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German Pages 159 [160] Year 1988
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 44
Norbert Ratz
Der Identitätsroman Eine Strukturanalyse
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ratz, Norbert: Der Identitätsroman : e. Strukturanalyse / Norbert Ratz. Tübingen : Niemeyer, 1988 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 44) Zugl.: Braunschweig, Techn. Univ., Diss., 1986 NE: GT ISBN 3-484-32044-3
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Computer Staiger GmbH, Tübingen 6 Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
1. Der Bildungsroman als Identitätsroman gelesen. Versuch einer strukturellen und historischen Bestimmung 1.1. 1.2. 1.3.
. .
1
Die Begriffsfrage Strukturbestimmung des Identitätsromans Was ist Ich-Identität?
1 8 10
2. Grimmelshausen: Der abentheurliche Simplicissimus Teutsch 2.1. 2.2. 2.3.
18
Befreiung und Unterbindung — zum Doppelcharakter des religiös-barocken Weltbildes Simplicius' Umgang mit der Wirklichkeit Ideologische Ungleichzeitigkeiten und Ich-Identität . . . .
19 22 27
3. Wieland: Geschichte des Agathon (1766/67)
33
3.1. 3.2.
Ich-Identität und normative Gesellschaftstheorie Wielands anthropologisch-aufklärerische Vorstellung von Individualität 3.2.1. Athen. Revision der Wahrnehmung äußerer Realität . . . . 3.2.2. Smyrna. Revision der Wahrnehmung innerer Realität . . . . 3.2.3. Syracus. Die Preisgabe sozialer Identität 3.3. Versuchte Vollendung. Zur gebrochenen Geschlossenheit der Romanstruktur
34 37 39 40 42 44
4. Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman
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4.1. Reisers Verhältnis zur Wirklichkeit 4.1.1. Quietismus und Elternhaus 4.1.2. Einschränkung — Ausdehnung: die melancholische Identitätsbewegung 4.1.3. Befreiungsversuche. Zum Verhältnis von melancholischer Phantasie und Selbstreflexion 4.2. Illusion statt Utopie. Zum fragmentarischen Schluß des »Anton Reiser«
50 50 52 57 59
V
5. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre 5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3. 5.1.4. 5.2.
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Der passive Held Liebe. Aktivierung von Identitätswünschen Bohème. Verstohlene Wunschbefriedigung . . Theater. Kunst als Lebensform Turm. Der rechte Weg, den man nie mehr verläßt »Es können alle Stände daran teilnehmen«. Zu Goethes Sozialutopie
66 67 68 73 76 79
6. Jean Paul: Flegeljahre. Eine Biographie 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5.
Soziale Identität Persönliche Identität Entgrenzung. Alles ist Ferne, jede Nähe Begrenzung. Das Verstummen vor dem Wirklichen Zum fragmentarischen Charakter der »Flegeljahre«
82
. . . .
7. Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6.
Das Verschweigen des Ichs Reflexionsverbot Mythos, Natur, Identität Tradition und ritualisierter gesellschaftlicher Verkehr . . . . Die Ästhetisierung des Individuums und der Lebenswelt . . »Alles ist so schön, daß es fast zu schön ist«. Das Beunruhigende des Stifterschen Romankonzepts . . . .
8. Thomas Mann: Der Zauberberg 8.1. 8.2. 8.3. 8.4.
Regression Lebenswendepunkt Zeitverwirrung und schwindlige Identitäten Lebensmystik. Menschlichkeit als »falsches« Bewußtsein . .
