder einer Erniedrigung« – gegen eine solche Bewertung der Leiblichkeit wendet sich Levinas ausdrücklich 1072 und Fichte könnte sie in der 1072 Vgl. VS83: »Das Denken, das außerhalb des Raums anzusiedeln der Idealismus uns beigebracht hat, ist – seinem Wesen nach und nicht als Folge eines Sturzes oder einer Erniedrigung – hier«, d. h. verortet und verleiblicht. Weder die Idee einer ledig-

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Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe

Weise aufnehmen –, sondern sie ist notwendiges Moment der Selbstverwirklichung des Subjekts. Für Fichte gilt dabei ebenso: »Der Leib ist weder Hindernis, das der Seele entgegensteht, noch Grab, das sie gefangenhält« (JS24211 ). 1073 Beide sehen die den Menschen auf eine problematische Weise einschränkenden Aspekte der Leiblichkeit, verstehen die Beschränkung aber letztlich als etwas, was seine Entfaltung nicht nur nicht verhindert, sondern sie gerade ermöglicht. Wenn für Levinas mit der Analyse der leiblichen Konkretisierung der »Begriff eines idealistischen Subjekts« (TU219) widerlegt ist, dann ist dies nicht auf Fichte zu beziehen. Auch für Fichte wird das Bewusstsein nicht verleiblicht, sondern entwickelt sich in seiner Helle vielmehr umgekehrt aus dem Leibsein heraus, sodass auch er von einer »Entleiblichung« (TU239) sprechen könnte. Die phänomenologische Beschreibung der diachronen Entzogenheit dieses leiblichen Selbstvollzuges gegenüber der synchronen Zeit könnte Fichte somit von Levinas übernehmen. Diese Entsprechungen zeigen, dass sich bei beiden dasselbe Grundverständnis von Leiblichkeit gegenüber der bloßen Körperlichkeit findet. Der Leib ist nicht von einem Subjekt zu trennen. Er ist lebendiger Vollzug des Subjekts. Er ist sogar das Subjekt selbst in diesem Vollzug und nicht nur etwas, was es besitzt. Er ist auch ursprünglich nicht nur ein Instrument, welches das Ich gebraucht, sondern das leibliche Können selbst, das sich sekundär äußerer Instrumente bedient. Der Körper ist im Unterschied dazu nur das Moment der objektivierten Ansicht dieses Vollzuges, die als Anschauung und verstehende Ordnung seines vorgegenständlichen Sichfühlens entsteht. Durch den transzendentalen Rückgang vom Körper auf den Leib bestimmen beide Autoren das Gegenüber von Leiblichem und Geistigem oder Seelischem nicht als Gegenüber von Nichtsubjektivem und Subjektivem, sondern als Unterscheidung zwischen Subjektsvollzügen, wobei das leibliche Leben von beiden ähnlich in einen Unlich sekundären und unwesentlichen Verortung und Inkarnation noch die eines Sturzes passt auf das fichtesche Denken. 1073 Schon in dem sehr frühen Aufsatz Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus von 1934 sieht Levinas mit einem Vernunft- und Freiheitsdenken eine Auffassung des Leibes als bloßer Einengung des Geistes einhergehen (EB28) und stellt ihr eine Sicht gegenüber, die den Menschen von vornherein und wesentlich leiblich denkt, die das Subjekt sogar als mit dem Leib identisch betrachtet (EB29 f.). Wenngleich Fichte so weit nicht gehen würde, so denkt er doch den Leib auch nicht als bloße Beschränkung des Geistes. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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terschied gesetzt wird zu der Ebene, auf der das Subjekt bewusst, frei und ethisch ist. Die Verhältnisbestimmung von Körper und Leib wird demgegenüber zweitrangig. Indem der Körper nur die äußere Ansicht des Leibes ist, entsteht bei beiden von vornherein nicht das Problem der scheinbaren Unvermittelbarkeit von Materiellem und Subjektiven. Die Vermittlung beider Sphären kann vom Leibkonzept aus erschlossen werden. Indem das Subjekt als das Können selbst bestimmt wird, greift es unmittelbar in die Welt ein, ist seine Wirksamkeit die Wirksamkeit in der Welt und das Körperliche nur dessen äußere Ansicht. Dabei kann Fichte wie Levinas davon ausgehen, dass sich die Naturwissenschaft in einer abstrahierenden sowie objektivierenden und insofern verfremdenden Weise auf denselben Gegenstand wie die Transzendentalphilosophie bezieht und Entsprechungen beider Perspektiven gelten lassen. Wie Fichte die Möglichkeit des Zusammengehens von Naturdetermination und Freiheit denkt, könnte für Levinas’ Ansatz eine wichtige Ergänzung erbringen. In der Beschreibung, wie es zur körperlichen Ansicht des Leiblichen kommt, können umgekehrt die phänomenologischen Analysen der Zeitlichkeit der Urimpression sowie der Konstitution der synchronen Zeit Fichtes Konzept ergänzen. Dasselbe gilt für die Beschreibung der Rolle der Kinästhesen, in denen das Gefühl in seiner Einbindung in die leibliche Tätigkeit erlebt wird. Auch sie könnte Fichte integrieren, zumal bei ihm mit der Beschreibung des Leibes in seiner unmittelbaren Verortung als Ausgangspunkt der Orientierung schon Ansätze dazu enthalten sind. Ähnliches gilt für Levinas’ Beschreibung der ursprünglichen praktischen Konstitution des Dinges aus einer Begegnung der Tätigkeit des Subjekts mit dem widerständigen Materiellen und dem Herauslösen beweglicher Einheiten aus der Sphäre dieses Widerständigen, da auch für Fichte die Objektivierung der Substanz vom Erleben der Begrenzung der lebendigen Tätigkeit in einem unlebendig ruhig Vorhandenen ausgeht. Beide Autoren treffen sich außerdem darin, die Entstehung der Kategorien und Anschauungsformen sowie ihre Anwendung aus dem Erleben dieser lebendigen Begegnung zu erklären. Auf der Basis der jeweiligen Darstellung dieses Entstehungsprozesses in der vorliegenden Untersuchung lässt sich zumindest diese grundlegende Übereinstimmung festhalten. Ein genauerer Vergleich würde eine eingehendere Analyse voraussetzen, die über den Rahmen der Fragestellung hier zu weit hinausführen würde. Ein grundlegender Unterschied ist zumindest klar hervorgetreten: Für Levinas entspringen die Kategorien und Anschauungs716

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Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe

formen dem Erleben des ethischen Betroffenseins durch den Anderen, wie dies etwa in Bezug auf die Erklärung der Raumform aus der ethischen Nähe 1074 oder der kerygmatischen Bestimmung des Einzelnen aus der Begegnung mit dem Anderen deutlich wird. 1075 Fichte leitet sie im Unterschied dazu letztlich aus einem Selbsterleben ab, wenngleich dieses bei ihm bedingt ist durch die ursprüngliche Eröffnung von Differenz in der Begegnung mit dem Nicht-Ich. Auch zu den sich bei Levinas aus dem weiteren transzendentalen Rückschritt ergebenden Beschreibungen des Leibes als Genießen lassen sich wichtige Entsprechungen bei Fichte finden. Zwar denkt Fichte die Existenz überhaupt sowie in einem zweiten Schritt auch deren leibliches Moment zunächst einmal von der Tätigkeit her, diese Tätigkeit ist aber nicht schon erfüllte Tätigkeit, sondern ein Trieb und zielt auf eine Befriedigung. Im Leiblichen geht es dem Trieb oder der organisch geeinten Vielheit von Trieben um Befriedigung um der Befriedigung willen. Fichte benennt dies als bloßen Genuss. In dieser Ausrichtung entspricht das dem levinasschen Genussbegriff. Der Genuss ist völlig selbstbezogen, ist egoistisch, jedoch wie bei Levinas »unschuldig egoistisch« (TU190), da er sich vorgängig zu Freiheit, Bewusstsein und einem Betroffensein durch das sittliche Sollen vollzieht. Auch bei Fichte ist das Subjekt ein unableitbar faktisch als bestimmter und insofern begrenzter gefundener Trieb, ein Trieb nach einer bestimmten Befriedigung, und diese Bestimmtheit ist nicht etwas Äußerliches zu einer an sich nackten Existenz oder bloßen Freiheit, sondern ursprüngliches Ziel des Subjektes. Die Bestimmtheit entspringt nicht nur, wie dies im frühen Modell von Fichte gedacht ist, der notwendigen Begrenzung der Tätigkeit, die an sich auf eine reine Freiheit zielt, sondern einem ursprünglichen Streben nach einer bestimmten Tätigkeit. Eine Entsprechung besteht außerdem in der Beobachtung der ursprünglichen Liebe zum Leben in dieser Form des Strebens und Sichbefriedigens, in dem sich das Subjekt faktisch bewegt. Auch darin, dass es sich befriedigt, indem es ein Glück findet, und es nicht nach einer reinen Empfindungslosigkeit strebt, in welcher das Glück nur in der Abwesenheit des Schmerzes besteht, kommt Fichte mit Levinas überein. Ebenso findet sich bei ihm das Subjekt schon faktisch in der Triebbefriedigung und muss nicht erst den Kontakt herstellen zu dem, was sie ermöglicht. Der Trieb bezieht 1074 1075

Vgl. dazu oben, S. 631 f. Vgl. oben, Anm. 700.

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sich zudem unmittelbar und ohne Kenntnis auf sein Ziel und befriedigt sich. Wie Levinas wendet er sich gegen die These, man müsse, »um zu begehren, sich sein Ziel vorstellen« (TU243). Das Subjekt verfolgt für ihn sein unmittelbares Ziel auch nicht um eines anderen Zieles willen, wenngleich ›objektiv‹ der Leib mit seinen Trieben einen funktional geordneten Organismus darstellt. Dass Fichte den Leib sehr stark über den Begriff eines solchen Organismus und dessen Teile aus einer wechselseitigen Bestimmung innerhalb seiner Ganzheit versteht, ist sicher etwas ihm Eigenes, widerspricht Levinas aber nicht, indem für diesen gleichfalls auf der realen biologischen Ebene solche Zusammenhänge bestehen und er sie nur für das Erleben des Genussgeschehens ausschließt, wie dies auch bei Fichte geschieht. Dass die Kenntnislosigkeit bleibt, wenn das Subjekt sich der leiblichen Tätigkeit zur Ausführung eines geplanten Zwecks bedient, und dies so immer in einem gewissen Grade ein Probieren und Herumtappen darstellt, würde sich in Fichtes Analyse gut einfügen. Eine Übereinstimmung besteht auch in Bezug auf die für Levinas zentrale Eigenschaft des Genießens, dass die Triebbefriedigung abhängig ist von zum Subjekt Äußerem. Zwar denkt Fichte diese Befriedigung so, dass sie nicht direkt aus dem genossenen Anderen, sondern aus einer bestimmten Tätigkeit erfolgt und dass sie nur insofern vom Anderen abhängig ist, als aus der Beziehung zu diesem die Bestimmtheit erwächst, während für Levinas sowohl der Vollzug als auch das Andere genossen werden. Aber um zu dieser Befriedigung zu kommen, zielt auch für Fichte der Trieb über den Bildungstrieb auf die anderen Teile der Natur selbst, um sich mit ihnen in einen Organismus zu vereinigen, in dem jeder Teil für den anderen strebt und wirkt. Von daher erklären sich für ihn die verschiedenen nach außen gerichteten Triebe des Leibes, nach Nahrung, nach Luft, soziale Triebe usw. Indem der Bildungstrieb fundamental jedem Trieb zukommt und indem man in ihm dieses Streben nach Vereinigung mit anderem findet, kann man sagen, dass Fichte die Triebbefriedigung zumindest in einer ähnlichen Weise als Nahrung im Sinne von Levinas versteht. Diese Vereinigung mit anderen Teilen gibt dem Subjekt nicht nur die Differenziertheit eines Organismus, durch welchen es tätig sein und sich verwirklichen kann, sondern auch dessen Lebenskraft, sodass sich bei Fichte ebenfalls etwas wie das Phänomen der Stärkung beschrieben findet. Wie sehr dabei für ihn das geistige Subjekt zunächst das leibliche ist, wird darin deutlich, dass er es von der fundamentalen Trägheit des Leibes geprägt sieht. Auch er denkt die Anstrengung und 718

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Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe

Müdigkeit des Subjekts als ihm selbst ursprünglich eigene, welche sich nicht ergeben aus einer »Gegenüberstellung zu einer Materie […], die ihm von außen Widerstand leistet oder ihm in seinem Leib widersteht, mit dem er unverständlicherweise behaftet ist und dessen Funktionieren gestört wird« (JS131 f.). Insofern könnte er die Beschreibung der Unsicherheit des Genusses und der Ausgesetztheit im Genuss übernehmen, zumal sich gleichfalls für ihn die Triebbefriedigung ursprünglich faktisch vollzieht und nicht in der Hand des freien Verfügens des Subjektes liegt. Ein deutlicher Unterschied zu Levinas besteht zwar darin, dass das Subjekt nicht überhaupt in seiner Existenz von der Triebbefriedigung abhängig ist, sondern nur in der Möglichkeit seiner Selbstverwirklichung. Von daher erwächst aber dem Subjekt eine kaum minder existenzielle Bedrohung aus der Unsicherheit des Genusses. Wenn für Fichte die Befriedigung ursprünglich in einer bestimmten Tätigkeit liegt, wirkt sich dies zwar dahingehend aus, dass er das Gefühl von einer Bestimmtheit des Strebens her denkt und nicht von der Inhaltlichkeit des Anderen, an dem sich der Trieb befriedigt. Gleichwohl hängt auch für Fichte diese Bestimmtheit unmittelbar zusammen mit einer Abhängigkeit vom Anderen und einem unmittelbaren Kontakt mit diesem. Der Unterschied wird also minimal. Zwar wird aus demselben Grund die Tätigkeit ursprünglich nicht als passives Aufnehmen von anderem gedacht, sie ist aber gleicherweise von anderem abhängig und vollzieht sich in einer passiv ergriffenen Form. Dass Fichte deshalb das Materielle primär als Handlungsmöglichkeit und im Weiteren als Instrument für die Handlung versteht, bedeutet zwar zunächst eine andere Gewichtung als bei Levinas, für den die Tätigkeit und ihre Werkzeuge nur eine sekundäre Bedeutung besitzen. Indem aber bei ihm der Nahrung (im weitesten Sinn) eine fundamentale Bedeutung in der Selbstverwirklichung zukommt, könnte er das Materielle zumindest ähnlich grundlegend als Genussmaterial und zu genießenden Besitz deuten wie Levinas. Wie im Vergleich der verschiedenen Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes noch herausgearbeitet werden wird, besteht der eigentliche Unterschied darin, dass die Abhängigkeit des Genusses, obgleich sie für Fichte ebenso notwendig ist für die menschliche Existenz, bei ihm doch nicht diese zentrale Bedeutung bekommt wie bei Levinas, für den sich in ihr die Transzendierung des Subjekts ereignet. Insofern Fichte das eigentliche Ziel des Menschen in einer Tätigkeit und nicht in einer Transzendierungsbewegung sieht, kommt der Tätigkeit auch im Leiblichen ein größerer Stellenwert zu als der Passivität. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Entsprechungen lassen sich ebenso für das Objekt des Triebes feststellen. Eine wichtige Entwicklung besteht bei Fichte darin, das Materielle nicht als die bloße Begrenzung oder auch als die begrenzte eigene Tätigkeit zu verstehen, sondern gleichfalls als den begrenzenden lebendigen Vollzug eines real begegnenden Anderen. Dieses ist für Fichte – vorgängig dazu, dass es eventuell zum Vollzug eines individuellen Subjekts gehört – ein zwar reales, aber unselbständiges und nichtindividuelles Moment des einen Daseins. Es wird insofern ähnlich bestimmt wie das Elementale bei Levinas, als dieses wenn auch nicht wie bei Fichte als Trieb, aber doch als eine Art Kraft mit einer Bestimmtheit beschrieben wird, die weder selbst ein einzelnes Ding noch ein Moment an einem Ding ist, sondern sich in einem unpersönlichen Ganzen verliert. Für beide sind die objektiv aufgefassten Dinge nicht an sich, sondern konstituiert. Sie gehen beide zudem nicht davon aus, dass dem Elementalen kleinste identische Einheiten zugrunde liegen. Wirkliches ist für sie nicht notwendig Einzelnes. Der Unterschied ist freilich, dass bei Levinas die unpersönliche Ganzheit nicht wie bei Fichte hypostasiert und in eine ursprüngliche Einheit mit dem Individuum gesetzt wird. Auch wird sie anders bewertet. Wenn von Levinas das Aufgehen in einer unpersönlichen Einheit im Materiellen als etwas Bedrohliches und das eigentliche Ereignis des Subjekts Verhinderndes beschrieben wird, so kann es im fichteschen Denken als positives Moment der Überwindung der individuellen Begrenztheit hin zur Einheit des einen Daseins begriffen werden, wenn auch diese Einheit mit der Einheit der Natur allein noch nicht erreicht ist. An dieser Stelle tritt eine fundamentale Differenz der beiden Denker zu Tage: die andere Bewertung der individuellen Person bei Fichte. Sie wirkt sich auf die Bestimmung der Leiblichkeit insofern aus, als Fichte den Genuss nicht als wesentlich individuelles Ereignis beschreibt, durch welches sich das Subjekt gegenüber einer depersonalisierenden übergreifenden Einheit als Individuum begreifen kann. Deshalb hat für ihn die Unmittelbarkeit oder Immanenz des Genusses auch nicht die Bedeutung als Losgelöstheit von jedem System wie für Levinas. Bei ihm wird der Genuss oder in einem höheren Sinn die Seligkeit als etwas verstanden, was jedem Sein, insofern es Wollen oder Trieb ist, zukommt, auch dem überpersönlichen Sein. Wie plausibel das ist, kann zumindest angefragt werden. Auch das Streben in der Beziehung zum Anderen wird auf diese letztlich überpersönliche Befriedigung hin ausgelegt und nicht wie bei Levinas auf eine we720

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sentlich individuelle, die in der Beziehung zum Anderen zudem immer gebrochen oder weggegeben werden muss. Grundlegende Übereinstimmungen in der Beschreibung der leiblichen Subjektivität sind bereits festgestellt worden und sie sind auch in Bezug darauf zu beobachten, wie Levinas’ letztlich vom Genuss ausgehendes Subjektskonzept rekonstruiert werden konnte. Ebenso bei Fichte sind mit dem Moment des Strebens und seiner Befriedigung ein Moment der idealen Tätigkeit sowie ein Moment des praktischen Wirkens vereinigt. Deutlicher als Levinas stellt er sie als die geeigneten Ausgangspunkte für das Bewusstsein und Erkennen sowie für das Handeln heraus. Auch bei ihm vollzieht sich jedes Moment nicht nur als Fremd-, sondern genauso als Selbstbezug: in einem ursprünglichen Beisichsein, einem Streben für sich und einem Verfügen über sich selbst. In der Unmittelbarkeit des Fühlens und der Selbstbezogenheit des Strebens findet sich ebenfalls der von Levinas hervorgehobene Charakter der Immanenz des ursprünglichen Subjektsvollzugs. Auch geschieht dieser auf eine vorfrei spontane und ergriffene Weise. Das Fühlen ist noch ohne den Abstand der Objektivierung, das Streben noch vor jeder Distanznahme. Diese kann für Fichte ähnlich wie für Levinas erst von einer vom Genussleben grundlegend verschiedenen Instanz her eröffnet werden. Außerdem kann man auch in Bezug auf Fichtes Modell sagen, dass für das vorethische Subjekt die Triebbefriedigung das eigentliche Ziel ist, auf das hin die anderen Momente ihre Bedeutung und ihre Gestalt haben, wenngleich er es nicht in der Weise akzentuiert wie Levinas. Es wurde ausführlich herausgearbeitet, dass Levinas trotz seines Passivitätsdenkens das Subjekt von einer grundlegenden Selbständigkeit gekennzeichnet sieht, aus der heraus es überhaupt Subjekt ist und in der es die genannten Momente seiner Spontaneität vollzieht. Darin kommt er mit Fichte überein. Umgekehrt ist wie für Levinas auch für Fichte das Subjekt dabei nicht causa sui, sondern abhängig von einem Grund seines Seins. Zudem besteht für Fichte eine Abhängigkeit auf der materiellen Ebene. Zwar ist hierbei das Subjekt anders als bei Levinas nicht in seinem Sein überhaupt abhängig – dieses hat es als zeitloses empfangen –, aber doch abhängig in der Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, sodass es kaum weniger drängend von Krankheit und Sterblichkeit bedroht ist. Genauso ist für Fichte das Für-sich des Bewusstseins dem Schwinden der Kräfte und dem Tod ausgesetzt. Von diesen Phänomenen her auf die Abhängigkeit des Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Seins von der Nahrung und auf eine radikale Sterblichkeit zu schließen, wie Levinas dies tut, erscheint von daher zumindest nicht notwendig. Die Weise freilich, wie er diese Abhängigkeit beschreibt und deren Möglichkeit klärt, konnte auch angesichts von transzendentalphilosophischen Anfragen, wie sie von Fichte gestellt werden könnten, überzeugen. Für Fichte ergibt sich nicht erst aus der Ablehnung einer solchen Abhängigkeit, sondern von vornherein dadurch ein ganz anderes Modell, dass er die Verhältnisse der materiellen Abhängigkeit der Organismen in der Naturorganisation als ausfaltenden Vollzug des einen Daseins versteht, der zudem in einem ursprünglichen Zusammenhang steht mit den sich ebenfalls aus diesem Vollzug ausgliedernden Individuen. Levinas müsste dies nicht als widersprüchlich in sich ansehen. Seine Einwände gegen die Versuche, die endliche Freiheit ausgehend von einer zunächst unbeschränkten Freiheit zu denken, treffen Fichte nicht, da dieser in seinem Modell die individuelle Freiheit schon ursprünglich abhängig, begrenzt und bezogen denkt. Auf ganz ähnliche Weise geht für beide die Wahlfreiheit in ihren Begrenzungen hervor aus einem zwar selbständigen, aber vorfreien Vollzug. Und ähnlich kann sich für beide das Setzen der Vorstellung und der Reflexion nur dann absolut wähnen, wenn es vergisst, dass es sich aus dem gebundenen und passiv begrenzten Fühlen erhebt. Eine Übereinstimmung besteht dabei zudem darin, wie die Möglichkeit der Bestimmung des prima facie allkonstituierenden Bewusstseins von der vorbewussten Ebene der Praxis her gedacht wird. Nicht akzeptabel muss für Levinas das fichtesche Modell erst sein, ausgehend von seiner Auslegung der personalen ethischen Beziehung. Für ihn kann eine wirkliche Person nicht aus einem Überpersönlichen entstehen. Auch kann eine übergreifende Einheit keine ursprüngliche Realität und Bedeutung haben. Wie dies schon für das Verhältnis zwischen den Personen festgestellt wurde, so lässt sich deshalb nun ebenso in Bezug auf die materielle Abhängigkeit sagen, dass beide sie zwar ähnlich als innerlich-äußerliches Verhältnis denken, sich aber darin unterscheiden, dass die Innerlichkeit bei Levinas nie eine übergreifende Einheit wird wie bei Fichte, sondern von einer anarchischen Entzogenheit und einer entsprechenden Diachronie geprägt bleibt. Das Konzept der Diachronie in dieser Form könnte Fichte – anders als die Beschreibung der diachronen Entzogenheit des lebendigen Vollzugs zum Bewusstsein – nicht übernehmen oder zumindest nur übernehmen in Bezug auf eine uneinholbare Entzogenheit gegenüber der von der Tätigkeit des einen Daseins zu unterscheidenden 722

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individuellen Aktivität. 1076 Ein verändertes Verständnis der Zeitlichkeit des Subjekts ergibt sich zudem aus Fichtes Ansatz daher, dass er im Ausgang vom einen übergreifenden Dasein von vornherein eine zeitlose Existenz des Individuums denkt. Zwar empfängt sich das Subjekt – es ist nicht causa sui –, aber es empfängt sich nicht im eigentlichen Sinn in jedem Augenblick neu, sondern zeitlos. Die Zeit ist nicht diskontinuierlich, sondern kontinuierlich. Das Subjekt entfaltet sie – zumindest als eines Daseins, ihm als Individuum wird sie auf eine Weise passiv gezeitigt – als integrales Moment seiner Selbstverwirklichung, also ähnlich der Zeitlichkeit, wie sie Levinas bei Bergson konzipiert findet. Hiermit wird die Zeit freilich nicht gegenüber einer reinen Zeitlosigkeit als deren bloße bewegliche Erscheinung oder gar als bloßer Schein relativiert – diese Vorstellung kritisiert Levinas –, sondern wie bei diesem ernst genommen als eine dem Endlichen wesentliche und unüberwindbare Realität. Als weiterer grundlegender Unterschied im Subjektsverständnis ergibt sich aus Fichtes Ansatz am einen Dasein, dass das leibliche Ich ursprünglich nicht nur leiblich ist, sondern in sich die Instanz des 1076 Zu diesem Unterschied vgl. oben, S. 236–238. Würde man Fichtes Ansatz dahingehend modifizieren, dass man von einer Einheit des Daseins nicht ausgeht, wie dies etwa bei Thomas Pröpper, der an den frühen Fichte anknüpft, geschieht, dann ergäbe sich zumindest für die leibliche Ebene der Beziehung zum Anderen dasselbe Verhältnis einer zu jeder Aktivität des Subjekts vorgängigen Bezogenheit auf ein exteriores Anderes wie bei Levinas. Dass Josef Wohlmuth das pröppersche Zeitverständnis auf die Ebene des Synchronen beschränkt sehen und von Levinas her kritisieren kann (2006, 153–160), ist der Tatsache geschuldet, dass er dieses nur recht vage aus narrativen Texten Pröppers erschließt (141–143), anstatt das Konzept des Verhältnisses der objektivierenden Akte zur nichtobjektivierbaren Aktivität und noch weiter zur Angewiesenheit dieser Akte auf Passivität in der von Pröpper rezipierten philosophischen Tradition zu analysieren. Das wäre m. E. nötig, um den Potentialen von Pröppers Ansatz gerecht werden zu können. Der Unterschied freilich, der vermutlich – auch wenn Pröpper sehr zurückhaltend damit ist, Ethik von einer das Subjekt und den Anderen übergreifenden allgemeinen Ebene her zu verstehen – noch weiterbestehen würde, ist das ethische Verständnis der Diachronie bei Levinas, auf das sich Wohlmuth in der Auseinandersetzung mit Pröpper immer wieder bezieht – Diachronie als Bezogenheit auf eine Exteriorität, in die das Ich aus Ermangelung eines fundamentalen Universalen in keiner Weise durch eine Übertragung der Selbsterfahrung eindringen kann. Allein ausgehend von phänomenologischen Zeitanalysen kann m. E. jedoch nicht für das eine oder das andere Verständnis von Diachronie argumentiert werden, sondern nur ausgehend von einem bestimmten, der phänomenologischen Reduktion nicht zugänglichen, sondern auf einem moralischen Glauben beruhenden Verständnis des ethischen Sollens. Von daher kommt m. E. auch Erwin Dirscherls (2006a, 255) von der Zeitlichkeit her gestellter Anfrage an Pröpper keine argumentative Kraft zu.

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ethischen Vernunftsubjektes trägt. Man muss sogar sagen: Es ist ursprünglich das Vernunftsubjekt, das verleiblicht ist. Es ist zwar nicht nur sekundär, sondern wesentlich verleiblicht und so ursprünglich in einer realen passiven Begrenztheit durch anderes. Es geht auch zunächst ganz im Genuss auf. Es ist aber nicht bloßer Genuss. Die Instanz, welche eine Distanzierung von ihm ermöglichen kann, ist für Fichte im Subjekt selbst schon gegeben und muss nicht wie für Levinas vom Unendlichen und vom Anderen erst eröffnet werden. Für Fichte ist dies nicht erforderlich, da er die ethische Beziehung nicht als Beziehung Getrennter versteht, die anknüpfen muss an eine unabhängig von ihr als reine Selbstbezogenheit konstituierte Existenz, sondern sie innerhalb einer übergreifenden Einheit des Vernunftvollzuges sieht. Auf diese Weise steht der leibliche Trieb bei ihm auch in einer ursprünglichen Verbindung mit dem sittlichen. Seine Gestalt entfaltet sich aus dem Urtrieb als dessen vorbereitende faktische Verwirklichung. Auch für Levinas stellt zwar das Genusssubjekt die Basis dar für die ethische Subjektivität und sie wird für ihn von vornherein als dafür geeignete Basis konstituiert. Aber dies geschieht nicht in der Form einer Entfaltung eines schon ursprünglich als Anlage vorhandenen ethischen Subjekts und es steht von sich aus in keinem Bezug zu dieser ethischen Bestimmung. Der Bezug wird von außen hergestellt, vom Unendlichen und vom Anderen. Grundsätzliche Entsprechungen in dem, was Levinas als Wohnen in der Abhängigkeit von der Begegnung mit dem ›Weiblichen‹ beschreibt und wie er dessen Bedeutung in der Entwicklung der Subjektivität, vor allem ihres Wirkenkönnens und Vorstellens bestimmt, finden sich entgegen dem ersten Anschein auch bei Fichte. Dieser beschreibt ebenso, wie sich die Distanzierung vom Aufgehen im jeweils aktuellen Trieb und dessen Objektivierung nur ereignen kann ausgehend von einer vom leiblichen Triebleben grundsätzlich unterschiedenen Instanz – bei ihm dem Freiheitstrieb. In der Rekonstruktion des Verstehens des Gefühls kommt der Instanz der Freiheit des Subjekts im Objektivieren und Reflektieren eine wesentliche Bedeutung zu. Für ihn setzt ähnlich wie für Levinas das Bewusstsein generell diese Abstandnahme vom Aufgehen im Genuss voraus. Wie für diesen dabei zudem die Unsicherheit der Triebbefriedigung eine Rolle spielt, könnte Fichte positiv aufgreifen, zumal er ohnehin ähnlich wie Levinas das Bewusstsein von der Praxis her versteht. Dass es für Levinas aus dem praktischen Erfordernis entsteht, die Macht und Freiheit des Subjektes auszuweiten, ist vergleichbar mit der fichteschen 724

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Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe

Idee, die Reflexion von einer Forderung ausgehen zu lassen, die sich aus dem Zusammenspiel von Freiheitstrieb und Begrenzung der Tätigkeit im Gefühl ergibt. Der Freiheitstrieb ist zwar schon latent ethisch, trifft ursprünglich das Subjekt aber nicht als ethischer Trieb, sondern zunächst einmal als Trieb nach Freiheit im Sinne der Macht. Den plausiblen Gedanken, dass ebenso das Tätigsein, wenn es nicht einfach nur darin besteht, unmittelbar den Trieb zu befriedigen, sondern für seine Sicherung zu sorgen, eine Distanznahme vom Aufgehen im Trieb und einen Aufschub des Genusses voraussetzt sowie die Unterscheidung eines solchen Wirkens von der ursprünglich passiven Aktivität könnte Fichte in sein Denken integrieren. Er beschreibt die Notwendigkeit einer solchen Distanznahme für das freie Wirken, sie könnte aber ähnlich durchaus schon für eine vorfreie Sorge um den Genuss gegeben sein. Auch dass diese Distanznahme sich nur vermittels einer bestimmten materiellen Konfiguration verwirklichen kann, entspricht dem fichteschen Denken, da bei ihm jede Wirksamkeit einen faktischen Trieb voraussetzt. Ganz in Entsprechung zu Levinas beschreibt er die leibliche Aufrichtung als Ereignis der Freiheit von der Bindung an das rein Natürliche. Diese materielle Konfiguration als Wohnung im Sinne einer Zufluchtsstätte zu verstehen, kann ebenso für Fichte sinnvoll sein, da auch bei ihm der Leib als Eigensphäre bestimmt wird, die dem Subjekt einen geschützten Freiraum eröffnet. Dasselbe gilt für die Idee, dass es eines über den Leib hinausgehenden Aufenthaltsortes des Menschen bedarf. Dies würde in einer gewissen Entsprechung zu Fichtes Gedanken stehen, dass sich die Eigensphäre des Leibes in eine Sphäre des Besitzes verlängern muss. Eine Übereinstimmung findet sich zudem darin, dass bei beiden die Abstandnahme von der Triebbefriedigung mit einer größeren Aufmerksamkeit auf sich, die eigene Situation und die eigenen Möglichkeiten einhergeht. Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied. Während für Fichte dem Subjekt selbst ursprünglich bereits mit dem Freiheitstrieb eine Instanz eigen ist, welche die Loslösung vom Genuss ermöglicht, kann diese bei Levinas gerade nicht gegeben sein. Beide kommen zwar darin überein, dass diese Lösung nur ausgehend von etwas erfolgen kann, das grundsätzlich andersartig ist als das leibliche Triebleben, dem zumindest latent eine ethische Dimension eigen ist, das zugleich aber das Subjekt in der Selbstbezogenheit belässt und deren Entfaltung ermöglicht. Für Levinas kann dies jedoch nur durch den Anderen, konkret in der Gestalt der sogenannten weiblichen Milde, ins Subjekt kommen, während es für Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Das mütterliche und erotisch ›Weibliche‹

Fichte erst für die Reflexion auf die Freiheit der Begegnung mit dem Anderen bedarf, nicht aber für die noch vorreflexive Unabhängigkeit vom Trieb. Auch braucht es dabei den Anderen nur für ein faktisches Verstehen der Freiheit. Das ›Weibliche‹ gibt dem Subjekt darüber hinaus eine personale Zuwendung und Bestätigung. Zwar spielt so etwas auch bei Fichte, und zwar in den sympathetischen Trieben, eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Menschen und es wäre plausibel, durch sie eine gewisse Distanz von den sonstigen leiblichen Trieben, eine Hinwendung zur Dimension des Personalen und zur Freiheit eröffnet zu sehen. Aber auch hier – und darin liegt der nicht mehr überwindbare Unterschied zu Levinas – würde nicht allererst die innere Unabhängigkeit gesetzt, sondern ihr höchstens eine größere Entfaltungsmöglichkeit verschafft werden. In der Unterscheidung eines bloß latenten von einem direkten Betroffensein durch den ethischen Anspruch kommen beide freilich wieder überein. Die entsprechende Unterscheidung zwischen einem bloß selbstbezogen praktischen Bewusstsein und einem Bewusstsein mit der kritischen Haltung der Wahrheitssuche könnte sich bei Fichte in derselben Weise finden. Das Gleiche gilt für den Gedanken, dass sich das Subjekt erst von der ethischen Infragestellung her so radikal vom Trieb löst, dass es die lebendige Einbindung in das Leibliche übergehen, die im Trieb liegende Liebe zum Leben, die Sinnfüllung und die Gewissheit der eigenen Realität vergessen und in der Absurdität des Es-gibt aufgehen kann. Von der Unterschiedlichkeit der Ansätze her liegt es nahe, dass sich bei Fichte eingehende Untersuchungen über das Verhältnis des freien Reflektierens, Wollens und Wirkens zur Leiblichkeit finden, bei Levinas aber nur spärlich. Insofern dem Moment der Freiheit (im Sinne der freien Wahl) aber auch für Levinas eine wichtige Rolle zukommt, können Fichtes diesbezügliche Beobachtungen eine wichtige Ergänzung bieten. Deutlicher beschreibt Fichte, wie durch die Bewusstwerdung die vorher vorfreien und faktischen Leibvollzüge in die durch das Bewusstsein zurechenbare und wahlfreie Verfügung des Subjekts gestellt werden. Dazu kommen vielfältige Einzelbeobachtungen, etwa zur Eigendynamik und Trägheit der Triebe, mit der sie die Freiheit prägen und bestimmen, zur Möglichkeit der Bildung und Verbildung des Leibes und seiner Triebe oder zur Bedeutung der Artikulation des Leibes. Welche Bedeutung beide dem Leib als Medium des Interpersonalbezugs zuweisen, soll erst beim Vergleich in der Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit betrachtet werden. 726

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Vergleich mit Fichte – Übersicht über die beiden Leibbegriffe

Der Vergleich hat gezeigt, dass im Leibbegriff weitgehende Entsprechungen und Integrationsmöglichkeiten zwischen beiden Autoren bestehen. Die wenigen, nicht überbrückbaren Unterschiede beider Denker konnten anhand der schon im Ansatz grundgelegten Differenzen verdeutlicht werden. Dass Fichte entsprechend seinem Ansatz tendenziell den Leib zunächst einmal eher von der Tätigkeit her denkt als vom Genuss, wirkt sich im Resultat kaum aus. Wirklich bestimmend sind aber die Unterschiede zwischen personalem Trennungs- und Einheitsdenken.

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2.4 Die Bedeutung des Leibes in der ethischen Beziehung zum Anderen

In der Analyse des Genusses als Ereignisses der Trennung ist bereits der Ansatzpunkt für die Bestimmung der Bedeutung des Leibes in der Beziehung zum Anderen dargestellt worden. Von da aus gilt es im Folgenden die verschiedenen Aspekte dieser Bedeutung zu erschließen. Um diese beschreiben zu können, ist es zuvor jedoch nötig, den Unterschied zwischen der bloßen leiblichen Beziehung und der ethischen Beziehung genau zu bestimmen. Dabei treten auch die grundsätzlichen Grenzen der Bedeutung des Leibes hervor. Zur Unterscheidung zwischen leiblicher und ethischer Beziehung Eine genaue Betrachtung dieser Unterscheidung muss besonders deshalb erfolgen, weil sich in der späteren Zeit verschiedene Aussagen bei Levinas finden, in denen er diesen Unterschied einzuebnen scheint, so als würde sich allein schon in der leiblichen Passivität die ethische ereignen. Leiblichkeit wäre so unmittelbar Ereignis des Unendlichen. Vor der Interpretation dieser Aussagen soll zunächst einmal vergegenwärtigt werden, wie zufolge der bisherigen Rekonstruktion des levinasschen Ansatzes bereits die Unterscheidung der leiblichen von der ethischen Ebene bestimmt werden konnte. Sie ergibt sich schon in der für Levinas’ Denken grundlegenden Suche nach einer Lösung der Problematik des Es-gibt, insofern das leiblich genießende Dasein gegenüber dem ethischen für ihn nur einen ambivalenten Ausweg eröffnen kann. 1077 Zwar ist das Subjekt hier schon in der Trennung vom Sein, jedoch noch ohne dass diese Getrenntheit zugleich geöffnet wäre hin zum Anderen und ohne dass ihm seine eigentliche Identität in der Beziehung zum Anderen erschlossen wäre. Es findet sich in der Immanenz des Seienden, in der unausweichlichen Bezogenheit auf sich sowie der Sorge um sich und 1077

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Vgl. bes. oben, S. 367–371.

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ist so mit seinem Sein belastet. Die Widrigkeiten der Existenz, Schmerzen, Müdigkeit usw., werden nur negativ als Ausdruck dieser Last erlebt. Zwar ist das Subjekt aufgrund seiner leiblichen Abhängigkeit auf ein Exteriores bezogen. Dies ist aber nur das Andere des gestaltlosen Materiellen, aus dem es sich nährt und in dem ihm ebenfalls das Sein als eine Last begegnet – nun als ein Übergreifendes, die getrennte Subjektivität Auflösendes, Nutzloses, Hässliches und Absurdes. Wie sich daraus die Möglichkeit eines uneigentlichen Bezuges zur Transzendenz ergibt, wurde in der Darstellung der Religionsphilosophie von Levinas aufgezeigt. 1078 Auch diese Möglichkeit unterstreicht noch einmal den Unterschied zwischen leiblicher und ethischer Transzendenz. So sehr diese naturreligiöse Auflösung in einem Übergreifenden auch als Befreiung empfunden werden mag, so hebt sie doch das getrennte Subjekt auf und führt nicht zur wahren Transzendenz in einer personalen Beziehung; »[D]as Element verstopft in gewisser Weise das Unendliche« (TU187). Letztlich entreißt die Bezogenheit auf die Exteriorität des Materiellen das Subjekt auch nicht seiner egoistischen Orientierung und öffnet keine neue Sinndimension, sondern bindet es durch die in der Bedrohung entstandene Sorge nur noch stärker an sich. Erst die Infragestellung des Anderen öffnet das Subjekt zur Hingabe, befreit es von der Fesselung an sein Sein und führt es zu seiner eigentlichen Identität und Sinnerfüllung. 1079 Diese ereignet sich jenseits einer selbstbezogenen Befriedigung, sodass dem Es-gibt, wie es in der Sinnleere und in den leiblichen Widrigkeiten auftaucht, nun innerhalb der ethischen Beziehung eine positive Bedeutung zukommt. Erst von ihr aus lässt sich dann auch die Frage nach der Begründung der kritischen Essenz des Wissens beantworten. 1080 Gerade in der Form der kritischen Wahrheitssuche musste sie als etwas beschrieben werden, was die bloße Bewusstheit, die sich bei Levinas als Form der Immanenz und als Moment der egoistischen Selbstsorge ergibt, übersteigt. Es bedarf einer radikalen Unterbrechung dieser Selbstbezogenheit und diese kann sich für Levinas nur durch den Anderen ereignen, der eine ganz neue Dimension von Bedeutung, von ethischer Bedeutung, eröffnet, von der her auch das Wissen als Wahrheitssuche letztlich zu verstehen ist. Indem die Begegnung mit dem Anderen phänomenologisch in 1078 1079 1080

Vgl. oben, S. 585–590. Vgl. oben, S. 372–387. Vgl. oben, S. 394–396.

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ihrer leiblichen Konkretheit beschrieben wurde, konnte einerseits hervortreten, wie die Beziehung zu ihm in seiner Leiblichkeit der Beziehung zu ihm in seiner eigentlichen Anderheit entspricht und wie diese durch die leibliche vermittelt ist. Zugleich wurde aber der Unterschied deutlich. 1081 Dieser liegt zentral im Imperativ, in dem die Anderheit des Anderen denselben betrifft. In diesem Imperativ ist er auf den Anderen als Exterioren und Transzendenten bezogen, der sich nicht in die Befriedigung seiner Bedürfnisse einbinden lässt, der sich entzieht, dem gegenüber er, wenngleich er ihn töten kann, nichts vermag, den er auf diese Weise nicht nur töten, sondern morden kann. Nur gegenüber dem Anderen macht es Sinn von Gewalt zu sprechen. Die einzig adäquate Weise, sich auf das Materielle – für Levinas sogar auf die Tiere und somit auf die Ebene des bloß leiblichen Lebens überhaupt – zu beziehen, sind Genuss und Arbeit. Zwar bezieht sich das Ich so auch auf den Anderen. Als Leibliche begrenzen und bedrohen sie sich, üben Gewalt aus und sind gleichzeitig verletzbar. Der Imperativ des Anderen ist aber von kategorial verschiedener Art; er trifft das Ich in völliger Gewaltlosigkeit. Diese Gewaltlosigkeit ist zwar vermittelt über seine leibliche Schwäche und Bedürftigkeit, bedeutet aber mehr als diese Schwäche, die für sich genommen nur die Gewalt provoziert. Sie stellt die Gewalt infrage. Sie präsentiert sich in ihrer zu achtenden Heiligkeit, die das Begehren des Subjekts weckt. Durch die Beschreibung des Begehrens im Unterschied zum Bedürfnis konnte der Unterschied zwischen der ethischen und der leiblichen Beziehung eine weitere Bestimmung erfahren. 1082 Das Bedürfnis ist selbstbezogen, Egoismus, Genuss – wenn auch für sich allein unschuldig. Das Begehren ist selbstlos. Das Bedürfnis endet in einer Befriedigung, das Begehren wächst mit der Annäherung an den Anderen. Es lebt von der Transzendenz des Anderen, während in der Befriedigung jede Transzendenz eingeebnet wird. Weitere wichtige Unterscheidungen konnten bei der Darstellung von Levinas’ Phänomenologie der Bedürfnisbefriedigung oder des Genusses vorgenommen werden. Die Beziehung zur Eigenwirklichkeit des Materiellen wurde profiliert gegenüber der zum Anderen. 1083 Erst im Anderen ist das Ich auf ein identisches Einzelnes, eine Innerlichkeit und etwas für sich zu Achtendes bezogen. Das Materielle ver1081 1082 1083

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Vgl. oben, S. 405–413. Vgl. oben, S. 424–427. Vgl. oben, S. 622–630.

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liert sich im Nichts, jede Identität und Bedeutung wird von außen in es hineingetragen, während der Andere von sich her bedeutet. Die Materie hat keine Tiefe und keinen Wert, sondern nur einen Preis. Das Ich kann sie sich einverleiben, während der Andere schon als ›Weibliches‹ wesentlich das ist, von dem es nicht leben kann. Diese Unterscheidungen zwischen der bloß leiblichen und der ethischen Ebene werden von Levinas nicht nur beschrieben, sondern als Erfordernis der Beziehung zum Anderen begründet. 1084 Wenn diese nicht innerhalb einer Totalität verbleiben, sondern Beziehung von Getrennten sein soll, muss das einzelne Subjekt zunächst unabhängig davon in einer Selbstbezogenheit, als genießendes, konstituiert sein. Die genannten Spezifika des Genusses ließen sich aus dem Erfordernis einer für diese Beziehung zwar offenen, aber grundsätzlich davon unabhängigen Subjektivität erklären. Von daher ergibt sich eine strikte Unterschiedenheit der beiden Ebenen. Die ethische muss zwar an die leibliche anknüpfen, wird durch sie somit auch vermittelt und ereignet sich bleibend in ihr. Diese muss aber in einer zu ihr wesentlich verschiedenen Ausprägung konstituiert sein, der gegenüber die Beziehung zum Anderen eine ganz neue Dimension eröffnet. Zwar findet schon allein leiblich eine Beziehung zum Anderen statt, aber nicht zu ihm in seiner zu achtenden Anderheit. Zwar findet sich hier schon die Öffnung dafür, dass der Andere das Ich als Imperativ betreffen kann, aber der Imperativ selbst ist in keiner Weise schon im Leiblichen angelegt. Die Bedeutung des Leibes hat hier immer ihre Grenze. Der Leib allein ist niemals hinreichend für das Ereignis des Unendlichen. Die teilweise in der Levinas-Interpretation auftauchende Aussage, dass die Ethik sich schon anfanghaft im Leiblichen ereignet, erscheint vor dem Hintergrund dieses vor allem von Totalität und Unendlichkeit her erhobenen Befundes als nicht korrekt. 1085 Dass diese Interpretation vorgetragen wird, erklärt sich wohl aus verschiedenen Aussagen in Jenseits des Seins, in denen Levinas die leibliche und die ethische Ebene zu identifizieren scheint. Levinas verwendet Termini, Vgl. oben, S. 675–689. Von daher wäre m. E. Ludwig Wenzler zu widersprechen, wenn er schreibt, dass für Levinas die Sinnlichkeit und Leiblichkeit den Überstieg der Ebene der Selbstbehauptung hin zur ethischen Dimension nicht nur möglich macht, sondern »diesen Übergang in gewissem Sinne schon darstellt« (1989 XVIII). Es wäre als zumindest missverständlich anzusehen, wenn Jakub Sirovátka bemerkt, dass für Levinas »den Sinnen schon von vornherein ein Ethos innewohnt« (2006, 180). 1084 1085

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die vom Wort her ein leibliches Verhältnis bezeichnen – ›Verwundbarkeit‹, ›Sensibilität‹, ›Berührung‹, ›Ausgesetztheit‹ – als Ausdrücke für das ethische Verhältnis. 1086 Dies kann jedoch auch so interpretiert werden, dass Levinas diese Begriffe zumindest teilweise, da sich das Ethische konkret leiblich verwirklicht, für eine vom bloßen Leiblichen schon unterschiedene ethisch inspirierte Leiblichkeit verwendet, ohne dabei beide Ebenen der Passivität zu identifizieren. Auf dieselbe Weise lässt es sich auch deuten, wenn Levinas manchmal im Text unvermittelt von Beschreibungen der scheinbar bloßen leiblichen Passivität zu solchen der ethischen Passivität übergeht, ohne einen Unterschied zu markieren. 1087 Wie eine Identifikation klingt es etwa auch, wenn er schreibt, dass »in der Subjektivität seit ›unvordenklicher Zeit‹ – in an-archischer Weise – das ›Durch-den-Anderen‹ zugleich ein ›Für-den-Anderen‹ ist. Im Leiden durch die Schuld des Anderen ragt schon das Leiden für die Schuld der Anderen – das Ertragen – empor« (JS278). Hier kann jedoch genauso ausgedrückt sein, dass sich der Mensch für Levinas immer schon in einer durch den Anderen verwandelten Leiblichkeit findet. Dafür spricht, dass er an manchen Stellen weiter klar unterscheidet zwischen dem Leiden unter dem Anderen und der Verantwortung für den Anderen (JS132). Wie diese Unterscheidung nur auf den ersten Blick wegzufallen scheint, wird auch in den Ausführungen zur Rekurrenz deutlich, die Levinas gleichermaßen für die Leiblichkeit wie für die Verantwortlichkeit des Subjekts beschreibt und beides ineinander übergehen lässt (JS241–243). Wenn Levinas dabei aber das Leibliche »Empfänglichkeit« (JS24212 ) nennt, deutet dies darauf hin, dass er es nicht mit der ethischen Beziehung identifizieren, sondern durch die Beschrei1086 Vgl. etwa JS236 von »der Sensibilität, der Verwundbarkeit, der Mutterschaft und der Materialität, die alle die Verantwortung für die Anderen beschreiben«, o. JS154, wo Levinas das »der-Eine-für-den-Anderen als Sensibilität oder Verwundbarkeit« benennt. Zur Verwendung von ›Ausgesetztheit‹ vgl. etwa JS117 o. 169; zu der von ›Berührung‹ JS172. 1087 Vgl. etwa JS170 f., wo Levinas in einem Atemzug Beschreibungen eines scheinbar bloß leiblichen Verhältnisses (»Passivität der Beute«, »Erfaßtwerden im Sinne der Furcht und Sorge«, »Sich-Winden in den Angstdimensionen des Schmerzes«) mit Beschreibungen der ethischen Beziehung verbindet (»Infragestellung durch die Anderheit des Anderen«, »Mutterschaft«). Eine solche Verbindung findet sich auch etwa in Bezug auf den Begriff der Ausgesetztheit in JS117–119 o. in Bezug auf das Altern in JS125–128. Hierbei kommt ziemlich deutlich zum Ausdruck, dass Levinas das Altern schon als ethisch Inspiriertes versteht, als »Modalität des Gehorsams: die Zeitlichkeit der Zeit als Gehorsam« (JS127).

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bung derselben rekurrenten Grundstruktur als geeignete Ausgangsbasis für die Infragestellung durch den Anderen ausweisen möchte. Blickt man auf die vorgestellte detaillierte Beschreibung der Unterschiede zwischen der leiblichen und der ethischen Ebene und ihre tiefe Verankerung im ganzen Ansatz von Levinas, erscheint es als sehr unwahrscheinlich, dass sich an dieser Sicht etwas in Jenseits des Seins geändert haben sollte. Als unmöglich erscheint es, wenn man sieht, dass für Levinas hier immer noch die Infragestellung anknüpfen muss an das unabhängig davon als Genuss konstituierte Subjekt 1088, woraus sich in Totalität und Unendlichkeit die Notwendigkeit dieser Ebenenunterscheidung ergeben hat. Entsprechend ist diese später auch weiter greifbar, wenn etwa der Leib als Bedingung und als Möglichkeit für das ethische Ereignis angesprochen wird 1089 oder auch als Gestalt, in der sich dieses vollzieht. 1090 Dass das Leibsubjekt erst durch die Infragestellung durch den Anderen auf ihn in seiner Anderheit bezogen wird, drückt sich aus in der Rede vom »beseelten Leib […]« – beseelt durch den Anderen 1091 –, der dadurch ein »umgewendeter conatus« wird (JS161). 1092 Sehr anschaulich unterscheidet Levinas an einer Stelle den »noch zu kurze[n] Atem der Seele«, den er mit der Animalität identifiziert – und das meint m. E. genau die Ebene des bloß Leiblichen – vom bereits »menschlichen Atmen«, in dessen »Gleichmäßigkeit […] schon die Atemlosigkeit einer Inspiration zu vernehmen [ist], die das sein erstarren läßt, die es durchstößt in einer Inspiration durch den Anderen« (JS387). 1088 Vgl. dazu oben, S. 446–448. Vgl. dazu bes. JS167: »Das Genießen in seiner Möglichkeit, sich befreit von dialektischen Spannungen, in sich selbst zu gefallen, ist die Bedingung des Für-den-Anderen der Sensibilität«. In JS163 f. u. 167–169 wird dies eingehend erklärt. 1089 Vgl. JS157 zur Inkarnation als Ermöglichung der ethischen Bedeutsamkeit und zum Leib als »Möglichkeit des Gebens« o. JS167 zum Genießen als »Bedingung des Für-den-Anderen«. 1090 Vgl. etwa JS128, 133 u. 154. Vgl. auch in JS175 die Aussage, dass »die Materie genau der Ort dieses Für-den-Anderen ist, die Art und Weise, in der die Bedeutung bedeutet«. 1091 Vgl. etwa JS154 über die Beseelung oder den Psychismus als »Inspiration des Einen durch den Anderen«, »Inspiration […], das heißt genau Anderheit-im-Selben, Trope des durch die Seele beseelten Leibes«. 1092 Vgl. auch JS160 »von der Bedeutsamkeit des der-Eine-für-den-Anderen – des Psychismus, der Wahrnehmung, Hunger und Empfindung anregt oder – beseelt«. Vgl. auch JS163 zum Leib, »der umgewendet wird zum Für-den-Anderen durch die Beseeltheit«, o. JS164 zum Leib, »der aus seinem conatus herausgerissen wird« im Psychismus.

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Wenn Levinas in Jenseits des Seins das ethische Ereignis sehr stark als leibliches beschreibt, dann hebt er die Ebenenunterscheidung von Totalität und Unendlichkeit nicht auf, sondern er unterstreicht nur die Einsicht, dass sich die ethische Beziehung zum Anderen konkret leiblich verwirklichen muss. Welche Rolle hierbei der Leib genauer spielt, kann nach dieser grundsätzlichen Verhältnisbestimmung und der Umschreibung der Grenzen der Bedeutung des Leibes im Folgenden betrachtet werden. Der leibliche Genuss als bleibendes Ereignis der Getrenntheit des Subjekts Um die levinassche These von der Konstitution des Subjekts durch den Genuss interpretieren und nachvollziehbar machen zu können, wurde bereits dargestellt, wie sich für ihn aus der Analyse der Beziehung zum Anderen als Beziehung getrennter Einzelner das Erfordernis einer von dieser Beziehung unabhängigen Konstitution des Subjekts, einer Konstitution in einem Selbstbezug, dem Selbstbezug des leiblichen Lebens im Genießen ergibt. 1093 Das leibliche Leben ist die Basis für die Getrenntheit des Subjekts, seine Selbständigkeit und seinen Selbstbezug und stellt so den unverzichtbaren Ausgangspunkt für die ethische Beziehung als Transzendenzbeziehung dar. »Egoismus, Genuß und Sinnlichkeit und die ganze Dimension der Innerlichkeit sind Artikulationen der Trennung; sie sind erforderlich für die Idee des Unendlichen – oder für die Beziehung mit dem Anderen, die sich vom getrennten und endlichen Seienden aus einen Weg bahnt.« (TU212; vgl. auch TU312 f.) Da dies nicht nur ein anfängliches Erfordernis ist, bleibt der leibliche Genuss ein Moment der ethischen Beziehung. Es wurde gezeigt, wie auf diese Weise die Sorge um sich eine Rechtfertigung bekommt. 1094 Und es wurde dargestellt, wie sich die ethische Beziehung deshalb immer nur als Genuss und Verzicht vollzieht, als Wohnen und Wohnenlassen, als Aktivität für sich und als In-Dienst-Genommensein, als Sammlung von Besitz und Gabe. Selbst wenn der Genuss in der Ausrichtung auf den Anderen nicht um seiner selbst willen angezielt wird, bleibt er als Genuss Genießen für sich. Im Für-den-Anderen wird das Für-sich nicht eliminiert, sondern fortdauernd gebrochen und genommen. 1093 1094

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Vgl. oben, S. 675–689. Vgl. dazu auch oben, S. 431 f.

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Da die Infragestellung an das leibliche Subjekt im Genuss und im Tätigsein für den Genuss anknüpft, das darin immer gewalttätig gegenüber dem Anderen ist, ereignet sie sich konkret als Infragestellung dieser Gewalt. Dass Levinas die Begegnung mit dem Gesicht in dieser Weise phänomenologisch analysiert – als ein »›Du wirst keinen Mord begehen‹« 1095 –, ist nicht zufällig. Es dient nicht nur der Dramatisierung. Es ist nicht nur Widerspiegelung eines biographischen Traumas. Die Situation der Gewalt ist für Levinas nicht nur eine mögliche unter anderen, sondern der unausweichliche Ausgangspunkt der Infragestellung. In der Ermöglichung der Infragestellung spielen neben der Unabhängigkeit, der Aktivität und Gewalt aber auch die Aspekte der Passivität der Leiblichkeit eine wichtige Rolle. Diese gilt es im Folgenden zu betrachten. Die leibliche Passivität als Öffnung für die Exteriorität des Anderen Im Kapitel über die Bedeutung des Genusses im Geschehen der Konstitution des getrennten Subjekts wurde in einem zweiten Schritt die Bezogenheit des Genießens auf etwas Exteriores als Bedingung dafür erhellt, dass das zunächst rein auf Genuss ausgehende Subjekt durch den Anderen betroffen und infrage gestellt werden kann. 1096 Das Subjekt muss von vornherein offen sein auf etwas ihm Äußeres, und zwar muss es davon auf eine bestimmte Weise betreffbar sein. Eine Konfrontation mit dem Anderen in seiner Anderheit und eine heteronome Einsetzung in die Verantwortung wären nicht möglich, wenn es nicht in seinem Bewusstsein und überhaupt in seinen selbständigen Vollzügen hintergangen werden könnte. 1097 Eine Begegnung mit dem Anderen als zu Achtendem setzt voraus, dass der Genuss grundsätzlich unterbrechbar ist. Auch muss der Andere das Ich im Kern seines Selbstseins treffen können, sodass nichts von ihm aus der BeVgl. oben, S. 405–413. Vgl. oben, S. 681–683. 1097 Vgl. JS169: »Rückhaltloses-angeboten-gewesen-sein und nicht Großzügigkeit des Sich-Anbietens, das Akt wäre und das schon das unbegrenzte Erdulden der Sensibilität zur Voraussetzung hat«. Auch in JS234 u. 249 wird die Passivität, in der sich das Subjekt nicht entziehen kann, in der es dem Anderen nicht nicht antworten kann, als in der leiblichen Ausgesetztheit grundgelegt beschrieben. Vgl. auch JS179: »Die Subjektivität der Sensibilität ist, als Inkarnation, ein Verlassen ohne Rückkehr«, d. h., ohne dass es sich selbst immer wieder als Ursprung des Geschehens identifizieren könnte. 1095 1096

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ziehung herausgehalten wird. Die Offenheit dafür sieht Levinas in dem Phänomen gegeben, dass das genießende Subjekt in seinem Sein abhängig ist von der ihm unverfügbar zukommenden Nahrung. Diese kann sich das Subjekt einerseits ganz einverleiben. Es kann sich ganz im Genuss und seiner Unabhängigkeit aufhalten. Andererseits bleibt die Abhängigkeit aber faktisch bestehen und betrifft das Subjekt in der Beunruhigung des Genusses. Für Levinas stellt auf diese Weise »die Leiblichkeit die ontologische Verfassung einer primären Selbstentfremdung« (TU329) dar. Er spricht auch von einer »Selbstabsetzung, Absetzung, die die Inkarnation des Subjektes ist« (JS179). Ohne dass sich die ethische Infragestellung in der bloßen leiblichen Passivität schon ereignet, ist diese die geeignete Offenheit dafür. In gewisser Weise öffnet sich der Mensch in ihr für die ethische Beziehung und in ihr bildet diese sich heraus. 1098 Dass ihr dieselbe rekurrente Struktur der Rückbezogenheit auf ein Jenseits des eigenen Ursprungseins zukommt wie der ethischen Beziehung 1099, hat seinen Sinn in Bezug auf diese. Neben der Rekurrenz kann man die leibliche Offenheit für das ihm Exteriore außerdem insofern in Entsprechung sehen zum ethischen Verhältnis, als der Mensch leiblich von allem betroffen werden kann – zumindest prinzipiell. Wie dem Subjekt leiblich prinzipiell eine Verfügung über alles in der Welt ermöglicht ist (TU42), so ist es auch von allem betreffbar. Dies ist entsprechend Levinas’ Vorstellung von einem »empirischen Ereignis der Verpflichtung« (GP109 f.) erforderlich, um von allem in die Pflicht genommen zu werden. Denn das »Sich ist Sub-jectum: es findet sich unter der Last des Universums – für alles verantwortlich« (JS356). 1100 Dieser Verantwortung zu antworten bedeutet »einzutreten in die Allgegen1098 Vgl. die Bemerkung in JS386, »dass ich mich im Atmen bereits auf meine Unterwerfung hin öffne«, u. JS129 zum »Aushalten des Alterns, in dem sich das Unabweisbare der Nähe herausbildet, der Verantwortung für den anderen Menschen«. Auch in solchen Beschreibungen, die leibliche und ethische Passivität sehr eng zusammenrücken, wird m. E. nicht die oben beschriebene Unterscheidung (vgl. S. 728–734) aufgehoben. 1099 Vgl. oben, S. 671–673, Anm. 1011 u. S. 732 f. 1100 Dass dies für Levinas ein reales Angegangenwerden von allem impliziert, wofür eine leibliche Offenheit auf alles erforderlich ist, wird in der Fortsetzung der zitierten Stelle deutlich: »Die Einheit des Universums ist nicht das, was mein Blick in seiner Einheit der Apperzeption umfaßt; vielmehr ist das meine Sache, was von überallher mir auferlegt ist, was mich anblickt und so mich angeht, was mich anklagt. Insofern ist der Gedanke, daß man im Weltraum mich sucht, keine Fiktion aus der Welt der Sciencefiction, sondern bringt er meine Passivität als Sich zum Ausdruck.« (JS256)

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wärtigkeit« (JS394). Für Levinas besteht ein Zusammenhang zwischen der »Offenheit des Raumes« und der Ausgesetztheit des ethischen Subjekts (JS383 f.) sowie zwischen dem »Überall des Raumes«, auf das hin es geöffnet ist, und dem »Von-überallher der Gesichter« (JS26422 ). Der Leib ist nicht nur die Offenheit dafür, dass eine eigene ethische Intentionalität entsteht, sondern diese ereignet sich auch konkret leiblich, als leibliche Öffnung zum Anderen hin. Denn die Infragestellung muss an das Ich als leibliches Subjekt anknüpfen und der Andere muss es zunächst auf dieser Ebene betreffen. Außerdem ruft die Infragestellung in ihm unmittelbar eine Antwort hervor, in der es sich als Ganzes und somit auch leiblich auf den Anderen hin öffnet. Dass es sich durch ihn in die leibliche Passivität gesetzt erlebt, hat einen wesentlichen Anteil an der spezifischen Weise der Beziehung zum Gesicht; die Phänomenalität wird überflossen genau durch dieses Erleben oder durch diese vom Bewusstsein unterschiedene Intentionalität. Im Bewusstsein ist die Öffnung nach außen schon »betäubt«, »verdrängt« und »unterbrochen«. 1101 Um sich für den Anderen zu öffnen, muss der Leib das Bewusstsein zunächst widerlegen. »Der Leib ist der ständige Zweifel an dem Privileg, das man dem Bewußtsein zuschreibt, allem einen ›Sinn zu verleihen‹. Er lebt als dieses In-Zweifel-Ziehen.« (TU182) Hintergangen wird im Erleben der materiellen Abhängigkeit und Betreffbarkeit aber nicht nur das Bewusstsein, sondern auch das Können. 1102 Wenn die Entfaltung des selbstbezogenen Daseins im Bewusstsein als ein »Aufschub der Leiblichkeit des Leibes« (TU239) angesehen werden muss – und dies gilt schon für das Können –, dann ist das Hineingezogenwerden in die ethische Beziehung nicht als noch weitergehende Entleiblichung, 1101 Vgl. JS148 zur leiblichen Sensibilität und Verwundbarkeit: »Die Unmittelbarkeit als Überempfindlichkeit – ihre Verwundbarkeit – wird im Prozeß des Wissens gleichsam betäubt. Doch wahrscheinlich ebenso verdrängt oder unterbrochen. Im Verhältnis zu dieser Verwundbarkeit (die den Genuss in anderer Weise als ihre Antithese voraussetzt) bezeichnet das Wissen – die Entdeckung des Seins für es selbst – einen Bruch mit dem Unmittelbaren und in gewissem Sinne eine Abstraktion.« 1102 Die leibliche Ebene in der Infragestellung sowohl im Hintergehen des Bewusstseins als auch des Könnens beschreibt Levinas etwa in JS170: »Sobald die Sensibilität aus ihrem gnoseologischen Höhenflug […] in die Berührung zurückfällt, kehrt sie […] vom Ergreifen zum Ergriffenwerden um, von der Aktivität des Bilderjägers zur Passivität der Beute, vom Zielen zur Verletzung, vom intellektuellen Akt der Auffassung zum Erfaßtwerden im Sinne der Furcht und Sorge, ja der Obsession durch ein Anderes, das sich nicht manifestiert.«

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sondern vielmehr umgekehrt als eine Bewegung in die Leiblichkeit hinein zu betrachten. Dies kommt anschaulich zum Ausdruck, wenn Levinas es als ein »Ins-Volle-Gehen« (JS239) beschreibt. Dass sich die Infragestellung sowie die Antwort darauf in der leiblichen Öffnung zum Anderen ereignet, spiegelt sich bei Levinas darin wider, wie er – vor allem in Jenseits des Seins – die ethische Beziehung mit Ausdrücken benennt, die zunächst eine leibliche Relation bezeichnen, etwa ›Sensibilität‹ oder ›Berührung‹. Die Verwendung dieser Ausdrücke zeigt, wie Levinas verschiedene leibliche Phänomene als ethisches Ereignis deutet. Deshalb sollen sie im Folgenden genauer betrachtet werden. An ihnen wird anschaulich, in welchen konkreten leiblichen, aus einer Passivität lebenden Vollzügen sich die Transzendenzrelation ereignet. Mit dem Wort ›Sensibilität‹ benennt Levinas erst einmal sehr weit das leibliche Verhältnis sowohl des genießenden Aufnehmens des Anderen als auch der Betreffbarkeit in diesem Genießen, bis zur schmerzhaften Verletzbarkeit. 1103 Er bezeichnet damit außerdem die sinnliche Empfindung, stellt aber heraus, dass diese »gnoseologische Funktion« (JS148) der Sensibilität sekundär ist gegenüber der Empfindlichkeit. 1104 Zugleich wird ›Sensibilität‹ als Ausdruck für die ethische Betreffbarkeit durch den Anderen verwendet 1105, in der für ihn die bloß leibliche erst ihre eigentliche Bedeutung und Bestimmung findet (JS157–164). Indem damit nicht nur einfach das Ereignis des Betroffenwerdens, sondern auch die Empfänglichkeit für den Anderen benannt wird 1106, indem diese Empfänglichkeit für Levinas aber nicht nur durch die leibliche Passivität und nicht einfach nur durch das Betroffenwerden durch den Anderen selbst, sondern durch die Beziehung zum Unendlichen eröffnet wird, kann man ebenso diese

1103 Beide Seiten finden sich ausgedrückt in JS148, JS164–169 o. auch JS133 in der Bemerkung, dass »der Schmerz sich schon in der Sensibilität abzeichnet, die als Wohlbefinden und Genuß erlebt wird«. Zur Bedeutung als Verletzlichkeit vgl. JS124: »Sensibilität, die von sich her die Empfänglichkeit dafür ist, Schmerz zu empfinden« u. JS131: »Die Subjektivität ist Verwundbarkeit, die Subjektivität ist Sensibilität.« 1104 Vgl. JS145–149 u. 131. 1105 Vgl. JS154: »der-Eine-für-den-Anderen als Sensibilität« o. JS131: »Die Sensibilität, die totale Passivität des Sagens […]. Als Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen ist sie Bedeutung, sie ist die Bedeutung selbst, der-Eine-für-den-Anderen bis hin zur Stellvertretung«. 1106 Vgl. JS49, wo Levinas »Sensibilität« in eine Reihe stellt mit »Empfänglichkeit« und »Verwundbarkeit«.

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ursprüngliche Empfänglichkeit in dem Ausdruck mitangesprochen sehen. Da die Beziehung zum Anderen sich in einem leiblichen Betroffensein ereignet, einem unmittelbaren Kontakt, kann er sie auch Berührung (contact) nennen. 1107 Es geht Levinas dabei um eine Berührung, die zunächst vorgängig ist zu Erkenntnis und Praxis, nicht um ein erkennendes Auffassen von Berührungsqualitäten und nicht um ein Berühren des Anderen, sondern um ein Berührtwerden, welches das Subjekt auf den berührenden Anderen hin öffnet und in dem es nur insofern lebendig beteiligt ist. 1108 Im Wort ›Berührung‹ kommt dieses Verschwinden des Unterschiedes von Aktivität und Passivität sehr gut zum Ausdruck. Berührung ist für Levinas dabei nicht auf das Taktile beschränkt, sondern findet etwa auch im Sehen statt. 1109 Er meint damit jede Form des unmittelbaren sinnlichen Betroffenseins durch den Anderen. Von Berührung spricht Levinas, um einerseits die Unmittelbarkeit der leiblichen und der ethischen Beziehung, in der das Ich keinen Abstand hat zum es ergreifenden Anderen, zum Ausdruck zu bringen 1110 sowie andererseits die Getrenntheit der sich Begegnenden. Denn Berührung bedeutet nicht Verschmelzung. 1111 Wie in der Sensibilität kann sich für ihn dieses Ergriffensein »zum Berühren hin verschieben, zum Betasten, zur Offenheit für …, zum Bewusstsein von …, zum reinen Wissen, das dem ›intakten Sein‹ Bilder entnimmt und sich über die betastbare Washeit der Dinge informiert« (JS172). 1112 Zugleich »schlummert« für Levinas umgekehrt »in jeder sinnlichen Erfahrung die Berührung« (JS17210 ) und kann Vgl. JS193, 201, 203, 221 u. 351. Vgl. JS170 u. 180. Schon in TU nennt Levinas die Beziehung zum Unendlichen »Berührung des Unberührbaren, eine Berührung, die die Unversehrtheit des Berührten nicht gefährdet« (TU62). Wenn das Wort contact ein solches in einer Passivität stehendes Transzendenzverhältnis bezeichnen soll, dann wird dies hier jedoch noch extra dazugesagt. Die Sprache wird etwa als »Berührung durch einen Abstand hindurch« beschrieben (TU249). Ohne nähere Bestimmung ist mit dem Wort eher ein Verhältnis der Aktivität benannt (vgl. neben TU249 etwa TU65). 1109 Vgl. JS170 u. 180. 9 1110 Vgl. JS190: »Unmittelbarkeit in der Liebkosung und in der Berührung«; JS172: »Nähe der Berührung« u. JS169: »das Unmittelbare der Berührung«. 1111 Vgl. JS193: »In Berührung sein: weder den Anderen einsetzen und damit seine Anderheit zunichte machen noch mich selbst im Anderen aufheben. In der Berührung genau sind Berührendes und Berührtes getrennt, als entfernte sich das Berührte, das immer schon Andere, als hätte es mit mir nichts gemeinsam.« 1112 Vgl. auch JS121 u. 20229 sowie SN278. 1107 1108

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das Subjekt in ihr somit von der ursprünglichen leiblichen Begegnung und darin vom ethischen Verhältnis betroffen werden. Um die Unmittelbarkeit dieses Verhältnisses zu benennen, verwendet Levinas neben ›Berührung‹ und ziemlich parallel dazu den Ausdruck ›Nähe‹. 1113 Gemeint ist die Abstandslosigkeit des leiblichen Betroffenseins. Diese ist vorgängig zu ihrer Vorstellung vermittels der Anschauung räumlicher Nähe, beschränkt sich auch nicht auf das Faktum des räumlichen Aneinandergrenzens, sondern ist bedrohendes Ergriffensein vom Anderen im Genuss. 1114 Gemeint ist damit außerdem die sich in dieser leiblichen Nähe ereignende menschliche Nähe. 1115 Wie schon bei ›Sensibilität‹ und ›Berührung‹ greift Levinas die Vieldeutigkeit der Wortverwendung im gewöhnlichen Sprachgebrauch auf, um den Rückgang auf das der Vorstellung vorgängige leibliche sowie ethische Geschehen darzustellen. Die ethische Nähe unterscheidet sich von der räumlichen Nähe zudem dadurch, dass sie nichts Festes ist, sondern entsprechend der Dynamik der Herrlichkeit eine Bewegung, in der das Ich dem Anderen nie nahe genug kommt. Deshalb spricht Levinas häufig von einer »Annäherung«. 1116 Die Rede von der Annäherung bringt neben der Uneinholbarkeit auch zum Ausdruck, dass der leiblichen sowie ethischen Nähe des Anderen eine Nähe und eine Bewegung auf der Seite des Subjekts entsprechen. Manche von Levinas’ Bezeichnungen für die ethische Beziehung heben eher diese Seite der antwortenden Bewegung des Subjekts hervor. Dies geschieht etwa, wenn er sie mit dem Wort ›Aufmerksamkeit‹ benennt. Aufmerksamkeit ist Bewusstsein, aber Bewusstsein, das seine Spannung aus einem Betroffensein durch den exterioren Anderen bekommt (TU141), dessen Aktivität somit rückgebunden ist in die vorgängige Passivität und insofern »ein Mehr an Bewusstsein« (TU259) darstellt. Gemeint ist ein Bewusstsein, das nicht auf die bloße sinnliche Wahrnehmung beschränkt ist, sondern 1113 Die Unmittelbarkeit hebt Levinas etwa in JS169, 173 u. 189 hervor. Zur parallelen Verwendung von ›Nähe‹ und ›Berührung‹ vgl. JS114, 169, 172 u. 193. 1114 Vgl. TU349 u. JS173. Die Vorgängigkeit zur Vorstellung und zu bloßen räumlichen Verhältnissen macht Levinas sonst vor allem in Bezug auf die ethische Nähe deutlich (etwa JS182–187). 1115 Vgl. etwa JS169, 171 u. bes. 182–211 (hier wird immer wieder deutlich, wie sich diese ethische Nähe in der leiblichen verwirklicht, etwa in JS190 o. 201–205). 1116 Vgl. etwa JS44, 19218 , 195 u. 202 f.; vgl. auch JS184: »Die Nähe ist nicht ein Zustand, nicht eine Ruhe, sondern gerade Unruhe […]; immer also ungenügende Nähe, wie eine Umarmung.«

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aus der Infragestellung durch den Anderen dazu geweckt ist, sich vom Begegnenden in seinem Eigensein betreffen zu lassen. 1117 Gemeint ist eine ethisch inspirierte Sinnlichkeit. Noch deutlicher als Aktivität des Subjekts klingt es, wenn Levinas für diese Öffnung zum Anderen die Bezeichnung ›Ausdruck‹ verwendet. Entsprechend der Rede vom Ausdruck des Anderen im Gesicht, in dem er seiner Erscheinung in jedem Moment mit seinem eigenen Sein beisteht und mit ihm seine Phänomenalität unmissverständlich und authentisch durchbricht 1118, spricht Levinas auch vom Ausdruck, mit dem das Subjekt in Beziehung zum Anderen tritt. 1119 Levinas verwendet das Wort zunächst im gewöhnlichen Sinn einer Äußerung, und zwar einer nach außen gehenden Präsentation nicht irgendwelcher Inhalte, sondern der Eigenwirklichkeit. 1120 Sie ist für ihn aber letztlich nicht als Geschehen der Erscheinung des Seins zu verstehen, auch nicht als bloße Aktivität, sondern als eine ethische Antwort auf die Infragestellung des Anderen, in der das Subjekt sich in seinem Sein durch den Anderen ergreifen lässt, in der es nichts von diesem Sein aus der Beziehung heraushält, in der es sich in seinem Sein aussetzt, es insofern anbietet und so dem Anderen dient. 1121 ›Ausdruck‹ ist letztlich zu hören im Sinn eines Nach-außen-gesetztWerdens des eigenen Seins. Dieses Geschehen des Ausdrucks findet Levinas in derselben Weise in der sprachlichen Kommunikation als deren GrundvollVgl. dazu oben, S. 708 f. Vgl. bes. TU283–291. 1119 In TU wird der Begriff in dieser Funktion noch selten verwendet (etwa TU226, 266 u. 338), in JS jedoch häufiger (etwa JS50 f., 122 f. u. 164). 1120 Vgl. TU266, wo es um das Durchbrechen der bloßen Phänomenalität geht, oder TU258 f., wo Levinas »sich ausdrücken« allgemein, für den Anderen wie denselben, im Sinne von »sich absolut präsentieren« versteht, als eine Weise, jede Phänomenalität und Zeichenhaftigkeit zu durchbrechen oder ihr selbst unmittelbar beizustehen. Vgl. auch TU287 zum Ausdruck des Gesichts: »Das ursprüngliche Wesen des Ausdrucks und der Rede liegt nicht in der Information, die sie über eine innere und verborgene Welt geben. Im Ausdruck präsentiert sich ein Seiendes selbst. Das Seiende, das sich manifestiert, steht seiner Manifestation bei«. 1121 Vgl. TU266, wo der Ausdruck als Angebot des eigenen Seins und als Dienst am Anderen verstanden wird. Vgl. TU258 f., wo der Ausdruck näher bestimmt wird als eine von der Ansprache des Anderen hervorgerufene Bewegung des Antwortens, des Sichaussetzens, der Aufmerksamkeit und des Dienstes. In JS findet sich die Rede vom Ausdruck parallel zu der von der Gabe (JS123, JS50 parallel zu »Zeichengeben vom Zeichengeben«) und zu der von einer rückhaltlosen Ausgesetztheit, die auch diese Ausgesetztheit noch aussetzt (JS50, 164, 207, 211 u. 335). 1117 1118

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zug 1122, sodass er diese leiblich-ethische Öffnung zum Anderen auch als Sprache oder als Sagen bezeichnen kann. Gemeint ist nicht die Vermittlung von Inhalten, sondern die sich darin immer ereignende und davon vorausgesetzte Beziehung der Sprechenden. 1123 Das Sprechen des Subjekts besteht für Levinas ursprünglich darin, auf die Ansprache des Anderen zu antworten, sich dem Gespräch auszusetzen, noch vor jedem Wort, als Aufmerksamkeit und als Dienst am Anderen (TU259). Dass es Levinas dabei um Sprache vorgängig zu den konkreten sprachlichen Äußerungen geht und er sie »als eine Haltung des Geistes betrachtet, entmaterialisiert sie nicht, sondern berücksichtigt gerade ihr leibliches Wesen« (TU295). Denn diese Geisteshaltung ist nicht auf die Immanenz des Bewusstseins beschränkt, sondern besteht in einer durch die leibliche Passivität vermittelten und in ihr sich ereignenden Transzendenzrelation. Levinas hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass dies für ihn jedoch nur dann denkbar ist, wenn man die Leiblichkeit nicht als Ich-kann begreift, sondern entsprechend der Beziehung zum Anderen als radikal passives Betroffensein (TU295). So sehr die Wörter ›Sprechen‹, ›Ausdruck‹ und ›Aufmerksamkeit‹ eine Bewegung des Subjekts ausdrücken, so sehr ist diese als eine passiv ergriffene zu verstehen und als eine Bewegung, die sich jeder Aktivität immer weiter entleeren lässt. Diese Dynamik findet sich etwa auch veranschaulicht, wenn Levinas die ethische Haltung eine »Entspannung« (JS135) nennt, oder ein »Schwachwerden« (JS395) – wieder Formen einer leiblichen Passivität, in der sich die ethische Beziehung ereignet. Der Ausdruck ›Entspannung‹ (détente) ist freilich für Levinas nicht nur positiv konnotiert; er benennt damit ebenso das Phänomen einer leiblichen Entspannung, die nicht Moment der Öffnung zum Anderen, sondern ein Moment der Flucht in den Genuss, den Rausch und das verantwortungslose Spiel ist (JS30 u. 19521 ). Die Passivität gewährleistet für Levinas die Aufrichtigkeit der Antwort auf die Infragestellung. In ihr ist es ein »Antwortgeben für den Anderen, ohne irgendeine ›Haltung einzunehmen‹, Verantwortung als ›zellulare Reizbarkeit‹, als Unfähigkeit zu schweigen, als Skandal der Aufrichtigkeit« (JS314). Schon für das bloße Bedürfnis 1122 Zum Ausdruck als Grundereignis der Sprache vgl. TU128–130, 135 u. 287–291. In JS verwendet Levinas die Wörter ›Ausdruck‹ und ›Sagen‹ häufig unmittelbar parallel (etwa JS50 f., 144, 211 u. 335). 1123 Vgl. dazu oben, S. 406 f.