85 86 88 90 93 95 100 105 110 114 116 118 122 124 127 129 136
9. Zusammenfassung und Ausblick
141
Literatur
147
VI
1. Der Bildungsroman als Identitätsroman gelesen. Versuch einer strukturellen und historischen Bestimmung »Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.« Kafka, Der Prozeß
1.1. Die Begriffsfrage Was ist das Gemeinsame so verschiedener Romane wie »Simplicissimus«, »Agathon«, »Anton Reiser«, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, »Flegeljahre«, »Nachsommer« und »Zauberberg«? In dem einen Roman wird christliches Ordnungswissen individualisiert, in einem anderen geht es um die philosophisch-aufklärerische Bestimmung der menschlichen Lebensform; weitere Ideengehalte sind: soziale Ursachen psychischer Deformationen (Melancholie); neuhumanistische Vorstellung der Bildung als einer organischen, gesicherten Entwicklung; Kritik empfindsam-illusionärer Welthaltung und gleichzeitiges Bestehen auf unumschränkter Subjektivität; mythisch-zwanghafte Aufrechterhaltung einer humanistisch-bürgerlichen Lebensform; eine umfassende, »moderne« Zeitverwirrung und Lebensmüdigkeit. Die Fülle der verschiedensten Problemgehalte macht wohl eines deutlich: Das Gemeinsame dieser Romane bzw. ihr Gattungstyp kann schwerlich vor allem im Gehaltlichen gesucht werden. Dieser Annahme steht die Uberzeugung gegenüber, der Bildungsroman sei »von Voraussetzungen bestimmt, die primär im Stofflichen, Thematischen, im Weltanschaulichen und in seiner Wirkungsabsicht und -funktion«1 lägen. Er sei »keine spezifische >literarische< Art mit einer nur ihm gehörigen formalen Strukturgesetzlichkeit.«2 Gerade dies aber ist die These der folgenden Untersuchung. Das Gemeinsame der genannten Romane muß m. E. vor allem in ihrer Erzählstruktur gesucht werden, die ich später als Identitätsbewegung zu bestimmen versuchen werde. Zuvor aber sollen die Begriffe »Bildungs-« und »Entwicklungsroman« in konstruktiver Absicht destruiert werden, weil sie es sind, die einer immer noch ausstehenden Strukturbe-
1
2
Fritz Martini: Der Bildungsroman. Zur Geschichte des Wortes und der Theorie. In: DVjS 1961. H. 1. S. 62. Ebd., S. 62.
1
Stimmung der »traditionell« mit ihnen bezeichneten Romane im Wege sind. Besitzt man mit dem etablierten Begriff des Bildungsromans ein heuristisches, erklärungskräftiges Instrument, überhaupt einen systematischen, definierten Zusammenhang invarianter Merkmale, ein Modell, das sich mit konkreten literarischen Gebilden vergleichen ließe? Ist seine Bedeutung, die Begriffsexplikation eindeutig, und ist seine
Suhsumierungs-
kapazität nützlich, d. h. nicht zu groß und nicht zu klein? Beides ist für den Begriff des Bildungsromans zu verneinen, denn er ist weder eindeutig zu definieren noch auf eine Weise einzugrenzen, daß nicht fast jeder Roman mit ihm benannt werden könnte. Was bedeutet »Bildung« gegenwärtig? Nicht nur in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen wird »Bildung« vage und metaphorisch-verlegen umschrieben. Schlägt man ein wichtiges »Handbuch pädagogischer Grundbegriffe« auf, so ist zu lesen: Uber den Bildungsbegriff in der Gegenwartspädagogik ist eine einheitliche Aussage unmöglich. Es stehen drei Auffassungen gegeneinander: Nach der ersten ist es unmöglich, Bildung überhaupt noch als einen Begriff der pädagogischen Fachsprache zu verwenden; in der anderen fungiert Bildung als jener Begriff, der für alles und jedes in Anspruch genommen wird; in der dritten erfolgt eine sinnvolle Präzisierung des Bildungsbegriffs. 3
Eine Präzisierung wird in dieser Arbeit (Kap. 1.2.) mit ausschließlich sozialpsychologischen Kategorien versucht. Dabei fallen metaphysische, lebensphilosophische, anthropologische, organologische und reifungstheoretische Bedeutungsdimensionen des Bildungsbegriffs weitgehend aus seiner Explikation heraus. Zweifellos verliert damit der Bildungsbegriff soviel an »Tradition« und Komplexität, daß von ihm eigentlich keine Rede mehr sein kann. Deshalb werden die Romane des anfangs vorgestellten (repräsentativen) Korpus nicht als »Bildungs-«, sondern als »Identitätsromane« gelesen. Dabei wird nicht übersehen, daß der Begriff »Bildungsroman« historisch dit praktische Leistung erbracht hat, ein mehr oder weniger bestimmtes Romankorpus zu benennen, zusammenzuhalten und der Forschung verfügbar zu machen; seine analytische Schwäche ist aber so offensichdich, daß mir ein neuer Begriff nötig erscheint. Die Einwände gegen den Bildungsromanbegriff sind nicht erst von der neueren Forschung vorgebracht worden. Dennoch sieht sich der Bildungs- bzw. Entwicklungs- bzw. Erziehungsromanforscher nach wie vor 3
Josef Speck und Gerhard Wehle (Hrsg.): Handbuch pädagogischer Grundbegriffe. Bd. I. München 1970. S. 156.
2
in der 1968 von Lothar Köhn konstatierten »merkwürdigen, doch nicht ungewöhnlichen Lage, daß er es mit Begriffen zu tun hat, deren Brauchbarkeit einerseits verneint wird, während sie andererseits nahezu unbesehen Verwendung finden«. 4 Ich möchte aus einer neueren Diskussion über den Bildungsroman zitieren, in der ein Unbehagen an diesem Begriff nicht lediglich ratlos zum Ausdruck kommt (wobei er schlechten Gewissens weiterhin benutzt würde), sondern in der eine sinnvolle Ersetzung des Begriffs erörtert wird. Es handelt sich um jene Diskussion, die sich während eines germanistischen Symposions an einen Vortrag Hartmut Steineckes — »>Wilhelm Meister< und die Folgen. Goethes Roman und die Entwicklung der Gattung im 19. Jahrhundert« 5 — angeschlossen hat. Dort wird Steinecke gefragt, ob er seinen Begriff »Individuairoman« an Stelle des Begriffs »Bildungsroman« wirklich für sinnvoll halte. Steinecke: Der Begriff »Bildungsroman« hat seine historische Berechtigung, er charakterisiert aber nicht das Phänomen, sondern mehr dessen Interpretation. Der Begriff »Individuairoman« erfaßt eine Reihe von Phänomenen, die jetzt mit schlechtem Gewissen unter dem Begriff »Entwicklungs-« oder »Bildungsroman« zusammengefaßt werden, aber er geht zugleich darüber hinaus.6
Es wird eingewendet, daß schon Rosenkranz nicht ohne Berechtigung den Begriff »Sozialroman« auf »Wilhelm Meister« angewandt habe. »Vaget: Ich schlage den Begriff >Sozialisationsroman< vor, der beide Pole deckt.« 7 Ganz gleich, ob »Individuairoman«, »Sozialroman«, »Sozialisationsroman« oder »symbolischer Roman« (Schings) — wichtig scheint mir an der Debatte zu sein, daß »Bildungsroman« eigentlich nur einen einzigen Roman zu bezeichnen in der Lage ist: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. 8 Nur hier findet »Bildung«, organisch-totale Anlagenentfaltung, individuelles 4
5
6 7 8
Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman. Ein Forschungsbericht. In: DVjS 1968. 42. Jg. H. 3 und 4. S. 430. Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposion. Tübingen 1984. Ebd., S. 112. Ebd., S. 112. Eben weil Bildung wohl nur inhaltlich-konkret, nicht strukturell zu bestimmen ist. Von dem Bildungsroman schlechthin zu sprechen, beruht auf einem Mißverständnis. Dies meint wohl Steinecke, wenn er ausführt: Der »Wilhelm Meister« sei »ein Sonderfall, gerade vom Ende her, wie Herr Schings sagt. Seine Nachfolge konnte keine inhaltliche, vom Lösungsmuster her bestimmte sein. Es gibt kaum einen anderen Fall gelungener >Bildung< oder einer >Heilung< in der Geschichte dieses Romantypus. Er konnte Vorbild werden, weil in ihm verschiedene Rezeptionsangebote sehr nahe beieinander liegen. « Ebd., S. 113.