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kann Levinas aufgrund der Vorgängigkeit zu jeder irgendwie vom Subjekt gelenkten Aktivität dessen Aufrichtigkeit herausstellen. 1124 Die ethische Passivität ist genau durch diese leibliche vermittelt, ist »Aufrichtigkeit der Ausgesetztheit« (JS52), ist »›zellulare Reizbarkeit‹« (JS314). 1125 Es ist für ihn die leibliche Ausgesetztheit, welche die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit der unmittelbaren ethischen Antwort gewährleistet, in der sie sich ereignet und in der sie sich auch dann ereignet, wenn jemand die Aufmerksamkeit auf den Anderen umgehen möchte. Von daher erklärt sich, wie Levinas die Unmittelbarkeit des Bedürfens ethisch qualifizieren kann als nicht unaufrichtig (TU123), sogar positiv als aufrichtig (TU197) und als »ein guter Wille« (VS44). 1126 Dies kann freilich nicht bedeuten, dass sich im bloßen Bedürfnis schon die ethische Haltung ereignet 1127, sondern nur, dass vorbereitend in ihm schon einer ihrer Grundzüge anwesend ist. Passivität bedeutet Beschränkung. Indem Levinas die positive Bedeutung der leiblichen Passivität in der Beziehung zum Anderen herausarbeitet, fällt ein neues Licht auf die zunächst meist negativ empfundene Beschränktheit des menschlichen Daseins. »Die Züge der Beschränktheit und der Endlichkeit, die die Trennung annimmt, sind nicht die Bestätigung für ein einfaches ›Weniger‹, das vom ›unendlich Mehr‹ und von der makellosen Fülle des Unendlichen aus verständlich würde; sie verbürgen das eigentliche Überfließen des Unendlichen oder, um es konkret zu sagen, das Überfließen des ganzen Überschusses im Verhältnis zum Sein – des ganzen Guten –, das sich in der sozialen Beziehung ereignet.« (TU422) 1128 Auf diese Weise erVgl. oben, S. 614. Vgl. auch GP115, wo Levinas ebenfalls die »Redlichkeit« und »Wahrhaftigkeit« der ethischen Beziehung mit der Ausgesetztheit in Verbindung bringt. 1126 Hier ist das, was Levinas später besoin nennt, noch als désir bezeichnet. Vgl. auch VS52: »Das Essen […] ist friedlich und einfach; es realisiert völlig die Aufrichtigkeit seiner Intention: ›Der Mensch, der ißt, ist der gerechteste der Menschen.‹« 1127 Vgl. oben, S. 728–734. 1128 Vgl. auch JS140, wo Levinas auf die Entblößung des Subjekts in der Verantwortung verweist und schreibt: »Man kann sich daher also fragen, ob irgendetwas in der Welt weniger bedingt ist als der Mensch, dem noch die letzte Sicherheit, die eine Grundlage böte, fehlt; ob insofern irgendetwas weniger ungerechtfertigt ist als die Bestreitung der menschlichen Bedingtheit und ob irgendetwas auf der Welt unmittelbarer unter seiner Entfremdung seine Nicht-Entfremdung verrät, seine Getrenntheit – seine Heiligkeit –, die vielleicht das Anthropologische jenseits der Gattung Mensch definiert.« Vgl. auch in ÜI41 die Bemerkung, dass man die Unendlichkeit, die sich in der Pluralität und Sozialität ereignet, »in der Sprache des Reichtums nicht ausdrücken kann, ohne sofort in Sätze der Armut zu verfallen«. 1124 1125

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gibt sich aus Levinas’ Analyse: »Der Leib ist weder Hindernis, das der Seele entgegensteht, noch Grab, das sie gefangenhält« (JS24211 ). Die Bedingtheit des Menschen, die bis zu einer Entfremdung führt – dies weist schon auf das Thema des folgenden Abschnitts voraus –, widerspricht nicht nur seiner Heiligkeit, sondern zeigt sie gerade (JS140). Wie Levinas einerseits die positive Bedeutung der Endlichkeit herausheben, sie aber andererseits als Endlichkeit im Unterschied zum Unendlichen bestehen lassen kann, wurde bereits im Kapitel zu seiner Religionsphilosophie dargelegt. 1129 Zur Bedeutung des Leidens Nicht nur die Sicht auf die Beschränktheit wandelt sich, auch die auf das Leidhafte. Schon in der Konnotation der Sensibilität als Verletzlichkeit kam das Moment des Schmerzhaften zum Vorschein. Levinas beschreibt die ethische Beziehung zum Anderen vor allem in der späteren Zeit vermehrt durch verschiedene Begriffe, die Phänomene von leiblicher Schmerzempfindlichkeit und von Schmerz zum Ausdruck bringen. Dies ergibt sich daraus, dass für ihn das Subjekt in der leiblichen Offenheit für das Exteriore in seinem Sein ganz betreffbar sein muss, was sich konkret als Bedrohtheit der Selbsterhaltung im Genuss ereignet. 1130 Es ist nötig, »der Verletzung im Genuß ausgesetzt zu sein – was der Verletzung ermöglicht, an die Subjektivität des selbstgefälligen, sich selbst setzenden und nur für sich selbst stehenden Subjekts heranzukommen« (JS148). Die Verletzlichkeit des Menschen, die Möglichkeit von Krankheit, Schmerz und Tod, ist für Levinas eine Voraussetzung für die Beziehung zum Anderen. Aber nicht nur die Möglichkeit von Schmerz ist für sie erforderlich, sondern in gewissem Maße auch seine Aktualität. Zum einen ist die Bedrohung durch Verletzung selbst schon ein Leiden, »Leiden des vorausgeahnten Schmerzes« (JS134). 1131 Zum anderen ist die leibliche Passivität nicht nur die Offenheit für die ethische Beziehung, sondern diese verwirklicht sich konkret in einer leiblichen Öffnung zum Anderen. Dies kann sich nur in einer Unterbrechung des Genusses ereignen und

Vgl. oben, S. 530–538. Vgl. oben, S. 682 f. 1131 Vgl. auch JS133: »Inwiefern drohend? Im Sinne eines Drohens, das nicht eine bloße Möglichkeit im Neutralen ankündigt. Drohen, insofern der Schmerz sich schon in der Sensibilität abzeichnet, die als Wohlbefinden und Genuß erlebt wird.« 1129 1130

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muss insofern in einem gewissen Maße etwas dem selbstbezogenen Wollen des Bedürfnisses und dessen Befriedigung Entgegenlaufendes, etwas Schmerzhaftes, sein. »Die Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen ist ein Sich-vom-Sein-Lösen – Nähe, Besessenheit durch den Nächsten; Besessenheit wider Willen, das heißt Schmerz.« (JS132) Deshalb verwendet Levinas für die Beziehung zum Anderen nicht nur Ausdrücke für Phänomene von Verletzlichkeit, sondern auch von Verletzung und Schmerz. Insofern kann Levinas den bildlichen Ausdruck ›Gewissensbiss‹, den er manchmal für die ethische Infragestellung verwendet 1132, in gewisser Weise wörtlich verstehen. Indem die leibliche Offenheit für den Anderen aus einem Betroffensein durch ihn erwächst, ist es ein Leiden, das dem Ich vom Anderen zugefügt wird. Auch wenn es zunächst einmal nur der Schmerz ist, der in dieser Ausgesetztheit liegt und nicht ein noch weiterer vom Anderen aktiv zugefügter Schmerz 1133, so geht er doch von ihm aus. Levinas beschreibt das ausgesetzte Subjekt als »Wange, die dem Schlag hingehalten ist, der schon trifft« (JS319). Auf diese Weise hängt die Infragestellung durch den Anderen nicht nur unmittelbar mit meiner Gewalt gegen ihn zusammen, sondern auch mit seiner Gewalt mir gegenüber. Beides hebt Levinas in der Phänomenologie der Begegnung mit dem Gesicht hervor. 1134 Insofern kann er generell sagen, dass die Gewalt und die Möglichkeit des Krieges Bedingung für das ethische Betroffenwerden sind (TU321– 327). Die Gewalt des Anderen muss nicht in einer gegen mich gerichteten Aktivität liegen, schon die bloße Gegenwart des Anderen affiziert mich. Auch muss ich gar nicht unmittelbar in meiner Aktivität eingeschränkt sein. Schon die bloße Tatsache, dass er einen Teil der materiellen Welt beansprucht, die ich zunächst einmal als prinzipiell meiner Verfügung zugänglich, als meinen Besitz ansehe, beschränkt mich. Ausgesetztheit bedeutet zunächst selbst eine Form von Schmerz. Doch zugleich liegt in ihr die Möglichkeit eines über sie Vgl. etwa JS252 f. Interessanterweise verwendet das französische remords dasselbe Bild wie der deutsche Ausdruck. 1133 In JS133 etwa stellt Levinas heraus, dass es zunächst einmal nur auf die Ausgesetztheit und den darin liegenden Schmerz ankommt: »Weil meine Passivität als Subjekt, meine Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen, der physische Schmerz selbst ist, deshalb kann ich ausgebeutet werden; und nicht: weil ich ausgebeutet werde, ist meine Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen absolut passiv, das heißt, schließt sie jegliches Übernehmen aus, ist sie wider meinen Willen.« 1134 Vgl. oben, S. 403–410. 1132

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hinausgehenden Verletztwerdens – durch den Anderen oder durch sonst eine Ursache. Auch dies ist für Levinas in den Voraussetzungen für die Beziehung zum Anderen impliziert – wenn auch nur als Möglichkeit. Zu unterscheiden zwischen einer Passivität und einer gewissen Unterbrechung des Genusses, die in der Ausgesetztheit selbst liegen, und jedem darüber hinausgehenden Leiden, ist deshalb wichtig, damit nicht der Anschein entsteht, Levinas würde jede Form von tatsächlichem Leid als Erfordernis für die Beziehung zum Anderen ausweisen wollen. Zudem kann nur so verständlich gemacht werden, wie er – auf diesen Punkt wird am Ende dieses Abschnitts noch einzugehen sein – eine Hoffnung auf eine von Leid befreite und doch ethische Existenz formulieren kann, ohne sich selbst zu widersprechen. Wie in den folgenden Abschnitten deutlich gemacht wird, entsteht eine Bedeutsamkeit des Leids in der Beziehung zum Anderen noch auf zwei andere Weisen. Im drittnächsten Abschnitt wird es um das Leid im Geben gehen. Dass mir im Betroffensein durch den Anderen unmittelbar etwas genommen wird, hat aufgrund der Bedürftigkeit des Anderen Bedeutung als Gabe an ihn, Gabe, in der ich mich selbst gebe. Auch indem sich Ethik als Gabe verwirklicht, bedeutet sie einen Verlust, der eventuell schmerzhaft ist. Wie im übernächsten Abschnitt beschrieben wird, ergibt sich aufgrund der Bedürftigkeit des Anderen und meiner Wahrnehmung dieser Bedürftigkeit außerdem, dass zur ethischen Beziehung immer ein Leid in der Form eines Mitleidens gehört. Wenn die Infragestellung des Anderen mich trifft in der Situation meines naiven Besitzergreifens der Welt, dann immer in einer Situation, in der ich eine Form von Gewalt gegenüber dem Anderen ausübe. Zur Offenheit für den Anderen, in der diese Infragestellung in mir ankommt, gehört eine Offenheit auch für dieses Betroffensein von meiner Gewalt und das damit einhergehende Leid, das ich aufgrund meiner eigenen Erfahrung von Bedürftigkeit und Leid mitfühlen kann, gehört also Mitleid. Auch insofern sich die Infragestellung in Mitleid konkretisiert, bedeutet sie immer etwas Schmerzhaftes. Diese Gründe sind jedoch sekundär. Denn für Levinas treffen – wie später noch darzulegen ist – die Bedürftigkeit und das Leid des Anderen das Subjekt nicht unmittelbar. Und die Gabe, versteht man sie nur von der Bedürftigkeit des Anderen her als Ausgleich seines Mangels, kann zwar etwas Schmerzhaftes sein, muss es aber in der Situation des eigenen Überflusses nicht. Die für Levinas grundlegende Bedeutung des Schmerzhaften in der Beziehung zum Anderen ergibt sich nicht aus den beiden beschriebenen Gründen, 746

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sondern primär daher, dass sich die Öffnung auf den Anderen als eine Unterbrechung des Genusses, als ein Eingehen in die schon im Genuss bestehende Passivität und Bedrohtheit des Genusses, ereignen muss. Nur von daher muss für Levinas auch die Gabe, soll sie wirklich ethische Tat sein, immer etwas Schmerzhaftes darstellen: »[D]as Geben hat nur Sinn als ein Sich-selbst-Entrissenwerden-wider-Willen und nicht lediglich ohne mich; und das Sich-selbst-Entrissenwerdenwider-Willen hat nur Sinn als ein dem-Sich-in-sich-selbst-Gefallendes-Genießens-Entrissenwerden; sich das Brot abringen, das man gerade verzehrt« (JS168). Nur von daher geht es für ihn darum, dass »das Geben nicht den Über-fluß des Überflüssigen anbietet, sondern das dem-eigenen-Munde-abgerungene-Brot« (JS174), die »Gabe, die ihren Preis hat« (JS24211 ). Levinas stellt immer wieder die Notwendigkeit des Moments des gegen den eigenen Willen Gehenden heraus. 1135 Das »Wider-Willen« (JS123) meint zunächst einmal die Passivität in der ethischen Beziehung zum Anderen. 1136 Es wurde im vorigen Abschnitt beschrieben, wie die leibliche Passivität die Offenheit für die ethische darstellt und wie sich auf der Basis der leiblichen Eigenbewegung und ihres Bruches die ethische Autonomie und ihr heteronomer Bruch ereignen und Ethik mehr sein kann als etwas vom Subjekt Gewolltes, ein wirkliches Bezogensein auf Transzendenz. Durch die Ursprünglichkeit der Passivität im Leiblichen ist das Wider-Willen radikal und keineswegs nur eine Begrenzung eines ihr schon vorgängigen Willens (JS123 f.). Wegen dieser Leiblichkeit der Passivität, weil sich das Wider-Willen als Genuss und Bruch des Genusses ereignet, stellt es für Levinas dann nicht nur ein Hintergangenwerden des Willens, sondern immer auch etwas Schmerzhaftes dar. 1137 Und es sind diese Verwundbarkeit Vgl. JS122–124, 130–134, 167 f., 179 f. und öfter. Vgl. etwa JS123: »zum Ausdruck bestimmt […], aber eben bestimmt und nicht sich selbst bestimmend: ein Sich wider Willen« o. vgl. in JS124 f. die Beschreibung des Wider-Willen anhand der passiven, vom Anderen herkommenden Zeitigung in ihrer Anarchie. 1137 Vgl. JS123 f. zum Wider-Willen in der leiblichen Konkretion als »Möglichkeit des Schmerzes« wie auch als dessen Aktualität: »sich darbietend in seiner Haut, leidend – als in seiner Haut schon nicht wohl in seiner Haut«. Vgl. zum Zusammenhang von Wider-Willen und Schmerz auch JS27327 : »Wenn die Besessenheit Leiden und ›Unannehmlichkeit‹ ist, so deshalb, weil der Altruismus der Geisel-Subjektivität nicht eine Neigung ist, nicht ein natürliches Wohlwollen, wie es in den Moralphilosophien des Gefühls vorkommt. Er ist widernatürlich, unfreiwillig, untrennbar von möglicher Verfolgung, zu der keine Zustimmung denkbar ist – anarchisch.« 1135 1136

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und dieser Schmerz, wodurch nicht nur faktisch das Subjekt aus einer Passivität lebt, sondern von ihr auch betroffen wird und sich nicht gegen sie abschließen kann. In der schmerzhaften leiblichen Passivität kann sich so die überfließende Dynamik der ethischen Passivität, in der jede Immanenz immer wieder vom Anderen her durchbrochen wird, ereignen. 1138 Es ist dargestellt worden, wie für Levinas die Transzendenz der Beziehung zum Unendlichen nur dann im Subjekt ankommen kann, es sich im Begehren nur dann nicht in einem Gefallen am Begehren in seine Immanenz abschließen kann, wenn es auf den nicht begehrenswerten Anderen ausgerichtet und in die Position des unabgrenzbaren Verantwortlichseins für ihn in ihrer schmerzhaften, dem Willen entgegenlaufenden Gestalt gesetzt wird. 1139 Auch ist dargestellt worden, wie sich das Subjekt gerade in der Bedrohtheit des Genusses und im Unbefriedigtsein auf das der Vorstellung vorgängige Geschehen der Nahrung und seine Abhängigkeit von etwas Exteriorem verwiesen erlebt. 1140 Denn der Schmerz ist nicht nur ein bloßer Inhalt des Bewusstseins, sondern in diesem Gehalt das Ereignis der Störung des Bewusstseins selbst. 1141 Um den Grund für die Notwendigkeit einer schmerzhaften Gegenläufigkeit gegen den Eigenwillen deutlich zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass sie für Levinas nicht bedeutet, dass jede Form von Genuss aus der ethischen Beziehung ausgeschlossen sein muss. Der Gedanke ist nicht, dass jede bestehende Bedürfnisbefriedigung verhindern würde, dass das Subjekt nicht um dieser Befriedigung willen, sondern wahrhaft ethisch für den anderen motiviert ist. Was et1138 Vgl. etwa, wie Levinas in JS132 die Passivität des Schmerzes unmittelbar mit der Dynamik des immer schlechten Gewissens in Zusammenhang bringt: »[D]er Schmerz ist reines Defizit, ein Anwachsen der Schuld in einem Subjekt, das nicht wieder zu sich kommt«. 1139 Vgl. oben S. 460 u. S. 527 f. Vgl. dazu bes. GP102–108. Es fällt auf, dass Levinas in GP106 die Widrigkeit der ethischen Beziehung hervorhebt, indem er sie bezeichnet als Position der »Geisel«, als »Adel des reinen Erduldens«, als »Wachen – oder Öffnung des Selbst –, absolut ausgesetzt«. 1140 Vgl. oben, S. 619–621 zum Hintergehen des Bewusstseins im Phänomen der Stärkung und des Bedürfens u. S. 624 f. zum Erleben speziell der Abhängigkeit von etwas Exteriorem im Phänomen der Unsicherheit des Genusses und des Schmerzes. 1141 Vgl. DL117 f. u. TÜ182 f.: »Das Übel ist nicht nur das Nicht-Integrierbare, es ist zugleich die Nicht-Integrierbarkeit des Nicht-Integrierbaren. […] Im Erscheinen des Übels, in seiner ursprünglichen Phänomenalität, in seiner Qualität kündigt sich eine Modalität an, eine Weise: das Nicht-Platz-Finden, die Ablehnung jeglicher Übereinstimmung mit …, ein Wider-die-Natur, eine Monstrosität, das von sich her Störende und Fremde. Und in diesem Sinne die Transzendenz!«

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wa den Eros zweideutig macht, ist nicht das Bestehen eines Genusses und dass dieser nicht zugleich bestehen könnte mit der Distanz gegenüber der Bedürfnisbefriedigung, sondern, dass die Forderung des Gesichts im Eros verdeckt wird zugunsten einer lediglich genießenden Ausrichtung auf den Anderen. 1142 Von daher könnte sich m. E. für Levinas eine ethische Haltung etwa auch verwirklichen, wenn sich jemand mit einer sozialen Neigung und unter Befriedigung dieser Neigung um einen Freund kümmert, ihm etwa in seinen Sorgen zuhört, solange er dies in der Ausrichtung auf den Freund und um seinetwillen tut. Diese Ausrichtung enthält zwar immer einen gewissen Bruch jeder Bedürfnisbefriedigung und einen gewissen Schmerz, die genannte Befriedigung muss dadurch jedoch nicht ausgeschlossen werden. Levinas müsste hier keine Zweideutigkeit attestieren. Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels ist bereits deutlich gemacht worden, dass für ihn in der ethischen Beziehung sogar immer ein Genießen impliziert ist und sie sich wesentlich als Genuss und Bruch des Genusses oder Gabe des Genossenen ereignet. Die Beschreibung des Wider-Willen in der ethischen Beziehung beinhaltet für Levinas also nicht die Behauptung, dass das Bestehen eines Genusses per se die Selbstlosigkeit verhindert. Zwar liegt für ihn in der leiblichen Bedürftigkeit offenbar eine so starke Kraft, dass sie mit ihrer Selbstbezogenheit eine wirklich selbstlose Haltung zumindest schwer macht und faktisch eine reine ethische Vollkommenheit nicht erreichen lässt. Darauf weist zum einen, dass für ihn die Güte des Menschen gegenüber der vollkommenen Güte des Unendlichen ein Weniger darstellt, der Mensch aufgrund seiner endlichen Konstitution hinter dieser zurückbleibt und zur Endlichkeit offenbar auch die Abhängigkeit vom Genuss gehört. Zum anderen weist darauf sein eschatologischer Ausblick auf eine von den Beschränkungen dieses Lebens in einem gewissen Ausmaß befreite Existenzweise, die nicht nur von Leiden erlöst ist, sondern in welcher der Mensch in einer radikalen Selbstentleerung durch den Tod auch in eine »letzte Intensität« (GTZ74) der Beziehung mit dem Unendlichen gelangt. 1143 Dass diese letzte Selbstentleerung erst in einer erschatologischen Verwandlung des Menschen möglich ist, bedeutet jedoch nicht, dass durch die zuvor bestehende Genussorientierung eine selbstlose Haltung generell verunmöglicht wird. 1142 1143

Vgl. oben, S. 374 f. u. S. 696–699. Vgl. oben, S. 569–584.

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Levinas beschreibt das Wider-Willen auch als Sinnlosigkeit des Leidens. Sinnlos ist das Leiden zunächst, weil es der letztlich auf Genuss ausgehenden Teleologie des Subjekts widerspricht. Zwar kann mancher Schmerz innerhalb von ihr auch als sinnvoll angesehen werden, »sinnvoll als Mittel zum Zweck, wenn er in der Anstrengung auftritt, die zu einem Werk nötig ist, oder in der Müdigkeit, die ihr folgt«, wenn er die »Funktion eines Alarmsignals« bekommt, wenn er »den Charakter abhärten« oder als soziales Elend für den gesellschaftlichen Einsatz motivieren kann (DL121 f.). »Doch der schlechte und zweckfreie Un-Sinn des Schmerzes dringt bereits unter jenen vernünftigen Formen hervor« (DL122). Dies ist deshalb der Fall, weil im Leiden für Levinas wesentlich eine Lebensfeindlichkeit steckt. Leiden ist nicht nur ein Gefühl, es ist auch nicht nur eine Beschränkung der eigenen Aktivität, eine Form von Unfreiheit, es »ist die Blockierung des Lebens und des Seins« (DL118 f.) und insofern enthält es immer ein Moment des Sinnlosen. Gerade in dieser Sinnlosigkeit in Bezug auf die Zwecke des Subjekts besitzt es jedoch eine Bedeutung für die Beziehung zum Anderen, denn diese geschieht nur in einer Öffnung der rein selbstbezogenen Ausrichtung des Subjekts. Zugleich besteht für Levinas eine Gegenläufigkeit des Leidens gegen den Sinn, den das Subjekt dem Leiden zuschreiben kann, auch dadurch, dass es immer einer Passivität entspringt, von außen kommt und so jeder Sinnzuschreibung des Subjekts jeweils schon vorhergeht und durch sie nie eingeholt werden kann. 1144 Dies betrifft auch die Sinnzuschreibung, die das Subjekt vornehmen kann, wenn es der Bedeutung des Leidens in der Beziehung zum Anderen gewahr wird, als eines Leidens, welches das Subjekt in der Gegenläufigkeit gegen die eigene Teleologie öffnet, als Leid des Gebens und als Mitleiden. 1145 Deshalb kann Levinas allgemein von der Überschwemmung des Sinns durch eine Sinnlosigkeit im Leiden sprechen: Es ist für ihn ein 1144 Vgl. JS260 : »Jenes zum Leiden gehörende Element des zwecklosen, des vergeb21 lichen, des ›reinen Brennens‹ ist die Passivität des Leidens, die sein Umschlagen in ein ›übernommenes Leiden‹ verhindert, in dem das ›Für-den-Anderen‹ der Sensibilität, das heißt genau der Sinn dieses Leidens, zerstört würde.« Zur Transzendenz im Leiden vgl. oben, S. 748 u. Anm. 1144. 1145 Vgl. GTZ128, wo Levinas den »Wahnsinn im Innersten selbst des Sinns« an der schmerzhaften Passivität festmacht, die mich als Sterblichkeit trifft, als Drohen des Todes: »Es ist meine Sterblichkeit, mein Verdammtsein zum Tode, meine Zeit, die im Sterben liegt, mein Tod, der keine Möglichkeit der Unmöglichkeit darstellt, sondern reiner Raptus, reines Hinweggerissenwerden ist, die jene Absurdität konstituieren, die die Grundlosigkeit meiner Verantwortung für den Anderen ermöglicht.«

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»Schmerz, der das Ich aus der Fassung bringt oder es in einem Schwindelanfall anzieht wie ein Abgrund, um zu verhindern, daß das in sich ruhende und für sich stehende Ich den Anderen, der es verletzt, in einer intentionalen Bewegung ›auf sich nimmt‹ und trägt, und damit in dieser Verwundbarkeit sich die Umkehrung ereigne: zum Anderen, der den Selben inspiriert – Schmerz, Überflutung des Sinns durch die Sinnlosigkeit, auf daß der Sinn die Sinnlosigkeit bestehe« (JS149). Levinas spricht in dem Zusammenhang auch von der »Schlaflosigkeit«. Es ist der Abgrund des Es-gibt, dem das Subjekt in der Passivität des Schmerzes ausgesetzt ist und den Levinas als Moment der Beunruhigung durch den Anderen ansieht (GP88). 1146 Es ist das Überflossenwerden jeder Autonomie durch die Heteronomie, die Konfrontation mit der Exteriorität des Anderen, die sich konkret in der leiblichen Passivität ereignet und das Ich im Schmerz affiziert. Im Schmerz wird das Ich zum einen durch die Passivität mit diesem Abgrund konfrontiert, zum anderen durch seine Vergeblichkeit. Das Von-außen-Kommen des Leidens bedeutet, dass das Ich das Leid nicht auf eine Form begrenzen kann, in der es sinnvoll ist für den Anderen oder die Beziehung zum Anderen, sondern dass es möglicherweise auch dafür nutzlos ist. 1147 Levinas betont die Sinnlosigkeit des Leidens, um letztlich dessen Sinn zu erschließen. Denn gerade als Öffnung nach außen, als Transzendenz, kann das Leid in seiner Zugehörigkeit zur Achtung des Anderen erlebt werden, und zwar bereits vorgängig zu einer freien Zustimmung zu dieser Achtung. Diese freie Entscheidung ist für Levinas zwar ein wichtiger weiterer Schritt in der Verwirklichung der ethischen Beziehung. Die Infragestellung durch den Anderen, die das Ich im Leiden trifft, eröffnet jedoch schon vorgängig zu jeder freien Zustimmung in ihm eine neue Dimension des Wollens, erweckt im Begehren eine spontane Antwort, die es dann auch das Leiden selbst als Moment der Beziehung zum Anderen, als ethisches Ereignis erleben und bejahen lässt. Levinas stellt heraus, dass das Leid in dieser Einbindung in die Beziehung zum Anderen nicht mehr entfremdend und lebensfeindlich ist wie die bloße, uninspirierte leibliche 1146 Zur Bedeutung des Es-gibt in der Beziehung zum Anderen und seiner Erklärung daraus vgl. oben, S. 384–387. 1147 Um diese Vergeblichkeit auch für den Anderen geht es etwa in JS121: »Durch das Sagen bedeutet das Leiden in Gestalt eines Gebens, selbst wenn das Subjekt um den Preis der Bedeutung Gefahr liefe, sinnlos zu leiden. Denn liefe das Subjekt diese Gefahr nicht, so verlöre der Schmerz seine eigentliche Schmerzlichkeit.«

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Passivität: »[D]iese in der Nähe, durch eine Anderheit-in-mir erlittene Passivität […] – was kann sie anderes hbedeuteni als meine Stellvertretung für die Anderen? […] Durch den Anderen und für den Anderen, aber ohne Entfremdung: inspiriert. Inspiration, die Psychismus, die das Leben der Seele ist. Doch Psychismus, der diese Anderheit im Selben bedeuten kann, ohne zu entfremden, als Inkarnation, als In-seiner-Haut-sein, als den-Anderen-in-seiner-Haut-haben.« (JS253 f.) Die Nichtentfremdung macht Levinas hierbei an der Inkarnation fest. Zum einen liegt sie am »In-seiner-Haut-sein«, daran, dass das Ich leiblich in seiner getrennten Identität erhalten wird. Die eigentliche Beseelung und Nichtentfremdung dieser Identität liegt jedoch an der ethischen Beziehung zum Anderen. Die Inkarnation besitzt hierbei insofern eine Bedeutung, als sich der ethische Psychismus nur in der leiblichen Passivität ereignen kann, als ein »den-Anderen-in-seiner-Haut-haben«. 1148 Dieses vollzieht sich als schmerzhafte leibliche Passivität – aber nicht nur als schmerzhafte. Die leibliche Öffnung zum Anderen, die das Subjekt in seine eigentliche Identität bringt und die es löst von der Bindung an sein Sein – dieses Phänomen wurde als Befreiung aus dem Es-gibt bereits thematisiert –, beschreibt Levinas in folgender Weise: Dem Subjekt ist »unwohl in der eigenen Haut«, es ist »blockiert und gleichsam verstopft durch sich selbst, unter sich selbst erstickend, ungenügend geöffnet, gezwungen, sich von sich selbst zu lösen, tiefer zu atmen, bis zum Ende, sich zu enteignen bis dahin, sich selbst zu verlieren« (JS245). Im Leib verbindet sich das Schmerzhafte dieser Öffnung und dieses Sichverlierens 1148 Vgl. dazu auch JS242: »Rekurrenz, die ›Inkarnation‹ ist und in der der Leib, durch den das Geben möglich wird, anders werden läßt, ohne zu entfremden, denn dieses Andere ist das Herz – und die Güte – des Selben, die Inspiration oder ebender Psychismus der Seele.« Dass der Leib letztlich nicht eine Entfremdung bedeutet, weil sich in ihm die ethische Inspiration vollzieht, macht Levinas hier auch in Anm. 12 deutlich. Meines Erachtens darf der Begriff der Inkarnation an der zitierten Stelle, wie auch an anderen, nicht so verstanden werden, dass damit selbst die Einsetzung in die Verantwortung, die Beseelung, gemeint ist, wie Jakub Sirovátka (2006, 196–198 u. 210) dies in seiner These vom »doppelten Inkarnationsbegriff« (210) interpretiert. Die Stellen, auf die Sirovátka sich ausdrücklich bezieht (JS157 u. 160 f.), machen deutlich, wie sich diese Interpretation nahelegen kann; sie und vergleichbare Stellen (etwa JS122 f., 1584 , 179, 234, 247, 254 u. 270 f.) können jedoch auch einfacher sowie vom gewöhnlichen Sprachgebrauch her nachvollziehbarer so gelesen werden, dass ›Inkarnation‹ lediglich ›Leiblichsein‹ bedeutet und es bloß um die Aussage geht, dass die leibliche Passivität Bedingung ist für den Psychismus sowie dass dieser sich inkarniert ereignet.

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mit dem Phänomen einer Lösung und Befreiung – einer Befreiung, die aber gerade dadurch eine Öffnung bleibt, dass sie nicht bloßer Genuss ist, sondern schmerzhaft gebrochen. Die verschiedenen Beschreibungen von Levinas zeigen, wie das Leid in seinem Sinn erlebt werden kann und dass das leibliche Leiden, in dem sich die Beziehung zum Anderen ereignet, dabei nicht einfach als solches belassen wird, sondern durch die ethische Ausrichtung seine Qualität verändert. Wie bereits herausgestellt wurde, gehört für Levinas zur Sinnlosigkeit des Leidens, die seinen Sinn immer übergeht und es so in seiner Bedeutung in der Beziehung zum Anderen erhält, die Möglichkeit von Leid, das nicht unmittelbar dem Anderen oder der Beziehung zum Anderen nützt. Darüber hinaus fällt auf, dass sich Levinas auch sonst beim Versuch, die Bedeutung des Leids in der Beziehung zum Anderen wahrzunehmen, auf jede Form von Leid bezieht und genauso Formen nennt, die weder dem Anderen von Nutzen sein können noch unmittelbar eine von ihm ausgehende Passivität darstellen, wie etwa das Leiden im Altern und in der Krankheit (vgl. etwa JS132 f.). Dies lässt sich daher verstehen, wie für Levinas jede Form von Leid in der Beziehung zum Anderen zu sehen ist. So beschreibt er den Tod und den Schmerz auf eine Weise, dass sie erlebt werden als etwas vom Anderen Ausgehendes, »wie eine Tyrannei vom Anderen« (TU351). Es geht ihm dabei offenbar nicht um die These, dass dies tatsächlich so geschieht oder auch nur ausdrücklich immer so erscheint, sondern nur darum, dass jede Verletzung im Kontext »einer Welt, in der ich durch jemanden und für jemanden sterben kann« (TU351), erlebt wird. 1149 Indem nach seiner Analyse die Beziehung 1149 Vgl. dazu TU339–343, wo Levinas ausführlich beschreibt, wie der Tod, in dem das Ich einer radikalen Exteriorität begegnet, mit der Beziehung zum Anderen verbunden und insofern als Mord erlebt wird. Die Begründung formuliert er hier folgendermaßen: »Der Andere, der vom eigentlichen Geschehen der Transzendenz nicht getrennt werden kann, hält sich in der Gegend, aus der der Tod kommt; der Tod ist möglicherweise Mord.« (TU341) Für ihn ist klar: Es sind meistens »Dinge, die mir den Tod geben« (TU342). Auch geht es ihm ausdrücklich nicht darum, wie in einem primitiven Religionssystem die Ursache des Todes auf irgendwelche personalen Instanzen hinter den Dingen zurückzuführen, sondern er hat »vielmehr die Absicht, hinter der Drohung, die der Tod gegen den Willen richtet, seinen Bezug zu einer interpersonalen Ordnung aufzuzeigen, deren Bedeutung der Tod nicht vernichtet« (TU343). Man muss Levinas hier also offenbar so verstehen, dass es ihm überhaupt nicht um die Angabe einer Ursache des Todes geht, sondern lediglich darum, den Tod in dem Bedeutungshorizont zu sehen, der seiner Analyse nach der letztlich umfassende für den Menschen ist, innerhalb der Beziehung zum Anderen. In Jakub Sirovátkas

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zum Anderen den letzten Bedeutungshorizont für das Subjekt darstellt und indem dessen Verletzlichkeit deshalb besteht, weil sich die Wirklichkeit als Beziehung ereignet, ergibt sich für ihn, dass jede Verletzung, woher sie auch im Einzelnen kommen mag, als Moment dieser Beziehung erlebt wird. Dadurch erhält sie für ihn auch einen Sinn und »bleibt die Gewalt in der Geduld erträglich« (TU351). Dies gilt für das Leid, was unmittelbar mit der Infragestellung durch den Anderen zusammenhängt, für das, was aufgrund der Verletzlichkeit möglich ist und was einem vom Anderen darüber hinausgehend zugefügt wird, sowie für das, was man aufgrund einer anderen Ursache erleidet. Für Levinas kann auf diese Weise jede Form von Leid einen Sinn bekommen und dadurch annehmbar werden. Erträglich wird dabei der Schmerz zum einen durch diesen Sinn und zum anderen dadurch, dass er im Ablassen von der Sorge um sich und in der Ausrichtung auf den Anderen seine Qualität verändert. Levinas beschreibt dies etwa in Bezug auf den Schmerz angesichts des drohenden Todes: Der Tod »verliert das Pathetische, das daher kommt, dass es mein Tod ist. Anders gesagt: In der Geduld bricht der Wille die Schale seines Egoismus auf und setzt gewissermaßen das Zentrum seiner Gravitation aus sich heraus« (TU351). In Bezug auf das Leid, das dem Ich im Anderen und durch den Anderen begegnet, geht Levinas noch einen Schritt weiter. Es ist für ihn nicht nur etwas aufgrund der notwendigen Verletzlichkeit in Kauf zu Nehmendes sowie in der Wendung hin zum Anderen und weg von der Sorge um sich selbst Erträgliches, sondern etwas, als dessen sozusagen rechtmäßigen Träger sich das Subjekt erlebt, und zwar aufgrund der Radikalität der Stellvertretung. Wie in meiner Verantwortung für den Anderen keine Eingrenzung geschehen kann und ich in der Öffnung für den Anderen verantwortlich bin auch für das, was der Andere tut 1150, so kann genauso keine Unterscheidung erfolgen in berechtigte Einschränkung und unberechtigte Einschränkung oder Bedrohung durch ihn. Der Andere trifft mich vorgängig zu solchen Aufteilungen, ich trage ihn ganz – mit allem, was er selbst leidet, auch in seinem Mitleid mit meinem Leiden 1151 – aber auch mit allem, was Interpretation wird dies m. E. übersehen. Seine Kritik, die Beschreibung des Todes als Mord sei etwas Unausgewiesenes und eine »Verdunklung« (2006, 111 f.), erscheint als nicht zutreffend. 1150 Zur Stellvertretung vgl. oben, S. 427–429. 1151 Die Radikalität der Stellvertreterposition bringt Levinas in JS260 21 auch dadurch zum Ausdruck, dass sie für ihn ebenso gegenüber Gott besteht, dass der Mensch sogar

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er tut und was er mir antut. Daraus erklärt sich, wie Levinas das Leiden unter der Verfolgung durch den Anderen selbst als Teil der eigenen Verantwortung beschreiben kann: 1152 »In der Mutterschaft bedeutet die Verantwortung für den Anderen, die bis zur Stellvertretung für die Anderen geht und bis zum Leiden sowohl unter dem, was die Verfolgung bewirkt, als auch unter dem Verfolgen selbst, an dem der Verfolger zugrunde geht.« (JS171) Der Begriff der Mutterschaft veranschaulicht die Leiblichkeit und Schmerzlichkeit des Stellvertreterdaseins. Dies geschieht auch im Begriff der Geiselschaft, den Levinas für die Stellvertretung des Subjekts verwendet. In der Stellvertretung ist es Geisel des Anderen, indem dieser es gegen seinen Willen mit Leib und Leben für den Anderen einstehen lässt. 1153 Stephan Strassers Übersetzung von otage mit ›Leibbürge‹ 1154 bringt die leibliche Dimension des Einstehens für den Anderen treffend zum Ausdruck. Für Levinas geht es nicht darum, sich die Leibbürgenschaft aktiv als Tat zuzueignen oder gar das Leiden durch den Anderen zu suchen 1155, sondern nur darum, sich für diese schon bestehende Position des Stellvertreters zu öffnen: »›Die Wange bieten dem, der schlägt, und Schmach erdulden bis zur Sättigung‹ 1156, im erduldeten Leiden dieses Leiden fordern (ohne den Akt eintreten zu lassen, der im Darbieten der anderen Wange bestünde), heißt nicht, dem Leiden eine wie auch immer geartete magische Kraft des Loskaufs abgewinmit dem Leiden, das Gott mit seinem Leiden mitleidet, Mitleid hat, und diesem, entsprechend dem Mitleid mit dem Mitleid des Anderen, immer »in dieser ganzen Iteration eine Bewegung mehr zukommt«. 1152 Teilweise beschreibt Levinas das asymmetrische Tragen des Anderen zunächst einmal als Mitleiden (etwa JS26021 ), aber daraus allein kann nicht einsichtig werden, wie dazu auch das Tragen des Leidens gehört, das er dem Ich antut. Dies lässt sich nur aus der Unabgrenzbarkeit der Öffnung für den Anderen erklären, aus der Stellvertretung. 1153 Auf diese Bedeutungsmomente kommt es Levinas im Begriff der Geiselschaft an: Geisel des Anderen sein, d. h. durch ihn verpflichtet sein (JS344); das dem Willen Vorgängige und ihm Gegenläufige sowie das Unangenehme (JS51, 27327 u. 276); das Geiselsein für den Anderen, das Stehen an der Stelle des Anderen, das Einstehen mit Leib und Leben (JS42 u. 248). 1154 Vgl. Strasser, 1978, 311 f. 1155 Neben dem oben im Folgenden Zitierten vgl. auch JS262: »Das Ich ist nicht ein Seiendes, das ›fähig‹ wäre, für die Anderen zu sühnen: es ist die ursprüngliche – unfreiwillige – weil der Initiative des Wollens zuvorkommende (dem Ursprung zuvorkommende) Sühne, so als seien die Einheit und Einzigkeit des Ich bereits das Aufsich-Nehmen der Last des Anderen.« 1156 Levinas zitiert hier Klagelieder 3,30. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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nen, es heißt vielmehr, im Trauma der Verfolgung übergehen von der erduldeten Schmach zur Verantwortung für den Verfolger und, in diesem Sinne, vom Leiden zur Sühne für den Anderen.« (JS246) Wenn Levinas hierbei von Sühne spricht, dann geht es ihm nicht um irgendeine Form von erlösender Wirkung, die in diesem Tragen des Leids liegen könnte, sondern es geht ihm allein um das Eingehen in die Position der eigentlichen und letztlichen Verantwortung des Subjekts. Mit der gewöhnlichen Verwendung des Wortes ›Sühne‹ hat die Verwendung von Levinas gemein, dass es um ein Leiden geht, das an der Stelle eines Anderen erlitten werden kann und dass es ein Tragen von Leiden aufgrund von Verantwortung und Schuld ist, nicht aber den Bedeutungsgehalt von Vergeltung, Wiedergutmachung oder Erlösung. Er bezeichnet Sühne einmal als das, »was Identität und Alterität wieder miteinander verbindet« (JS262). Damit ist aber nicht mehr gemeint als die Bestätigung des sich schon ereignenden eigentlichen Verhältnisses zum Anderen, das in der Stellvertretung besteht. Wie die Abwehr traditioneller religiöser Vorstellungen in Bezug auf den Sühnebegriff zeigt, nimmt Levinas ihn zwar aus diesem Kontext. Er wird von ihm aber rein philosophisch vom Phänomen der Stellvertretung her gefüllt. Dieses Vorgehen konnte bereits in Bezug auf andere Begriffe beobachtet werden, etwa beim Begriff des Messianismus. Diese extremen Aussagen über das Tragen von Leid ergeben sich konsequent aus Levinas’ Analyse der asymmetrischen Beziehung zum Anderen, wie schon die Aussagen zur Stellvertretung. Ernst nehmen muss man sie, wenn man sie hört auf dem Hintergrund von Levinas’ Erfahrung von Verfolgung. Erträglich sind sie jedoch nur als sein rein persönliches Zeugnis der eigenen Wahrnehmung seiner Verantwortlichkeit. Er selbst betont, dass diese Haltung nicht zu predigen und von Anderen zu erwarten ist 1157, und zwar entsprechend der Asymmetrie der Verantwortung. 1158 Betrachtet man die bisher dargestellte Analyse der Bedeutung des Leidens, dann könnte Levinas als Vertreter einer Theodizee erscheinen – einer Theodizee sogar angesichts der Verbrechen der Shoa. Wie dies bereits im Kapitel zu Vgl. DL126, 1304 u. IEA137. Vgl. DL129: »Unter diesem Blickwinkel, dem zwischenmenschlichen Aspekt meiner Verantwortung für den anderen Menschen ohne Rücksicht auf Gegenseitigkeit, meines Appells an seine uninteressierte Hilfe, der Asymmetrie der Beziehung vom Einen zum Anderen haben wir versucht, das Phänomen des sinnlosen Leidens zu analysieren.« 1157 1158

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Levinas’ Religionsphilosophie herausgestellt wurde, folgt aus diesen Verbrechen für ihn jedoch – aufgrund der Asymmetrie konsistent zu seiner eigenen Haltung gegenüber der Verfolgung – gerade die Unmöglichkeit jeder Theodizee, jeder Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids aber auch allgemein und unabhängig von der Frage, wie Gott das Leid zulassen kann, jeder Rechtfertigung des Leidens. »Für jede ethische Sensibilität – die sich inmitten der Unmenschlichkeit unserer Zeit gegen diese Unmenschlichkeit behauptet – ist die Rechtfertigung des Schmerzes des Anderen mit Bestimmtheit der Ursprung aller Unmoral.« (DL126) Alles, was Levinas über die Bedeutung des Leidens sagt, ist nur für sein Leid gesagt. 1159 Es besteht für ihn »ein radikaler Unterschied zwischen dem Leiden im Anderen, wo es für mich unverzeihlich ist, mich wachrüttelt und aufruft, und dem Leiden in mir, meinem eigenen Leidensabenteuer, dessen konstitutive und angeborene Sinnlosigkeit einen Sinn erhalten kann« (DL120 f.). »Nur als Leiden in mir und nicht als Leiden allgemein kann das willkommene Leiden, wie es in der geistigen Tradition der Menschheit bezeugt ist, eine wahre Idee repräsentieren: Das Leiden als Sühne des Gerechten, der für die Anderen leidet, das Leiden, das erleuchtet, das Leiden, das von den Personen Dostojewskis gesucht wird. Ich denke auch an die mir vertraute jüdische Tradition, ans ›Ich bin krank vor Liebe‹ im Hohenlied« (DL1304 ). Dass Levinas zeigt, wie es ihm möglich sein kann, das eigene Leiden anzunehmen und ihm einen Sinn innerhalb der Beziehung zum Anderen zu geben, muss zudem im Zusammenhang mit seinem philosophischen Aufweis einer berechtigten Hoffnung auf eine eschatologische Befreiung von Leid gesehen werden, die nicht nur das Leid des Anderen, sondern auch das eigene betrifft. 1160 Denn dies zeigt, wie wenig es Levinas darum geht, das Leiden gutzuheißen, und wie für ihn das Annehmen des eigenen Leidens nicht die Hoffnung auf eine Befreiung und sogar den Glauben an das moralische Erfordernis einer Befreiung von Leid ausschließt. Zugleich ist jedoch, wie dies im Abschnitt zu Levinas’ philosophischer Eschatologie schon ausgeführt wurde, umgekehrt die erhoffte Erlösung mit dem in Ver1159 Darauf beschränkt sich freilich die Negation der Rechtfertigung des Leids im Anderen. Es soll nicht »dem Anderen die Möglichkeit, einen Sinn in seinem Leiden zu finden, abgesprochen werden«, wie Hendrik Johan Adriaanse (1992, 109) kritisiert, sondern nur herausgestellt werden, dass diese Sinngebung nicht von mir zu leisten oder vom Anderen zu fordern ist. 1160 Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 569–584.

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bindung zu bringen, wie sich das Leid für ihn in der Analyse der Bedingungen einer ethischen Beziehung von Getrennten in gewissem Grad als unausweichliches und deshalb in Kauf zu nehmendes Erfordernis erweist. Von daher kann es um eine Befreiung nur vom über dieses Erforderliche hinausgehenden Leiden gehen, wenn dieser eschatologische Erlösungszustand zugleich einer der ethischen Vollkommenheit, d. h. des passiven Bezogenseins auf den Anderen, sein soll. Das Herausgenommensein aus den weltlichen Bedingtheiten, die das Subjekt »geschützt« sein lassen »gegen die Rache des Bösen« (TU416), darf nicht so weit gehen, dass die Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen, die Unterbrechung des Genusses und die damit einhergehende Sinnlosigkeit aufgehoben werden. Wie am Anfang dieses Abschnitts hervorgehoben wurde, ist dies jedoch zu unterscheiden von all dem, was das Leben darüber hinaus an Leiden mit sich bringt und in dem m. E. der eigentliche Anlass liegt sowohl für die Hoffnung auf eine Befreiung von Leid als auch für das Stellen der Theodizeefrage. Von diesem Leid erscheint eine Befreiung möglich. Dass Levinas mit dem »Traum einer glücklichen Ewigkeit« (TU416) nicht einen von jeder Brechung des Genusses freien Zustand in den Blick nimmt, deutet sich an, wenn er den Tod als bleibendes Moment des eschatologischen Bezogenseins auf das Unendliche herausstellt (GTZ74). 1161

1161 Von daher ist m. E. Magnus Striet (2013, 340) in seiner Anfrage an Levinas zum einen Recht zu geben: Das Eintreten in die Differenz und mit ihr das Eintreten in eine von Leiden bedrohte Existenz ist für Levinas ein Erfordernis dafür, dass sich das Unendliche ereignen kann. Es wäre jedoch dazu zu bemerken, dass Levinas das Verhältnis des Unendlichen zum Anderen sowie zum Ich weder so denkt, dass es sich nur in ihnen realisiert, noch dass es sie gebraucht für sein Sichereignen in ihnen. Um die unverrechenbare Anderheit des Anderen zu sichern, verlässt Levinas gerade eine lediglich funktionale Verhältnisbestimmung (vgl. dazu oben, S. 460 f u. 496 f.). Außerdem wäre zu bemerken, dass für Levinas nicht das faktische Leid im Ganzen erforderlich ist und dass für ihn das Leid zugleich immer etwas ist, was nicht sein soll, weshalb er konsequent eine Befreiung von allem über die Unterbrechung des Genusses hinausgehendem Leid erhoffen kann. Auch bleibt es dabei, dass es für Levinas in der Begegnung mit dem Anderen auf der ursprünglichen Ebene in keiner Weise darum gehen kann, eine Akzeptanz des Leidens, selbst des als erforderlich betrachteten, zu erwarten. Meines Erachtens verbietet es sich zudem nicht generell, in der Auseinandersetzung mit der Theodizeefrage, Überlegungen anzustellen, die versuchen, eine Antwort zu finden auf die Frage, weshalb das Dasein faktisch von Leidanfälligkeit geprägt ist, und dabei das Leiden in einem gewissen Ausmaß als erforderlich auszuweisen.

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Leib-Phänomene der Passion für den Anderen Nach der Darstellung der levinasschen Analyse der Bedeutung des Leidhaften in der ethischen Beziehung zum Anderen lohnt sich ein Blick darauf, in welchen verschiedenen Aspekten er es beschreibt, in welchen konkreten Leibphänomenen sich für ihn die schmerzhaftpassive Verantwortlichkeit, man kann sagen: die Passion für den Anderen, ereignet und welche Ausdrücke er von daher für sie findet. Wie im Folgenden deutlich wird, lassen sie sich parallelisieren mit den verschiedenen beschriebenen Momenten der selbstbezogenen Leiblichkeit. Gegenläufig zum Glück des Genusses ist der einfache physische Schmerz. Das Erdulden von Schmerz, die »Passivität des Aushaltens, der Geduld« im Sinne des Duldens, beschreibt Levinas als ethische Haltung (JS124). »In der Geduld bricht der Wille die Schale seines Egoismus auf und setzt gewissermaßen das Zentrum seiner Gravitation aus sich heraus, um als Begehren und Güte zu wollen, die grenzenlos sind.« (TU351) Das, was für ihn am Schmerz über das Gefühl in seiner Inhaltlichkeit hinaus die eigentliche Schmerzlichkeit ausmacht, ist die Blockierung und Verletzung des Lebens, das sich im Genießen erhält, »das Krankhafte […] dessen, was wehtut« (JS124). Von der Beziehung zum Anderen her kann Levinas »Krankheit als Identität« verstehen, nämlich als ethische Identität (JS157). Aber nicht erst in der tatsächlichen Krankheit und Verletzung, schon in der bloßen Bedrohtheit davon befindet sich das Subjekt für ihn in der den Genuss unterbrechenden Öffnung auf den Anderen. Sehr häufig benennt er diese in Jenseits des Seins entsprechend mit dem Ausdruck ›Verwundbarkeit‹. Oft beschreibt Levinas die Verwundbarkeit als Ausgesetztheit. Gemeint ist damit zwar auch, dass das Subjekt leiblich in einer Öffentlichkeit steht, unter den Blicken der Anderen, ohne sich prinzipiell entziehen zu können. Ausgesetztheit ist aber nicht nur dieser Bruch des »Geheimnis[ses] des Gyges 1162, des Subjekts, das sieht, 1162 Ein König von Lydien, historisch bedeutsam, aber auch Träger verschiedener Sagen. Unter anderem soll er einen Ring besessen haben, der ihn unsichtbar machte. Levinas thematisiert ihn hier wahrscheinlich, weil sich Platon in der Politeia (Buch II, 359c–360c) auf ihn und seinen unsichtbar machenden Ring bezieht. Das Unsichtbarmachen steht dort ebenfalls im Zusammenhang einer moralphilosophischen Argumentation, nämlich für die These, dass der Mensch nicht von sich aus, sondern nur von Anderen genötigt moralisch handelt und dies nicht tun würde, könnten seine

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ohne gesehen zu werden, ohne sich auszusetzen, das Geheimnis des nach innen gekehrten Subjekts« (JS319), dem bei Levinas die Beschreibung der ethischen Haltung als »›hier, sieh mich‹« entspricht (JS326 f.). Ausgesetztheit bedeutet, bis zur möglichen Verletzung ausgesetzt zu sein (JS164). Um das Überfließen der Passivität auszudrücken, spricht Levinas vom Aussetzen der Ausgesetztheit, »sich immer weiter aussetzend, über den Akt des Sich-Aussetzens hinaus, der dem eigenen Ausgesetztsein entspräche« (JS207). Häufig thematisiert er die Ausgesetztheit in einem konkreten Phänomen, in der Haut. Sie ist für ihn zum einen, in einem »In-seiner-Haut-sein«, Ereignis des Genusses und der Trennung des Subjekts, zum anderen, in einem »den-Anderen-in-seiner-Haut-haben«, Ereignis der Öffnung nach außen und der Betreffbarkeit durch den Anderen (JS254). Beides zusammen wird metaphorisch ausgedrückt als »Atmung der Haut« (JS118). Das verletzliche Subjekt beschreibt er konkret »als entblößtes Sich, sich darbietend in seiner Haut, leidend – als in seiner Haut schon nicht wohl in seiner Haut, seine Haut nicht für sich habend – als Verwundbarkeit« (JS124). Entsprechend wird die Ausgesetztheit häufig als Nacktheit und Entblößung benannt. Wieder geht es nicht nur um das Beraubtsein der Kleider, sondern um die Verwundbarkeit bis zur Bedrohung des Seins: »unbekleidet, ohne schützende Hülle, Bloßlegung bis zum Innersten […]. Entblößung über die bloße Haut hinaus, bis zur tödlichen Verletzung« (JS120). Neben der Konkretisierung des Begriffs der Ausgesetztheit sind diese Beschreibungen bedeutsam als eigene Phänomenologie der Haut. Dies gilt auch für die Thematisierung des Atems, auf den sich Levinas neben der Haut als ein konkretes leibliches Phänomen für die Beschreibung der Ausgesetztheit bezieht, und zwar speziell auf die Erfahrung, im Einatmen bis ins Innerste von der Luft betroffen zu werden, die von außen kommt (JS384 u. 120). Zugleich ist für ihn der Atem auch im Ausatmen Phänomen der leiblichen Passivität, nämlich indem sich hier dem Subjekt das entzieht, was es nährt (JS49 u. 387 f.) – ähnlich ebenso im Phänomen der Atemlosigkeit. Wenn Taten wie die des Gyges von den Anderen nicht entdeckt werden und wäre er so nicht zu belangen. Später kommt Platon darauf noch einmal zurück, wenn er als Gegenthese vorbringt, die Gerechtigkeit sei unabhängig von Bestrafung oder Lohn, sie sei »für die Seele an und für sich das Beste und das Gerechte müsse sie tun, möchte sie nun den Ring des Gyges haben oder nicht haben« (Buch X, 612b). Levinas würde dem grundsätzlich zustimmen, aber wohl auf die Gefahr einer Entleiblichung der Ethik aufmerksam machen.

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Levinas vom Atem spricht, etwa von der »Atemlosigkeit des Geistes« (JS28 u. 49), dann ist dies zu einem Teil metaphorisch, zu einem anderen aber wörtlich zu verstehen. Auch erklärt sich der metaphorische Gebrauch daraus, dass für ihn tatsächlich »das Atmen, durch welches die Seienden sich triumphierend in ihrem Lebensraum zu behaupten scheinen, ein Aufzehren ist, eine Auflösung des Kerns meiner Substantialität; daß ich mich im Atmen bereits auf meine Unterwerfung hin öffne, Unterwerfung unter das unsichtbare Andere im ganzen« (JS386). Am Atem macht Levinas deutlich, wie sich leiblich eine Öffnung auf den Anderen ereignen kann sowie ein Loslassen und ein Verzicht. Unmittelbarer greifbar ist dies, wenn Levinas in der Folge der Beschreibung des Genusses ausgehend von der Ernährung diese Öffnung als Gabe des Brotes beschreibt: »Geben, für-den-Anderen-sein, wider Willen, doch dabei das Für-sich unterbrechend, heißt: sich das Brot vom Munde reißen, den Hunger des Anderen mit meinem eigenen Fasten stillen.« (JS134) Der Verzicht ist dabei für Levinas nicht nur eine eventuelle Begleiterscheinung des Gebens, sondern es braucht ihn für diese Unterbrechung des Genusses. Aus diesem Grund kann sich für ihn eine Öffnung zum Anderen auch in einem solchen leiblichen Loslassen ereignen, das dem Anderen nicht wie bei der Gabe von Essen direkt zugute kommt, wie etwa im Ausatmen. Wenn an der zitierten Stelle von einem »Fasten« gesprochen wird, macht dies deutlich: Es geht nicht um den bloßen Verzicht, sondern um den, der, sei es in der spontanen Antwort auf die Heteronomie oder schon in der freien Zustimmung, als Für-den-Anderen bejaht wird. Zugleich darf er jedoch keine reine Aktivität sein, sondern er muss das Moment des Wider-Willen, der Heteronomie und konkret leiblich des passiven Unterbrochenwerdens des Genusses enthalten. Das Phänomen, in dem sich für Levinas die Unterbrechung des Genusses zuallererst in der Analyse des Genusses zeigt, ist die Bedrohung durch den Entzug der Nahrung. Dieses Phänomen ist gemeint, wenn er vom »Erfaßtwerden im Sinne der Furcht und Sorge, ja der Obsession durch ein Anderes, das sich nicht manifestiert« oder vom »Sich-Winden in den Angstdimensionen des Schmerzes« spricht und dies als ethisches Ereignis beschreibt (JS170). Noch bevor es zur Furcht um den Anderen kommen kann, ist diese Furcht Moment der Begegnung mit der sich immer jenseits haltenden Anderheit des Anderen. In Entsprechung zum In-sich-Ruhen der Befriedigung im Genießen beschreibt Levinas diese Furcht als Unruhe, als »ein vorLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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ursprüngliches Nicht-in-sich-Ruhen, die Beunruhigung des Verfolgten« (JS170). Wenn er ausdrücklich betont, dass in der dienenden Ausrichtung auf den Anderen die »Beunruhigung besser ist als die Ruhe« (JS130; vgl. auch JS208), dann geschieht dies wohl als Entgegensetzung gegen den Hauptstrom der philosophischen und spirituellen Tradition, die das Ziel des Menschen eher als In-sich-Ruhen beschreibt. Indem Levinas die Unruhe als Schlaflosigkeit anspricht (JS148 f. u. 208), wird ein Zusammenhang mit seiner Analyse des Es-gibt hergestellt. Das Es-gibt zeigt sich in zwei Aspekten: als drohende Auflösung des Subjekts und als Bindung des Subjekts an sein Sein. Beide erklären sich letztlich aus der Beziehung zum Anderen und besitzen innerhalb von ihr einen Sinn. 1163 In der beschriebenen Unruhe tritt der erste Aspekt hervor, als Furcht vor der Auflösung der leiblich konstituierten Identität. In Entsprechung zum zweiten Aspekt findet sich bei Levinas eine Angst thematisiert, die der Mensch vor der Enge der Leiblichkeit selbst empfinden kann, in der sich aufzuhalten er durch den Anderen gerufen ist. Es ist die Angst vor dem »Ins-Volle-Gehen«, die »Beängstigung der Kontraktion und des Zerspringens«, Angst vor der Begrenzung des identischen Seins sowie vor seiner Öffnung, die immer Öffnung dieser Identität ist, in deren Begrenztheit das Ich gebunden ist, und nicht ein Entkommen ins Nichts (JS239). Gegen das Ideal von Verschmelzung und Auflösung stellt Levinas das der Beziehung, die sich immer nur als Kontraktion des Selbst und Transzendieren des Selbst ereignet und so mit der Enge dieser Kontraktion verknüpft ist. Man kann in der beschriebenen Form der Widrigkeit, auch wenn Levinas dies in dem Zusammenhang nicht eigens hervorhebt, den zweiten Aspekt des Es-gibt, die Belastung mit dem Sein, angesprochen und mit einer positiven Bedeutung in der ethischen Beziehung versehen finden. In der Verletzbarkeit des Genusslebens ist das Subjekt radikal in seiner Existenz bedroht. Zwar ist für Levinas der Schmerz, und nicht der Tod, die höchste Prüfung des Willens (TU350 f.), aber seinen Ernst bekommt er daher, dass er Schmerz ist, in dem das Leben bedroht ist, in dem den Menschen seine Sterblichkeit, das Nahen des Todes, trifft. Die eigene Sterblichkeit auszuhalten und sich um den Tod des Anderen mehr zu sorgen als um den eigenen, ja gegebenenfalls sogar bereit zu sein, für den Anderen zu sterben 1164, lässt das 1163 1164

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Vgl. oben, S. 362–365 u. 384–387. Zum Sterben-für vgl. TU38 u. 351. Levinas spricht auffällig selten von dieser, wie

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Subjekt zu seiner eigentlichen ethischen Identität finden. »Der Wille ist unter dem Urteil Gottes, wenn seine Furcht vor dem Tode sich umkehrt in die Furcht, einen Mord zu begehen.« (TU359) »Ignorieren des Seins und des Todes, das weder ein Ausbruch sein kann noch eine Feigheit noch ein Absturz in die Alltäglichkeit; und ebensowenig der Mut zum Freitod, der immer noch interessiert ist« (JS380), »Eintritt in die Beunruhigung-um-den-Tod-des-anderenMenschen« (BS216). Von hier aus ist für Levinas der Sinn der Sterblichkeit zu verstehen: »Der Tod bedeutet in der Konkretheit der unmöglichen Preisgabe des Anderen an sein Alleinsein, in dem Verbot dieser Preisgabe. Sein Sinn beginnt im Zwischen-Menschlichen. Der Tod bedeutet ursprünglich in der eigentlichen Nähe des anderen Menschen oder in der Sozialität.« (BS214) Die radikale Abhängigkeit des Subjekts von der Nahrung oder die Sterblichkeit bedeutet für Levinas, dass es in jedem Moment vergeht und sich neu empfangen muss, bedeutet seine Zeitlichkeit. Entsprechend kann Levinas auch an der Zeitlichkeit die Unterbrechung des Willens und das Unangenehme beschreiben, worin sich die ethische Beziehung ereignen kann. Das passive Zukommen und das Vergehen der Zeit treffen das Subjekt in der Zeitvergessenheit des Genusses, im Zeithaben des Könnens ausgehend vom Abstand zum Genuss sowie im synchronisierenden Vorstellen eines Zeitraumes 1165 und lassen jede eigene Aktivität und jedes eigene Wollen unterbrochen und das Subjekt so auf die Exteriorität geöffnet sein. 1166 Das Fortdauern kommt dem Subjekt von außen zu, erlebbar in der Abhängigkeit von der Nahrung. Auch zeitigt sich die Zeit als diachroner Bezug, und zwar nicht nur des synchronen Bewusstseins zur Uneinholbarkeit der Subjektsvollzüge, sondern als diachroner Bezug dieser Vollzüge zur exterioren Nahrung und zum exterioren Anderen. 1167 In er es nennt, »äußersten Gabe« (BS214). Er sieht sie jedoch im Grunde »durch alle Modalitäten des Gebens hindurch« sich ereignen (BS214). 1165 Zu diesen Formen der Zeitlichkeit vgl. oben, S. 707. Bernhard Casper bezeichnet m. E. zu Recht auch die Zeitlichkeit des Wohnens, das Zeit-Haben, die an sich vorgängig ist zur Synchronie des Bewusstseins, als eine »Synchronie« (1999, 165), da in ihr das rein passive Ausgesetztsein der Diachronie schon verlassen und die Zeit auf eine Art gesammelt ist. 1166 Vgl. dazu etwa JS124 f.: »[D]ie Verantwortlichkeit für den Anderen kann sich nicht aus einem freien Engagement, nicht aus einer Gegenwart ergeben. […] Diese An-archie, diese Weigerung, sich zu Vorstellung versammeln zu lassen, hat eine eigene Weise, mich zu betreffen: den Zeit-lauf«. 1167 Zur Diachronie vgl. oben, S. 336–338, 342–344 u. auch 666–671. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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der leiblichen Diachronie ist das Subjekt offen für den diachronen Bezug zum Anderen und dieser vollzieht sich in ihr. Im »Zeitverlust«, dem »Altern« (JS125), im zu schnellen Vergehen der Zeit, aber auch im zu langsamen Vergehen, das die Geduld fordert, trifft den Menschen die Widrigkeit der Zeit. Nicht nur als Dulden von Schmerz, sondern auch in diesem zeitlichen Sinne des Wartens kann Levinas die Geduld als ethische Haltung ansprechen (JS124–127). Dass das Subjekt in dieser diachronen Zeitlichkeit mit ihrer bis zur Todesbedrohung gehenden Widrigkeit steht, bedeutet für Levinas ein Sichereignen des Unendlichen: »Das Nichts des Intervalls – eine tote Zeit – ist das Ereignis des Unendlichen.« (TU415) Tote Zeit ist es zum einen, weil es nicht die eigene Zeit ist, weil das Subjekt hier in Beziehung ist mit etwas jenseits seines Seinsereignisses oder überhaupt des Seinsereignisses, ohne dass es freilich dadurch bloßes Nichts wäre. 1168 Tote Zeit ist es zum anderen wohl auch, weil das Bestehen des Intervalls für Levinas unmittelbar mit der Notwendigkeit der Sterblichkeit zusammenhängt – »Die Konstitution des Intervalls […] fordert den Tod« (TU415) – und dem Subjekt in diesem Intervall sozusagen die eigene Sterblichkeit begegnet oder es sich durch die eigene Sterblichkeit hindurch auf den Anderen bezieht. Die Widrigkeit der leiblichen Passivität lässt sich nicht nur in Bezug auf den Genuss in seinen verschiedenen Momenten, sondern auch in Bezug auf die weiteren Formen der selbstbezogenen Leiblichkeit beschreiben. Für das Können oder die Arbeit weist Levinas auf die damit aufgrund der leiblichen Abhängigkeit und Begrenztheit immer zumindest latent einhergehende »Anstrengung, das unableitbar Widrige an der Müdigkeit, die schon im Schwung der Bewegung und in der Energie der Arbeit sich abzeichnet« (JS131). Müdigkeit und Schwäche sind für Levinas in der ethischen Haltung der Geduld impliziert und verhindern in ihr, dass sie eine »Haltung« ist, dass sie die ursprüngliche Passivität verlässt (JS130). Gegenläufig zum Besitzen ist die Armut. Auch als Armut bezeichnet Levinas die ethische Beziehung (JS207). Armut meint den Mangel an materiellem Besitz, aber auch ein Leerwerden von allen geistigen sowie ethischen Errungenschaften und so auch selbst von der »Armut, die noch wie eine Haut das Sich umschließen und es so in eine Innerlichkeit einsetzen könnte, in der es schon um sich selbst versammelt, schon Substanz 1168 Vgl. TU75: »Das Intervall der Diskretion oder des Todes ist ein dritter Begriff zwischen dem Sein und dem Nichts.«

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wäre: es heißt, immer wieder aufs neue sich leer machen von sich selbst, sich von sich selbst lösen wie bei der fortwährenden Blutung eines Bluters« (JS207). Auch die Ruhe der Bleibe, die Bedingung von Arbeiten und Besitzen, muss das Subjekt verlassen. Korrelativ zum Wohnen ist für Levinas das ethische Subjekt »ohne Ort, um sich hinzulegen, im Nicht-Ort […] im Scheitern von Ruhe und Heimat, eingebunden in die Verfolgung« (JS24212 ). 1169 Heimatlosigkeit, Dasein als »Fremder« (JS141) und im »Exil« (JS118) – Begriffe, die eng mit dem Judesein verbunden sind – werden von Levinas zur Benennung der ethischen Existenz verwendet. Sie ist, wie er häufig sagt, eine Existenz im »Nicht-Ort«, verstanden als Entzug des leiblichen Wohnens und darin als Entzug des Seins überhaupt, als Aufenthalt, oder eben gerade nicht Aufenthalt, im Jenseits-des-Seins. 1170 Wenn Levinas von der »Utopie des Menschlichen« (JS110) spricht, bringt er neben der Unerreichbarkeit des ethischen Ideals auch die wesentliche Entwurzelung der ethischen Existenz zum Ausdruck. Es wurde deutlich, welche Vielfalt an Phänomenen Levinas für die Beschreibung der schmerzhaften ethischen Passivität heranzieht. Dadurch gibt er zum einen der Bestimmung der ethischen Existenz eine anschauliche Fülle. Zum anderen zeigt er so, wie verschiedene konkrete leibliche Erscheinungen einen Sinn in der Transzendenzbeziehung bekommen können. Die Leiblichkeit des Anderen in der ethischen Aufforderung Aus der bisherigen Analyse, die gezeigt hat, dass die ethische Infragestellung das Subjekt als Leibliches und in seiner leiblichen Passivität treffen muss, ergibt sich auch, dass der Andere, soll er ihm auf dieser Ebene des Materiellen begegnen, selbst mit ihr in Verbindung stehen, also selbst auf irgendeine Weise leiblich sein muss. Die das Ich infrage stellende Anderheit des Anderen muss immer in leiblicher Gestalt begegnen. Was sich so als Erfordernis für die Beziehung Getrennter ergibt, ist bereits beschrieben worden als Begegnung mit dem Gesicht 1169 Vgl. etwa auch JS303: »[E]s ent-ortet sich, verliert seine Stelle, wird ins Exil getrieben, in sich verbannt, doch, als sei selbst die eigene Haut noch eine Weise, im Sein Zuflucht zu nehmen, ausgesetzt der Verletzung und der Schmähung, sich entleerend in einen Nicht-Ort«. 1170 Häufig spricht Levinas vom Nichtort, um das Jenseits-des-Seins zum Ausdruck zu bringen (vgl. etwa JS35 o. 55). Daneben verwendet er diesen Ausdruck aber auch konkret in Bezug auf das leibliche Wohnen (etwa JS24212 ).

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des Anderen. 1171 Dieses Phänomen hat die Struktur einer sinnlichen Erscheinung des Anderen, die zugleich immer überflossen wird dadurch, dass sie einer Begegnung auf der Ebene der gegenseitigen leiblichen Beschränkung und Bedrohung entspringt und sich in ihr eine Begegnung mit der ethisch auffordernden Anderheit des Anderen ereignet. Das Gesicht in dieser Struktur nennt Levinas »Ausdrucksleib«; er bestimmt ihn als »Assistenz seiner eigenen Manifestation« (TU377), d. h. als erscheinende Manifestation, welcher der Andere in jedem Augenblick »zu Hilfe kommt« (TU138), indem er das Ich unmittelbar mit seiner Eigenwirklichkeit angeht und so die Äußerlichkeit und Zweideutigkeit der Erscheinung überwindet 1172 Indem der Andere sich leiblich präsentieren muss, begegnet seine Anderheit dem Ich immer zugleich als eine zu achtende leibliche Eigensphäre, die sich aus der dem Ich zunächst prinzipiell zur Verfügung stehenden materiellen Welt heraushebt. Das Ich mit dieser Eigensphäre zu betreffen, die er schon leiblich, unabhängig von der ethischen Infragestellung, für sich behauptet, bedeutet immer eine gewisse Form von Gewalt, Gewalt, die dazu reizt, den Anderen aus der Welt zu schaffen. Zugleich erlebt das Ich diese Eigensphäre als von der eigenen Gewalt betroffen. Deshalb wird der ethische Imperativ beschrieben mit der Aufforderung, keinen Mord zu begehen. Insoweit ist das Ich in dieser Begegnung unmittelbar von der Leiblichkeit des Anderen betroffen. Levinas hebt in der Beschreibung der Infragestellung darüber hinaus sehr oft die Bedürftigkeit des Anderen hervor, und zwar so, dass der Eindruck entsteht, der ethische Imperativ sei selbst durch die Bedürftigkeit vermittelt. »Die Nacktheit des Antlitzes ist Blöße, Mangel. Den Anderen anerkennen, heißt, einen Hunger anerkennen.« (TU103) »Die eigentliche Epiphanie des Anderen besteht darin, uns durch sein Elend im Antlitz des Fremden, der Witwe und des Waisen zu fordern.« (TU107) Vom »empirischen Ereignis der Verpflichtung gegenüber dem anderen« spricht Levinas als von der Unmöglichkeit, »angesichts des Unglücks und der Mängel des Nächsten indifferent zu bleiben« (GP109 f.). Diese und ähnliche Stellen können freilich auch so interpretiert werden, dass die Bedürftigkeit nur etwas ist, durch das der Imperativ eine konkrete Gestalt gewinnt, als Aufruf zur Hilfe. Außerdem ist es fraglich, ob plausibel zu machen ist, wie eine Intentionalität auf die Schwäche und Bedürf1171 1172

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Vgl. oben, S. 403–410. Vgl. dazu oben, S. 332–342.

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tigkeit des Anderen schon im leiblichen Betroffensein enthalten sein kann, und ob es nicht plausibler ist, sie als etwas anzusehen, was sekundär dazu konstituiert ist durch eine Übertragung der eigenen leiblichen Selbsterfahrung auf den Anderen. Dass der Leib des Anderen der eigenen Gewalt ausgesetzt ist, bedeutet noch nicht unbedingt dessen Bedürftigkeit, bedeutet nicht, dass er vom Materiellen lebt und unter Mangel leidet. Dies liegt auch nicht unbedingt daran, dass der Andere in die leibliche Sphäre ausgreift und einen Teil von ihr für sich beansprucht. Ist es also nicht wahrscheinlicher, dies aus einer Übertragung des eigenen Selbsterlebens zu erklären, freilich aus einer spontanen, vorbewussten Übertragung, in einer Art passiver Synthesis, die zum einen getragen ist davon, dass es unmittelbar naheliegend ist, die Bezogenheit des Anderen auf die Materialität entsprechend jener zu verstehen, die man bei sich selbst erlebt, und zum anderen entsprechend konkreter Anhaltspunkte in der leiblichen Erscheinung des Anderen, etwa dass er Leid ausdrückt, dass er isst usw.? Es fällt auf, dass Levinas selbst im Zusammenhang der Beschreibung der Infragestellung in der Not des Anderen von einer Übertragung spricht: »[D]er ethische Widerstand lähmt meine Vermögen und erhebt sich in seiner Nacktheit und seiner Not hart und absolut vom Grunde der wehrlosen Augen. Das Verständnis für diese Not und diesen Hunger stiftet die eigentliche Nähe des Anderen« (TU286). Für Levinas selbst kommt es offenbar nur vermittels der Erfahrung des eigenen Leibes in seinem Hunger zur Erfahrung des Hungers des Anderen. Die zitierte Aussage verwundert zunächst angesichts dessen, dass Levinas die Beziehung zum Anderen gerade nicht wie Husserl als Einfühlung denkt und sich in diesem Sinn auch gegen eine Beschreibung der ethischen Beziehung ausgehend vom Mitleid wendet. 1173 Dazu passen würde diese Aussage aber gerade dann, wenn dieses Betroffensein vom Leid des Anderen nur sekundär zur eigentlichen Infragestellung geschieht. Es finden sich – soweit ich sehe – keine weiteren Stellen, welche Aufschluss geben über die Sicht von Levinas in dieser Frage. Die größere Plausibilität der Konstitution in einer Übertragung und die zitierte Aussage lassen diese Interpretation aber als die nächstliegende erscheinen. Unberührt davon bliebe, 1173 Zur Opposition gegen ein Konzept der Einfühlung vgl. oben, S. 413–421. Zum im Sinne der Einfühlung verstandenen Mitleid vgl. JS319: »Stellvertretung, die nicht das psychologische Geschehen des Mitleid Empfindens oder der Einfühlung ganz allgemein ist«. Vgl. entsprechend auch JS274 u. 284.

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dass die Infragestellung selbst für Levinas ganz ohne eine Übertragung auskommt. Sie würde sich durch eine solche nur unmittelbar konkretisieren zu einer Sensibilität für das Leiden des Anderen. Auch wenn die Übertragung nicht die Funktion hätte, die Infragestellung überhaupt zu vermitteln, könnte sie jedoch eine wichtige Rolle dabei spielen, dass sich das sich in der Sorge um sich gegen den Anderen abschließende Ich vom Mitleid bewegt wieder für ihn öffnet. Dem Erleben der eigenen Bedürftigkeit und des eigenen Leidens würde dabei eine wichtige vermittelnde Bedeutung zukommen. 1174 Der darin liegende Sinn des Leidens wäre für Levinas freilich immer nur dem eigenen Leiden zuzuschreiben und es ließe sich keine allgemeine These von der sozialen Nützlichkeit des Leids daraus ableiten (DL120–122). Die Infragestellung konkretisiert sich auf diese Weise in Mitleid mit dem Leiden des Anderen und in die Erfahrung der eigenen Verantwortung für dieses Leid. Ich erlebe ihn als »meiner Verantwortung anbefohlen und von mir verfehlt, schuldhaft, so als sei ich verantwortlich für seine Sterblichkeit und schuldig dadurch, dass ich überlebe« (JS204). 1175 Als verantwortlich erlebe ich mich dafür, insofern ich durch mein Leben die Sphäre des Anderen einenge, ihm sogar zunächst gar keinen Platz lasse, indem ich die ganze Welt als prinzipiell eigene Wohnung und eigenen Besitz betrachte: »[D]er Selbe […] ist immer Autochthoner des Seins, immer bevorzugt in seiner Bleibe. Der Andere, der Freie, ist auch der Fremde.« (TU102) Als verantwortlich erlebe ich mich aber auch dadurch, dass die Erfahrung der Bedürftigkeit des Anderen die Infragestellung unmittelbar in einen Aufruf zur Hilfe konkretisiert. »Den Anderen anerkennen, heißt, 1174 Vgl. die genannte Stelle in TU286. Diese vermittelnde Bedeutung des eigenen Leids kommt daneben etwa auch in TÜ193 zum Ausdruck: »Der Abscheu vor dem Übel, das mich meint, wird zum Abscheu vor dem Übel im anderen Menschen.« 1175 Vgl. auch JS275 : »Der Tod des Anderen macht mich unrein durch seine Nähe 28 und erklärt das ›Noli me tangere‹.« Vgl. auch DV153: »[W]ie wenn der unsichtbare Tod, dem das Antlitz des anderen Menschen ausgesetzt ist, für das Ich, das sich dem Anderen nähert, seine Sache wäre, die dieses Ich anklagt, noch vor seiner Schuld oder Unschuld, oder zumindest ohne seine intentional begangene Schuld«. Vgl. auch in DV155 die Beschreibung des ethischen In-Frage-gestellt-Seins als »Furcht um all das, was mein Existieren, trotz der Unschuld seiner Intentionen, an Gewalt und an Usurpation zu begehen Gefahr läuft. Gefahr, den Platz eines Anderen zu besetzen – aufgrund des Da meines Daseins –, und ihn so, konkret genommen, ins Exil zu treiben, ihn zur elenden Kondition in irgendeiner ›dritten‹ oder ›vierten‹ Welt zu verurteilen, ihm den Tod zu bringen.«

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einen Hunger anerkennen. Den Anderen anerkennen – heißt geben.« (TU103) Die Infragestellung trifft mich ohne Einschränkung, sodass er »ein Recht hat auf alles« (TU103). Wenn zunächst alles meine Nahrung, mein Besitz, meine Wohnung ist, soll dies nun Gabe und Ort für den Anderen werden. »Er hat keinen anderen Ort, der NichtEingeborene, Entwurzelte, Heimatlose, Nichtsesshafte, der Kälte und der Hitze der Jahreszeiten Ausgesetzte. Gezwungen sein, auf mich zurückzukommen, genau das ist die Heimatlosigkeit oder die Fremdheit des Nächsten. Ich habe für sie aufzukommen.« (JS205) Dabei betreffen mich die Bedürftigkeit und das Leid des Anderen umso eindringlicher, als sie sich in der Aufrichtigkeit ihrer leiblichen Unmittelbarkeit einfügen in die Aufrichtigkeit des Ausdrucks des Gesichts. 1176 Und sie beziehen sich umso direkter auf mich und meine persönliche Zuwendung, als ich mich vom Leid des Anderen in seiner wesentlichen Sinnlosigkeit nicht durch seine Integration in eine höhere Ordnung distanzieren kann. 1177 Besonders angegangen werde ich von seinem Leid außerdem dadurch, dass es sich als wesentliches In-sich-Geschlossensein des Anderen, als Ereignis des Belastetseins des Seienden mit seinem Sein, an mich als den transzendenten Anderen richtet, der einen Ausweg für es eröffnen kann, den Ausweg des Tröstenden, der im Leiden Beistand gibt. 1178 Dadurch wird das Leiden 1176 Diesen Zusammenhang kann man darin bei Levinas ausgedrückt finden, dass er in der Beschreibung dieser Aufrichtigkeit und dem, wie sie das Zweifelnkönnen des Bewusstseins durchbricht, die Not, die Nacktheit und die Sterblichkeit des Anderen hervorhebt (etwa DV153 u. SpA222 f.). 1177 Vgl. SL120: »Ist das Unheil des Leidens […] nicht auch das Unbegreifliche und, durch seine Unintegrierbarkeit in eine Ordnungs- und Sinneseinheit, auch die Möglichkeit eines Schutzes, genauer eines solchen, der Klage, Schrei, Stöhnen oder Seufzen durchlässt, diese unverfälschten Hilfsappelle, Appelle zur fürsorglichen Unterstützung, Unterstützung des anderen Ich, dessen Anderheit, dessen Außerhalbstehen Heil versprechen?« Hier wird daneben auch der oben im Folgenden thematisierte Aspekt angesprochen sowie der schon benannte Aspekt der Unverfälschtheit des Bedürfens und Leidens. 1178 Vgl. dazu oben, Anm. 1177. Zur Weise, wie der Außerhalbstehende Heil im Leid verspricht, vgl. VS112: »Die Liebkosung des Trösters, der dich im Schmerz berührt, verspricht nicht das Ende des Leids, kündigt keine Entschädigung an, betrifft in der Berührung nicht das Danach der ökonomischen Zeit; sie bezieht sich auf den Augenblick selbst des Schmerzes; der Schmerz ist nun nicht mehr zu sich selbst verurteilt; von der Bewegung der Liebkosung ›woandershin‹ fortgerissen, befreit er sich aus dem Zwang des ›Sich-selbst‹, findet ›frische Luft‹, eine Dimension und eine Zukunft. Oder besser: Die liebende Geste des Trösters kündigt mehr an als eine bloße Zukunft, sie kündigt eine Zukunft an, in der die Gegenwart sich einer Wiederholung erfreut.«

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zwar nicht aufgelöst, aber es wird dem Anderen ermöglicht, aus dem Isoliertsein im Leiden und der Belastung mit sich einen Ausweg zu finden, den Ausweg, wie er als Befreiung aus dem Es-gibt beschrieben wurde. Auf diese Weise ist die ethische Infragestellung für Levinas weniger mit der Kraft des Anderen als mit seiner Schwäche, seinem Leid, seiner Sterblichkeit, seiner Armut, seiner Heimatlosigkeit, verbunden. Levinas betont diese Verbindung. Der Andere ist sozusagen wesentlich »der Verfolgte« (JS140), »die Geradheit des Blicks des Anderen« ist »ein Ausgesetztsein schlechthin, das ein Dem-Tod-Ausgesetztsein ist« (EU93). Neben den bereits beschriebenen Gründen für diese Verbindung sind noch weitere zu nennen. Dass mir der Andere als aus der Welt Vertriebener begegnet, liegt nicht nur am usurpatorischen Charakter meines Selbstvollzuges, sondern auch an seiner Transzendenz zur Welt. »Die Transzendenz des Antlitzes ist zugleich seine Abwesenheit aus dieser Welt, in die es eintritt, die Heimatlosigkeit eines Seienden, sein Status als Fremder, Entblößter, Proletarier.« (TU102) Auch insofern besteht für Levinas eine wesentliche Verknüpfung zwischen der Transzendenz und einem Mangel an allem, was zur Welt gehört: Nahrung, Wohnung, Macht, Besitz. An diesem Mangel macht sich nicht nur fest, dass der Andere in die Welt eingebunden, bedürftig und auf meine Hilfe angewiesen ist, sondern zugleich seine Weltüberlegenheit. Transzendenz bedeutet für Levinas eine wirkliche Jenseitigkeit zu dem, was ich als meine Welt, mein Sein, betrachten und so in der Einheit zu mir oder zumindest in der Einheit einer allgemeinen Ordnung halten kann (MG75 f.). Würde der Andere nur als etwas auftreten, was mir erscheint, was mir mit Kraft begegnet und nicht zugleich demgegenüber immer zurückgezogen sein, würde er sich einfach in meine Welt eingliedern. In der Darstellung der Analyse der Beziehung zum Gesicht des Anderen wurde herausgearbeitet, wie die Bezogenheit auf ihn als Transzendenten wesentlich darin liegt, dass mir im ethischen Imperativ etwas von allem mir in meinem Selbstvollzug Vertrauten wesentlich Unterschiedenes begegnet. Dies lässt sich an seiner Gewaltlosigkeit fest-

Levinas beschreibt hier die Zeitlichkeit des Seienden, das vom Anderen her Abstand haben kann von seinem Sein und für das sich jeder neue Augenblick als eine Befreiung von der Bindung an den Augenblick ereignet. Vgl. dazu oben die Darstellung der Befreiung aus dem Es-gibt durch den Anderen S. 372–387.