3
Telos in einer Gesellschaft, die auf den Helden hin konzipiert ist, statt. Steineckes Begriff »Individuairoman« bezeichnet ziemlich genau, was ich mit dem Begriff »Identitätsroman« bestimmen möchte. Leider hat er den Begriff nicht weiter expliziert und einer Strukturbestimmung unterworfen. Für eine strukturelle Bestimmung der Romanart, die gemeinhin »Bildungsroman« genannt wird, scheint sich der Begriff »Entwicklungsroman« anzubieten. Lothar Köhn versucht die beiden umstrittenen Begriffe gegeneinander abzugrenzen, indem er dem Vorschlag Melitta Gerhards folgt, demzufolge der Begriff Entwicklungsroman schlechthin solche Romane meint, in denen es um die Entwicklung — in der »neutralsten« Bedeutung dieses Wortes — eines, strukturell gesprochen, zentralen Helden geht. Auf diese Weise würden sich die beiden Begriffe zwei Kategorien-Systemen zuordnen: »Bildungsroman« benennt eine historische Gattung oder Dichtungsart, »Entwicklungsroman« dagegen einen quasi-ûberhistorischen Aufbautypus.'
Abgesehen von der unzureichenden Begriffsexplikation (»zentraler Held«) ist mit dem Begriff der Entwicklung gegenüber dem der Bildung m. E. nichts gewonnen. Es gibt kein Entwicklungskonzept in einer »neutralsten« Bedeutung. »Entwicklung« ist philosophisch und anthropologisch (Leibniz, C. F. Wolff, Goethe) nicht weniger besetzt als »Bildung«. Uberhaupt ist eine exakte begriffliche Abgrenzung beider Wörter m. E. nicht möglich, weil beide ideengeschichtlich aus der selben Quelle gespeist werden. Auch die Vorstellungen, die spätestens seit Wilhelm Dilthey 10 den »Bildungsroman« definieren, gelten ebensogut für den »Entwicklungsroman«. Noch der neutralste Begriff von Entwicklung verrät allein durch die sprachliche Gestalt seine Grundlagen. Diese beziehen sich weniger auf soziale und psychische Zusammenhänge (die werden in Interpretationen meist nur monoton und unausgeführt als »Konflikt zwischen Individuum und Welt« angedeutet) als auf die Vorstellung mehr oder weni9 10
Lothar Köhn: Entwicklungs- und Bildungsroman, S. 435. Vgl. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Göttingen 1970 (1. Aufl. 1905). S. 273: »Aber von allen älteren biographischen Dichtungen unterscheidet sich doch der Bildungsroman dadurch, daß er bewußt und kunstvoll das allgemein Menschliche an einem Lebensverlaufe darstellt. [ . . . ] Eine gesetzmäßige Entwicklung wird im Leben des Individuums angeschaut, jede ihrer Stufen hat einen Eigenwert und ist zugleich Grundlage einer höheren Stufe. Die Dissonanzen und Konflikte des Lebens erscheinen als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und Harmonie.«
4
ger passiven Reifens, der Entfaltung eines inneren, substantiellen »Wesens« (Entelechie). Dafür ein (einflußreiches) Beispiel für viele: Ais Entwicklungsroman werden hier alle die erzählenden Werke verstanden, die das Problem der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der jeweils geltenden Welt, seines allmählichen Reifens und Hineinwachsens in die Welt zum Gegenstand haben, wie immer Voraussetzungen und Ziel dieses Weges beschaffen sein mag.11 Dies ist keine brauchbare Definition, denn
»Auseinandersetzung«,
»Welt« und »Hineinwachsen« sind keine eindeutigen und erklärungskräftigen Merkmale. Sie ist blind für die moralisch-normative, kritische und utopische Qualität der sozialen und psychischen Arbeit an einer Ich-Identität, 12 wie sie im »Entwicklungsroman« dargestellt wird. Ich kenne keinen einzigen »Entwicklungsroman« von Rang, dessen Struktur und Gehalt durch das Hineinwachsen eines Individuums in die »jeweils geltende Welt« charakterisiert werden könnte. Gerade nicht! An Melitta Gerhards scheinbar voraussetzungslos-exakter