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machen, mit der er mich trifft 1179 und die sich zusammen mit einer konkreten leiblichen Schwäche manifestiert. So kann Levinas schreiben: »In diesem Nichtkämpfenwollen, in dieser Schüchternheit, die nicht wagt zu wagen, diesem An-Spruch, der nicht die Stirn hat, Ansprüche zu erheben, und das genaue Gegenteil der Frechheit ist, durch diesen Anspruch eines Bettlers und Heimatlosen, der nichts hat, wohin er sein Haupt legen könnte – der Gnade des ›Ja‹ oder ›Nein‹ desjenigen, bei dem er anklopft, ausgeliefert –, ist der Demütige absolut störend; er ist nicht von dieser Welt. […] Sich in der Armut der Exilierten zu zeigen, heißt, den Zusammenhang des Universums sprengen. Die Immanenz durchbrechen, ohne sich in ihr einzureihen.« (MG76) In der Gewaltlosigkeit manifestiert sich die Transzendenz. Zugleich ist sie außerdem dadurch bedeutsam, dass sie das Ich bestehen lässt und die Transzendenz sich so als Beziehung Getrennter ereignen kann. Levinas macht dies vor allem in Bezug auf das Unendliche deutlich, das aus dem Grund kein Numinoses sein darf, welches das Ich in der Teilhabe an ihm vernichtet. Insofern sich die Transzendenz in konkreten leiblichen Verhältnissen ereignen muss, bedeutet dies, das »Transzendente als fremd und arm zu setzen«, und zwar in der Beziehung zum Anderen (TU106). Von daher realisiert sich in der Armut des Anderen auch das Bestehenlassen desselben. Beziehung kann es nur mit Beschränkung, auf beiden Seiten, geben. Darüber hinaus lässt sich m. E. von der Beziehung zum Unendlichen nicht nur das Bestehenlassen des Ich in seiner selbstbezogenen Identität auf den Anderen übertragen, sondern auch das Bestehenlassen in seiner ethischen Identität, in der es in seiner Verantwortung allein gelassen sein muss. Levinas zieht, soweit ich sehe, diese Linie nicht aus. Insofern sich aber für ihn das Unendliche im Anderen ereignet, erscheint es als möglich, ausgehend davon, welche Bedeutung er dem Rückzug Gottes gibt, »der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, an die Reife des voll verantwortlichen Menschen appelliert« (DT111), auch die Schwäche und Zurückhaltung des Anderen zu interpretieren. In der Beziehung mit dem mich fordernden Anderen muss der Aspekt der Zurückhaltung des Anderen zur Erhaltung meines Selbst freilich zugleich zurücktreten oder besser: Er muss aufgrund der Asymmetrie von mir weggewendet werden. Wenn Levinas diese wesentliche Bezogenheit des Anderen auf den Dritten in einem Dienst 1179

Vgl. etwa TU419 f. u. oben, S. 406.

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an ihm beschreibt und damit die mich auffordernde ethische Höhe des Anderen konkretisiert sein lässt in einem tatsächlichen ethischen Ereignis in ihm, dann macht er dies an der Entblößtheit, Armut und Fremdheit des Anderen fest, die somit unmittelbar als ethische Haltung erscheinen (TU308). 1180 Wie sich – dies wurde ausführlich dargestellt – im Selben die Öffnung für den Anderen und das Ihm-PlatzEinräumen nur ereignen kann in einer Armut, so auch im Anderen. Auch auf diese Weise ist die ethische Transzendenz des Anderen unmittelbar mit seiner Armut verknüpft. Interessant ist dabei, dass sich für Levinas die Meisterschaft des Anderen, in der er mich infrage stellt und in der er auf den Dritten verweist, obwohl sie vorgängig ist zu seiner freien Verwirklichung einer ethischen Haltung, obwohl dieses ursprüngliche Ereignis der Ethik im Anderen nur in der Wachheit der fordernden Bezugnahme überhaupt auf die Güte des Unendlichen besteht, doch verleiblicht in einer Armut, die ein Platz-Einräumen für den Dritten bedeutet. Ganz ähnlich beschreibt Levinas, wie sich der Andere im Geschehen des Sprechens auf eine Weise auf mich bezieht, dass er zugleich »die Welt anbietet« (TU136). Dies geschieht dadurch, dass er mich durch seinen Blick oder sein Wort als Gesprächspartner würdigt, sich in eine gemeinsame Welt mit mir begibt und sich meinen Fragen aussetzt, somit die Dinge als von uns beiden thematisierbare setzt, sie auf diese Weise allgemein macht und in dem Sinn anbietet. Von dieser Gabe her, die für den Anderen, sobald er mich überhaupt mit seinem wachen Blick trifft, unausweichlich ist, lässt sich auch besser verstehen, was Levinas für eine Armut meinen kann, in der sich die ursprüngliche ethische Höhe des Anderen ausprägt. Es wäre der leibliche Rückzug, der sich damit vollzieht, dass er mich als Teil einer gemeinsamen Welt anspricht. Für die Verbindung von Transzendenz und Armut lässt sich noch ein weiterer Grund ausmachen. Levinas beschreibt die diachrone Entzogenheit des Anderen gegenüber jeder Erscheinung von ihm nicht nur ausgehend von der Passivität des eigenen zeitlichen Lebens, dem eigenen Altern, sondern auch ausgehend vom Altern des Anderen, wie es in den verschiedenen Anzeichen seiner Hinfälligkeit – paradigmatisch nennt Levinas oft die alternde Haut – in seiner Erscheinung begegnet. »Die Enthüllung des Gesichts ist Nacktheit – Un-Form – Selbstaufgabe, Altern, Sterben; nackter als die Nacktheit: Armut, runzlige Haut; runzlige Haut: Spur ihrer selbst. Meine Reaktion ver1180

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Zur Interpretation dieser Stelle vgl. oben, S. 432–434 u. bes. Anm. 544.

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fehlt eine Anwesenheit, die bereits die Vergangenheit ihrer selbst ist.« (JS199) 1181 Wenn Levinas in dem Zusammenhang diese Entzogenheit zu jeder Phänomenalität und Form an der leiblichen Schwäche und Passivität des Gesichts festgemacht haben möchte und ausdrücklich nicht daran, dass »es für das Erscheinen zu roh oder zu heftig wäre« (JS199), dann soll damit nicht ausgeschlossen werden, dass auch in der Aktivität und Lebendigkeit die jede äußerliche Erscheinung transzendierende Innerlichkeit des Anderen begegnen kann. Die Gewichtung erklärt sich zum einen daraus, dass Levinas in Jenseits des Seins in der Beschreibung des Gesichts neben der Wucht der Präsenz, in welcher der Andere mit seiner lebendigen Realität seiner Erscheinung jeden Augenblick zu Hilfe kommt, die Absenz stärker hervorhebt, die natürlich mehr zum Ausdruck kommt in der Hinfälligkeit des Anderen, mit der er sich wie aus der Welt zurückzieht. Zum anderen erklärt sie sich aufgrund der genannten anderen Zusammenhänge zwischen Schwäche und ethischer Transzendenz. Wie für Levinas in Jenseits des Seins die Seite der lebendigen Präsenz ihre Bedeutung behält, die Seite der Absenz und der Schwäche jedoch ein stärkeres Gewicht bekommt, findet sich im folgenden Text ausgedrückt: »Das Erscheinen wird durchbrochen durch die junge Epiphanie, durch die – noch essentielle – Schönheit des Gesichts, aber auch durch jene Jugend, die als solche, die in dieser Jugend schon vergangen ist: runzlige Haut, Spur ihrer selbst: zweideutige Form einer höchsten Präsenz, die ihrem Erscheinen beisteht, die durch jugendliche Frische ihre Plastizität aufbricht, aber schon Versagen jeglicher Präsenz ist, weniger als ein Phänomen, schon Armut, die ihre Not verbirgt und die mich ruft und mir gebietet. Einzigartige Bedeutung einer Existenz, die sich selber im Stich läßt, Zu-Ende-Gehen der endlichen Endlichkeit – und doch Leben, das noch nicht in der absoluten Reglosigkeit der Totenmaske aufgehört hat« (JS203 f.). Die Haut beschreibt Levinas dabei nicht nur als Moment der äußeren Erscheinung, sondern ausgehend vom Phänomen der Haut in der Berührung – sei es Berührung mit der Hand oder auch nur dem Blick – als das Ereignis zugleich des Sichpräsentierens und der Greifbarkeit des Anderen sowie dessen Sichtranszendierens. Sie »ist der quasi transparente Abstand zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren« (JS201). »Die Zartheit der Haut ist genau der Abstand zwischen Annäherung und dem, dem die Annäherung gilt« (JS202 f.), der sich aber 1181

Vgl. auch JS201 f.; SN284 f. u. GP112.

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immer entzieht und den die Berührung immer weiter suchen muss. Wenn Levinas hierbei vom »Gesicht unter der zunehmenden Last der Haut« spricht (JS201; vgl. auch JS190), dann bringt er damit ganz ähnlich wie in der Beschreibung des In-der-Haut-Seins des Ich dessen schmerzliche Passivität zum Ausdruck. Leiblichkeit und Selbstgabe Es wurde beschrieben, wie das Betroffensein durch die Infragestellung unmittelbar bedeutet, dass mir leiblich etwas genommen wird und ich dem zustimme. Erst ausgehend von der Bedürftigkeit des Anderen, die mich, wie im vorigen Abschnitt dargestellt, vermittels meines Mitleidens trifft und die mich aufruft, ihr aufzuhelfen, ist dieses Mir-nehmen-Lassen im eigentlichen Sinn als Gabe zu betrachten und erst von hierher erhält es seine ganze Bedeutung. Levinas versteht zwar die ethische Beziehung nicht primär vom Geben her, sondern von der Beziehung zu einer meine Achtung fordernden oder mein Begehren weckenden Transzendenz des Anderen. Indem diese Beziehung aber als eine Beziehung zwischen Getrennten angesehen werden muss, zu der zum einen gehört, dass sich die Getrenntheit des Ich als Selbstbezug und Selbsthabe ereignet, zum anderen, dass der Andere diese ganz betrifft und sozusagen hintergeht, muss sie als Selbstgabe ausgelegt werden 1182, und zwar aufgrund der leiblichen Konstitution des Selbst, der Leiblichkeit des Bezogenseins auf den Anderen sowie dessen Bedürftigkeit in leiblicher Konkretion. Das materielle Geben stellt Levinas deshalb sehr häufig als das heraus, als was sich die ethische Beziehung letztlich ereignen muss. 1183 Und auf diese Weise kommt er zur Aussage, dass die Materialität selbst vom Geben her zu verstehen ist, und kann er einen Zusammenhang zwischen der Mutterschaft (maternité) und der Materialität (matérialité) herausstellen, der nicht nur sprachlich oder klanglich ist. 1184 Die Leiblichkeit 1182 Dass sich Ethik für Levinas als Gabe ereignet, erklärt sich nicht allein aus der Leiblichkeit der Beziehung, sondern schon unabhängig davon aus dem Grund, dass die Verantwortung »das Gravitationszentrum eines Seienden außerhalb dieses Seienden« versetzt und deshalb darin besteht, dem Anderen »das eigene Sein anzubieten« (TU266). Vgl. dazu auch TU83 die Rede von der »Umkehr des eigentlichen Seinsvollzugs«, in der nicht einfach nur »eine beliebige Funktion des Seins umgedreht« wird. 1183 Vgl. TU250, 312 f., 104 f. u. 102 sowie JS121–123, 133 f., 164, 168 f. u. 174 f. 1184 Vgl. JS174: »Bedeutung, die also im Nahrung-, Kleidung- und Wohnunggeben bedeutet – in den mütterlichen Beziehungen, in denen die Materie sich allererst in

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ist für ihn nicht vom Können, sondern vom Geben her zu begreifen (TU295). Entsprechend wird die Bedeutsamkeit des Leibes zentral darin gesehen, dass sie dieses Geben ermöglicht, und zwar aufgrund der materiellen Konstitution des Subjekts als Geben im eigentlichen, der ethischen Beziehung adäquaten Sinn, als eine den Conatus unterbrechende Selbstgabe. 1185 Indem das Geben einen Verlust bedeutet, lässt sich auch von daher die Schmerzlichkeit der ethischen Ausrichtung auf den Anderen verstehen. Der Verlust muss freilich nicht in jedem Fall schon die eigene Selbstbezogenheit aufbrechen. Aufgrund der materiellen Konstitution kann die Gabe wirkliche Selbstgabe sein, muss es aber nicht. Sie ist es nur, »wenn das Geben nicht den Über-fluß des Überflüssigen anbietet, sondern das dem-eigenen-Munde-abgerungeneBrot« (JS174), nur als eine »Gabe, die ihren Preis hat« (JS242). Die Gabe darf nicht in der »Harmlosigkeit« verbleiben, sondern muss mit dem ganzen »Ernst« der Unterbrechung des Genusses einhergehen (JS312), eines Ernstes natürlich, der seine Gewichtigkeit nicht aus der Selbstsorge bekommt. Damit soll nicht gesagt sein, dass nicht auch aus dem Überfluss heraus gegeben werden soll, sondern dass das Geben nur dann eine Öffnung zum Anderen impliziert, wenn es mit einer Unterbrechung des Genusses einhergeht, ereigne sich diese unmittelbar im Verlust der Gabe oder im leiblichen Sichöffnen für den Anderen beim Geben. Nur so ist die Gabe ein »Sich-Verströmen« (JS161). In der Öffnung für den Anderen kann zudem nie genug gegeben sein; die Verpflichtung wächst mit der Annäherung, »derart daß das Geben sich hier als Geiz erweist« (JS312). Das Sammeln von Besitz kann vom Gabegeschehen her als positives Moment der ethischen Beziehung ausgewiesen werden. Indem der Andere meinen Besitz für sich beanspruchen und ich ihn ihm geben kann, findet der Besitz eine Bestätigung (TU234). Schon in Die Zeit und der Andere ist es Levinas ein Anliegen, die Sorge um das Materielle, die sich gegenüber den existenziellen Sorgen des um sein ihrer Materialität zeigt.« Es ist dies eine »Materialität, die materieller ist als jede Materie«, insofern sich in ihr nicht eine Identität mit sich ereignet, in der die Materie in der gewöhnlichen substantialisierenden Betrachtung aufgefasst wird, sondern eine den Selbstbezug hintergehende Transzendenzbeziehung (JS239). Vgl. auch JS236, wo Levinas nebeneinander Mutterschaft und Materialität gleichermaßen als Ausdrücke für die Verantwortung benennt. 1185 Vgl. TU295, 313, JS157, 175, 242 u. 312. Die Ermöglichung der Selbstgabe findet sich v. a. JS134, 164 u. 168 f. ausgedrückt. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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eigentliches Seinkönnen besorgten einsamen Daseins wie »ein Abfall, eine Flucht« der »Spießbürger«, »als Alltagsleben, als Animalität, als Verfall und als schäbige[r] Materialismus« (ZA33) ausnimmt, ausgehend von der »Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft« (ZA32) in ihrer Bedeutung zu würdigen. Er weist hin auf den »Akzent der Größe, der betroffen macht in einem Humanismus, der vom wirtschaftlichen Problem ausgeht«, auf »die Macht, als Humanismus aufzutreten, die den Forderungen der Arbeiterklasse zu eigen ist«, und darauf, wie umgekehrt die Sorgen um das eigentliche Existieren »für einen konstruktiven und optimistischen Sozialismus eine VogelStrauß-Haltung, Epiphänomen – Luxus- oder Verfallsphänomen – in einer Periode des sozialen Wandels« darstellen müssen (ZA34). Von hier aus würdigt er auch »die so gerne von ›gutgemeintem‹ Rigorismus verurteilte Technik« als ein letztlich moralisches Unternehmen, wenngleich er sich bewusst ist, dass ihr faktisch zum Teil andere als moralische Motivationen zugrunde liegen (DL120). Das materielle Geben findet sich bei Levinas in verschiedenen Phänomenen beschrieben, nicht nur als Gabe von Nahrung und Besitz, sondern auch als Gabe der Arbeit, als »Dienst« (JS130), und als Gabe des Wohnraumes, als »Gastlichkeit« (TU250 u. JS178). Die bloße Aufmerksamkeit auf den Anderen, in der das Ich auf seine Infragestellung antwortet und die Levinas Ausdruck nennt 1186, versteht er als Angebot des eigenen Seins (TU266). Auch kann sich die Gabe schon als bloße Ausgesetztheit ereignen, »Ausgesetztheit, die immer noch weiter auszusetzen ist, Ausgesetztheit, die auszudrücken ist und die insofern zu sagen und insofern zu geben ist« (JS121). Einer solchen Leiblichkeit kommt für Levinas eine ganz eigene Würde zu. Er spricht von der »Würde […] eines dem Anderen dargebotenen, sich ausdrückenden oder sich verströmenden Leibes« (JS161). Das Sichaussetzen und Sichausdrücken ereignet sich auch im Sagen, das Levinas deshalb ebenfalls als Gabe verstehen kann. Es ist insofern materielle Gabe, als es sich als leibliche Öffnung zum Anderen vollzieht und indem im Sprechen die Welt, die zunächst mir zur Verfügung steht, als unter der Verfügung ebenso des Anderen anerkannt und so gegeben wird (TU252). Mit dieser Öffnung der Welt zu einer gemeinsamen Welt wird nach Levinas die Grundlage gelegt für die Universalität des Sprechens und Denkens – ein Schritt, der noch vorgängig ist zur Bewegung der Universalisierung ausgehend vom Dritten. »Die Sprache 1186

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Vgl. oben, S. 741.

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ist universal, weil sie der eigentliche Übergang vom Individuellen zum Allgemeinen ist, weil sie Dinge, die mir gehören, dem Anderen anbietet. Sprechen heißt, die Welt gemeinsam machen« (TU104). Die ursprüngliche Form des Gebens ereignet sich als spontane ethische Einwilligung in ein Sich-genommen-Werden, als ein passives Ergriffenwerden. Sekundär dazu geht es für Levinas aber auch um ein aktives Geben und ein freies Gestalten dieser Aktivität. Es wurde schon herausgestellt, dass für Levinas zur Realisierung der Ethik die freie Entscheidung und das freie Engagement durchaus dazugehören. 1187 Ausdrücklich arbeitet er dem Anschein entgegen, Ethik sei etwas rein Passives: »Für das Unsichtbare sterben – das ist die Metaphysik. Das soll indes nicht heißen, das Begehren könne darauf verzichten, zu handeln.« (TU38) In diesem Handeln bekommt die Leiblichkeit über ihre Passivität hinaus auch eine Bedeutung als Können. Die Aktivität ist umso mehr deshalb erforderlich, weil das Subjekt für Levinas immer schon im Verhältnis zum Dritten und auf der sekundären Ebene der Gerechtigkeit steht, die eine Reflexion über die Abgrenzung und Aufteilung der Verantwortlichkeit sowie entsprechende Planungen von Handlungen und Entscheidungen erfordert. Dass sich der Mensch für Levinas beständig auf dieser Ebene aufhalten und in diesen Vollzügen engagiert sein muss, darf nicht aus dem Blick verloren werden, auch wenn ihre Beschreibung bei ihm kaum Raum einnimmt. Zugleich muss sie für ihn freilich immer auf die primäre Ebene der Beziehung zum einen Anderen rückgebunden und von dieser her relativiert bleiben. Durch sie darf die ursprüngliche ethische Passivität nicht aufgehoben werden. Dasselbe gilt für das genannte Erfordernis des freien Sichverhaltens zur Infragestellung und für die Aktivität des Engagements. Die Entscheidung muss sich für das jeder Entscheidung sowie jeder Autonomie vorgängige Weg-gegeben-Sein der Verantwortlichkeit entscheiden und sie zum Grund haben. Auch das Engagement muss in dieses rückgebunden sein, muss zugleich Passivität sein. Jedes Geben muss »ein Sich-Anbieten [sein], das nicht einmal von seiner eigenen Großzügigkeit getragen wird – ein SichAnbieten, das Leiden ist, eine Güte wider Willen« (JS131). Auch muss sich jedes Geben an den Äußerungen der Bedürftigkeit des Anderen orientieren, muss ausgehen von ihrer rein passiven Wahrnehmung. Nur so bleibt die freie Aktivität geöffnet auf den Anderen hin. Und diese Öffnung muss sich leiblich vollziehen in einer Brechung 1187

Vgl. oben, S. 469–471.

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des Leibvollzugs des Könnens durch die leibliche Passivität hin zum Anderen. Eine Relativierung des ethischen Engagements entsteht für Levinas noch aus einem anderen Grund. Er macht auf das Dilemma der Konkretisierung der Moral aufmerksam, welches darin besteht, dass »auch in der gerechtesten Tat als Tat noch eine Gewalt ist, die leiden macht« (MT83). Besonders das jüdische Ethos sieht Levinas von einem Bewusstsein dafür getragen. Darin liegt für ihn der »Grund, warum der Jude sich nicht engagieren kann, ohne sich sogleich zu desengagieren; der Grund, warum er stets diesen Nachgeschmack von Gewalt verspürt, selbst wenn er sich für eine gerechte Sache einsetzt« (MG83 f.). Deshalb kann sich für ihn eine wirklich ethische Haltung nur mit einer Schwäche ereignen: »im gerechten Krieg, der gegen den Krieg geführt wird, unablässig zittern – ja schaudern – gerade um dieser Gerechtigkeit willen. Es braucht diese Schwäche.« (JS394 f.) 1188 Levinas möchte dieses Dilemma der Moral nicht durch eine Gewaltlosigkeit in jedem Fall oder ein völliges Sichenthalten von allem Engagement lösen, sondern dadurch, dass jedes Engagement zusammengehen muss mit dem rein passiven Zurückschrecken vor dem Anderen, als das er die ursprüngliche Infragestellung beschreibt, mit einem inneren Schwachwerden gegenüber dem Betroffenwerden durch den Anderen. Zugleich folgt für ihn daraus jedoch auch eine Einschränkung der Aktivität. Er verteidigt gegen den Drang zu wirksamen Aktionen die Tugend der Geduld. Dabei richtet er sich besonders an die Adresse der Intellektuellen, die in seinen Augen über der Scham angesichts der Wirkungslosigkeit ihrer kontemplativen Passivität diese Tugend vergessen haben, die »Fähigkeit des Wartens und Leidens«, die »von einem großen Mitleid« herrührt (TG132 f.). Die Dinge in der Beziehung zum Anderen Indem sich das leibliche Subjekt nur konstituiert aus dem es umgebenden Elementalen, das für die Sicherung des Genusses zur Wohnung sowie zum Objekt seines Besitzergreifens, seiner Arbeit und seiner Vorstellung wird, ist die Leiblichkeit unlösbar verbunden mit einer sie umgebenden Welt der Dinge. Deshalb ist die Beziehung zum 1188 Vgl. auch JS378 zu diesem Dilemma und dieser Schwäche, die Levinas hier auch als Geduld bestimmt. Vgl. dazu auch TG131–133.

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Anderen auch über diese Dinge vermittelt, die hinter ihrer Substantialisierung und Theoretisierung durch die Vorstellung ihre praktische Bedeutsamkeit behalten, Besitz sind, Werkzeug, Wohnung und Nahrung. Durch sie konstituiert sich das Ich als getrenntes Subjekt. Und in der Abhängigkeit von ihnen ist es über sie angreifbar durch den Anderen. Er stellt es infrage, indem er seinen Besitz infrage stellt. Es kann ihm die Dinge entziehen oder geben. Insofern bekommen die Dinge zunächst eine ganz ähnliche Bedeutung wie der Leib. Zugleich sind sie aber wesentlich von ihm verschieden. Denn in ihnen drückt sich das Subjekt nicht aus, zumindest nicht wie im Gesicht, in welchem es dem Ausdruck in jedem Moment beisteht. Selbst wenn das Subjekt die Dinge gestaltet und diese es als sein Werk in gewisser Weise ausdrücken, ist es doch insofern stets in einem Abstand, als es nicht lebendig im Werk präsent ist. »[I]n seinem Werk bleibt der Wille ohne Ausdruck; das Werk hat eine Bedeutung, aber es bleibt stumm« (TU328 f.). Wie der Leib, so ist auch das Werk dem Anderen ausgesetzt. Aber im Werk kann der Bezug zum Autor ganz verloren gehen; »das Werk gewinnt den Charakter der Anonymität der Ware, einer Anonymität, in der sogar der Arbeiter als Lohnempfänger verschwinden kann« (TU329). Der Unterschied zwischen Ausdrucksleib und Ding besteht dabei jedoch weniger in dieser Möglichkeit der Anonymität, denn auch in der leibhaften Begegnung mit dem Anderen kann sich derselbe gegen seinen Ausdruck verschließen 1189, kann sozusagen auf der äußeren Leibebene, auf welcher »der Andere als Seiender in seiner Plastizität als Bild erscheint«, stecken bleiben, ohne sich durch seine Anderheit infrage stellen zu lassen. 1190 Zwar kann dies nur über eine Verdrängung geschehen und niemals so weit gehen, dass nicht zumindest hintergründig ein Betroffensein durch den Anderen und ein Kennen der daraus erwachsenden Verantwortlichkeit bestehen bleiben. Aber dies scheint für Levinas auch für die Begegnung mit den Dingen zu gelten, wenn er an anderer Stelle beschreibt, wie auch sie auf eine Weise besessen machen von der Verantwortung (JS17210 ). Dies steht insofern nicht in einem Widerspruch zur Beschreibung der Stummheit der Dinge wie Vgl. S. 683 u. Anm. 1029. Vgl. etwa auch JS199. Vgl. die ganze Stelle in JS199: »Sobald mir der Andere als Seiender in seiner Plastizität als Bild erscheint, bin ich in Beziehung mit dem, der sich vervielfältigen läßt und der trotz der unendlich vielen Reproduktionen, die ich von ihm verfertige, intakt bleibt; ich kann ihn mit Worten abspeisen, die diesen Bildern angemessen sind, ohne mich in einem Sagen auszuliefern.« 1189 1190

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auch überhaupt zur bereits dargestellten Unterscheidung der Eigenwirklichkeit des Materiellen und selbst des bloß Lebendigen von der des anderen Menschen 1191, als Levinas hier zugleich darauf aufmerksam macht, dass die Dinge nicht aus sich selbst heraus besessen machen, sondern nur »durch die Spur eines unsichtbaren Gesichts, das die Dinge tragen« (JS17210 ). Sie sind nicht selbst unmittelbar Gesicht, sondern nur »insofern der Nächste sie besessen hat – als Gegenstände teuren Andenkens« (JS17210 ). In Bezug auf die Dinge ereignet sich für Levinas eine Berührung und eine Nähe, aber sie »erwacht erst wirklich im Ausgang von der menschlichen Haut«; »über alle Dinge ergießt sich vom menschlichen Antlitz und von der menschlichen Haut her die Zärtlichkeit« (SN280). Auf diese Weise werden die Dinge in ihrer ursprünglichsten Materialität erlebt, nicht nur als substantialisierte Materie in der Vorstellung, als Gegenstand der Arbeit oder als Materie des Genusses, sondern als »Materie, von deren Nähe ich besessen bin« (SN280). Das Hervortreten dieser Tiefendimension nennt Levinas »Poesie der Welt« (SN280). Mit dem Wort ›Poesie‹ möchte er neben der Freilegung dieser Tiefe zugleich ausdrücken, dass dies nur Poesie, nur eine Art »Metaphorik«, ist, dass den Dingen etwas übertragen oder ihnen etwas angedichtet wird, das ihnen an sich nicht zukommt, auch wenn die Einbindung in die Beziehung zum Anderen als ursprünglicher angesehen werden muss als deren Erkenntnis, auch wenn »die Poesie der Welt schon vor der Wahrheit der Dinge« (JS172 f.10 ) liegt. In dieser Poesie der Welt findet eine ähnliche Übertragung statt, wie wenn für Levinas der Tod immer als Mord konnotiert wird, weil er in einer Welt erlebt wird, in der man für den Anderen und deshalb auch durch den Anderen sterben kann. 1192 In dieser bloß übertragenen Bedeutung besteht letztlich der Unterschied zwischen Ausdrucksleib und Ding. Und dadurch besteht die Möglichkeit der Anonymität zumindest in anderer Weise und in anderem Grad. Dies gilt umso mehr, als den Dingen in ihrer Nacktheit auch das Potential zukommt, mit der Anonymität des Es-gibt zu konfrontieren. 1193 Zugleich ist durch die Beschreibung der Poesie der Dinge aber deutlich geworden, wie über diese Nacktheit hinaus in den Dingen ebenso das Gesicht des Anderen begegnet und ihnen auf diese Weise eine noch tiefere Bedeutung der Vermittlung der Beziehung 1191 1192 1193

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Vgl. dazu S. 627–630. Vgl. dazu oben, Anm. 1149. Vgl. oben, S. 627–630.

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zum Anderen zukommt als dadurch, dass sie Angreifbarkeit und Gabe sind. Eine weitere positive Vermittlungsfunktion in der ethischen Beziehung scheinen die Dinge in ihrer Nacktheit selbst zu besitzen, die bisher nur in ihrer negativen Bedeutung thematisiert wurde als etwas, das in das Geschehen des Es-gibt einbindet. In Bezug auf den Leib wurde sehr ausführlich die Bedeutung der Passivität und der darin liegenden Widrigkeit beschrieben. Findet sich dieser Aspekt nicht auch in der Nacktheit der Dinge? Öffnet nicht auch sie das Subjekt auf die Exteriorität und unterbricht seine Genussorientierung? Damit sich dies nicht als uneigentlicher Transzendenzbezug auf das Es-gibt ereignet, oder besser: damit das Es-gibt auch in dieser Begegnung mit dem Materiellen seine eigentliche Funktion innerhalb der ethischen Beziehung bekommen kann 1194, bedürfte es freilich wie in der leiblichen Passivität 1195 der Einbindung der Begegnung mit der Nacktheit der Dinge in die mit dem Anderen. Als möglich erscheint eine solche Einbindung der Nacktheit von daher, dass die Dinge selbst, wie dies von Levinas etwa als Poesie der Welt beschrieben wird, von vornherein eng als Momente in die Beziehung zum Anderen integriert sind und als solche erlebt werden. Von daher erscheint es möglich, die Konfrontation mit der exterioren Eigenwirklichkeit des Materiellen als Moment des Verwiesenseins auf den exterioren Anderen zu erleben. Diese Sicht liegt m. E. zumindest im Gefälle von Levinas’ Denken. Sie wird bei ihm, soweit ich sehe, zwar nicht ausdrücklich artikuliert. Sie deutet sich jedoch an, wenn er im Zusammenhang der Bestimmung des Verhältnisses von Kultur und Natur die Verdeckung der Eigenwirklichkeit der Natur durch die Wissenschaft, die Technik und die Kunst kritisiert, und zwar nicht für die Natur selbst, sondern im Blick auf die Achtung der Eigenwirklichkeit des Anderen (PB227 f.). Er stellt hier die »radikale Exteriorität« und die »Andersheit der Natur […], die durch ihr Fremd- und Frühersein die unmittelbare Identität, das Selbe des menschlichen Ich, überrascht und frappiert«, heraus (PB218). Schon in den frühen Schriften hat er die Eigenwirklichkeit des Materiellen eine »Alterität« (VS63) genannt und sie als »Demut« und »Nacktheit« (VS68) bezeichnet. Rückt er sie damit, trotz aller beschriebenen Unterscheidung 1196, nicht zumin1194 1195 1196

Vgl. oben, S. 384–387. Vgl. oben, S. 750 f. u. 760–762. Vgl. oben, S. 627–630.

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dest in einen sehr engen Zusammenhang mit der Nacktheit des Gesichts? Kunstwerke in der Beziehung zum Anderen Welche negativen Potentiale Levinas in der Kunst erblickt und welche Rolle dabei jeweils die Materialität und die Leiblichkeit spielen, ist bereits dargestellt worden. 1197 Die verschiedenen kunstkritischen Äußerungen, die sich bei Levinas finden, lassen sich, soweit ich sehe, einer der drei beschriebenen Weisen zuordnen, wie für ihn die Kunst in eine uneigentliche Transzendenzbeziehung zum Es-gibt führt. Ausgehend von ihnen kann nun zunächst einmal auch verdeutlicht werden, wie für ihn Kunstwerke eine positive Bedeutung in der ethischen Beziehung bekommen können. Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, dass Levinas die Kunst in ihrem Vermögen, dem Menschen durch die Schönheit Genuss zu verschaffen, nicht nur in der Gefahr sieht, das Subjekt in einer von der Realität abgehobenen Bildwelt aufzulösen, sondern ihr auch einen berechtigten Platz »innerhalb des menschlichen Strebens nach Glück« (VS83) einräumt. Dieses Streben hat sich als ein notwendiges, wenn auch immer zu relativierendes und zu durchbrechendes Moment der ethischen Beziehung erwiesen. Vor dem Hintergrund der Überlegungen zur positiven Bedeutung der Nacktheit des Materiellen Ende des vorigen Abschnitts ist es m. E. möglich, daneben auch das Moment, dass die Kunst diese Nacktheit offenlegen kann, nicht nur als eine Gefahr, sondern als ein Potential dafür anzusehen, für die Nacktheit des Gesichts zu öffnen. Für das als drittes genannte Vermögen der Kunst, vorgegenständliche Intentionalitäten zum Klingen zu bringen, was von Levinas zunächst als ein Steckenbleiben in einem Ereignis des bloßen Sichzeigens des Seins kritisiert wird, finden sich bei ihm auch Andeutungen, die in eine andere Richtung weisen, und zwar in seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen literarischen Werken. So lassen für ihn etwa die Texte von Maurice Blanchot jenseits jeden inhaltlichen Ausdrucks nicht nur die »Relation zum Sein« sich ereignen, sondern dies geschieht für ihn »in einer quasi-unmöglichen Antizipation dessen, was nicht mehr das Sein ist« (IM1532 ) – zu verstehen als äußerste Artikulation der unausweichlichen Bedrängung des Es-gibt, 1197

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Vgl. oben, S. 594–601.

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das schon allen Seins entleert ist (EU36 f.), das auch das Subjekt seines Aufenthaltes im Sein entleert und in eine Exilsexistenz einführt (MB37–41). Für Levinas, entsprechend seinem Verständnis des Esgibt als eines Gewecktwerdens durch den Anderen, deutet sich darin – wenn auch gegen Blanchots explizite Ablehnung eines ethischen Bezuges – eine Öffnung über das Sein hinaus in »eine Ordnung der Gerechtigkeit« (MB39) an. Eine solche Öffnung des Es-gibt zum den Anderen findet Levinas ebenso im Schreiben von Edmond Jabès, das er als eine Artikulation des Nichtortes vermittels einer Atemlosigkeit deutet, die bis zu diesem reicht – so »als überwinde das poetische Sagen dieses Außer-Atem-Sein bis zu einem unendlich tiefen Atem, bis hin zur In-spiration (der Einhauchung), die alle Dinge aus ihrem Eingesperrtsein befreit, zur Ent-kernung – oder Transzendenz – des Seins, dem nur noch der Nächste fehlt« (EJ77). Levinas deutet in dieser Beschreibung an, dass diese Öffnung weniger über den Ausdruck eines Inhalts als über die Atemlosigkeit des Schreibens sowie das entsprechend atemlose Ereignis der Rezeption geschieht. Das veranschaulicht die These, dass sich die Evokation des Seins – bzw. hier eines Jenseits-des-Seins – über eine leibliche Geste vollzieht. Auch das Schreiben von Roger Laporte sieht Levinas von einer solchen Bewegung ins Jenseits-des-Seins, einem solchen Begehren getragen, und zwar indem es »weder Schweigen noch Aussage«, sondern »Aufmerksamkeit und Erwartung« ist, »Erwartung des Unerwarteten und Verlangen, das vom Verlangen nicht gestillt, sondern vertieft« wird (RL80). Dass Levinas auf diese Weise im Geschehen der gestischen Seinsentbergung auch das ethische Jenseits-des-Seins sich ereignen sehen kann, ist ein wichtiger Grund für ihn, der Literatur generell eine positive Bedeutung für die ethische Beziehung zum Anderen einzuräumen. Levinas kann sagen, »daß durch jegliche Literatur hindurch das menschliche Antlitz spricht« (EU91). Er hebt in diesem Zusammenhang besonders die Hl. Schrift hervor, aber daneben auch Schriften großer Philosophen und Literaten. Er versteht sie als prophetische Zeugnisse, die dem Menschen eine Sensibilität für den Anderen vermitteln und jenseits einer Entbergung des Seins kultivierend wirken. Das Buch ist für ihn von daher letztlich nicht nur zu verstehen als Werkzeug oder kulturelles Produkt, sondern als etwas, in dem das Zeugnis des Gesichts zum Ausdruck kommt und das einsetzt in ein ethisches Bewusstsein. Vor dem Hintergrund seines heteronomen Ethikkonzepts kann er schreiben: »Wovon man sagt, es wäre in die Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Seelen geschrieben, das steht zuerst in den Büchern geschrieben; deren Status immer vorschnell inmitten der Werkzeuge oder der kulturellen Produkte der Natur oder der Geschichte banalisiert wurde« (EU90 f.). Literatur wirkt für Levinas zum einen durch das, was sie inhaltlich sagt. So weist er etwa darauf hin, wie Proust in seinen Personenbeschreibungen die Anderheit des Anderen zum Vorschein bringt (AP94–100). Für diesen inhaltlichen Ausdruck spielt die Leiblichkeit zunächst nur eine untergeordnete Rolle als Vermittlungsmedium von sprachlichen Zeichen. Bedeutsamer ist sie in der beschriebenen Wirkweise der Kunst vermittels einer Ausdrucksgeste, durch die sie in das ausgedrückte Geschehen hineinnimmt. Ein wichtiges Moment ist dabei für Levinas die Bewegung vom vordergründig Greifbaren hin zum Ungreifbaren, aus dem die literarische Inspiration entspringt. Das Grundereignis des Buches oder der Schrift, das Ereignis, das zur Verschriftlichung führt, aber ihr vorhergeht, ist für Levinas ein Sichverdichten eines prophetisch-inspirierten Ausdrucks und dessen Sichabheben aus der Alltagssprache, in einer »Inspiration, die den Menschen selbst erstaunt vernehmen läßt, was er ausspricht, wodurch er das Ausgesagte bereits liest und interpretiert«, weil es mehr bedeutet als das unmittelbar Ausgedrückte (JB8). Um den Leser in diese Bewegung hineinzuführen, spielt für Levinas nicht zuletzt die besondere dichterische Gestalt eine wichtige Rolle. Das Durchstreichen der Eindeutigkeit der vordergründigen Information und den Verweis auf das unerschöpfliche Mehr des Bedeutens vermitteln für ihn die prophetischen Zeugnisse »in ihren Ausdrucksarten, im Wie ihres Sagens, ihrer Kunst – Modalitäten des Sagens, die man notgedrungen mit Daßheiten wie Schönheit oder Poesie bezeichnen muß« – oder »in einer gewissen Vollendung des Ausgesprochenen« (EE15). In der besonderen Ausdrucksgestalt liegt für ihn also nicht nur die Potenz zur Evokation eines schattenhaften Es-gibt, sondern er kann in ihr ebenso eine Manifestation der Inspiration sehen, die zu ihrer Aktualisierung im Interpretieren anregt. Auch auf diese Weise kann die Vollendung der Form, die zunächst in ihrer Gefahr, das Subjekt in einer schönen Scheinwelt aufzulösen, beschrieben wurde, eine positive Bedeutung bekommen. Wie sich für Levinas die Literatur positiv in die Beziehung zum Anderen einbindet, entspricht sehr genau dem, wie er vor allem in der späteren Zeit sein eigenes Schreiben versteht. Er macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass sich das philosophische dem poetischen Schreiben annähern muss (JS36), und es konnte herausgestellt wer784

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den, wie sich dies bei ihm tatsächlich vollzieht. 1198 Neben dem, dass für ihn das propositional Gesagte selbst in den Dienst des Sagens treten kann, indem es auf die ethische Beziehung verweist, ließen sich verschiedene Formen des spezifisch poetischen Rückverweises auf das Sagen und des Sich-ereignen-Lassens des Sagens beobachten. So wurde etwa darauf hingewiesen, wie Levinas auch sein eigenes philosophisches Schreiben von der Atemlosigkeit eines Begehrens geprägt sein lässt. Am unmittelbarsten können für Levinas seine eigenen wie auch sonstige Texte dann eine positive ethische Bedeutung bekommen, wenn sie nicht nur inhaltlich auf die Ethik verweisen oder ihr Geschehen evozieren, sondern selbst Teil einer konkreten Beziehung zum Anderen sind, der Beziehung von Autor und Leser oder auch einer Beziehung innerhalb der Interpretengemeinschaft. Dies kann für ihn in jedem Gesagten oder Geschriebenen geschehen. »Schrift ist immer Vorschrift, Ethik«. »Über das, was sie mich wissen lassen will, hinaus setzt sie mich mit dem Anderen, zu dem ich spreche, in Beziehung« (JB10). Sie ist per se Aufruf, sich ansprechen zu lassen von einem Anderen, und zwar noch einmal auf eine andere Weise als in der beschriebenen Bezogenheit jedes Dings auf den Anderen, indem im Wort oder im Schriftzeichen unmittelbar eine Intention zur Kommunikation aufscheint. Sowohl das Zeichen selbst evoziert dieses Ansprechen als auch der Gehalt des Textes. Für Levinas kann ein Text dies jedoch mehr oder weniger zum Vorschein kommen lassen. Anders als mit dem »Geschriebenen, das Ergebnisse verzeichnet oder präsentiert« (JS361), verhält es sich mit dem, das durch seine Mehrdeutigkeit, Rätselhaftigkeit und durch das Sprechen zwischen den Zeilen unmittelbar die Notwendigkeit von Interpretation verdeutlicht und so das Beziehungsgeschehen zwischen Autor, Leser und der ganzen Interpretengemeinschaft präsent werden lässt. 1199 Die Sprache ist für Levinas dadurch »Brechung oder Verzerrung des Seins, das in ihr thematisiert wird«, und dies ist für ihn eine »Eigenschaft, die sich im poetischen Ausdruck und der Interpretation, zu der er unablässig aufruft, am deutlichsten zeigt« (JS367 f.). Die Interpretation wird nicht Vgl. oben, S. 502–506. Vgl. JS367 f. o. auch DA12: »Zum Wesen der Kunst gehört es, Bedeutung zwischen den Zeilen, in Zeitintervallen – zwischen-zeitlich – aufscheinen zu lassen, wie eine Spur, die dem Gehen, wie ein Echo, das dem Erklingen einer Stimme vorausginge. Erst die Interpretation, die Exegese, vollendet – nachträglich – diesen Gang oder dieses Rufen und wiederholt es ohne Ende.« 1198 1199

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nur provoziert, um, wie dies schon herausgestellt wurde, den Ausdruck des Kunstwerks einzubinden in den Bedeutungshorizont des Rezipienten und so die Entbergung des Seins ganz zu entfalten, sondern auch, um ihn selbst anzusprechen und ein Beziehungsgeschehen zu eröffnen. 1200 Neben der Interpretationsbedürftigkeit ist für die Möglichkeit des Auftauchens eines Beziehungsgeschehens von Bedeutung, wie stark die Momente, die das Kunstwerk zu etwas machen, das durch seine Schönheit bestrickt oder auf die Ebene des bloßen Empfindens der Materialität zieht, etwa die Klanglichkeit und der Rhythmus, zurückgenommen sind. 1201 Die Weise, wie sich vermittels einer bestimmten Textgestalt eine Hinwendung an den Anderen vollzieht, arbeitet Levinas besonders in einem Aufsatz zu Paul Celans Dichtung sowie zu dessen Beschreibungen des Dichtens heraus. So führt für ihn etwa die Selbstreferenzialität, in welcher der Dichter das Gedicht selbst zum Thema macht, zu einer Reduktion auf das reine Zeichengeben. 1202 Dies geht einher mit einer Zurücknahme des Inhalts. »Sagen ohne Aussage, wichtig eher durch die Hinwendung, durch den Anruf mehr als durch die Botschaft; wichtig durch die Aufmerksamkeit!« (PC60) Auch treten für ihn Celans Gedichte eher auf in einer Bewegung der Suche und des Fragens, und zwar als »Befragung des Anderen, Aufsuchen des Anderen« (PC64). Der Dichter selbst präsentiert sich nicht in seinem Können, seiner »Schöpfermacht« (PC59), sondern in seiner Begrenztheit und Passivität. Um sich zu transzendieren auf den Angesprochenen, um »ein – befremdetes – Ich« zu sein, schreibt er unter »dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit«, wie Levinas Celan zi1200 Diese Bezogenheit auf Interpretation stellt Levinas besonders für die Bücher der Hl. Schrift oder auch für philosophische Werke heraus (EU15), was deutlich macht, dass auch eine bestimmte Rezeptionstradition einen Text mehr oder weniger geöffnet sein lässt auf dieses Beziehungsgeschehen. 1201 Dies kommt m. E. zum Ausdruck, wenn Levinas in TU292 von der poetischen Tätigkeit, die durch den Rhythmus den Künstler sowie den Rezipienten in eine Verschmelzungseinheit mit dem Kunstwerk zieht, die Rede unterscheidet und sie »Prosa« nennt. 1202 Vgl. PC56: »[E]in Zeichen, das sich selbst bezeichnet: das Subjekt zeigt das Zeichengeben an, bis es reines Zeichen wird. Elementare Kommunikation ohne Botschaft«. Zu dieser Selbstreferenzialität vgl. auch JS31810 , die, soweit ich sehe, einzige Stelle in JS, an der Levinas die Kunst positiv würdigt: »Als Zeichen, das von dieser Bedeutung als Zeichen gegeben wird, zeichnet die Nähe zugleich den Tropos der Lyrik: lieben darin, daß man die Liebe dem Geliebten sagt – Liebeslied, Möglichkeit der Dichtung, der Kunst.«

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tiert (PC59). Auch verliert er sich nicht in Allgemeines und Objektives. »Das Persönliche soll die Poesie des Gedichtes ausmachen: ›[…] [E]s spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache‹. Das Persönliche: von mir zum Anderen.« (PC58) Diese Bewegung der beständigen Ausrichtung auf den Leser lässt sich letztlich freilich nicht an bestimmten Merkmalen festmachen. Es ist eine Geste, die sich durch das ganze Gedicht hindurch vermittelt. Die Aussage von Celan, er »sehe keinen prinzipiellen Unterschied […] zwischen Händedruck und Gedicht« (PC56), interpretiert Levinas im Sinne eines Verständnisses des Gedichtes als einer leiblichen Geste in einer Weise, dass sich »das Gedicht genau auf jenem prä-syntaktischen und prä-logischen […], aber auch noch prä-dekuvrierenden Niveau bewegt: dem Moment des reinen Ergreifens, Drückens, das, vielleicht, eine Weise darstellt, die Hand selber mitzugeben« (PC57). Es geht auch an dieser Stelle um die oben beschriebene Evokation eines Jenseits-des-Seins und eines Begehrens durch eine leibliche Geste, hier nun aber als Vollzug einer konkreten Hinwendung an den Leser. Levinas beschreibt diese positiven Wirkweisen der Kunst vor allem in Bezug auf die Literatur. Daran lässt sich vermutlich ablesen, dass sie für ihn am geeignetsten dafür erscheint, ein ethisches Beziehungsgeschehen sich ereignen zu lassen. Es mag etwa an einer Nähe zum Sprechen liegen, am »Vorzug des lebendigen, zum Hören bestimmten Wortes gegenüber dem Wort als Bild und bildhaften Zeichen« (ML91). Auch mag es mit der grundlegenden Bedeutung der Sprache in der Beziehung zum Anderen zusammenhängen. Es ist vielleicht nicht zufällig, dass man die Hinwendung zum Anderen auch dann eine sprechende nennt, wenn sie sich nur in einem Blick ereignet. Es fällt auf, dass für Levinas das Schweigen eher einen Mangel an Zugewandtheit darstellt. »Es ist schwierig, in Gegenwart von jemandem zu schweigen; diese Schwierigkeit beruht letzten Endes in dieser eigentlichen Bedeutung des Sagens, unabhängig davon, was das Gesagte ist.« (EU67) 1203 Für ihn können zwar auch im Schweigen eine Unterbrechung des Gesagten und ein Hinweis auf das Sagen liegen (JS349), aber er würde beim Schweigen nicht stehen bleiben. Es stellt sich natürlich die Frage, ob Levinas dies zu einer allgemeinen These erheben oder eher seinem persönlichen Erleben zuschreiben würde. Auch darf man diesen Punkt nicht überbewerten. Statt in einem Sprechen kann sich für ihn die ethische Antwort ebenso als 1203

Vgl. auch JS314 zur »Unfähigkeit zu schweigen«.

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Aufmerksamkeit ereignen und die Aufforderung in einem Blick oder einer Geste. Entsprechend kann für Levinas grundsätzlich genauso in einem Gemälde – er bezieht sich konkret auf ein Porträt – eine Begegnung mit dem Gesicht des Anderen stattfinden (MP95). Auch kann für ihn »die Nacktheit eines von Rodin geformten Arms« die Fähigkeit haben, zur Verantwortung aufzurufen (AU275 f.). Levinas sieht diese Fähigkeit besonders bei Kunstwerken gegeben, die mit einer Verdeckung, Entwertung oder Verletzung des Dargestellten arbeiten. 1204 Vergleichbare Aussagen zur Musik finden sich – soweit ich sehe – bei ihm nicht. Verschiedene Momente, in denen sich für Levinas in der Literatur ein Zeugnis ereignen kann, lassen sich m. E. aber auch in der Musik entdecken. Auch sie kann eine menschliche Haltung ausdrücken, etwa eine Atemlosigkeit. Auch in ihr können die Aspekte, die zu einer Einbindung in das Es-gibt führen, mehr oder weniger zurücktreten, wenn sie etwa nicht auf einen den Hörer ergreifenden Rhythmus setzt, sondern ihm einen Freiraum lässt. Auch kann Musik sehr stark dialogisch ausgerichtet sein, zwischen den Musikern, aber auch in Bezug auf den Hörer.

Vgl. die positiven Aussagen über die Bedeutung der oblitération in einem Gespräch über die Skulpturen von Sacha Sosno bes. in DO22, 26 u. 28.

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Welche Rolle der Leib in der ethischen Beziehung zum Anderen spielt, wurde so ausführlich dargestellt, weil sich für Levinas in ihr die Beziehung zum Unendlichen ereignet. »Der Andere ist der eigentliche Ort der metaphysischen Wahrheit und für meine Beziehung zu Gott unerlässlich. Er spielt keineswegs die Rolle des Vermittlers. Der Andere ist nicht die Inkarnation Gottes; vielmehr ist er durch sein Antlitz, in dem er körperlos ist, die Manifestation der Höhe, in der sich Gott offenbart.« (TU108/TI51) Gott selbst nennt Levinas hier »körperlos« (»désincarné«). Auch sonst finden sich bei ihm keine Ansätze, ihm irgendeine Form von Körperlichkeit zuzuschreiben. Er beschreibt die Transzendenz des Unendlichen sogar als von der Transzendenz des Anderen noch einmal so verschieden, dass es für ihn schwer vorstellbar wird, dass Gott, wie für den christlichen Glauben, selbst in die weltliche Wirklichkeit eintreten könnte. 1205 Die Vorstellung, die sich aus dem Inkarnationsglauben ergibt und die etwa in der christlichen Eucharistiepraxis greifbar wird, mit Gott auf der sinnlichen Ebene in Gemeinschaft treten zu können, betrachtet Levinas von daher kritisch. 1206 Gott bekommt aber für Levinas ebenso im Anderen keine eigene Leiblichkeit, auch der Andere ist Vgl. oben, S. 537 f. Vgl. wie Levinas im Aufsatz Die Thora mehr lieben als Gott seine jüdische Sicht dem gegenüberstellt, was sich für ihn für eine Frömmigkeitshaltung aus dem christlichen Inkarnationsglauben ergibt: »[D]as Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen ist keine sentimentale Kommunion in der Liebe eines inkarnierten Gottes, sondern eine Beziehung zwischen Geistern vermittels einer Belehrung, der Thora« (DT111 f.); »das Geistige vermittelt sich nicht als sinnlich wahrnehmbare Substanz, sondern durch Abwesenheit« (DT112); vgl. auch DT113 gegen die Idee einer »warmen und gleichsam sinnlichen Kommunion mit dem Göttlichen«. Er richtet sich hier nicht nur gegen die Idee eines sinnlichen Kontaktes zu Gott, sondern auch gegen die einer lediglich warmen, nicht fordernden personalen Zuwendung Gottes. Dies trifft freilich nur eine Karikatur des Christlichen. Auch darf diese Kritik nicht darüber hinwegsehen lassen, dass bei Levinas selbst Ansätze dazu vorhanden sind, die Bezie1205 1206

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nicht seine Inkarnation. Er ist eine eigene Person und nicht einfach nur die körperliche Hülle Gottes. Und er ist nicht identisch mit Gott, sondern zwischen Gott und dem Anderen besteht eine Trennung. Dennoch ereignet sich die Höhe Gottes im Anderen, und zwar konkret leiblich in seinem Gesicht. Auch ereignet sich die Herrlichkeit Gottes in der leibhaften Begegnung des Ich mit dem Anderen. Auf diese Weise ist die Rolle, die der Leib hierbei in all den verschiedenen beschriebenen Aspekten spielt, auch von religiöser Bedeutung. Und insofern bekommt doch in gewisser Weise das Unendliche die Züge des Gesichts, auch wenn es sich nicht in ihm inkarniert. Für Levinas wird von der leiblichen Begegnung mit dem Anderen her die Transzendenz überhaupt als zurückgezogen aus der Welt, als fremd, arm und verfolgt erlebt. 1207 Die Beziehung zum Unendlichen ist zwar nicht in jeder Hinsicht von der zum Anderen abhängig, zwar weckt das Unendliche das Begehren des Subjektes schon auf eine Weise vorgängig zum Anderen, zugleich, wie herausgearbeitet wurde, jedoch auch nicht ohne den Anderen. 1208 Dies ist für Levinas nicht nur faktisch so, weil die phänomenologische Annäherung an das Unendliche von der sinnlichen Begegnung mit dem Anderen ausgehen muss, sondern aus einem inneren Grund. Nur indem das Unendliche das Ich an den Anderen verweist, kann es sich in seine eigentliche Transzendenz, die für Levinas noch weiter transzendiert als der Andere, zurückziehen. Und nur wenn es das Begehren umlenkt auf den nicht begehrenswerten Anderen kann es aus dem Begehren jede Selbstbezogenheit ausschließen und in ihm eine wirkliche Transzendierung stattfinden lassen. Der Andere ist hierbei freilich nicht bloßes Mittel und man muss, um dem gerecht zu werden, den Grund dafür, dass sich das Unendliche im Anderen ereignet, letztlich im Anderen selbst sehen, in dessen zu achtender Anderheit. Auch entfaltet der Andere nicht lediglich eine Bedeutung, die in der Beziehung zum Unendlichen selbst schon in der Weise sichtbar ist und von ihm her abgehung zum Unendlichen nicht nur als Forderung, sondern ebenso als milde raumgebende Zuwendung zu denken (vgl. oben, S. 563–565). 1207 Vgl. TU106, wo Levinas zunächst vom Unendlichen spricht und dann von seinem konkreten Sichereignen in der Beziehung zum Anderen her sagt, es sei »das Transzendente als fremd und arm« anzusehen. In MG75 argumentiert Levinas dafür, dass »der Gedanke einer Wahrheit, die durch ihre Erniedrigung sichtbar wird, wie das sanfte Säuseln in der biblischen Erzählung – der Gedanke einer Wahrheit, die verfolgt wird, die einzige Möglichkeit einer Transzendenz« darstellt. 1208 Vgl. oben, S. 460–462.

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leitet werden könnte. 1209 Im Anderen konkretisiert sich unableitbar die Beziehung zum Unendlichen. Und wiederum unableitbar konkretisiert sie sich durch die Weise, wie sich die Beziehung zum Anderen leiblich ereignet. So kommt dieser Konkretisierung im Leiblichen für Levinas »eine ontologische Rolle zu« (TU252), d. h., un-ontologisch formuliert, sie zeigt, wie sich Ethik und wie sich Herrlichkeit ereignen und was ihre konkrete Bedeutung ist. Die Leiblichkeit bekommt nicht nur über den Anderen eine religiöse Bedeutung. Für die Beziehung zum Unendlichen, die das Subjekt auf eine Art vorgängig zum Anderen trifft, ist auch unabhängig von ihr die getrennte Existenz, die sich im leiblichen Genuss konstituiert, der Ausgangspunkt. »Egoismus, Genuß und Sinnlichkeit […] sind erforderlich für die Idee des Unendlichen – oder für die Beziehung mit dem Anderen, die sich vom getrennten und endlichen Seienden aus einen Weg bahnt.« (TU212; vgl. auch TU312 f.) Es braucht dafür die Trennung in ihrer ganzen Entfaltung bis zum Bewusstsein und zur Freiheit. Und es braucht die Trennung, die zugleich offen ist für ein Betroffenwerden vom Unendlichen, die Trennung, die aus einer Passivität lebt. Levinas spricht parallel von einer Diachronie des Leiblichen in der Beziehung zum Anderen und von einer in der zum Unendlichen. 1210 Parallel beschreibt er auch das »Überfließen« in diesem Verhältnis. 1211 Das Leibliche ist für ihn das Inkarniertsein des Überfließens des Unendlichen (TU295). Und nur die leibliche Passivität sowie die mit ihr einhergehenden Begrenztheiten »verbürgen das eigentliche Überfließen des Unendlichen« (TU422). Es braucht diese Passivität, indem schon das Wecken des Begehrens durch das Unendliche am leiblichen Subjekt anknüpfen muss. Sie ist außerdem bedeutsam als Offenheit für die Konkretisierung dieses Begehrens in der Beziehung zum Anderen. Und sie ist hier vor allem dadurch bedeutsam, dass gerade in der Leiblichkeit dieser Begegnung mit dem Anderen die Beziehung etwas kostet. Levinas macht auf diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich aufmerksam. Aber das, was den Anderen zum nicht Begehrenswerten macht und so das Begehren des Unendlichen offenhält, ist genau das, dass er das Ich leiblich ganz in Anspruch nimmt, bis zur Gabe des eigenen Lebens. 1212 1209 1210 1211 1212

Vgl. oben, S. 610 f. Vgl. oben, Anm. 1003. Vgl. oben, Anm. 928. Vgl. oben, S. 747–749.

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Die Leiblichkeit ist ebenso dadurch unmittelbar für die Beziehung zum Unendlichen bedeutsam, als in ihr die eigene Endlichkeit greifbar wird, in der sich das Ich im Gegenüber zum Unendlichen erlebt oder die zumindest ein Moment in diesem Erleben darstellt. 1213 Leiblich erfährt es sich im Selbstbezug des Genießens, der seine Hingabe immer wieder unterbricht und schmälert und so in einem »›Weniger‹« (TU422) belässt gegenüber der Güte des Unendlichen. Auch erfährt es sich als zeitliches Wesen im Gegenüber zu dessen Ewigkeit. Zwar ist von dieser Endlichkeit nicht nur der Leib geprägt, sondern auch das Bewusstsein. Aber insofern sich dieses aus dem Leibvollzug und dessen Endlichkeitsstruktur erhebt und gerade in dieser Abhängigkeit als endliches erlebt, während es sich rein von der Bewusstseinssetzung her als geradezu Unbedingtes wähnen kann, spielt der Leib auch hier eine wichtige Rolle. Wie herausgearbeitet wurde, versteht Levinas die Beschränkungen jedoch nicht als »einfaches ›Weniger‹« (TU422), denn nur vermittels ihrer kann sich das Unendliche ereignen. Es braucht das zunächst genießend auf sich bezogene Subjekt, dessen Passivität und Zeitlichkeit. Und es braucht ebenso die Beschränkungen, die Levinas nicht im Gegenüber zum Unendlichen bestimmt, für die bei ihm offen bleibt, ob sie in diesem Sinne als Formen der Endlichkeit anzusehen sind, etwa das Einzelnsein des Subjekts im Unterschied zu Anderen – dies wird als Beschränkung wohl nur erlebt im Gegenüber zu einem Ideal absoluter Freiheit – oder das Nichteinholen-Können des Seins in ein vollständiges Wissen – was wohl ebenfalls nur erlebt wird in Bezug auf eine fehlgeleitete Idealvorstellung, die vom objektiven Wissen ausgeht. Die leiblichen Beschränkungen weisen auf die eigene Endlichkeit im Gegenüber zum Unendlichen, aber auch auf die Abhängigkeit im Sein. Dies ist insofern für die Beziehung zum Unendlichen relevant, als diese Abhängigkeit zumindest auf eine mögliche Schöpfung durch das Unendliche verweist. 1214 Dass das Subjekt nicht causa sui ist, macht Levinas auch an der Abhängigkeit vom Anderen oder vom Unendlichen fest. Vom Leib her ergibt sich dies für ihn in einer Analyse des Genusses. Das Subjekt lebt nur vermittels der Nahrung, die ihm von außen unverfügbar zukommt, ist jedoch nicht einfach durch diese Nahrung ins Sein gesetzt. Die offene Frage nach einem Grund des Seins führt zum Begriff der Schöpfung als einer zumindest mög1213 1214

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Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 530–538. Vgl. dazu u. zum Folgenden oben, S. 553–558 u. 664–666.

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lichen Antwort. Das Subjekt muss für ihn aus einem personalen Ursprung hervorgehen und in der Konstitution des Subjekts muss die Nahrung eine vermittelnde Rolle spielen. Wenn das Unendliche selbst es geschaffen hat, dann – um die wirkliche Getrenntheit zu gewährleisten –, ohne es zunächst auf das Unendliche bezogen sein zu lassen, in einem bloßen Selbstbezug, in dem erst sekundär das Begehren geweckt wird. Über die Rolle in der ethischen Beziehung zum Anderen hinaus ist der Leib für die Beziehung mit dem Unendlichen außerdem dadurch bedeutsam, dass diese sich nicht nur als Verhältnis zu einer fordernden Güte vollzieht. Im Kapitel über Levinas’ Religionsphilosophie wurden die weiteren Aspekte dieser Beziehung dargestellt. Es gilt, auch sie auf die Bedeutsamkeit des Leibes hin zu befragen. Betrachtet man das, was Levinas Vaterschaft nennt, als vom Unendlichen ausgehende Einsetzung des Subjekts in seine Verantwortung, dann ist diese genauso über das Gesicht vermittelt wie die Forderung, geschieht sogar genau in dieser Forderung, und der Leib besitzt hier dieselbe Bedeutung. Betrachtet man die Vaterschaft als vom Unendlichen ausgehende Dimension, die das Ich Vater sein lässt in Bezug auf den Anderen, dann führt dies über die Gesichtsbeziehung hinaus, indem in der darin liegenden Identifikation mit dem Anderen für Levinas eine noch weitergehende Lösung des Subjekts von sich und insofern eine Transzendierung oder Verunendlichung stattfindet. Hier bekommt auch der Leib eine weitergehende Bedeutung, und zwar dadurch, dass die Möglichkeit dieser Transzendierung an der biologischen Fruchtbarkeit hängt. Das leibliche Ereignis der Fruchtbarkeit eröffnet die Pluralität der Wirklichkeit, in der sich die Unendlichung des Subjekts erfüllen kann. Die Fruchtbarkeit ist freilich noch in einer anderen Hinsicht mit dem Unendlichen in Zusammenhang zu bringen, indem sie Levinas nämlich in unmittelbare Verbindung setzt zur Idee der Schöpfung. Falls der Grund des Seins der vielen Subjekte in einer Schöpfung liegt, dann vollzieht diese sich nicht nur vermittels der Nahrung, sondern auch vermittels der Fruchtbarkeit. Man kann sogar ausgehend davon, dass Levinas Schöpfung selbst als Fruchtbarkeit bezeichnen kann 1215, sagen: In ihr manifestiert sich das schöpferische Unendliche. Levinas formuliert es nicht ausdrücklich so, versteht aber Schöpfung und biologische Fruchtbarkeit vom selben Grundereignis der Frucht1215

Vgl. oben, Anm. 995.

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barkeit her, das, falls eine Schöpfung stattfindet, von dieser eröffnet sein muss. Dafür, dass er selbst diesen engen Zusammenhang gesehen hat, spricht m. E. auch, dass die Idee im Judentum sehr verbreitet ist, die Zeugung als eine Mitwirkung am Schöpfungsgeschehen zu verstehen. 1216 Es konnte herausgearbeitet werden, dass Levinas auch das, was er Mutterschaft oder Beziehung zum Weiblichen nennt, nicht nur als ein vorbereitendes Moment der Beziehung zum Anderen, sondern ebenso von jener zum Unendlichen ansehen kann. Als ›Weibliches‹ tritt das Unendliche zwar personal, aber nicht in einer Forderung an das Subjekt, sondern, um die Entfaltung der Trennung zu eröffnen, in einer raumgebenden, bestätigenden Milde. Das Geschehen der Trennung insgesamt kann als etwas angesehen werden, in dem das Subjekt vom Unendlichen bestätigt wird. Indem die Trennung bleibende Bedingung für die ethische Beziehung ist und sich diese immer nur als Selbstbezug in den verschiedenen von der Weiblichkeit eröffneten Momenten und als Bruch des Selbstbezuges ereignet, behält der Aspekt des Weiblichen eine Bedeutung als integrales Moment der Beziehung zum Unendlichen. Für die religiöse Bedeutung des Leibes hat dies insofern Konsequenzen, als er als Abstandnehmen zum Genuss, als Wohnen und als Können das konkrete Ereignis und den Vollzug dieser Beziehung darstellt. Das leibliche Nahrungsgeschehen kann zwar nicht selbst in sich einen Verweis auf diese Beziehung tragen, es kann m. E. aber nachträglich durchaus in ihrem Zusammenhang verstanden und als Moment einer personalen Zuwendung erlebt werden – des anderen Menschen, aber auch des Unendlichen. 1217 Ent1216 Grundsätzlich bekommt die Sexualität eine positive Wertung im Judentum ausgehend vom Gebot der Fortpflanzung Gen 1,28, wobei die Fortpflanzung als Sicherung des Fortbestandes der Welt aufgefasst wird (vgl. etwa Berger, 2003, 26 u. 33 f.). Von daher wird sie dann auch als Mitwirkung an der Schöpfung verstanden. Vgl. dazu etwa die Aussagen im zweiten Kapitel des in dieser Thematik einflussreichen Iggeret Ha-qodesh aus dem 13. Jh., dass Gott den sexuellen Verkehr teilhaben lässt am Erschaffen und so den Menschen zu einem Partner im Schöpfungswirken macht (vgl. Cohen, 1993, 90–92 o. Browning, 2006, 60 f.). Seymour Cohen bemerkt dazu (1993, 32 f.): »Procreation is all-important; whoever does not engage in procreation is deemed by Scripture as diminishing, as it were, the divine likeness. The medieval Jewish mystics designated those who engage in the procreative act as God’s partner. The sexual union is a theurgic act. The sexual act draws down the Shekhinah for it fills not only the union but a divine need.« 1217 Insofern ist m. E. Bernhard Casper (1999, 168 f.) zuzustimmen, der die Passivität des Lebens-von-… als »unvordenkliche Gabe« interpretiert, in der ein Bezogensein

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sprechend kann für Levinas auch der Dank Bestandteil der religiösen Beziehung sein, ebenso die Bitte, freilich beide nur in einer in eine selbstlose Haltung integrierten Form, als Dank und Bitte für die Erhaltung des eigenen Seins als Sein-für-den-Anderen. Von der Beziehung zum sogenannten Weiblichen in dieser eher mütterlichen Gestalt konnte die erotische unterschieden werden. 1218 Zwischen Eros und Unendlichem stellt Levinas, soweit ich sehe, keinen Bezug her. Das Verhältnis lässt sich jedoch erschließen. Zunächst einmal ist der Eros in seiner wesentlichen Zweideutigkeit vom reinen Begehren des Unendlichen unterschieden. Auch stellt er nicht wie der Genuss und die Beziehung zum mütterlich Weiblichen eine notwendige Bedingung für dieses Begehren dar, müsste deshalb in dieses integriert werden und könnte insofern ein Moment der Beziehung zum Unendlichen sein. Meines Erachtens lässt sich aber überlegen, ob nicht innerhalb von Levinas’ Ansatz eine Integration des Eros in eine selbstlose und das Gesicht des Anderen nicht nur verdeckende, sondern zugleich auch achtende Haltung zumindest möglich ist. Der Eros ist nicht durch das Bestehen der erotischen Befriedigung ambivalent – dann müsste ebenso die ethische Ausrichtung selbst ambivalent sein, insofern sie sich immer nur als Genuss und Bruch des Genusses ereignen kann –, sondern auch durch die das Gesicht des Anderen verdeckende Ausrichtung auf sie, sodass eine Form von Eros möglich erscheint, in der diese Ausrichtung überwunden ist und die dennoch Eros bleibt, insofern das erotische Bedürfnis befriedigt wird. Auf jeden Fall darf die Weise der Transzendierung im Eros nicht als eine Form der Beziehung zum Es-gibt und in diesem Sinne als uneigentlicher Gottesbezug betrachtet werden, denn sie wird von Levinas als eine immer personale verstanden. Dem Leib kommt im Eros eine wesentliche und eigene Bedeutung zu. Der Eros vollzieht sich als Liebkosung, als eine Berührung, die sich unterscheidet von der Nahrung, der Sinnlichkeit oder dem Können (TU375 f.), indem ihre Intention sich schon auf den Anderen in Form einer Suche des Uneinholbaren bezieht. Dadurch dass sie sich auf die Befriedigung des Anderen richtet und über ihn als Gesicht hinaus zielt, ist sie auch von der Leiblichkeit der Gesichtsbeziehung verschieden (TU377). Levinas nennt diese auf das Unendliche stattfindet. Dasselbe gilt seiner Auffassung nach für die sich ausgehend vom Wohnen leiblich entfaltende Selbständigkeit des Subjekts, die ihm »auf Zeit gewährte Synchronie«. 1218 Dazu u. zum Folgenden vgl. oben, S. 696–700 u. 372–378. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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eigene Leiblichkeit das »Fleischliche« (TU377). Man kann sogar sagen, dass sich in ihr wie in der Fruchtbarkeit die Lösung des Subjekts von der Bindung an sich und insofern eine Unendlichung ereignet, auch wenn diese getrübt wird durch die für Levinas dem Eros, anders als der Fruchtbarkeit, zukommende Ambivalenz. Der Eros kann so zumindest eine vorläufige Form der Befreiung aus dem Es-gibt darstellen. Durch das passive Bezogensein auf den Anderen und über ihn hinaus transzendieren sich die Seienden im Eros, ohne sich in einem Unpersönlichen aufzulösen. Dies ereignet sich konkret als leibliche Liebkosung: »Im Fleischlichen der Zärtlichkeit verlässt der Leib den Status eines Seienden.« (TU377) Eng im Zusammenhang mit dem Aspekt der Milde des Unendlichen, die das Subjekt in seinem Selbstvollzug unterstützt, steht die Frage nach der Möglichkeit seines geschichtlichen Wirkens. Diese Frage ist zum einen insofern mit der Leiblichkeit verknüpft, als diese zur geschichtlichen Sphäre gehört, in der Gott wirken soll, zum anderen und vor allem aber insofern sie sich besonders angesichts der Hilfsbedürftigkeit des Menschen im Leid stellt. Für das eigene Leiden hält es Levinas zwar, wie dies ausführlich gezeigt wurde, für möglich, einen Sinn zu entdecken. Dadurch wird jedoch das Leid nicht gut geheißen. Er gibt zugleich der Hoffnung auf eine Befreiung von Leid recht, einer Hoffnung, die sich an Gott wendet. 1219 Die Erfahrung des eigenen Leids kann also der Theodizeefrage Nahrung geben. Ihre eigentliche Dringlichkeit erhält sie für Levinas jedoch durch das Leid des Anderen, für welches das Subjekt in keiner Weise eine Rechtfertigung versuchen darf. 1220 Sein Leid appelliert zwar zunächst an meine Hilfe, weist mich auf meine Verantwortung hin und nähert mich so Gott an, der sich in dieser Verantwortung manifestiert, ohne dass dabei der Blick auf ihn erfolgen dürfte, um meine Verantwortung für den Anderen einzuschränken, etwa in irgendeiner Theodizee, die eine Rechtfertigung des Leidens des Anderen oder in diesem Leiden eine Hilfe von Gott erwartet. 1221 Aber dies ändert für Levinas nichts daran, Vgl. oben, S. 744–758. Vgl. oben, S. 756 f. 1221 Vgl. DL121: »Aufmerksamkeit auf das Leiden des Anderen, […] Aufmerksamkeit und Handeln, die den Menschen – ihrem Ich – auf so gebieterische und direkte Weise obliegen, dass es ihnen nicht ohne abzufallen möglich ist, sie von einem allmächtigen Gott zu erwarten. Gott nähert uns das Bewusstsein dieser Verpflichtung, ohne Möglichkeit, sich zu entziehen, sicher auf viel anstrengendere Weise, aber auch viel spiritueller an als das Vertrauen auf irgendeine Theodizee dies tun könnte.« 1219 1220

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dass dieses Leiden des Anderen auch zum Himmel schreit und den Glauben an Gott infrage stellt. 1222 Aus der das Subjekt in seiner Verantwortung belassenden Transzendenz Gottes folgert Levinas, wie gezeigt wurde, nicht, dass Gott nicht in die Welt eingreifen dürfte oder könnte. Und so macht das Leiden des Anderen den Glauben schwierig. Zugleich erwächst jedoch für Levinas aus ihm eine Verpflichtung, am Glauben festzuhalten, denn der Unglaube würde »die Welt dem sinnlosen Leiden preisgeben« (DL127). Das Gewahrwerden des faktischen Leidens und des faktischen Nichteingreifens Gottes kann dabei verhindern, in einem unmündigen Glauben verhaftet zu bleiben, der noch nicht die volle Verantwortung erfasst, in die Gott den Menschen entlassen hat, und der nicht allein in der ethischen Haltung selbst seinen Ausgang nimmt. Das Leid »offenbart einen Gott, der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, an die Reife des voll verantwortlichen Menschen appelliert. Doch dieser Gott, der sein Antlitz verhüllt und den Gerechten seiner Gerechtigkeit ohne Sieg überläßt – dieser ferne Gott kommt alsbald von innen.« (DT111) Gott ereignet sich im moralischen Gesetz. Levinas rechnet nicht mit einer Manifestation Gottes in der leiblich-geschichtlichen Sphäre durch ein wirksames Eingreifen, auch wenn er dieses nicht für unmöglich erklärt. Und ebenso rechnet er nicht mit einer besonderen, dem Menschen zu Hilfe kommenden geschichtlichen Offenbarung, die über die ethische Manifestation des Unendlichen hinausgeht. Gerade die Erfahrung des Leids, die auf die Abwesenheit Gottes in der Welt und seine Anwesenheit bloß im moralischen Gesetz weist, lässt Levinas skeptisch sein gegenüber einer Religiosität der »warmen und gleichsam sinnlichen Kommunion mit dem Göttlichen« (DT113), die für ihn mit dem christlichen Inkarnationsglauben verbunden ist. Dass ausgehend von seiner Beschreibung des noch radikaleren Transzendierens des Unendlichen die Möglichkeit einer Inkarnation schwieriger vorstellbar ist, erscheint nachvollziehbar. Die starke Gegensetzung gegen jede Form von Wärme des Unendlichen muss m. E. jedoch von daher relativiert werden, wie sich bei ihm eine Integration dessen, was er Weiblichkeit nennt, in die Beziehung zum Unendlichen andeutet. Nur auf der Basis der Integration der Bestätigung des Selbstvollzuges in die Forderung, wie sie aus der Analyse der Trennungsbezie1222

Dazu u. zum Folgenden vgl. oben, S. 565–568.

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hung folgt und wie sie der bleibenden Bedeutung des ›Weiblichen‹ zugrunde liegt, ist es auch schlüssig, wie sich für Levinas philosophisch gerechtfertigt eine eschatologische Perspektive auf eine Befreiung vom Leid ergeben kann. Auch dieser Aspekt der Beziehung zum Unendlichen, von dem her diese Befreiung erhofft wird, beinhaltet wichtige Bezüge auf die Leiblichkeit. Hier bestätigt sich, dass das Leid nicht sein soll, dass es das Leben schädigt und so auch die Möglichkeit der Hingabe schädigt. Außerdem bestätigt sich hier ein Aspekt der Leiblichkeit, den man durch Levinas’ Würdigung der Endlichkeit leicht übersehen kann: dass sie in der Struktur, wie sie faktisch vorfindlich ist, die Moralität einschränkt – durch die Selbstbezogenheit und die Tendenz, die Wahrheit der ethischen Bedeutung zu verhüllen. Wie die Interpretation seiner eschatologischen Aussagen gezeigt hat, kann Levinas den erhofften Vollendungszustand aber nicht als Unleiblichen denken. Der Leib behält seine Bedeutung als das, worin das getrennte Subjekt konstituiert und zugleich radikal geöffnet ist auf den Anderen. So kann Levinas im Tod selbst – Tod, der von jeder Synchronie befreite Diachronie meint, nicht Übergang in ein Nichts, sondern von jeder Intentionalität auf das Sein gelöste Selbstentleerung, Leerwerden, das aber befreit ist vom Krankmachenden des Leidens – die Weise erblicken, in der die Nähe zum Unendlichen in eine »letzte Intensität« (GTZ74) gelangt. Im ersten Abschnitt des Kapitels zur Bedeutung des Leibes in der ethischen Beziehung wurde herausgearbeitet, dass für Levinas bis in die späteste Zeit seines Denkens der Leib nur zusammen mit der ethischen Inspiration und als Vermittlungsmoment in ihr in die Transzendenz des Unendlichen führt. Für sich genommen öffnet er höchstens vorbereitend für diese Inspiration 1223, ohne sie »verstopft« (TU187) er die Beziehung zum Unendlichen. Von daher bestehen verschiedene Möglichkeiten, wie die Leiblichkeit getrennt von der Ethik in uneigentliche Formen der Transzendenzbeziehung führt. Im Kapitel zu Levinas’ Religionsphilosophie wurden sie beschrieben. Die Abhängigkeit vom unverfügbar aus einem Nirgends auf das Subjekt zukommenden Elementalen kann es als Kontakt mit einer es übersteigenden unpersönlichen und gestaltlosen göttlichen Macht erleben. In diesen Eigenschaften löst sich diese Sphäre aus den Sinnhorizonten des Subjekts, es vermag sie nicht als in seine Welt integrierten Gegenstand zu setzen und kann ohne dieses Gegenüber 1223

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Vgl. dazu auch oben, S. 735–738 u. Anm. 1098.

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auch sich selbst abhanden kommen und aufgehen im bloßen Ereignis der Materialität des Seins. Es kann diese Auflösung positiv als eine Art naturhafte All-Einheit erleben oder aber als Bedrohung der eigenen Selbständigkeit. Ausgehend von der Analyse dieser im Leiblichen liegenden Möglichkeiten kann Levinas verschiedene religiöse Erscheinungen kritisieren: eine naturmystisch partizipative Religiosität, Vorstellungen vom Göttlichen als einem faszinierenden und furchteinflößenden Sakralen sowie bestimmte rituelle und liturgische Formen, in denen sich eine solche Auflösung vollzieht. Die Analyse der levinasschen Kritik an Weisen des Sichereignens von Kunst – innerhalb der Religion, etwa in einer liturgischen Praxis, oder auch wenn die Kunst selbst zu einer Art Religion wird – konnte noch zwei weitere Arten aufweisen, in denen für Levinas die Leiblichkeit zu einem uneigentlichen religiösen Bezug auf das Es-gibt führen kann. Auch die Kunst kann durch die Materialität das Es-gibt evozieren. Aber nicht nur die Materialität, auch die Form, in der sie spontan wahrgenommen wird und die sich schon auf der Ebene des Phänomenhaften oder Bildlichen bewegt, kann über den ästhetischen Reiz das Subjekt dazu bringen, sich darin auflösen zu lassen und so den Widrigkeiten der Realität und der Verantwortung zu entkommen. Diese Flucht ins Virtuelle und Traumartige ist durchaus eine Möglichkeit des Leibes, zu dem dieser Übergang zum Phänomen gehört, auch wenn sie von daher ebenso dem Bewusstsein zugeordnet werden kann. Zugleich ist der Leib aber in seinem ursprünglichen Vollzug Materialität und insofern kann er einen Kontakt mit der Realität und einen Ausstieg aus dieser Flucht eröffnen. Als zweites liegt für Levinas in dem, wie der Leib teilnimmt an einem Offenbaren des Seins, wie sich die ursprüngliche Form des Seinsverstehens sowie des Ausdrucks dieses Seinsverstehens in einer leiblichen Geste ereignet und wie sich im Künstler, seinen Werken sowie im Betrachter dieser Werke auf besondere Weise dieses ontologische Geschehen manifestiert, eine Gefahr, dieses selbst schon als etwas Letztes anzusehen, religiös zu überhöhen und dabei die jedes Seinsverstehen durchbrechende Beziehung auf den Anderen und das Unendliche zu verdecken. Diese verschiedenen Formen des Sichereignens von Kunst werden von Levinas freilich nicht nur in ihrem kritischen Potential beschrieben. Im letzten Abschnitt des Kapitels zur ethischen Bedeutung des Leibes wurde herausgearbeitet, wie für ihn die beschriebenen drei Wirkweisen der Leiblichkeit in der Kunst genauso eine positive Funktion innerhalb der Beziehung zum Anderen ausüben Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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können. Dadurch sind sie ebenso für die Beziehung zum Unendlichen relevant. Es ist darauf hinzuweisen, dass es keineswegs nur die Leiblichkeit allein ist, in der dieses Potential zu uneigentlichen Transzendenzbeziehungen liegt. Im Ereignis der Flucht ins Virtuelle ist es die Leiblichkeit im Übergang zum Phänomen und zum Bewusstsein. Im Ereignis des Seinsverstehens kommt für Levinas der ausdrücklichen Bewusstmachung eine wesentliche Bedeutung zu. Auch liegt für ihn in dem, was als zweiter scheinbarer Ausweg aus dem Es-gibt beschrieben wurde: die Vereinigung mit der universalen Vernunft, ein solcher uneigentlicher Transzendenzbezug. Der in ihr liegenden Gefahr einer Flucht aus der leiblichen Realität kann der Leib entgegenwirken. Auch kann er ein Korrektiv sein, indem er auf die Trennung verweist. Dies stellt Levinas ausdrücklich heraus, wenn er den Genuss als eine erste Form der Befreiung aus dem Es-gibt thematisiert. Im Genuss findet das Subjekt sich selbst als Identisches und Unabhängiges und kann sich das materielle Sein im Gegenüber halten. Daneben erlebt es hier auch die ursprüngliche Annehmlichkeit des Lebens und dessen ursprüngliche Bestimmtheit. 1224 Es erfährt, dass es nicht in eine Existenz gesetzt ist, die von sich aus ohne Sinn und Gestalt ist und die diese erst aus einer Selbstschöpfung des Subjekts erhalten würde. »Das menschliche Sein befindet sich nicht in einer absurden Welt, in die es geworfen wäre.« (TU200) Levinas stellt heraus, wie sich das Subjekt besonders durch die Arbeit als Herr über das Element erlebt, wie es mit dem Bewusstsein das Sein an die Dinge bindet, damit das Konfrontiertsein mit dem Es-gibt des Elementalen überwindet und so zum »Tod dieser Götter« und in dem Sinn zum »Atheismus« führt (TU202), der als Manifestation der Trennung Basis ist für die wahre Transzendenz. 1225 Endgültig können Arbeit und Bewusstsein das Es-gibt zwar nicht überwinden, denn die Bedrohung aufgrund der Abhängigkeit vom unverfügbaren Element bleibt. Gerade diese Unüberwindbarkeit braucht es jedoch, denn das Es-gibt in der leiblichen Passivität besitzt in seiner die Geschlossenheit des Ich transzendierenden Kraft eine positive Funktion innerhalb der ethischen Beziehung. Deshalb kann Levinas die Transzendierung des Unendlichen als ähnlich der des Es-gibt beschreiben. Zugleich ist sie freilich radikal davon unterschieden, insofern neben der negierend1224 1225

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Vgl. oben, S. 616–618. Vgl. oben, S. 586 f.