Definition wird deutlich,
wie
schwer es ist, das Entwicklungskonzept ohne dessen organologische Voraussetzungen für eine Gattungsbestimmung zu übernehmen. Auch neuere Begriffsbestimmungen bringen keine größere Klarheit und keine konzeptionelle Idee. Natürlich kann ich nur einige wenige Beispiele geben, doch ich halte sie in der Diskussion um den Entwicklungsroman für typisch und stellvertretend. Opinio communis ist seit langem die Problematik und strukturtheoretische (Be-)Dürftigkeit der Begriffe »Bildungs-« und »Entwicklungsroman« sowie die Notwendigkeit, »die ästhetische Gesetzmäßigkeit und poetologische Relevanz dieser bislang unzureichend bestimmten Romanart zu erhellen«. 13 Die Einlösung der immer noch ausstehenden Strukturbestimmung des Entwicklungsromans unterbleibt aber meist oder wird mit allzu vagen und selbst wieder erklärungs-
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12
13
Melitta Gerhard: Der deutsche Entwicklungsroman bis zu Goethes »Wilhelm Meister«. Halle a. d. S„ 1926. S. 1. Dieser von Erik H. Erikson eingeführte Begriff meint das Ich-Gefühl, von dem persönliche und soziale Identität nicht mehr diffus und widersprüchlich erfahren werden, sondern als Möglichkeit, einen Lebensentwurf durch Balancearbeit (Identitätsarbeit) zu realisieren. »Persönliche Identität« bezeichnet dabei die vertikal-geschichtliche Dimension der als Kontinuität erfahrenen Lebensgeschichte, »soziale Identität« die horizontal-gleichzeitige Dimension verschiedener sozialer Rollen, Regeln und Erwartungen. Monika Schräder: Mimesis und Poiesis. Poetologische Studien zum Bildungsroman. Berlin/New York 1975. S. 1. 5
bedürftigen Ausführungen versucht. So auch in einer neueren Arbeit, die folgende Strukturbestimmung vorschlägt: Als dominante Relationen erweisen sich im Entwicklungsroman die zentrale Stellung des Helden, die Beziehung zwischen Held und Handlung sowie zwischen Held und Sinngefüge. Die Beschreibung des Romans als Beziehungsgefüge ermöglicht der Interpretation so, statt einzelner Elemente die gattungsprägenden Relationen zu analysieren. Auf diese Weise wird etwa die Frage nach dem Charakter des Helden und dem Gehalt des Bildungsganges ersetzt durch die Frage nach der strukturellen Position des Helden und dem Aufbau des Bildungsweges.14 Leider bleibt dies zu sehr ins Allgemeine gesprochen. W o das zentrale Strukturelement, die Position des Helden, erläutert wird, bleibt es bei der »traditionellen« organologischen Bestimmung: Der Held im Entwicklungsroman ist durchgängig konzipiert als individuelle Existenz im Sinne einer organisch einheitlichen Persönlichkeit. [ . . . ] Er ist nicht auf wenige ausgeprägte Züge und stereotype Verhaltensweisen festgelegt, ist kein Typus, vielmehr sind seine Fähigkeiten keimhaft in ihm angelegt und bilden sich erst allmählich deutlicher heraus.15 Es spricht für sich, daß noch einer Untersuchung des Entwicklungsromans vom Jahre 1983 die bereits zitierte Definition Melitta Gerhards (vgl. S. 5) für eine »Kurzcharakteristik« 16 dieser Romanart ausreicht. Auch einer anderen neueren Arbeit über »Textstrukturen des Entwicklungs- und Bildungsromans«, 17 in der ein »Absetzen von der traditionellen Bildungsroman-Forschung« sowie »die Konstruktion eines neuen, qualitativ anderen« 18 Ansatzes angekündigt wird, bleibt die Begriffsfrage unter Berufung auf Lothar Köhns Forschungsbericht vollkommen unproblematisch. Die Strukturbestimmung besteht aus wenigen allzu unspezifischen Aussagen, deren wichtigste vielleicht die folgende ist: Die eigentliche Funktion der Geschichte besteht darin, zwischen den drei dargelegten Zuständen — Ausgangssituation — Identitätskrise — Endzustand —