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transzendierenden Kraft im Unendlichen außerdem das ethische Bedeuten liegt. 1226 Im Zusammenhang mit Levinas’ Kritik an Formen von ritualisiertem Gebet konnte herausgestellt werden, wie dadurch für ihn nicht das Gebet überhaupt fragwürdig wird. Die Bedingung dafür, Beten als etwas Sinnvolles zu verstehen, ist für ihn neben der Überwindung der negativen Effekte der Ritualisierung die Einbindung in die ethische Beziehung zum Anderen. Dass er das Gebet selbst als Dienst am Anderen verstehen kann, zeigt, dass es für ihn sinnvoll ist, sich in bestimmten Zeiten direkt an das Unendliche zu wenden. Darin bestätigt sich, was auch in der Analyse seiner Religionsphilosophie hervorgetreten ist, dass für ihn die Beziehung zu Gott, wenngleich sie nie gelöst werden kann von der zum Anderen, doch zugleich eine gewisse Eigenständigkeit besitzt und nicht einfach nur in der Ausrichtung auf den Anderen gelebt wird. Neben den vorgeschriebenen jüdischen Gebeten kann Levinas ebenso in der Erfüllung der sonstigen rituellen Gesetze eine Weise sehen, sich in der Beziehung zum Unendlichen für eine selbstlose Haltung zu öffnen und zu ihr zu disziplinieren. 1227 So stellt für ihn das jüdische Ritual eine Lebensweise dar, durch die vor jeder inhaltlichen Vermittlung der moralische Inhalt des jüdischen Glaubens erworben wird (JG165 f.). Die Leiblichkeit spielt in diesen Vollzügen sicher eine wichtige Rolle, etwa für die von Levinas in ihrer Bedeutung für die Selbsterziehung herausgestellte Regelmäßigkeit. Es finden sich zu dieser Rolle des Leibes jedoch nur wenige Aussagen bei ihm. Ganz entsprechend der Beziehung zum Anderen hebt er etwa die positive Bedeutung der Widrigkeit und der Überforderung hervor, die angesichts des jüdischen Rituals empfunden werden kann (J41). Neben der schmerzhaften leiblichen Passivität bekommt für ihn auch die leibliche Geste eine Bedeutung. Er macht darauf aufmerksam, dass sich in der beständigen zyklischen Wiederholung des Rituals ein Verständnis für die Ewigkeit des Unendlichen, wie sie sich auch im unveränderlichen religiösen Gesetz manifestiert, eröffnet. Dadurch gewinnt für ihn die rituelle Geste »eine ontologiVgl. oben, S. 587 f. Vgl. etwa RE30: »Das rituelle Gesetz des Judentums bestimmt die strenge Disziplin, die diese Gerechtigkeit anstrebt. Nur derjenige kann das Antlitz des Nächsten erkennen, der es verstanden hat, seiner eigenen Natur eine strenge Regel aufzuerlegen. […] Der Weg, der zu Gott führt, führt also ipso facto – und nicht obendrein – zum Menschen; und der Weg, der zum Menschen führt, bringt uns zur rituellen Disziplin, zur Selbsterziehung. Ihre Größe liegt in ihrer täglichen Regelmäßigkeit.« 1226 1227

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sche Bedeutung«, und zwar, in der Bezogenheit auf das Unendliche, offenbar nicht in einem auf ein bloßes Seinsverstehen beschränkten Sinn (ZW145 u. 153 f.). Worauf es ihm sehr ankommt, ist eine Abgrenzung von jedem magischen Verständnis. »Der rituellen Gebärde wird keinerlei innere Macht zugeschrieben.« (RE30) Magie versteht er als ein Geschehen, in welchem durch eine leibliche Handlung auf den Geist gewirkt wird, ohne dass sie sich an seine Freiheit richtet, indem sie ihm also auf eine gewisse Weise Gewalt antut (EG16). Er stellt sie der Rede als bewusster und freier Interaktion zwischen Personen gegenüber. Wenn er sich gegen eine sakramentale Bedeutung der rituellen Praxis wendet, versteht er unter einem Sakrament ein solches magisches Geschehen (RE30 u. EG16) (– wodurch sich seine Kritik nicht auf die Sakramente in der christlichen Auffassung beziehen lässt, die gerade nicht als gelöst von der personalen Beteiligung in der gläubigen Öffnung für Gott verstanden werden). Wie in der Beziehung zum Numinosen, das er von daher gleichfalls als eine »in gewisser Weise sakramentale Macht« (RE25) bezeichnen kann, sieht er hierbei die Freiheit des Subjekts übergangen und die Ebene der personalen Beziehung verlassen. Dies verdeutlicht noch einmal, dass die Leiblichkeit nur innerhalb dieser Beziehung für Levinas eine positive Bedeutung bekommen kann. Problematisch ist für Levinas, wie im letzten Abschnitt des Kapitels zu den uneigentlichen Transzendenzbeziehungen herausgestellt wurde, nicht nur die mangelnde Personalität, sondern auch eine Interessengeleitetheit. Fragt man nach der diesbezüglichen Rolle des Leibes, dann ist die Thematik des Triebhaften in den Blick zu nehmen. Die leiblichen Triebe, die für sich genommen unschuldig sind und die das freie Subjekt auch nicht determinieren, stellen für dieses in ihrer Selbstbezogenheit doch immer eine motivierende Kraft dar, die gegenläufig ist zu einer selbstlosen ethischen Haltung. Dass sie diese für Levinas nicht nur schwer machen, sondern in gewisser Weise auch immer nur eingeschränkt möglich sein lassen, wird etwa deutlich, wenn zu seinem Entwurf einer eschatologischen Hoffnung mit dem Wegfall der synchronen Zeit und der Intentionalität auf das Sein auch eine Befreiung von dieser Einschränkung und dadurch die Eröffnung einer letzten Intensität in der Beziehung zum Unendlichen gehört.

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2.6 Die verschiedenen Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes – im Vergleich mit Fichte

Was über die Schwierigkeit eines Vergleichs von Fichte und Levinas, besonders über das Unrichtige jeder Beschreibung von Übereinstimmungen und Differenzen in Bezug auf einzelne Momente, die doch jeweils nur im ganzen Ansatz ihre Bedeutung haben, schon in Bezug auf den Vergleich der Leibbegriffe herausgestellt wurde, gilt nun noch mehr in der Frage nach der religiösen Bedeutung des Leibes, in welcher die Differenzen im Ansatz noch stärker zum Tragen kommen. Um die beiden Autoren trotzdem in einen Dialog treten zu lassen, wird im Folgenden versucht, von einzelnen Punkten auszugehen, in denen sie zu ähnlichen Antworten kommen oder in denen ihre Antworten zumindest vergleichbar sind, um zunächst die Gemeinsamkeiten und Integrationsmöglichkeiten und dann die Differenzen und die sich aus dem ganzen Ansatz ergebenden unterschiedlichen Perspektiven auf das Gemeinsame herauszuarbeiten. Auf diese Weise soll zugleich versucht werden, den Ertrag der Betrachtung der beiden Autoren für die Forschungsfrage dieser Arbeit noch einmal zusammenfassend und zugespitzt auf einzelne Aspekte hervortreten zu lassen, in denen die religiöse Bedeutung des Leibes greifbar werden kann. An ein paar Stellen wird bereits angedeutet werden, wie sich aus philosophischen oder fundamentaltheologischen Gründen Modifikationen der beiden Ansätze nahelegen. Eine kritische Würdigung ihrer Beiträge insgesamt bleibt aber dem dritten Teil vorbehalten. Die Dimension des Unendlichen zwischen Leiblichkeit und Geistigkeit Fragt man nach der grundsätzlichen Verortung des Leibes innerhalb des Gesamten der Dimensionen der menschlichen Existenz, dann ergibt sich ausgehend von beiden Autoren ein ähnliches Bild. Der Kern oder das Grundereignis des Menschen, in dem er zu Gott geöffnet ist und in dem sich Gott ereignet, ist nicht Leib, ist aber auch nicht freies Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Reflektieren und Wollen. Beide sind nur Mittel, die symbiotisch zusammenwirken, um das Ereignis Gottes zu ermöglichen oder den Menschen in sein Eigentliches zu führen. Es ergibt sich dabei nicht das verbreitete hierarchische Bild, nach dem der Mensch vor allem in seiner Rationalität und seiner freien Wahl Bild Gottes ist und diese den Leib nur als eine Art Träger und Werkzeug benötigen. Rationalität und Freiheit sind genauso bloß Mittel und der Leib erbringt nicht nur einen eigentümlichen und unverzichtbaren Beitrag, sondern stellt, wie im Folgenden immer wieder deutlich wird, vielfach ein Korrektiv für sie dar. In diesen Fällen kann man sogar sagen, dass er dem eigentlichen Kernereignis näher steht und mehr dessen Bild oder Manifestation ist. 1228 Die Inadäquatheit von Freiheit und Bewusstsein für das Ereignis des Unendlichen heben Levinas und Fichte gleichermaßen hervor. Levinas schreibt sich dies stärker auf die Fahnen und arbeitet vor allem die Korrekturfunktion des Leibes intensiver heraus, aber auch bei Fichte findet sich dieses Element. Die Leiblichkeit allein ist für das Ereignis des Unendlichen freilich nicht hinreichend und sie bedarf umgekehrt genauso des bewussten Erkennens und freien Wollens, damit dieses in ihr durchbrechen kann. Alles entfaltet sich ausgehend vom Leib Für Fichte wie für Levinas beginnt das menschliche Leben als leibliches, und zwar, weil sich für sie notwendig das, was sie als dessen ethisches und religiöses Ziel bestimmen, nur ausgehend davon entfal1228 Insofern lässt sich nicht auf Fichte beziehen, was Thomas Freyer (2009, 23) mit Johann Baptist Metz (Metz, 1962, 98) gegen Modelle theologischer Anthropologie, die vom neuzeitlichen Konzept selbstbewusster Subjektivität ausgehen, als Kritik und Anspruch formuliert: »Der Leib hat eine ›ursprüngliche Heilsqualität, die nie in ein ›rein Seelisches‹ umgetauscht, umgetäuscht werden kann‹.« Auch die kritisierte bloße Unterordnung des Leibes gegenüber dem Geistigen (22 u. 30) lässt sich für Fichtes Ansatz so nicht feststellen, wenn man unter dem Geistigen freie Reflexion und freies Wollen versteht. Zugleich sind m. E. die Gewichtungen falsch verteilt, wenn Freyer das von Levinas ausgehende Verständnis von Leiblichkeit so bestimmt, dass in ihr die eigentliche Identität des Menschen liege (32), und er das zwar nur für die durch den Anderen beseelte Leiblichkeit sagt, aber nicht deutlich hierzu bemerkt, dass von Levinas her die bloße Leiblichkeit als nicht hinreichend für das eigentlich ethische Ereignis der Beziehung zum Anderen anzusehen ist, dass sie angewiesen ist auf die ethische Inspiration, aber auch auf das Bewusstsein sowie die Freiheit des Wollens und dass sie letztlich als Funktion oder Mittel dem ethischen Ereignis untergeordnet ist.

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ten kann. Die Begründungen sind freilich verschieden. Auch sind sie so von den fundamentalen Differenzen im Ansatz geprägt, dass sie vom jeweils Anderen nicht anerkannt werden könnten. Abstrahierend gesprochen und die eigene Begrifflichkeit der beiden Autoren verlassend verstehen beide die menschliche Existenz als eine Art selbstloses Streben. Bei Levinas ist dies wesentlich eines, das sich von einem Individuum aus auf ein anderes richtet. Da diese Ausrichtung seiner Sollensauslegung zufolge allein vom Anderen aus in das Subjekt kommen darf, muss dieses zunächst unabhängig davon, zwar als Streben, aber als davon unterschiedenes, als selbstbezogenes konstituiert sein. Für Fichte ist das Streben nicht wesentlich individuell, sondern wird es nur aufgrund einer für die Relationierung des endlichen Daseins gegenüber dem Absoluten notwendigen Begrenzung. Diese Begrenzung ist es auch, die den zunächst von jeder Bezogenheit auf eine individuelle Existenz unabhängigen Trieb zu einem bestimmten und auf die bloße Befriedigung dieses bestimmten Triebes gerichteten macht. Für beide ist es nicht zufällig, dass der Mensch zunächst ein leibliches, triebbestimmtes, vorbewusstes, vorfreies sowie vorsittliches Leben führt und sich daraus entwickelt. Der Mensch beginnt als Leib. Und im Leib sind die Grundbedingungen für die weitere Entfaltung enthalten: eine unabhängige und selbständige Subjektivität, ein Selbstbezug, ein Streben, eine ursprüngliche Form von Erkennen und eine ursprüngliche Form von Praxis. Zwar braucht es bei beiden für die Entwicklung etwas außerhalb des bloß Leiblichen Liegendes – bei beiden ein Sollen, für Fichte das im Urtrieb liegende Moment des reinen Vernunfttriebes, für Levinas das Unendliche und den Anderen –, aber die Leibexistenz bleibt dabei immer die Basis, von der diese Entfaltung ausgeht und in der sie sich verwirklicht. Er ist die Grundlage für das Streben, Erkennen und Handeln. Deshalb muss der Mensch immer in seinem Leib und seiner natürlichen Existenz verwurzelt bleiben. Wirklichkeit und Leib – Leibhaftigkeit Von daher erschließt sich eine Grundbedeutung der Leiblichkeit, die sich bei beiden Denkern findet, dass sich nämlich alles, was in der menschlichen Existenz wirklich oder real ist, leiblich vollziehen, leiblich greifbar oder – wie man nicht zufällig im Deutschen sagt – leibhaftig sein muss. Aufgrund der notwendigen Einbindung in die Begrenztheit und aufgrund des leiblichen Beginns der menschlichen Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Existenz ist für Fichte das Leben des Subjekts immer zugleich leibliches Leben und das Wollen und Wirken leiblicher Vollzug. Dass der sittliche Wille sich nicht nur in der Welt konkretisieren, sondern in ihr für Andere immer auch greifbar werden muss, erklärt sich für Fichte zusätzlich daraus, dass sich das ethische Handeln letztlich auf den Anderen beziehen soll. Ebenso für Levinas besteht diese Verbindung von Wirklichkeit und Leiblichkeit, und zwar ähnlich wie für Fichte zum einen direkt für die Ethik, weil sie sich in einer Gabe an den Anderen konkretisieren muss und weil sie sich immer nur im leibhaften In-Frage-gestellt-Sein durch den Anderen ereignet, zum anderen aber schon deshalb, weil der Mensch für ihn überhaupt nur leiblich existiert, lebendig und wirksam ist. Zu den negativen Aspekten der Leibverhaftetheit Dass der Mensch sein Leben als leibliches Triebwesen beginnt, bedeutet, dass er zunächst ein selbstbezogenes und noch nicht das selbstlose ethische Leben führt, in dem sich für Fichte wie für Levinas das Unendliche ereignet. Den bloßen Naturtrieb und die Existenz vorgängig zum Betroffensein von einer Infragestellung beschreiben beide zwar als außersittlich und in diesem Sinne unschuldig. Zu einer Schuld kann es nur kommen, wenn sich der Mensch in seinem natürlichen Leben durch die Begegnung mit dem sittlichen Anspruch infrage gestellt findet. Für beide hängt mit dem Ausgehen von der Leib- und Triebexistenz jedoch zusammen, dass der Mensch faktisch schuldig wird. Fichte begründet dies ausgehend von der mit der leiblichen Begrenzung notwendig einhergehenden Trägheit. Aus ihr folgt für ihn zum einen, und zwar notwendig, dass der Mensch nie eine vollkommene Heiligkeit verwirklichen kann. Dies nennt er nicht Schuld, weil Schuld für ihn an die Freiheit oder das Können gebunden ist. Zum anderen erklärt sich für ihn aus der Trägheit, warum der Mensch zumindest faktisch, wenn auch nicht notwendig, im Übergang von der Naturexistenz zur Sittlichkeit, in einem Zustand der Schuld verharrt. Ähnlich wie Levinas beschreibt er, wie sich dieser Übergang in verschiedenen Schritten entwickelt, und zwar ausgehend von einer Bezogenheit auf das, was den Ursprung der sittlichen Aufforderung ausmacht. Bei Fichte ist dies subjektintern der zunächst latent präsente und durch Reflexion immer weiter zu erhellende reine Freiheitstrieb, der zwar über den Urtrieb eng mit dem Naturtrieb verbunden ist, auf 806

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den der Naturtrieb aber von sich aus nicht verweist und der sozusagen hinzutreten muss. Bei Levinas ist es der Andere in der zunächst die Forderung zurückhaltenden Form des ›Weiblichen‹. Der Bezug auf diese Instanz führt in einem ersten Schritt dazu, dass der Mensch in Distanz zum völligen Aufgehen in der Triebbefriedigung treten und es zu einem klugen, um sich sorgenden Handeln kommen kann. Erst hier wird die Selbständigkeit des Subjekts in der Weise der bewussten Freiheit entfaltet, die für beide Bedingung ist für Ethik und Religion. Da Fichte den ethischen Anspruch als Freiheitstrieb beschreibt, kann es für ihn als einem möglichen weiteren Schritt vor der Sittlichkeit, wenn dieser Trieb noch nicht in seiner Tiefe erfasst wird, zu einem Streben nach der bloß eigenen Freiheit im Sinne der Unabhängigkeit von den leiblichen Bedürfnissen und der Herrschaft über alles und jeden kommen. Ebenso kann für Levinas die eigene Macht und Unabhängigkeit zum Ziel werden, wenn auch immer nur letztlich als Mittel für den Genuss. Für Fichte nun ist die Notwendigkeit einer solchen freien Erhebung und ihre Abhängigkeit von der Reflexion wegen deren Trägheit der Grund zumindest für die große Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch, obwohl er innerlich zur Reflexion verpflichtet ist und auch äußerlich, durch andere Menschen, zu ihr aufgerufen wird, sie nicht setzt, sich das Sittengesetz nicht zur Maxime macht und somit in einem Zustand der Schuld verharrt. Levinas beschreibt eine ähnliche Entwicklung, geht aber auf die Frage nach einem Schuldigwerden in ihr nicht ein. Da es jedoch auch für ihn zum einen in einem gewissen Stadium der Entwicklung nicht mehr möglich ist, das In-Frage-gestellt-Sein durch den Anderen nicht zu kennen, zum anderen es aber an der Freiheit liegt, ob sich das Subjekt tatsächlich von ihr betreffen lässt und sie nicht verdrängt, könnte er Fichtes durchaus plausible Argumentation für die Wahrscheinlichkeit des Schuldigwerdens im Übergang zum entschiedenen sittlichen Bewusstsein integrieren. Der Zusammenhang zwischen leiblich-selbstbezogener Existenz und Schuld, den Levinas ausdrücklich herstellt, ist anders gelagert. Für ihn trifft das Subjekt die Infragestellung des Anderen nicht nur am Anfang und so, dass dies überwindbar wäre, sondern bleibend in einer Situation, in der es notwendigerweise, solange es überhaupt existieren soll, durch seinen Selbstvollzug den Anderen einschränkt und in seiner Anderheit nicht achtet. Levinas spricht hier zwar von Schuld und es kommt für ihn tatsächlich zu einer Beeinträchtigung des Anderen, zumindest zu einem Mangel an Achtung ihm gegenLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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über. Aufgrund der Unausweichlichkeit kann es sich für ihn freilich nicht um Schuld handeln in dem Sinn, wie man von einer, bemessen an der Freiheit, zurechenbaren Schuld spricht. Dass er dennoch den Ausdruck ›Schuld‹ verwendet, kann man eventuell von daher als sinnvoll betrachten, dass es sich um etwas handelt, das am Selbstvollzug des Subjektes hängt, sodass dieses sich zwar nicht im moralischen Sinn schuldig fühlen muss, sich aber davon auch nicht einfach distanzieren kann, als hätte es nichts mit ihm selbst zu tun. 1229 Etwas Vergleichbares ergibt sich bei Fichte, wenn für ihn die Trägheit dazu führt, dass die Menschen nie zu einem vollkommenen und durchgängigen Gewahrsein der Pflicht sowie zu einer entsprechenden Realisierung gelangen können. Den levinasschen Gedanken von der unausweichlichen Einschränkung und Verletzung des Anderen könnte er m. E. insofern integrieren, als auch er ein Bewusstsein dafür hat, wie sich die Menschen durch die bloße Existenz in einer gemeinsamen Welt gegenseitig einengen. Dies wird etwa sichtbar, wenn er die Pflicht der Errichtung einer Eigentumsordnung daraus ableitet, dass zunächst einmal jeder faktisch sowie auf eine Weise zu Recht die Möglichkeit der Verfügung über die ganze Welt hat, dabei aber nie sichergehen kann, ob er nicht den Anderen in seinem aktuellen Gebrauch der Welt einschränkt. Eine negative Bedeutung bekommen die leiblichen Triebe für beide außerdem dadurch, dass sie in dem, wohin sie das Subjekt inhaltlich treiben, sowie in dem, dass sie auf bloße Befriedigung abzielen, zwar die Freiheit des Subjekts nicht verhindern, auch von sich her außersittlich sind und das Subjekt deshalb nicht direkt auf Unsittlichkeit ausrichten, wohl aber doch in vielen Fällen eine Gegenkraft darstellen und die ethische Ausrichtung schwer machen. Nicht nur Levinas, sondern auch Fichte beschreibt diese negativen Aspekte, wenngleich er die Naturtriebe ausdrücklich als grundsätzlich dazu geeignet ansieht, in ihnen Sittlichkeit zu verwirklichen, er sogar von Naturtrieben ausgeht, wie den sympathetischen Trieben, die inhaltlich auf den sittlichen Zweck lenken, und er sie nicht nur nicht als 1229 Hansjürgen Verweyen nennt dieses Phänomen, das er ausgehend von Levinas an dem festmacht, wie sich das Subjekt in seiner Leiblichkeit unwillkürlich, vorgängig zu seiner Freiheit selbst entfaltet, eine »›fließende Verantwortlichkeit‹« im Unterschied zu »moralischer Verantwortung« (2002, 168). Die Rede von Verantwortung ist in diesem Zusammenhang m. E. stimmiger als die von Schuld, indem auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch von einer Übernahme von Verantwortung in Bezug auf etwas gesprochen wird, an dem man nicht moralisch schuldig ist.

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Gegenspieler zum Sittengesetz, sondern sogar als von diesem vorgängig zur Freiheit geformt versteht. Eine negative Bedeutung können die leiblichen Triebe umso mehr dann bekommen, wenn sie nicht mehr bloße Naturtriebe sind, sondern durch die Freiheit zusätzlich verbildet wurden. Fichte beschreibt differenziert, wie die rein faktisch gegebenen Triebe umgeformt werden können sowohl durch das freie Wirken als auch schon durch die freie Reflexion, indem sie erst die zunächst relativ unbestimmten Triebe in eine Richtung bestimmt und indem sie durch die Vorstellung gegenwärtig gar nicht vorhandener Bedürfnisse Triebe wecken kann. Dadurch ist es möglich, sie sowohl in positiver Weise auf den sittlichen Zweck hin zu bilden als auch negativ zu Leidenschaften zu verbilden, die das Subjekt, wie dies im bloßen Naturtrieb nicht vorkommt, direkt auf ein unsittliches Verhalten hinlenken und das Fassen eines sittlichen Bewusstseins sehr viel stärker als die Naturtriebe erschweren. Die eigentliche Ursache dazu liegt freilich in der Freiheit, die leiblichen Triebe geben nur die Möglichkeit dafür und stellen sozusagen den Träger für das verbildete Streben dar. Den Trieben auf ihrer ursprünglichen Ebene dürfte aufgrund ihrer Unschuld sogar eine Bedeutung als mögliches Korrektiv für die verbildeten Antriebe zukommen. Auch sind es für Fichte nicht nur die Naturtriebe, die sich im Zusammenwirken mit ihrem unsittlichen Gebrauch zu solchen Gegenkräften verselbständigen, sondern ebenso der blinde Freiheitstrieb sowie die Leidenschaft am bloßen Erkennen. Das aus ihnen Erwachsende sieht er aufgrund der leichteren Verwechselbarkeit mit sittlichen Antrieben sogar als viel gefährlicher an. Es spricht nichts dagegen, die Ideen Fichtes, wie es zu einer Umformung der Naturtriebe durch die Freiheit kommt, in Levinas’ Ansatz zu integrieren. Da sich für ihn ein Verhältnis des Genießens nicht nur in Bezug auf die Nahrung, sondern auch in Bezug auf alle weiteren ausgehend vom Nahrungsgeschehen sich entwickelnden Selbstvollzüge einstellen kann, könnten bei ihm für eine solche Umformung auch ein Streben nach Macht und ein Erkenntnisstreben in Betracht kommen. Diese würden jedoch nicht wie für Fichte als eigene Triebe ursprünglich im Subjekt neben den leiblichen vorhanden sein, sondern als Entfaltung und Manifestation des leiblichen Genusses betrachtet werden. Religiös bedeutsam sind für beide Autoren die negativen Effekte des selbstbezogenen Triebes zum einen indirekt dadurch, dass sich die Gottesbeziehung in der Ethik ereignet, zum anderen direkt. Beide Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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machen auf die Möglichkeit einer interessengeleiteten ausdrücklichen Ausrichtung auf Gott aufmerksam und hierbei gibt die Triebhaftigkeit des Menschen genauso wie in der Ethik Anlass, sich nicht für eine selbstlose Haltung zu öffnen. Naturvergötterung – Naturmystik? Neben einer interessengeleiteten Gottesbeziehung thematisiert Levinas ausführlich Formen der uneigentlichen Beziehung zur Transzendenz, die sich noch vorgängig zu einer personalen Gottesbeziehung bewegen und mit einer religiösen Überhöhung eines bloß leiblichnaturhaften Ereignisses zu tun haben. Hier bekommt das Leibliche nicht als beschränkter und selbstbezogener Trieb innerhalb der freien ethischen Ausrichtung, sondern als für sich allein noch völlig außerhalb der ethischen Bedeutsamkeit stehender Trieb eine negative Rolle. Levinas beschreibt drei verschiedene Weisen des Aufgehens im vorethisch Naturhaften. Ihnen entsprechen zugleich drei Wirkweisen von Kunst, sodass sie unten auch unter diesem Stichwort und in dieser Perspektive noch ein einmal betrachtet werden. Die ›leiblichste‹ ist das Aufgehen im Ereignis der bloßen Materialität des Seins, das entweder positiv als naturmystische All-Einheit oder negativ als Bedrohung durch eine die individuelle Freiheit auflösende, alles umgreifende Macht erlebt wird. Von daher kritisiert Levinas verschiedene religiöse Erscheinungen: eine naturmystisch partizipative Religiosität, Vorstellungen vom Göttlichen als faszinierendem und furchteinflößendem Sakralen und bestimmte rituelle sowie liturgische Formen, in denen sich für ihn eine solche Auflösung ereignet. Die zweite Möglichkeit, das Aufgehen nicht in der Materialität, sondern in der Form des Materiellen und im Genießen ihrer Ästhetik, die eine Flucht vor der Realität in eine virtuelle und traumartige Welt eröffnet, basiert zwar schon auf einer gewissen Entleiblichung des Leibes hin zum Phänomenalen, muss jedoch zugleich als zugehörig zum leiblich-selbstbezogenen Leben vorgängig zur Ethik betrachtet werden. Ähnliches gilt für die dritte Möglichkeit, die quasireligiöse Verehrung des zunächst leiblich vollzogenen und dann bewusst interpretierten Seinsverstehens. Auch sie würde Levinas noch als Gestalt einer vorethischen Naturverhaftetheit ansehen, wie seine Zuordnung des heideggerschen Seinsdenkens zu einer naturreligiösen Einstellung deutlich werden lässt. Grundsätzlich, ohne an dieser Stelle auf einen genaueren Vergleich einzugehen, finden sich bei Fichte ähn810

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liche Phänomene thematisiert. Auch er geht, wie im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Leiblichkeit noch genauer betrachtet wird, von einem Geschehen des fortschreitenden Seinsverstehens aus, das im leiblichen Vollzug anhebt. Er problematisiert, wie im Zusammenhang mit dem Begriff der Schönheit noch betrachtet wird, ebenso das Phänomen eines ästhetischen Genusses, der sich rein in sich befriedigt. Und er beschreibt die Möglichkeit eines Einheitserlebens mit der materiellen Welt und der Natur, aus dem, da der Mensch für ihn jede Dimension der Wirklichkeit verabsolutieren und auf diese Weise quasireligiös verehren kann, die Gefahr einer Naturvergötterung erwächst. Fichte würde Levinas in dem zustimmen, dass Ereignisse auf der Ebene der bloßen Leiblichkeit sowie ihrer Entfaltung ohne die Inspiration durch die ethische Aufforderung in keiner Weise hinreichend schon als Ereignis des Unendlichen im Endlichen betrachtet werden können, dass sie dieses sogar verstellen. Der Unterschied zu Levinas liegt jedoch darin, dass für ihn, wie herausgearbeitet wurde, innerhalb der ethischen Beziehung das Ereignis der Einheit mit dem Naturganzen und ein entsprechendes Erleben durchaus eine positive Rolle bekommen können, und zwar nicht nur als eine Weise des Genusses und der Erholung – dies würde auch Levinas noch gutheißen können –, sondern als Moment der Betrachtung Gottes im einen Dasein. Die damit verbundene Überschreitung der individuellen Beschränkung kann in Fichtes Ansatz, für den sich das göttliche Leben in der Einheit des einen Daseins vollzieht, gewürdigt werden, während Levinas darin das Gegenteil des Ereignisses des Unendlichen, das für ihn nur in einer Beziehung Getrennter erfolgen kann, sehen muss. Während Fichte Religion als eine mystische Vereinigung verstehen und als Moment von ihr auch eine Art Naturmystik, solange sie sich nicht auf eine Naturvergötterung beschränkt, gelten lassen kann, muss Levinas dies von seinem Verständnis von Religion her vehement kritisieren. Die von ihm beschriebenen Phänomene von naturreligiösen Partizipationserfahrungen, Erfahrungen von Sakralität und von Einheitserfahrungen in liturgischen Praktiken müssen in Fichtes Perspektive in ihrer religiösen Bedeutung anders eingeschätzt werden. Gott und die Natur – die übersehene Natur Ungebrochen einig sind sich Fichte und Levinas darin, dass der Natur und selbst den Lebewesen in der Natur, auch wenn sie beide von einer Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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realen Lebendigkeit in ihnen ausgehen, keine Selbstzwecklichkeit zukommt, dass weder das Naturganze noch die einzelnen Pflanzen und Tiere eine ethische Achtung um ihrer selbst willen verdienen und sich insofern in der Begegnung mit ihnen die Beziehung zum Unendlichen nicht ereignen kann. Zwar erscheint es m. E. als sinnvoll, die Achtung einer absoluten Selbstzwecklichkeit an der Fähigkeit zur Sittlichkeit festzumachen. So würde es zumindest Fichte formulieren. Levinas’ Beschreibung des ethischen Phänomens deckt sich aber im Grunde damit, indem auch für ihn die absolute Infragestellung des Anderen aus dem Blick erwächst, in dem dessen Bezugnahme auf das Unendliche aufleuchtet, und er diese im stumpfen Blick der Tiere noch nicht zu sich gekommen sieht. Neben der Frage, inwieweit man höheren Tieren eine Form von ethisch qualifiziertem Empfinden tatsächlich absprechen kann, muss man sich m. E. jedoch überlegen, ob man einer absoluten Selbstzwecklichkeit nur eine völlig relationale Zweckhaftigkeit gegenüberstellen kann oder ob nicht auch Lebewesen, die nicht selbst verantwortlich sein können, – eventuell sogar allem Wirklichen – doch eine, wenn auch, anders als dies bei einem absoluten Selbstzweck möglich ist, relativierbare Werthaftigkeit in sich zugesprochen werden muss und sich entsprechend in ihnen und in der Beziehung mit ihnen das Unendliche auf eine Weise ereignet. Ein Problembewusstsein in dieser Thematik lassen beide Autoren vermissen – ein Umstand, der zu Recht Empörung hervorgerufen hat. Eine positive Beziehung zwischen Gott und der Natur sehen beide nur darin, dass sie Material für den Menschen ist. Diese Frage nach dem außermenschlichen Leben geht zwar schon über die Leibthematik im engeren Sinn hinaus, sie hängt jedoch insofern unmittelbar mit ihr zusammen, als der Leib die Existenzebene im Menschen darstellt, auf der sich das außermenschliche Leben und Sein vor allem bewegt. Es hat zumindest in Bezug auf nicht höher entwickelte Tiere sein gutes Recht, wenn Fichte manchmal den Menschen, insofern er leibliches Triebwesen ist, als Tier bezeichnet. 1230 Hiermit soll natürlich keine Teilung des Menschen in zwei Subjekte ausgesagt sein. Insofern lässt sich auch die Frage nach der Achtung der Tiere nicht mit der Frage nach der Achtung des Leibes gleichsetzen, da im Menschen das Bedürfnis zu leben aufgrund der Subjektidentität immer in die sittliche Berufung zu integrieren 1230 Vgl. A136. Vgl. auch die Bemerkung in GNR381: »Das Thier ist da, um den freien Geist in der Sinnenwelt zu tragen«.

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und das leibliche Leben als Mittel für sie zu betrachten ist, was für nicht vernünftige Wesen nicht sinnvoll ist. Die Intuition, dass ihnen eine achtenswürdige Selbstzwecklichkeit zukommt, kann aber auch etwas für den angemessenen Umgang mit der Dimension der eigenen Leiblichkeit bedeuten. Sie kann ein Hinweis darauf sein, sie nicht einfachhin in ihrer Funktion als Mittel aufgehen zu lassen und der ihrem Streben unverlierbar eigenen Selbstbezogenheit, die sich in einer spielenden und genießenden Unabhängigkeit äußert, ein gewisses Recht einzuräumen. Auf die enge Verbindung der Themen Leib und außermenschliche Natur sollte hier im Zusammenhang mit der Frage nach der religiösen Bedeutung des Leibes auch deshalb verwiesen werden, weil die Natur in vielerlei Hinsicht eine ähnliche Rolle spielen kann wie der Leib und sie für dessen Bedeutung sensibilisieren kann, etwa für die noch zu benennenden Aspekte, in denen seine Art von unmittelbarem Leben das Potential besitzt, ein Korrektiv für die Freiheit zu sein. 1231 Ein erster Schritt heraus aus der Absurdität und dessen bleibende Bedeutung Levinas geht zwar nicht davon aus, dass in der Natur außerhalb des Menschen irgendetwas eine ethische Achtung fordert, nimmt aber doch – wie auch Fichte – eine Eigenwirklichkeit des Materiellen an und beschreibt, wie in der Begegnung mit ihr die Einbindung des Wirklichen in die Finalität des Subjekts durchbrochen wird. Zumindest indirekt wird deutlich, dass dies für ihn eine positive Funktion innerhalb der Beziehung zum Anderen erhalten kann. Ausdrücklich thematisiert wird von ihm, dass eine solche Begegnung eine Korrektur der Auflösung der Realität in der beschriebenen Flucht ins Virtuelle darstellen kann. Darüber hinaus stellt er die positive Bedeutung 1231 Vgl. dazu den folgenden Abschnitt und unten, S. 840 u. 850–860. Die Frage nach der außermenschlichen Natur soll in dieser Untersuchung nicht weiter ausgeführt werden. Es sei aber auf die Parallelen verwiesen, die sich zwischen dem ergeben, welche Aspekte hier für die Bedeutung des Leibes herausgearbeitet werden, und denen, die etwa Rainer Hagencord (2005) in Bezug auf die religiös-spirituelle Bedeutung der Tiere für den Menschen beschreibt: ihr »Leben im Hier und Jetzt« (27), ihr Verbleiben in einem wahrnehmenden Kontakt mit der Realität, ihre undistanzierte und fraglos bejahende Beheimatung in der Welt, ihr Eingebundensein in deren Sinnzusammenhänge und ihre Absichtslosigkeit – alles Momente, aus denen sich der Mensch mit seinen Möglichkeiten der freien Lenkung der Aufmerksamkeit und des Wollens sowie den Möglichkeiten der Abstraktion lösen kann (34–36).

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der Leiblichkeit für die Befreiung generell aus dem Ereignis des Esgibt, zu dem diese Flucht gehört, heraus. Levinas beschreibt mit dem Es-gibt – und darin kommt er mit Fichte überein – eine aufgrund der Freiheit gegebene mögliche Situation des Subjekts, in der es sich jeder Sinnhaftigkeit, jedes Realitätsbezuges, jeder Identität und überhaupt jeder Bestimmtheit entleert findet. Und für ihn liegen – ebenso in Übereinstimmung mit Fichte – in der Leiblichkeit Potentiale, einen ersten, wenn auch letztlich nicht zu einer völligen Befreiung führenden Schritt heraus aus dieser Absurdität zu gehen. Levinas beschreibt dies vor allem als Befreiung im Genuss. In ihm findet sich das Subjekt in seinem Für-sich, in seiner letztgültigen Personalität, in seiner Lebendigkeit, in seiner Selbständigkeit gegenüber dem Materiellen und als ein wirkliches, reales Subjekt bestätigt. Es erlebt eine erste Sinnbefriedigung. Es erlebt, dass es nicht in eine Existenz geworfen ist, in der es sich allen Sinn erst frei setzen muss, sondern in der es das Leben von vornherein als annehmlich und sinnvoll erlebt. Der Welt begegnet es mit einer grundsätzlichen Bejahung, die auch im Falle der Ablehnung einer Sache, die als unangenehm empfunden wird, nicht aufgehoben, sondern vielmehr vorausgesetzt wird. Neben einem Sinn erfährt es hier auch die ursprüngliche und wesentliche Bestimmtheit oder qualitative Gefülltheit der Existenz. Zusätzlich zum unmittelbaren Genuss können die Momente, in die hinein er sich entfaltet, diese Befreiung vom Es-gibt unterstützen. Levinas beschreibt, wie sich das Subjekt besonders in der Arbeit und im Bewusstsein in seiner Selbständigkeit und Macht gegenüber dem Materiellen erlebt. Bei Fichte finden sich ähnliche Momente beschrieben. So hebt er positiv hervor, dass der Mensch im leiblichen Trieb gegenüber einem Zustand der völligen Leidenschafts- und Ziellosigkeit zumindest ein Streben und eine Ausrichtung auf Werthaftigkeit und Sinn findet. Aufgrund dieses Strebens kann das Materielle im Allgemeinen und die eigene selbständige Existenz als Naturorganismus im Besonderen als Realität erlebt und geglaubt werden. Ähnlich wie für Levinas findet sich für Fichte das leibliche Subjekt in einer unwillkürlichen und von jeder freien Distanzierung immer vorausgesetzten Liebe zum Leben sowie in einer ursprünglichen und wesentlichen Bestimmtheit dieses Lebens. Daneben hebt Fichte hervor – Levinas könnte das gut integrieren –, dass das Aufgehen im leiblichen Leben in seiner unmittelbaren Aufmerksamkeit auf das Gegenwärtige und seiner Sammlung als Fortschritt gegenüber dem Zustand einer geistigen Zerstreutheit angesehen werden muss. Für Fichte wie für Levinas be814

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sitzt das leibliche Leben diese positiven Aspekte gerade gegenüber der Freiheit, deren Problematik beide Denker hervorheben. Sie kann sich aus all dem lösen und somit im Leib ein wichtiges Korrektiv finden. Der hauptsächliche Unterschied zu Levinas liegt bei Fichte darin, dass er den Genuss, wenngleich er auch für ihn einen Zugang zur eigenen Realität und Selbständigkeit eröffnet, nicht als Erleben der getrennten Personalität in ihrer Letztbedeutung und erst recht nicht als Bruch jeder übergreifenden Seins- oder Vernunfteinheit beschreibt. Dass das Erleben des Glücks, insofern es nur als Für-mich sinnvoll erscheint, einen bedenkenswerten Hinweis auf die tiefere Bedeutung der Personalität enthält, wird ein Argument sein, welches sich das im dritten Teil für eine mögliche theologische Rezeption Fichtes vorgeschlagene, ihn personalistisch modifizierende Modell zu Nutze machen kann. In ihm würde dem Genuss dieselbe fundamentale Bedeutung als erstes Selbsterleben des Subjekts in seiner personalen Identität zukommen wie für Levinas – wenn auch nicht unbedingt als Widerlegung einer übergreifenden Vernunfteinheit. Wie dies eingangs des Abschnitts bereits für die Eigenwirklichkeit des Materiellen bemerkt wurde, können genauso die anderen beschriebenen Aspekte der Leiblichkeit nicht nur eine erste Befreiung aus der Absurdität erbringen, sondern auch innerhalb der Beziehung zum Anderen eine wichtige Rolle spielen. Dies wird im Folgenden immer wieder thematisiert werden. So stellt etwa die ursprüngliche Liebe zum genießenden Leben ein wichtiges Moment dar im Mitleiden mit dem Leiden des Anderen. Oder die leibliche Orientierung am Gegenwärtigen kann eine positive Rolle dabei spielen, dass die Ethik sich auf das konkrete Hier und Jetzt beziehen muss. Der Bezug der Gestalt und der Haltung des Leibes auf das Unendliche Es wurde beschrieben, wie sich das Subjekt als Bedingung dafür, vom sittlichen Imperativ betroffen zu werden, zunächst von der bloßen Leibexistenz lösen muss. Diese Lösung wird ermöglicht von der Bezogenheit des Subjekts auf das, von dem der Imperativ ausgeht, ohne dass es sich bereits fordernd präsentiert. Bei Fichte ist es der Freiheitstrieb, bei Levinas der sogenannte ›weibliche‹ Andere. Sie bewirken jeweils selbst die Bedingung dafür, sich in einem zweiten Schritt als Imperativ zeigen zu können. Diese Bedingung lässt sich für beide Autoren beschreiben als bewusstes und selbständig gelenktes WirLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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kenkönnen in der Welt. Und für beide prägen sie und mit ihr die Bezogenheit auf das sittliche Ziel sich in der Leibgestalt aus. Für Levinas ereignet sich der Abstand des Wohnens vom Aufgehen im Genuss des Elementalen, in dem sich die Arbeit und das Bewusstsein entfalten können, als konkretes Abstandnehmen des Leibes von der Erde: als Aufrichtung. Vergleichbar deutet Fichte die Aufrichtung des menschlichen Leibes als Ereignis nicht der bloßen Naturorganisation, sondern bereits der Betätigung der Freiheit. Levinas macht darauf aufmerksam, dass diese Aufrichtung schon als Ereignis des Bezuges auf das Unendliche, wenn auch noch nicht in seiner imperativischen, sondern nur der vorläufigen Form des ›Weiblichen‹ verstanden werden muss. Dieser drückt sich für ihn also ursprünglich in der Leibgestalt aus. Für Fichte manifestiert sich in der Aufrichtung als einer Form der Artikuliertheit zunächst die Freiheit. Er könnte aber in ihr, da die Freiheit vom Freiheitstrieb her eröffnet wird, wohl genauso bereits ein, wenn auch nur vorbereitendes Ereignis der Ethik sowie des göttlichen Lebens erkennen. Levinas erklärt aus dem Zusammenhang von räumlicher Aufrichtung und ethischer Orientierung die ethische Konnotation des Unterschiedes von Oben und Unten, wie er etwa in seiner Benennung der Unendlichkeit des Anderen als Höhe zum Ausdruck kommt. Dies zeigt, wie die räumliche Orientierung und Haltung unmittelbar eine ethische und somit auch religiöse Bedeutung haben kann. Für Fichte sind neben der Aufrichtung zudem bestimmte Körperteile in besonderer Weise Ausdruck der Freiheit: die frei beweglichen Arme und mehr noch die Hände sowie vor allem die Augen und die Lippen. Bei beiden finden sich somit Ansätze zu einer Erklärung für die Konnotation der verschiedenen Teile des Leibes mit Ebenen der Existenz, etwa die Verortung des Geistigen oben und der Naturverbundenheit unten oder das Verständnis des Rumpfes, besonders im unteren Teil, als einer passiven ruhenden Basis und der Extremitäten als aktiver beweglicher Medien der Entfaltung der freien Tätigkeit. Dabei kommt nicht nur bestimmten Teilen des Leibes eine existenzielle Bedeutung zu, sondern auch dessen Haltung. Die wache Aufrichtung erscheint als Grundlage für ein ethisches Leben. Ein Ausdruck wie ›Aufrichtigkeit‹ kann so eine Erklärung erhalten. Das extreme Gegenüber zur Aufrichtung wäre eine passiv liegende Haltung. Im Zusammenhang mit den ersten Thematisierungen des Wohnens in Vom Sein zum Seienden beschreibt Levinas dessen ursprüngliche Form als die liegende Position des Schlafs, in der das Subjekt den »Kontakt mit den 816

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schützenden Kräften des Ortes« als seiner »Grundlage« herstellt (VS85). Auch sie hat ihre positive Funktion: Sie ist der Ausgangspunkt, in ihr gewinnt der Mensch seine erste Unabhängigkeit, aus der heraus er sich in die Freiheit der Aufrichtung erheben kann. Der Mensch lebt zwischen seiner gründenden Herkunft aus der Natur und seiner sittlichen und religiösen Berufung und dies ereignet sich leiblich in seiner Bewegung zwischen Gründung und Aufrichtung. Die Unabhängigkeit des ethischen Lebens vom Leib – und wie er sie zulässt Bis hierhin wurde vor allem die lediglich vorläufige oder sogar negative Bedeutsamkeit des Leibes thematisiert, die daraus erwächst, dass das leibliche Leben für sich die ethische Ausrichtung nicht nur völlig entbehrt, sondern ihr sogar teilweise entgegengesetzt ist, sodass sich – darin sind sich Fichte und Levinas einig – Ethik nur als ein Sichunabhängig-Machen oder Sich-unabhängig-Finden von den leiblichtriebhaften Interessen und als eine Erhebung in eine völlig neue Sinndimension ereignen kann. Die Bedeutung, die dem Leib dabei aber gerade zukommt, ist, dass er diese Lösung des Subjekts von ihm zulässt. Bei Fichte findet sich dieser Aspekt ausdrücklich thematisiert. Er lässt sich in seinem Ansatz leicht erklären, nämlich dadurch, dass der Naturtrieb von vornherein und im Grunde Vernunfttrieb ist und somit in sich schon die Tendenz enthält, sich von jeder Begrenzung, die den Trieb Naturtrieb sein lässt, unabhängig zu machen. Zudem bringt er mit dieser Tendenz auch das Vermögen zu dieser Loslösung mit, und zwar in seiner ursprünglichen Selbständigkeit sowie der sowohl wollenden als auch anschauenden Selbstbezüglichkeit. Wenngleich sich der genannte Aspekt bei Levinas nicht ausdrücklich thematisiert findet, so ist auch bei ihm de facto die Leiblichkeit eine, die das Subjekt loslässt. Auch wenn sie den Drang und die Potenz dazu nicht in der Weise in sich selbst trägt wie bei Fichte, so werden diese doch auch nicht allein durch die Begegnung mit dem Unendlichen und mit dem Anderen – zunächst in der Form des ›Weiblichen‹ – in sie gesetzt, sondern diese knüpfen an Momente an, welche bereits eine Basis bilden für diese Loslösung und mit welchen der Genuss von vornherein im Hinblick auf die Möglichkeit einer solchen Loslösung, ohne von sich aus schon auf sie ausgerichtet zu sein, ausgestattet ist. Das Streben wird nicht überhaupt in das Subjekt gesetzt, sondern nur die begehrende Ausrichtung auf den Anderen. Die PraLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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xis und das Erkennen, denen eine wesentliche Bedeutung in der Distanzierung vom Genuss zukommt, entfalten sich ausgehend von einer ursprünglichen Form von Praxis und einem ursprünglichen idealen Setzen im Genuss. In ihnen finden sich schon eine Unabhängigkeit sowie eine Selbstbezüglichkeit und auf dieser Basis kann durch die Ausrichtung auf den ›weiblichen‹ Anderen eine Lösung von der unmittelbaren Bindung in das Genießen erfolgen. Kein Hindernis Bei beiden Autoren ist die Leibexistenz von vornherein offen für die Entwicklung zu einer ethischen Existenz, und zwar, weil sie im Verständnis von beiden von vornherein in der Funktion dafür existiert. Fichte leitet die Leibgestalt auf diese Weise ab, Levinas beschreibt zumindest diesen Funktionszusammenhang. Für beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, lässt das leibliche Leben deshalb zudem nicht nur Platz für die andere Dimension des Ethischen, sondern lässt es zu, dass diese sich entfalten, ohne vom Leib an ihrem eigentlichen Ziel gehindert zu werden. Er lässt den Menschen, um ein Bild von Levinas aufzunehmen, nicht lebendig begraben sein. Weder bindet er ihn unüberwindlich in einen Zustand der Sünde, der das Ankommen in der eigentlich ethischen Existenz und im Ereignis des Unendlichen verunmöglichen würde, noch verhindert er dies auf irgendeine andere Weise. Während beim frühen Fichte zunächst noch eine Spannung besteht, indem durch die in der Leibexistenz gegebene Beschränkung des Ich dieses ins Unendliche daran gehindert wird, an seinem eigentlichen sittlichen Ziel, das es gleichwohl erreichen soll, anzukommen, ist diese beim späten Fichte insofern obsolet, als sich die Zielvorstellung ändert. Der Mensch kann mit dem göttlichen Leben vereint und dieses kann in ihm lebendig sein, auch wenn es noch nicht in der vollkommensten Form durch und durch in ihm verwirklicht ist und auch wenn in der äußeren Verwirklichung dieser innerlich gegebenen Einheit nur ein unendliches Fortschreiten möglich ist. Die konkrete Existenz im Leib und in der Welt kann auf diese Weise nicht die negative Bedeutung eines Hindernisses bekommen. Dies hängt freilich zusammen mit einer Relativierung der Leiblichkeit. Sie geschieht zum einen schon grundlegend dadurch, dass der Mensch die eigentliche Befriedigung im Sittlichen findet und sich deshalb von einer Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse, wenngleich er sich weiter um 818

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sie kümmern soll, nicht mehr abhängig machen muss. Diese grundsätzliche Unabhängigkeit wird für Fichte auch nicht durch die natürliche Trägheit verunmöglicht. Der Mensch kann sich zumindest vom guten Willen ergreifen lassen, sie so weit als möglich zu überwinden. Zum anderen verliert die Leiblichkeit dadurch an Bedeutung, dass im sittlich-religiösen Leben auch ein Erfolg der Handlungen in der Welt sowie überhaupt ein Zustand der Welt in völliger Entsprechung zum Sittengesetz nicht auf eine Weise gewollt werden, dass die innere Einheit mit dem göttlichen Leben davon abhängig würde. Daraus folgt freilich keine Gleichgültigkeit demgegenüber. Die innere Befreiung der Anderen, die einerseits ganz deren persönlicher Freiheit überlassen wird, auf die aber dennoch hingewirkt werden kann, durch das eigene Vorbild sowie durch die Verbesserung der konkreten äußeren Bedingungen, die Befreiung von Leid und von materieller Abhängigkeit, Bildung usw., bleibt weiter das Ziel des Menschen und sein ganzes Handeln zielt darauf. Auch relativiert er das Leibliche und die Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse, der eigenen wie der der Anderen, nicht in einer abwertenden Weise, indem er sie »als etwas Sündliches« (A114) vorstellen würde – als Bedingung des Lebens überhaupt sowie des sittlichen Lebens behalten sie für ihn vielmehr einen relativen Wert –, sondern weil er sich und die Anderen davon nicht mehr absolut abhängig weiß. Dies kann als eine Haltung der gelassenen Wertschätzung gegenüber dem Leiblichen beschrieben werden. Einer solchen Haltung könnte Levinas zwar von seinem Ansatz her vermutlich nichts Positives abgewinnen. Es geht ihm nicht um Gelassenheit und Unabhängigkeit gegenüber dem Leib, sondern darum, sich in einer radikalen Unruhe transzendieren zu lassen, um ein völliges Aufgehen in der leiblichen Passivität. Gleichwohl ist auch für ihn der Leib letztlich kein Hindernis, sondern erfüllt vielmehr seine positive Funktion – aufgrund des anderen Verständnisses von Ethik natürlich mit einer anderen Begründung. Levinas beschreibt zwar die ethische Beziehung so, dass der Mensch in ihr immer schuldig wird am Anderen. Hierbei spielt, wie gezeigt wurde, das selbstbezogenleibliche Leben, in dem der Andere immer übergangen wird, eine zentrale Rolle. Er beschreibt sie zudem so, dass dem Anderen nie entsprochen wird, dass der Abstand in der Annäherung sogar wächst. Die Schuld, von der er von daher spricht, ist jedoch keine moralisch zurechenbare Schuld. Sie ist für ihn vielmehr die »Urgüte« (JS270) und der »Messianismus« (MG82) des Subjekts. Moralische Schuld Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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ist an der Freiheit bemessen. Und zu ihr muss es nicht kommen. Wenn die Freiheit besteht, ist sie frei, sich nicht von den Antrieben und Bedürfnissen des Subjekts bestimmen zu lassen. 1232 Diese verhindern auch nicht, dass sich die ursprüngliche Bejahung der Infragestellung zumindest auf einer Ebene als ein völliges Abstandnehmen von den selbstbezogenen Interessen ereignet. Wenn zugleich eine vollkommene Entsprechung zur Infragestellung nie erreicht werden kann, dann wird dies nicht als ein Zurückbleiben hinter dem Ziel des Ankommens verstanden. Für Levinas ist es für die ethische Beziehung, wenn sie Beziehung Getrennter sein soll, erforderlich, dass sie sich als Genuss und Bruch des Genusses und insofern als Missachtung des Anderen und Aufbrechen dieser Missachtung ereignet sowie aufgrund der Anarchie als eine Bewegung des Nie-Ankommens. Für Levinas ist die Leiblichkeit so weder »Hindernis, das der Seele entgegensteht, noch Grab, das sie gefangenhält« (JS24211 ). Sie ist darüber hinaus sogar das, was die Trennung und somit die Transzendenz sowie die Bewegung des Überfließens des Unendlichen in dieser Transzendenz gewährleistet. Indem er das Unendliche als eine solche Transzendierungsbewegung begreift und dem Leib in seiner Begrenzung eine positive Rolle in ihr zuschreiben kann, geht es ihm nicht wie Fichte um eine bloße Gelassenheit gegenüber den leiblichen Beschränkungen, sondern um ein völliges Sicheinlassen auf sie. Auch wenn für beide die Leiblichkeit nicht prinzipiell das Sichereignen des Unendlichen im Menschen verhindert, sondern es sogar unterstützt, so stellen sie, wie dies schon dargestellt wurde, doch zugleich realistisch heraus, dass der Mensch, durch sie veranlasst, zumindest faktisch zurückbleibt hinter der Vollkommenheit, nach der er strebt. Für Levinas ist dies, wie in einem eigenen Abschnitt noch thematisiert werden wird, Grund, Ausblick zu nehmen auf eine eschatologische Vollendung, die entsprechend mit einer anderen Leibgestalt einhergeht. Fichte nimmt einen ins Unendliche weitergehenden Vervollkommnungsprozess an.

1232 Dem widerspricht nicht, wie Levinas in TU346 f. u. 354 die Bedrohtheit des Willens unter der Folter beschreibt. Es geht hier nicht um die These, der Wille sei nicht frei gegenüber dem Leiden sowie überhaupt seinen Antrieben, sondern um die These, dass das Leiden die Freiheit ganz aufheben, dass die Freiheit des Willens somit von außen ganz ausgeschaltet und das Willenssubjekt sogar getötet werden kann.

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Die bleibende Bedeutung der leiblich-selbstbezogenen Konstitution des Subjekts Die Leibexistenz ist für Fichte wie für Levinas nicht nur das, womit das Leben des Menschen beginnen muss, sondern sie ist die bleibende Basis auch für das ethische Leben. Deshalb ist für beide die Sorge um die eigenen leiblichen Bedürfnisse dessen integraler Bestandteil. In der selbstlosen Ausrichtung auf das Sittengesetz bzw. den Anderen kann die Befriedigung dieser Bedürfnisse zwar nie um ihrer selbst willen Zweck und Pflicht sein, sondern immer nur als Mittel. Aber auch als Genuss, der nicht um des Genusses willen gesucht wird, bleibt die Bedürfnisbefriedigung ein Für-sich. Von dem her, wie der Leib als Mittel erforderlich ist für die ethische Beziehung, bestimmt sich ebenso, wie weit und in welcher Weise diese Bedürfnisse zu befriedigen sind und für eine bestimmte Gestalt des Leibes zu sorgen ist. Fichte begründet hierzu sehr detailliert verschiedene Pflichten, und zwar ausgehend davon, dass für ihn im Leib zum einen die Lebenskraft des Subjekts und zum anderen die Möglichkeiten des Handelns liegen. Da auch für Levinas Sittlichkeit in Handeln einmündet, wären Fichtes Gedanken hierzu in seinen Ansatz integrierbar, wenngleich seine Begründung der Pflicht zur Sorge um sich darüber verläuft, dass die Befriedigung der Bedürfnisse notwendig ist für die Konstitution der getrennten Existenz, von der aus sich die Trennungsbeziehung ereignen muss. Zu einer ausdrücklichen Würdigung der Selbstsorge kommt es bei Levinas sehr selten. Sie findet sich etwa in seiner Auseinandersetzung mit der Kunst, wenn er ihr, insofern sie als Geschehen des ästhetischen Genusses betrachtet wird, einen gewissen Platz im menschlichen Leben einräumt. Genuss als Erleben der Güte Gottes? Eine auffallende Gemeinsamkeit besteht darin, dass sich für beide das Individuum nie bloß als Zweck an sich, sondern immer nur als Zweck für anderes, für die eine Vernunft oder für den Anderen, verstehen darf. Bei Fichte hat dies mit einer Unterbewertung des Personalen zu tun. Bei Levinas mit der radikalen ethischen Asymmetrie – oder zumindest damit, dass er die asymmetrische Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen nicht ergänzt durch die Beschreibung einer davon unabhängigen Verantwortung gegenüber sich selbst. Die eine Vernunft lebt zwar für Fichte im individuellen Ich. Insofern dessen indiLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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viduelle Persönlichkeit jedoch keine letzte Bedeutung hat, kann er diese nur als Mittel betrachten und es überträgt sich auf sie nicht die absolute Selbstzwecklichkeit der Vernunft. Im Unterschied dazu ist für Levinas das Individuum in der Beziehung zum Anderen sowie zum Unendlichen absolut in seiner individuellen Personalität bestätigt. Dem Unendlichen geht es um das einzelne Ich, es meint das Ich. Dieses Meinen besteht letztlich jedoch in einer Forderung. Für Levinas bezieht sich das Unendliche zwar auch in der nicht fordernden, sondern nur personal bestätigenden Weise der sogenannten ›weiblichen‹ Milde auf das Individuum und eröffnet ihm den Raum zur Entfaltung seiner selbstbezogenen Existenz. Auch kann von daher der Genuss in seinen verschiedenen Gestalten als Moment des Ereignisses dieser Milde erlebt werden – zwar nicht ausgehend bloß vom Genuss, da er sich von sich aus nicht auf das Unendliche bezieht, aber vom Unendlichen her. Diese Milde geschieht jedoch, nimmt man Levinas’ ganzen Ansatz ernst, nur für den Anderen, ist Moment der Forderung. Der Güte geht es um das Subjekt nicht einfach um seiner selbst willen. Nur fordernd meint das Unendliche das Subjekt absolut und dann gerade nicht um seiner selbst willen, sondern indem es dieses zum Anderen schickt. Im Genuss kann es zwar die Milde erleben, dieser ist aber nicht letztlich etwas ihm Gegönntes. Abgesehen davon, dass diese ganze Dimension bei Levinas ohnehin nur andeutungshaft in den Blick genommen wird, erhellt sich m. E. von daher, weshalb sich die naheliegende Idee, den Genuss selbst als unmittelbares Korrelat der Güte und als Erleben der Güte Gottes, als etwas, das dem Ich gegönnt ist, zu verstehen und daraus seine Bedeutung zu erklären, bei ihm nicht findet. Ob man die Beziehung zum Unendlichen in der beschriebenen Weise wie Levinas verstehen möchte und inwieweit dies zur christlichen Offenbarung passt, wird eine der zentralen Fragen im dritten Teil in der kritischen Auseinandersetzung mit ihm sein. Meines Erachtens müsste sein Ansatz in diesem Punkt modifiziert werden, wodurch sich entsprechend auch die Bedeutung des Genusses verändern würde. Er wäre Ereignis des Mir-für-mich-gegönnt-Seins und ausgehend vom Erleben des Bezogenseins auf den Anderen in seiner die Forderung zurückhaltenden, bestätigenden Gestalt auch als solches erfahrbar. Dadurch würde das Genießen vertieft zu einem ethischen Ereignis des Sich-anerkanntFindens, das einen Akt der Selbstanerkennung impliziert. In der gleichfalls geforderten Anerkennung des Anderen müsste es zwar durchbrochen und weggegeben werden. Das damit unauflösbar zu822

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gleich bestehende Für-sich des Genießens müsste jedoch nicht mehr für die Ausrichtung auf den Anderen funktionalisiert werden. Mehr noch als bei der beschriebenen Modifikation des levinasschen Ansatzes, die dem nichtethischen Leben eine relative Werthaftigkeit zuweist, würde hier der Selbstzwecklichkeit des Genießens ein Recht und ein Wert eingeräumt. Eine moralistische Engführung wäre überwunden, und zwar ohne dies über den bloßen Verzicht auf eine kohärente Vermittlung des Genießens mit der Beziehung zum Anderen, sozusagen durch die Einrichtung einer ethikfreien Zone, zu erreichen. In der im dritten Teil ebenfalls vorgeschlagenen, die Personalität aufwertenden Modifikation des fichteschen Ansatzes wären absolute Selbstzwecklichkeit des Individuums und dessen Berufung für den Anderen von vornherein auf andere Weise als bei Levinas vermittelt und in ihr könnte der Genuss als Erleben der Güte Gottes, die das Ich absolut meint, die ihm den Genuss gönnt, eine Bedeutung bekommen. In Fichtes Ansatz allein wäre so etwas natürlich nicht sinnvoll, da ein personales Gemeintsein des Individuums darin nicht vorkommt. Interleiblichkeit Auch wenn Fichte Sittlichkeit und in ihr Religion als etwas beschreibt, was sich zunächst zwischen dem Ich und seiner eigenen Berufung oder dem Sittengesetz vollzieht, so muss für ihn das ethische Handeln doch immer auf den anderen Menschen bezogen sein, weil auch bei diesem die Möglichkeit besteht, Sittlichkeit zu verwirklichen und das Ich, auch wenn es dies letztlich der Freiheit des Anderen überlassen muss, ihn dabei unterstützen kann. Für Fichte soll das Ich idealerweise sogar ganz selbstvergessen im Wirken für die Anderen aufgehen und auf sich nur achten, sobald es nötig ist, sich selbst als Mittel für dieses Wirken zu erhalten oder zu verbessern. Von daher ist der Leib im ethischen Handeln nicht nur bedeutsam, weil aus ihm die Lebenskraft und die Tätigkeitsmöglichkeiten kommen, sondern auch als Medium der Wahrnehmung und des Wirkens in Bezug auf den Anderen. Für Levinas ist dies die primäre Bedeutung. Er versteht Religion und Ethik nicht zunächst ausgehend von einer bestimmten Tätigkeit, einem bestimmten Leben, sondern ausgehend von der Beziehung zum Anderen. Darin spielt auch das Wirken für den Anderen eine Rolle, primär versteht er die ethische Beziehung jedoch als passive, als BeLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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troffensein durch den Anderen, als Sensibilität. Bevor der Aspekt der Bedeutung des Leibes im Wirken betrachtet wird, soll zunächst auf die Aspekte der Passivität in der Beziehung zum Anderen eingegangen werden. Transzendierende Passivität Für Levinas ist die leibliche Passivität, die Betreffbarkeit von außen, vom Wahrnehmenkönnen bis zur Verletzbarkeit und Sterblichkeit, die Bedingung überhaupt dafür, dass die ethische Bedeutung, die vom Anderen ausgehen muss, in das Subjekt gelangen kann. Dies betrifft nicht nur die erste Aufforderung – wenn man von so etwas überhaupt sinnvoll sprechen kann –, sondern das ethische Bewusstsein ereignet sich in seiner eigentlichen Tiefe bleibend nur vom Anderen her. Das Bezogensein beschränkt sich dabei zwar nicht auf die leibliche Passivität. Sie ist nur die Offenheit für eine tiefere Intentionalität zum Anderen in seiner das Ich ethisch auffordernden Anderheit. Diese muss sich aber leiblich ereignen. Genauso muss die Antwort des Subjekts leiblich konkret erfolgen, und zwar in einer Bewegung hin zum Anderen, die immer in die Passivität zu diesem rückgebunden ist, als Sensibilität, Berührung, Verwundbarkeit, Ausdruck, Gabe … – in den verschiedenen konkreten Gestalten, wie sie ausgehend von Levinas beschrieben wurden. Für Fichte ist zwar die von außen kommende Aufforderung des Anderen dafür nötig, dass das Subjekt auf seine Freiheit reflektieren kann, aber das sittliche Bewusstsein entsteht ausgehend von einem ursprünglichen Selbstverstehen dieser Freiheit und von diesem her ist die Aufforderung des Anderen auch nur verständlich. Er geht für sie zwar von einem wirklich passiven Betroffenwerden von außen aus. Zum In-Frage-gestellt-Sein durch den Anderen kommt es jedoch nicht durch einen unmittelbaren Bezug auf den Anderen in seiner zu achtenden Subjektivität, auch wenn für den späten Fichte ein solcher Bezug vermutlich besteht, sondern durch die verstehende Auffassung der durch die leibliche Begrenzung vermittelten sinnlichen Empfindung des Anderen. Das Sich-aufgefordert-Finden ist zudem nur nötig als Anstoß für die Reflexion, die danach ohne sie auskommt. Dennoch hat die rein passive Öffnung für ein Betroffenwerden durch den Anderen aber eine bleibende Bedeutung für Fichte, und zwar dadurch, dass sich Sittlichkeit notwendig als Sorge um die Sittlichkeit des Anderen verwirklicht und dazu, da die Entschei824

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dung zu ihr allein in der Freiheit des Anderen steht, diese Freiheit und mit ihr ebenso die Sphäre der Freiheit, der Leib des Anderen, zu achten sind. Zunächst ist die Sorge um die Bedingungen der Verwirklichung von Sittlichkeit, leibliche wie geistige, dem Anderen selbst zu überlassen und nur zu schauen, wie weit ihm dabei, immer unter Achtung seiner Freiheit, geholfen werden kann. Da sowohl die konkrete Beschaffenheit seiner materiellen und geistigen Situation als auch seine freien Entscheidungen sowie seine individuelle sittliche Berufung vom Ich nicht aus sich gewusst werden können, ist die Grundlage des ethischen Verhaltens gegenüber dem Anderen ebenso bei Fichte die rein passive Wahrnehmung, und zwar, da der Leib das Instrument überhaupt der Wahrnehmung darstellt, als leibliche Passivität. Indem sich in ihr schon die Achtung des Anderen vollziehen kann, könnte auch Fichte allein in diesem passiven Sichbetreffen-Lassen schon ein Ereignis der Ethik sehen. Levinas’ Beschreibungen dieser ethischen Passivität in einer Vielzahl von leiblichen Phänomenen könnten deshalb als Ergänzung in Fichtes Ansatz integriert werden – zumindest wenn man den Aspekt der Anarchie in der Passivität abzieht. Während für Levinas allein aus dieser Passivität, zumindest auf der ursprünglichen Ebene vor jener der Gerechtigkeit, ebenso das aktive antwortende Verhalten, die Verlängerung der Achtung in die Gabe, entspringt und ganz in der Passivität verbleibt, würde dies bei Fichte freilich zudem von daher bestimmt werden, dass das Subjekt letztlich der Moralität des Anderen aufhelfen soll und von daher, bei aller Offenheit, den Anderen in seiner individuellen Berufung und Freiheit und Bedürftigkeit wahrzunehmen, doch bestimmte eigene Maßstäbe hat, was zu dieser Moralität des Anderen gehört und was der Andere zu deren Verwirklichung benötigen kann. Die levinassche Aussage, dass jede Aktivität eine Form von Gewalt darstellt und zur ethischen Haltung immer ein Erschrecken darüber und eine gewisse Zurückhaltung gehören, dürfte Fichte aber dennoch bejahen können. Als Übereinstimmung lässt sich festhalten, dass sich für beide Religion nur in Ethik und Ethik nur in einer Ausrichtung auf den Anderen vollziehen kann, in der das Ich sich passiv leiblich von ihm betreffen lässt. Schon im Vergleich des Leibbegriffs konnte herausgearbeitet werden, dass die leibliche Passivität auch von Fichte nicht nur so verstanden wird, dass das Subjekt eine Bestimmtheit von außen empfängt, sondern dass es in seiner Tätigkeit beschränkt sowie in seiner leiblichen Existenz sogar überhaupt von außen abhängig Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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und so radikal verletzbar ist. Diese Verletzbarkeit ist zwar nicht absolut wie bei Levinas, insofern sie den innersten zeitlosen Kern des Subjekts nicht betrifft, jedoch kaum weniger dramatisch, indem sich dieser Kern nur in einer leiblichen Existenz entfalten kann und diese tatsächlich sterblich ist. Trotz dieser Übereinstimmungen besitzt diese Passivität bei beiden freilich einen unterschiedlichen Stellenwert. Für Levinas besteht das eigentliche Ereignis des Unendlichen in einer Transzendenzbeziehung, die sich nur ereignen kann, wenn das Subjekt über sein Können hinausverwiesen ist, und zwar so, dass es in der Abhängigkeit und Betreffbarkeit vom Exterioren in seiner ganzen Existenz betreffbar ist. Die radikale Abhängigkeit von der Nahrung und die radikale Sterblichkeit hängen bei Levinas direkt mit seinem Ethikkonzept zusammen. Die leibliche Passivität ist unmittelbar als Medium des rekurrenten ethischen Bezuges bedeutsam. Durch sie kann das Ich in seinem Kern infrage gestellt werden und ist es im Innersten durch den Anderen berührbar. Durch sie kann sich das Ich selbst geben, wenn es gibt. Für Fichte besteht im Unterschied dazu das eigentliche Ziel der Existenz darin, sich in seiner Beschränktheit zu relativieren gegenüber einem rein unbeschränkten Tätigsein. Es geht zwar dabei letztlich um einen Bezug auf das vom Dasein radikal unterschiedene Absolute, in dem diese reine Tätigkeit ursprünglich lebt. Der Eigenschaft dieses Bezuges, Transzendenzbezug zu sein, wird jedoch keine Bedeutung gegeben. Für Fichte kann sich Religion daher auch bloß als Bezug auf die vom Absoluten zu eigen gegebene reine Tätigkeit des einen Daseins vollziehen. Auf eine Berührbarkeit durch den transzendenten Anderen kommt es nicht an. Auch dem, dass dieser Bezug die Achtung der anderen Menschen und hierbei ebenfalls eine Transzendenzbeziehung impliziert, kommt bei Fichte keine innerliche Bedeutung zu. Dass sich das Dasein nur verwirklichen kann in Individuen und es so zur Vielheit der Individuen kommt, ist im Grunde nur eine notwendige Begleiterscheinung dessen, dass es für diese Verwirklichung des einen Daseins eine Selbsterkenntnis, dafür eine Bestimmtheit und dafür eine Unterschiedenheit zu anderem braucht, aus der diese Bestimmtheit als Begrenzung durch anderes erwächst. Zwar vollzieht sich die Rückkehr in die reine Tätigkeit des Absoluten oder des einen Daseins als Relativierung der eigenen Individualität, als »Selbstvernichtung« (A149), und zwar ereignet sich diese auch in der leiblich passiv vermittelten Beziehung zum Anderen. Der Transzendenzbeziehung selbst kommt hierbei aber keine Bedeutung zu. Das Wesentliche ist das Hineinfin826

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den in die eigene einfache, ursprüngliche Vernunfttätigkeit. Wie herausgearbeitet wurde, kann Fichte die Vergänglichkeit, die sich ebenfalls als leiblich passives Betroffenwerden von außen ereignet, zwar als faktische Relativierung der beschränkten individuellen Existenz verstehen, die es bejahend mitzuvollziehen gilt. Aber auch hier bekommt der Transzendenzbezug keine Bedeutung in sich. Man kann diese Vergänglichkeit, da sie letztlich im einen Dasein gründet, sogar mehr als Ereignis des Könnens des Subjekts, insofern es als selbst eines Dasein seine zu relativierende individuelle Existenz vergänglich sein lassen muss, verstehen, denn als etwas dem Individuum passiv Zustoßendes. Es besteht entsprechend nicht die radikale Sterblichkeit wie bei Levinas, in der die Exteriorität an das Subjekt als Ganzes heranreichen kann. Gleichwohl ist Fichtes Ansatz m. E. so zu interpretieren, dass ein wirkliches Hintergangenwerden des Könnens in einer transzendierenden Passivität im Leiblichen stattfindet. Zwar vollzieht auch das Individuum, wenn man es als eines Dasein betrachtet, die ursprüngliche Teilung in die Individuen und so in gewisser Weise die Setzung der Freiheit der Anderen mit. Die freie Tätigkeit der Anderen selbst bleibt ihm jedoch äußerlich und somit immer etwas, das sein Tätigsein von außen trifft. Ebenso das Absolute bleibt ihm äußerlich. Da es für Fichte keine zeitliche Wahlfreiheit hat, beschränkt es das Subjekt zwar nicht durch Äußerungen, hintergeht jedoch insofern dessen Können – nun freilich nicht leiblich –, als es dieses allererst ins Sein setzt und dem Subjekt konkret darin begegnet, dass es dieses Sein nicht aus sich setzen kann. Der Hauptunterschied zu Levinas besteht also nicht darin, dass bei Fichte das Können des Individuums nicht hintergangen würde, sondern dass dem nicht eine Bedeutung im Sichereignen einer Transzendenzbeziehung gegeben wird. Würde man den fichteschen Ansatz freilich so modifizieren, dass der Interpersonalbeziehung eine ursprüngliche Bedeutung zukommt, wie dies hier im dritten Teil vorgeschlagen werden soll, dann würde das leibliche Hintergangenwerden des Könnens, zwar nicht für die Setzung des Sollens im Subjekt überhaupt, die hier wie bei Fichte in einem ursprünglichen autonomen Vollzug begründet läge, aber doch für das Ereignis der gesollten Beziehung, genauso wichtig sein wie bei Levinas. Ob dafür die Rekurrenz hinter das Können ebenso radikal wie bei Levinas als totale Sterblichkeit gefasst werden müsste, ist m. E. die Frage. Als Basis für einen heteronomen Bezug bräuchte es sie nicht. Und der Zusammenhang, den Levinas zwischen der radikalen leiblichen Abhängigkeit und der restLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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losen Berührbarkeit sowie dem Sich-geben-Können herstellt, scheint so zwingend nicht zu sein. Leiden Welche Bedeutung beide Denker der transzendierenden Passivität im Ereignis des Unendlichen geben, wirkt sich auch auf ihre Sicht auf das Leidhafte aus. Für Levinas erklärt sich aus dem Bestehen dieser Passivität, im tiefsten in der Abhängigkeit der Bedürfnisbefriedigung von etwas unverfügbarem Äußerem, die Möglichkeit des Leidens, und zwar eines wirklich lebensfeindlichen, tödlichen Leidens. Da diese Möglichkeit das Subjekt immer in einer gewissen Bedrohung betrifft, enthält sie insofern zudem ein tatsächliches Leiden. Außerdem gehört die Wirklichkeit des Leidens unmittelbar zur ethischen Beziehung selbst, weil diese sich nur in einer leiblichen Öffnung auf den Anderen ereignen kann, die immer eine gewisse Unterbrechung des Genusses bedeutet. Der leibliche Trieb muss auf eine Weise frustriert werden, aber auch der ethische Trieb zum Anderen, das Begehren, kann nicht als etwas verstanden werden, das sich befriedigen kann. Dies ist zum einen deshalb so, weil das Begehren nicht an einem Ziel anlangen kann, und zum anderen, weil es nicht bloß als ein Wollen verstanden werden kann, das sich entsprechend in der Erfüllung seiner Tätigkeit befriedigen könnte, sondern nur als ein vom Anderen immerzu gewecktes und dabei unterbrochenes Wollen, ein Wider-Willen. Diese Unterbrechung des Wollens ereignet sich für Levinas in der leiblichen Unterbrechung des sich in sich befriedigenden Bedürfens und wird genau durch die in ihr liegende Transzendierung offengehalten. Auch für Fichte muss der Grund für die Möglichkeit des Leidens in der Passivität gesehen werden, in der die Tätigkeit und der Trieb immer eine Begrenzung und somit eine Frustration erfahren, sowie konkreter in der Abhängigkeit der Befriedigung der Triebe des Naturorganismus von etwas unverfügbarem Äußerem, die das Subjekt immer als eine Bedrohung betrifft. Auch bei ihm würden diese Begrenzung und dieser Schmerz von Anderem, sei es dem anderen Menschen oder sonst einer exterioren Instanz, ausgehen. Von daher müsste er, insofern sich Ethik für ihn ebenso nur in der Sorge für den Anderen verwirklichen kann, deren Basis die zunächst passive Achtung von dessen Freiheit und die passive Wahrnehmung seiner konkreten Bedürftigkeit und seines unableitbaren Wollens darstellt, die levinassche Beobachtung, dass dies immer eine gewisse Frustration 828

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der bloßen um sich selbst sorgenden Triebbefriedigung darstellt, teilen können. Dagegen scheint zunächst zu sprechen, dass für ihn schon von Natur aus und dann zusätzlich ausgehend von einer ethischen Haltung sympathetische Triebe entstehen, die nach einer Befriedigung von Bedürfnissen des Anderen streben und entsprechend selbst befriedigt werden, wenn es zu dieser kommt. Die ethische Ausrichtung auf den Anderen, die bei Fichte selbst getragen ist von einem Trieb, in den ursprünglich eine Orientierung auf den Anderen integriert ist, würde sich, falls eine solche Sympathie vorhanden ist – für Fichte ist dies der Idealfall, der häufig, wenn auch nicht immer gegeben ist –, vermittels eines leiblichen Triebes sowie dessen Befriedigung vollziehen und gerade nicht durch dessen Frustration. Unterbrochen werden müsste nur die Ausrichtung auf die Befriedigung um ihrer selbst willen, nicht aber die Befriedigung selbst. Man muss jedoch sehen, dass ein Trieb bei Fichte nur Trieb nach einer bestimmten Tätigkeit und nicht nach Passivität sein kann. Der sittliche Trieb kann zwar auf eine Tätigkeit zielen, die für die Moralität der Anderen hilfreich ist, jedoch keinen Trieb nach einer bloßen Öffnung auf das passive Betroffensein durch den Anderen darstellen, auch wenn diese aufgrund der notwendigen Spaltung des Daseins zu dessen Entfaltung dazugehört. Aus demselben Grund muss diese Öffnung eine gewisse Unterbrechung auch für einen sympathetischen Trieb bedeuten. Bei Fichte findet sich nichts in diese Richtung beschrieben, dies folgt aber m. E. aus seinem Ansatz. Von daher könnten Levinas’ Beschreibungen der verschiedenen Formen, in denen es in der ethischen Ausrichtung auf den Anderen zu etwas Schmerzhaftem kommt, in seinen Ansatz integriert werden. Diese Unterbrechung der Befriedigung des Triebes, des leiblichen wie des sittlichen, wäre freilich für Fichte immer nur eine negative Begleiterscheinung. Sie müsste, wie alles Leidhafte, das für ihn aus den Notwendigkeiten der Formung des Daseins und aus der an sich ebenfalls notwendigen Freiheit erwächst, bejaht werden als etwas in Kauf zu Nehmendes. Ihr würde aber nicht wie bei Levinas eine Bedeutung gegeben werden als integralem Bestandteil der selbst das eigentliche Ereignis des Unendlichen darstellenden, jedes Können und Wollen durchbrechenden Beziehung auf den Anderen. Die Weise, wie Fichte selbst ausdrücklich dem Leiden eine positive Bedeutung gibt, und zwar über das hinaus, dass es in Kauf zu nehmen ist, folgt einem anderen Gedanken: Die Frustration jedes dem innersten sittlichen und religiösen Streben untergeordneten Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Triebes kann für ihn dem Menschen zeigen, dass auf dieser Ebene keine Befriedigung gefunden werden kann und ihn dadurch auf sein tieferes Wollen hin orientieren. Dieser Gedanke erscheint als integrierbar in den Ansatz von Levinas und er findet sich zumindest der Grundidee nach bei ihm sogar selbst ausgedrückt, wenn für ihn der Tod die Sinnlosigkeit und sogar Lächerlichkeit der Selbstsorge offenbart (JS286). Als ein weiterer Gedanke, mit dem beide in den Widrigkeiten des Lebens zumindest einen positiven Nebeneffekt entdecken können, findet sich bei ihnen sporadisch die Idee, diese Widrigkeiten als Herausforderungen zu verstehen, an denen sich eine Festigkeit der ethischen Ausrichtung entwickeln und bewähren kann. Wie herausgearbeitet wurde, gehört Leiden für Levinas zur ethischen Beziehung außerdem in der Form des Mitleidens und in der Form der Schmerzlichkeit der Gabe. Da sich diese Beziehung in einer Situation der gegenseitigen Beschränkung vollziehen muss, die dem Anderen Leiden bringt, impliziert die ethische Öffnung für den Anderen immer ein Mitleiden. Zum anderen folgt aus der Konkretisierung der Achtung des Anderen in das Geben immer ein gewisser Verzicht und insofern ein Schmerz. Beide Gedanken sind offensichtlich integrierbar in Fichtes Ansatz. Schwieriger ist die Frage, ob dies auch möglich ist in Bezug auf Levinas’ Beschreibung der Position des Stellvertreters als Trägers des Anderen mit allem, was zu ihm gehört, dem Leid, das er selbst trägt, und dem Leid, das er dem Ich zufügt. Es wurde gezeigt, wie Fichtes Denken in der frühen Sittenlehre dadurch in die Richtung des Stellvertretungsgedankens geht, dass für ihn das Subjekt ursprünglich auf das ganze Sittengesetz verpflichtet wird. In der Perspektive der späten Zeit müsste dies für ihn weiterhin der Fall sein, insofern hier das Individuum ursprünglich das eine Dasein ist, somit auch ›verantwortlich‹ für den Gesamtvollzug des einen Daseins und somit ›verantwortlich‹ ebenso für die Naturgeschichte, für die Setzung der anderen Individuen sowie für alles, was aus deren Freiheit erwachsen kann. Daher mündet m. E. das fichtesche Denken in eine ähnliche Grundhaltung: ein Sich-angelegen-sein-Lassen der gesamten Weltgeschichte, sogar eine Identifikation mit ihr und allen Wesen in ihr sowie ein Tragen der Welt mit allem, was zu ihr gehört, selbst der Freiheit der Anderen und des aus ihr erwachsenden Leids. Der Grund für diese Haltung wäre freilich ein anderer als bei Levinas. Nicht das ursprüngliche Fehlen einer universalen Ebene, durch das die Infragestellung das Ich immer vor seiner Autonomie trifft und jede Aufteilung von Verantwortung ver830