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15 16 17
18
Helga Esselborn-Krumbiegel: Der »Held« im Roman. Formen des deutschen Entwicklungsromans im frühen 20. Jahrhundert. Darmstadt 1983. S. 187. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 14. Herbert Tiefenbacher: Textstrukturen des Entwicklungs- und Bildungsromans. Zur Handlungs- und Erzählstruktur ausgewählter Romane zwischen Naturalismus und Erstem Weltkrieg. Königstein/Ts. 1982. Ebd., S. 9.
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zu vermitteln und zu erklären, warum die Veränderungen eingetreten und welche Ereignisse und menschlichen Handlungen dafür verantwortlich sind.19 Leider setzt sich diese Strukturbestimmung nicht genügend von überkommenen Vorstellungen ab — von »Konflikt zwischen Innen und Außen«, 20 »Innere(m), das für seine Individualität und seinen Charakter bestimmend« 21 sei und dergleichen ist die Rede — und führt deshalb zu keinem neuen (systematischeren) Textzugriff. In vielen Untersuchungen wird zu Recht die Nützlichkeit sozialpsychologischer Konzepte für die Romanforschung hervorgehoben. Meist bleibt es aber beim eher andeutenden Bezug auf die verschiedensten Theoriestränge, wie etwa in Wolf gang Düsings gelehrter Studie: »Erinnerung und Identität«. 22 Der vom Verfasser intendierte »Zusammenhang von Erinnerungsdarstellung und Identitätsproblematik« 23 wird nicht in dem Sinne hergestellt, daß er methodologisch reflektiert und methodisch fruchtbar gemacht würde. Identitätspsychologische, -philosophische und -soziologische Kategorien sind nie auf ein- und dieselbe Weise erkenntnisleitend. Es fehlt nicht nur eine literaturwissenschaftlich adaptierte, d. h. reduzierte Identitätstheorie (wie lassen sich strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Identitätsarbeit und Erzählweise darstellen?), auch das genau beschriebene und eingeführte begriffliche Instrumentarium wird oft recht fragwürdig verwendet. Beispielsweise einen »Gegensatz von sozialer Identität und Ich-Identität« 24 zu konstruieren, ergibt keinen Sinn, weil »soziale Identität« ein Bestandteil gelungener »Ich-Identität« ist. Auch diese Studie bleibt hinter ihrem schon mit dem Titel gesetzten Anspruch zurück, indem sie überholte Vorstellungen weiter tradiert. So sei etwa »Berlin Alexanderplatz« kein Bildungsroman, weil es »kein Reifen nach einem eingeborenen Gesetz« 25 gebe. Im folgenden soll nun eine Strukturbestimmung des Identitätsromans versucht werden, die nicht auf organologische Vorstellungen und vertraute Umschreibungen des Entwicklungsproblems zurückgreift. Struk-
19 20 21 22
23 24 25
Ebd., S. 127. Ebd., S. 145. Ebd., S. 147. Wolfgang Düsing: Erinnerung und Identität. Untersuchungen zu einem Erzählproblem bei Musil, Döblin und Doderer, München 1982. Ebd., S. 89. Ebd., S. 35. Ebd., S. 134. 7
turbestimmung soll heißen: Es wird eine erzählerisch auf ein- und dieselbe Weise geordnete Wiederholung
untereinander abhängiger inhaltlicher,
psychischer und geschehensbezogener Elemente behauptet. Strukturalistisch gesprochen handelt es sich dabei um eine evolutive Wiederholung.