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unmöglicht, sondern gerade das Stehen in einer universalen Vernunft, die zugleich damit, dass das Ich mit ihrer gesamten Aufgabe identifiziert ist, es befähigt, dem Anderen dieselbe Verantwortung zuzuschreiben. Daher kann bei Fichte neben der Beschreibung der Verpflichtung auf das gesamte Sittengesetz auch die Erklärung der Herkunft und der Notwendigkeit des Leidens aus der Entwicklung des einen Daseins sowie der Imperativ, es hinzunehmen und ihm sogar zum Teil einen positiven Sinn abzugewinnen, allgemein, nicht nur für das Ich, sondern auch für die Anderen, ausgesprochen werden. Levinas hält sich im Unterschied dazu ganz in der Asymmetrie und entsprechend kommt für ihn eine solche ›Rechtfertigung‹ des Leidens des Anderen nicht infrage. Die Zuschreibungen eines positiven Sinns müssen bei beiden zusammengesehen werden damit, dass das Leiden für sie an sich etwas ist, was nicht sein soll. Es ist herausgearbeitet worden, dass auch für Levinas nur die bestimmte Form von Widrigkeit, die in der Öffnung auf den Anderen liegt, diesen positiven Sinn bekommt, nicht aber das Leiden des Menschen insgesamt. Das meiste ist auch für ihn etwas, von dem sich nur seine Möglichkeit aus der Gestalt der ethischen Beziehung ergibt, das deshalb nur als eine negative Begleiterscheinung in Kauf genommen werden muss und das, auch wenn es als Passivitätsmoment der transzendierenden Beziehung zum Anderen getragen wird, nur insoweit einen Sinn bekommt. Dass das Leiden nicht sein soll, kommt bei ihm am deutlichsten in seinem philosophischen eschatologischen Ausblick auf eine vom Leiden freie Existenzweise zum Ausdruck. Für ihn ist das Leiden, ohne damit seine teilweise für das Leben förderlichen Funktionen zu bestreiten, doch dem Wesen nach etwas, was das Leben verletzt und damit indirekt zugleich die Hingabe des Lebens beeinträchtigt. Für Fichte gilt dies noch in einem höheren Maße, da die Ethik selbst als Leben und Erfüllung einer Sehnsucht verstanden wird, somit der Triebbefriedigung ein fundamentaler Stellenwert zukommt und jedes Nicht-befriedigt-Sein demgegenüber als Mangel oder Beschränkung erscheinen muss. Idealerweise vollzieht sich die Erfüllung des eigentlich sittlichen Triebes für ihn sogar vermittels einer Befriedigung von leiblichen Trieben. Zugleich der Frustration auf dieser Ebene einen gewissen Wert einzuräumen, kann für ihn also nicht bedeuten, dass die leiblichen Triebe idealerweise immer frustriert werden, sondern nur, dass es auf dieser Ebene keine durchgehende und vollständige Erfüllung geben kann. In Bezug auf beide Autoren ist freilich anzumerken, dass durch eine das Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Für-sich-gemeint-Sein des Subjekts und damit dessen Genießen aufwertende Modifikation, wie sie hier im dritten Teil für beide Ansätze vorgeschlagen wird, die Dramatik und das Nicht-sein-Sollen des Leidens noch einmal vertieft würde. Insofern die Frage nach einer eventuellen Bedeutung des Leidens und nach dem Umgang mit ihm im religiösen Leben Teil der Theodizeefrage ist, wird sie später noch in einem eigenen Abschnitt behandelt. Ein Sinn in der Sinnlosigkeit des passiven Konfrontiertseins mit dem Materiellen? Levinas kann im Leiden speziell als Sinnlosem eine Bedeutung sehen. Es ist sinnlos in Bezug auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, aber auch sinnlos, insofern es aufgrund der Passivität nicht auf einen Sinn eingrenzbar ist, den es in der Beziehung zum Anderen bekommen könnte. Diese Sinnlosigkeit im Leiden identifiziert Levinas mit dem, was er sonst als Schlaflosigkeit oder Es-gibt bezeichnet, ein Grundphänomen der drohenden Aushöhlung und Auflösung der Subjektivität und des Verschwindens der ethischen Bedeutung. Auch andere Phänomene der leiblichen Passivität beinhalten für ihn eine Konfrontation mit dem Es-gibt, etwa das Erleben einer das Subjekt dominierenden unpersönlichen Macht im bedrohlichen Entzug der Nahrung oder die Erfahrung der Eigenwirklichkeit des Materiellen, die jede Sinngebung und finale Einbindung durch das Subjekt sprengt. Immer geht es um ein Erleben der Ebene der Subjektivität, auf der sie dadurch, dass ihr Selbstvollzug aus einer Selbsttranszendenz lebt, über diesen hinaus bezogen und dabei mit einem Raum konfrontiert ist, in dem sie nicht bei sich sein, nicht können und nicht wollen kann. Als Moment einer wirklichen Transzendierung, in der durch nichts, was möglicher Selbstvollzug des Subjekts ist, auch nicht durch eine allgemeine Vernunft oder ein allgemeines Sein, eine Einheit mit dem hergestellt werden kann, auf das hin diese Transzendierung erfolgt, bekommt bei Levinas diese Absurdität und mit ihr die Phänomene, in denen sie in der leiblichen Passivität auftaucht, eine wichtige Bedeutung. Fichte beschreibt zwar, wie herausgearbeitet wurde, auf ähnliche Weise einen solchen Abgrund der Absurdität, mit dem sich das Subjekt konfrontiert findet. Er bringt ihn jedoch nicht in Zusammenhang mit der leiblichen Abhängigkeit des Subjekts. Dies liegt auch nicht 832

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nahe. Denn er erklärt ihn aus dem Bezogensein nicht zum transzendenten Anderen, sondern aus dem Bezogensein des Individuums auf den eigenen Grund des allgemeinen Vernunftseins. Nur in dieser Hinsicht kann diese Absurdität zudem einen Sinn bei ihm bekommen, und zwar dadurch, dass sie die Beschränktheit der Orientierung am subjektiven individuellen Bewusstsein sowie an der Willkürfreiheit aufzeigen und so zum tiefer liegenden Vernunftvollzug führen kann. Von daher kann für Fichte die Absurdität auch keine letzte Bedeutung haben und stellt sie kein bleibendes integrales Moment des Ereignisses des Unendlichen dar. Die Begegnung mit dem Gesicht – die ethische Leiblichkeit des Anderen In der Interpersonalbeziehung spielt neben der eigenen Leiblichkeit, die bis hierher thematisiert wurde, auch die des Anderen eine wesentliche Rolle. Für Levinas sind Sittlichkeit und Religion vollständig an die leibhafte Beziehung zum Anderen geknüpft, für Fichte zumindest insofern die Reflexion auf das eigene innerste Wesen abhängig ist vom leiblich vermittelten Aufruf des Anderen, wie auch insofern sich Religion nur verwirklichen kann, indem sie dem Anderen zu Ethik und Religion verhilft und dies nur über den leiblichen Kontakt mit ihm möglich ist. In der Begegnung mit der das Ich auffordernden Eigenwirklichkeit des Anderen fungiert dessen Leiblichkeit in den beiden Ansätzen auf unterschiedliche Weise. Für Levinas muss der Andere selbst leiblich sein, weil er nur so das zunächst rein leibliche Subjekt betreffen kann. In diesem leiblichen Betreffen trifft dessen zu achtende Anderheit aber in einer eigenen Intentionalität. Für Fichte wird im Unterschied dazu die Aufforderung im Ganzen nur vermittelt durch den leiblichen Kontakt. Nur auf der leiblichen Ebene trifft der Andere das Subjekt in einer Weise, dass er es beschränkt und bestimmt. Und dessen zu achtende Eigenwirklichkeit wird auf dieser Basis der leiblichen Empfindung des Anderen erschlossen. Im Konzept des späten Fichte muss zwar wohl auch eine gewisse geistige Unmittelbarkeit zum Anderen in seiner Freiheit angenommen werden, sie träfe das Ich jedoch nicht auf eine Weise, dass sie ihm zu Bewusstsein kommen könnte. Abgesehen von diesen Unterschieden fällt jedoch das Erleben der Aufforderung in der leiblichen Begegnung mit dem Anderen bei beiLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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den Autoren, wie dies bereits im Vergleich ihrer Sollensauslegung hervorgehoben wurde, weitgehend übereinstimmend aus. Der Leib des Anderen begegnet nicht nur in einer Empfindung, sondern in einer Begrenzung des Lebensvollzuges, der die Möglichkeiten der Praxis und der Lebenserhaltung mit Einschränkungen bedroht, die bis zum Mord reichen. Der Andere ist Täter, aber, da er genauso vom Ich begrenzt wird, zugleich Opfer. Seine Leiblichkeit ist dem Ich nicht zugänglich wie dessen eigene und doch erlebt es ihn von vornherein nicht nur als Körper, als im Raum ausgedehnten Gegenstand, sondern als Gegenkraft und reale Bedrohung. Die Vorstellung von ihm als Körper geht aus vom Erleben dieser Begrenzung als einer zunächst auf der vorgegenständlich leiblichen Ebene liegenden Empfindung und bleibt darauf rückbezogen. Schon auf dieser Ebene, vorgängig zur ethischen Beziehung, findet ein Durchbrechen der Erscheinung durch die Wirklichkeit des Anderen statt. Für Levinas kommt es in einem zweiten Schritt zum Betroffenwerden durch die ethisch zu achtende Anderheit des Anderen, indem diese das Ich in der leiblichen Beziehung in einer eigenen Intentionalität unmittelbar betrifft. Für Fichte wird dies zwar in einer vorfrei ablaufenden Synthesis des Subjekts aus der Leiberscheinung des Anderen konstituiert, in der Verbindung dieser passiven Synthesis mit dem Erleben des leiblich passiven Betroffenseins entsteht daraus jedoch dem Phänomen nach wie bei Levinas die Erfahrung eines passiven Betroffenwerdens durch die wirkliche Anderheit des Anderen, die jede bloße Erscheinung, jedes selbstkonstituierte Bild des Anderen, transzendiert. Dass sie sich wie in Levinas’ Beschreibung besonders in der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen ereignet – ohne darauf eingeschränkt zu sein –, ergibt sich auch aus Fichtes Rekonstruktion, da sich für ihn die Freiheit des Anderen vor allem in der Artikulation ausdrückt, welche im Gesicht, besonders in den Augen und den Lippen, am ausgeprägtesten ist. Was Levinas beschreibt als Assistenz des Anderen, der mit der lebendigen Gegenwart seiner Eigenwirklichkeit in jedem Moment sein Phänomen durchbricht und so seiner an sich immer zweifelhaften Erscheinung zu Hilfe kommt, ist etwas, was in Fichtes Ansatz zumindest dem Erleben nach zur Begegnung mit dem Anderen gehört, auch wenn der reale Ursprung des Sollens, das zur Annahme einer Eigenwirklichkeit in der Erscheinung führt, bei Fichte im Subjekt selbst liegt und nicht unmittelbar in der Anderheit des Anderen. Das bei Fichte auf diese Weise konstitutive subjektive Moment ist freilich auch bei Levinas dafür nötig, dass die Aufforderung das Sub834

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jekt tatsächlich erreicht. Erst vermittels der heteronom eröffneten, aber doch autonom vollzogenen Bejahung der Aufforderung, kommt sie im Subjekt an und erst so ergibt sich das Grundphänomen der Infragestellung, das Zurückschrecken vor der naiv den Anderen übergehenden Selbstverwirklichung. Für beide muss sich die Ethik über dieses Zurückschrecken hinaus in einer Hilfe für den Anderen konkretisieren. Hierzu ist es für beide notwendig, dass die leibhafte Begegnung mit dem Anderen nicht nur das Erleben seiner Aufforderung, sondern zugleich seiner konkreten Situation beinhaltet. Bei Fichte trifft die Aufforderung das Ich überhaupt nur durch ein vom Selbstverstehen ausgehendes Verstehen seiner leiblichen Erscheinung, die zugleich damit die konkreten Anhaltspunkte enthält, wie das Subjekt dem Anderen auf seinem Weg zur Verwirklichung von Sittlichkeit helfen kann. Bei Levinas kommt das Verstehen der konkreten Situation zu dem der Aufforderung sekundär hinzu und geschieht anders als dieses durch eine vom Selbstverstehen ausgehende Deutung der empfundenen Leibgestalt des Anderen – also ähnlich wie bei Fichte das Verstehen des Anderen überhaupt –, sodass auch für ihn dem Selbstverstehen eine wichtige Bedeutung zukommt für das Verstehen des Anderen. Nur unter dieser Bedingung kann sich bei ihm Ethik dazu konkretisieren, mit dem Anderen mitzuleiden und seiner Bedürftigkeit aufzuhelfen. Hierfür spielt besonders die Unmittelbarkeit des leiblichen Selbstverstehens, vor allem des Erlebens der ursprünglichen Liebe zum Leben und der Schmerzhaftigkeit des Leidens, eine zentrale Rolle. Ausdruck des Unendlichen Aus der Analyse der ethischen Aufforderung durch den Anderen ergibt sich bei Fichte wie bei Levinas, dass der Leib trotz der Veräußerlichung in eine Körpererscheinung, trotz der Beschränktheit des Leiblichen überhaupt, in dem für sich das ethische Ereignis nicht enthalten ist, doch ein geeignetes Ausdrucksmedium für dieses und insofern für das Unendliche darstellt. Letztlich erfüllt sich zwar für beide das Ereignis des Unendlichen in einer konkreten ethischen Praxis und der Leib ist vor jeder Ausdrucksfunktion bedeutsam als Vollzugsmoment dieses Ereignisses. 1233 Diese Praxis drückt sich jedoch immer 1233 Deutlich findet sich dies bei Levinas etwa in VS88 ausgesagt, hier in Bezug auf das Ereignis nicht des Unendlichen, in dem der Leib nur ein Moment ist, sondern der sich

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zugleich aus, präsentiert sich, dem Ich selbst sowie dem Anderen, ist Moment einer Kommunikation, und diesem Aspekt kommt für beide eine wichtige Bedeutung zu, indem sich das ethische Bewusstsein nur entwickeln kann mit Hilfe einer Vermittlung seines Ausdrucks. Die Leiblichkeit ist für beide das Medium dieser Kommunikation. In ihr drückt sich alles aus, an ihr setzt alle Wahrnehmung an. Und es ist von daher wichtig zu verstehen, wie sie die ethische Bedeutung oder das Unendliche vermitteln kann. Für Levinas geschieht dies offenbar zunächst in einer gewissen Unabhängigkeit vom Leib. Der Andere, der für ihn, wie auch immer sein konkretes Verhalten ausfällt, Ereignis der ethischen Höhe oder einer Heiligkeit ist, drückt diese zwar über den leiblichen Kontakt aus, in dem das Ich überhaupt geöffnet ist und in dem der Andere ihn betrifft. Insofern kann Levinas vom »Ausdrucksleib« (TU377) sprechen. Dies geschieht jedoch in einer von der leiblichen unterschiedenen eigenen Intentionalität, die nicht einer verstehenden Deutung der leiblichen Erscheinung des Anderen entspringt. Nur sekundär dazu drückt sich für Levinas die ethische Höhe des Anderen auch in einer Leibgestalt aus, wenn er etwa einen Zusammenhang sieht zwischen ihr und der Armut des Anderen, die zugleich eine Öffnung zum Dritten darstellt, oder wenn er beschreibt, wie die ursprüngliche Rede des Anderen unausweichlich die Eröffnung einer gemeinsamen Welt, die Verallgemeinerung der Dinge und insofern ein Geben beinhaltet. Für ihn manifestiert sich so bereits das sich vor jeder freien Zustimmung und jedem freien Engagement ereignende ethische Bewusstsein des Anderen in leiblicher Weise. Mit seinem Begriff des Zeugnisses beschreibt er, wie wiederum sekundär dazu auch das tatsächliche Sich-betreffen-Lassen durch das Unendliche, das eigene wie das des Anderen, indem es sich immer konkret verleiblicht, ausgedrückt und auf diese Weise kommuniziert wird als Bezeugung des Unendlichen. In diesem Zeugnis ereignet sich für Levinas die prophe-

rein leiblich vollziehenden Unabhängigkeit des Subjekts im Kontakt mit dem Materiellen: »Gewiß, der Leib wurde immer für mehr gehalten als nur eine Anhäufung von Materie. Er beherbergte eine Seele, die er auszudrücken vermochte. Der Leib konnte mehr oder weniger expressiv sein und er hatte Teile, die mehr oder weniger expressiv waren. Das Gesicht und die Augen, der Spiegel der Seele, waren vorzüglich die Organe des Ausdrucks. Aber die Spiritualität des Leibes liegt nicht in diesem Vermögen, das Innere auszudrücken. Dank seiner Setzung vollzieht er die Bedingung für jede Innerlichkeit. Er drückt kein Ereignis aus, er ist selber dieses Ereignis.«

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tische Offenbarung, welche die Menschen auffordert und sie sensibilisiert für die eigentliche ethische Bedeutung, wie sie im Gesicht des Anderen aufleuchtet. Es wurde dargestellt, in welcher Vielfalt von Phänomenen Levinas die Verleiblichung des Sich-in-die-Verantwortung-nehmen-Lassens beschreibt. Für Fichte gehört zwar nicht in jedem Fall zur Beziehung zum Anderen und zur Erfahrung des Verpflichtetseins ihm gegenüber die Erfahrung von dessen Heiligkeit, sondern es genügt die Erfahrung seiner Freiheit. Zumindest die Begegnung mit dem Anderen, die nötig ist dafür, dass das Subjekt auf seine eigene Freiheit reflektieren kann, wird aber als Aufforderung, als Ausdruck eines Sollens verstanden. Um nicht nur zur Reflexion bloß auf die eigene Freiheit, sondern auf das in ihr liegende allgemeine Sittengesetz und noch tiefer das einfache göttliche Leben zu kommen, spielt für Fichte darüber hinaus ebenso eine Art Zeugnis eine wichtige Rolle, das qualifizierte Vorbild des Anderen bzw. das eigene Zeugnis, zu dem man verpflichtet ist, um die Moralität der Anderen zu befördern. Wirksamer als die bloß sprachliche Kommunikation von ethischen Überzeugungen ist hierbei für ihn die einfache Erscheinung eines vorbildlichen Lebens. Ähnlich wie für Levinas drückt sich für ihn eine ethische oder religiöse Haltung unmittelbar leiblich aus, indem der Leib das Medium ist, in welchem der Mensch überhaupt lebt und tätig ist. Das Absolute kann für ihn so in der leibhaften Begegnung mit einem Menschen, der von ihm ergriffen ist, erscheinen. 1234 Anders als bei Levinas geschieht dabei die Kommunikation jedoch immer nur über die verstehende Auffassung der Leibgestalt, deren Konstitution er sehr differenziert – ausgehend vom Gefühl, über das Verstehen des Begegnenden als Organismus und als Freiheit, bis zum Verstehen der Zwecksetzung dieser Freiheit – nachvollziehbar macht und so zeigt, wie sich ein vom sittlichen oder religiösen Zweck durchdrungenes Leben erfahrbar im Leib ausdrücken kann. Von seiner Rekonstruktion her müsste sich für ihn wie für Levinas auch das bloße sittliche Bewusstsein, noch vor jeder ausdrücklichen freien Zustimmung, als bloße Forderung an das Ich, leiblich manifestieren. Die Deutung dieses Bewusstseins als eines, wenn auch vorläufigen, Sichereignens des

1234 In diesem Punkt ist m. E. kein Gegensatz zwischen Fichte und Levinas zu sehen oder ein stärkerer Bezug zur Leiblichkeit bei Levinas (gegen Wendel, 1996, 170 u. mit von Manz, 1994, 211).

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Sittengesetzes und der ursprünglichen Zustimmung zu ihm im Anderen sowie die Deutung seines leiblichen Vollzuges und Ausdrucks als einer ursprünglichen Gabe würde auch in seinem Ansatz nachvollziehbar sein. Es wurde dargestellt, wie sich für Levinas die Aufforderung des Anderen vor allem mit der Erfahrung seiner Schwäche und seinem Leiden verbindet. Fichte beschreibt dies zwar nicht in dieser Weise. Die Gründe, die bei Levinas dazu führen, sind aber in seinem Ansatz ebenso nachvollziehbar. Auch für ihn erlebt das Subjekt seine Verpflichtung gegenüber dem Anderen immer in einer Situation, in der es den Anderen schon einschränkt und bedroht. Die Verpflichtung bezieht sich als Verpflichtung zur Hilfe gleichfalls weniger auf die Stärke als auf die Schwäche und Bedürftigkeit des Anderen. Die Forderung, welche die Existenz des Anderen für ihn darstellt, ist etwas, was das Subjekt ebenso nicht gewaltsam heteronom, sondern aus seiner Autonomie und insofern gewaltlos trifft, und es würde nichts dagegen sprechen, diese Gewaltlosigkeit ähnlich manifestiert zu sehen in der leiblichen Schwäche und in der Zurückgezogenheit aus dem Wirken in der Welt. Wie bereits thematisiert, wäre in Fichtes Ansatz auch eine unwillkürliche Manifestation des ethischen Bewusstseins des Anderen in einem Zur-Verfügung-Stellen der Welt und einer Armut nachvollziehbar. Und dies gilt ebenso für die Deutung der leiblichen Hinfälligkeit als ein Zeichen für die Entzogenheit des Anderen gegenüber jeder phänomenalen Greifbarkeit. Sie kann deshalb als Zeichen dafür gedeutet werden, weil in der Hinfälligkeit das Leben und die Innerlichkeit, die von ihr bedroht sind, aufscheinen. Wenn Levinas diese Entzogenheit zugleich direkt an der Lebendigkeit des Anderen festmachen kann, dann berührt er sich hier mit Fichtes Beschreibung des Verstehens des Anderen ausgehend von der organischen Lebendigkeit sowie von der Freiheit. Auch für Levinas präsentiert sich im Blick des Menschen nicht nur die natürliche Lebendigkeit, sondern die des Selbstbewusstseins und der Freiheit. Fichte legt in der Beschreibung, wie sich im Anderen die Forderung und das Vorbild des religiösen Lebens ausdrücken, das Gewicht vor allem auf den Aspekt des Tätigseins. Der Aspekt der Passivität, den Levinas hervorhebt, wäre aber für ihn integrierbar und würde eine gute Ergänzung erbringen. Für Levinas wie für Fichte wird durch den Ausdruck des Unendlichen im Subjekt zugleich eine ursprüngliche, der freien Antwort noch vorgängige Form von Zustimmung hervorgerufen. Dadurch be838

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schränkt sich das Ausdrucksgeschehen nicht auf die bloße Information des Subjekts, das sich dazu dann frei verhalten kann. Diese umfassendere Gestalt der Ausdrucksfunktion lässt sich bei Levinas neben den Beschreibungen der ursprünglichen Form des Aufrufs auch in seinen Analysen der Wirkung von Kunst dargestellt finden. Der Betrachter wird zunächst weniger informiert als über den Ausdruck in das Ereignis des Kunstwerks hineingezogen. Dies gilt für die von ihm kritisierten Wirkweisen von Kunst, wenn sie etwa in den Vollzug der bloßen Materialität des Seins hineinnimmt oder über eine kulturelle Geste, die vom Betrachter mitvollzogen wird, in ein bestimmtes Seinsverstehen. Es gilt dies aber auch dann, wenn ein Kunstwerk in verschiedenen Weisen der Evokation des Begehrens und der Öffnung auf Transzendenz, etwa in einer Atemlosigkeit des Sprechens und Schreibens, ein ethisches Jenseits-des-Seins vermittelt. Levinas’ Beschreibungen der Wirkweise des rituellen Gebetes machen darüber hinaus deutlich, dass der Nachvollzug von aus einer Inspiration erwachsenen kulturellen Gesten nicht nur grundsätzlich den ethischen Inhalt vermitteln und ihn sich ereignen lassen, sondern durch die regelmäßige Wiederholung auch immer tiefer in ein ihm entsprechendes Leben einführen kann. Ohne dass es sich um ein magisches Geschehen handelt, das die Freiheit übergeht, führt der Weg hierbei von der auf eine Art äußeren leiblichen Geste zu einer Veränderung der ganzen Haltung der Person. Indem diese Prozesse für Levinas nicht mehr nur über die spezielle ethische Intentionalität, sondern über das spontane Verstehen und Mitvollziehen der leiblichen Geste des Anderen verlaufen, könnten sie ähnlich innerhalb des fichteschen Ansatzes beschrieben werden. Neben der Rolle in der Kommunikation mit dem Anderen ist der Ausdruck auch bedeutsam im Selbstverhältnis. Die Selbstsorge ist abhängig vom Erleben der konkreten eigenen Bedürfnisse und Handlungsmöglichkeiten, aber ebenso das ethische Handeln. Der Ausdruck speziell des ethischen Lebens wird bei Fichte etwa wichtig bei der Suche nach der eigenen individuellen Berufung, die sich daran orientieren soll, wo sich das Subjekt in einer vom eigenen Grundwillen ergriffenen unwillkürlichen Tätigkeit erlebt. Bei Levinas wird die Bedeutung des ethischen Ausdrucks für das Selbstverhältnis greifbar in seinen Beschreibungen der Kunst oder des religiösen Zeugnisses: Eine Inspiration drückt sich in einem Wort oder sonst einer greifbaren Gestalt mit einer besonderen Dichte aus; dieser Ausdruck fordert die Interpretation nicht nur des Anderen, sondern auch des Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Inspirierten selbst heraus, gibt ihm einen Anhaltspunkt für die Orientierung auf das Wesen der ethischen Bedeutung und führt ihn in sie hinein. Sowohl für Fichte als auch für Levinas vermittelt sich das Subjekt mit seiner innersten ethischen und religiösen Aufgabe nur über einen greifbaren, vor allem vom Anderen, aber auch von sich selbst gesetzten Ausdruck von ihr. Authentizität des Leibes Den Weisen des Ausdrucks, die bis hierher beschrieben wurden, ist gemeinsam, dass sie unwillkürlich erfolgen. Fichte und Levinas sind sich darüber im Klaren, dass der Mensch genauso bewusst und frei einen bestimmten Inhalt kommunizieren kann. Auch dieser Ausdruck ist natürlich notwendig leiblich vermittelt. Größere Bedeutung geben beide jedoch der unwillkürlichen leiblichen Manifestation der Person. So macht Fichte auf die Bedeutung des Lebensvorbildes aufmerksam gegenüber allen Versuchen, bestimmte ethische oder religiöse Überzeugungen zu vermitteln. Zum einen liegt dies an der Glaubwürdigkeit, die darin besteht, dass jemand nicht nur von Überzeugungen redet, sondern sie lebt, zum anderen aber an der Unmittelbarkeit des leiblichen Ausdrucks selbst, der nicht verstellt werden kann, weil er auf einer ursprünglichen Ebene nicht in der freien Verfügung des Subjektes steht. Levinas spricht ausdrücklich von einer Aufrichtigkeit des ethischen Ereignisses der Ausgesetztheit, und zwar nicht nur aufgrund der Unwillkürlichkeit der ursprünglichen Antwort auf die Infragestellung, sondern auch aufgrund der Vorgängigkeit der leiblichen Konkretisierung dieser Antwort zu jedem freien Verfügen über sie. Von da ausgehend kann er ebenso die Unmittelbarkeit, mit der das leibliche Bedürfnis auf sein Ziel orientiert ist, ohne dass hierbei irgendwelche Hintergedanken, geheimen Pläne oder Absichten dazwischentreten könnten, als aufrichtig bezeichnen, und zwar, um die Unverstelltheit des Leiblichen zu würdigen als etwas, das zwar noch nicht selbst ethisch ist, das aber einen wichtigen Grundzug von Ethik realisiert. Diese Authentizität kann in der Kommunikation mit Anderen, aber auch im Selbstverhältnis eine wichtige Bedeutung haben, etwa wenn es darum geht, herauszufinden, was die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten und Begabungen, was die eigentlichen Bedürfnisse und Antriebe oder was wirklich die eigene Berufung ist im Unterschied zu dem, was man sich lediglich vorstellt. 840

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Schönheit und Leiblichkeit Die Weise, wie das Unendliche unmittelbar in seinem Ausdruck erlebt wird, benennen beide Autoren mit dem Begriff der Schönheit. Levinas spricht von der »Schönheit des Gesichts« (JS203), in der es mit seiner jugendlichen Lebendigkeit sein Erscheinen durchbricht. Fichte spricht von Gott als der »Urquelle der Schönheit« und von ihrem Hervortreten »in dem Gemüthe der von ihm Begeisterten« (A156). Die Schönheit kommt diesem Ereignis des Unendlichen selbst zu, wird aber, insofern der Leib das Medium des Ausdrucks und seines Erlebens darstellt, in ihm manifest. Und zwar ist der Leib dadurch bedeutsam, dass er ein unmittelbares Erleben des Ausdrucks ermöglicht und damit gerade das Auffassen des Unendlichen in der Form der Schönheit, welche die Weise darstellt, wie sich das Unendliche unmittelbar, vorgängig zu einem begrifflichen Verstehen und einer freien Willensbildung, manifestiert. Fichte charakterisiert das Schöne ausdrücklich über diese Unmittelbarkeit, sie bestimmt aber auch das, wie Levinas vom Schönen spricht. Die Schönheit des Unendlichen kommt dabei nicht direkt dem Leib selbst zu, sondern er vermittelt sie nur. Fichte wie Levinas binden die Schönheit an das ethische oder religiöse Ereignis und grenzen sich ausgehend davon von falschen oder untergeordneten Begriffen des Schönen ab. So unterscheidet Levinas die, wie er schreibt, »noch essentielle« Schönheit des Gesichts (JS203) von der Schönheit, in der durch die Vollendung der Form der erscheinenden Welt ein ästhetischer Genuss entsteht. Fichte stellt heraus, dass das leibliche Medium des Ausdrucks nicht selbst schön ist, sondern nur das in ihr erscheinende göttliche Leben. Auch kann für ihn die bloße Lebendigkeit der Natur oder eines noch nicht sittlichen Menschen nur in einem vorläufigen und noch nicht im vollen Sinne als schön bezeichnet werden. Für Fichte beinhaltet die Begegnung mit dem Schönen eine Art Wohlgefallen, er versteht es in Entsprechung zu einem Streben und im eigentlichen Sinn in Entsprechung zur Sehnsucht nach dem Absoluten. Das Gefallen an eigentlich Geschmacklosem hängt mit einer falschen Ausrichtung des Strebens zusammen. Daneben liegt für ihn eine unsittliche Ausrichtung auch dann vor, wenn jemand sich auf den Genuss des Ästhetischen rein um seiner selbst willen zurückzieht und sich gegenüber einer eigentlichen sittlichen Willensbestimmung sowie gegenüber dem sittlichen Handeln verschließt. Auch bei Levinas lässt sich solch eine Entsprechung zum Streben feststellen. Die Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Vollendung der Form des Phänomens spricht den bloßen Genuss an, der Zugang zur Schönheit des Gesichts ist das Begehren und das, was er als weibliche Schönheit beschreibt, entspricht bei ihm dem ambivalenten Eros. Wenn es zunächst bei Levinas so aussieht, als würde er ganz verschiedene Begriffe des Schönen verwenden, so zeigt sich durch die Verbindung mit dem Streben eine gewisse Einheit des Begriffs. Sie ist freilich nicht so stark wie bei Fichte, der durchgängig Schönheit in Entsprechung zum Freiheitsstreben denkt. Als Gemeinsamkeit lässt sich daneben festhalten, dass bei beiden auch im Zusammenhang der Thematik des Schönen die Leiblichkeit als etwas hervortritt, das in seiner Triebhaftigkeit den Menschen wegziehen kann von seinem sittlichen Streben. Durch die Bindung an die Ethik bestimmt sich der Inhalt des Schönen. Für Levinas ist es zwar zunächst die »jugendliche Frische« (JS204), welche die Schönheit des Gesichts ausmacht. Es ist jedoch eine Jugend, die im Kern in der Heiligkeit des Anderen besteht und so unmittelbar verknüpft ist mit seiner Armut und Hinfälligkeit. Das Element des Hässlichen bekommt daneben dadurch eine integrale Bedeutung im Schönen, als für Levinas das Es-gibt zur Beziehung zum Anderen dazugehört. Zwar wird ebenso bei Fichte die Schönheit des bloß Kraftvollen zurückgesetzt gegenüber der Schönheit des eigentlich ethischen Lebens, das im Unterschied dazu von Entbehrung und Leiden geprägt sein kann. Diesem Aspekt wird jedoch bei ihm nicht die integrale Bedeutung gegeben wie bei Levinas. Die eigentliche Schönheit liegt in der Selbständigkeit und Fülle der Vernunfttätigkeit. Zur Leiblichkeit der Kunst Für beide drückt sich die Schönheit nicht nur direkt im lebendigen menschlichen Leib aus, sondern auch in einem Kunstwerk. Fichte versteht Kunst generell ausgehend vom Begriff der Schönheit. Sie zielt für ihn idealerweise darauf, die Erscheinung Gottes in verschiedenen materiellen Medien zum Ausdruck zu bringen. In Levinas Beschreibungen der Wirkweisen von Kunst, die er positiv würdigt, spielt der Begriff der Schönheit zwar keine Rolle, indem sie jedoch immer als Ausdruck und Begegnung mit dem Gesicht verstanden werden, das er als das eigentliche Ereignis der Schönheit beschreibt, ergibt sich in der Konsequenz eine ähnliche Verknüpfung. Sie deutet sich nur an einer Stelle an, an der er die Eigenschaft der poetischen Sprache, durch das 842

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Wie ihres Sagens die durch die Interpretation nie erschöpfbare Fülle der Inspiration zu vergegenwärtigen, in der sich das Gesicht ausdrücken kann, als Schönheit benennt. Levinas Kritik an negativen Aspekten der Kunst verläuft zumindest in Bezug auf eine von ihren Wirkweisen über den Begriff des Schönen. Levinas beschreibt drei verschiedene Formen, in denen die Kunst leiblich das Ereignis des Es-gibt und damit eine uneigentliche Gestalt von Transzendenzbeziehung evoziert. Sie wurden schon im Kapitel über die Gefahr einer Naturvergötterung dargestellt, besonders die erste. Sie wirkt nicht über die Schönheit, sondern über die von Levinas aufgrund ihrer Gestaltlosigkeit als hässlich bezeichnete bloße Materialität. Das, was die Materie schön macht und einen ästhetischen Genuss ermöglicht, ist ihre Erscheinung und ihre Auffassung in einer bestimmten Form. Schönheit ist die Vollendung dieser Form und ein Teil der Kunst bedient sich für Levinas ihrer Wirkung. Insofern das Genießen zum Leben notwendig gehört, ist der ästhetische Genuss für ihn legitim. Problematisch ist er nur, wenn der Mensch sich ganz in diesen Genuss sowie die mit der Schönheit, als Vollendung des nur Bildhaften, einhergehende Scheinwelt zurückzieht und dies nutzt, um vor seiner Verantwortung und vor der Härte der Realität zu fliehen. Die dritte Wirkweise der Kunst, die Levinas kritisiert, hat zunächst nichts mit Schönheit und Hässlichkeit zu tun, sondern mit der Eröffnung eines Seinsverstehens durch eine leibliche Geste. Was dies genauer meint und inwiefern sich so etwas auch bei Fichte findet, wird noch im Abschnitt zur Offenbarungsthematik behandelt werden. Insofern es vor allem diese dritte Form ist, in der für Levinas die Kunst auch eine positive Bedeutung bekommen kann, indem sie nicht nur ein bestimmtes Seinsereignis und dessen Verstehen zu evozieren vermag, sondern ebenso das Jenseits-des-Seins der ethischen Beziehung zum Gesicht, ist sie die Weise, wie Kunst einen Zugang zu dem eröffnen kann, worin für Levinas die eigentliche Schönheit liegt und in der sich somit das Unendliche ereignet. Als grundlegende Übereinstimmung zwischen beiden Autoren lässt sich festhalten, dass es für beide nur der Ausdruck des Menschen als des eigentlichen Ortes des Unendlichen sein kann, in dem die Kunst ihre Bestimmung findet. Levinas beschreibt in einer größeren Vielfalt als Fichte, wie die Kunst den Bezug zum Gesicht des Anderen herstellen kann. Entsprechend seiner Deutung des Unendlichen als personaler Transzendenzbeziehung spielt für ihn dabei über den bloßen Ausdruck des Gesichts die Herstellung eines BeLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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zuges zum tatsächlichen Anderen, zwischen dem Künstler und dem Rezipienten oder zwischen den verschiedenen, die Kunst interpretierenden Rezipienten, eine wichtige Rolle. Levinas’ Beschreibungen der verschiedenen Wirkweisen von Kunst lassen sich in Fichtes Ansatz integrieren. Den Weisen, wie Kunstwerke unmittelbar eine Begegnung evozieren, würden für diesen jedoch entsprechend seiner anderen Sollensauslegung nicht die Bedeutung wie bei Levinas zukommen. Die Beschreibungen der Kunst machen bei beiden deutlich, dass die Materialität auch außerhalb der lebendigen Leiblichkeit ein geeignetes Medium der Manifestation Gottes darstellt, und zwar einer Manifestation, die den Menschen unmittelbar anspricht und das Unendliche in ihm ohne die Vermittlung der Reflexion oder einer freien Willensbestimmung sich ereignen lässt. Bei Fichte wird das Ästhetische insgesamt von der unmittelbaren Empfindung her verstanden, in der die verschiedenen Dimensionen des Menschen noch in einer ursprünglichen Einheit sind. Bei Levinas kommt der Unmittelbarkeit dadurch eine zentrale Bedeutung zu, dass er Kunst weniger als Vermittlung von Inhalten, denn als ein Sich-ereignen-Lassen einer Transzendenzbeziehung versteht. Fichte stellt als Vorteil dieser Unmittelbarkeit heraus, dass das sittliche Ideal durch sie anders als etwa auf dem wissenschaftlichen Weg leicht und ohne besondere Voraussetzungen an jeden Menschen vermittelt werden kann. Geben und Dienst – der Tätigkeitsleib Da sich für Levinas Ethik zunächst wesentlich als Passivität ereignet, bekommt der Leib als Ereignis von Passivität seine primäre Bedeutung. Die Ethik muss sich jedoch in der leiblichen Öffnung auf den Anderen und aufgrund von dessen Bedürftigkeit unmittelbar in einer Gabe ausprägen. Diese ereignet sich zwar zunächst als bloß passives Sich-nehmen-Lassen, kann sich darauf jedoch nicht beschränken. Es braucht auch das aktive Geben, die aktive Hilfe, den Dienst am Anderen, und zwar nicht erst auf der sekundären Ebene der Gerechtigkeit, sondern schon auf der ursprünglichen asymmetrischen Ebene. Hierbei ist der Leib bedeutsam als Basis des Wirkens und Handelns. Bei Fichte ist dies seine primäre Funktion und wird entsprechend viel eingehender analysiert. In einem ersten Schritt wurde geklärt, inwieweit bei ihm, obgleich er die ethische Beziehung zum Anderen primär als Tätigkeit denkt und entsprechend den Leib begreift, dennoch 844

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auch der Aspekt der transzendierenden Passivität eine Bedeutung besitzt und er deren Beschreibungen von Levinas übernehmen kann. Nun gilt es umgekehrt zu fragen, inwieweit die fichteschen Beschreibungen der Funktion des Leibes als Können für Levinas integrierbar sind. Auch Levinas geht, wie dies ausführlich gezeigt wurde, von einem ursprünglichen selbständigen Tätigsein im leiblichen Genießen aus. In der Form eines ursprünglichen Zugreifens auf die Nahrung ist es die Basis für die Entfaltung der Arbeit. In den von daher entfalteten Möglichkeiten der Arbeit liegen die Möglichkeiten auch des ethischen Tätigwerdens für den Anderen. Besitz wird zur Gabe, Arbeit wird zur Arbeit für den Anderen, zum Dienst. Wie bei Fichte ist auf diese Weise der Leib die Bedingung und das Vollzugsmedium für das ethische Wirken. Von daher könnte es für Levinas eine gute Ergänzung darstellt, wie Fichte den Leib als ein bestimmtes faktisches Tätigsein in der Welt in der Form eines Triebes analysiert, durch welchen das Subjekt unmittelbar selbst in der Welt engagiert ist und welcher, sobald er bewusst wird, in die Hand des bewussten Subjekts gestellt ist, das auf diese Weise frei durch ihn in die Welt eingreifen kann. Dasselbe gilt für die Rolle, die Fichte den leiblichen Handlungsmöglichkeiten für die Bestimmung der konkreten Pflichten des Menschen zuschreibt. Was ein Mensch tun soll, bestimmt sich ausgehend von dem, was ihm aktuell gegeben ist: durch die Situation und durch seine immer begrenzten Handlungsmöglichkeiten. Das Gewissen soll sich keine Pflichten erkünsteln, sondern am leiblich Gegenwärtigen ausrichten. Fichte spricht von einer Natürlichkeit der Tugend. Auch die Suche danach, was die umfassendere Berufung eines Menschen ist, geschieht in Bezug auf die aktuell erlebbaren Antriebe und Begabungen. Dem unmittelbaren und unauflöslichen Bezug des leiblichen Empfindens auf das Hier und Jetzt kommt dafür eine wichtige Bedeutung zu. Fichte macht ausdrücklich auf das Erfordernis aufmerksam, dass die faktischen leiblichen Wirkmöglichkeiten dafür geeignet sein müssen, mit ihnen sittlich zu handeln. Dies muss zwar nicht für alle gelten. Auch muss die Begrenzung des sittlichen Handelns weiter bestehen bleiben, die darin liegt, dass die Triebe teilweise eine Gegenkraft gegen es darstellen können und es durch die Bindung an die Triebe auf ganz bestimmte Handlungsmöglichkeiten begrenzt ist. Innerhalb dieser Grenzen bedarf es aber solcher Triebe, die grundsätzlich für ein vom Sittengesetz bestimmtes Handeln geeignet sind. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Zunächst ist dies bei Fichte ein Erfordernis dafür, dass seine ableitende Rekonstruktion der Welt nicht widersprüchlich ist. Es bekommt darüber hinaus aber auch die Form eines Postulates, wie die faktische Welt ausgehend von der Bejahung des Sittengesetzes zu betrachten ist. Levinas macht zwar auf dieses Erfordernis einer Eignung der Triebe nicht in der Weise eigens aufmerksam. Wie bereits deutlich wurde, klärt er jedoch die Funktionszusammenhänge zwischen dem, was er als Beziehung zum Anderen, und dem, was er als Leiblichkeit beschreibt, und stellt diese sehr deutlich als das passende Medium für die ethische Beziehung heraus, sowohl in ihrer Passivitätsstruktur als auch in den Möglichkeiten des aktiven Wirkens. Leibliche Handlungsmöglichkeiten sind für Ficht immer mit einem Trieb verbunden – die sittlich zu wählenden genauso wie die nicht zu wählenden. Letztere haben dadurch die Eigenschaft, vom Gesollten wegzutreiben. Handeln geschieht dadurch, dass einem Trieb gestattet wird, sich zu verwirklichen. Neben den Antrieben, bei denen es um eine bloße Realisierung geht, gibt es für Fichte solche, denen man sich in besonderer Weise überlassen soll, weil sie selbst schon auf den sittlichen Zweck orientiert sind. Im Unterschied etwa zum bloßen Antrieb, den Arm zu heben, durch welchen in einer bestimmten Situation eine Verpflichtung erfüllt werden kann, geht es um Antriebe wie Mitleid, elterliche Fürsorglichkeit oder Sympathie, in denen man über die Sorge um die eigenen Bedürfnisse hinaus auf die Bedürfnisse von Anderen orientiert ist und die insofern, wenngleich ihnen die spezifisch sittliche, auf die Pflicht um ihrer selbst willen gerichtete Motivation noch fehlt, zumindest inhaltlich schon auf eine sittliche Handlung hinstreben. In der späteren Zeit, in der Fichte davon ausgeht, dass sich die individuelle Berufung des Menschen in bestimmten Begabungen ausprägt, die auf diese Berufung orientiert sind und die selbst auf ihre Verwirklichung drängen, erfährt diese Kategorie von Antrieben, denen man sich überlassen soll, eine Ausweitung und es gehören dazu auch alle möglichen Arten von Talenten. In gewisser Weise gliedern sich in diese Kategorie auch die Somatisierungen des achtenden oder missbilligenden Gewissensurteils ein. Der Mensch soll sich diesen Gefühlen und Antrieben überlassen und sich von ihnen ergreifen lassen, aber nicht um der bloßen Befriedigung willen, sondern in der Ausrichtung auf den sittlichen Zweck. Er soll sich etwa von seiner Sympathie zur Gemeinschaft mit Freunden oder von seiner Kreativität zu einer künst846

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lerischen Tätigkeit auf eine solche Weise treiben lassen, dass dabei der Wille die Sittlichkeit um ihrer selbst willen anstrebt. Von dieser Ausrichtung her bestimmt sich auch, wie weit und auf welche Weise diese Triebe ausgelebt werden. Levinas thematisiert die Bedeutung solcher Antriebe für die Ethik nicht. Das Phänomen eines Triebes, der seinem Inhalt nach auf ein ethisches Verhalten zielt, und zwar, indem er sich befriedigt vermittels einer Befriedigung der Bedürfnisse des Anderen, findet sich jedoch bei ihm im Eros beschrieben. Die erotische Lust ist für ihn Lust an der Lust des Anderen. Bei Fichte wird der Eros in derselben Triebstruktur gefasst und entsprechend als Antrieb gewürdigt, dem man sich aufgrund seines sittlichen Potentials überlassen soll. Für Levinas ist der Eros zwar anders als für Fichte zunächst sittlich ambivalent. Denn einerseits bezieht er sich für ihn auf die zu achtende Anderheit des Anderen, andererseits verbirgt er sie zugleich und macht den Anderen zu einem Moment der eigenen Befriedigung. Es ist dabei jedoch nicht die Tatsache der Befriedigung, die den Eros ambivalent sein lässt, sondern nur die Ausrichtung auf sie. Und von daher stellt sich die Frage, ob es für Levinas nicht eine Form von Eros geben kann, die sich in der Ausrichtung auf die zu achtende Anderheit des Anderen hält und zugleich weiter insofern Eros ist, als sie das erotische Bedürfnis befriedigt. Wenn für Levinas der Ethik immer etwas dem Eigenwillen und der Orientierung auf Befriedigung Entgegenlaufendes zukommt, dann nicht, weil für ihn das Bestehen einer Befriedigung eine selbstlose Haltung verhindern würde, sondern weil zur Ausrichtung weg von sich und in die Offenheit auf den Anderen wesentlich ein Bruch des Genießens gehört. Dieser Bruch schließt den Genuss nicht überhaupt aus, sondern kann gleichzeitig mit ihm bestehen, ja muss sogar immer gleichzeitig mit ihm bestehen, da das Leben für Levinas jederzeit, eventuell ganz verborgen, einen Genuss impliziert und sich die ethische Beziehung als Genuss und Bruch des Genusses ereignet. Levinas könnte also in einer Ausweitung der Kategorie des Erotischen nicht nur von verschiedenen Antrieben ausgehen, welche die eigene Bedürftigkeit transzendieren, indem sie auf die Befriedigung eines Bedürfnisses des Anderen zielen, sondern er müsste ihre Befriedigung aus der ethischen Beziehung auch nicht heraushalten wollen. Es scheint sogar nichts dagegen zu sprechen, dass er ihnen ähnlich wie Fichte eine positive Bedeutung in der Ethik geben und sie als etwas ansehen könnte, dem man sich, weil es zu einem Wirken für den Anderen treibt, überlassen soll. Genauso wie für Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Fichte würde dies für ihn nur dann als ethisches Verhalten gelten, wenn es nicht auf die Befriedigung dieses Bedürfnisses gerichtet ist, sondern auf die Achtung des Anderen. Von seiner Sollensauslegung her würden bei Levinas diese Antriebe zwar eine stärkere Bedeutung bekommen, wenn es sich um soziale Antriebe handelt. Er könnte jedoch auch andere, etwa die Antriebe eines künstlerischen oder politischen Talents, würdigen, da für ihn zum Dienst am Anderen verschiedenste Tätigkeiten gehören, die mit der Gestaltung der Welt zu tun haben. Wie für Fichte beschränkt sich auch für Levinas das ethische Wirken nicht auf eine direkte Einflussnahme auf den Anderen, sondern kann sich zunächst nur auf materielle Dinge beziehen, um sie für den Dienst am Anderen zuzurichten: um sie als Nahrung zu sammeln, zu einer Wohnung zu bauen oder zu einem Werkzeug zu bearbeiten – von der Herstellung einfachster Hilfsmittel bis zur Entwicklung hochkomplexer Technologien. Levinas würdigt die Bedeutung der Sorge um das Materielle gegenüber einer Haltung, die darin nur eine Flucht vor den eigentlich existenziell wichtigen Fragen sieht, indem er sie als Teil des ethischen Auftrages versteht – entsprechend der fichteschen Einstellung, in der banalsten Handarbeit die Verwirklichung der eigentlichen Berufung des Menschen sehen zu können. Beide kommen so auch zu einer grundsätzlich positiven Bewertung der Technik, freilich einer, die ihr zugleich einen Maßstab gibt. Entsprechend dem, wie Fichte das durch die bloße Naturorganisation Entwickelte und sich lebendig Vollziehende, sei es den Leib selbst oder seine Umwelt, in seiner Bedeutung für die Ethik herausstellt, ist die Technisierung abzuwägen mit dem Schutz dieser natürlichen Grundlagen. Der Maßstab für die Lösung von möglichen Spannungen zwischen Technisierung und Bewahrung des von Natur aus Gewachsenen, zwischen Künstlichem und Natürlichem, wäre für Fichte wie für Levinas die jeweilige ethische Nützlichkeit, die nüchtern, ohne Technikversessenheit oder Naturvergötterung, beurteilt werden müsste. Problematisch ist bei beiden in diesem Zusammenhang, dass den Lebewesen in der Natur kein Eigenwert zugestanden wird, sondern immer nur ein Wert als Mittel für den Menschen. Indem neben einer bestimmten Gestalt der Welt und der Dinge ebenso das Selbst und seine Möglichkeiten eine Bedingung für den Dienst am Anderen darstellen, kann sich das ethische Handeln auch zunächst auf das Selbst beziehen. Levinas äußert sich dazu nur mar848

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ginal. Sein ethischer Ansatz impliziert dies jedoch genauso, und zwar schon für die ursprüngliche asymmetrische Ebene und nicht nur für die sekundäre Ebene der Gerechtigkeit. Fichte behandelt diese Thematik ausführlich. Neben der grundsätzlichen Erhaltung der eigenen Existenz, ihrer Gesundheit und überhaupt all dessen, wonach die Naturorganisation von sich aus strebt und was sie in den meisten Momenten auch von sich aus bewirkt, kommt bei ihm außerdem die Bildung der eigenen Handlungsmöglichkeiten und Fertigkeiten in den Blick. Für ihn bewirkt allein schon die Reflexion auf einen Trieb eine Veränderung an ihm, indem er durch sie erst seine deutlichere Bestimmtheit erhält und das Subjekt stärker bedrängt. Durch die Vorstellung können zudem Triebe verändert oder auch überhaupt erst geweckt werden. Beides wirkt sich nicht nur auf die aktuelle Triebstruktur aus, sondern führt über Gewöhnungseffekte zu einer bleibenden Veränderung. Besonders prägend ist darüber hinaus das tatsächliche Verhalten. Es kann die Triebstruktur, absichtlich oder unabsichtlich, zu einer besseren Eignung für das ethische Handeln bilden, sie aber genauso verbilden. Für Fichte entstehen durch eine solche Verbildung negative Antriebe, wie sie rein von Natur aus nicht vorhanden sind: Laster wie Geiz, suchtartiges Konsumverhalten, Machtgier. Anders als die bloßen Naturtriebe, die von sich aus aufgrund ihrer Außersittlichkeit zwar vielleicht zu einer Handlung treiben, die unsittlich ist, aber nicht auf Unsittlichkeit selbst, verselbständigt sich für Fichte durch ein unsittliches Verhalten eine Tendenz zu diesem. Der Leib speichert sozusagen das Verhalten. Da dieses immer auch von der Situation bedingt ist, speichert er zugleich die Prägungen von außen. Der Leib hat ein Gedächtnis und das in ihm Gespeicherte bestimmt die Handlungsmöglichkeiten in der jeweiligen Gegenwart – positiv wie negativ. Die Überwindung von Verbildungen und die positive Bildung hat sich für Fichte an dem zu orientieren, was die konkrete Aufgabe ist, für die sich ein Mensch im Leben als verantwortlich erlebt. Sie hat also nicht für irgendwelche abseitigen eventuellen Pflichten zu geschehen. Diese Überlegungen von Fichte könnten sich in Levinas’ Ansatz, welcher der Selbstsorge und Selbstbildung grundsätzlich eine Bedeutung zuweisen kann, einfügen und könnten ihn bereichern. Levinas äußert sich nur sporadisch zur Thematik der Bildung der eigenen Triebstruktur und der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Sie taucht etwa auf, wenn er religiöse Praktiken wie das regelmäßige rituelle Gebet als eine Möglichkeit würdigt, sich

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selbst zu einer Haltung der disziplinierten Ausrichtung an einem Gesetz zu erziehen. Neben diesen grundsätzlichen Übereinstimmungen in der Frage nach der ethischen Bedeutung von Handlungsmöglichkeiten und Trieben ist als Unterschied zwischen Fichte und Levinas immer zu sehen, dass diese Bedeutung nach einem verschiedenen Verständnis von Ethik bemessen wird. Für Levinas können Handlungsmöglichkeiten niemals wie bei Fichte als Momente einer Tätigkeit, die in sich selbst ihren Zweck findet, bedeutsam werden. In der Tätigkeit selbst manifestiert sich nicht das Unendliche, sondern nur in der Transzendenzbeziehung, zu der die Tätigkeit eventuell als Moment gehört. Unwillkürliches Leben – Korrektur der Freiheit Für Fichte bietet der Leib passende Handlungsmöglichkeiten für das sittliche und religiöse Leben. Diese sind für ihn sogar zum Teil als Antriebe zu verstehen, die selbst auf dessen Ziel ausgerichtet sind. Daneben passen sie aber auch aufgrund ihrer Form als Triebe auf dieses Leben, insofern Fichte es in der späteren Zeit als ein den Eigenwillen und die eigene Wahl zurückstellendes Sich-ergreifen-Lassen durch den eigenen Grundtrieb versteht. Fichte beschreibt Sittlichkeit und Religion hier letztlich nicht als etwas, das der Mensch soll, sondern das er selbst im Grunde will. Das Sollen behält zwar eine gewisse Bedeutung, wenn er mit diesem Willen noch nicht ganz eins geworden ist, schlussendlich geht es jedoch nicht darum, sich an einem Sollen zu orientieren. Dadurch bekommen die Ethik sowie überhaupt das Menschenbild eine andere, positivere Grundfärbung. Auch wird der sittliche Wille durch diese Veränderung nicht mehr als etwas betrachtet, das man erst aus sich selbst hervorbringen und machen müsste, sondern das schon da ist. Das Ich muss sich nicht zu ihm treiben und sich anstrengen, sondern kann sich an dem orientieren, was es von sich aus will – vorgängig zur Wahlfreiheit, aber doch autonom frei. Die Orientierung an der freien Wahl hat für Fichte immer mit einem falschen Interesse an der eigenen Person zu tun, damit, selbst entscheiden und machen zu wollen, selbst das Verdienst haben zu wollen, mit einer Art Werkgerechtigkeit sowie mit einem Beharren auf der eigenen vermeintlich besseren Erkenntnis. Fichte macht darauf aufmerksam, dass es nicht möglich ist, den eigentlichen sittlichen Willen, der von dieser Orientierung befreien kann, zu erzeugen, sondern nur, sich ihm zu überlassen, indem man von der Freiheit ablässt. 850

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Genau genommen kann selbst dieses Ablassen von der Freiheit nicht erfolgen, wenn nicht schon etwas da wäre, von dem man sich ergreifen lassen kann. Die Freiheit kann sich nicht selbst aus sich befreien. Für Fichte nun manifestiert sich der Affekt des höheren Lebens, der Aspekt des unwillkürlichen Wollens oder des Triebes, in den natürlichen Antrieben und ereignet sich das Sich-dem-ursprünglichenWollen-Überlassen konkret in einem Sicheinlassen auf diese Antriebe – freilich nicht einfachhin, sondern in einer sittlichen Ausrichtung. Daraus ergibt sich zumindest im Gefälle des fichteschen Gedankens, wenngleich von ihm so ausdrücklich nicht benannt, dass auch im Leib die beschriebenen Aspekte begegnen, die ein Korrektiv gegenüber der Freiheit darstellen. Hier trifft das Ich auf das, was schon da ist, was es nicht machen und hervorbringen, sondern was es sich vollziehen lassen kann. Hier begegnet ihm das, was es schon will, zu dem es nicht erst ein Sollen drängt, zu dem es sich nicht selbst zwingen und anstrengen muss. Hier kann es sich ergreifen lassen von etwas, das es aus einer falschen Fixierung auf seine Freiheit herausführt. Der leibliche Trieb allein ist dabei zwar nicht hinreichend, er führt nur zusammen mit der Ausrichtung auf den sittlichen Willen zum eigentlichen Ziel. Er ist aber notwendiges Moment und kann gerade in seinem Triebcharakter ein wichtiges Korrektiv für das wählende Wollen sein. Korrigiert werden dabei freilich nur die negativen Aspekte dieses Wollens. An sich ist die Freiheit für Fichte genauso notwendig, da das Subjekt nur in ihr vom bloßen Naturtrieb gelöst ist und sich auf den sittlichen Trieb ausrichten kann. Auch behält sie eine bleibende integrale Bedeutung, indem es nicht darum geht, einfach ergriffen zu werden, sondern sich in dieser Ausrichtung ergreifen zu lassen. Der Leib bekommt auf diese Weise als unwillkürliches Leben und Trieb zu diesem Leben eine positive Funktion. Es handelt sich um eine Art Passivität, aber nicht um eine transzendierende Passivität. Deren Bedeutung wurde bereits thematisiert. Sie ist bezogen auf das ganze Subjekt, das von einem Anderen betroffen ist. Hier geht es um die Passivität, die, bezogen auf die freie Wahl, das unwillkürliche eigene Leben und Tätigsein darstellt. Spielt so etwas auch in der levinasschen Beschreibung der Beziehung zum Unendlichen eine Rolle? Auch bei ihm wird die Freiheit einerseits für die Ethik benötigt und kann sie andererseits problematisch werden. Sie kann sich egoistisch auf sich ausrichten oder auch innerhalb eines zunächst ethiLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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schen Verhaltens die eigentliche Öffnung zum Anderen stören. Problematisch ist, wenn der Mensch nicht selbstverständlich gibt, sondern sich dabei um seine eigene Tat und ihre Großzügigkeit kümmert. Problematisch ist für Levinas jede ethische Haltung, in welcher die freie Zustimmung zur Infragestellung zum Anderen nicht ganz aus dieser Infragestellung sowie der daraus erwachsenden spontanen vorfreien Antwort lebt und sich in sie zurückbindet. Neben der heteronomen Forderung gehört für Levinas dabei genauso das selbstverständliche Gebenwollen, die spontane, vorfreie Antwort auf die Forderung, zum ethischen Ereignis. Sie ist notwendig, damit das Subjekt als Beziehungspol in einer Beziehung Getrennter erhalten bleibt. Das getrennte Subjekt konstituiert sich leiblich als selbständiger Vollzug und dieser wird in der Infragestellung zu einem autonomen Setzen der ethischen Bedeutung. Dieser selbstverständliche ethisch auf den Anderen ausgerichtete Wille verhält sich zur freien Wahl ganz ähnlich wie bei Fichte. Er ist nicht etwas, was man erst machen und hervorbringen muss, sondern man kann sich davon ergreifen lassen. Die Freiheit muss diesen Willen nicht als Sollen betrachten, sondern als etwas, was sie selbst schon will. Insofern können die leiblichen Handlungsmöglichkeiten und Antriebe, in denen sich dieses Wollen als Geben und Dienen verwirklicht, ähnlich wie bei Fichte ein Korrektiv sein. In ihnen begegnet der Freiheit etwas, was schon da ist, was sie schon will, von dem sie sich ergreifen lassen und so aus der Fixierung auf die Freiheit befreien lassen kann. Dies gilt besonders natürlich für die selbst schon sozialen oder sympathetischen Antriebe, die, wie gezeigt wurde, auch in Levinas’ Ansatz einen Platz haben können. Es gilt aber auch für die gewöhnlichen leiblichen Handlungsmöglichkeiten und Antriebe. Der Unterschied zu Fichte besteht freilich darin, dass für Levinas die freie Antwort auf die Infragestellung und das freie Wirken idealerweise nicht nur rückgebunden bleiben an die Autonomie, sondern in die vom Anderen ausgehende Heteronomie, die der Autonomie zugrunde liegt. Deshalb behält für ihn auch ein Sollen eine letzte Bedeutung. Die Heteronomie ist nicht das Sollen, wie es aus dem Gegenüber von ursprünglichem autonomen Wollen und freier Wahl entsteht – dieses muss auch für Levinas überwunden werden –, sondern es ist ein vom Anderen ausgehendes Sollen, wie es sich bei Fichte nicht findet. Die Rückbindung der Autonomie an diese Heteronomie geschieht innerlich, aber auch leiblich, in der Form der transzendierenden Passivität. Diese muss deshalb zum Sich-ergreifen-Lassen von den faktischen leiblichen 852

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Antrieben hinzukommen. Das Ich muss im Leib zugleich zum Anderen hin geöffnet sein. Wenn ein Mensch etwa einem Freund hilft, getragen von einem Gefühl der Sympathie oder auch nur von seinen spontanen Handlungsimpulsen, wenn das Leibliche ihm dabei hilft, aus dem freien Machen und Wollen sowie aus dem gegenüber der Freiheit bestehenden Sollen herauszukommen, und wenn sich in ihm das spontane selbstverständliche Wollen dieser Hilfe vollzieht, dann muss dieses Wollen zugleich auf den Anderen ausgerichtet sein, muss es sich von dessen Infragestellung als Wollen brechen lassen und muss sich dies außerdem konkretisieren, indem zum spontanen Wirken eine leibliche Öffnung auf das Betroffenwerden durch den Anderen hinzukommt, in der es sich ihm ausgesetzt sein lässt. Die direkte leibliche Manifestation der Autonomie als Moment der Heteronomie muss man wohl in dem Selbstvollzug sehen, der unmittelbar zur leiblichen Passivität gehört. Diese kann das Subjekt nur betreffen und in ihm ankommen, wenn sie sich in ihm ereignet als sein Ausgesetztsein und sein Sich-immer-weiter-ausgesetzt-seinLassen. Daneben manifestiert sich die Autonomie jedoch auch in den sonstigen spontanen leiblichen Vollzügen, die notwendig sind, wenn sich das In-Frage-gestellt-sein-Lassen in eine Aktivität verlängern muss, und die ebenso zum Anderen hin geöffnet sein können. Insofern kann bei Levinas das unwillkürliche leibliche Tätigsein einerseits eine ähnliche Bedeutung bekommen wie bei Fichte. Das Unendliche ereignet sich in ihm andererseits aber nur – und darin liegt der Unterschied –, wenn es Moment der transzendierenden Passivität ist. Oben hat sich gezeigt, dass für Fichte umgekehrt die transzendierende Passivität Moment der sittlichen Tätigkeit ist. Aufgrund der verschiedenen Sollensauslegungen versteht Levinas Ethik letztlich als transzendierende Passivität und Fichte als unwillkürliche Tätigkeit, aber sekundär bekommt bei beiden auch das andere als Moment eine Bedeutung. Ein weiterer Unterschied lässt sich in der Frage feststellen, welchen Stellenwert die Freiheit hat und wie korrekturbedürftig sie von daher ist. Zwar besteht auch für Levinas das Ideal darin, dass die Freiheit sich ganz ergreifen lässt von ihrer eigenen vorfreien Tätigkeit sowie darüber hinaus vom Anderen, aber sie muss dabei nicht völlig davon ablassen, sich selbst zu würdigen. Bei Fichte vergisst sie sich idealerweise ganz. Die freie Wahl ist nur etwas, das aufgrund von Begrenzung entsteht. Das göttliche Leben lebt unwillkürlich. Für Levinas hat sie einen höheren Stellenwert, weil sie notwendig zur geLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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trennten Personalität gehört. An diesem Status der Wahlfreiheit bemisst sich, wie weit ihr das rein unwillkürliche leibliche Leben ein Korrektiv sein kann. Möchte man das fichtesche Denken so modifizieren, dass das Personale eine letzte Bedeutung erhält, muss man sich mit der Frage beschäftigen, ob zum Personalen wie für Levinas auch die Wahlfreiheit gehört. Die Leiblichkeit kann eine Korrektur für die Freiheit sein, die sich aus dem unwillkürlichen Wollen sowie aus dem, was bereits da ist und nicht erst hergestellt werden muss, herausgenommen hat. Sie kann daneben aber auch ein Korrektiv für weitere problematische Aspekte der Freiheit sein. Thematisiert wurde bereits die Bedeutung der Passivität, aus der sich die Freiheit zurückziehen kann. Der folgende Abschnitt handelt vom Leben, das in sich selbst eine Erfüllung findet und das dadurch gestört werden kann, dass die Freiheit sich auf etwas außerhalb Liegendes ausrichtet. Der übernächste Abschnitt handelt von den Möglichkeiten der freien Reflexion, das unmittelbare leibliche Erleben der Wirklichkeit zu verfälschen und sich sogar ganz aus dem Kontakt zum Hier und Jetzt und damit aus der Realität in eine vorgestellte Welt zurückzuziehen. Im drittnächsten Abschnitt wird die Bedeutung der Bestimmtheit, der Konkretheit oder der qualitativen Fülle im Leiblichen thematisiert, welche durch das der freien Reflexion eigene Vermögen der Abstraktion überstiegen werden kann. Als beschrieben wurde, wie die Leiblichkeit eine erste Befreiung aus einem Zustand der Absurdität eröffnet, wurde dies mit weiteren problematischen Aspekten der Freiheit in Beziehung gesetzt. Sie kann sich ganz aus dem Sinnerleben zurückziehen, das leiblich immer auf eine Weise präsent ist. Sie kann den Menschen den Kontakt mit der eigenen Identität verlieren lassen, während der Leib ihn zumindest in seiner Genussidentität hält. Auch kann sie die ursprüngliche Sammlung des Geistes, wie sie leiblich immer gegeben bleibt, verlassen. Als weitere problematische Potenziale der Freiheit wurden bereits hervorgehoben: die Möglichkeit der Entscheidung zum Bösen, die Möglichkeit von Verstellung und Lüge sowie die Möglichkeit zur Verbildung der natürlichen Triebe. Auch sie wurden parallelisiert mit positiven Eigenschaften des Leibes: einer leiblichen Unschuld, Authentizität und Unverbildetheit. Die Leiblichkeit erscheint jeweils einerseits als ein mögliches Korrektiv, andererseits jedoch als etwas, das selbst nur einen Teil zum Ereignis des Unendlichen beitragen kann und alleine dafür nicht hinreichend ist. Sie ist umgekehrt angewiesen auf die in der Freiheit liegenden Möglichkeiten der Distanznahme, 854

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der Lenkung der Aufmerksamkeit, der Reflexion und Abstraktion, aus denen die beschriebenen Gefahren erwachsen. Selbstzweckliches, spielerisches Leben Eine Entsprechung zwischen der Form der ethischen Tätigkeit und der der leiblichen Tätigkeit lässt sich bei Fichte auch in der Selbstzwecklichkeit von beiden feststellen. Das sittliche Leben hat seinen Zweck letztlich im von ihm selbst vollzogenen Leben des einen Daseins, ohne einen äußeren Zweck, in einfacher Einheit mit sich. Auch wenn es sich auf die anderen Menschen ausrichtet, bezieht es sich dabei letztlich auf das Leben des einen Daseins, das in ihm selbst schon lebt. Die leiblichen Triebe richten sich zwar auf etwas Äußeres und nicht auf das einfache Leben selbst, doch nur um des eigenen Lebens willen, das für sich selbst – wenn auch, als Leibliches, nicht an sich – der letzte Zweck ist. Um ins ethische Leben zu kommen, muss das Subjekt diese Orientierung des leiblichen Triebes auf etwas Äußeres zwar überwinden und sich rein auf das Vernunftleben ausrichten, es verwirklicht dieses Leben jedoch im Leiblichen und hier kann dessen Selbstzwecklichkeit eine positive Bedeutung bekommen. Greifbar wird dies, wenn Fichte beschreibt, wie sich Sittlichkeit darin realisieren kann, ganz in der Verwirklichung eines Talentes aufzugehen, ohne dabei irgendetwas Anderes bezwecken zu wollen, in der Ausrichtung bloß auf die Betätigung dieses Talents, in Unabhängigkeit von jedem äußeren Erfolg, aber mit dem Vertrauen, dass diese Betätigung selbst innerlich hingeordnet ist auf die Verwirklichung des ganzen Daseins auch in den anderen Vernunftwesen. Levinas stellt ähnlich wie Fichte heraus, dass das leibliche Triebleben für sich selbst Zweck ist. Er beschreibt es von daher als etwas Spielerisches. Das Subjekt strebt zwar nach einem Äußeren, von dem es im Genießen abhängig ist, strebt danach aber für sich, für den Genuss. Diese völlige Unabhängigkeit von einem äußeren Zweck ist für ihn bedeutsam als Ereignis der Trennung. Sie ist die Basis für eine Beziehung, die nicht eine des Bedürfens und Brauchens des Anderen ist. Sie muss zwar in der ethischen Beziehung überwunden werden hin zu einer Ausrichtung auf den Anderen. Insofern der Genuss jedoch die bleibende Basis ist und eine integrale Bedeutung behält, insofern sich die Beziehung zum Anderen als Genuss und Bruch des Genusses ereignet, behält auch diese spielerische Unabhängigkeit Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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und Selbstzwecklichkeit einen bleibenden Sinn, wenn auch nur als gewissermaßen weggegebene, als Egoismus, auf den der Andere ein Recht hat. Ein Unterschied besteht zu Fichte in der Weise, wie die Selbstzwecklichkeit des leiblichen Triebes eine Bedeutung besitzt: nicht als Manifestation einer höheren ethischen Selbstzwecklichkeit und immer nur als gebrochene. Als weiterer Unterschied lässt sich außerdem festhalten, dass für Fichte neben der bloßen Bedürfnisbefriedigung ein für sich selbstzweckliches Leben auch im freien Wirken möglich ist, da es diesem um die freie Tätigkeit rein um der freien Tätigkeit willen gehen kann. In Levinas’ Ansatz ist dies nicht möglich. Auch das Arbeiten, obschon es sich idealerweise immer zugleich an seinem eigenen Arbeiten befriedigt, zielt dabei nicht auf die Tätigkeit um ihrer selbst willen, sondern auf den Genuss. Leiberleben und Gotterleben Entsprechungen lassen sich nicht nur zwischen dem leiblichen und ethischen Leben, sondern auch zwischen dem Erleben des Leibes und dem Erleben des Subjekts in seinem ethischen Bezug feststellen. Für Levinas darf zwar weder die Ethik noch die Beziehung zum Unendlichen letztlich als Erleben verstanden werden, sondern beide nur als tätige, aus einer Ergriffenheit durch den Anderen lebende Hingabe. Zu dieser gehört für ihn aber als Moment eine Erfahrung durchaus hinzu. 1235 Für deren spezielle Form der Nichtgegenständlichkeit im Unterschied zum objektivierenden Bewusstsein greift Levinas den husserlschen Begriff des Erlebens auf. Die Nähe der Intentionalität des Leibes zu der zum Anderen sowie zum Unendlichen arbeitet Levinas deutlich heraus. Zunächst findet er im Leibbewusstsein neben der objektivierenden Intentionalität ein von ihr vorausgesetztes vorgegenständliches Selbsterleben, etwa als Basis für die Wahrnehmung eine Kinästhese, ein Erleben der eigenen leiblichen Bewegung. Dieser erste Schritt über die der Lebendigkeit des Realen immer inadäquate Objektivierung hinaus wird bei Levinas in einem zweiten Schritt noch vertieft durch den Aufweis einer Intentionalität, in wel-

1235 Insofern hat es m. E. eine Berechtigung, wie Erwin Dirscherl (2006) von Levinas her die Bedeutung der Sinnlichkeit für ein »Gespür für die unmittelbare Nähe Gottes und des anderen Menschen« (193) sowie für eine vom Spüren her verstandene Spiritualität aufzeigt, auch wenn er m. E. zu wenig herausstellt, dass Levinas den Aspekt des Erlebens dem der Gabe radikal unterordnet.

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cher das Subjekt leiblich sogar über den eigenen Leibvollzug, das eigene Können, hinaus bezogen ist auf ein exteriores Anderes. Entsprechend diesem Erleben des Betroffenseins durch eine Exteriorität versteht Levinas das Erleben des ethischen Betroffenseins durch den anderen Menschen und des Betroffenseins durch das Unendliche. Beides ereignet sich für ihn außerdem konkret in der leiblichen Passivität. Das Leiberleben ist von daher ein adäquater Zugang zum Gotterleben. Dies gilt zumindest in Bezug sozusagen auf die Form. Inhaltlich trifft das Subjekt ein anderer Bedeutungsgehalt: nicht mehr ein Anderes, das es nährt, zugleich sich entzieht und es bedroht, sondern ein Anderer, der es in seiner Heiligkeit fordert. Der Bezug zu diesem erfolgt jedoch über die leibliche Passivität. Welche Bedeutung sie hat, wird deutlich, wenn Levinas die Beziehung zum Anderen und zum Unendlichen als Berührung, als Nähe oder als Verwundung beschreibt. Der Aspekt des Erlebens ist besonders in der Beschreibung als Sensibilität enthalten. Indem Levinas die Leibintentionalität in ihrer Unterschiedenheit zur objektivierenden Intentionalität herausarbeitet und diese als ungeeigneten Erkenntniszugang zur Wirklichkeit problematisiert, tritt das Leiberleben zudem deutlich in seiner Funktion als deren Korrektiv hervor. Für Fichte lässt sich eine ganz ähnliche Übereinstimmung zwischen dem Leiberleben und dem Erleben des göttlichen Daseins feststellen, wenngleich er diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich thematisiert. Auch für ihn ist der Ausgangspunkt für alle Objektivierung ein vorgegenständliches Selbstgefühl des lebendigen leiblichen Tätigseins und seiner Begrenztheit und Bestimmtheit. Zwar erschließt sich in ihr noch nicht das innerste Leben des Vernunftsubjektes oder das göttliche Leben, wohl aber zum einen dessen Innerlichkeit im Gegenüber zur objektivierenden und veräußerlichenden Vorstellung sowie zum anderen dessen Lebendigkeit, dass es nicht nur totes vorhandenes Sein sondern Aktivität ist, und zwar als ein Selbstvollzug. Dem Kontakt mit dem göttlichen Leben steht das ursprüngliche Leiberleben zudem insofern näher, als es sich noch nicht, wie dies durch die Reflexion geschieht, auf eine feste Bestimmtheit grenzscharf fixiert hat, sondern die Bestimmtheit in ihrem ursprünglichen lebendig fließenden Zustand enthält, der dem Subjekt eine größere Freiheit lässt. Auch dass das Leiberleben nicht wie die Vorstellung aus dem Gegenwartsbezug, aus dem Jetzt und dem Hier, sowie aus dem Wirklichkeitsbezug heraustreten kann, lässt es dem rein gegenwärtigen Kontakt mit dem göttlichen Leben näher sein. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Das Leiberleben kann das Subjekt deshalb über die Entfremdungen, welche mit der Vorstellung einhergehen, hinausführen. In der ›Anweisung‹ hebt Fichte hervor, wie wichtig dieser Schritt für die Vereinigung mit dem göttlichen Leben ist. Fichte untersucht die mögliche Rolle des Leiberlebens bei diesem Schritt zwar nicht explizit, vor dem Hintergrund seiner Analyse ergibt sich jedoch, dass es ähnliche Grundzüge aufweist, dass es korrigierend wirken und dass es darüber hinaus einen Zugang zum göttlichen Leben eröffnen kann, auch wenn es mit diesem nicht schon im vollen Sinn eins ist. Indirekt bestätigt sich dies durch Fichtes Beschreibungen eines Leib- und Naturerlebens, in denen eine Erfahrung des göttlichen Lebens hervortritt. Sein Ansatz kann erklären, wie so etwas möglich ist. Indem das Leibleben in einer ursprünglichen Einheit mit der ganzen Naturorganisation steht, die erst durch die Reflexion differenziert und vom eigenen Organismus unterschieden wird, kann im Leib eine Verbundenheit mit der Einheit des Daseins und in ihr mit der göttlichen Wirklichkeit unmittelbar erfahren werden. Wie für Levinas besteht für Fichte trotz der Unterscheidung der Leiblichkeit vom eigentlichen Ereignis des Unendlichen eine große Ähnlichkeit zwischen Leiberleben und Gotterleben, zumindest in verschiedenen formalen Aspekten. Der Kontakt zum Unendlichen muss für ihn zwar nicht über den Leib erfolgen wie für Levinas, das Leiberleben kann jedoch einen Zugang dazu darstellen und es kann zudem helfen, die Mängel der Vorstellung und der freien Reflexion, in denen wir uns zunächst meistens aufhalten, zu korrigieren. Der Hauptunterschied ist, dass es für Fichte um das Erleben einer lebendigen Tätigkeit geht und Levinas darüber hinaus um das einer Transzendenzbeziehung. Während für Fichte leibliche Einheitserfahrungen eine positive Rolle spielen können, verstellen diese für Levinas die eigentliche Beziehung zum Unendlichen. Daneben bekommt das Erfahrungsmoment, das Moment der Betrachtung Gottes, bei Fichte insgesamt eine größere Bedeutung als bei Levinas. Die wesentliche Konkretion oder Bestimmtheit des Lebens im Leib Eine Übereinstimmung lässt sich zwischen Fichte und Levinas in dem Grundanliegen feststellen, die konkrete Bestimmtheit des Lebens nicht nur als etwas anzusehen, in dem sich das leibliche Leben immer schon faktisch findet und das in die Liebe seines Lebens als Liebe zu 858

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einem bestimmten Leben einbezogen ist, sondern diese Bestimmtheit zudem als etwas nicht Unwesentliches oder Irrelevantes zu betrachten, das zum Ereignis des Unendlichen nur als etwas Äußerliches hinzutritt. Bei Levinas wurzelt dieses Anliegen in der phänomenologischen Tradition, die er u. a. dafür wertschätzt, dass sie gegenüber der in der Philosophie immer naheliegenden Abstraktion die Existenz in der Fülle ihrer konkreten Bedeutungsgehalte erschließen möchte. Wie sich für ihn in der Beziehung zum Anderen nicht einfach nur etwas entfaltet, was schon in der Struktur der Beziehung zum Unendlichen greifbar ist, sondern den Bedeutungsgehalt dieser Struktur vertieft und füllt, so wird für ihn die Beziehung zum Anderen – und damit indirekt ebenso die zum Unendlichen – durch die Leibgestalt, in der sie sich vollzieht, konkretisiert. Fichtes Motivation ist eine andere. Im Nachvollzug der Entwicklung von der frühen Sittenlehre bis zur Anweisung wurde deutlich, wie ihn die Frage nach der Herkunft der faktisch gegebenen unableitbaren Bestimmtheit des Lebens dazu führt, ihren Ursprung im göttlichen Leben zu verorten und dieses als selbst qualitativ anzusehen. Eine Gemeinsamkeit zu Levinas besteht zwar darin, dass auch bei Fichte aufgrund dieses Gedankens die Bestimmtheit als etwas betrachtet wird, das nicht als etwas eigentlich Irrelevantes und Äußerliches zum Ereignis des Unendlichen nur hinzukommt. Auch ist sie für ihn, obwohl Ausfaltung des göttlichen Wie, unableitbar. Neben der Methodik besteht ein Unterschied zu Levinas aber dadurch, dass dieser den Zusammenhang mit Gott nicht in der Weise wie Fichte als Ausfaltungsverhältnis beschreiben und entsprechend auf ein ursprüngliches göttliches Wie schließen könnte, da er die Beziehung zum Unendlichen nicht als Teilhabebeziehung fasst. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass für Fichte die konkrete Bestimmtheit als Bestandteil der Identität des Individuums bedeutsam ist und er über der leiblichen Bestimmtheit eine Bestimmtheit des geistigen Lebens des Individuums annimmt. Eine solche Unterscheidung von leiblichem und geistigem Charakter wäre in Levinas’ Ansatz nicht möglich, weil das Subjekt ursprünglich nur leiblich ist und sich das Geistige mit Hilfe der Beziehung zum Anderen aus dem Leibleben heraus entwickelt. Die ethische Höhe des Subjekts beschreibt Levinas als etwas gerade nicht durch eine Bestimmtheit Ausgezeichnetes, als etwas Abstraktes. Gegen die Annahme eines individuellen Grundcharakters des Leibsubjektes spricht zwar in Levinas’ Ansatz nichts, so etwas Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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wird von ihm jedoch nicht thematisiert. Wenn er sich dagegen richtet, Individualität nur von einer unterschiedenen Bestimmtheit her zu verstehen, dann widerspricht dies Fichte nicht, denn für diesen besteht die Individualität nicht im individuellen Charakter, sondern im unvertretbaren Subjektsein und dieses ist mit dem Charakter nur wesentlich verbunden. Die Dinge und Gott Auch das Materielle, das nicht zum Leib eines Menschen gehört, sondern Sache oder Ding ist, muss aufgrund seines engen Zusammenhangs mit dem Leib auf seine religiöse Bedeutung hin befragt werden. Diese Frage schließt für Fichte wie für Levinas gleichfalls das Materielle ein, das zum Leib eines Lebewesens gehört, welches nicht ein der Sittlichkeit fähiges Vernunftwesen ist. Dass beide ein Problembewusstsein bei dieser Identifikation von Lebewesen und Ding vermissen lassen, ist bereits herausgestellt worden. Abgesehen davon scheint es jedoch zumindest möglich zu sein, wie Fichte und Levinas von bloßen Dingen, die für sich keinen Eigenwert haben, auszugehen und nach ihrer ethischen und religiösen Bedeutung zu fragen. Manche der Aspekte, die dabei hervortreten, etwa die Bedeutung der Dinge als Mittel für die Arbeit oder für die Kommunikation, können auch auf andere Lebewesen sowie andere Menschen Anwendung finden, solange man sie dabei nicht ganz in der jeweiligen Funktion aufgehen lässt. Für beide kommt dem Materiellen, das den Dingen zugrunde liegt, für sich kein Wert zu und es kann sich somit das Unendliche weder in ihm allein noch in der Beziehung zu ihm ereignen, sondern nur insofern es Mittel ist in der Beziehung zum Menschen oder direkt zu Gott. Mit dem Wert wird dem Materiellen freilich nicht zugleich auch die Wirklichkeit abgesprochen. Die Dinge in ihrer Identität sind zwar für beide vom Subjekt konstituiert und nicht an sich. Ihnen liegt jedoch ein reales Materielles zugrunde. Dieses ist nicht bloßer Schein. Für Levinas kommt ihm sogar eine Eigenwirklichkeit zu, die ähnlich wie die des Anderen unabhängig ist von jeder von uns feststellbaren Finalität. Die Begegnung mit dieser Eigenwirklichkeit besitzt für Levinas zwar zunächst nur eine negative religiöse Bedeutung. Wie dies oben im Abschnitt zur Gefahr einer Naturvergötterung thematisiert wurde, ist für ihn die Nacktheit der Dinge Anlass für uneigentliche Transzendenzbeziehungen. Innerhalb seines Ansatzes ist es jedoch 860

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möglich, dieser Nacktheit daneben, wenn auch nur als Moment der Beziehung mit dem Anderen, zugleich eine mögliche positive Bedeutung zuzuschreiben, indem sie herausführt aus der Einbindung des Begegnenden in die eigene Finalität und indem sie als Ereignis der Absurdität des Es-gibt ein notwendiges Moment der Transzendenzbeziehung manifestiert. Für Fichte kommt den materiellen Dingen zwar eine Eigenwirklichkeit zu und sie verdienen es, als solche wahrgenommen zu werden. Sie gehen auch nicht in der selbstbezogenen Finalität des Individuums auf und können diese somit durchbrechen. Sie behalten jedoch eine finale Einbindung dadurch, dass sie ein unselbständiges Moment der Entfaltung des einen Daseins sind. Ein Durchbrechen überhaupt der Finalität, eine Begegnung mit der Absurdität, würde für Fichte von seinem Ansatz her ohnehin keine positive Bedeutung haben können. Gerade insofern das Materielle in das eine Dasein final eingebunden ist, kann die Begegnung mit ihm und ein Erleben der Einheit mit ihm in der einen Naturorganisation, wie dies ebenfalls oben schon herausgestellt wurde, als Teilmoment eine positive Funktion in der Vereinigung mit dem einen Dasein bekommen. Insofern kann für Fichte, anders als für Levinas, der eine solche Vereinigung nur als Herausfall aus der Transzendenzbeziehung ansehen könnte, eine Naturmystik eine positive Bedeutung haben. Von einer Gegenwart des Lebens des einen Daseins und von einer Lebendigkeit wäre dabei nicht nur zu sprechen in Bezug auf die Lebewesen, sondern auch in Bezug auf das, was man die unbelebte Natur nennt. Vor allem sind die Dinge für beide dadurch ethisch bedeutsam, dass sich der Leib sozusagen in die Dinge verlängert. Über dessen Entstehung aus der Naturorganisation bzw. der Fruchtbarkeit, über die Abhängigkeit von Nahrung im weitesten Sinn sowie die Abhängigkeit der weiteren Entfaltung der selbstbezogenen Existenz von der sie umgebenden Welt als Mittel des Wohnens und Arbeitens ist der Leib unlösbar mit der Dingwelt verbunden. Auf diese Weise bekommen die Dinge in einigen Punkten dieselbe ethische und religiöse Bedeutung wie der Leib selbst. Auch in ihnen ist das Subjekt durch den Anderen angreifbar und kann diesen angreifen. Über sie ist eine Kommunikation möglich. Über sie verwirklicht sich das Geben und der Dienst am Anderen. Von vornherein stehen die Dinge deshalb in einem ethischen Bedeutungshorizont, sind Mordwerkzeug und Gabe. Auf diese Weise würde man ihre Bedeutung von Levinas her ausdrücken. Für Fichte haben die Dinge jedoch, indem er die Beziehung Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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zum Anderen ebenso leiblich vermittelt und den Leib ebenso abhängig sieht von der Dingwelt, auf dieselbe Weise eine ursprüngliche ethische Konnotation. Sie sind für ihn von vornherein als Mittel der Verwirklichung von Ethik zu achten und entsprechend zu behandeln. Die materielle Welt, wie sie der Mensch als Natur findet, ist für Fichte so zu gestalten, dass sie der Verwirklichung seiner eigentlichen Bestimmung dienlich ist. Es ist im Abschnitt über die Bedeutung des leiblichen Tätigseins schon darauf hingewiesen worden, wie Fichte, in Übereinstimmung mit Levinas, von daher zu einer grundsätzlich positiven Einstellung gegenüber der Technik kommt. Fichte stellt zwar ebenso heraus, dass das in der Natur Gewachsene selbst schon eine gewisse Eignung für Sittlichkeit besitzt und deshalb zu achten ist – Levinas könnte ihm hier zustimmen. Indem Fichte dies auf die Naturorganisation und somit auf das innere Gesetz des göttlichen einen Lebens zurückführt, kommt für ihn dadurch der Natur eine Erhabenheit zu, die eine Art von Verehrung verdient. Aber dabei muss die Natur nie um ihrer selbst willen geachtet, sondern kann frei auf den ethischen Zweck hin gestaltet werden. Dies kommt bei Fichte besonders darin zum Ausdruck, dass er utopisch als Ziel formuliert, es müsse dem Menschen die ganze Welt das werden, was ihm sein Leib ist, etwas, das sich unmittelbar seinem Wirken fügt. Der Eigenständigkeit des Materiellen kommt hierbei kein Wert zu, für Fichte auch nicht den Lebewesen. Außerdem ist für den ethischen Umgang mit den Dingen bedeutsam, wie für ihn deshalb, weil die Menschen eine gemeinsame Welt als Medium ihrer Selbstverwirklichung haben, immer die Gefahr besteht, mit dem eigenen Gebrauch der Dinge den möglichen Gebrauch durch den Anderen einzuschränken. Daraus folgt für Fichte die Pflicht der Errichtung einer Eigentumsordnung. Innerhalb von Levinas’ Ansatz wäre dies nachvollziehbar, und zwar schon für die ursprüngliche asymmetrische ethische Ebene. Gleichwenn hier aller Besitz letztlich dem Anderen zur Verfügung gestellt werden muss, kann zum einen dadurch ein Konflikt entstehen, dass das Ich als Bedingung des Dienstes für den Anderen einen Teil davon für die Selbstsorge verwenden muss, zum anderen dadurch, dass es im Wirken für den Anderen Dinge gebrauchen muss, die es dabei möglicherweise zugleich seiner Verfügung entzieht. Das von ihm beschriebene Dilemma, dass das notwendige Engagement für den Anderen immer zugleich eine Gewalt darstellt, muss sich ebenso auf den Gebrauch der Dinge beziehen, der, auch wenn sie für den Anderen gebraucht werden, in der Gefahr steht, den Anderen einzuschränken. 862

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Zusammen mit der Pflicht der Errichtung einer Eigentumsordnung besteht für Fichte die Pflicht, selbst Eigentum zu erwerben und auf eine Weise zu gestalten, dass es leicht verfügbar ist für das sittliche Handeln, sowie die Pflicht, dem Anderen zu Eigentum zu verhelfen, sofern er dies nicht selbst vermag, und sein Eigentum zu achten wie seinen Leib. Der grundlegende Unterschied in der Bedeutung des Leibes und der Dinge entsteht dadurch, dass im Leib oder besser als Leib das Subjekt selbst lebendig lebt. Während der Leib immer zu achten ist wie der Andere selbst, kann dies bei den Dingen verschieden sein – je nachdem, wie sie der Andere für seinen Selbstvollzug benötigt oder schon in seinem Besitz oder seinem Gebrauch hat. Trotz dieses radikalen Unterschiedes kann die Grenze zwischen Leib und Ding freilich fließend sein. Bei Fichte wird der Übergang vom Leib, der das Subjekt ist und in dem es selbst unmittelbar handelt und wahrnimmt, zu einem Instrument, welches das Subjekt hat und gebraucht, bereits greifbar durch die Differenz von artikuliertem und organisiertem Leib. Sie fallen für ihn nicht einfach zusammen. Teile des organisierten Leibes sind nicht in gleicher Weise direkter Selbstvollzug des Subjekts wie andere, auch wenn sie nicht in dieser Differenz erlebt werden müssen – durch die unmittelbare Verbindung, in der sie durch die organische Einheit mit dem artikulierten Leib stehen, aber vor allem dadurch, wie sie in das Wirken des Subjekts einbezogen sind. Auf dieselbe Weise können dann auch Dinge, die nicht zum organisierten Leib gehören – Werkzeuge im weitesten Sinn, seien sie eng mit ihm verbunden wie Prothesen oder weniger eng –, einbezogen und sozusagen einverleibt werden. Ein Musiker etwa kann sein Instrument dadurch wie einen Teil seiner selbst empfinden. Die Dinge werden in der Beziehung des Ich zum Anderen dadurch bedeutsam, dass sie jeweils als Mittel für den eigenen Selbstvollzug gebraucht werden. Daneben kann sich das Subjekt in ihnen aber auch unabhängig davon in Beziehung zum Anderen erleben. Levinas macht darauf aufmerksam, wie sich auf alle Dinge vom Anderen her die Spur des Gesichts überträgt. Insofern die Beziehung zum Anderen über die Dingwelt insgesamt vermittelt ist, kann sie an allen Dingen aufscheinen. Auch insofern kann sich über sie das Unendliche ereignen. Hier geschieht dies ebenso nicht unabhängig vom Anderen. Ein Gesicht tragen die Dinge nur vom Gesicht des Anderen her. Nur in diesem drückt sich die aktuelle Gegenwart des SubLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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jekts aus. Daneben thematisiert Levinas noch eine weitere Weise, wie eine Sache Moment der Beziehung zum Anderen werden kann, und zwar in seiner Beschreibung der Kunst als unmittelbarer Ansprache des Rezipienten durch den Künstler. Ein Gedicht ist etwa auf eine Weise gestaltet, dass es unmittelbar wahrnehmbar wird als eine Hinwendung des Dichters an den Leser. In diesem Zusammenhang hebt Levinas hervor, dass sich darüber hinaus in der Begegnung mit jedem Schriftstück die Beziehung zum Anderen aktualisieren kann. Etwas Vergleichbares findet sich bei Fichte beschrieben, wenn er darauf aufmerksam macht, wie einige Dinge als sogenannte Kunstprodukte von sich aus auf den Menschen als ihren Urheber verweisen. Dies geschieht seiner Analyse nach dann, wenn die verschiedenen Momente einer Sache als final geordnet aufgefasst werden müssen, aber auf eine Weise, dass sie nicht als aus sich organisiert erscheinen, sodass das Wesen hinzugedacht werden muss, das sie mit einem bestimmten Zweck gestaltet hat. Den Unterschied zwischen Ding und Leib, der darin liegt, dass allein im Leib das Subjekt lebendig wahrnehmbar ist und es in den Dingen nur mittelbar präsent wird, stellt Fichte hierbei ähnlich wie Levinas dar. Levinas’ Beschreibung, wie sich auf die Dinge, auch unabhängig von einer Gestaltung durch den Menschen, die Dimension der ethischen Beziehung übertragen kann, könnte von ihm geteilt werden. Den verschiedenen Weisen der Bezugnahme auf den Anderen über die Dinge würde jedoch für ihn nur eine Bedeutung zukommen, insofern sie für die ethische Tat notwendig sind, und nicht als direkte Bezugnahme auf den Anderen, in der sich für Levinas das Unendliche ereignet. Wie im Abschnitt über das Gebet noch herausgestellt wird, ist es für beide Autoren sinnvoll, sich neben dem Ereignis des Unendlichen in der Ethik auch direkt auf Gott zu beziehen, sich auf ihn auszurichten, ihn anzusprechen oder mit Anderen über diese Gottesbeziehung zu sprechen. In dieser Kommunikation können neben dem bloß inneren Denken und Sprechen und neben dem leiblichen Ausdruck dieser Beziehung natürlich auch Dinge eine besondere Rolle spielen. Wenn Levinas sich gegen jede magische Bedeutung einer rituellen Gebärde richtet, so schließt er damit indirekt auch eine magische Bedeutung von Dingen aus. Wenn er sich hierbei zugleich gegen Sakramente richtet, dann nur gegen ein magisches Verständnis und somit nicht gegen die christliche Auffassung von Sakramenten. Wie nicht ausgeschlossen werden soll, dass über einen leiblichen Vollzug der Mensch in ein bestimmtes, ihn als Ganzen ergreifendes Ereignis hinein864

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genommen wird, sondern nur herausgestellt, dass dies immer unter der personalen und freien Beteiligung des Menschen zu erfolgen hat, so gilt dies auch für die Frage nach einer sakramentalen Bedeutung von Dingen. 1236 Leibliche Endlichkeit und der Schritt zur Unendlichkeit Gottes In den bisherigen Abschnitten wurden hauptsächlich Aspekte betrachtet, in denen der Leib indirekt über die Beziehung zum Anderen, insofern sich in ihr das Unendliche ereignet, eine religiöse Bedeutung bekommt. Im Folgenden wird es vor allem um Aspekte gehen, welche die Beziehung direkt zu Gott betreffen. Auch wenn bei Fichte und Levinas der Schritt, sich überhaupt als Endliches gegenüber einem Unendlichen zu verstehen, verschieden erfolgt – dies wurde im Vergleich ihrer Religionsphilosophien schon herausgearbeitet –, spielt für beide die Leiblichkeit hierbei eine Rolle als etwas, an dem der Mensch seine Endlichkeit erleben kann. Für Fichte erfolgt der streng wissenschaftliche Weg des Schlusses auf ein Absolutes zwar über die relative Absolutheit des Lichts und ihre Begrenztheit, nicht aber über die Endlichkeit, wie sie im Leib greifbar wird. Zunächst kann diese für ihn jedoch ebenso darauf weisen, dass das Subjekt nicht in sich selbst gründet, sondern einen absoluten Grund voraussetzt. Die leibliche Begrenztheit ist sogar der nächstliegende Ort der Erfahrung der eigenen Endlichkeit. Auch für Levinas weist die Erfahrung der leiblichen Abhängigkeit und Begrenztheit darauf, dass der Mensch nicht causa sui ist, und wirft somit die Frage nach dem Grund seines Seins auf. Da bei ihm der transzendentale Rückgang jedoch gebunden ist an einen phänomenologischen Aufweis und der Grund des Seins diesem nicht zugänglich ist, führt für ihn das Bestehen dieser Frage nur zum Begriff eines welterschaffen1236 Von daher ist es m. E. nicht möglich, wie Carsten Lotz (2009) von Levinas her für eine »Erlösung der menschlichen Niedrigkeit an der Autonomie des Bewusstseins vorbei« (100) sowie für ein Verständnis der Eucharistie als »eine durch und durch leibliche Angelegenheit«, die nicht »ein Bewusstsein oder gar ein freies Selbstbewusstsein erforderlich machen würde«, einzutreten (98) und die orthodoxe Tradition der Erstkommunion für Säuglinge zu empfehlen (101). Das Problem scheint zu sein, dass Lotz den Ausweg aus der Einsamkeit des Subjektes über die Materialität im Genuss wie auch in der Passivität des Leidens und des Todes, über den er sich auf das levinassche Leibdenken bezieht (95–99), nicht als für Levinas lediglich vorläufigen Ausweg, der für sich in eine uneigentliche Transzendenzrelation führt, wahrnimmt.

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den Absoluten als einer eventuell möglichen Antwort. In seinem philosophisch-phänomenologischen Aufweis eines Zuganges zum Unendlichen – den er anders als Fichte nicht als Beweis versteht – spielt nicht die Seinsabhängigkeit, sondern die Endlichkeit im Sinne des Nicht-vollkommen-Seins und der Nichtewigkeit eine Rolle. Beides wird für ihn zwar nicht nur am Leib greifbar, sondern auch am Bewusstsein. Aber insofern sich dieses aus dem Leibvollzug und dessen Endlichkeitsstruktur entwickelt und gerade in dieser Abhängigkeit als Endliches erlebt, während es sich rein von der Bewusstseinssetzung her als geradezu Unbedingtes vermeinen kann, spielt der Leib auch hier eine wichtige Rolle. Indem sowohl die Zeitlichkeit als auch der Selbstbezug des Genießens, an denen die Endlichkeit des Menschen gegenüber der reinen Vollkommenheit des Unendlichen greifbar wird, für Levinas zugleich Bedingungen des Sichereignens des Unendlichen sind, wird die Endlichkeit des Leiblichen von ihm nicht pejorativ verstanden. Auch für Fichte konnte herausgearbeitet werden, dass der Mensch durch seine endliche Leiblichkeit an der Realisierung seiner Bestimmung nicht gehindert und durch sie das Sichereignen des göttlichen Lebens nicht verunmöglicht, sondern vielmehr ermöglicht wird. Bei ihm geht dies so weit, dass der Mensch zugleich mit seiner unendlichen Fortentwicklung im konkreten leiblich-geschichtlichen Leben schon auf eine Weise das zeitlose und vollkommene göttliche Leben realisieren kann. Von daher kommt es für ihn zur Frage nach dem Absoluten auch nicht über die Suche nach Vollkommenheit und Ewigkeit, sondern über die Suche nach einem Grund des Seins. Hat Gott einen Leib? Kann er einen haben? Interessanterweise ergibt sich bei beiden Autoren eine für eine christliche Theologie nicht unwichtige Perspektive auf die Frage, inwiefern Gott selbst sich bereits verleiblicht hat oder zumindest die Möglichkeit hat, leiblich zu werden. Beide treffen sich darin, Gott ursprünglich als nicht leiblich zu verstehen. Für Fichte ist Gott eine über jede Begrenzung und somit jede Form von Leiblichkeit sowie von endlicher Geistigkeit erhabene, reine, einfache Vernunfttätigkeit. Für Levinas ist Gott eine zu jeder geschichtlichen Existenz transzendente vollkommene Güte. Indem für ihn die Transzendenz Gottes noch radikaler verstanden werden muss als die des Anderen, der zugleich zu seiner Transzendenz leiblich sein kann, legt es sich für ihn 866

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in der Auseinandersetzung mit der christlichen Inkarnationsidee eher nahe, es für nicht möglich zu halten, dass Gott in die geschichtliche Wirklichkeit eintreten kann, ohne dass dies seiner Transzendenz widersprechen würde. Er beschränkt sich freilich auf Anfragen. Eine wirkliche Unmöglichkeit einer Inkarnation folgt m. E. aus seinem Ansatz nicht. Bei Fichte ergibt es sich demgegenüber in einer Phase seines Denkens sogar als ein notwendiges Moment der Setzung des Endlichen, dass Gott, der ursprünglich nicht leiblich ist, sekundär doch in eine begrenzte Existenz tritt und sich dabei auch verleiblicht. Es handelt sich freilich um eine ganz ursprünglichen Form von Leiblichkeit, die für das endliche Subjekt nicht greifbar wird und die lediglich ein apriorisches Prinzip abgeben könnte für eine geschichtlich greifbare Inkarnation. Die Notwendigkeit einer solchen ursprünglichen Selbstverendlichung wird von Fichte in der späteren Zeit nicht mehr thematisiert. Dies ist zunächst durchaus verständlich als Konsequenz der Veränderungen seines Modells der Entfaltung der endlichen Beschränkungen, wobei auch hier m. E. die spekulative Frage nicht einfach zur Ruhe kommen muss, ob der begrenzenden Tätigkeit des einen Daseins nicht irgendein Anstoß von Seiten des Absoluten und insofern dessen Selbstverendlichung zugrunde liegen müsste. Eine bleibende Bedeutung kommt diesem Gedanken jedoch deshalb zu, weil er zeigt, dass eine Verleiblichung des Absoluten für Fichte keineswegs unmöglich ist. Weshalb sich dies so verhält, kann deutlich werden, wenn man darauf sieht, dass für ihn Gott im Grunde dasselbe Leben zukommt wie dem Endlichen und dass für ihn am Endlichen gut nachvollziehbar ist, wie zugleich ein unendliches und ein endliches, ein zeitloses und ein zeitliches Leben gelebt werden kann. Würde man, wie dies im dritten Teil vorgeschlagen wird, den fichteschen Ansatz so modifizieren, dass darin der Personalität eine letzte Bedeutung gegeben wird, dann würde dies eventuell ein Verhältnis nicht nur von Gott zum einen Dasein, sondern zu jedem einzelnen Menschen implizieren und somit der Gedanke der Selbstverendlichung Gottes wieder bedenkenswert werden. Schöpfung, Nahrung und Fruchtbarkeit Bei beiden Philosophen ergibt sich ein Begriff von Schöpfung als Setzung des Seins des Endlichen durch das Unendliche. Für Fichte ist unter der Voraussetzung des ursprünglichen Glaubensaktes notwenLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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dig auf Gott als Urheber des eigenen Seins zurückzuschließen. Zudem lässt sich für ihn in Grundzügen erschließen, wie Gott schafft: durch Selbstmitteilung und auf eine nicht wahlfreie Weise. Die Notwendigkeit dieser fichteschen Erschließung einer Schöpfung und ihrer Nichtwahlfreiheit ist zwar infrage zu stellen. Zumindest als möglicher Begriff ist Schöpfung dann aber noch in seinem Ansatz impliziert. Levinas beschreibt von vornherein nur einen möglichen Begriff von Schöpfung. Die Freiheit des Schöpfers wird dabei nicht näher bestimmt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass das Subjekt nicht wie bei Fichte ursprünglich als zeitlose Vernunfttätigkeit, sondern als zeitliches und leibliches Subjekt gesetzt wird. Dadurch entsteht eine enge Verbindung zwischen Schöpfung und Leiblichkeit. Die Abhängigkeit von der Nahrung ist das Urphänomen, an dem für das Subjekt greifbar wird, dass es nicht causa sui, sondern radikal in seiner Existenz und in seinem Fortbestehen abhängig ist. Insofern es sich jedoch nicht allein durch die Nahrung ins Sein gesetzt erlebt, bleibt die Frage nach dem eigentlichen Grund des Seins offen. Wie weit das rein innerweltliche Geschehen der Fruchtbarkeit eine hinreichende Begründung für Levinas abgeben könnte, bleibt unklar. Als eine mögliche Antwort – und Levinas scheint eher zu ihr zu tendieren – benennt er eine Schöpfung durch das Unendliche. Sie würde vermittels der Fruchtbarkeit sowie der Nahrung geschehen und eng mit ihnen verbunden sein. Levinas versteht Schöpfung und biologische Fruchtbarkeit vom selben Grundereignis der Fruchtbarkeit her, das er zunächst ausgehend von der biologischen Elternschaft und dann als personales Verhältnis zwischen dem Subjekt in seiner ethischen Einzigkeit und dem Anderen analysiert, den es in seine Einzigkeit einsetzt, ihm das Vermögen der Gabe selbst gibt und darin mit ihm identifiziert ist. Indem für ihn dieses Ereignis letztlich im Unendlichen grundgelegt ist, deutet sich die Idee an, in der biologischen Fruchtbarkeit das schöpferische Unendliche sich manifestieren zu sehen. Im Nahrungsgeschehen ist daneben zumindest der Aspekt des Gesetztseins ins Sein erlebbar. Der Aspekt der personalen Zuwendung taucht zwar an der Nahrung selbst unmittelbar nicht auf, da das Genusssubjekt von sich aus auf das Unendliche nicht bezogen ist. Von der Begegnung mit dem Unendlichen her kann die Nahrung jedoch sekundär als Moment einer Beziehung konnotiert werden, als Gabe des Unendlichen in seiner sogenannten ›weiblichen‹ Dimension. Inwieweit sich für Levinas hierbei das Subjekt als für sich gemeint erleben kann, wurde im Abschnitt zur Frage nach der Möglich868

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keit einer Deutung des Genusses als eines Erlebens der Güte Gottes erörtert. Bei Fichte besteht nicht wie bei Levinas ein solch enger Zusammenhang zwischen der biologischen Fruchtbarkeit sowie der Nahrung und der Setzung der individuellen Existenz oder gar der Schöpfung. Denn für Fichte bezieht sich die Setzung des Endlichen durch das Unendliche nur auf die Einheit des Daseins, die dann selbst alle Differenzierungen in sich setzt. Und hierbei wird das individuelle Subjekt durch eine Ausgliederung aus dem einen Dasein ursprünglich als Vernunfttätigkeit konstituiert, die erst sekundär dazu verleiblicht wird aus der Verbindung mit der Naturorganisation, in der das zunächst überzeitliche Subjekt seinen geschichtlichen Ort erhält. Durch die Naturorganisation, zu welcher Fruchtbarkeit und Nahrung zuzuordnen sind, entsteht nur der organische Leib. Der Unterschied liegt nicht darin, dass Levinas behauptete, allein aus ihnen würde das Subjekt entstehen. Er scheint eher eine Entstehung durch das Unendliche zu favorisieren, lässt diese Frage aber letztlich offen. Der Unterschied liegt darin, dass das Subjekt ursprünglich nur leiblich und noch nicht mit der ethischen Bedeutung begabt ist sowie dass seine Konstitution vermittels Fruchtbarkeit und Nahrung erfolgt. Diese Momente der Naturorganisation sind für Fichte nur insofern Momente der ›Beziehung‹ zu Gott, als sich in ihnen die Entfaltung des von Gott unerklärlicherweise gesetzten einen Daseins vollzieht, von dem das Ich ein Teil ist. Sie sind es aber nicht in dem Sinn, dass es Gott dabei um dessen individuelle Existenz gehen würde und dass das Ich das, wie sie seine Existenz zumindest in ihrer Geschichtlichkeit und darin in ihrer eigentlichen Realisierung ermöglichen, als eine persönliche Zuwendung Gottes oder als personales Gemeintsein verstehen könnte. Dies wäre anders, wenn man den fichteschen Ansatz personal modifizieren würde. Auch dann könnte jedoch eventuell das fichtesche Konzept einer ursprünglichen Unabhängigkeit des Subjekts gegenüber seiner geschichtlichen Existenz beibehalten werden und die Schöpfung müsste entsprechend noch nicht durch die leiblichen Verhältnisse der Nahrung und der Fruchtbarkeit hindurch erfolgen, sondern könnte zunächst das Subjekt nur in seinem, wenn auch ganz unentfalteten, reinen Vernunftsein betreffen. Zunächst müsste sogar nicht einmal die Setzung der individuellen Existenz selbst unmittelbar auf Gott zurückgeführt werden. Gott könnte ähnlich wie in Fichtes Modell die Hervorbringung der Individuen der Welt überlassen und bejahen, was sie ihm zeugt. AnLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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ders wäre dies erst, wenn diese Modifikation entsprechend der traditionellen Lehre von der unmittelbaren Erschaffung der individuellen Seelen erfolgen würde. Fruchtbarkeit und Unendlichkeit Bei Levinas bekommt die Fortpflanzung auch insofern eine letztlich religiöse Bedeutung, als durch sie überhaupt die Vielheit der Subjekte existiert und erhalten wird. Nur dadurch besteht die Möglichkeit von Beziehung und, insofern sich nur in ihr das Unendliche ereignet, die Möglichkeit der Unendlichung des Subjekts. Er hebt dies hervor in Bezug auf das Geschehen der Identifikation mit dem Anderen, welche er als einen Aspekt der Dimension der Vaterschaft oder der Fruchtbarkeit beschreibt und die in der späteren Zeit als im Verhältnis der Stellvertretung integriert angesehen werden kann. Sie eröffnet für ihn erst die völlige Transzendierung zum Anderen sowie die eigentliche Befreiung aus dem Es-gibt. Ermöglicht wird dies durch die Fruchtbarkeit in ihrer konkret biologischen Manifestation. Sie sichert dem Subjekt eine »unendliche Zeit […], ohne welche die Güte nur Subjektivität und Torheit wäre« (TU409). Abgesehen davon, dass für Fichte die Individuen ohnehin nicht radikal sterblich sind, braucht es bei ihm auch nicht in der Weise wie für Levinas den Anderen für das Ereignis Gottes im Subjekt. Die beschriebene Perspektive auf die Bedeutung der Fortpflanzung kann bei ihm keine Entsprechung finden. Der Leib und die Vorsehung Es ist bereits herausgestellt worden, dass für beide Autoren die Leiblichkeit in ihrer konkreten Gestalt grundsätzlich dafür geeignet ist, dass in ihr der Mensch seine eigentliche Bestimmung verwirklicht und sich das Unendliche ereignet. Weder hält sie ihn in Sünde noch hindert sie ihn an seiner eigentlichen Lebendigkeit. Der frühe Fichte thematisiert ausdrücklich die Frage nach der Eignung der konkreten leiblichen Triebe. Er stellt den Glauben an sie als Implikat des Glaubens an das Sittengesetz heraus und führt zugleich das Bestehen dieser Eignung auf eine göttliche Urheberschaft, eine göttliche Weltregierung, zurück, da sie für ihn weder vom Menschen selbst noch von der Natur, die er damals als noch nicht selbst auf das Sittengesetz bezogen denkt, hergestellt worden sein kann. Der späte Fichte hält 870

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daran fest, dass die Gültigkeit des Sollens die Möglichkeit seiner Erfüllung impliziert. Da diese für ihn jedoch grundsätzlich erreichbar ist in einer angemessenen inneren Ausrichtung des Willens und dem Misslingen der Umsetzung dieses Willens sogar eine positive Funktion dafür zukommt, von der Abhängigkeit von dieser äußeren Umsetzung frei zu werden, ist ein Gelingen für ihn nicht mehr wie früher in jedem Fall nötig und eine entsprechende Ordnung der faktischen leiblichen Handlungsmöglichkeiten nicht mehr erforderlich. Die Leiblichkeit darf nur dieses Fassen des guten Willens nicht verhindern, sie muss die Herausbildung der Bedingungen dazu, Erkenntnis und Freiheit, ermöglichen und zumindest grundsätzlich auch die äußere Realisierung. In Bezug auf die Eignung der Leiblichkeit sowie der sonstigen Strukturierung der Existenz für den Weg des Menschen zum göttlichen Leben spricht Fichte von einer göttlichen Ökonomie und einem göttlichen Plan. Dies ist insofern begründet, als es im späteren Ansatz das göttliche Gesetz ist, das als Gesetz des einen Daseins die Gestalt der Welt sich so entwickeln lässt, dass eine Vereinigung mit dem Absoluten möglich ist. In diesem Gesetz besteht im späteren Modell das, was Fichte früher göttliche Weltregierung genannt hat. In Bezug darauf kann man weiterhin von einer Art Vorsehung und einer Bestimmtheit des Leibes durch die Vorsehung sprechen. Mit Vorsehung ist dabei nicht ein göttliches Vorauswissen gemeint, sondern ein zielgerichtetes vorsorgendes Wirken Gottes. Um eine Vorsehung handelt es sich beim späten Fichte zudem nicht im Sinne eines freien Eingreifens Gottes in die Welt und nicht mehr wie im früheren Modell im Sinne einer ganz unbegreiflichen Bestimmung der Handlungsmöglichkeiten, sondern im Sinne der für Fichte in weiten Teilen gut nachvollziehbaren Lenkung der Entfaltung der Grundstrukturen des Daseins. Zwar gilt immer noch wie im früheren Modell, dass im Naturtrieb, wenn man ihn für sich nimmt, keine Ausrichtung auf Sittlichkeit liegt. Im späteren Modell ist er jedoch nie bloßer Naturtrieb, sondern an sich Vernunfttrieb und innerlich gelenkt vom göttlichen Gesetz des einen Daseins. Für Fichte ist die Evolution der Welt von vornherein nicht bloß materiell, sondern triebhaft, lebendig, subjekthaft und von einer inneren Teleologie bestimmt. Wie in der frühen Zeit müsste als Element des lenkenden Gesetzes ein Bildungstrieb vorausgesetzt werden, durch den sich Organismen mit organisch zusammenwirkenden Trieben herausbilden. Die Triebe würden hierbei nicht nur innerhalb eines Organismus zusammenwirken, sondern Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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auch eine organische Einheit mit anderen Organismen bilden, und auf diese Weise würden die sittlich in besonderer Weise bedeutsamen sympathetischen Triebe entstehen. Außerdem muss sich für Fichte im späteren Modell der sittliche Trieb in seiner individuellen Bestimmtheit so auf die Naturorganisation auswirken, dass er sie drängt, geeignete Triebe für die jeweilige individuelle Berufung auszubilden, und zwar in einer Wirkung vorgängig zu jeder bewussten Erfassung dieser Berufung oder ihrer freien Bejahung. Darüber hinaus muss dem sich auf die Naturorganisation auswirkenden Gesetz des einen Daseins insgesamt die Herausbildung der Grundbedingungen der Verwirklichung von Sittlichkeit und Religion zugeschrieben werden, etwa dass die Vielheit der Individuen in einem leiblichen Kontakt des gegenseitigen Wahrnehmens und Aufeinanderwirkens steht oder dass die leiblichen Triebe ursprünglich relationiert sind auf den Freiheitstrieb und es somit zu einem Bewusstsein sowie zu einem freien Gebrauch von ihnen kommen kann. Wenn für den frühen Fichte die Pflicht besteht, die natürlich gewachsenen Grundlagen moralischen Handelns achtsam zu behandeln, wenn für ihn aus der Annahme eines absoluten Vernunftwirkens in der Natur offenbar sogar eine verehrende Haltung ihr gegenüber folgt, so muss dies genauso noch für den späten gelten. Levinas macht auf das Erfordernis der Eignung der leiblichen Bedingungen von Moralität nicht in der Weise eigens aufmerksam und fragt entsprechend auch nicht nach ihrer Ursache. Wie bereits deutlich wurde, klärt er jedoch die Funktionszusammenhänge zwischen dem, was er als Beziehung zum Anderen, und dem, was er als Leiblichkeit beschreibt, und diese wird deutlich als das geeignete Medium für die Ethik herausgearbeitet. Zwar leitet er sie und ihren Zusammenhang mit der ethischen Beziehung nicht aus einem Grundgesetz der Welt ab. Die Beziehung zum Unendlichen bekommt jedoch bei ihm eine ähnliche Bedeutung als Grundbeziehungsform, welche alle Momente der Existenz prägt. Eine Schöpfung der Welt, wenn man eine solche annehmen sollte, wäre für ihn etwas, was die Gestalt der Welt von Anfang an, beginnend mit dem Leibsein, vom Bruch der Beziehung Getrennter gezeichnet sein lassen würde, sodass sich in ihr die ethische Beziehung entfalten kann. Insofern könnte man in einem ähnlichen Sinne wie bei Fichte von einer Bestimmung der Leiblichkeit durch eine göttliche Vorsehung sprechen. Die Wirkung des Unendlichen würde zunächst auf eine Weise geschehen, dass es das Subjekt noch nicht infrage stellt, sondern eine 872

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Existenz des bloßen Genusses eröffnet, der aus der Passivität der Abhängigkeit vom Elementalen lebt, von ihr anfanghaft beunruhigt wird und dadurch für die Infragestellung zumindest betreffbar ist. Sekundär dazu ist eine Wirkung des Unendlichen denkbar, zunächst ähnlich der des sogenannten ›Weiblichen‹ und vermittels des ›Weiblichen‹, in der es durch eine Ausrichtung des Subjekts auf ein personales Gegenüber die Bedingungen in ihm dafür hervorlockt, von der Forderung des Unendlichen und des Anderen betroffen zu werden. Auf diese Weise entfalten sich das Wohnen, die Arbeit und das Bewusstsein. Die Weise, wie sich bei Fichte sympathetische Antriebe herausbilden, durch eine organische Verbundenheit und eine Art Kooperation, wäre grundsätzlich auch innerhalb des Ansatzes von Levinas denkbar, insofern er ebenso von einem funktionalen Zusammenhang auf der biologischen Ebene ausgeht. Als spezifisch personale soziale Antriebe müssten sie aber auf der Basis der Begegnung mit dem ›Weiblichen‹ entstehen, das für ihn eine Befriedigung in einer personalen Zuwendung und zusammen damit ein Bedürfnis danach hervorruft. Es erscheint als naheliegend, dass sich auf dieser Basis außerdem ein Bedürfnis entwickelt, Zuwendung zu geben. Abgesehen vom Grundunterschied der wesentlich interpersonalen Fassung des Ereignisses des Unendlichen und abgesehen von der unterschiedlichen Weise, wie für Levinas das Unendliche sich wirkend zum Subjekt verhält, gründen für ihn ganz ähnlich wie für Fichte die ursprüngliche Ausprägung der Leiblichkeit sowie ihre Entfaltung im Unendlichen. Dieses macht sie zur geeigneten Basis für sein Ereignis im Menschen. Ähnlich wie für Fichte müsste daraus auch für Levinas eine gewisse Verpflichtung folgen, das natürlich Gewachsene zu schützen, sowie eventuell eine gewisse Verehrung gegenüber dem sich in den Grundstrukturen der Welt ausprägenden Unendlichen. Leiblichkeit und Theodizee Geht man von einer Prägung der Gestalt der Welt durch das Unendliche aus, die sie geeignet macht für sein ethisches Sichereignen in ihr, dann stellt sich die Frage, wie dies mit der Erfahrung des Leids in der Welt zusammengeht, und zwar des Leids in seiner schädigenden, die Selbstentfaltung sowie die Entfaltung der Moralität einschränkenden Eigenschaft. Für Fichte wie für Levinas ergibt sich zwar, dass trotz des Leidens die freie Ausrichtung auf das Sittliche möglich und so die Welt grundsätzlich dafür geeignet ist. Aber das Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Leiden stellt auch für sie eine mitunter enorme Beschränkung dar und kann das Fassen eines guten Willens schwer machen. Dem Leid können zwar beide daneben einen positiven Sinn für die Ethik abgewinnen, nicht aber in den extremen Ausmaßen, die es annehmen kann. Auch bleibt es etwas, was an sich nicht sein soll, da der unversehrten Lebendigkeit ein Wert in Bezug auf die Sittlichkeit zukommt. Dass für beide diese Lebensentfaltung ihren Wert letztlich nur für den Anderen oder ein ethisches Ideal und nicht zugleich um des Subjekts willen besitzt, sei zumindest angemerkt und auf den Vorschlag einer entsprechenden kritischen Modifikation beider Ansätze hier im dritten Teil verwiesen, welche die Theodizeefrage auch von dieser Seite noch einmal anschärft. Neben dem Leiden stellt sich zudem angesichts der Triebbestimmtheit, die den Menschen in seiner Freiheit stark einschränken kann, die Frage, ob und wie dies mit der Annahme einer Prägung der Welt durch das Sittengesetz und letztlich durch Gott zusammengeht. Damit ist der Fragehorizont dessen eröffnet, was man im weitesten Sinn unter dem Begriff der Theodizee fasst. Über die Leiblichkeit des Leidens, über die Frage nach einer Bestimmung der konkreten Gestalt der Welt durch Gott sowie die Frage nach seinem geschichtlichen Eingreifen ist er sehr eng mit der Leibthematik verknüpft. Levinas spricht die Theodizeefrage ausdrücklich an. Er bezieht sich dabei nicht nur auf Gott als Unendliches, sondern auf Gott als Schöpfer, der er für ihn zumindest möglicherweise ist. Da er es offen lässt, ob Gott frei entscheiden und in die Geschichte eingreifen kann, geht es nicht nur wie bei Fichte um die Frage nach der Übereinstimmung der Gestalt der Welt mit dem moralischen Charakter ihres eventuellen Urhebers, sondern auch um die Frage, warum dieser nicht eingreift angesichts des Leidens und warum er die Welt überhaupt geschaffen hat. Für Levinas nimmt zwar der sittliche Mensch eine Hilfe Gottes nicht in den Blick, zumindest nicht für sich, weil er dadurch seine Verantwortung schon einschränken würde. Das Leid kann ihn darauf aufmerksam machen, dass Gott ihm seine Verantwortung und seine Mündigkeit belässt. Dadurch ist aber die Möglichkeit eines Eingreifens Gottes für Levinas nicht ausgeschlossen. Auch kann er zwar das eigene Leiden teilweise als etwas ansehen, was seinen positiven Sinn in der ethischen Beziehung bekommt, teilweise als etwas, dessen Möglichkeit sich aus der Gestalt der Welt erklärt, die für diese Beziehung vorausgesetzt wird, und insofern in Kauf genommen werden muss. Aber zugleich besteht für ihn eine berechtigte Hoffnung auf 874

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eine Befreiung vom Leid. Denn für ihn ist das eigene Leid etwas, was die Möglichkeiten der Hingabe an den Anderen beschränkt. Auf jeden Fall verbietet sich für ihn eine Rechtfertigung des Leidens des Anderen. Vor allem dieses macht den Glauben an Gott schwierig. Das ist umso mehr deshalb der Fall, weil für ihn anders als für Fichte die Existenz Gottes unter der Bedingung der Zustimmung zum Sittengesetz nicht notwendig folgt. Das Phänomen der Manifestation des Unendlichen im ethischen Anspruch ernst zu nehmen, wird für ihn dadurch jedoch nicht unmöglich. Es besteht für ihn sogar ein gewisses Gebot, am Glauben an das Unendliche festzuhalten, um die Welt nicht dem sinnlosen Leiden preiszugeben. Auch besteht für ihn eine Hoffnung, dass Gott ein vom Leid zumindest weitgehend freies eschatologisches Leben eröffnet. Fichte stellt zwar nicht die Theodizeefrage, seine Theorie von der göttlichen Weltregierung oder später vom göttlichen Gesetz enthält aber indirekt eine Theodizee. Anders als bei Levinas geht es nicht um eine Verteidigung des Gottesglaubens angesichts des Leids in der Welt, denn die Existenz Gottes ist für Fichte unter der Bedingung des Glaubens an das Sittengesetz eine Gewissheit. Es geht auch nicht um eine Verteidigung Gottes dafür, dass er eine solche Welt überhaupt geschaffen hat und dass er angesichts des Leids nicht in sie eingreift, denn Gott hat für ihn keine Wahl – man kann sich gegen Fichtes Gott nicht empören. Es findet sich aber eine Theodizee im Sinne eines Aufweises der Vereinbarkeit eines guten Gottes als Urgrundes der Welt mit ihrer faktischen Gestalt. Er zeigt – und hierin besteht grundsätzlich eine Entsprechung zu Levinas –, wie eine Welt, in der das Ereignis von Sittlichkeit möglich sein soll, nur so denkbar ist, dass der Mensch zunächst von selbstbezogenen Trieben bestimmt ist, deren Befriedigung von Äußerem abhängt und die somit frustriert werden können sowie eine Verletzlichkeit durch den Anderen bedeuten. Der Mensch als Naturwesen nimmt notwendigerweise teil an der Grausamkeit der Natur. Indem es für die Realisierung der Sittlichkeit und des religiösen Lebens das Bewusstsein der Freiheit braucht, kann diese Grausamkeit außerdem in der eigentlich menschlich verletzenden Bosheit gelebt werden. Da die Möglichkeiten des Leids, wie sie faktisch geschichtlich gegeben sind, für Fichte aus einer inneren Notwendigkeit heraus so bestehen müssen, wäre für ihn eine Welt nicht möglich, in der das Ausmaß des Leids von vornherein stärker begrenzt wäre. Ob er auf diese Weise überzeugend die Vereinbarkeit eines guten Weltgrundes mit deren Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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faktischer Gestalt aufzeigen kann oder sein Konzept der Bestimmtheit der Welt durch das göttliche Gesetz nicht weiter modifiziert werden müsste, ist fraglich. Im levinasschen Ansatz wäre die Möglichkeit einer stärkeren Begrenzung des Ausmaßes an Leid in Betracht zu ziehen, da er zwar Funktionszusammenhänge aufzeigt, aber nicht von solch einer notwendigen Bestimmtheit wie Fichte ausgeht. Für Fichte folgt aufgrund dieser Notwendigkeit eine Haltung, die alles leiblich-geschichtlich Begegnende als Willen Gottes annimmt und bejaht, freilich in der differenzierten Weise, in der nicht die böse Tat des Anderen, sondern das Dass seiner Freiheit und ihrer Betätigung bejaht wird, wie auch nicht die Leidhaftigkeit und die Getriebenheit in ihrem die Entfaltung von Sittlichkeit beschränkenden Ausmaß, sondern nur die Notwendigkeit von Verletzbarkeit und Triebbestimmtheit als solcher. Levinas bezeichnet zwar die konkrete geschichtliche Situation nicht als Willen Gottes, auch besteht für ihn nicht dieselbe Notwendigkeit, aber für ihn gehört das geduldige und erduldende Sicheinlassen auf sie zur ethischen Haltung und damit zum Ereignis des Unendlichen, ganz ähnlich wie für Fichte. Der Unterschied ist, dass dies für ihn aufgrund der Asymmetrie zumindest auf der ursprünglichen ethischen Ebene nicht ebenso dem Anderen empfohlen, geschweige denn von ihm erwartet werden kann. Ihm gegenüber obliegt dem Ich nur, das Leid des Anderen in der eigenen Verantwortung zu wissen, es mit zu tragen und es zu lindern. Für den Anderen kann zudem das eigene Leiden neben der grundsätzlichen Bereitschaft, es zu tragen, auch als etwas angesehen werden, das an sich nicht sein soll. Der Mensch kann sich so wegen des Leidens gegen Gott empören. Die Theodizeefrage bleibt offen, während sie für Fichte beantwortet wird. Neben diesem grundlegenden Unterschied ist als Gemeinsamkeit zwischen Fichte und Levinas wieder festzustellen, dass sie das Leid der Kreaturen, die nicht zur Moralität fähig sind, nicht in den Blick nehmen. Da sie deren Leben von ihren Ansätzen her keinen Wert in sich zuschreiben, ist dies zwar durchaus konsequent. Dies fordert jedoch umso mehr zu einer Korrektur ihrer Denkmodelle in diesem Punkt auf. Eschatologische Leiblichkeit Für Levinas sind es gerade die Leidhaftigkeit der Welt und die Ausgesetztheit an die Wirkungen des Bösen, welche philosophisch zu einem Ausblick auf einen eschatologischen Befreiungszustand in 876

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einer Art ethischem Postulat führen. Es wurde bereits im Vergleich der Religionsphilosophien herausgearbeitet, wie sich dazu Fichtes Zugang zu einem Leben nach dem Tod verhält. Bei Fichte ist dieses eine metaphysische Notwendigkeit. Als Urheber wird nicht wie bei Levinas Gott eigens ins Spiel gebracht. Auch kommt es bei ihm nicht zu einer Befreiung von Leiden. In Bezug auf die Frage nach der Leiblichkeit dieses Lebens besteht jedoch zunächst eine grundlegende Übereinstimmung. Beide gehen davon aus, dass sich die Form des Leibes zwar wandelt, die Leiblichkeit aber nicht völlig wegfallen kann, da sie eine Bedingung für das Ereignis des Unendlichen darstellt. Ihre Theorien eines leiblichen eschatologischen Lebens zeigen noch einmal in besonderer Weise, dass sie der Leiblichkeit eine unverzichtbare Bedeutung geben. Für Levinas braucht es weiter eine Form der diachronen Zeitlichkeit. Wenn er den Tod als Moment der Beziehung zum Unendlichen bestimmt, behält für ihn offenbar außerdem die bis zum Tod reichende leibliche Ausgesetztheit und insofern der Leib in seiner Grundstruktur des Lebens-von-… eine Bedeutung. Die Ausgesetztheit müsste für ihn nur so weit verwandelt sein, dass darin zum einen eine radikale Unterbrechung der Orientierung auf den Genuss und auf das eigene Sein sowie die eigene synchrone Zeit stattfindet und zum anderen eine Befreiung von den über diese Ausgesetztheit hinausgehenden in diesem Leben bestehenden Möglichkeiten des Verletztwerdens und Schmerz-Erduldens, sodass es zu einem Schutz vor den Einwirkungen des Bösen kommen kann. Für Fichte muss es zu dieser Befreiung nicht kommen. Da für ihn im Leben nach dem Tod die Leiblichkeit zumindest in den Formen bestehen bleiben muss, die sich für dieses Leben als notwendig hergeleitet haben, bleiben für ihn genauso die Hinfälligkeit und Sterblichkeit erhalten. Entsprechend geht er von einer unendlichen Reihe von zukünftigen Leben aus. Offenbarung und Leib Wie dies schon in Bezug auf die Theodizeefrage deutlich wurde, gehen Fichte und Levinas nicht von einem besonderen Eingreifen Gottes in die Geschichte aus. Für Fichte ist dies unmöglich, Levinas schließt es zwar nicht aus, rechnet aber auch nicht damit. Dies wird ebenso deutlich in Bezug auf die Frage, ob Gott den Menschen durch eine besondere Offenbarung hilft. Bei beiden findet sich ein Konzept von Offenbarung, für beide kommt es geschichtlich zu besonderen Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Einsichten in die Bestimmung des Menschen, die dann tradiert werden und bildend auf das Menschengeschlecht wirken. Aber beide führen dies nicht auf ein besonderes Eingreifen Gottes zurück. Die Offenbarung ist für sie dabei wesentlich mit der Leiblichkeit verbunden, zum einen in ihrer Tradierung, die leiblich vermittelt sein muss, zum anderen in ihrer Entstehung. Für Fichte ergibt sich aus seinem Konzept der Spaltung des einen Daseins in die Vielheit der Individuen, dass jedes Subjekt nicht nur die Selbständigkeit des göttlichen Lebens zu eigen bekommt, sondern auch dessen Qualität in einem Aspekt durch einen Grundcharakter seines Lebens widerspiegelt. Jeder hat dadurch die Aufgabe oder die Berufung, das Leben in seiner individuellen Qualität zu verwirklichen und diese dadurch den Anderen zu vermitteln. Fichte geht davon aus, dass der Aspekt, den der Einzelne vom göttlichen Leben zeigt, auch für Andere bedeutsam sein kann und dass in einigen dieser individuellen Berufungen etwas für die Entwicklung der ganzen Menschheit Wichtiges liegt. Dies gibt ihm die Möglichkeit, eine göttliche Lenkung der Geschichte zu denken. Gott greift nicht in die Geschichte ein, um sie mit einer Offenbarung zu instruieren, sondern er hat seine eigene Gestalt immer schon in die Berufungen der Menschen hineingeoffenbart und dadurch die entscheidenden Impulse für die Entwicklung der Menschheit gegeben. Zur Veranschaulichung nennt Fichte als einen Aspekt des göttlichen Lebens etwa eine rechtlich geordnete Gesellschaft. Dieser tritt heraus in einer besonderen Begabung zur rechtlichen und politischen Gestaltung des Gemeinwesens. Menschen mit dieser Begabung waren offensichtlich wichtig für die Entwicklung der Menschheit. Dasselbe gilt etwa für Menschen mit einer besonderen wissenschaftlichen oder künstlerischen Begabung. Fichte geht auch von so etwas wie einer religiösen Begabung aus, einem intuitiven Wissen um die Einheit mit dem Absoluten. Die besondere Bedeutung von Jesus Christus liegt für ihn darin, dass seine individuelle Berufung in diesem Wissen bestanden hat und es durch ihn in die Menschheit gekommen ist. Die Leiblichkeit ist bei diesem Offenbarungsgeschehen zum einen bedeutsam, weil die Kommunikation des jeweiligen Aspekts des göttlichen Lebens über sie verlaufen muss. Zum anderen ist sie bedeutsam im Finden der eigenen Berufung, indem dies für Fichte wesentlich über die Wahrnehmung der persönlichen Begabung verläuft, wie sie sich in den konkreten leiblichen Antrieben und Handlungsmöglichkeiten manifestiert. 878

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Eine gewisse Entsprechung findet dieses fichtesche Konzept bei Levinas darin, dass er die Idee einer geschichtlichen Entbergung des Seins in sein Denken integriert hat. Sie wird jedoch nicht auf eine Art göttlichen Plan zurückgeführt. Und ihr wird nicht dieselbe Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit gegeben, da für ihn die bloße Offenbarung des Seins nur von sekundärer Bedeutung ist gegenüber der ethischen Offenbarung. Für sich genommen verstellt sie diese sogar und bedeutet ein Aufgehen in der Scheintranszendenz des Es-gibt. Der Leiblichkeit kommt für ihn in diesem Entbergungsgeschehen freilich eine ganz ähnliche Bedeutung zu wie für Fichte, nicht nur für die Kommunikation, sondern schon für das Zustandekommen des Verstehens des Seins. Wie es für Fichte um einen bestimmten Lebensvollzug geht, der für das Subjekt greifbar wird, indem er sich von den konkreten leiblichen Antrieben dazu ergreifen lässt, und von daher seine Berufung versteht, so hebt ebenso für Levinas das Verstehen des Seinsvollzuges mit einer konkreten Praxis an, deren vorgegenständliches und vorausdrückliches Verstehen dann ausgehend von der leibhaft greifbaren Manifestation dieser Praxis deutlicher aufgefasst und interpretiert werden kann. Im Abschnitt über die uneigentlichen Beziehungen zur Transzendenz, in denen es zu einer Vergötterung der Natur oder sonst einer der eigentlichen Transzendenz untergeordneten Dimension kommt, wurde schon darauf aufmerksam gemacht, wie sich für Levinas in der Kunst eine solche Entbergung des Seins ereignen kann. Der Künstler gelangt für Levinas in besonderer Weise zu einer neuen und tieferen Weise des Seinsverstehens im schöpferischen Auftauchen einer bestimmten Geste und ihres Ausdrucks. Dieses Geschehen ist nicht auf die Kunst beschränkt, sondern umfasst die ganze Breite des kulturellen Wirkens des Menschen. Im Unterschied zu Fichte ist für Levinas das Seinsverstehen für sich genommen jedoch etwas, was nicht vordringt zur eigentlichen ethischen Bedeutung, die sich nicht in Relation auf das Sein, sondern auf den transzendenten Anderen, nicht als Praxis und Verstehen dieser Praxis, sondern als ethische Passivität und deren eigene, alles Verstehen immer durchbrechende Intentionalität ereignet. Die ethische Bedeutung manifestiert sich immer nur in Bezug auf den konkreten Anderen. Zugleich können für Levinas aber dafür, sich von ihm tatsächlich betreffen zu lassen, besondere Zeugnisse dieser Bedeutung eine wichtige Rolle spielen, wie sie in der Kunst, in der Literatur, der Philosophie oder auch in den Schriften und Bräuchen der Religion greifbar werden. In Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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ihnen hat sich die ethische Inspiration, wie sie sich an sich in jeder Begegnung mit dem Anderen ereignet, in besonderer Weise verdichtet. Sie wirken bildend und kultivierend auf die Menschheit. Auch sie kommen zwar nur an ihr Ziel, wenn sie nicht allein zum bloßen Verstehen, sondern in die Beziehung mit dem konkreten Anderen führen. Dies vermögen sie jedoch für Levinas. Es ist für ihn eine Form von Entbergung möglich, die nicht im Ereignis des Es-gibt stecken bleibt, sondern eine positive Funktion innerhalb der ethischen Beziehung zum Anderen erfüllt. Die Leiblichkeit spielt in ihr eine ähnliche Rolle wie in dem, was Levinas als Seinsverstehen und Vermittlung des Seinsverstehens ausgehend von einer kulturellen Geste beschreibt. Es konnte gezeigt werden, wie für ihn auch die Bezeugung des Gesichts des Anderen oder der ethischen Bedeutung in der Kunst sowie in religiösen Praktiken wesentlich über eine bestimmte leibliche Geste verläuft. Es handelt sich freilich weniger um Gesten der Praxis als um Gesten der Passivität, des Sich-ausgesetzt-sein-Lassens gegenüber dem Anderen. Wie in jeder Begegnung mit dem Anderen so geschieht für Levinas in der ethischen Inspiration, die diesen Zeugnissen zugrunde liegt, sowie in deren Aktualisierung in dem, der das Kunstwerk rezipiert oder diese Praktiken vollzieht, eine Offenbarung des Unendlichen. Zur Leiblichkeit des Gebets Sowohl für Fichte als auch Levinas ereignet sich das Unendliche in der Ethik. Beide gehen jedoch von einer eigenen Beziehung zum Unendlichen aus und können es als sinnvoll ansehen, sich ausdrücklich auf Gott auszurichten. Von daher können für sie verschiedene Formen des Gebetes, wenn man, sicher verkürzend, damit Weisen einer solchen ausdrücklichen Bezugnahme auf Gott versteht, eine positive Bedeutung bekommen und damit die Leiblichkeit, soweit sie in ihnen eine Rolle spielt. Im Abschnitt über die Weisen eines uneigentlichen Transzendenzbezuges wurde schon auf Levinas’ Kritik an Gebetsformen aufmerksam gemacht, die über eine Ritualisierung und Rhythmisierung eine Vereinigung mit einer sakralen Dimension hervorrufen können. Indem dies stark über die Leiblichkeit geschieht und es dabei für Levinas überhaupt um ein Sich-ereignen-Lassen der materiellen Ebene des Seins geht, spielt der Leib hier auf negative Weise eine wichtige Rolle. Daneben kritisiert er das Gebet auch, wenn es nur als selbst880

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bezogener Bittgang zu einem Wünsche erfüllenden Gott verstanden wird. Damit schließt er jedoch nicht aus, dass das Bitt- oder Dankgebet in einer selbstlosen Ausrichtung auf den Anderen verrichtet werden und so einen Sinn behalten kann. Die Weise, wie für ihn dem Gebet vor allem eine Bedeutung zukommt, ist, wenn es selbst als Erhebung der Seele zum Unendlichen, als ein Sich-betreffen-Lassen vom Unendlichen, als Befreiung von der Selbstbezogenheit und dadurch als Öffnung auf den Anderen hin vollzogen wird. Daneben würdigt er das Gebet hinsichtlich dessen, dass es in seiner Regelmäßigkeit an die ethische Berufung erinnern und dass es disziplinierend wirken kann. Der Leiblichkeit können dabei verschiedene Funktionen zukommen. Entsprechend der Beziehung zum Anderen hebt Levinas die Bedeutung der Widrigkeit und der Überforderung hervor, die angesichts des jüdischen Rituals empfunden werden kann. Auch findet er in den rituellen Gebeten leibliche Gesten, die, wie das im vorigen Abschnitt beschrieben wurde, auf einer leiblich praktischen Ebene ein Verständnis für die ethische Bedeutung eröffnen können, etwa konkret in der beständigen zyklischen Wiederholung des Rituals ein Verständnis für die Ewigkeit des Unendlichen sowie die Ewigkeit im unveränderlichen religiösen Gesetz. Ritualisierung muss für ihn also nicht per se zu einer uneigentlichen Transzendenzbeziehung führen, sondern kann ebenso eine positive Funktion innerhalb des Gebetes besitzen. Neben der gestischen Bedeutungserschließung geschieht auch die aus der Regelmäßigkeit sich eröffnende Ordnung und Disziplinierung, in welcher sich dem Menschen immer mehr die Haltung einprägt, sich einer beständigen Regel zu unterwerfen und die somit für die ethische Öffnung zum Anderen disponiert, zu einem wesentlichen Teil über die Leiblichkeit. Ohne magisch die Freiheit und Personalität des Menschen zu übergehen, verändert die rituelle Gebärde vom Leib aus den ganzen Menschen und führt ihn in die ethische Haltung, die für Levinas durch die jüdische Religion als Offenbarungsträger tradiert wird. Neben diesen der ausdrücklichen Kommunikation von Inhalten vorgängigen Weisen bekommt der Leib natürlich auch in der inhaltlichen Vermittlung, die im Lesen von heiligen Schriften und im Gebet erfolgt sowie im Selbstausdruck des Beters, sei sie sprachlich, bildlich oder sonst auf eine Weise symbolisch, eine wichtige Bedeutung als Ausdrucks- und Kommunikationsmedium. Wie für Levinas muss auch für Fichte das Gebet ganz bezogen sein auf die sittliche Berufung des Menschen. Generell findet sich Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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bei ihm die Tendenz, eine ausdrückliche Bezugnahme auf Gott nicht unbedingt für nötig und ebenso einen impliziten Glauben für hinreichend zu halten. Gleichwohl kann sie für ihn eine wichtige Funktion erfüllen. In der frühen Zeit kann für Fichte die Ausrichtung auf Gott als die Instanz, welche die Welt auf das sittliche Ziel hinordnet, das Vertrauen auf die Wirksamkeit der sittlichen Handelns stärken, den Menschen über die Widrigkeiten des Lebens und die Misserfolge hinwegtrösten und ihn beruhigen. In der späten Zeit bekommt die Ausrichtung auf Gott zudem eine Bedeutung dadurch, dass in ihr dem Menschen die Unabhängigkeit von jedem äußeren Erfolg auch des sittlichen Handelns aufscheinen und er sich am eigentlichen Ziel seiner Existenz, dem Durchbrechenlassen des einfachen göttlichen Lebens, orientieren kann. Für den späten Fichte verwirklicht sich dieses Leben weiterhin in beständigem ethischem Engagement, es impliziert aber zugleich eine, wenn auch nur hintergründige und unausdrückliche, Betrachtung Gottes, der im späteren Modell ein größerer Stellenwert zukommt. In Zeiten, in welchen der Mensch nicht wirksam sein kann, sondern auf Erholung und Stärkung seiner Kräfte angewiesen ist, tritt diese Betrachtung für ihn idealerweise in den Vordergrund. Indem sich der Mensch dabei auf den Grund seiner Lebendigkeit ausrichtet, kann es zu einer Regeneration kommen. Zu den konkreten Formen des Gebetes und der Bedeutung des Leibes im Gebet finden sich bei ihm keine Aussagen. Was Levinas beschreibt, widerspricht seinem Ansatz nicht und könnte in diesen integriert werden. Die Kritik am Geschehen der Vereinigung mit dem Ereignis des Materiellen oder dem Ganzen des naturhaften Seins könnte Fichte freilich so nicht teilen. Wie bereits herausgearbeitet wurde, kann für ihn das Erleben einer solchen Einheit eine positive Funktion bekommen im Geschehen der Verbindung mit dem einen göttlichen Leben, das momenthaft auch in der Natur gegenwärtig ist. Die Form von Naturmystik, die sich bei Fichte beschrieben findet, könnte man selbst als eine Weise des Gebets betrachten. In den verschiedenen Perspektiven dieses Kapitels wurde versucht, den Ertrag der Überlegungen von Fichte und von Levinas zur Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit greifbar werden zu lassen. Diese Bedeutung lässt sich nicht mit einem Stichwort benennen. Man kann ihr nur annähernd gerecht werden, wenn man bereit ist, sich für die Vieldimensionalität des Leibes selbst sowie der Bezüge, in denen er steht, zu öffnen. Nicht zuletzt hat dies die Beschäftigung mit Fichte und Levinas deutlich gezeigt. Welche Relevanz 882

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darüber hinaus dem hier durchgeführten Vergleich der beiden Beiträge für die systematische Untersuchung der Rolle des Leibes in der Gottesbeziehung zukommt, wird im dritten Kapitel des folgenden Teils noch eigens betrachtet werden.

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3. Die religionsphilosophische und fundamentaltheologische Relevanz der Ansätze von Fichte und Levinas sowie ihrer Beiträge zur Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit Nach der interpretierenden Erschließung der Beiträge von Fichte und Levinas zur Frage der Bedeutung des Leibes in der Gottesbeziehung und ihres Vergleichs gilt es nun zu fragen, inwieweit sie von einer christlichen systematischen Theologie aufgegriffen werden können. Die Voraussetzung dafür ist zum einen ihre philosophische Schlüssigkeit und Plausibilität, zum anderen ihre Übereinstimmung mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild. Die religionsphilosophische Würdigung geschieht im Folgenden zunächst unabhängig von der spezifisch theologischen Fragestellung. Zuerst werden jeweils die Anfragen behandelt, die auf dem Hintergrund der im ersten und zweiten Kapitel entwickelten Interpretationen entkräftet werden können. In Bezug auf die bleibenden Anfragen gilt es dann zu überlegen, ob Modifikationen vorgenommen werden können, die es ermöglichen, das jeweilige Denken dennoch fundamentaltheologisch zu integrieren. Im Anschluss kann eine solche kritische Sichtung der beiden Ansätze nur in Grundzügen erfolgen. Weder kann sie alle Detailfragen berücksichtigen noch in den Hauptfragen erschöpfend die Diskussion vorstellen, die jeweils zu führen wäre.

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3.1 Zu Levinas

3.1.1 Philosophische Kritik Das levinassche Denken ließ sich in seinem Grundaufbau als philosophisch insgesamt schlüssig erweisen. Dabei konnte gezeigt werden, dass der Versuch, es als einen Ansatz zu interpretieren, der um eine möglichst weitgehende rationale Rechtfertigung bemüht ist, der seine Fundamente darlegen und sich als ein kohärentes Ganzes vorstellen kann, keineswegs Levinas’ eigenem Verständnis seines Philosophierens widerspricht. Es wurde herausgearbeitet, dass viele der zunächst scheinbar auftretenden Widersprüche und Probleme, wie sie in der Literatur zu Levinas thematisiert werden, nicht bestehen. Besonders in der Perspektive einer autonomen Ethik, wie sie Fichte vertritt, stellte sich die Frage, ob Levinas, wenn er der Autonomie eine Heteronomie vorordnet, dem Phänomen gerecht wird, dass ein ethischer Wille faktische Geltungsansprüche, die von außen an ihn herangetragen werden, nie nur aufgrund von äußerem Zwang, von Neigung oder bloßer Willkür bejaht, sondern aus der eigenen Einsicht in deren Gültigkeit, für welche er den Maßstab in sich selbst tragen muss. Es konnte gezeigt werden, dass Levinas dieses Phänomen nicht nur selbst beschreibt und an ihm festhalten möchte, sondern auch zu klären vermag, wie er mit seiner Rückbindung des ethischen Sollens an dessen heteronomen Empfang vom Anderen eine wirkliche Autonomie zusammengehen lassen kann. Er zeigt dies zum einen ausgehend von seiner an Descartes anknüpfenden Analyse der Beziehung zum Unendlichen als einer Vermittlung von Heteronomie und Autonomie, in welcher er zugleich die reale Bedingung sieht für das heteronome Betroffenwerden durch den Anderen, zum anderen durch seine Beschreibung der Autonomie in ihrer ursprünglichen Form eines unwillkürlichen und ergriffenen Vollzuges, von dem aus es möglich ist, die Entwicklung der Autonomie als eines sittlichen Urteils und einer wahlfreien Zustimmung plausibel zu machen. Man 886

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kann an seiner Analyse des Verhältnisses zum Unendlichen bemängeln, dass er sie als etwas lediglich Mögliches ausweist und dass eine Verwiesenheit auf Unbedingtheit auch autonom erklärbar ist – zwar nicht eine tatsächliche Beziehung zu einem schlechthin Unbedingten, aber doch eine Verwiesenheit auf Unbedingtheit, wie sie im Bezug auf die der transzendentalen Freiheit selbst eigene formale Unbedingtheit liegt –, sodass er somit auch die Möglichkeit einer Vorordnung der Heteronomie vor der Autonomie nicht wirklich erweist, sondern nur Hinweise für sie findet. 1237 Man kann dies jedoch als insofern ausreichend ansehen, als sich Levinas zu dieser Vorordnung sowohl in der Beziehung zum Anderen als auch in der von ihr aus beschriebenen Beziehung zum Unendlichen, ausgehend von seiner Deutung des ethischen Sollens mit für ihn starken Gründen, genötigt sieht, wenngleich er diese Deutung – das liegt freilich bei einer Sollensauslegung in der Natur der Sache – nicht als zwingend erweisen kann. Es wurde gezeigt, wie Levinas, diese Sollensauslegung vorausgesetzt, zwar nicht zu einem Gottesbeweis, wohl aber zu einer wirklichen philosophischen Rechtfertigung der Annahme einer Bezogenheit auf ein schlechthin Unbedingtes kommt. Von daher konnte auch die Kritik, Levinas rechtfertige seine Religionsphilosophie zu wenig, zurückgewiesen werden. Eine weitere Anfrage ergab sich ausgehend von Fichtes Einsicht in die notwendige Zirkelhaftigkeit des Versuchs, den Selbstbezug des Subjekts durch eine Reflexion oder überhaupt eine irgendwie äußerliche Vermittlung konstituiert zu denken. Zunächst konnte gezeigt werden, dass sie Levinas’ Modell der Konstitution der ethischen Subjektivität nicht trifft, weil diese für ihn anknüpft an das in einer ursprünglichen Weise bei sich seiende leibliche Subjekt. Wie in einem zweiten Schritt deutlich wurde, trifft sie ebenso wenig sein Modell der leiblichen Konstitution, weil die Abhängigkeit des Subjekts von der Nahrung hier keineswegs als eine Vermittlung des Selbstbezuges 1237 Auf diese Weise argumentiert etwa Magnus Striet (2013, 341 f.) gegen Levinas’ von der Analyse der Beziehung zum Unendlichen abhängigen Ausweis der Möglichkeit einer Beschreibung der ethischen Beziehung, welche der Autonomie eine Heteronomie vorordnet. Die autonome Begründung des Unendlichkeitsbezuges aus dem »Moment formaler Unbedingtheit der Freiheit« ist für ihn die »ökonomisch sparsamere Variante« (342). In eine Diskussion um die Auslegung des Sollensinhaltes, an der m. E. letztlich Levinas’ Argumentation hängt, tritt er nicht ein, macht aber seine Option deutlich: »Warum Wechselseitigkeit nicht ersehnt werden sollte, hat mir noch nie eingeleuchtet.« (339)

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gedacht wird. Genauso wenig wird die Entstehung des Subjekts überhaupt aus einer Beziehung zur Nahrung erklärt, in welchem Fall der Zirkel darin bestünde, dass mit der Beziehung das Subjekt zugleich schon vorausgesetzt würde. Auch konnte gezeigt werden, dass Levinas’ Modell keineswegs Fichtes plausibler These widerspricht, ein Subjekt könne nicht aus etwas Nichtsubjektivem entstehen. Die Auslegung des Nahrungsphänomens auf eine Bedingtheit des Seins des Subjekts durch die Nahrung konnte auf diese Weise nachvollziehbar gemacht werden. Vor dem Hintergrund von Fichtes gleichzeitigem Festhalten zum einen an einer Unabhängigkeit der Existenz des – bei ihm unsterblichen – Subjekts von der Erhaltung des Organismus, zum anderen an der dramatischen Bedeutung der leiblichen Sterblichkeit für die Selbstverwirklichung dieses Subjekts wird jedoch deutlich, wie wenig die levinassche Auslegung des Phänomens der Nahrung die einzig mögliche ist. Eine Anfrage, die wiederholt an Levinas herangetragen wurde und die sich besonders aufdrängt, wenn man von Fichte her einen geschärften Blick für sogenannte performative Selbstwidersprüche hat, die durch ein Übersehen des implizit transzendental Mitvollzogenen und Mitbehaupteten entstehen, ist an die levinassche Verabschiedung des Seins oder auch der autonomen Vernunft und ihrer Begriffe als einer letzten universalen Instanz zu stellen, die, indem sie immer als Seinssage auftreten muss, diese Instanz zugleich zu beanspruchen scheint. Es konnte gezeigt werden, dass Levinas sich diesem Problem stellt und wie es ihm gelingt, ein in sich kohärentes Konzept von Rationalität zu beschreiben, das es umgeht. Wie er schon überzeugend die Möglichkeit einer Phänomenologie aufzeigt, die anhand von Phänomenen über die Phänomene sowie die Einheit ihrer transzendentalen Apperzeption hinausgeht und damit ebenso zunächst scheinbar performativ widersprüchlich ist, so auch die Möglichkeit, die Ebene der autonomen Vernunft und ihrer Allgemeinbegriffe zu überschreiten und sie zugleich in der Artikulation dieses Überschritts in Anspruch zu nehmen, ohne sich selbst zu widersprechen. Zudem konnte gezeigt werden, dass die zunächst recht dunkel erscheinende levinassche Rede vom Jenseits-des-Seins einen ganz bestimmten Sinn im Zurückweisen der Verwendung eines universalen und mit dem Gedanken des Einzelnen logisch verknüpften Seinsbegriffs besitzt, dass durch sie nicht die Letztbedeutung einer Orientierung auf Realität aufgelöst wird, dass sie sich unterscheidet von der These einer allgemeinen Nichtigkeit oder Scheinhaftigkeit und dass – 888

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zumindest der hier erarbeiteten Interpretation nach – durch sie auch nicht die Sinnhaftigkeit von metaphysischen Fragen und Hypothesen ausgeschlossen wird. Die Interpretation der Konsequenzen von Levinas’ Vorordnung der Heteronomie des Anderen vor die Autonomie des Subjekts hat ebenso deutlich gemacht: Durch sie entsteht gegenüber einer rein autonomen Ethikbegründung eine kompliziertere Beschreibung der ethischen Subjektivität sowie der philosophischen Methode und Rationalität. Vom Sparsamkeitsprinzip her betrachtet empfiehlt sich sein Philosophieren nicht. Es ergibt sich von daher freilich auch keine Widerlegung – vor allem wenn man darauf blickt, welche plausiblen Gründe Levinas anführen kann, die ihn zu seinem Ansatz genötigt haben. Neben dem in der Fortführung von Husserl und Heidegger gefassten Konzept einer radikal passiven, das Subjekt als transzendentale Bedingung hintergehenden Intentionalität und neben der phänomenologischen Skepsis gegenüber der zunächst nur schwer phänomenologisch ausweisbaren Annahme einer universalen Vernunftinstanz, von der etwa der späte Fichte ausgeht, spricht für ihn gegen eine autonome Begründung des Sollens aus dem Subjekt zunächst seine Beschreibung der Problematik dessen, was er das Es-gibt nennt. Sie weist ihn auf die Bedeutung einer radikalen Transzendenzbeziehung, die durch jede übergreifende Instanz, sei sie aus einem über das Subjekt Hinausgehenden oder aus dem Subjekt selbst begründet, verhindert würde. Zum Festhalten an dieser Art der Transzendenzbeziehung und der heteronomen Begründung des Sollens sieht er sich letztlich genötigt durch seine Auslegung der Verantwortung als einer ursprünglich asymmetrischen. Wenn Levinas seinen Ansatz von dieser ethischen Grundintuition abhängen lässt, dann nicht, indem er willkürlich die Argumentation mit dem Hinweis auf eine Erfahrung abbricht, sondern nachdem er die Unausweichlichkeit eines solchen Fundierungselements eigens ausgewiesen und das Fehlen einer objektiven Gewissheit in seiner Herkunft und seinem Sinn erhellt hat. Auch wenn er seine Thesen häufig recht absolut vorträgt, ist er sich ihrer Subjektivität bewusst, wie auch einer legitimen Pluralität. Durch die Erhellung der beschriebenen Begründung tritt zugleich hervor, dass eine Anknüpfung an Levinas’ Modell es kaum umgehen kann, seine Sollensauslegung zu teilen. Sie erscheint zwar auch unabhängig davon als möglich. Zumindest würde sie aber die für Levinas selbst entscheidende Begründung verlieren. Außerdem hat sich Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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ebenso die Erhellung der Möglichkeit einer Vorordnung der Heteronomie vor die Autonomie als abhängig von der Sollensauslegung erwiesen. Man kann sich überlegen, ob man mit der Zustimmung zur Beschreibung der ethischen Asymmetrie schon alle Momente übernehmen muss, in denen Levinas sie entfaltet, etwa auch die extremen Beschreibungen der Stellvertretung. Es ist aber zu bedenken, dass sie sich zunächst einmal als durchaus schlüssige Konsequenzen aus der Asymmetrie erweisen lassen. Auf jeden Fall wäre bei einem positiven Aufgreifen der Beschreibung dieser Phänomene wie auch der Asymmetrie selbst noch offen, welche Geltung und welchen Einfluss sie in Bezug auf die Bestimmung von konkreten Verantwortlichkeiten haben, auf die das Subjekt handelnd eingehen oder auf die es sogar gesellschaftlich verpflichtet werden kann. Levinas geht es mit ihnen ja zunächst um etwas, was sich auf einer Ebene vorgängig dazu bewegt. Indem die Begründung des levinasschen Ansatzes von der Sollensauslegung abhängt, ist das Festhalten an ihr stark von einem letztlich nicht mehr verhandelbaren, subjektiven und persönlichen Urteil bedingt. Levinas’ ethische Grundintuition der ursprünglichen Asymmetrie der Verantwortlichkeit besticht zunächst durch ihr hohes Ethos. Auch kommt es in ihr in besonderer Weise zu einer Würdigung der unverrechenbaren und uneinholbaren Anderheit des Anderen. Den Blick für sie geschärft und ihre Achtung als grundlegendes Moment einer überzeugenden Ethik herausgestellt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst von Levinas. Wie der Vergleich mit Fichte gezeigt hat, kann diesem Anspruch jedoch ebenso ein autonomer Ansatz entsprechen. Es ist dafür nicht notwendig, an einer Asymmetrie der Verantwortlichkeit festzuhalten. Denn auch autonom ergibt sich eine Pflicht der unbedingten Achtung der Freiheit und somit der Eigensphäre des Anderen und diese wird durch das symmetrische Bestehen einer Pflicht des Anderen nicht relativiert oder gar von deren Erfüllung abhängig gemacht. Auch sonst folgen aus Fichtes autonomem Ethikansatz keine inhumanen Konsequenzen, die ein Festhalten an ihm unvertretbar erscheinen lassen. 1238 1238 Insofern ist m. E. Marco Olivetti (1984) sowohl darin zuzustimmen, dass sich die Frage, ob man dem fichteschen oder levinasschen Ansatz zustimmt, von moralischen Gründen her entscheidet (63), als auch darin, dass Fichtes Ansatz am reinen Ich aufgrund von dessen Jenseitigkeit sowohl zur transzendentalen Apperzeption als auch zu einem lediglich individuellen Vollzug (51–55) nicht zu untragbaren ethischen Konsequenzen einer »Philosophie der Gewalt, der Totalität usw.« führt und deshalb Levinas der Vorzug zu geben wäre (63). Nicht angemessen ist jedoch m. E. seine Einschät-

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Wenn sich aus seinem letztlich symmetrischen Modell zugleich Beschreibungen einer Asymmetrie zwischen der eigenen Verpflichtung und der des Anderen ergeben, zeigt dies außerdem, dass man innerhalb eines autonomen Ansatzes sogar Phänomenen der Asymmetrie eine gewisse Berechtigung zugestehen kann, ohne in ihnen wie Levinas die ursprüngliche Form von Verantwortung erschlossen sehen zu müssen. Wie es aufgrund der Abhängigkeit von einer letztlich subjektiven Bewertung schwer ist, für eine ethische Grundintuition zu argumentieren, wenn dafür nicht unhaltbare Inhumanitäten der alternativen Ethikmodelle sprechen, so schwer ist es, gegen sie zu argumentieren. Bedenken können jedoch gegen Levinas’ Sollensauslegung angemeldet werden. Gegen den möglichen Einwand, dass durch die Asymmetrie der Andere nicht in seiner Verantwortlichkeit ernst genommen und somit letztlich dem Subjekt doch untergeordnet werde, kann man Levinas zunächst einmal verteidigen. Es konnte gezeigt werden, dass für ihn die vom Dritten her sich sekundär ergebene Verantwortlichkeit des Anderen nicht etwas bloß Scheinbares ist und dass schon auf der letzten Gültigkeitsebene zum Phänomen der heteronomen Infragestellung durch den Anderen dessen Verantwortlichkeit gehört, wenngleich dies ursprünglich keine Verantwortung ist, die das Ich von ihm einfordern oder auf die hin es ihn beurteilen könnte. Der Frage, ob Letzteres nicht insofern nötig wäre, als die Hilfe gegenüber dem Anderen gestaltet sein will, und zwar in der Orientierung nicht nur auf die Bedürftigkeit des Anderen, sondern auf seine ethische Berufung hin, und es sonst wenigstens praktisch unterbleibt, ihn in dieser Berufung ernst zu nehmen und mündig zu behandeln, kann man dadurch begegnen, dass für die Bestimmung der konkreten Praxis gegenüber dem Anderen immer schon der Blick auf den Dritten relevant ist und somit das Urteil über die Verantwortung des Anderen. Bedeutsamer sind die Anfragen, die sich im Blick nicht auf den Anderen, sondern auf das Selbst stellen. Der Frage, ob die mit der Asymmetrie einhergehende Unabgrenzbarkeit und Unerfüllbarkeit der Verantwortung nicht völlig losgelöst ist von ihrer Realisierungsmöglichkeit und ob sich die Ethik dadurch nicht selbst zung, dass es beim späten Levinas mit der Beschreibung einer zur Freiheit vorgängigen Verantwortlichkeit der Stellvertretung zu einer Auflösung des zurechnungsfähigen Subjekts und somit zu einer Auflösung der Ethik komme, sodass man aus moralischen Gründen eher zu Fichtes Modell zurückkehren müsse (64–66). Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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ad absurdum führt, kann man mit dem Hinweis begegnen, dass bei Levinas für sie – bei aller Bedeutung, die er der konkreten Hilfe gibt – nicht unmittelbar eine Realisation in einem Handeln, sondern vielmehr eine Realisation in einer Haltung der Öffnung auf den Anderen angezielt ist. Auch ist damit nicht eine Haltung gemeint, die das Subjekt erst hervorbringen müsste, sondern eine, die bereits auf eine Art da ist und von der es sich ergreifen lassen kann. Zudem vermag Levinas der Unerfüllbarkeit, die dabei gleichwohl immer bestehen bleibt, selbst einen integralen Sinn in der Transzendierung auf den Anderen zu geben. Mit der darin implizierten jederzeit bestehenden Schuldigkeit ist nicht eine dem Menschen, bemessen an seinen freien Handlungsmöglichkeiten, zurechenbare Schuld gemeint. Die Unerreichbarkeit eines guten Gewissens ist keine krankhafte Skrupulosität, sondern die Zurückweisung einer Form von Selbstrechtfertigung, die sich gegenüber dem Ereignis der radikalen Öffnung für den Anderen verschließt. Der Befürchtung, dass eine Orientierung an Levinas’ Ethik zu einem selbstzerstörerischen Verhalten des Subjekts führt, kann man entgegenhalten, dass es für ihn eine Hingabe nur geben kann auf der Basis der Sammlung des Subjekts und der Erfüllung seiner Bedürfnisse und dass der Andere von daher ein Recht auf die Sorge des Ich um sich selbst hat. Gegenüber der Kritik, Levinas überbetone das Moment des Leidhaften in der ethischen Beziehung, mache es zu einer ethischen Notwendigkeit und entwickle dadurch eine grausame Form von Theodizee, kann darauf hingewiesen werden, dass für ihn das Leid nur insofern zur Ethik gehört, als die Öffnung zum Anderen immer mit einer Unterbrechung des Genusses sowie mit einem Mitleiden einhergehen muss. Von ihm wird aber sozusagen alles darüber hinausgehende Leiden als etwas angesehen, was, indem es die Möglichkeiten der Hingabe des Subjekts beschränkt, nicht sein soll und wofür es eine legitime eschatologische Hoffnung auf Befreiung geben muss. Das eigentliche Problem im Hinblick auf die Rolle des verantwortlichen Subjekts in Levinas’ Ethik liegt m. E. nicht in den genannten Punkten, sondern vielmehr darin, dass es in absoluter Weise nur als Verantwortliches gemeint ist, nur für den Anderen, nicht für sich selbst. Levinas unterlässt es nicht zu betonen, dass eine Beziehung nur möglich ist zwischen Getrennten. Er denkt aber die Trennung des Ich nur als egoistische und nicht positiv als eine, die aus einem absoluten Gemeintsein erfolgt, aus dem heraus das Ich sich selbst als an sich wertvoll betrachten kann. Dadurch findet sich bei ihm auch 892

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nicht der naheliegende Gedanke, das Wesen des Genusses dadurch zu bestimmen, dass er das dem Ich für es selbst Gegönnte ist. Levinas muss sich an dieser Stelle fragen lassen, ob sein Ansatz die ethische Grundintuition einholen kann, die auch dem Subjekt eine, wenngleich nicht von der ethischen Beziehung zum Anderen isolierte, so doch unverrechenbare Selbstzwecklichkeit zuschreibt, und, wenn nicht, ob er dies genau so beabsichtigt oder ob ihn dies nicht zu einer Modifikation seines Ansatzes veranlassen würde.