1.2. Strukturbestimmung des Identitätsromans Eine Strukturbestimmung des Romantyps, der traditionell als Bildungsund Entwicklungsroman bezeichnet wird, steht bis heute aus. Jedenfalls dann, wenn man von einer Strukturbestimmung analysekräftige Kategorien und die Fähigkeit zur systematischen Zuordnung von Gemeinsamkeiten und Abweichungen erwartet. Die oft genannten Strukturmerkmale wie »zentraler Held«, »einflußstarke Nebenfiguren«, »Konflikt zwischen Welt und Ich«, »philosophisch-exemplarische Orientierung« oder »final orientiertes Erzählen« erfüllen diese Voraussetzungen m. E. nicht; sie sind zu unspezifisch und erklärungsschwach, zudem bezeichnen sie immer nur Einzelaspekte, die allein noch keinen bestimmten Gattungstyp definieren können. Eine Strukturbestimmung mit den geforderten Fähigkeiten (Analysekraft, die Möglichkeit systematischer Zuordnung textueller Ubereinstimmungen bzw. Abweichungen, prägnante Begriffsexplikation statt metaphorischer Umschreibung, brauchbare Subsumierungskapazität) wird im folgenden in Anlehnung an identitätstheoretische Vorstellungen versucht. Zwischen der realen, außerliterarischen selbstreflexiven Identitätsarbeit während eines bestimmten Lebensstadiums (Adoleszenz) und der Erzählstruktur des Identitätsromans wird ein modellhafter Zusammenhang hergestellt, den ich Identitätsbewegung
nenne. Es handelt sich hierbei um die
invariante Abfolge von: Identitätsverwirrung — Selbstreflexion — Synthetisierung lebensgeschichtlicher sowie aktueller psychischer und sozialer Realitäten. Zwischen der vorgestellten Identitätsbewegung und der narrativen Abfolge und Verknüpfung von Handlungselementen im Identitätsroman besteht eine strukturelle Ubereinstimmung. Deshalb nenne ich die Identitätsbewegung auch eine Erzählbewegung und ein Erzählmodell. Dessen drei Stufen möchte ich mit Erikson vorläufig und in aller Kürze beschreiben. Identitätsverwirrung
meint nicht irgendeine, sondern eine »dem Al-
ter der Adoleszenz und des jungen Erwachsenen« zuzuordnende morali8
sehe, oder wie Erikson sagt, »normative >Identitätskrisegetrageneigentlichen< Welt.« 12 Diese Einschätzung bringt Grimmelshausens Roman mit dem jenseitsorientierten und von der Vanitas-Idee geprägten barocken Weltbild in deckungsgleiche Ubereinstimmung. Alewyn gehört mit seiner Deutung zu jenen Forschern, die den Gehalt des »Simplicissimus« widerspruchslos-einsinnig als literarischen Ausdruck barocker Weltauffassung verstehen. Der Versuch jedoch, einen komplexen Roman aus einer Zeit, in der sich mittelalterliche und neuzeitliche Denkströmungen überlagern, einlinig zu interpretieren und auf eine eindeutige Aussage festzulegen, muß schon deswegen scheitern, weil sich Grimmelshausen durch das Neben- und Gegeneinander verschiedener Deutungsmöglichkeiten einfachen Lösungen verschließt [...]. Gerade diese W i dersprüche charakterisieren die Stellung des Romans in einer Epoche, die sich von mittelalterlichen Konzepten zu lösen beginnt, gerade hier dringt »Realität« in den Roman ein. 13 11
12 13
Richard A l e w y n : Realismus und Naturalismus. In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hrsg. v. R. Alewyn. 4. Aufl. Köln / Berlin 1970. S. 368. Ebd., S. 368. Volker Meid: Grimmelshausen. Epoche — Werk - Wirkung. München 1984. S. 122.