3.1.2 Rezipierbar für eine christliche Fundamentaltheologie? Die philosophische Überzeugungskraft, die eine Bedingung dafür ist, das levinassche Denken als Basis für eine fundamentaltheologische Erhellung des christlichen Glaubens heranziehen zu können, ist m. E. insgesamt gewährleistet. Es konnte nicht nur als in sich konsistent, sondern auch als wohlbegründet interpretiert werden. Levinas argumentiert aus einem Ansatz heraus und begründet die Wahl dieses Ansatzes. Man kann sagen, dass Levinas durchaus so etwas wie eine transzendentalphilosophische Durchdringung der Fundamente seines Denkens leistet. Wenngleich er diese letztlich nicht in der Autonomie, sondern in einer ihr noch einmal vorgängigen Heteronomie des Unendlichen und des Anderen verortet, legt er doch plausibel die Gründe dar, die zur Zustimmung zu diesem Ansatz bewegen können und überlässt diese nicht der Beliebigkeit. 1239 Seine Kritik an bestimmten Formen des phänomenologischen und des transzendentalen Denkens sowie die Entwicklung seiner eigenen Methodik folgen schlüssig aus seiner Vorordnung der Heteronomie. Dasselbe gilt für seine Kritik des ontologischen Denkens und Sprechens. Vieles, was theologisch bisher in ihm formuliert wurde, müsste auf der Basis des

1239 Insofern wäre Klaus Müller zu widersprechen, für den in »einem Ansatz, der sich an einer fundamentalisierten Alterität orientiert«, wie bei Levinas, »erstphilosophische Bemühungen« »nicht mehr zur Geltung gebracht werden« können und somit dessen Überzeugungskraft schwindet (1997, 180). Meines Erachtens kann sich Thomas Freyer zu Recht gegen diese Anfrage mit dem Hinweis verteidigen, dass auch ausgehend von Levinas eine erstphilosophische Rückfrage berechtigt ist (1998, 49) und »dass die transzendentalphilosophische Reflexion bei Levinas (und bei mir) keineswegs zugunsten einer ›fundamentalisierten Alterität‹ verabschiedet« (52) sowie einem bloßen Fideismus geopfert wird (50).

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levinasschen Ansatzes anders gesagt werden. 1240 Der eigentliche Gehalt des christlichen Glaubens ist m. E. jedoch nicht auf die von Levinas kritisierte ontologische Rede angewiesen. Er impliziert nicht die Annahme einer Einheit des Seins, an der die einzelnen Individuen teilhaben. Er trifft zwar – im Modus des Glaubens – metaphysische Aussagen und setzt somit voraus, dass diese sinnvoll sein können. Dem widerspricht der hier vorgelegten Interpretation nach jedoch Levinas’ Kritik an der Ontologie nicht. Wie verhält sich sein Denken daneben inhaltlich zum christlichen Glauben? Als eine fundamentale Übereinstimmung – im Vergleich mit Fichte tritt dies deutlich hervor – kann man ansehen, dass er vom Phänomen personaler Beziehung ausgeht und ihr eine letzte Bedeutung gibt. Durch seine radikal negative Theologie sowie durch seine Beschreibung des noch weiter als beim Anderen gehenden Transzendierens des Unendlichen – seines Wechsels aus der Position eines Du hin zu der eines Er – wird auch die Personalität Gottes nicht aufgelöst. Ebenso rutscht sein Gottesbegriff nicht in eine leere Bestimmungslosigkeit. Durch die Kombination der negativen Theologie mit der Beschreibung des wirklichen Sichereignens Gottes in der Ethik wird für ihn vielmehr die ganze Fülle der Bedeutung personaler Güte gesichert. Wenn Levinas den Sinn des Wortes ›Gott‹ ausgehend von diesem Ereignis und nicht etwa kosmologisch oder in einer Einheitsspekulation erschließt, entspricht dies ganz grundlegend dem Geist des jüdisch-christlichen Monotheismus. Die Zurückhaltung, Gott darüber hinaus weitere Eigenschaften zuzuschreiben, wie dies in den traditionellen Spekulationen über die Absolutheit des Absoluten geschieht, ermöglicht eine größere Offenheit, die biblische Rede von Gott als einem frei mit der Geschichte Interagierenden gelten zu lassen. Es konnte gezeigt werden, dass für Levinas weder die Freiheit Gottes noch dessen Eingreifen in die Geschichte oder eine besondere geschichtliche Offenbarung ausgeschlossen sind. Zugleich entzieht sich die göttliche Transzendenz für Levinas nicht derart, dass dies der christlichen Idee der rückhaltlosen Selbstmitteilung Gottes an den Menschen widersprechen würde. Das Unendliche ist personal transzendent, nicht dadurch, dass es etwas von sich zurückhalten würde. Es lässt vielmehr seine eigene Herrlichkeit im endlichen Sub1240 Dies ist verschiedentlich schon geschehen, ausführlich etwa durch Josef Wohlmuth in Bezug auf die sich traditionell ontologischer Begrifflichkeiten bedienende Christologie (vgl. bes. 1996, 39–62).

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jekt sich ereignen. Das Unendliche wird für Levinas des Subjekts eigene Idee. Auch die Beschreibung der Bedeutung der Leiblichkeit fügt sich gut in das christliche Gottes- und Menschenbild. Der Leib ist nicht das Resultat eines Abfalls von Gott, sondern von vornherein wesentliches Moment des menschlichen Daseins. Dies kommt bei Levinas u. a. darin zum Ausdruck, dass er eine eschatologische Existenz immer noch als eine leibliche denkt. Von daher entspricht sein Denken zudem der Idee einer leiblichen Auferstehung. Den Leib nicht nur als etwas rein Äußerliches gegenüber der Geistigkeit anzusehen, eine Hülle, höchstens noch ein Ausdrucksmedium, entspricht dem biblischen Menschenbild. Dasselbe gilt, wenn umgekehrt der Mensch nicht auf seine Leiblichkeit reduziert und darüber seine ethische Berufung aus dem Blick verloren wird. Die Leiblichkeit erfährt auch nicht dadurch eine Abwertung, dass sie als etwas angesehen würde, das durch die selbstbezogene Triebhaftigkeit, die Undurchsichtigkeit für das Erkennen, die Beschränktheit oder die Verletzlichkeit und Leidanfälligkeit das eigentliche Ereignis des Unendlichen verunmöglicht oder beschränkt. Für Levinas eröffnet sie dieses vielmehr gerade durch jene Eigenschaften, ohne dass er dadurch den nüchternen Blick dafür verlieren würde, welche Gefahren und Einschränkungen in ihnen liegen. Nicht von ungefähr ergibt sich bei ihm eine eschatologische Hoffnung auf eine Existenz mit einer anderen Leiblichkeit, in welcher der Mensch vor dem Leid geschützt ist und welche sich in einer Weise in die Ausrichtung auf das Unendliche einfügt, dass es hierbei zu einer letzten Intensität der Annäherung an die Vollkommenheit der Güte kommen kann. Es wurde schon darauf hingewiesen, wie seine Betonung der Bedeutung des Leidhaften im ethischen Ereignis zusammenzusehen ist mit seiner Problematisierung des Leids. Von Levinas her wird man nicht einer übersteigerten Leidensmystik das Wort reden können. Der Ausblick auf ein eschatologisches Heil zeigt außerdem, dass seine Beschreibung einer radikalen Sterblichkeit des Menschen dem christlichen Glauben nicht widersprechen muss. Eine Weiterführung der Existenz über den Tod hinaus wird nicht ausgeschlossen, es wird lediglich gesagt, dass der Mensch sich nicht selbst im Sein halten kann oder aus sich heraus ewig existiert, sondern dass er von anderem im Sein gehalten werden muss. Dass Levinas den Sinn menschlicher Existenz nicht auf das hier und jetzt Mögliche beschränkt und philosophische Ansatzpunkte für eschatologische Hoffnungen auf Erlösung aufzeigt, Hoffnungen, die für ihn Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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in den Zeugnissen der Religion zur Sprache kommen, ist darüber hinaus dadurch fundamentaltheologisch bedeutsam, dass sich so bei ihm die für eine christliche Theologie typische Begrenzung der rein philosophischen Vernunft findet, die aus sich auf einen Bereich, für den sie selbst keine Antworten geben kann, und somit auf den Bereich der Religion verweist. Für Levinas sind die Antworten der Religion zwar nicht in einer besonderen Offenbarung Gottes fundiert, er schließt jedoch die Möglichkeit einer solchen Offenbarung auch nicht aus. Wo Levinas’ Denken sich sperrig zum christlichen Glauben verhält, bekommt man am besten anhand seiner eigenen Bemerkungen dazu in den Blick. Er äußert sich verschiedentlich skeptisch gegenüber christlichen Grundüberzeugungen. So erscheint ihm die Idee einer Menschwerdung Gottes ausgehend von der Beschreibung des noch radikaleren Transzendierens des Unendlichen gegenüber der Transzendenz des Anderen als zweifelhaft. Es ergibt sich für ihn so jedoch nicht eine Widerlegung, sondern nur eine Anfrage. Wirklich ausgeschlossen werden kann dadurch die Möglichkeit einer Inkarnation nicht. Kritisch äußert er sich ausgehend von seiner Transzendenzvorstellung auch gegen die sich für ihn im Christentum aus dem Inkarnationsglauben ergebende Idee eines sinnlichen Kontaktes zum Göttlichen. Zum einen entsteht hier philosophisch wieder nur eine Anfrage. Und man müsste bedenken, dass für Levinas selbst im sinnlich-leiblichen Kontakt zum Anderen zugleich eine Beziehung zum Unendlichen stattfindet. Zum anderen ist zu betonen, dass die christliche sakramentale Praxis, auf die Levinas vermutlich abzielt, nicht als bloß sinnliche Beziehung verstanden wird. Der Glaube und damit die freie, geistige und personale Ausrichtung auf Gott sind unverzichtbarer Bestandteil des sakramentalen Geschehens, zumindest nach katholischer Auffassung. Levinas trifft diese nicht, wenn er Sakramente als eine Art Magie, als rein materielle Einflussnahme auf den Geist, kritisiert und der Kommunikation freier Personen gegenüberstellt. Ebenso wenn er das Sakramentale mit dem Numinosen in Verbindung bringt, dem Ereignis der Materialität des Seins, das einen Bezug auf die uneigentliche Transzendenz des Es-gibt herstellt, wird deutlich, dass er es als ein rein sinnliches Geschehen versteht. Es entsteht in diesem Punkt kein Widerspruch zwischen Levinas’ Denken und christlichen Vorstellungen. Seine Kritik lässt sich m. E. vielmehr positiv aufgreifen für eine Unterscheidung der Geister in der liturgischen Praxis. Dies betrifft die Abgrenzung des Magischen vom Per896

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sonalen genauso wie die Beschreibung des Phänomens des Numinosen oder Sakralen und die Unterscheidung zur eigentlichen Heiligkeit des Unendlichen. Seine Analysen des Ereignisses der Materialität des Seins können auch für eine christliche Auseinandersetzung mit der Kunst und nicht zuletzt mit der eigenen Bilderverehrung fruchtbar rezipiert werden. Dies gilt ebenso für seine Beschreibungen der weiteren Wirkweisen von Kunstwerken – neben der Materialität über die Bildlichkeit und über die gestische Eröffnung eines Seinsverstehens. Indem er ihnen jeweils künstlerische Gestaltungsformen und Weisen des Umgangs mit Kunst zuordnet, welche eine positiven Rolle im Ereignis der Transzendenz spielen können und dieses nicht verstellen, muss das Aufgreifen dieser Kritik nicht auf eine gänzliche Verabschiedung von Bildern und generell von Kunst hinauslaufen, sondern kann es einen kritischen Umgang fördern. Es ist in der theologischen Levinas-Rezeption bereits ausführlich gezeigt worden, wie seine Bildkritik hilfreich sein kann, die personale Gottesbeziehung verstellende, etwa rein ästhetisierende und idolisierende Formen der christlichen Bilderverehrung aufzudecken, wie sie aber nicht generell gegen sie sprechen muss, sondern vielmehr deren ursprüngliche Intention zugänglich machen kann. 1241 Wenn Levinas in Bezug auf die christliche Idee der Gemeinschaft mit Gott ablehnend von einer »warmen und gleichsam sinnlichen Kommunion mit dem Göttlichen« (DT113) spricht, dann kritisiert er neben der Sinnlichkeit die Wärme einer nicht fordernden personalen Zuwendung Gottes oder zumindest das Zurücktreten dieser Forderung. Auch dies hat mit seiner Kritik am Inkarnationsglauben zu tun. Das radikale Transzendieren, in dem er das Unendliche beschreibt, hängt für ihn zusammen mit der Einsetzung des Menschen in eine bis zur Möglichkeit des Atheismus reichende Selbständigkeit und in eine Verantwortung, die er ganz alleine trägt. Für ihn stellt sich die Frage, ob eine Inkarnation Gott nicht auf eine Weise in der Welt präsent mache, die diese Verantwortung einschränke. Diese Anfrage wird freilich dadurch relativiert, dass der existenzielle Atheismus für Levinas selbst, wie gezeigt werden konnte, nicht nur nicht die Existenz Gottes, sondern auch nicht dessen Manifestation im Menschen und nicht einmal die Möglichkeit eines helfenden Eingreifens Gottes in die Geschichte ausschließt. Auch trifft die Anfrage den christlichen Inkarnations- und Erlösungsglauben insofern nicht, als dieser keines1241

Vgl. etwa Wohlmuth, 2002, 186–193 u. 2004, 53–76.

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wegs eine Übernahme der Verantwortung durch Gott impliziert, welche die Verantwortung des Menschen schmälern würde. Die herausgehobene Stellung von Jesus Christus als Erlöser muss das nicht einschränken, was Levinas als Messianismus jedes einzelnen Menschen beschreibt. Wie herausgearbeitet wurde, begrenzt auch Levinas selbst nicht den Messianismus auf den bloß präsentischen Messianismus des Einzelnen, sondern es besteht für ihn rein philosophisch die Berechtigung zu einer eschatologischen Hoffnung auf eine von Gott eröffnete Erlösung, die den Menschen nicht nur in eine letzte Intensität der begehrten Stellvertreterposition annähert, sondern eine von Leid weitgehend befreite Existenz eröffnet. Möglich ist dies für ihn zum einen dadurch, dass das Alleinstehen in der Stellvertreterposition nicht eine Hilfe von außen ausschließt, und zum anderen dadurch, dass für Levinas die Konstitution des getrennten Subjekts im Genuss die Bedingung dieser Position darstellt und somit die Überwindung des Leidens als einer Einschränkung der Entfaltung des Subjekts und seiner Hingabemöglichkeiten aus der Verantwortung für den Anderen selbst gefordert ist. Dadurch bekommt für Levinas auch die Beziehung zum Unendlichen als einer diese Entfaltung eröffnenden, raumgebenden Milde, wie er sie unter dem Begriff des ›Weiblichen‹ beschreibt, eine letzte und bleibende Berechtigung innerhalb des Ereignisses des Unendlichen. Es konnte gezeigt werden, dass diese Perspektive und die damit zusammenhängenden Themen etwa des Dankes und der Bitte an Gott zwar nur ganz am Rande bei Levinas auftauchen, systematisch aber zu seinem Ansatz dazugehören. Die an der christlichen Religiosität kritisierte Wärme ist also auch für Levinas ein Teil der Gottesbeziehung. Ein Unterschied scheint lediglich darin zu bestehen, dass für ihn, wie oben schon thematisiert, die gütige, den Genuss bestätigende Zuwendung letztlich nicht für das Subjekt erfolgt, sondern für den Anderen. Im christlichen Verständnis der Gottesbeziehung schließt m. E. die Berufung zur ethischen Selbstlosigkeit nicht aus, dass Gott das Ich auch für sich meint, seine getrennte Existenz sowie seinen Genuss für es selbst eröffnet und nicht nur für den Anderen. Möchte man den levinasschen Ansatz für eine philosophische Grundlegung einer christlichen Theologie heranziehen, dann scheint an diesem Punkt eine Modifikation erforderlich. Sie ist m. E. möglich, ohne das Modell verabschieden zu müssen, welches das Sollen vom Anderen ausgehen lässt. Das absolute Gemeintsein des Ich für sich kann etwas sein, was dem Anderen bzw. dem Unendlichen entspringt. Auch müsste mit der Interpretation einer nicht 898

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noch einmal relativierten Eigenbedeutung des Subjekts die Grundkonzeption einer asymmetrischen und eine übergreifende Allgemeinheitsebene ausschließenden Beziehung nicht verlassen werden. Die Konfrontation mit der Achtungswürdigkeit des Anderen könnte ergänzt werden mit einem an die ›weibliche‹ Bestätigung rückgebundenen Empfinden einer eigenen Achtungswürdigkeit, die sich nicht auf derselben Ebene wie die des Anderen bewegte, der nicht dasselbe Gewicht zukäme und aus der auf einer ursprünglichen Ebene noch keine Forderung gegenüber dem Anderen entspringen müsste. Ausgehend von einer solchen Modifikation würde sich zwar in der konkreten Verwirklichung der Ethik und der Bedeutung der Leiblichkeit in ihr nichts verändern, wohl aber in der mit ihr einhergehenden Haltung, indem nämlich das Moment der Sorge um sich – auch in der Form der eschatologischen Hoffnung für sich – nicht nur als etwas angesehen würde, was für den Anderen zu erfolgen hat. Die hauptsächliche Veränderung für die Bedeutung der Leiblichkeit bestünde darin, dass dann der Genuss als etwas erlebt würde, was dem Ich für es selbst gegönnt ist und er somit unmittelbar als Korrelat oder Manifestation der es meinenden personalen Beziehung verstanden werden könnte. Mich-Meinen würde unmittelbar Mich-für-mich-Meinen heißen – und insofern Genuss. Die ethische Funktionalisierung des Genießens sowie der Leiblichkeit überhaupt würde aufgebrochen, und zwar ohne sie dabei aus einer Vermittlung mit der Beziehung »zum Anderen sowie zum Unendlichen« einfach herauszunehmen. 1242 Eine weitere Modifikation ist m. E. nötig. Nicht nur dem Selbst, auch der Natur, vor allem den Lebewesen, würde man in christlicher Perspektive einen Eigenwert zugestehen, wenngleich wohl nicht in der absoluten Weise wie einem Vernunftwesen. So etwas kommt bei Levinas nicht in den Blick. Dies scheint zwar zunächst ausgehend von seiner Beschreibung der im Anderen entspringenden Forderung konsequent zu sein, indem sie für ihn unmittelbar verbunden ist mit der Bezugnahme des Anderen auf die ethische Bedeutung. Und das Gebot der absoluten Achtung des Anderen scheint sich wohl tatsächlich daher zu ergeben, dass er selbst Subjekt einer Verantwortung ist. Aber enthält nicht gerade eine phänomenologische Herangehensweise mit ihrer Offenheit für die ganze Vielschichtigkeit des Sichzeigenden 1242 Zur Bedeutung einer solchen, von Levinas her entwickelten reflexiven Erhellung des Eigenwerts des Genießens für eine christliche Spiritualität sowie zu deren Bezügen zur Theologie des Irenäus von Lyon vgl. Trescher, 2016, 166 f.

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Zu Levinas

Potentiale, daneben noch eine andere Form von Achtungswürdigkeit zu beschreiben? Von daher schließt der Ansatz von Levinas nicht von vornherein eine stärkere Würdigung des außermenschlichen Lebens aus. Man müsste ihn in diesem Punkt jedoch weiterentwickeln. Den allermeisten Anfragen an die philosophische Plausibilität sowie die fundamentaltheologische Rezipierbarkeit des levinasschen Denkens konnte in dieser Untersuchung begegnet werden. Die zwei oben dargelegten Modifikationen sind m. E. zwar auf jeden Fall erforderlich, aber mit ihnen muss nicht der eigentliche Ansatz verändert werden. Damit können Levinas’ Beschreibungen der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit von großer Relevanz für die christliche Theologie sein.

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3.2 Zu Fichte

3.2.1 Philosophische Kritik Auch Fichtes Ansatz konnte insgesamt als kohärenter Entwurf nachvollziehbar gemacht werden. Die von ihm behauptete Notwendigkeit seiner Schlussfolgerungen erschien jedoch teilweise als zweifelhaft. Im transzendentalen Rückgang ist insbesondere der Schluss auf ein absolutes Sein anzufragen. Es fällt auf, dass Fichte nur eine Form von Gottesbeweis anführt, eine Art kosmologisches Argument, das von einem endlichen, sich nicht selbst begründenden Sein auf eines schließt, das aus sich ist. Ein anderes Argument scheint für ihn nicht beweiskräftig zu sein. Für das ontologische Argument sagt er dies in der Erlanger Wissenschaftslehre ausdrücklich; es hängt für ihn von seinem kosmologischen ab (W291). Auch wenn man die anderen gewöhnlich verhandelten Beweisarten betrachtet, zeigt sich, dass sie in seinem späteren Ansatz keine Gültigkeit besitzen können. Das frühere Argument für die Wirklichkeit Gottes, das er über die im sittlichen Imperativ implizierte moralische Weltordnung führt, ergibt sich im späteren Modell so nicht, da für ihn nicht mehr in jedem Fall ein Gelingen moralischen Handelns erforderlich ist und da das eine endliche Dasein in sich die Gesetze trägt, nach denen sich die Welt so entfaltet, dass moralisches Handeln möglich ist. Entsprechend würden auch physikotheologische oder teleologische Argumente nicht mehr auf die Existenz eines Absoluten führen. Ein Beweis, der die Moral selbst allein in Gott begründet sieht, ist für Fichte vom Autonomiegedanken her ausgeschlossen. Auch die Unendlichkeit oder Vollkommenheit, die im Sollen liegt, muss nicht auf ein schlechthin Unendliches zurückgeführt werden. Das Argument, wie Descartes es denkt und von Levinas positiv aufgegriffen wird, ist für Fichte nicht zwingend. Denn in seinem Ansatz kommt dem Dasein selbst schon das im Kern unendliche göttliche Leben zu. Dass ein Wesen vorausgesetzt werden muss, das diese Unendlichkeit, anders als im endlichen Dasein, schon Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Zu Fichte

voll verwirklicht, ergibt sich aus seinem kosmologischen Argument. Auch eine geistige Unmittelbarkeit zu diesem Wesen wird auf seiner Basis, durch eine Rekonstruktion der Setzung des Endlichen durch das Unendliche, erschlossen. Beides ergibt sich nicht als notwendig vorauszusetzende Begründung des Unendlichkeitsmoments im Dasein. Das kosmologische Argument ist für ihn offenbar das einzige, das auf Gott schließen lässt. Unter der Voraussetzung des Glaubens an die Vernunft überhaupt hält er es für zwingend: In der Frage nach der Begründung eines relativen Seins muss letztlich ein Sein angenommen werden, das sein Sein nicht von anderem, sondern aus sich hat. Die Notwendigkeit auch dieses Schlusses ist jedoch m. E. schon aus zwei Gründen hinterfragbar. Zum einen erscheint der Causa-sui-Begriff als möglicherweise widersprüchlich. Das Handlungsmodell der Selbstsetzung lässt sich trotz der anscheinenden Widersprüchlichkeit auf der Ebene ihres Ausdrucks und ihrer zeitlichen Vorstellung für die Setzung des Wissens und wohl auch für das ursprüngliche Wollen des vernünftigen Wollens, das ebenso autonom geschehen muss, plausibel machen, aber nicht unbedingt für die Setzung des Seins. Falls dieser Begriff widersprüchlich ist, kann das Sein, das fraglos einfach ist, bei dem die Begründungsfrage anhält, nicht mit dem identifiziert werden, was sich selbst ins Sein setzt. Von daher könnte man es schon in dem realisiert sehen, was Fichte im transzendentalen Rückgang als das Sein der Existenz erschließt – bei ihm die Totalität der endlichen Wirklichkeit, welche die endlichen Seienden in sich einfasst. Zum anderen kann die Berechtigung der Begründungsfrage selbst in Zweifel gezogen werden. Die Notwendigkeit, ein Kausalverhältnis zu denken, ergibt sich in Fichtes Wissenschaftslehre zunächst nur für die Setzung des Ich und für die konkrete Beschränkung von Ich und Nicht-Ich. Hier muss die Beschränkung zurückgeführt werden auf das Ich oder das Nicht-Ich, zumindest wenn man überhaupt den für die Wissenschaftslehre grundlegenden Glaubensakt vollzogen hat, der als Glaube an das Sollen den Glauben an das Können und somit an die Gültigkeit solcher Kausalverhältnisse impliziert. Für das Sein scheint daraus jedoch nicht das Erfordernis einer Begründung zu folgen. Auch insofern könnte die transzendentale Rückfrage schon beim Sein der Existenz, wie sie in der eigenen Subjektivität erlebbar wird, stehen bleiben. Infrage gestellt ist damit freilich nur die Notwendigkeit, nicht die Möglichkeit der Annahme eines Grundes der eigenen Existenz, der von deren Beschränkungen frei ist. Die eigene beschränkte Existenz könnte sogar weiter zumin902

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dest in einem schwachen Sinn – ähnlich wie bei Levinas – als Indiz betrachtet werden für die Verwiesenheit auf eine es begründende absolute Instanz. Die Leiblichkeit könnte so ihre Bedeutung als greifbare Manifestation dieser Beschränktheit und insofern als Hinweis auf Gott behalten. Wenn Fichtes Gottesbeweis nicht zwingend ist, dann ist auch sein transzendentaler Aufstieg, den er in der Erlanger Wissenschaftslehre beschreibt und der sogleich beim Verhältnis von absolutem Sein und Dasein einsetzt, lediglich hypothetisch. Wie in seiner Darstellung gezeigt wurde, behält die Gedankenfolge jedoch auch einen Sinn, wenn von einem Verhältnis des Daseins oder des Wissens nur zum Sein – ganz unabhängig davon, ob es absolut ist oder nicht – ausgegangen wird. Dies als Faktum genommen würde sich in derselben transzendental rückfragenden Weise, wie Fichte sie beschreibt, die Möglichkeit eines Realismus und eines Idealismus, dann der höhere Idealismus des Lichts und der Realismus des Glaubens an das dunkle Sein des Lichts ergeben. Man würde bei diesem im Grunde schon in der frühen Wissenschaftslehre erreichten Ergebnis, dem Verständnis des Subjekts als eines zugleich unbegrenzten und begrenzten praktischen Vollzuges mit der Ausrichtung auf eine autonome Setzung eines Wissens seiner selbst, jedoch stehen bleiben. Es müsste an diesem Punkt der transzendentalen Rückfrage zudem die Frage gestellt werden, ob das Sollen, wie es ausgehend von der Frage nach dem Wissen als Sollen oder ursprüngliches Wollen des Seins, und zwar des Seins, das sich als die Wirklichkeit der Freiheit erwiesen hat, und somit als Wollen des autonomen Wollens sowie dessen Selbstbewusstsein bestimmt worden ist, schon hinreichend das einholt, was man als ethische Grundintuition ansehen möchte. Levinas würde dies entschieden verneinen. Als konsensfähig erscheint es, das so Erreichte zumindest als Teilaspekt der ethischen Bestimmung des Menschen zu betrachten. Daher ist es m. E. möglich, wie Fichte am Sollen der selbstbewussten Verwirklichung der autonomen Freiheit anzusetzen, von da aus nach den Bedingungen dieser Verwirklichung zu fragen und so die Leiblichkeit transzendentalphilosophisch zu erschließen. Die Argumentationen, in denen dies bei Fichte geschieht, konnten als durchaus plausibel dargestellt werden: wie er in der Erlanger Wissenschaftslehre ausgehend vom Verstehen des Verstehens ein ursprüngliches Verstehen in einem bestimmten Selbstgefühl und dessen Auslegung in eine objektive Körperwelt herleitet, wie er in der frühen Sittenlehre ausgehend vom SelbstbewusstLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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Zu Fichte

sein des Vermögens absoluter Freiheit die konkret beschränkte Tätigkeit als Ausgangspunkt des Selbstgefühls erschließt, wie er aufgrund des drohenden Zirkels zwischen Erkennen und freiem Handeln diese Tätigkeit als faktischen, unmittelbar gefühlten Trieb ausweist und wie er als Bedingung der Zuschreibung eines solchen Triebes zu sich selbst ihn weiterbestimmt zu einem Trieborganismus. Dass sich nicht jedes Glied der fichteschen Argumentationskette als so notwendig erwiesen hat, wie er es behauptet, spricht nicht gegen seine Argumentation generell. Insgesamt kann sie m. E. zeigen, dass auf eine transzendentalphilosophisch nach den Bedingungen einer selbstbewussten Verwirklichung von Freiheit fragende Weise sehr weitgehend die Gestalt der Leiblichkeit erschlossen werden kann, wie sie phänomenal gegeben ist. Ein erstaunliches Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist die weitgehende Übereinstimmung von Fichtes Leibbegriff mit dem, den Levinas phänomenologisch erschließt. Gewöhnlich sieht man es als Verdienst der Phänomenologie an, die spezifische Leiblichkeit des Leibes im Unterschied zur bloßen Körperlichkeit herausgearbeitet zu haben. Es ist bemerkenswert, wie tiefgreifend dies schon von Fichte geleistet wurde. Die transzendentalphilosophische Erschließung des Begriffs des Leibes sieht diesen von vornherein in seinem funktionalen Zusammenhang. So kann mit ihr zugleich die Bedeutung der Leiblichkeit innerhalb des Erkennens und Handelns sowie der Ethik und der Religion aufgezeigt werden. In die Ethik ist die Leiblichkeit zunächst eingebunden, indem die bewusste Verwirklichung der Vernunftautonomie als Verwirklichung eines ethischen Sollens oder zumindest als Moment dieser Verwirklichung betrachtet werden kann. Da Fichte diese in einem zweiten Schritt auf die interpersonale Achtung der Freiheit des Anderen hin auslegt, kann zugleich die Rolle der Leiblichkeit in der ethischen Beziehung zum Anderen bestimmt werden. Die religiöse Bedeutung kommt in den Blick, wenn Fichte die selbstbewusste Verwirklichung der Vernunftautonomie als Moment der Beziehung zum Absoluten deutet. Diese Beziehung kann man zumindest als Möglichkeit von Fichte erschlossen sehen. Dabei kann auch seiner Bestimmung des Verhältnisses von Endlichem und Absolutem eine Plausibilität zugestanden werden. Zwar ist es, wenn man den Causa-sui-Begriff und Fichtes Annahme eines rein unwillkürlich und ohne Möglichkeiten der Wahl lebenden Gottes problematisiert, nicht mehr möglich, einfach wie Fichte über den Ausschluss der Willkür darauf zu schließen, dass im Endlichen dasselbe Leben wie im 904

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Philosophische Kritik

Absoluten lebt und der Mensch somit über den eigenen innersten Kern in Verbindung mit Gott steht. Es lässt sich aber auch unabhängig davon kaum anders denken, da die in diesem Vernunftkern liegenden Grundeinsichten in Wahrheit und Gutheit nicht etwas sein können, was sich für Gott, soll er ein vollkommenes Wesen sein, ganz anders verhält. Für Fichte selbst hat sich die Annahme, dass Gott im Endlichen erscheint, wie er in sich ist, zugleich schon dadurch ergeben, dass der Glaube als Glaube an ein Verständnis von Wirklichkeit gefasst wurde, das für alle Wirklichkeit und auf eine nicht mehr relativierbare Weise gültig ist. So bekommt die Ausrichtung auf diesen Kern und die Suche nach der Verwirklichung des in ihm schon angelegten Lebens zumindest ähnlich, wie Fichte dies bestimmt hat, eine Bedeutung auch für eine mögliche religiöse Beziehung. Der Sinn der transzendentalen Erschließung der Leiblichkeit liegt weniger in einer Deduktion dessen, was ohnehin phänomenologisch greifbar vor Augen liegt, sondern in der Erhellung der tieferen, nicht mehr unmittelbar sichtbaren Phänomenebenen. Da die Leiblichkeit sich zum großen Teil auf ihnen bewegt, ist die phänomenologische Beschreibung auf die transzendentale Rückfrage angewiesen. Dies ist bei Levinas deutlich geworden, der ebenso in einer bestimmten Weise transzendentalphilosophisch vorgeht. Daneben liegt der Sinn der transzendentalen Erschließung in der Erhellung der funktionalen Zusammenhänge, in denen der Leib steht, und so dessen Bedeutsamkeit. Hierbei ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass der jeweilige Funktionszusammenhang, über den die von Fichte vorgelegte Argumentationskette verläuft, nicht der einzige ist. Die organisierte Leibgestalt ist etwa nicht nur auf die Möglichkeit der Selbstzuschreibung einer bestimmten, von anderen unterschiedenen, im Raum erscheinenden Konstellation von Naturtrieben funktional bezogen, sondern etwa auch auf die interpersonale Kommunikation. Man könnte m. E. ebenso ansetzen, nach deren Bedingungen zu fragen und so Momente der Leiblichkeit zu erschließen. Wenn Fichte einen bestimmten Gang der transzendentalen Rückfrage wählt, ist außerdem noch nicht behauptet, dass damit die eigentliche oder zentrale Funktion des betreffenden Elements des Leibes aufgewiesen wird. Fichte erschließt die Leibgestalt weitgehend als Erfordernis für das Bewusstsein. Das darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass es seiner Auffassung nach dem Menschen letztlich um eine Praxis geht und der Leib von daher seine zentrale Bedeutung gewinnt. Die aufgewiesenen Funktionszusammenhänge mit dem Erkennen werLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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Zu Fichte

den dadurch freilich nicht ungültig. Sogar wenn man die zentrale Ausrichtung des Sollens noch einmal anders als Fichte verstehen würde, etwa wie Levinas auf ein passives Betroffensein durch den Anderen hin, könnten sie, wie dies im Vergleich zwischen beiden deutlich gemacht wurde, ihre Gültigkeit behalten. Das Ziel der von Fichte vorgelegten Argumentation ist nicht vordringlich, die reale Genese der Leiblichkeit zu erschließen, wie dies etwa in der Naturwissenschaft verfolgt wird. Eher als Nebenprodukt ergibt sich die Annahme eines Bildungstriebes und in der Zusammenschau mit dem späteren Modell die Annahme einer realen Naturgeschichte, die von diesem gelenkt ist. Weiter als bis hierhin wird die Genese jedoch nicht erschlossen. Zu würdigen ist, dass dieses Resultat grundsätzlich der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Standardtheorie von der Evolution der Lebewesen entspricht. Dass sich für Fichte transzendentalphilosophisch eine teleologische Lenkung der Naturentwicklung ergibt, muss dieser Theorie nicht entgegenstehen, da die Biologie so etwas von sich aus nicht ausschließt. Ähnliches gilt für das Konzept der Natur als eines im Grunde triebhaften Geistvollzuges. Es zeigte sich, dass dies der modernen Physik nicht nur nicht widersprechen muss, sondern dass Fichtes Modell sogar eine Erklärung liefern kann für das Zusammengehen der geistigen Innenperspektive auf die Natur und deren äußerer Erscheinung als eines im Raum verlaufenden materiellen Prozesses, über welchen die Naturwissenschaft Aussagen macht, sowie für das Zusammengehen von Freiheit und Naturdetermination. Fichte beschränkt sich in der transzendentalen Rückfrage freilich auf das, was zur Klärung der Bedingung von Sittlichkeit nötig ist, und zielt nicht auf eine weitergehende naturphilosophische Erhellung der Struktur des vorausgesetzten Triebgeschehens. So bleibt etwa völlig offen, ob diesem Prozess einzelne letzte Einheiten zugrunde liegen oder was die Grundgesetze der Materie sind. Durch diese Zurückhaltung, die es vermeidet, der empirischen Naturwissenschaft etwas vorwegzunehmen oder in Konkurrenz mit ihr zu treten, und doch grundsätzlich klärt, wie das Verhältnis zu ihr zu denken ist, empfiehlt sich Fichtes Herangehensweise. Fichtes Denken kann durch die Vorgängigkeit zu jeder empirisch anthropologischen Untersuchung und durch die Zurückhaltung, seine bei einer recht formalen Bestimmung der Leiblichkeit stehen bleibende transzendentale Analyse mit empirischem Material an-

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zureichern, trotz des naturwissenschaftlichen Fortschritts immer noch aktuell sein. 1243 Im Verlauf der Interpretation des Denkens von Levinas sind verschiedene Anfragen aufgetaucht, die dieser ausdrücklich an Fichte stellt oder zumindest indirekt an ein Modell, wie es sich bei Fichte in ähnlicher Weise findet. Es ist zu fragen, inwieweit Fichtes Ansatz diesen Anfragen gegenüber bestehen kann. Für Levinas vertritt Fichte ein Modell völlig unbeschränkter Freiheit und vermag von daher nicht zu erklären, wie es zu Beschränkung kommen kann. Tatsächlich versteht Fichte jedoch die Freiheit des Individuums weder als causa sui noch als ein die Beschränkung des Nicht-Ich noch einmal unterfangendes Setzen, sondern sie ist für ihn vielmehr ursprünglich angewiesen auf eine wirkliche Passivität gegenüber dem Nicht-Ich. 1244 Ebenso kann er der Faktizität der Phänomene des Lebens-von-…, der Sterblichkeit und der Zeitlichkeit mit seinem Ansatz gerecht werden, wenngleich er ihnen wie auch der Passivität keine letzte Dignität 1243 Die genannten Grundzüge hat besonders Benedetta Bisol, u. a. ausgehend von einem Vergleich des fichteschen Leibdenkens mit zeitgenössischen Anthropologien, herausgearbeitet (2006, 79 u. 2011, 106–108). Hansjürgen Verweyen hebt in seiner an Fichtes Denken angelehnten transzendentalen Erschließung der Sinnenwelt die Herausforderung hervor, aufgrund des gemeinsamen Gegenstandes mit der Naturwissenschaft zum einen weitgehend abstrakt und grundsätzlich zu bleiben und zum anderen das Erschlossene mit ihr zu vermitteln (2002, 175 f.). 1244 Insofern lässt sich m. E. nicht auf Fichte beziehen, was Thomas Freyer (2009, 24) in Bezug auf Modelle theologischer Anthropologie, die nicht vom Anderen, sondern vom neuzeitlich verstandenen selbstbewussten Subjekt aus konzipiert sind, vorbringt: »Die pathische Konstitution und Verfassung des Leibes ›unterbricht die Kontinuität des identitätsphilosophisch gesicherten, sich das Andere assimilierenden Denkens‹.« Soweit ich sehe, hat Levinas selbst die Erfahrung der leiblichen Passivität nicht als Argument gegen ein Modell vorgebracht, das von einer vom Subjekt aus gedachten Einheit von Denken und Sein ausgeht. Er scheint vielmehr sehr genau zu sehen, dass dieses Modell einen Ausweg aus der Erfahrung des Es-gibt als des Ereignisses des Ausgeliefertseins an diese leibliche Passivität bieten kann und letztlich erst von einem bestimmten Verständnis von Ethik her überwunden werden muss. Entsprechend rekurriert auch Freyer für seine Bestimmung von Leiblichkeit als Verhältnis zu einer nicht mehr durch eine Subjektsautonomie oder eine Ontologie einholbaren Transzendenz auf ein bestimmtes Konzept von Ethik (26–29). Freyer spricht an der oben zitierten Stelle mit René Buchholz (2005, 390), welcher »die vom Idealismus verdrängte pathische Konstitution des Menschen, d. h. die Erfahrung von Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Leid«, hervorhebt und sich dabei auf Feuerbach bezieht, der, gegen Fichte, »den Leib als ›das poröse Ich‹« bestimmte. Dass Fichte sich ausgehend von der Frage nach dem Realitätsbezug des Wissens sowie ausgehend von der Frage nach der Herkunft der sinnlichen Bestimmtheit selbst gegen einen bloßen Idealismus gestellt hat, wird dabei übersehen.

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zuweist. Mit seiner Konzeption eines überzeitlichen Subjektkerns, der sich zugleich ohne eine leibliche, zeitliche und sterbliche Existenz nicht entfalten sowie kein Bewusstsein entwickeln kann, zeigt er, wie wenig zwingend die levinassche Auslegung der Phänomene der leiblichen Abhängigkeit des Bewusstseins auf eine radikale Sterblichkeit hin ist. Darüber hinaus treffen auch die Anfragen, die Levinas an ein Konzept stellt, das von einer überindividuellen Vernunfteinheit ausgeht, Fichte nicht. Sein Universales ist nicht toter Begriff, sondern Leben. Es lässt die Freiheit des Individuums ihm gegenüber bestehen. Und er versteht seine Einheit nicht als eine, die von vornherein jede Differenz ausschließt und unerklärlich macht. Zwar kann er aus der Einheit des Absoluten das Endliche nicht ableiten, aber dessen Faktizität widerspricht ihr nicht. Fichte modifiziert sogar den zunächst gefassten Begriff des rein einigen und selbstgenügsamen Absoluten zum Begriff eines Gesetzes, das die Setzung seiner Erscheinung impliziert. Wie Fichte das Sollen auf eine die Individuen übergreifende Einheit der Vernunft auslegt, mag aus phänomenologischer Perspektive als voreilig erscheinen. Aber es lassen sich dafür zugleich gute Gründe anführen. Ihre Erklärung aus der Einheit des Absoluten, als Einheit von dessen Dasein, die sich bei Fichte sozusagen an der höchsten Stelle findet, mag fragwürdig sein. Nicht weniger aber legte sie sich für ihn m. E. nahe als Erklärung überhaupt der Allgemeinheit der Vernunft sowie als Erklärung der gemeinsamen Weltwahrnehmung und der Möglichkeit von Interaktion. Was lässt sich zu Levinas’ Kritik an den ethischen Implikationen von Fichtes Ansatz und ähnlichen Modellen sagen? Weder folgt aus Fichtes Rückgriff auf ein universales Gesetz, dass dieses in einen totalitären Staat umgesetzt werden muss, noch folgt aus ihm die Unterdrückung oder Nichtbeachtung des Anderen in seiner wirklichen Anderheit. Die Achtung der Freiheit des Anderen ergibt sich vielmehr als zentraler ethischer Imperativ. Zwar wird diese Freiheit des Anderen selbst als dem Imperativ der Freiheit unterworfen verstanden, dies berechtigt für Fichte jedoch nicht zur Relativierung ihrer Achtung. Auch ist dieser Imperativ für Fichte von vornherein etwas, was aus dem Bezug zu einem universalen Gesetz heraus die individuellen Interessen und damit den Conatus des Seienden transzendiert. Es handelt sich um ein Gesetz, das sich der Verfügung des Subjektes entzieht, welches es nicht einfach wissen, sondern lediglich glauben und das nur als Glaubensüberzeugung an den Anderen herangetragen werden kann. Für Levinas würde dies schon eine Verfügung über 908

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den Anderen darstellen; die Basis dafür ist jedoch die Affirmation einer ethischen Grundintuition, über die sich streiten lässt. Man müsste die Phänomene einer ethischen Asymmetrie dabei nicht einmal übergehen, denn, wie gezeigt wurde, können diese auch aus Fichtes Ansatz eine Erklärung erhalten, wenngleich er ihnen einen anderen Stellenwert zuweisen würde. Dass Fichte der individuellen Personalität und Interpersonalität zwar Realität, aber keine letzte Bedeutung zuspricht, mag vielleicht der gewöhnlichen Auffassung in unserem Kulturkreis zuwiderlaufen. Da daraus jedoch nichts für die konkreten ethischen Maximen des Verhaltens gegenüber dem Anderen folgt und da das Individuum trotzdem, weil sich in ihm die Einheit der Vernunft manifestiert, unbedingte Achtung verdient, lässt sich Fichtes Ethik rein philosophisch auch von daher schwerlich als unhaltbar zurückweisen. Eine stärkere Anfrage liegt m. E. im Phänomen des Genusses oder des Glücks, das für Levinas unmittelbar in sich trägt, Glück einer individuellen Person zu sein. Tatsächlich lässt sich fragen, wie Fichte noch sinnvoll von einer Seligkeit des überpersönlich verstandenen Absoluten oder einer Seligkeit des sich in die überpersönliche Einheit des Daseins erhobenen endlichen Menschen sprechen kann. Dieselbe Anfrage ergibt sich in Bezug auf das Phänomen der Verantwortlichkeit, die für Fichte gleichfalls integral zum göttlichen Leben dazugehört. Eine Widerlegung ergibt sich daraus jedoch nicht, da die Anfragen selbst auf einem Verständnis von Verantwortung und Glück basieren, welches nicht das einzig mögliche ist. Man kann das Absolute und das göttliche Leben bei Fichte in ihrer Selbstbezogenheit auch nicht als egoistisch ablehnen, denn diese Bezogenheit schließt die zum Anderen ein und es ist keine Selbstbezogenheit bloß auf sich als Individuum. Ausgehend von Levinas’ selbstverständlicher Verbindung von ethischer Vollkommenheit und interpersonaler Zuwendung ließe sich fragen, was an Fichtes überpersönlichem Willen, der sich rein auf sich bezieht, vollkommen sein soll. Fichte spricht von Liebe. Aber ist das, was er damit meint, nicht völlig dessen entleert, was den Wert von Liebe ausmacht? Auch dies lässt sich jedoch durchaus anders empfinden. Das Erleben der Vollkommenheit des ethischen Willens muss nicht unbedingt auf eine interpersonale Hingabe, sondern kann etwa auch auf eine darin liegende All-Einheit zurückgeführt werden. Was man von Levinas her vielleicht ebenfalls als Anfrage an Fichte formulieren möchte, sein Aufweis der Haltlosigkeit letzter Gewissheiten, verorte man sie im Cogito-sum, in einem ursprünglichen Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Vertrautsein des Wissens mit sich oder auch in einem ethischen Sollen, und seine Verteidigung der Möglichkeit einer universalen Skepsis, trifft Fichte, wie gezeigt wurde, nicht. Er weiß um diesen Abgrund, der nicht der Abgrund der Willkür ist, die sich wider besseres Wissen wenden kann, sondern die Haltlosigkeit des Wissens selbst. Alle seine Argumentationen behaupten eine Notwendigkeit nur in Abhängigkeit von einer fundamentalen Glaubensentscheidung. Diese setzt er – ähnlich wie Levinas – nicht willkürlich, sondern auf der Basis eines bestimmten Verständnisses von ethischem Sollen. Beide rechtfertigen von hier aus auch ihre Methode, sodass bloß ausgehend von Levinas’ Beschreibung des für ihn allein möglichen transzendentalphänomenologischen Vorgehens, das über die Grenzen der Phänomenalität, der transzendentalen Apperzeption sowie der Vernunftautonomie und des einfachen Gebrauchs ihrer Begriffe hinausgeht, keine Anfragen an Fichte gestellt werden können. Dies ist nur möglich ausgehend von der ihr zugrunde liegenden fundamentalen Glaubensentscheidung und der Sollensauslegung.

3.2.2 Möglichkeiten und Grenzen der fundamentaltheologischen Rezeption Nach einer kritischen philosophischen Betrachtung des fichteschen Ansatzes ist in einem zweiten Schritt zu fragen, inwieweit er den grundlegenden christlichen Glaubensüberzeugungen entspricht und somit als Basis für deren rationale Rechtfertigung verwendet werden kann. Während es rein philosophisch betrachtet als lediglich überdenkenswert erschien, dass Fichte der Personalität und Interpersonalität keine letzte Bedeutung gibt, so muss man es im Blick auf den christlichen Glauben als eine seiner ethischen und religiösen Grundintuition widersprechende Sollensauslegung ansehen. Die Beziehung zu Gott wird als eine wesentlich personale verstanden. Gott meint den Einzelnen. Es geht ihm um den einzelnen Menschen, und zwar auf eine nicht noch einmal relativierbare Weise. Das Festhalten an der Letztbedeutung und an der Selbstzwecklichkeit des Individuums folgt dabei nicht einem egoistischen Interesse – diese Möglichkeit zieht Fichte allein in Betracht 1245 –, sondern einer im göttlichen Wesen 1245

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Vgl. etwa A150, wo Fichte nur zwei Möglichkeiten gelten lässt. Entweder der

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selbst liegenden Würdigung des Personalen. Ein Wert wird zwar nicht allein in das Individuum für sich, sondern zugleich in dessen Wertschätzung des Anderen gesetzt. Aber schon Kants Identifikation des einzig unbeschränkt Guten mit dem guten Willen am Anfang seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die als Weichenstellung im Hintergrund von Fichtes ganzem Denken gesehen werden muss, würde man m. E. nicht einfach hinnehmen, oder würde sie zumindest so weiterbestimmen, dass zur Vollkommenheit dieses Willens nicht nur die Ausrichtung auf den vernünftigen Willen selbst, sondern immer zugleich die Ausrichtung auf den Anderen in seiner individuellen Anderheit sowie auf sich selbst als um seiner selbst willen zu achtendes Individuum gehört. Wenn man an Fichtes überpersönlicher Einheit des Willens als Sollensprinzip festhalten wollte, würde man als dessen integrale Bestimmung hinzunehmen müssen, dass sich dieser Wille wesentlich interpersonal verwirklicht. Würde man an seiner transzendentalen Analyse des Wissens festhalten wollen, müsste man sich an dem Punkt in ihr, an dem die Bezogenheit des Wissens auf das Sein nur über ein Sollen erreicht und von daher der Grundvollzug des Subjekts als ein Wollen bestimmt wird, fragen, wie dieses Sollen oder Wollen in seinem vollen Sinn zu verstehen ist. Man müsste in etwa sagen, dass der Imperativ, der das Erkennen auf das Sein verpflichtet, ursprünglich der Imperativ ist, der das Ich auf die Wertschätzung der Wirklichkeit der Freiheit der individuellen Person verpflichtet. Diese Modifikation wirkt sich auf die Rekonstruktion der Gestalt der Welt aus. Selbst wenn man ausgehend vom Prinzip eines sich wesentlich interpersonal verwirklichenden sittlichen Wollens nicht eine strenge Deduktion der Gestalt der Wirklichkeit versuchen würde, müsste man doch annehmen, dass genau darin der eigentliche Grund für die Interpersonalität der Welt zu sehen ist und nicht, wie Fichte es in seinem späten Interpersonalitätsbeweis analysiert, in der Notwendigkeit der Vielheit als Basis für die Erhebung in die Einheit des Wissens. Dadurch könnte anders als bei Fichte zudem verständlich werden, warum das Absolute überhaupt anderes außer sich gesetzt hat. Mensch hat sich auf den sittlich-religiösen Standpunkt erhoben, dann ist ihm seine Person »nur Mittel, für den Zweck, das zu thun, was er selber will, und über alles liebt, den in ihm sich offenbarenden Willen Gottes«, o. er verbleibt auf dem Standpunkt des sinnlichen Genusses. Dann »ist seine persönliche sinnliche Existenz letzter, und eigentlicher Zweck; und alles andere, was er noch außerdem thut, oder glaubt, ist ihm das Mittel für diesen Zweck.« Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Von dieser Modifikation her wäre es zwar sicher sinnvoll, eine Rekonstruktion der Leiblichkeit ansetzend bei der Interpersonalität zu versuchen, um die Bedeutsamkeit des Leibes gleich von Anfang an aus der Mitte der Bedeutsamkeit der menschlichen Vollzüge überhaupt zu fassen. Man könnte sie jedoch ebenso, wie Fichte dies tut, vom Selbstbewusstsein der Freiheit ausgehen lassen. Dieses stellt weiterhin ein notwendiges Moment der ethischen Beziehung dar, auch wenn man – dies hätte jedoch keine Folgen für die Rezipierbarkeit von Fichtes Gedankenführung – mit der personalen Modifikation seines Ansatzes vermutlich dem Erfordernis der bewussten Freiheit eine andere Bedeutung geben würde. Die nächstliegende Idee wäre, dass es für ein personales ethisches Verhältnis zum Anderen eine Freiheit braucht, die sich selbst bewusst für ihn entscheiden kann und insofern das Selbstbewusstsein der Freiheit. Dies ist nicht Fichtes Grundidee. Der hier entwickelten Interpretation nach braucht es bei ihm zumindest in der späten Zeit für die Verwirklichung der eigentlich gesollten Grundtätigkeit an sich nicht das Bewusstsein. Der auf den vernünftigen Willen bezogene Wille würde sich spontan verwirklichen, wenn keine Begrenzung da wäre. Es braucht das Bewusstsein – und deshalb die Begrenzung, von der Bewusstsein ausgehen muss – für die Relationierung zum Absoluten, also als ein Erfordernis des Verhältnisses des Relativen zum Absoluten oder als Erfordernis dafür, dass überhaupt ein Endliches sein kann. Dieses Konzept ist spekulativ gewagt, jedoch philosophisch nicht unhaltbar. Auch dem christlichen Glauben widerspricht es m. E. nicht von vornherein. Und es eröffnet eine Antwortmöglichkeit auf die nicht unbedeutende Frage, weshalb die Verwirklichung von Liebe beim endlichen Menschen, anders als dies gewöhnlich für Gott angenommen wird, von der Vielfalt der faktischen Beschränktheiten des Endlichen gekennzeichnet ist, zu der auch die Weise gehört, wie sich die Erkenntnis vollzieht. Würde man Fichtes Sicht favorisieren, würde sich freilich nur sozusagen die Bedeutungsfärbung der bewussten Verwirklichung von Freiheit verändern, nicht jedoch, dass es sie überhaupt braucht, und ebenso nicht die daran anknüpfende transzendentale Analyse der Leiblichkeit sowie deren Bedeutung. Wie wesentlich eine Einstellung, die Personalität als etwas Letztes würdigt, zur christlichen Weltsicht gehört, wird deutlich, wenn man sieht, wie Theologen, die an Fichte anknüpfen, ihn in genau diesem Punkt modifizieren. Die Modifikation kann dabei in unterschiedlicher Weise erfolgen. Das vom späten Fichte her Naheliegendste ist, 912

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das Gesetz, wie es für ihn in Gott liegt und dann das allgemeine Gesetz des endlichen Dasein darstellt, oder die Liebe, wie Fichte dieses Gesetz auch nennt, selbst so zu verstehen, dass es sich wesentlich nur interpersonal verwirklicht. Dieses Konzept findet sich bei verschiedenen Fichte-Forschern, wie etwa Reinhard Lauth oder Franz Bader 1246, die selbst einen christlichen Hintergrund haben und Fichte für die christliche Theologie fruchtbar machen wollen. Die beiden Genannten würden diese Sicht Fichte selbst zuschreiben, was sich jedoch meiner Interpretation nach an den Texten zumindest des späten Fichte nicht verifizieren lässt. 1247 Eine andere Möglichkeit der Modifikation des fichteschen Ansatzes findet sich bei Thomas Pröpper. Da sich für ihn die Weiterentwicklung des Denkweges vom frühen zum späten Fichte nicht als mitvollziehbar erweist, knüpft er an den frühen an, deutet aber mit Hermann Krings die Bezogenheit des transzendentalen Subjekts des Wissens oder des Aktes der formal unbedingten Freiheit auf Sein und Bestimmtheit in einer Weise, dass sie sich nicht wie für Fichte im Selbstbezug des Aktes auf sich erfüllen kann, sondern lediglich im Bezug auf die Wirklichkeit des anderen Seienden, und zwar insbesondere des ebenfalls formal unbedingt freien anderen Menschen, sodass auf diese Weise der Interpersonalität eine fundamentale Bedeutung gegeben wird. 1248 Zumindest in eine ähnliche Richtung geht m. E. Hansjürgen Verweyen, wenn sich für ihn die Absurdität der Grundsituation des Menschen, der sich auf Unbedingtes 1246 Für Reinhard Lauth vgl. Gadient, 1999, zur Bedeutung der Interpersonalität hier v. a. 197–213, zu seiner zur christlichen Offenbarung überleitenden Religionsphilosophie 257–272. Für Franz Baders personale Interpretation des fichteschen Absoluten vgl. Bader, 2010. Zu seiner Rezeption von Fichte für die Theologie vgl. Bader 2005. 1247 Für den spätesten Fichte (1810–1814) hat dies zuletzt ausführlich Franziskus von Heereman gezeigt und sich mit der verbreiteten Interpretation Fichtes als eines personalen Denkers auseinandergesetzt (vgl. bes. von Heereman 2010 11–32 u. 119–146; für eine kritische Würdigung der Untersuchung von Heeremans vgl. Trescher, 2017, 334–343). Bedenkenswert nicht zuletzt für die christliche Theologie ist sein durchdachter Vorschlag einer Modifikation des fichteschen Ansatzes aus dieser Zeit zu einem Modell, das – inspiriert u. a. von Levinas, wenn auch zugleich in Abgrenzung von ihm (vgl. bes. 1507 ) – ein wirkliches personales Gemeintsein des Anderen impliziert und zugleich wie Fichte von einer absoluten Einheit ausgeht (zu dieser Verbindung vgl. bes. 195–199). Dass es von Fichtes Modell aus zumindest schwer nachvollziehbar ist, wie es dazu kommen soll, den Anderen als Anderen zu meinen, hat auch Dieter Henrich kritisch hervorgehoben (vgl. Sandler, 1999, 296). Dies ist insofern besonders beachtenswert, als die Rezeption Fichtes in der Theologie teilweise stark über Henrich vermittelt ist. 1248 Vgl. Pröpper, 2011, bes. 512–535 u. 564–578.

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verwiesen findet, zugleich aber so an Bedingtheiten gebunden ist, dass die Unbedingtheit als ein nie erreichbares Ziel erscheint, dadurch lösen lässt, dass sich das Nicht-Ich, durch welches sich das Ich in seiner Unbedingtheit begrenzt findet, selbst als Ich erweist und so in der gegenseitigen Anerkennung »eine völlige Einheit in Differenz« entsteht. 1249 Da für ihn die Verwiesenheit des Menschen auf Unbedingtheit nur verstehbar ist als Verwiesenheit auf ein schlechthin Unbedingtes und Eines 1250, findet für ihn letztlich nur dann im Interpersonalbezug eine Lösung statt, wenn man ihn so versteht, dass in ihm der Eine dem Anderen zum Bild des Absoluten wird. Auch im Bezug auf das Absolute wird für Verweyen offenbar die personale Differenz anders als für Fichte nicht aufgehoben. Eine personale Modifikation deutet sich hier bei ihm an, wenn er für das Verhältnis zwischen Endlichem und Unbedingten an die Bildlehre des späten Fichte anknüpft, sie jedoch – m. E. anders als dieser – entsprechend der cartesischen Analyse der Idee des Unendlichen so versteht, dass sich der Mensch in der in ihm vorfindlichen Unbedingtheit selbst immer schon über sich hinaus, unter Wahrung der eigenen Freiheit, auf das Absolute verwiesen erlebt, und so das Sollen von vornherein dialogisch fasst. 1251 1249 Verweyen, 2002, 170. Vgl. auch Verweyen, 2002, 162 u. 169–175 u. Verweyen 1997, 115 f. 1250 Vgl. Verweyen, 2002, 159–163. 1251 Zur Entfaltung von Verweyens Bildlehre, die er ausdrücklich nicht als eine dem späten Fichte genau entsprechende Interpretation herausstellt (2002, 15864 ), vgl. 154– 159. Die Verwiesenheit auf das Unbedingte selbst wird hier besonders darin deutlich, wie er Erscheinung als bloße Erscheinung, also als etwas in sich auf Sein Bezogenes versteht, wenn für ihn die Möglichkeit der Existenz von etwas neben dem Absoluten nur dadurch gegeben ist, dass dieses nicht Sein, sondern nur Erscheinung des Seins ist. Hier besteht m. E. ein Unterschied zu Fichte, der die Existenz, zumindest in der Erlanger Wissenschaftslehre, nicht ausgehend von der Frage, wie das Absolute in der Relation zu einem Endlichen noch absolut sein kann, bestimmt, sondern einfach daher, dass es, soll eine Existenz sein, eine Relation auf das Absolute geben und sie in der Existenz selbst liegen muss, und der dann diese Relationierung als Wissen und in diesem Sinne als Erscheinung des Absoluten ausweist. Zu Verweyens Konzept einer inneren Verwiesenheit auf das Unbedingte vgl. auch seine Begründung des Sollens (159–163). Dass er das Sollen von daher dialogisch versteht, macht indirekt die Kritik an Pröpper deutlich, dessen ohne Rückgriff auf eine schlechthinnige Unbedingtheit allein an der formalen Unbedingtheit anknüpfende Sollensbegründung könne den »dialogischen Charakter« des Sollens nicht einholen (161). Verweyens Nähe zur cartesischen Analyse der Idee des Unendlichen wird etwa in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit den transzendentallogischen Gottesbeweisen deutlich (89–101), zu denen der cartesische Gedanke für ihn gehört, und die seiner Auffassung nach,

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Mit einer personalen Modifikation – wie immer sie erfolgt – ändert sich ebenso die Bedeutung der Leiblichkeit. Wenn es letztlich nicht nur um eine Tätigkeit, sondern um eine Beziehung geht, erhält die transzendierende Passivität und die Leiblichkeit als Weise dieser Passivität eine genauso grundlegende Bedeutung wie die Aktivitätsfunktionen des Leibes. Wenn über den Vollzug des ethischen Willens hinaus auch das Individuum nicht nur als Mittel, sondern für sich Selbstzweck ist, ändert dies nichts am konkreten Verhalten und an der Bedeutsamkeit des Leibes in ihm, sondern nur an der inneren Ausrichtung dieses Verhaltens. Eine wesentliche Veränderung für das Leibliche folgt daraus aber insofern, als dann der Genuss, der eigene wie der des Anderen, als Manifestation dieser Selbstzwecklichkeit angesehen werden muss. Das Ich erlebt im Genießen zum einen die nicht relativierbare Bedeutsamkeit seiner individuellen Person. So weit hat Levinas dies herausgearbeitet. Zum anderen ist mit der Selbstzwecklichkeit des Ich – über Levinas hinaus – der Genuss außerdem erfahrbar als etwas ihm Gegönntes. In ihm manifestieren sich die Güte des Anderen sowie die Güte Gottes, denen es um das Ich selbst geht. Dies muss freilich weiter zusammengesehen werden mit der Berufung zur Hingabe, in der das Ich nicht auf sich und seinen Genuss sehen, sondern in einer Unabhängigkeit davon bereit sein soll, sich von der das Genießen immer durchbrechenden Öffnung auf den Anderen ergreifen zu lassen und ihm das zu geben, was ihm den Genuss verschafft. Daneben kommt es noch zu weiteren Veränderungen in der Rolle des Leiblichen. Wenn mit der Selbstzwecklichkeit der Individuen die Vielheit selbst einen letzten Wert erhält, vertieft sich die Bedeutung der Fruchtbarkeit in der Weise wie bei Levinas. Je nachdem, wie unmittelbar man mit der Annahme eines personalen Gemeintseins des Menschen durch Gott das Individuum durch das Absolute selbst gesetzt sein lässt – ob überhaupt, ob nur in seinem Subjektkern oder sogar in der Leiblichkeit –, wird der Gedanke einer Selbstverendlichung und eventuell sogar Selbstverleiblichung des Absoluten, wie er für den frühen Fichte herausgearbeitet werden konnte, bedenkenswert. Ein Punkt, der damit zusammenhängt, dass Fichte das Absolute rein vom überpersönlichen, völlig einfachen Vernunftvollzug her denkt, und den man vermutlich in einem sperrigen Verhältnis zur wenn auch nicht die Realität des Unbedingten, so doch zumindest eine Verwiesenheit auf Unbedingtheit erweisen. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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christlichen Gottesvorstellung sehen wird, ist die Ablehnung einer Wahlfreiheit für Gott. Sie ergibt sich bei ihm nur als eine Form des Endlichen und besitzt keinen letzten Wert. Eine Modifikation in diesem Punkt hätte Folgen dafür, wie man das Verhältnis des Wirkens Gottes in der Geschichte denkt und damit für das Thema der Offenbarung sowie für das Theodizeeproblem, die sich beide als eng mit der Leibthematik verzahnt erwiesen haben. Bei Levinas, der die Wahlfreiheit Gottes und ihr geschichtliches Wirken nicht ausschließt, zeigte sich, was dies für Konsequenzen haben würde. Auch das Konzept von Berufung würde sich wandeln, wenn man annähme, dass Gott sie frei bestimmen und verändern kann. Der Leib würde hier jedoch weiter dieselbe Bedeutung wie vorher haben, die darin besteht, dass die Gestalt der in ihm gegebenen Vermögen und Antriebe eng mit der Gestalt der individuellen Berufung zusammenhängt, dass sie an ihr ablesbar wird und in ihr verwirklicht werden muss. Neben der Wahlfreiheit schreibt Fichte seinem vom reinen Vernunftvollzug her gedachten Gott auch keine innere Differenzierung zu, erst recht keine personale. Von daher ist es konsequent, dass er die Idee von der besonderen Göttlichkeit Jesu als unzulässige, wie er schreibt, Metaphysizierung von etwas ablehnt, was als ein bloßes unerklärliches Faktum stehen gelassen werden muss. Auch in diesem Punkt müsste der Gottesbegriff modifiziert werden, eventuell von einer Würdigung des Interpersonalen her. Abgesehen von der Frage nach einer inneren Differenzierung in Gott hätte der fichtesche Ansatz freilich kein Problem mit dem Inkarnationsgedanken, da für ihn das Endliche im Grunde schon dasselbe Leben wie das Absolute lebt und in ihm somit deutlich wird, wie sich Endlichkeit und Unendlichkeit widerspruchsfrei verbinden lassen. Inwieweit kann man von Fichtes Ansatz her der Transzendenz Gottes gerecht werden? Wie herausgearbeitet wurde, ist in ihm zunächst einmal insofern eine Transzendenz gedacht, als er von einer wirklichen Unabhängigkeit der Freiheit des Endlichen von der Gottes ausgeht. Durch die beschriebene personale Modifikation würde diese zudem den Charakter einer personalen Transzendenz erhalten. Dies scheint das christliche Verständnis der Transzendenz Gottes hinreichend einzuholen. Es braucht dazu m. E. nicht unbedingt das Modell einer anarchischen Transzendenz wie bei Levinas. Die fichtesche Idee, dass das Absolute das Endliche durch die Weise seines sich selbst mitteilenden Schaffens auf einen Standpunkt gehoben hat, auf dem ihm sein eigenes Wesensgesetz zugänglich ist, erscheint sogar als 916

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besonders geeignet dafür, der christlichen Idee der Gotteskindschaft gerecht zu werden. Als weitere Problematik ist die Differenz zwischen der fichteschen und der christlichen Vorstellung von Erlösung und vom Leben nach dem Tod anzuführen. Zwar kommen beide darin überein, dass sich im Menschen, wenn er sich frei für das in seiner Freiheit angelegte Wesensgesetz der Liebe und die göttliche Wirklichkeit in ihm öffnet, die Erfüllung seines Zieles auf eine Weise schon hier und jetzt ereignet, ohne dabei die zugleich bestehende Nichterfüllung, wie sie zum einen im Leben des Menschen selbst liegt und wie sie für ihn zum anderen durch die Entfremdung der Anderen von Gott entsteht, zu etwas bloß Scheinhaftem zu relativieren. Sie entsprechen sich zudem in der Auffassung, dass dies – die Freiheit vorausgesetzt – unabhängig von der konkreten Situation möglich ist, zu der die ganze leibliche Verfassung und in ihr die Momente des Leidens und Getriebenseins gehören, die diese Öffnung schwierig machen können. Auch soll sich für beide der Mensch dafür unabhängig machen von jeder selbstbezogenen Sorge um diese konkrete eigene Wirklichkeit. Anders als für Fichte gehört zur christlichen Hoffnung aber trotzdem eine Befreiung vom Leiden sowie überhaupt von allem in der faktischen menschlichen Verfassung, was in einer Entfremdung zu Gott halten kann. Bei Fichte legt sich dies zunächst einmal deshalb nicht nahe, weil sich für ihn die Gestalt der Welt, mit den Möglichkeiten des Leidens, des Getriebenseins und der Triebverbildung, als Notwendigkeit ergibt, die auch in jedem Leben nach dem Tod besteht, wenngleich diese Notwendigkeit nur die Grundzüge betrifft und er durchaus von einer veränderten Verwirklichung dieser Grundzüge in den künftigen Leben ausgeht. Passend zum Christlichen ist zwar dabei, dass er die Leiblichkeit als etwas wesentlich zum Menschen Gehörendes ansieht, was sich nicht erst als Folge von Sünde oder sonst eines Abfalls oder einer Strafe ergeben hat. Sein Konzept entspricht der theologischen Sicht des biblischen Schöpfungsberichts, der die Welt als schon vor dem Sündenfall in ihrer ganzen Endlichkeit und Leiblichkeit so von Gott gesetzt, und zwar als gut gesetzt, betrachtet. Auch entspricht dies der christlichen Vorstellung von der leiblichen Auferstehung. Fichtes philosophische Aufweise der wesentlichen Bedeutung der Leiblichkeit erscheinen zudem als grundsätzlich plausibel und theologisch rezipierbar. Sie dürften jedoch nicht überbewertet werden im Sinne einer Deduktion der faktisch vorfindlichen Leiblichkeit, die auch deren ganze Hinfälligkeit sowie die Möglichkeiten des Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Leidens als notwendig ausweisen möchte. So könnte eine Befreiung davon erhofft werden. Damit würde zudem der Widerspruch behoben werden, in den Fichtes Sicht dadurch zur gewöhnlichen christlichen Auffassung tritt, dass in ihr das Leben nach dem Tod selbst wieder ein sterbliches ist und von unendlichen weiteren Leben abgelöst werden muss. Ein weiterer Grund dafür, dass Fichte eine eschatologische Befreiung nicht in den Blick nimmt, dürfte darin liegen, dass seine Sicht auf die tatsächliche Erlösungsbedürftigkeit des Menschen optimistischer als in der christlichen Perspektive ausfällt. Zwar sieht er zunächst durchaus nüchtern, welchen Beeinträchtigungen der Mensch in der Entfaltung seiner Berufung ausgesetzt ist, nicht zuletzt durch die leibliche Triebhaftigkeit und Begrenztheit. Dies wird besonders deutlich, wenn er in einer Analyse der Entwicklung des Freiheitsbewusstseins die Erfahrung der allgemeinen faktischen Schuldbehaftetheit der Menschen verständlich machen kann und hierbei, wie dies eingehend dargestellt wurde, neben der Bedeutung von schlechten Vorbildern die Leiblichkeit in ihrer Trägheit eine wichtige Rolle spielt. Er kann mit diesen Überlegungen einen Beitrag liefern zur Plausibilisierung der paulinischen Aussage, dass alle Menschen sündigen (Röm 5,12), ohne in die Widersprüchlichkeit der traditionellen Erbsündentheorie zu geraten, die von einer Vererbung von Schuld ausgeht und damit den Zusammenhang von Freiheit und Schuld auflöst. Es passt zum christlichen Menschenbild, wie er hierbei die Leiblichkeit einerseits nüchtern in ihrem negativen Aspekt herausstellt, dass sie durch die Trägheit, die natürliche Triebhaftigkeit und umso mehr die verbildeten Triebe das Fassen einer sittlichen Ausrichtung schwer machen kann, wie er dies aber mit einer positiven Sicht verbindet und die Leiblichkeit nicht als etwas beschreibt, was diese Ausrichtung per se verhindert oder sogar die Freiheit generell auflöst, sondern vielmehr als etwas, dass der Freiheit Raum lässt und selbst Potentiale mitbringt, die den Menschen in diese Ausrichtung führen. Als von einem größeren Optimismus erscheint Fichtes Sicht jedoch darin geprägt, mit welchem Grad von Verbildung, mit welchem Einfluss von Antrieben, die dem sittlichen Willen entgegenlaufen, sowie mit welcher Ausgeprägtheit der sittlichen Berufung in auf sie orientierte leibliche Triebe er rechnet. In diesen Punkten skeptischer zu sein, die Erfahrungen der Disharmonie zwischen den faktischen Antrieben und dem inneren göttlichen Wollen ernster zu nehmen und entsprechend der christlichen Perspektive eine neue, verklärte Leib918

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lichkeit, die sich harmonisch in die Entfaltung der eigenen Bestimmung einfügt, zu erhoffen, erscheint realistischer – zumindest als nicht unberechtigt. Ein weiterer Grund, warum sich für Fichte keine solche Perspektive auf eine erlöste Leiblichkeit und insbesondere nicht eine Hoffnung auf eine Befreiung vom Leid ergibt, liegt m. E. neben dem beschriebenen Optimismus und der Überbewertung der Deduktionen in seiner Bewertung des Leids. Diese passt zwar zunächst insofern zur christlichen Sicht, als sie einerseits dem Leid positive Funktionen einräumt und es andererseits letztlich als etwas betrachtet, was nicht sein soll, weil es die Entfaltung des Menschen beeinträchtigt, und was deshalb in jedem Fall, wenn möglich, verhindert werden muss. Die Bewertung erfolgt hierbei jedoch nur in Bezug auf die Möglichkeit des sittlichen Willens. Räumt man demgegenüber dem Individuum selbst eine Selbstzwecklichkeit ein und betrachtet den Genuss als Manifestation der gütigen Zuwendung des Anderen, dann wird das Leid in einer noch tieferen Weise etwas in sich Negatives und dann gehört zum Konzept einer ungehinderten Entfaltung von liebender Gemeinschaft noch dringlicher die Idee einer Befreiung von Leid, zumindest von allem Leid, das über die Unterbrechung der Selbstbezogenheit des Genusses in der Öffnung auf den Anderen hinausgeht. Das Problem an Fichtes Ansatz ist nicht darin zu sehen, dass er den Individuen sowie überhaupt der endlichen Sphäre mit all ihren Differenzen keine Realität und keine Bedeutung zuschreiben würde. Sie sind für ihn nicht bloßer Schein. Entsprechend betrachtet er ebenso das Leiden nicht als etwas Irreales oder Irrelevantes. Es ist für ihn eine tatsächliche Einschränkung des Lebens. Diese Negativbewertung des Leids wird auch nicht dadurch relativiert, dass er positive Funktionen des Schmerzes hervorhebt und ihn als zumindest in einem gewissen Grad notwendig dem Endlichen zugehörig beschreibt. Nicht jedes Leid hat für ihn einen positiven Sinn. Zum Teil ist es nur etwas in Kauf zu Nehmendes. Und von diesem entspringt für ihn nicht einfach alles dem mit dem göttlichen Willen einigen notwendigen Gesetz der Entfaltung des Daseins, sondern teilweise der Freiheit. Das Leid ist ein Zeichen der Unerlöstheit der Welt und der Nichtübereinstimmung ihrer faktischen mit ihrer idealen Gestalt. 1252 Auch dass Fichte 1252 Von daher könnte Fichte m. E. zunächst einmal René Buchholz zustimmen, wenn dieser schreibt: »Das vom Somatischen nicht zu trennende Leiden widerlegt den Anspruch einer ungebrochenen Einheit von Denken und Sein, Vernunft und Wirklich-

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eine Haltung des geduldigen Ertragens des faktischen Leids und der Ausrichtung auf die vom Leid nicht verhinderte Erlöstheit in der inneren Einheit mit Gott lehrt, muss nicht als problematisch angesehen werden. Denn daraus folgt für ihn nicht, dem Leidenden nur mit einer solchen Belehrung zu begegnen. Zunächst einmal gilt es für Fichte, zu einer Überwindung des Leidens beizutragen und, wenn dies nicht möglich ist, dem Anderen beizustehen. Das authentische Zeugnis für die vom Leid nicht zunichte gemachte Dimension des guten Willens liegt für Fichte genau in dieser Hilfe und nicht in irgendeiner Belehrung oder Forderung. Sperrig verhält sich Fichtes Denken zur christlichen Sicht auf das Leid m. E. vielmehr dadurch, dass diese Hilfe von ihm nur als Ermöglichung der Moralität des Anderen gewürdigt wird. In einer personal modifizierten Sicht gälte die Hilfe dem Anderen auch für ihn selbst. So würde sich noch einmal ein anderer Charakter und eine andere Dringlichkeit dieser Hilfe ergeben sowie eine Verminderung in der Härte des Ideals, das Leid geduldig anzunehmen. Man würde zudem einen Erlösungszustand als ein dem Individuum für sich selbst gegönntes, vom Leiden freies Glück erhoffen. Eine weitere mit der Unterbewertung des Personalen zusammenhängende Differenz zum christlichen Erlösungsverständnis besteht darin, wie Fichte mit dem Thema Reue und Angewiesenheit auf Vergebung umgeht. Er stellt in der Anweisung zum seligen Leben fest, der Erlöste empfinde »keine Reue über das Vergangene, denn keit« (2005, 401). Thomas Freyer greift die These positiv auf und bringt sie in die Diskussion mit nicht alteritätsorientierten Ansätzen ein (2009, 24). Die Frage ist jedoch, einen wie weit gehenden Bruch man aus dem Leiden folgen sieht. Für Fichte ergibt sich aus ihm keine prinzipielle Nichtübereinstimmung von Vernunft und Wirklichkeit. Und diese Folgerung scheint philosophisch auch nicht gezogen werden zu müssen, um das Leiden ernst zu nehmen. In der Perspektive des christlichen Glaubens kommt man zudem m. E. kaum umhin, eine grundsätzliche Bestimmtheit der Wirklichkeit, und zwar ebenso der natürlich-leiblichen Sphäre, durch die sittliche Berufung des Menschen anzunehmen. Fichte könnte man höchstens dafür kritisieren, dass er eine zu ungestörte Prägung der Welt durch das Sittengesetz annimmt, dass er zu schnell ein Modell wählt, in dem die Naturentwicklung vorgängig zur Freiheit von einem notwendigen und auf Sittlichkeit hingeordneten Gesetz bestimmt ist. Fichte hat an sich ein deutliches Bewusstsein dafür, wie naheliegend es ist, die Welt mit ihrem ganzen Leid und mit dem Widerstreben gegen die Verwirklichung des eigentlich Menschlichen für absurd zu halten. Hätte er sich vom Ausmaß der Grausamkeit in der Natur dann jedoch nicht stärker dazu bewegen lassen müssen, nach Modifikationen seines Ansatzes zu suchen, die es ermöglichen, auch in der Natur selbst eine die gesetzliche Entfaltung störende Spontaneität oder einen Zufall anzunehmen?

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inwiefern er nicht in Gott war, war er nichts« (A174). Abgesehen davon, dass diese Begründung auch innerhalb seines Ansatzes unbefriedigend ist, da er selbst das Dasein, das sich noch nicht mit Gott vereint hat, keineswegs als bloßes Nichts ansieht (A56), offenbart diese Aussage, wie wenig Fichte überhaupt auf die Idee kommt, es könnte Reue auch gegenüber dem Anderen, dem durch das eigene Verhalten geschadet wurde, entstehen, sowie das Bedürfnis nach Vergebung. 1253 Dass die Frage nach der Vergebung Gottes nicht in seinen Blick kommt, liegt daran, dass er das Verhältnis zu ihm nicht personal denkt und Gott zudem keine Wahlfreiheit zugesteht. Dass sie auch nicht hinsichtlich der Beziehung zum anderen Menschen aufkommt, liegt an seiner Unterbewertung der Interpersonalität. In einer christlich theologischen Perspektive würde man angesichts der Vergebungsbedürftigkeit des Menschen – und vorher schon in Bezug auf das Leid sowie die Verfassung der Leiblichkeit überhaupt – zu einer anderen Sicht auf das Erfordernis einer besonderen von Gott herkommenden Erlösung kommen. Entsprechend würde man hier der ausdrücklichen Bezugnahme auf Gott, auf seine Offenbarung und sein freies Wirken einen größeren Stellenwert einräumen wie auch den verschiedenen Formen, in denen sie sich vollzieht – Gebet, Sakramente, Liturgie usw. – und in denen dem Leib noch einmal eine eigene Bedeutsamkeit zukommt. Wegen der engen Verbindung der Dimension der Leiblichkeit mit der der außermenschlichen Natur wurde diese hier immer wieder mit in den Blick genommen. Insofern die Idee eines Eigenwertes der 1253 Hansjürgen Verweyen beurteilt diese Aussage als soteriologisch unbefriedigend, weil Fichte hierbei zu wenig die tatsächliche Realität des vergangenen sündigen Wollens wahrnehme, und sieht das Erfordernis einer Art Satisfaktionstheorie im anselmischen Sinne. »Das Nichtrealisieren der gesollten Erscheinung des Absoluten in diesem einmaligen Augenblick bleibt […] ein ›fehlendes Stück‹ und stellt eine Verletzung des absoluten Vernunftwillens dar, die durch keine endliche Freiheit wiedergutzumachen ist.« (200,1 LIII) Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht auch hier Versöhnung zu wenig personal verstanden wird, wenn nur auf diese Wiedergutmachung in Bezug auf das Vergangene abgezielt wird. Abgesehen davon, dass eine solche wohl metaphysisch unmöglich sein dürfte, scheint sich der Wille zur Wiedergutmachung als notwendiger Bestandteil der Reue ohnehin nicht auf das Vergangene, sondern auf die gegenwärtig noch bestehenden negativen Folgen zu richten. Vor allem aber ist damit das eigentliche Erfordernis, das in einer personal verstandenen Beziehung angesichts von Schuld entsteht, die Zusage des Anderen, das Geschehene nicht nachzutragen, sondern der Beziehung einen Neuanfang zu gewähren, noch gar nicht in den Blick genommen.

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Natur zum christlichen Weltverständnis gehört, muss auch in Bezug darauf ein Widerspruch zum fichteschen Modell konstatiert werden, aus dem sich konsequent die Ablehnung dieses Eigenwertes ergibt. Da Selbstzwecklichkeit letztlich nur dem sittlichen Akt zukommt, können nur Vernunftwesen, von denen dieser Akt vollzogen werden kann, eine uneingeschränkte Achtung verdienen. Mit einer Modifikation dieses Modells, die über dem Akt ebenso dem Individuum einen Zweck an sich selbst zuschreibt, wäre ein Weg eröffnet, auch den Subjekten in der außermenschlichen Natur einen Eigenwert zu belassen. Zwar kann man bei Fichte eine Sicht, welche die Natur zu einem bloßen Mittel für den Menschen degradiert, dadurch relativiert sehen, wie er in der späten Zeit die Naturgeschichte zunächst vom Absoluten und nicht vom Menschen her versteht. 1254 Auch hierdurch würden jedoch die Wesen in der Natur noch nicht für sich einen Eigenwert erhalten. In den bisher genannten Punkten wird es m. E. zu einer Modifikation kommen müssen, wenn man Fichtes Ansatz fundamentaltheologisch verwenden möchte. Im Folgenden soll auf Aspekte eingegangen werden, in denen eine Modifikation zumindest möglich erscheint und zum Teil von Theologen, die an Fichte anknüpfen, vorgenommen wird. Es soll dabei gezeigt werden, was dies jeweils für die Bedeutsamkeit des Leibes heißt. Eng mit dem Thema Leiblichkeit verknüpft, wenngleich letztlich nicht sehr folgenreich für deren Bedeutung, ist die Frage, ob man anders als Fichte den Menschen auch in dem, dass er überhaupt existiert, leiblich abhängig sieht und wie Levinas eine radikale Sterblichkeit annimmt. Wenn man im Sinne Fichtes von einem Selbstvollzug der zeitlosen Vernunft im individuellen Subjekt ausgeht, spricht einiges für die Annahme einer Zeitlosigkeit seiner Existenz. Weder muss man sie aber zwingend daraus folgen sehen noch muss der Grund1254 Darauf hat indirekt Hansjürgen Verweyen hingewiesen (1991, 253): Wenn man die Natur nicht nur vom Menschen, sondern vom Absoluten her betrachte, könne sie als »freies Spiel des unbedingten Seins selbst auf dem Wege zu seinem Bild-Werden in menschlicher Freiheit« angesehen werden. Sie würde so einerseits in die Strukturen interpersonaler Anerkennung eingeordnet, »aber nicht schlechthin untergeordnet« werden. Treffend ist m. E. ebenso seine Bemerkung zum Zusammenhang zwischen der Achtung der Natur und der Achtung der Leiblichkeit: »Erst mit dem wacheren Blick für den geschöpflichen Eigenstand nichtpersonalen Lebens wird auch wieder eine größere Sensibilität für die Leiblichkeit des anderen Menschen gewonnen werden.« Vgl. dazu oben, S. 812 f.

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vollzug des Subjekts unbedingt als Teilnahme an einer zeitlosen Vernunft konzipiert werden. Wenn Fichte die unsterbliche Seele radikal abhängig sieht von einer leiblichen Sphäre, insofern sie sich nur in ihr verwirklichen kann, ist deren Sterblichkeit freilich ähnlich existenziell bedeutsam, wie wenn man von einer radikalen Sterblichkeit ausgehen würde. Wie Levinas kann man in ihr ebenso den Ernst der Ethik und die Bedeutsamkeit der leiblichen Gabe als Selbstgabe garantiert sehen. Ähnlich wenig ändert sich für die Bedeutsamkeit des Leibes durch eine Modifikation im Verständnis der individuellen Berufung des Menschen, an der sich seine freien Entscheidungen orientieren. Ob man sie wie Fichte durch eine ursprünglich feste Bestimmtheit des individuellen Grundwillens, ob man sie durch eine von Gott veränderbare Bestimmtheit dieses Willens oder lediglich aus der faktischen Gestalt der leiblichen Antriebe und Vermögen sowie der sonstigen geschichtlichen Prägungen und Bedingtheiten erklärt, die Berufung muss sich in jedem Fall nach den faktisch leiblichen Möglichkeiten richten und die Antriebe müsssen auf dieser Ebene als Hinweis auf die persönliche Berufungsgestalt ernst genommen werden. Folgenreicher ist, ob man mit Fichte das eigentliche Ziel des Menschen in einem Sich-ergreifen-Lassen durch den sittlichen Grundwillen sieht und von daher die Wahlfreiheit relativiert oder ob man dieser eine größere Bedeutung beimisst. Die Leiblichkeit als unwillkürliches Leben ist umso bedeutsamer, wenn Sittlichkeit selbst als ein solches unwillkürliches Leben und weniger als freie Zustimmung zu einem Sollen oder sogar freie Erzeugung eines sittlichen Willens angesehen wird. Einen gewissen Unterschied wird es in dieser Frage machen, ob man sich für eine Anknüpfung eher am frühen oder am späten Fichte entscheidet, obgleich schon der frühe, wenn auch mit Zurückhaltung, Sittlichkeit von einem unwillkürlichen Grundtrieb des Menschen her versteht. Ein deutlicherer Unterschied wird aus dieser Entscheidung sicherlich in Bezug auf die Frage entstehen, ob man den transzendentalen Freiheitsakt des Menschen in Verbindung mit einer überindividuellen Einheit, die zudem die Ganzheit der Natur einschließt, sieht oder in diesem Punkt zurückhaltend ist. Auch wenn Fichte so modifiziert wird, dass sich der sittliche Wille immer auf das Individuum als solches richten muss, kann eine Ausrichtung auf eine überindividuelle Einheit der Vernunft weiter eine Bedeutung behalten. Entsprechend könnte man weiter wie Fichte dem Erleben dieser Einheit auf der Ebene des Leiblichen und Natürlichen eine BeLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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deutung als Moment der Vereinigung mit ihr sowie letztlich mit der Einheit des Absoluten geben und so einer Natur-Einheits-Mystik einen gewissen Wert zuschreiben. Im anderen Fall wäre man hier ebenfalls zurückhaltend. Dass für Fichte das Wesensgesetz der Freiheit, das dem ethischen Sollen sowie der religiösen Sehnsucht des Menschen zugrunde liegt, zugleich das Gesetz ist, welches die Naturentwicklung teleologisch lenkt, passt zunächst zum christlichen Weltbild – schon in der traditionellen Form, in der die Gestalt der Welt unmittelbar auf den göttlichen Schöpfungsakt zurückgeführt wird, aber mehr noch in der Form, nach welcher der göttliche Wille die Evolution der Welt auf seine Ziele hin ausrichtet. Die Annahme irgendeiner Art von Bestimmtheit der Naturentwicklung durch das sittliche und religiöse Ziel des Menschen wird man m. E. theologisch nicht umgehen dürfen. Der Schöpfungsglaube beinhaltet nicht nur den Glauben, dass Gott das endliche Sein gesetzt hat, sondern dass er auch eine Gestalt und ein Ziel für es vorgesehen hat. Ohne eine Bestimmung der Naturentwicklung würde zudem die Eignung der Welt für die Entwicklung und Verwirklichung von Freiheit und Sittlichkeit zu einem bloßen Zufallsprodukt. Das Aufkommen der Freiheit selbst würde zu etwas Zufälligem. Darüber jedoch, wie stark man die Natur als in dieser Hinsicht gelenkt ansieht, kann man verschiedener Meinung sein. An der Beantwortung der Frage nach den Möglichkeiten Gottes in dieser Lenkung wird sich viel für die Theodizeefrage entscheiden. Man könnte etwa, indem man, anders als Fichte, das Moment des rein Willkürlichen der Freiheit höher situiert, einen wirklichen Zufall in der Natur annehmen, gedeutet als Produkt einer ihr eigenen Spontaneität. Dann wird man noch mehr als der späte Fichte die konkrete begegnende Gestalt der Welt nur indirekt als Ausdruck des Willens Gottes betrachten. Das über das Unausweichliche hinausgehende Ausmaß der Grausamkeit schon in der Natur, vorgängig zum freien Wirken des Menschen, spricht stark für diese Sicht. Die grundsätzliche Annahme einer Bestimmtheit der Naturentwicklung durch das sittliche Ziel des Menschen lässt außerdem offen, wie weit man das natürlich Gewachsene als geeignete Basis des sittlichen Handelns ansieht. Auch ist durch diese Annahme noch nicht entschieden, wie weit man es als Manifestation einer sittlichen Ordnung der Natur betrachtet und von daher für achtens- und schützenswürdig hält. Konkrete Beispiele sind bei Fichte die sexuellen und die elterlichen Antriebe, in denen für ihn aufgrund der hintergründigen Teleologie der Natur924

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organisation die Natur selbst den Menschen zur Sittlichkeit führt und die daher eine besondere Achtung verdienen. Diese Sicht entspricht in Grundzügen der gewöhnlichen katholischen Auffassung, die auch nach der Integration der Evolutionstheorie in die Schöpfungsvorstellung in den natürlich gewachsenen Gestalten von Sexualität und Fruchtbarkeit einen Ausdruck des Schöpferwillens sieht. Fichtes Modell erscheint als geeignet für eine philosophische Konzeptualisierung dieser Auffassung. Ob aus seinem Modell jedoch eine Achtungswürdigkeit des Leibes folgt, die etwa den die natürlichen Anlagen einschränkenden Gebrauch von Verhütungsmitteln verbietet, ist fraglich. Für ihn kann dem Leib mit seinen Organen und Trieben nicht eine absolute Achtungswürdigkeit zukommen, sondern er bleibt Mittel für das sittliche Handeln des Menschen. Auch wirkt für ihn das Sittengesetz in der Natur auf eine noch blinde Weise. Die Natur manifestiert den Schöpferwillen deshalb nicht unmittelbar und ungebrochen. Würde man von einer Spontaneität bzw. einem Zufall in der Natur ausgehen, wäre die Wirkung des Sittengesetzes noch weniger unmittelbar im evolutiv Entwickelten greibar. Da die Naturtriebe nicht schon direkt das Sittengesetz realisieren ist es für Fichte notwendig, sie in einer Weise zur Verwirklichung kommen zu lassen, dass bewusst Teile ausgewählt und sie entsprechend dem sittlichen Zweck gelenkt werden. Dieser Zweck wird dabei nicht an der Natur abgelesen, sondern aus der Autonomie bestimmt. Fichtes Modell gibt so zwar Anhaltspunkte für eine philosophisch gerechtfertigte Entscheidung in konkreten ethischen Fragen. Ihre Beantwortung lässt sich aus ihm jedoch nicht eindeutig ableiten. Es eignet sich nicht für eine unmittelbare Begründung traditionell katholischer Moralvorstellungen. So müssten in seinem Modell etwa Partnerschaft und Weitergabe des Lebens von einem Ideal interpersonaler Anerkennung her als Werte angesehen und die faktische Gestalt der sexuellen Antriebe und Organe als von diesen Werten geprägt betrachtet werden. Es ließe zunächst jedoch offen, ob auch die durchgehende Koppelung dieser beiden Werte im Sittengesetz bzw. im Schöpferwillen liegt und von daher notwendig etwa die Entscheidung für Kinder als Bedingung für eine Ehe oder eine homosexuelle Verwirklichung des Wertes der Partnerschaft als dem Schöpferwillen widersprechend angesehen werden muss. Es empfiehlt sich in diesen Fragen m. E. jedoch ohnehin Zurückhaltung. Ein vorschnell festlegender Umgang mit ihnen verhindert eine unverstellte Wahrnehmung der Ausrichtung

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der Natur und der Leiblichkeit auf Gott – in ihren Potenzialen und in ihren Grenzen. So weit sind m. E. die möglichen Modifikationen von Fichtes Ansatz für die Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit relevant. Um aus der kritischen Auseinandersetzung mit ihm ein Resümee zu ziehen: Fichtes Denken hat sich insgesamt als sperriger im Verhältnis zum christlichen Glauben herausgestellt als das von Levinas. Die Erörterung der verschiedenen notwendigen und möglichen Modifikationen konnte aber zeigen, dass man, wenngleich auf kritische Weise, auf der Basis seines Ansatzes eine Fundamentaltheologie entwickeln kann. Insofern können auch seine Ideen zur religiösen Bedeutsamkeit des Leiblichen von aktueller Bedeutung sein für die Theologie.

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3.3 Ertrag und Relevanz der Gegenüberstellung beider Beiträge

In der Einleitung wurde ausgehend von den zwei Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit begründet, weshalb die Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit in ihr so untersucht wird, dass der Beitrag sowohl von Fichte als auch von Levinas interpretiert und beide in ein Gespräch gebracht werden. Im Folgenden gilt es die Erträge des Vergleichs und des auf seiner Basis entwickelten Dialogs zu betrachten. Um der Komplexität der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit zumindest annähernd gerecht zu werden, wurde als erstes Ziel gefasst, in einer philosophischen Erschließung die Vielzahl von Bedeutungsaspekten möglichst weit in den Blick zu nehmen und in ihrem Zusammenhang zu begreifen. In Bezug darauf lässt sich zunächst einmal feststellen, dass durch das Gespräch der beiden Autoren ein breiteres Spektrum eröffnet wurde. Sie erbringen bereits jeder für sich durch die ausführliche Entfaltung eines Leibbegriffs und seine Einbindung in eine Religionsphilosophie einen bedeutenden Beitrag für die behandelte Frage. Darüber hinaus ergänzen sie sich zudem durch ihre unterschiedlichen Akzentsetzungen. So wären etwa allein von Fichte her die Dimensionen der leiblichen Passivität nicht in der Weise hervorgetreten, wie dies mit Hilfe von Levinas geschehen konnte. Und allein ausgehend von Levinas wäre es etwa nicht zu einer differenzierteren Beschreibung der Rolle des Leibes im freien Handeln gekommen oder zu einer deutlicheren Formulierung der Idee einer ursprünglichen Prägung der Leiblichkeit durch das Unendliche, die sie für sein Sichereignen in ihr vorbereitet. Die Erhellung des Zusammenspiels der so greifbar gewordenen Vielzahl von Aspekten zeigte, wie wenig man der Rolle des Leibes mit einer einzigen oder auch mit nur ein paar wenigen Funktionsbeschreibungen gerecht werden kann. Am nächsten liegt es etwa für die nachdenkende Perspektive, den Leib in seiner Bedeutung für das Erkennen und die Kommunikation wahrzunehmen. Fichtes Zugang zur Leiblichkeit ist zunächst so geprägt. Dem Leib wird ein Sinn gegeben als AusdrucksLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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medium des Geistes. Diese Funktion ist in sich bereits sehr differenziert, aber insgesamt beschränkt. Etwa die ganze Dimension des Triebhaften ist damit noch nicht in den Blick genommen. Von der Warte des Erkennens und des freien Wollens wird diese zunächst eher in ihrer negativen Bedeutung wahrgenommen. Demgegenüber ist es wichtig, die positiven Aspekte der Triebe und ihrer Befriedigung zu erhellen. Fichte und Levinas tragen wesentliche Einsichten dazu bei, und zwar ohne in die umgekehrte Vereinseitigung zu verfallen, die im Triebhaften liegenden Beschränktheiten und Gefahren unterzubewerten und vor allem das Leiden aus dem Blick zu verlieren. In Bezug auf das Leiden besteht in besonderer Weise die Herausforderung, einen ausgewogenen Umgang sowohl mit den negativen als auch den positiven Bedeutungsaspekten zu finden. Wie es möglich ist, die gegenläufigen Bewertungen zusammenzuhalten, zeigen Fichte und Levinas auf je eigene Weise. Eng mit dem Triebhaften ist die Dimension der Praxis – als Selbstvollzug sowie als Wirken für den Anderen – verbunden, in welcher der Leib eine ganz zentrale Rolle spielt. Auf welche Weise das Tätigkeitsparadigma für sich genommen ebenfalls beschränkt ist, beschreibt Levinas eingehend. Wenn er demgegenüber die Bedeutung der Bedürfnisbefriedigung sowie vor allem der leiblichen Passivität in einer Vielzahl von Phänomenen herausarbeitet, darf der Blick jedoch auch auf sie nicht verengt werden. Ein ganz eigener Bereich sind neben dem Genannten die Funktionen des Leibes, in denen er weniger Bedingung und Realisierungsmoment der geistigen Vollzüge ist, sondern vielmehr eine Korrektur gegenüber den entfalteten Formen des Bewusstseins sowie dem freien Wollen darstellt. In Bezug auf dieses häufig übersehene Potenzial können Fichte und Levinas wichtige Erkenntnisse beitragen und sich gegenseitig ergänzen. Hier kommt dem Leiblichen in einer Vielzahl von Aspekten in besonderer Weise eine eigenständige Bedeutung gegenüber dem Geistigen zu. Auch kann hierbei sichtbar werden, wie nahe der Leib dem Ereignis der göttlichen Wirklichkeit steht und Bild für sie ist. Schon im Blick auf diese wenigen Grunddimensionen der in Kapitel 2.6 herausgearbeiteten Aspekte der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit, lässt sich deren Komplexität veranschaulichen. In der Darstellung dort wurde versucht, die einzelnen Gesichtspunkte sowohl in ihrem Zusammenhang untereinander zu deuten als auch erstens in Bezug auf die Entwicklungsstufen der menschlichen Existenz, zweitens auf die je eigenen Dimensionen des Strebens, des Erkennens und der Praxis sowie drittens hinsichtlich der verschiedenen Bezüge, 928

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Ertrag und Relevanz der Gegenüberstellung beider Beiträge

in denen der Mensch steht: die Beziehung zu Gott und die davon nicht zu trennende Beziehung zu sich selbst, zur Natur und zum Anderen. Der mit der Erschließung dieses Spektrums vorgelegte Beitrag zu einer religionsphilosophischen Klärung der Bedeutung der Leiblichkeit in der Gottesbeziehung versteht sich dabei zugleich als Grundlagenarbeit für die Würdigung der Rolle des Leibes in Fundamentaltheologie und Dogmatik, in der Moraltheologie und besonders in der Praktischen Theologie, in der sich schon zahlreiche Autoren auf philosophische Leibtheorien gestützt haben. In einem kurzen Ausblick im nächsten Kapitel soll anhand von zwei konkreten Beispielen aus der christlichen Glaubenspraxis die Fruchtbarkeit der erarbeiteten Kategorien veranschaulicht werden, und zwar in Bezug auf Eucharistie und kontemplatives Gebet. Dabei wird zudem deutlich, wie wichtig es ist, die Rolle der Leiblichkeit in einer bestimmten Glaubenspraxis von einer Vielzahl von Funktionen her deuten zu können. Von Nutzen sind dafür besonders die vielen Konsenspunkte, die sich zwischen Fichte und Levinas ergeben haben. Die meisten der beschriebenen Aspekte haben für beide Autoren ihre, wenngleich häufig etwas anders akzentuierte und anders bewertete, Bedeutung. Indem Fichte und Levinas mit ihren verschiedenen Methoden und Traditionen bereits ein breiteres philosophisches Spektrum abdecken, indem ihre Thesen wohlbegründet sind und sie sich, wie im Folgenden noch näher betrachtet werden wird, in vielen Aussagen und Argumenten gegenseitig bestätigen können, dürfte für ihren Konsens eine allgemeinere Zustimmung im philosophischen Diskurs erwartbar sein. Für eine theologische Reflexion, die eher pragmatisch und nicht schon direkt mit dem Anspruch vorgeht, aus einem umfassenden Ansatz heraus zu argumentieren, sind die Konsenspunkte hilfreich, um zu sehen, mit welchen Ideen man arbeiten kann, ohne sich schon für einen speziellen Ansatz entscheiden zu müssen. Die im Kapitel 2.6 aufgezeigte Differenzierung von Aspekten kann darüber hinaus ähnlich wie in der Erschließung der Beiträge von Fichte und Levinas sowie in ihrem Vergleich ein hermeneutisches Raster in der weiteren systematischen Auseinandersetzung mit der Rolle des Leibes in der Gottesbeziehung darstellen. Welche Relevanz kommt der Gegenüberstellung von Fichte und Levinas für das zweite Ziel zu, Transzendentalphilosophie und Phänomenologie durch zwei ihrer Vertreter in ein Gespräch über die Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit zu bringen? Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Ertrag und Relevanz der Gegenüberstellung beider Beiträge

Zunächst einmal konnten durch die Anfragen, die sich von der jeweils anderen Seite her ergeben, für beide die Konsistenz des Ansatzes und dessen Überzeugungskraft deutlicher herausgearbeitet werden. Für Levinas erbrachte dies vor allem eine Klärung der Vorordnung der Heteronomie vor die Autonomie und des Konzeptes der leiblichen Konstitution des Subjekts. Für Fichte konnten etwa der Aspekt der unbedingten Achtung des Einzelnen, die Beschreibung der aus einem passiven Affiziertsein lebenden Begegnung mit dem Anderen in der unverfügbaren Anderheit seiner Freiheit oder der Aspekt der Uneinholbarkeit des autonomen Vernunftvollzugs in ein objektives Wissen schärfer hervorgehoben werden. Einige Anfragen an Fichte finden sich bei Levinas selbst formuliert. Darüber hinaus wurde betrachtet, welche sich jeweils aus den beiden Ansätzen ergeben. Dabei konnte sich die vorliegende Untersuchung zum Teil auf die Auseinandersetzung stützen, die in der Theologie zwischen Autoren, die eher von Fichte und der weiteren Tradition der Transzendentalphilosophie, sowie Autoren, die eher von Levinas und der Phänomenologie ausgehen, und in der bereits verschiedene Anfragen an das jeweils andere Konzept sowie teilweise direkt an Fichte und Levinas vorgebracht wurden. Auch in der philosophischen Literatur zu Fichte und Levinas sowie zu ihrem Verhältnis werden einige Kritikpunkte greifbar, die in der Inszenierung eines Gesprächs zwischen beiden vorzubringen sind. Im Verlauf der Interpretation und des Vergleichs wurde in den Anmerkungen auf sie eingegangen. Inhaltlich sind sie in das dritte Kapitel eingeflossen, das die Ansätze von Fichte und Levinas auf ihre fundamentaltheologische Rezipierbarkeit hin geprüft hat. Sie haben sich beide als weitgehend philosophisch konsistent und wohlbegründet erwiesen. Mit gewissen Modifikationen stimmen beide zudem mit den grundlegenden christlichen Glaubensüberzeugungen überein. Die meisten der vorgebrachten Kritikpunkte konnten auf Missverständnisse zurückgeführt werden. Als geeignet für eine begründete Zurückweisung eines der Modelle haben sich nur solche Anfragen erwiesen, die eine andere inhaltliche Interpretation der ethischen Forderung ins Spiel bringen. Indem gezeigt wurde, dass sich diese Interpretation, solange sie nicht mit evidenten Inhumanitäten einhergeht, der philosophischen Argumentation entzieht – vor allem, weil diese selbst auf der Sollensauslegung aufbauen muss –, können diese Anfragen zwar eine andere Positionierung rechtfertigen, jedoch nicht als Widerlegung des zurückgewiesenen Ansatzes gewertet werden. Mit diesem Resultat der philosophischen Analyse 930

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Ertrag und Relevanz der Gegenüberstellung beider Beiträge

wird in der vorliegenden Untersuchung begründet darauf verzichtet, sich für eines der beiden Denkmodelle auszusprechen. Mit der Rechtfertigung beider Ansätze – zumindest in einer modifizierten Form – wird freilich alles andere als eine Harmonisierung vorgenommen. Im Vergleich traten vielmehr fundamentale Differenzen hervor, die auf eine unterschiedliche Weichenstellung in der Sollensauslegung zurückgeführt werden konnten. Als genauso bedenklich wie eine vorschnelle Ablehnung eines der Ansätze ist eine vorschnelle und die Unterschiede nivellierende Integration beider anzusehen. 1255 Durch die Darlegung der Differenzen konnte in der Gegenüberstellung der Konzepte von Fichte und Levinas deutlich hervortreten, wie wenig selbstverständlich die basalen Annahmen, vor allem in der Sollensauslegung, jeweils sind. Dies ist zumal deshalb wichtig, weil beide mit ihrem Denken recht absolut auftreten, Levinas mit einem moralischen Impetus, Fichte daneben mit dem Anspruch, alles notwendig erschließen und deduzieren zu können. Indem sich die grundlegenden Differenzen mitunter stark auf die Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit auswirken, konnte der Vergleich dafür sensibilisieren, welch unterschiedliche Haltungen gegenüber bestimmten Phänomenen eingenommen werden können. Würdigt man Erfahrungen der Einheit mit der Welt auf der leiblichen Ebene als Momente einer tieferen Einheitsmystik oder sieht man darin eher die eigentliche Transzendenzbeziehung verhindert? Kann man Erfahrungen der Sinnleere in der Konfrontation mit der unpersönlichen Stumpfheit der Materie einen positiven Sinn geben oder hält man sie eher für eine unnötige Täuschung? Sieht man das Ziel eher in einer gelassen wertschätzenden Freiheit gegenüber der leiblichen Beschränktheit oder eher darin, ganz aufzugehen in ihrer beunruhigenden, die eigentliche Transzendenzrelation eröffnenden Passivität? Es haben sich hier Unterschiede gezeigt, die philosophisch in etwa so stehen gelassen werden müssen, weil sie auf Erfahrungen und Entscheidungen beruhen, auf denen das philosophische Argumentieren jeweils selbst aufbauen muss und die schwer verhandelbar sind. 1255 So scheint mir etwa Bernhard Nitsche, der sich in einer an Fichte angelehnten transzendentalphilosophischen Richtung bewegt, in seiner Rezeption Levinas'scher Beschreibungen und Konzepte zu wenig die fundamentalen Unterschiede etwa in der Gewichtung des Sozial-Personalen im Personbegriff sowie des Begriffs von Einheit zu berücksichtigen und sich damit wichtige kritische Anregungen für seinen an sich sehr dialogoffenen religionsphilosophischen Ansatz vorzuenthalten. Vgl. dazu Trescher, 2018, 176–179.

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Neben den Differenzen förderte der Vergleich viele Übereinstimmungen zu Tage sowie zahlreiche Möglichkeiten, Ideen der anderen Seite zu integrieren. Es ist erstaunlich, zu welchem großen Konsens die beiden Denker in der hier untersuchten Leibthematik kommen, zwischen denen eine direkte historische Beeinflussung kaum wahrnehmbar ist – Levinas kannte Fichte nur oberflächlich –, die sich zunächst einmal in verschiedenen Denkwelten zu bewegen scheinen und deren Methode und Grundthesen tatsächlich von fundamentalen Unterschieden geprägt sind. Erstaunlich ist dabei ebenso, mit welch einem differenzierten Beitrag sich Fichte an diesem Konsens in der Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit beteiligen kann. Er steht nicht im Ruf, zum Thema Leiblichkeit viel beitragen zu können. Ein wichtiges Ergebnis der vorliegenden Untersuchung liegt in der Einsicht, dass die Transzendentalphilosophie fichtescher Prägung ausreichende methodische Potenziale mit sich bringt, einen Begriff des Leibes zu erschließen, der sehr differenziert die Leiblichkeit, wie sie faktisch phänomenal greifbar ist, einholt. Fichte und Levinas finden auf unterschiedlichen Wegen zu einem in den meisten Teilen übereinstimmenden Leibbegriff. Darüber hinaus lassen sich auch die meisten der herausgearbeiteten Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes bei beiden finden. Die bloßen Übereinstimmungen im Ergebnis helfen freilich in einem philosophischen Gespräch nicht, wenn nicht klar ist, ob auch der Weg des Anderen zu diesem Ergebnis akzeptiert werden kann. So wenig man Ideen des Anderen, die man selbst nicht formuliert hat, integrieren kann, ohne zu prüfen, inwieweit sie in den eigenen Ansatz passen und in ihm methodisch erschließbar sind, so wenig kann man sich durch Übereinstimmungen bestätigt fühlen, wenn man die Argumentation des Anderen nicht anerkennen kann. Für die Fruchtbarkeit des Gesprächs zwischen Fichte und Levinas war deshalb zunächst eine Klärung des Verhältnisses der Methoden nötig. Grundlegende Übereinstimmungen konnten aufgewiesen werden zwischen Fichtes von Bewusstseinstatsachen ausgehender transzendentaler Rückfrage nach der subjektiven Konstitution (zumindest auf der Stufe vor dem Licht) und der phänomenologischen Beschreibung des Noema in der Korrelation zur es konstituierenden Noesis sowie in Bezug auf die epoché gegenüber dem naiven Realismus und die Konzeption des intentionalen Bezuges zur Realität. Diese Übereinstimmungen lassen Levinas’ phänomenologische Methode als etwas erscheinen, was gerade durch ihre Sensibilität für das phänomenal sich 932

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zunächst und zumeist nicht Zeigende und durch die Offenheit für die ganze Bedeutungsfülle der Phänomene eine wichtige Ergänzung für Fichtes Denken bieten kann. Dies gilt zumindest, insofern sie sich im Rahmen der transzendentalphänomenologischen Methode bewegt, die noch nicht umgeprägt ist durch die spezifische Weise der levinasschen Sollensauslegung. Soweit sich Levinas’ Beschreibungen auf dieser Ebene bewegen, artikulieren sie Phänomene, die schwer zu bestreiten sind und die durch ihre Anschaulichkeit und Detailfülle die teilweise dürren fichteschen Konstruktionen ergänzen können. Dies gilt etwa für die Beschreibung des Kippens zwischen der Aktivität und der Passivität in der Wahrnehmung des Nahrungsgeschehens und in der Bedrohtheit durch den Anderen oder auch für die Beschreibung des Kippens zwischen Anschauen und Angeschautwerden in der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen. Umgekehrt könnte Levinas Fichtes transzendentale Erschließung von Bedingungs- und Funktionszusammenhängen in den Grenzen würdigen, in denen er selbst es für sinnvoll hält, solche Zusammenhänge zu klären. Soweit sich diese Erschließung auf die Auslegung des Sollens in Richtung einer bloßen Autonomie oder einer überpersönlichen Vernunft stützt, muss er sie zwar zurückweisen. Er kann es deshalb auch nicht für akzeptabel halten, wie Fichte versucht, die wesentliche Gestalt der Welt aus einem Prinzip abzuleiten. Die meisten der von Fichte herausgearbeiteten Funktionszusammenhänge kann man aber unabhängig davon betrachten. Es findet sich hier manches, was bei Fichte deutlicher geklärt ist und sich in Levinas’ Konzept einfügen könnte – etwa die Bedingtheit der freien Reflexion durch einen unmittelbar in seiner Begrenzung gefühlten Trieb oder die Abhängigkeit des Handelns von einer Vielheit faktisch gegebener Triebe. Wie ähnlich sich die Methoden sind, wurde zunächst deutlich durch die Rekonstruktion des Weges, den Fichte und Levinas in der transzendentalen Rückfrage nach dem Grund des Wissens gemeinsam gehen. Diese Rekonstruktion hat zudem gezeigt, wie sich beide in der Begründung der sich auf diesem Weg ergebenden gemeinsamen Thesen weitgehend entsprechen und so das Denken des Anderen als Bestätigung akzeptieren können. Dies gilt auch für die auf ihm schon erschlossenen Elemente ihres Beitrags zur Frage nach der Leiblichkeit und ihrer religiösen Bedeutung. Zumindest ein paar zentrale Punkte seien zur Verdeutlichung noch einmal aufgegriffen. In der Übersicht über die beiden Leibbegriffe konnte hervorgehoben werden, dass bei beiden der Rückgang hinter den Raum der Vorstellung Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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hin zur Beschreibung eines vorgegenständlichen Bezuges zur Realität sowie der Rückgang auf die Praxis zu einem ganz ähnlichen Konzept einer der äußeren Körperlichkeit vorgängigen Leiblichkeit als in der Beziehung mit dem Anderen beschränkter und in dieser Beschränkung unmittelbar gefühlter unwillkürlicher Praxis führen. So sind es mehr oder weniger dieselben Überlegungen, die beide zu einer Zurückweisung des Dingrealismus veranlassen, wie er etwa dem Physikalismus zugrunde liegt. Auf der Basis des gemeinsam erschlossenen Leibbegriffs konnten Integrationsmöglichkeiten geklärt werden. So stellte es sich etwa als möglich heraus, dass Levinas Fichtes Ideen zum Zusammengehen von Naturdetermination und freier leiblicher Tätigkeit aufgreifen kann und umgekehrt Fichte Levinas’ Beschreibungen der konstitutiven Rolle der Kinästhesen, der Entstehung der synchronen Zeit, der Entzogenheit der Zeit oder auch des unausweichlichen Herumprobierens in jeder Praxis. Wie die weitere Rekonstruktion ihres gemeinsamen Weges zeigen konnte, führt sie die Suche nach dem Aufhängepunkt des Wissens nicht nur hinter die Gewissheit des Vorgestellten, sondern auch hinter das cartesische Cogito-sum zurück. Und es ist bei beiden ein moralischer Glaube, eine Entscheidung nicht für die Absurdität, nicht für das Wissen oder eine Seinslichtung und nicht für die selbstbezogenen Bedürfnisse, sondern für das ethische Sollen, die dieses zum Grund des Wissens macht und überhaupt in die Mitte der Existenz stellt. Dadurch wird die Leiblichkeit als Medium des ethischen Ereignisses auf die zweite Stelle verwiesen. Indem dieses jedoch von beiden als freies Sicheinfinden in eine der Wahlfreiheit vorgängige Bejahung des Sollens gefasst und neben dem freien Wollen, durch den Schritt der Vorordnung der Praxis, ebenso das Erkennen nur als Mittel für dieses Sicheinfinden betrachtet wird, werden diese beiden Momente genauso dem ethischen Ereignis untergeordnet und wird die traditionelle Hierarchisierung von Geist und Leib relativiert. Dadurch haben sie zudem einen wachen Blick für die Gefahren, die durch die Möglichkeiten des freien Reflektierens und Wollens entstehen, und dadurch können sie das von diesen wesentlich unterschiedene leibliche Leben und Empfinden als ein Korrektiv wahrnehmen. In den Beobachtungen in diesem Bereich ergänzen sich beide sehr gut. Dasselbe gilt für die Beschreibungen der Bedeutsamkeit des Leibes als eines Mediums für die ethische Beziehung zum Anderen. Dass die Leiblichkeit von ihnen besonders in dieser Hinsicht gewürdigt wird, erklärt sich bei beiden aus der ganz ähnlich begründeten Zentralstel934

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lung der Ethik. In einem nächsten Schritt ist diese Zentralstellung ebenso der Ausgangspunkt für die Erschließung der Religionsphilosophie und die Bindung des Ereignisses des Unendlichen an die Ethik. Sie wird selbst als Form der Verwirklichung der Gottesbeziehung verstanden und sie ist das Maß für die sonstigen Weisen, diese Beziehung zu leben, wie dies etwa für das Gebet herausgearbeitet werden konnte. Dass beide Autoren eine bloß naturmystische Realisierung dieser Beziehung kritisieren, Fichte als Verabsolutierung eines lediglich als Moment bedeutsamen Ereignisses, Levinas sogar als Verhinderung der Transzendenz des Unendlichen generell, erklärt sich für sie ebenso daraus. Eine weitere Folge der fundamentalen Bedeutung der Ethik besteht bei beiden darin, dass sie die Leiblichkeit sowie die Gestalt überhaupt der Natur nicht als Resultat eines bloß zufälligen kosmischen und evolutionären Prozesses ansehen, sondern als etwas von vornherein ethisch Bestimmtes. Auf dieser Basis erscheint es möglich, dass Levinas Fichtes Idee einer Prägung der Leiblichkeit durch das Unendliche übernimmt, die sie geeignet macht für dessen Sichereignen in ihr. Der herausgearbeitete gemeinsame Denkweg ist bei beiden gut begründet. Sie können die Begründung des Anderen weitgehend akzeptieren und somit als Bestätigung ansehen. Fichte und Levinas formulieren hier übereinstimmend etwas, hinter das man m. E. kaum mehr zurückgehen kann. Mit der Beschreibung der abgründigen Unsicherheit an der Wurzel der Vernunft, der Ungewissheit der eigentlichen Fundamente, entsprechen die zwei Denker zudem einer modernen wie auch postmodernen Grunderfahrung. Mit der entschiedenen Orientierung am ethischen Sollen wollen sie in keiner Weise die Unsicherheit dieser Entscheidung und das Nichtvorhandensein eines einfach objektiv Gegebenen bestreiten. Besonders in Bezug auf Fichte, bei dem zeitweise dieser an sich sehr deutlich artikulierte Punkt doch wieder verdeckt zu werden scheint, ist es wichtig ihn herauszustreichen, um sein Denken mit der gegenwärtigen Geisteshaltung vermitteln zu können. Der zentrale Unterschied zu Levinas ist freilich, dass er der Konfrontation mit dem, was sich dem Subjekt entzieht und die Ordnung der Welt stört, keine bleibende Bedeutung innerhalb dessen gibt, was für ihn das Grundereignis der Wirklichkeit darstellt. Während Levinas der für die Postmoderne typischen radikalen Öffnung für diese Konfrontation und von daher auch den verschiedenen Gelegenheiten zu ihr in der Begegnung mit dem Materiellen eine integrale Bedeutung in der von ihm eingenommenen Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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ethischen Lebenshaltung zuweist, muss Fichte sie als eine Gefahr betrachten, in welcher die hintergründige Sinneinheit der Wirklichkeit verdeckt wird. Sie gilt es in einem Glaubensakt zu überwinden, der allein für die Wahrnehmung dieser Sinneinheit öffnen kann. Während dem Sollen bei beiden eine ähnlich zentrale Stellung zukommt, trennen sich die Wege in der inhaltlichen Auslegung des Sollens. Demzufolge können auch die Begründungen der daraus folgenden Bestimmungen der Leiblichkeit und ihrer religiösen Bedeutung nicht mehr einfach vom Anderen geteilt werden. Daraus folgt jedoch nicht, dass hier keine Integrationsmöglichkeiten bestehen und die Übereinstimmungen nicht eine Bestätigung darstellen können. So erklärt sich etwa die interpersonale Verwirklichung des Sollens bei beiden auf ganz verschiedene Weise. Und doch finden sich Übereinstimmungen nicht nur in der Beschreibung dieser Beziehung, sondern auch in der Erhellung der Funktionen verschiedener Momente. So ist etwa für beide die ethische Beziehung zum Anderen durch die Entstehung einer gewissen Distanz zu den eigenen Antrieben sowie durch die Entstehung des Bewusstseins bedingt und diese sind wiederum von einer über das Bedürfnis hinausgehenden Instanz abhängig. Hier können sich die beiden Ansätze gegenseitig bestätigen. In anderen Punkten bestehen Integrationsmöglichkeiten. Die Erklärung der Passivität der Leiblichkeit als eines Erfordernisses für die Interpersonalität könnte Fichte, der sie vor allem als Erfordernis für die Erkenntnis herausarbeitet, zumindest insoweit von Levinas übernehmen, als sie nicht eine Abhängigkeit des Seins von der Nahrung darstellt, sondern nur ein passives Bestimmtsein durch den Anderen, und soweit dieses nicht für die Bekanntschaft des Subjekts mit der ethischen Bedeutung überhaupt nötig ist, sondern nur für die Bekanntschaft mit dem Anderen. In der Darstellung der verschiedenen Aspekte der religiösen Bedeutung des Leibes wurde erklärt, wie die vielfältigen Beschreibungen der Passivität und der Bedeutung der Unterbrechung des Genusses bei Levinas Fichtes Denken bereichern können. Umgekehrt könnte für Levinas, indem auch er – wenngleich aus einem anderen Grund – in der ethischen Interpersonalbeziehung neben der Passivität dem Moment des Wirkens für den Anderen und neben dem Ergriffensein dem Moment der freien Entscheidung dazu eine Bedeutung gibt, Fichtes genauere Beschreibung der Rolle des Leibes darin eine Ergänzung bieten. Deutlicher beschreibt er etwa die Bedingtheit der Wahlfreiheit durch faktische Handlungsalterna936

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tiven oder, wie durch die Bewusstwerdung die vorher vorfreien und faktischen Leibvollzüge in die durch das Bewusstsein zurechenbare und wahlfreie Verfügung des Subjekts gestellt werden. Auch die Beobachtungen etwa zur Eigendynamik und Trägheit der Triebe, mit der sie die Freiheit prägen und bestimmen, zur Möglichkeit der Bildung und Verbildung des Leibes und seiner Triebe oder zur Bedeutung der Artikulation des Leibes könnte Levinas integrieren. Als Unterschied bleibt freilich, dass Levinas dem Aspekt der Aktivität sowie der Rolle des Leibes als Bedingung für sie nur eine sekundäre Bedeutung zumessen kann, während bei Fichte, solange man seinen Ansatz nicht wie vorgeschlagen modifiziert, die Passivität sekundär bleibt. In den Darstellungen des Begriffs des Leibes und der verschiedenen Aspekte seiner religiösen Bedeutung wurden die verschiedenen Möglichkeiten einer Integration ausführlich besprochen. Die hier genannten Beispiele sollten nur noch einmal verdeutlichen, wie es in dieser Thematik zu einer fruchtbaren Kooperation zwischen einer Tradition kommen kann, die sich auf Fichte stützt, und einer Tradition, die von Levinas ausgeht. Die Bedingung für eine Zusammenarbeit, in welcher sich beide Seiten mit ihren Differenzen zu einer tieferen Klärung der eigenen Argumentation verhelfen können, in welcher sie sich in ihren Übereinstimmungen bestätigen und in welcher Inhalte der anderen Seite kritisch aufgenommen und der eigene Ansatz mit ihnen ergänzt werden kann, ist, dass die Positionen nicht nur in Bezug auf die Ergebnisse, sondern auch auf ihre methodische Erschließung und Begründung verglichen werden. Auf einer solchen Basis konnten in der vorliegenden Untersuchung viele Übereinstimmungen und Integrationsmöglichkeiten und somit ein breiter Konsens zwischen beiden Ansätzen herausgearbeitet werden. Neben der Rechtfertigung der fundamentaltheologischen Rezipierbarkeit der beiden Denkformen und dabei der Auseinandersetzung mit den gegen sie vorgebrachten Anfragen, neben der Klärung der grundlegenden Differenzen und der möglichen Gründe für die Entscheidung für eine der beiden Denkformen, erbringt diese Untersuchung vor allem dadurch einen Beitrag zur aktuellen Diskussion zwischen eher von Fichte sowie der Transzendentalphilosophie und eher von Levinas sowie der Phänomenologie ausgehenden Theologen, dass sie beide Denker konkret in der Frage nach der religiösen Bedeutung der Leiblichkeit in einen fruchtbaren Austausch miteinander gebracht hat.

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4. Ausblick auf eine Anwendung der Ergebnisse – Leiblichkeit in Eucharistie und kontemplativem Gebet

Eine der beiden Zielsetzungen der Untersuchung bestand darin, auf philosophisch fundierte Weise einen möglichst weiten Blick auf die verschiedenen Funktionen der Leiblichkeit des Menschen in seiner Gottesbeziehung zu erhalten. Im letzten Kapitel des zweiten Teils wurde als Ertrag der Interpretation von Fichte und Levinas ein differenziertes Spektrum mit einer Vielzahl von Aspekten entfaltet. Diese Vielfalt in ihrem Zusammenspiel greifbar werden zu lassen, ist deshalb wichtig, weil nur auf diese Weise die Rolle der Leiblichkeit in der christlichen Glaubenspraxis annähernd adäquat gewürdigt werden kann. An zwei Beispielen – Eucharistie und kontemplativem Gebet – soll dies im Folgenden veranschaulicht und durch die Anwendung von einigen der erarbeiteten Kategorien zugleich deren Fruchtbarkeit aufgezeigt werden. 1256 In der Feier der Eucharistie ist die Leiblichkeit auf verschiedene Weisen bedeutsam. Als eine zentrale Funktion wurde sowohl ausgehend von Fichte als auch von Levinas herausgearbeitet, dass der Leib Ausdrucksmedium der Kommunikation ist. Ausdruck für das göttliche Wirken ist die Eucharistie zunächst einmal unabhängig davon, ob man sie nur als Zeichen oder, wie dies in der katholischen Auffassung der Fall ist, zugleich als reales Ereignis des Geschehens, das sie bezeichnet, versteht. Der leibliche Vollzug der Gabe und des Empfangens des Brotes als des Leibes Christi ist konkreter Ausdruck für Christi Hingabe und für die eigene Annahme dieser Gabe. Indem die Gabe geteilt und zugleich den Anderen gegeben wird, ist sie Ausdruck ebenso für die in Christus begründete Gemeinschaft. Ausgehend von Levinas’ Analyse des Genusses als des ursprünglichen Subjektsvollzugs kann das Empfangen von Nahrung als Bild für das 1256 Für eine weitere und stärker praxisbezogene Anwendung der erarbeiteten Kategorien, wie ich sie in Bezug auf die spirituelle Wirkweise von Liturgie über die körperliche Ebene vorgenommen habe, vgl. Trescher, 2017a, 147–152.

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Empfangen im tiefsten Sinne, das Empfangen des eigenen Seins, und die Gabe von Nahrung als ursprünglichstes Bild für die Selbsthingabe gewürdigt werden. Durch die vorgeschlagene Modifikation des levinasschen Ansatzes kann man im Genuss der Nahrung zudem unmittelbar die das Ich meinende Güte des Gebers ausgedrückt sehen. Diese Deutung der Gabe von Nahrung ist auch innerhalb eines modifizierten fichteschen Ansatzes sinnvoll. In der Analyse der Ausdrucksfunktion wurde deutlich, dass eine leibliche Geste nicht nur eine Information vermittelt, sondern das ausgedrückte Ereignis selbst geschehen lässt und in es hineinnimmt. Auch dies vollzieht sich in der Eucharistie bereits unabhängig vom Glauben an die Realpräsenz. Das Empfangen der Eucharistie ist so nicht nur äußeres Bild zu einer schon vorhandenen inneren Haltung, sondern der leibhafte Ausdruck formt zugleich diese innere Haltung und verstärkt sie. Aus dem Bewusstsein dafür, wie wirksam eine leibliche Geste sein kann, empfiehlt es sich, in der liturgischen Bildung weniger darauf abzuzielen, dass die Feier der Eucharistie mit inneren Reflexionen und Gebeten verbunden wird, als auf einen bewussten Vollzug der Geste und die einfache Wahrnehmung, was sich durch sie ereignet. Die leibliche Passivität des Empfangens und die Passivität des Wahrnehmens sind darüber hinaus deshalb bedeutsam, weil in ihnen der Mensch leichter davon betroffen werden kann, dass in der Eucharistie etwas gnadenhaft an ihm geschieht, als wenn er innerlich aktiv ist und sich vorstellt, dass Gott sich ihm schenkt. Indem die Eucharistie die Sinne anspricht, ist sie selbst eine Hilfe, in ein passives Spüren hineinzufinden. Der in der Eucharistie ausgedrückte Glaube, dass Gott selbst leibliche Gestalt annimmt und sogar in den eigenen Leib eingeht, wirkt zudem Tendenzen der Abwertung des Leiblichen sowie der Flucht aus dem Leib entgegen. Wie leicht sich das freie und bewusste Subjekt von seiner Leiblichkeit distanzieren kann und wie wichtig demgegenüber die Identifikation mit dem eigenen leiblichen Leben und dessen Wertschätzung für die Selbstverwirklichung des Menschen sind, trat in verschiedener Weise dadurch hervor, wie es von Fichte und Levinas als Realisierungsmedium des Menschen analysiert wurde. Neben der Ausdrucksfunktion wurden bei Fichte und Levinas verschiedene Weisen greifbar, in welchen das leibliche Dasein ein Korrektiv gegenüber dem freien Reflektieren und Wollen darstellt. Von ihnen aus bekommen die Identifikation mit dem eigenen leiblichen Dasein und das leibliche Spüren auch über das hinaus eine Be940

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deutung, dass man in ihnen offen ist, vom Gehalt der leiblichen Geste in der Eucharistie getroffen zu werden. So wurde etwa die Rolle der eigenen Leiblichkeit für eine authentische Selbstwahrnehmung herausgestellt. Die konkrete Begegnung mit Christus im Essen des Brotes ist entsprechend ein Weg, sich selbst unverstellt wahrzunehmen und in der Gegenwart Gottes präsent sein zu lassen. Die freie Produktion und Lenkung von Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen verhindert oft eher, sich Gott als der, der man wirklich ist, auszusetzen. Das leibliche Dasein öffnet zudem für das von den Gedanken meist schon verlassene Hier und Jetzt und damit für einen Kontakt mit der Realität Gottes im Hier und Jetzt. Sowohl für Fichte als auch für Levinas findet ein solcher Kontakt statt, und zwar vorgängig zu den Vorstellungen, die sich das Subjekt von Gott macht, vorgängig überhaupt zu allem von ihm Objektivierten und vorgängig zu allem frei von ihm Hervorgebrachten. Ausgehend von Fichte wurde die Bedeutung des unwillkürlichen leiblichen Lebens für ein Sicheinfinden in das Ereignis Gottes im ursprünglichen Selbstvollzug des Subjekts herausgearbeitet. Es ist ein Weg, sich für das zu öffnen, was faktisch schon da ist und weder hergestellt werden muss noch hergestellt werden kann. Das dem Individuum zu eigen gegebene göttliche Leben manifestiert sich für Fichte nicht nur inhaltlich in den leiblichen Antrieben, sondern auch in deren Faktizität selbst. Es besteht eine Verbindung zwischen der Faktizität der Leiblichkeit und der Faktizität des gnadenhaft Gegebenen. Auch das einfache Vorhandensein des eucharistischen Brotes kann auf diese Weise eine wichtige Rolle spielen. Die in Fichtes Ansatz bestehenden Zusammenhänge können in dem von Levinas eine Gültigkeit haben, indem für diesen das Unendliche im Subjekt ebenso in dessen Selbstvollzug, in dessen ursprünglicher ethischer Bejahung, ankommt. Diese selbst schon vorgegenständliche Anwesenheit ist für ihn freilich dadurch gebrochen, dass sich das Unendliche für jeden Vollzug des Subjekts zugleich immer schon uneinholbar entzogen hat. Auch dies ereignet sich für ihn leiblich, in einem passiven leiblichen Betroffensein von der Anderheit Gottes. Der Leib ist der ›adäquate‹ Zugang auch für die personale Transzendenz des Unendlichen. In einem personalistisch modifizierten fichteschen Ansatz könnte die von Levinas analysierte transzendierende Passivität eine ähnliche Bedeutung bekommen. Aus der Analyse des Verhältnisses von Leiblichkeit und Gottesbeziehung ergibt sich bei beiden Autoren zudem eine große Nähe zwischen der leiblichen Intentionalität und dem Erleben der Bezogenheit auf Gott. Auf diese Weise verLeiblichkeit und Gottesbeziehung

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mag das vorgegenständliche Leiberleben einen Erfahrungskontakt mit Gott zu vermitteln, und zwar weit mehr als ein aktiv objektivierendes Bewusstsein und die freie Reflexion. Bedeutsam ist das leibliche Spüren auch dadurch, dass es in den Kontakt mit dem Leben und seiner unmittelbaren Sinnfüllung bringt, aus denen der Mensch aufgrund der Freiheit herausfallen kann. Im Erleben des leiblichen Genusses sind die Annehmlichkeit und die spontane Bejahung des Lebens zugänglich. In ihm lässt sich zudem die personale Zuwendung des Gebers erfahren und somit zugleich die tiefere ethische Sinndimension, in der sich das Unendliche im vollen Sinne ereignet. So wird im Genuss des eucharistischen Brotes auf einer Ebene real erlebbar, was auf einer anderen bildhaft ausgedrückt wird. Die verschiedenen beschriebenen Funktionen rücken ins Licht, was hintergründig durch den leiblichen Vollzug der Eucharistie geschieht. Seine Potenziale zu erkennen, kann einen bewussten Umgang mit der leiblichen Dimension der Eucharistie fördern und sie zu einer stärkeren Wirksamkeit kommen lassen. Aufgrund der Bedeutung, die dem Spüren zukommt, ist etwa zu fragen, ob die Eucharistie nicht deutlicher als wirkliches Essen erfahrbar gemacht und weniger stilisiert vollzogen werden sollte. Neben den Funktionen des Ausdrucks und der Korrektur der freien Akte spielt die Leiblichkeit in der Eucharistie außerdem dadurch eine wichtige Rolle, dass der Menschen etwas erst als wirklich empfinden und glauben kann, wenn es in der leiblichen Sphäre vorkommt. Aus den Analysen von Fichte und Levinas ergibt sich dies daher, dass sie eine leibliche Fundierung für alle menschlichen Vollzüge aufweisen. Wirklichkeit erfordert Leibhaftigkeit. Die materielle Konkretheit der Eucharistie kommt diesem Erfordernis entgegen und erleichtert dem Menschen den Glauben, dass Gott sich ihm tatsächlich gibt, ja dass er überhaupt wirklich da ist. Die Leiblichkeit kann in dieser Funktion nur unter der Voraussetzung des Glaubens an die Realpräsenz bedeutsam werden. Der Glaube an die Gegenwart Gottes und seine gütige Zuwendung kann unter dieser Voraussetzung jedoch durch die erfahrbare Materialität des Brotes unterstützt werden. Dies ist m. E. einer der Hauptgründe dafür, dass viele Menschen die – eucharistietheologisch häufig eher beargwöhnte – Praxis der eucharistischen Anbetung als etwas sehr Kraftvolles erleben. Man kann sich zwar auch durch die bloße innere Glaubenssetzung in das Bewusstsein bringen, dass Christus wirklich da ist. Aufgrund der Bindung von Wirklichkeit an Leibhaftigkeit geschieht dies jedoch leich942

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ter, wenn sich dieser Glaube auf etwas materiell Erfahrbares stützen kann. Eine Beachtung dieser Zusammenhänge kann zur Würdigung der genannten Praxis beitragen. 1257 Wie man der Bedeutung der Leiblichkeit in der Eucharistie nur ausgehend von einem Bewusstsein für ihre verschiedenen Funktionen annähernd gerecht werden kann, so gilt dies nicht weniger in Bezug auf kontemplative Gebetsweisen, etwa Formen des Herzensgebets, des Rosenkranzes oder ungegenständlicher Kontemplation. Wie die Eucharistie sind sie zunächst entsprechend der Ausdrucksfunktion als Vermittlung eines bestimmten Inhaltes oder als Ausdruck einer gläubigen Haltung in Bezug auf diesen Inhalt zu verstehen. Den Aspekt des Ergriffenwerdens durch das Ereignis des Ausgedrückten, den die Eucharistie über den leibhaften Vollzug realisiert, wird in ihnen ermöglicht durch die Weise der Gestik und Körperhaltung, auf welche bei vielen Kontemplationsformen ein besonderer Wert gelegt wird. Ausgehend von Fichte und Levinas lassen sich darüber hinaus Aspekte der Bedeutung verschiedener Haltungen erhellen, etwa die Bedeutung des Sitzens mit festem Bodenkontakt und in freier, aufrechter Position, ausgehend davon, wie beide die Aufrichtung des Körpers als ethisches Ereignis analysieren. Der Aspekt der Wirksamkeit des Ausdrucks wird neben der Gestik außerdem, wie etwa bei Rosenkranz und Herzensgebet, durch die Wiederholung realisiert, die den Inhalt sinnlich präsent hält und sein Sichereignen evoziert. Darüber hinaus wirkt der wiederholende leibliche Vollzug des Sprechens und Hörens zugleich dadurch, dass der Mensch durch ihn immer mehr in einen Wahrnehmungskontakt und in die Identifikation mit seinem leiblichen Dasein hineingeführt wird. Teilweise richten sich kontemplative Gebetsformen ganz bewusst auf die Leibwahrnehmung und ein Sicheinfinden im Leib aus. Dadurch wird die Leiblichkeit in ganz ähnlicher Weise, wie es für die Eucharistie beschrieben wurde, bedeutsam als Korrektur der negativen Auswirkungen der Freiheit. Sie orientiert am Hier und Jetzt und sensibilisiert für eine authentische Empfindung der konkreten eigenen Realität. Sie öffnet für das passive Aufnehmen der Gegenwart Gottes, die schon da ist und nicht erst gemacht werden muss, für das Erleben des Lebens und seiner Sinnhaftigkeit und für die vorgegenständliche Inten1257 Die Beschreibung dieser Zusammenhänge beansprucht selbstverständlich nicht, erschöpfend die Wirkung des Glaubens an die Realpräsenz zu erklären, geschweige denn eine Wirkung der Realpräsenz selbst.

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tionalität des Erlebens Gottes. In den kontemplativen Gebetsformen sind diese Funktionen von besonderer Bedeutung und Wirksamkeit. Ohne ein Bewusstsein für sie erscheint es kaum nachvollziehbar, wie nichtgegenständliches Meditieren eine christliche Form von Gebet darstellen kann.

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• Hermeneutik und Jenseits (1977), in: Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg 1999, 87–100. • Vom Sakralen zum Heiligen (1977), Frankfurt 1998. • Die Transzendenz und das Übel (1978), in: Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg 1999, 172–194. • Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo (1982), Wien 1996. • Einleitung (1982), in: Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg 1999, 13–21. • Das Seinsdenken und die Frage nach dem Anderen (1982), in: Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg 1999, 150–171. • Bemerkungen über den Sinn (1982), in: Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg 1999, 195–228. • Das sinnlose Leiden (1982), in: Ders., Zwischen uns, München 1995, 117–131. • Jenseits des Buchstabens (1982), Frankfurt 1996. • Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe. Ein Gespräch mit R. Fornet und A. Gomez am 3. und 8. Oktober 1982, in: Ders., Zwischen uns, München 1995, 132–153. • Vom Einen zum Anderen (1983), in: Ders., Wenn Gott ins Denken einfällt, Freiburg 1999, 229–265. • Über die Idee des Unendlichen in uns (1983), in: Hans Hermann Henrix (Hg.), Verantwortung für den Anderen – und die Frage nach Gott. Zum Werk von Emmanuel Levinas, Aachen 1984, 37–41. • Philosophische Bestimmung der Idee der Kultur (1983), in: Ders., Zwischen uns, München 1995, 218–228. • Vom Beten ohne zu bitten. Anmerkung zu einer Modalität des Jüdischen (1984), in: Wilhelm Breuning (Hg.), Damit die Erde menschlich bleibt, Freiburg 1985, 62–70. • Diachronie und Vergegenwärtigung (1985), in: Franz Josef Klehr (Hg.), Den Anderen denken. Philosophisches Fachgespräch mit Emmanuel Levinas, Stuttgart 1991, 143–167. • Von der Ethik zur Exegese (1985), in: Michael Mayer/Markus Hentschel (Hg.), Parabel. Levinas. Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie, Gießen 1990, 13–16. • Intention, Ereignis und der Andere. Gespräch zwischen Emmanuel Levinas und Christoph von Wolzogen am 20. Dezember 1985 in Paris, in: Ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 131–150. • Judentum und Christentum nach Franz Rosenzweig. Ein Gespräch (1987), in: Gotthard Fuchs/Hans Hermann Henrix (Hg.), Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig, Frankfurt 1987, 163– 183. • Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit (1988), in: Ders., Zwischen uns, München 1995, 265–278. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Literatur

• De l’oblitération. Entretien avec Françoise Armengaud à propos de l’œuvre des Sosno (1988), Paris 1990. Lohmann, Petra, Gefühl: Freiheit und Notwendigkeit. Zur bewusstseinsbegründenden Funktion des Gefühls in Fichtes Wissenschaftslehre 1805 und in ausgewählten Positionen der Hirnwissenschaft, in: Fichte-Studien 34 (2009), 303–324. López Dominguez, Virginia, Die Idee des Leibes im Jenaer System, in: Fichte-Studien 16 (1999), 273–296. Lotz, Carsten, • Zwischen Glauben und Vernunft, Letztbegründungsstrategien in der Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas und Jacques Derrida, Paderborn 2008. • Der Leib Christi. Levinas’ Überlegungen zur Leiblichkeit des Menschen als kritischer Einspruch zur bewusstseinszentrierten Christologie der Gegenwart, in: Thomas Freyer (Hg.), Der Leib. Theologische Perspektiven aus dem Gespräch mit Emmanuel Levinas, Ostfildern 2009, 83–101. Lumsden, Simon, Absolute Difference and Social Ontology: Levinas Face to Face with Buber and Fichte, in: Human Studies 23 (2000), 227–241. Maesschalck, Marc, Corporéité et étique chez Fichte, in: Tijdschrift voor Filosofie 55 (1993), 657–676. Manz, Hans Georg von, Selbstgewissheit und Fremdgewissheit. Fichtes Konzeption des Anderen als Konstituens der Selbsterfassung unter Berücksichtigung der Perspektive Lévinas’, in: Fichte-Studien 6 (1994), 195–213. Marcel, Gabriel, • Sein und Haben, Paderborn 1968. • Leibliche Begegnung. Notizen aus einem gemeinsamen Gedankengang, bearb. v. Hans A. Fischer-Barnicol, in: Hilarion Petzold (Hg.), Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn 1985, 9–45. Marquard, Odo, Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre, in: Ders., Individuum und Gewaltenteilung. Philosophische Studien, Stuttgart 2004, 145–158. Meckenstock, Günter, Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806, Göttingen 1974. Metz, Johannes B., Caro cardo salutis. Zum christlichen Verständnis des Leibes, in: Hochland 55 (1962), 97–107. Metz, Wilhelm, Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. Müller, Klaus, • Subjekt-Profile. Philosophische Einsprüche in eine theologisch überfällige Debatte, in: Theologie der Gegenwart 40 (1997), 172–180.

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SCIENTIA

RELIGIO

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Literatur

• Das etwas andere Subjekt. Der blinde Fleck der Postmoderne, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 120 (1998), 137–163. Negel, Joachim, ›Doch einen Leib hast Du mir gegeben‹ (Ps 40,7). Zur Frage nach der Leiblichkeit des Menschen und ihrer Bedeutung für ein sakramententheologisches Verständnis der Stellvertretung Christi, in: Theologie und Glaube 94 (2004), 59–82. Olivetti, Marco, Philosophische Fragen an das Werk von Emmanuel Levinas, in: Hans Hermann Henrix (Hg.), Verantwortung für den Anderen – und die Frage nach Gott. Zum Werk von Emmanuel Lévinas, Aachen 1984, 42–70. Omine, Akira, Intellektuelle Anschauung und Mystik, in: Fichte-Studien 3 (1991), 184–203. Pecina, Björn, Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins, Tübingen 2007. Pedro, Teresa, Die Freiheit und das Böse. Eine Gegenüberstellung von Fichtes früher Sittenlehre und Schellings Freiheitsschrift, in: Fichte-Studien 27 (2006), 169–187. Platon, Politeia. Der Staat (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Band IV), Darmstadt 1971. Pröpper, Thomas, • Autonomie und Solidarität. Begründungsprobleme sozialethischer Verpflichtung, in: Edmund Arens (Hg.), Anerkennung des Anderen. Eine theologische Grunddimension interkultureller Kommunikation (QD 156), Freiburg 1995, 95–112. • Sollensevidenz, Sinnvollzug und Offenbarung. Im Gespräch mit Hansjürgen Verweyen, in: Gerhard Larcher (Hg.), Hoffnung die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, Regensburg 1996, 27–48. • Theologische Anthropologie. Teilband I und II, Freiburg 2011. Puntel, Lorenz B., Sein und Gott. Ein systematischer Ansatz in Auseinandersetzung mit M. Heidegger, E. Lévinas und J.-L. Marion, Tübingen 2010. Purcell, Michael, Levinas and Theology, Cambridge 2006. Radrizzani, Ives, Le Même, l’Autre et la Limite chez Fichte et chez Levinas, in: Archives de Philosophie 73 (2010), 285–295. Ricœur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, München 2005. Rohs, Peter, Der materiale Gehalt des Sittengesetzes, in: Fichte-Studien 3 (1991), 170–183. Sandler, Willibald, Subjektivität und Alterität. Auf der Suche nach Anknüpfungspunkten, ausgehend von einer Kontroverse zwischen Klaus Müller und Thomas Freyer, in: Theologie der Gegenwart 42 (1999), 285–300. Sandherr, Susanne, Die heimliche Geburt des Subjekts. Das Subjekt und sein Werden im Denken Emmanuel Lévinas’, Stuttgart 1998. Leiblichkeit und Gottesbeziehung

A

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Literatur

Schelling, Friedrich Wilhelm Josef, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre, in: SW VII, 1–126. Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich, Das Problem der Natur. Erläuterungen zur Kontroverse zwischen Fichte und Schelling, in: Ders., ›Von der wirklichen, von der seyenden Natur‹. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart – Bad Cannstatt 1996, 122–146. Schöndorf, Harald, Der Leib im Denken Schopenhauers und Fichtes, München 1982. Schulte, Günter, Vom Sinn der Wahrnehmung. Die Wissenschaftslehre Fichtes und Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, in: Tijdschrift voor Filosofie 31 (1969), 732–748. Schwind, Georg, Das Andere und das Unbedingte. Anstöße von Maurice Blondel und Emmanuel Lévinas für die gegenwärtige theologische Diskussion, Regensburg 2000. Scribner, Scott F., Levinas Face to Face with Fichte, in: Southwestern Philosophy Review 16/1 (2000), 151–160. Senigaglia, Cristiana, Die Spur der Andersheit: Fichte und Levinas, in: Christoph Asmuth/Kazimir Drilo (Hg.), Der Eine oder der Andere, Tübingen 2010, 97–112. Simm, Günter, Wesen und Ursprung des Raumes in Fichtes Wissenschaftslehre, Dissertation in Köln 1969. Sirovátka, Jakub, Der Leib im Denken von Emmanuel Levinas, Freiburg/ München 2006. Stache, Antje, Der Körper als Mitte. Zur Dynamisierung des Körperbegriffs unter praktischem Anspruch, Würzburg 2010. Stegmaier, Werner, Levinas, Freiburg 2002. Striet, Magnus, Gegenbegriff Gott oder: Meditationen mit Kant und Levinas, in: Florian Bruckmann/René Dausner (Hg.), Im Angesicht des Anderen. Gespräche zwischen christlicher Theologie und jüdischem Denken. Festschrift für Josef Wohlmuth zum 75. Geburtstag, Paderborn 2013, 331–344. Tengelyi, László, Zeit und Empfindung (E. Husserl, E. Levinas und M. Henry), in: Recherches husserliennes 4 (1995), 53–76. von Tippelskirch, Dorothee C., ›Liebe von fremd zu fremd …‹. Menschlichkeit des Menschen und Göttlichkeit Gottes bei Emmanuel Lévinas und Karl Barth, Freiburg 2002. Traub, Hartmut/Oesterreich, Peter L., Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, Stuttgart 2006. Trescher, Stephan, • Rezension zu: Heereman, Franziskus von: Selbst und Bild. Zur Person beim letzten Fichte (1810–1814), in: Fichte-Studien 44 (2017), 334–343.

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SCIENTIA

RELIGIO

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Literatur

• Liturgie und Körperkompetenz, in: KatBl 142 (2017), 147–152. (Trescher 2017a) • Gefühl ist alles? Zur Angewiesenheit von Spiritualität auf theologische Reflexion, in: WuA 57/4 (2016), 162-168. • Die Dimensionen des Menschseins und des Transzendenzbezuges im Licht der ethischen Beziehung bei Levinas, in: Bernhard Nitsche / Florian Baab (Hg.), Dimensionen des Menschseins - Wege der Transzendenz?, Paderborn 2018, 161-179. Trzaski, Marius, Gott im Körper begegnen – Aikido als eine Hilfe zur praktischen Einübung in die Nachfolge Jesu in der heutigen Gesellschaft, Norderstedt 2008. Verweyen, Hansjürgen, • Aufgaben der Fundamentaltheologie, in: Trierer Theologische Zeitschrift 92 (1983), 204–215. • Gottes letztes Wort. Grundriß der Fundamentaltheologie, 1. Auflage, Düsseldorf 1991. • Fichtes Religionsphilosophie. Versuch eines Gesamtüberblicks, in: Fichte-Studien 8 (1995), 193–224. • Botschaft eines Toten? Den Glauben rational verantworten, Regensburg 1997. • Einleitung, in: Johann Gottlieb Fichte, Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, Hamburg 2001, XIII–LXVI. • Einleitung, in: Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Hamburg 2000, IX–XLII. • Gottes letztes Wort. Grundriß der Fudamentaltheologie, 4. Auflage, Regensburg 2002. • Einführung in die Fundamentaltheologie, Darmstadt 2008. Wendel, Saskia, • Bild des Absoluten – Geisel des anderen sein. Zum Freiheitsverständnis bei Fichte und Lévinas, in: Gerhard Larcher (Hg.), Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung, Regensburg 1996, 164–173. • Postmoderne Theologie? Zum Verhältnis von christlicher Theologie und postmoderner Philosophie, in: Klaus Müller (Hg.), Fundamentaltheologie – Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, Regensburg 1998, 193–214. • Affektiv und inkarniert. Ansätze deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung, Regensburg 2002. • Leib-Körper-/Leib-Seele-Verhältnis, in: Albert Franz (Hg.), Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg 2003, 252–255. • Der Körper der Autonomie. Anthropologie und ›gender‹, in: Antonio Autiero (Hg.), Endliche Autonomie. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein theologisch-ethisches Forschungsprogramm, Münster 2004, 103–122.

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Literatur

Wenzler, Ludwig, • Zeit als Nähe des Abwesenden. Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach Emmanuel Levinas, in: Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, 67–92. • Das Antlitz, die Spur, die Zeit. Zeitlichkeit als Struktur und als Denkform des religiösen Verhältnisses nach Emmanuel Levinas, Habilitationsschrift in Freiburg 1987. • Menschsein vom Anderen her, in: Emmanuel Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, VII–XXVII. • Anmerkungen zum Vorwort, in: Emmanuel Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 105–107. • ›Gott sieht das Unsichtbare und sieht, ohne gesehen zu werden‹. Die Möglichkeit, philosophisch von Gott zu reden – in der Spur eines abwesenden Gottes, in: Norbert Fischer (Hg.), Die Gottesfrage in der Philosophie von Emmanuel Levinas, Hamburg 2013, 255–274. Widmann, Joachim, Das Problem der veränderten Vortragsform von Fichtes Wissenschaftslehre – am Beispiel der Texte von 18042 und 1805, in: Klaus Hammacher (Hg.), Der transzendentale Gedanke. Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes, Hamburg 1981, 143–154. Wiemer, Thomas, Passion des Sagens, Freiburg 1988. Wilhelm, Wolfgang, Bewusstsein als Erscheinung des Absoluten. Erörterung der philosophischen Position der Spätphilosophie Fichtes, Neuried 1997. Wladika, Michael, Moralische Weltordnung, Selbstvernichtung und Bildwerden, seeliges Leben. Johann Gottlieb Fichtes Religionsphilosophie, Würzburg 2008. Wohlmuth, Josef/Dirscherl, Erwin, Gespräch mit Emmanuel Levinas am 20. Juli 1992 in Paris, in: Josef Wohlmuth (Hg.), Emmanuel Levinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1999. Wohlmuth, Josef, • Im Geheimnis einander nahe. Theologische Aufsätze zum Verhältnis von Judentum und Christentum, Paderborn 1996. • Herausgeforderte Christologie, in: Ders. (Hg.), Emmanuel Levinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1999, 215– 229. • Bild und Zeit. Im Gespräch mit Emmanuel Levinas, in: Rainer-M. E. Jacobi (Hg.), Im Zwischenreich der Bilder, Leipzig 2004, 53–76 • Die Thora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn 2002 • Mysterium der Verwandlung. Eine Eschatologie aus katholischer Perspektive im Gespräch mit jüdischem Denken der Gegenwart, Paderborn 2005.

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• Zeit und Freiheit, in: Michael Böhnke (Hg.), Freiheit Gottes und der Menschen. Festschrift für Thomas Pröpper, Regensburg 2006, 137–160. • An der Schwelle zum Heiligtum. Christliche Theologie im Gespräch mit jüdischem Denken, Paderborn 2007. Wyschogrod, Edith, Corporeality and the Glory of the Infinite in the Philosophy of Emmanuel Levinas, in: Marco Olivetti (Hg.), Incarnazione, Padua 1999, 181–195. Zöller, Günther, • Leib, Materie und gemeinsames Wollen als Anwendungsbedingungen des Rechts (Zweites Hauptstück: §§ 5–7), in: Jean Christoph Merle (Hg.), Johann Gottlieb Fichte. Grundlage des Naturrechts, Berlin 2001, 97–111. • Setzen hält Leib und Seele zusammen. Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft, in: Jürgen Stolzenberg (Hg.), Kant und der Frühidealismus, Hamburg 2007, 129–151. • ›Einsicht im Glauben‹. Der dunkle Grund des Wissens in der Wissenschaftslehre von 1805, in: Fichte-Studien 34 (2009), 203–219. • ›Das proton pseudos der gewöhnlichen profanen Philosophie‹. Gott und Welt in Fichtes Erlanger Darstellung der Metaphysik, in: Fichte-Studien 34 (2009), 359–379. (Zöller 2009a) • Ex aliquo nihil. Fichtes Anti-Kreationismus, in: Christoph Asmuth/Kazimir Drilo, Der Eine oder der Andere, Tübingen 2010, 39–54.

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Siglen

Die Schriften Fichtes werden im Folgenden nicht im ursprünglichen Wortlaut und in der Schreibweise Fichtes aufgeführt, sondern in der Form, in der sie gewöhnlich in der Forschung und auch in der vorliegenden Untersuchung bezeichnet werden. A AA AE AP AQ Ap Asc As AS AU B BE BS BW DA DB DL DO DP DS DT DV DW EB EE EG EJ EU FA G

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SCIENTIA

Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben (1806) Kant Akademieausgabe Fichte, Aphorismen über Erziehung (1804) Levinas, Der Andere bei Proust (1947) Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (1974) Fichte, Appelation an das Publikum (1999) Fichte, Ascetik (ca. 1998) Levinas, Außer sich (1976) Levinas, Ausweg aus dem Sein (1935/36) Levinas, Der Andere, die Utopie und die Gerechtigkeit (1988) Fichte, Die Bestimmung des Menschen (1806) Levinas, Von der Beschreibung zur Existenz (1949) Levinas, Bemerkungen über den Sinn (1982) Levinas, Vom Bewußtsein zur Wachheit (1974) Levinas, Dichtung und Auferstehung – Notizen zu Agnon (1973) Levinas, Die Bedeutung und der Sinn (1964) Levinas, Das sinnlose Leiden (1982) Levinas, De l’oblitération (1988) Levinas, Das Primat der reinen praktischen Vernunft (1971) Levinas, Die Substitution (1968) Levinas, Die Thora mehr lieben als Gott (1955) Levinas, Diachronie und Vergegenwärtigung (1985) Fichte, Dritter Kurs der Wissenschaftslehre (1804) Levinas, Einige Betrachtungen zur Philosophie des Hitlerismus (1934) Levinas, Von der Ethik zur Exegese (1985) Levinas, Ethik und Geist (1952) Levinas, Edmond Jabès heute (1972) Levinas, Ethik und Unendliches (1982) Levinas, Fragen und Antworten (1977) Fichte, Über das Wesen des Gelehrten (1806) RELIGIO

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Siglen

GA GA GF GGZ GNR GP GTZ GWL HM Hua HuJ I IE IEA II IM J JB JC JG JS LB MB MG ML MP MT OF P PB PC PGR PI Pl PlK PT RE RL RP

(mit lateinischer und arabischer Bandzählung) Fichte Gesamtausgabe (mit arabischer Bandzählung) Heidegger Gesamtausgabe Fichte, Grundriss des Familienrechts (1797) Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806) Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796) Levinas, Gott und die Philosophie (1975) Levinas, Gott, der Tod und die Zeit (1975/76) Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) Levinas, Vorwort zu ›Humanismus des anderen Menschen‹ (1972) Husserliana Levinas, Hermeneutik und Jenseits (1977) Fichte, Institutiones (1805) Levinas, Intentionalität und Empfindung (1965) Levinas, Intention, Ereignis und der Andere (1985) Levinas, Ideologie und Idealismus (1973) Levinas, Intentionalität und Metaphysik (1959) Levinas, Judentum (1971) Levinas, Jenseits des Buchstabens (1982) Levinas, Judentum und Christentum (1987) Levinas, Judentum und Gegenwart (1960) Levinas, Jenseits des Seins (1974) Levinas, Lévy-Bruhl und die zeitgenössische Philosophie (1957) Levinas, Maurice Blanchot – der Blick des Dichters (1956) Levinas, Menschwerdung Gottes? (1968) Levinas, Michel Leiris – Die Transzendenz der Wörter (1949) Levinas, Max Picard … und das Antlitz (1966) Levinas, Messianische Texte (1963, auf der Basis von Vorträgen 1960/61) Levinas, Ist die Ontologie fundamental? (1951) Fichte, Die Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre (1805) Levinas, Philosophische Bestimmung der Idee der Kultur (1983) Levinas, Vom Sein zum Anderen – Paul Celan (1972) Levinas, Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe (1982) Levinas, Die Philosophie und die Idee des Unendlichen (1957) Fichte, Vorlesungen über Logik und Metaphysik nach Platners Aphorismen (1794–1812) Fichte, Vorlesung über Logik und Metaphysik nach Platners Aphorismen (Kollegsnachschrift Krause) (1797/98?) Levinas, Überlegungen zur phänomenologischen ›Technik‹ (1959) Levinas, Eine Religion für Erwachsene (1957) Levinas, Roger Laporte und die Stimme tiefsten Schweigens (1976) Levinas, Rätsel und Phänomen (1965)

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Siglen

S SF SH St SuH SN SpA SV SW TB TdB TG TI TT TU TÜ U Ü ÜI UV V VB VE VS W WG WH WK WL WS WU ZA ZW

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SCIENTIA

Fichte, Das System der Sittenlehre (1798) Levinas, Das Seinsdenken und die Frage nach dem Anderen (1982) Levinas, Vom Sakralen zum Heiligen (1977) Fichte, Staatslehre (1813) Levinas, Saiten und Holz. Zur jüdischen Leseweise der Bibel (1972) Levinas, Sprache und Nähe (1967) Levinas, Die Spur des Anderen (1963) Levinas, Vom sorg-losen Versagen zum neuen Sinn (1976) Schellings sämtliche Werke Fichte, Tatsachen des Bewusstseins (1810/11) Fichte, Tatsachen des Bewusstseins (1813) Levinas, Die Tugenden der Geduld (1976) Levinas, Totalité et Infini (1961) Levinas, Totalité et totalisation (1970) Levinas, Totalität und Unendlichkeit (1961, S. 7–12 von 1987) Levinas, Die Transzendenz und das Übel (1978) Levinas, Unterschrift (1963) Fichte, Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung (1798) Levinas, Über die Idee des Unendlichen in uns (1983) Levinas, Der Untergang der Vorstellung (1959) Fichte, Verantwortungsschrift (1799) Levinas, Vom Beten ohne zu bitten (1984) Levinas, Vom Einen zum Anderen (1983) Levinas, Vom Sein zum Seienden (1947) Fichte, Erlanger Wissenschaftslehre (1805) Levinas, Einleitung zu ›Wenn Gott ins Denken einfällt‹ (1982) Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo (Hallesche Nachschrift) (1796–1799) Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo (Krausenachschrift) (1798/99) Fichte, Zweiter Vortrag der Wissenschaftslehre (1804) Levinas, Die Wirklichkeit und ihr Schatten (1948) Fichte, Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse (1810) Levinas, Die Zeit und der Andere (1948, S. 7–14 von 1979) Levinas, ›Zwischen zwei Welten‹ (Der Weg von Franz Rosenzweig) (1963)

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Namensregister

Adriaanse, Hendrik Johan 757 Asmuth, Christoph 56 Bader, Franz 195, 218 f., 913 Bahlmann, Katharina 595 Becker, Sybille 24 Beck, Matthias 24 Bedorf, Thomas 447, 619 Berger, Ruth 794 Binkelmann, Christoph 31, 54 Bisol, Bendetta 31, 211, 285, 907 Blanchot, Maurice 782 f. Brachtendorf 448, 544 Browning, Don S. 794 Bruckmann, Florian 28 Buchholz, René 907, 919 Casper, Bernhard 28, 34, 515, 522, 540, 557, 695, 763, 794 Celan, Paul 786 f. Ceming, Katharina 252 Cesa, Claudio 31 Clam, Jean 31 Cohen, Seymour J. 575, 794 Csech, Werner Volker 119 Dalton, Drew M. 35, 441 Delhom, Pascal 430 De Pascale, Carla 31 Derrida, Jacques 26, 449, 500 Descartes, René 146, 327, 333, 357, 359, 361, 396, 454–457, 525–531, 538–546, 553, 628, 658, 886, 901 Dickmann, Ulrich 28

Dirscherl, Erwin 28, 34, 441, 450, 549, 723, 856 Dostojewskij, Fjodor 428, 757 Düsing, Edith 223 Esterbauer, Reinhold 28 Falk, Hans-Peter 94 Ferrer, Diogo 54, 57, 80, 94 Fischer, Norbert 36, 445, 485, 595 Freyer, Thomas 26, 28, 34, 446, 448, 451, 462, 468, 482, 604, 606, 804, 893, 907, 920 Fuchs, Ottmar 28 Funk, Rudolf 28, 454, 525 f. Gadient, Lorenz 913 Gates, Darin Crawford 36, 445 Girndt, Helmut 31, 70 Gliwitzky, Hans 58, 93 f. Gnädinger, Stefan 30, 80, 262 f. Grätzel, Stephan 31, 37 Greisch, Jean 529 Grümme, Bernhard 34, 447 Grüneberg, Patrick 158 Hagencord, Rainer 813 Hattrup, Dieter 36, 445, 485 Heereman, Franziskus von 223, 483, 913 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 388, 426, 477, 481, 512, 531, 577, 655

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

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Namensregister

Heidegger, Martin 323, 329, 335, 344, 349, 354, 362–365, 384, 394, 408, 413, 417, 434, 437, 477, 509, 511 f., 531, 592, 598, 613–617, 623 f., 690, 810, 898 Henrich, Dieter 87, 462, 606, 913 Henrix, Hans Hermann 490 Henry, Michel 27 Hoffmann, Thomas Sören 31 Horstmann, Hubert 119 Husserl, Edmund 24, 32, 323, 329– 361, 396, 400–404, 413–418, 437, 444, 452–454, 487, 489–492, 508, 512, 514, 519, 531, 612, 619 f., 633, 659, 668 f., 702, 707, 767, 856, 889 Irenäus von Lyon 899 Ivaldo, Marco 31, 153 Jabès, Edmond 783 Jacobs, Volker 571 Janke, Wolfgang 30, 93 f., 116 Jesus Christus 28, 219, 256, 318– 320, 538, 569–572, 789, 797, 866 f., 878, 894, 896–898, 916 Kant, Immanuel 29, 32, 36, 45–48, 57, 61, 71, 117, 124, 189, 280, 308, 326 f., 338 f., 358, 398, 426, 445 f., 464, 476, 484 f., 531, 547, 567, 574–579, 583, 607 f., 685, 911 Keßler, Hildrun 24 Kirschner, Martin 28 Kloc-Konkołowicz, Jakub 444 Klun, Branko 447 f., 540, 556 Knauß, Stefanie 24 Koll, Julia 23 f. Kottmann, Reinhard 31 Krewani, Wolfgang Nikolaus 354, 366, 375, 595, 647, 659–661 Kühn, Rolf 27, 31, 290

966

SCIENTIA

Laporte, Roger 783 Lauth, Reinhard 31, 37, 119 f., 159, 442, 913 Leonhard, Silke 24 Lerch, Magnus 124 Lévy-Bruhl, Lucien 589–594 Lohmann, Petra 116, 356 López Dominguez, Virginia 31 Lotz, Carsten 26, 28, 34, 345, 448, 604, 865 Lumsden, Simon 35 Maesschalck, Marc 31 von Manz, Hans Georg 35, 483, 604, 837 Marcel, Gabriel 24, 27 Marquard, Odo 313 Meckenstock, Günter 94 Metz, Johannes B. 804 Metz, Wilhelm 120 Müller, Klaus 33 f., 36, 124, 438, 448–450, 462, 540 f., 606, 893 Negel, Joachim 24 Nitsche, Bernhard 931 Olivetti, Marco 35, 490, 890 Omine, Akira 252 Pecina, Björn 30 Pedro, Teresa 153 Platon 50, 335, 385, 475, 510, 553, 695, 759 f. Pröpper, Thomas 120, 412, 414, 432, 440 f., 450 f., 462, 482, 723, 913 f. Proust, Marcel 784 Puntel, Lorenz B. 501, 512, 518 Purcell, Michael 28 Radrizzani, Ives 35, 448, 462 Ricoeur, Paul 448 f., 462 Rohs, Peter 31

RELIGIO

Stephan Trescher https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

Namensregister

Sandler, Willibald 34, 462, 913 Sandherr, Susanne 28 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 225, 244–248, 252, 439 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich 246 f. Schöndorf, Harald 29, 31, 37, 442 Schulte, Günter 31 Schwind, Georg 412, 462, 491, 528 Scribner, Scott F. 35, 442 Senigaglia, Cristiana 35, 451 Simm, Günter 119 Sirovátka, Jakub 27 f., 380, 447, 731, 752 f. Spinoza, Baruch de 388, 477, 480, 687 Stache, Antje 31 Stegmaier, Werner 685 Striet, Magnus 33 f., 445, 472, 517, 758, 887 Tengelyi, László 338 Tippelskirch, Dorothee C. von 28 Traub, Hartmut 31, 158

Trescher, Stephan 899, 913, 931, 939 Trzaski, Marius 24 Verweyen, Hansjürgen 28, 30, 33 f., 36, 52, 248, 312, 320, 345, 448, 462, 606, 808, 907, 913–915, 921 f. Wendel, Saskia 24, 28, 30, 33, 35, 37, 145, 443, 469, 501, 550, 604, 837 Wenzler, Ludwig 28, 34, 354, 432, 524 f., 731 Widmann, Joachim 94 Wiemer, Thomas 28, 354, 403, 422, 503, 595, 635, 655 Wilhelm, Wolfgang 30 Wladika, Michael 30 Wohlmuth, Josef 28, 34, 438, 440, 451, 491, 537, 549, 557, 571 f., 582 f., 606, 723, 894, 897 Wyschogrod, Edith 28 Zöller, Günther 31, 80, 91, 96

Leiblichkeit und Gottesbeziehung

A

https://doi.org/10.5771/9783495817551 .

967

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