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Und zwar eine Realität, die um ihrer selbst willen gelebt wird, und in der schon die »bürgerlichen Wertvorstellungen von Redlichkeit, Leistung, Bewährung und Tüchtigkeit«14 aufscheinen. Simplicius steht der (sozialen und natürlichen) Welt nicht im Sinne einer der Vanitas-Idee korrespondierenden christlich-stoischen Constantia-Haltung gegenüber, sondern handelt und entwirft sich in ihr. Selbst das phantastische Mummelsee-Abenteuer gehört in den Zusammenhang neuzeitlichen Umgangs mit der Wirklichkeit. Noch in solchen scheinbar nebensächlichen Einzelheiten des Romans zeigt sich die Emanzipation des modernen, neuzeitlichen Menschen durch Wissensbegierde und Selbstbehauptung vom überlieferten ordo des geoffenbarten Naturbuchs, und zwar des modernen Menschen, den die Grimmelshausen-Forschung sich inzwischen endgültig aus dem Werk zu vertreiben, angeschickt hat. 15
Welt und Gott sind durchaus keine Wirklichkeitsbereiche, die von Simplicius prinzipiell nur als einander ausschließende Gegensätze gedacht werden könnten. So läßt sich Simplicius etwa einen Paß für die Reise zu seinem Regiment ausstellen, obwohl er mit Herzbruder eine Wallfahrt unternehmen will. Diese Vorsichtsmaßnahme, die beide vor dem Schicksal aufgegriffener Deserteure schützt, wird von Herzbruder als Gottesverleugnung mißbilligt. Simplicius hingegen rechtfertigt sein Handeln mit dem Argument, »man müßte Gott nicht versuchen / sondern sich in die Zeit schicken / [ . . . ] zumalen auch der H. Apostel Paulus / dem wir noch bey weitem nicht zu vergleichen / sich wunderbarlich in die Zeit und Gebräuch dieser Welt geschickt«. (ST, 375) Simplicius ist ein undogmatischer, die Lehre auf seine Lebenspraxis beziehender Christ, der »weder Petrisch noch Paulisch«, sondern »simpliciter« glaubt. Trotzdem mißlingt ihm jeder Versuch, persönliche (vom christlichen Ich-Ideal dominierte) und soziale Identität auszubalancieren, sich in die vom Kriegsgeschehen sozial verwüstete Welt zu »schicken«. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist nicht mehr identitätsfähig, weil sie keine christlich-praktische Lebensform zuläßt. Auf die Erfahrung des Scheiterns reagiert der Ich-Erzähler auf zweierlei Weise. Einmal läßt er sich die Unmöglichkeit, in dieser Welt sein Ich-
M
15
Wolfram Mauser: Grimmelshausen und der Oberrhein. In: Die Ortenau 1973. Bd. 53. S. 70. Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers. Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens, Schnabels. Stuttgart 1978. S. 71.
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Ideal zu realisieren und Identität zu erreichen, von der barocken Jenseitsideologie bestätigen (und zieht sich immer wieder in gesellschaftsfreie Orte zurück). Dadurch wird sein Scheitern »rationalisiert« und als sinnhaftes Geschehen erfahrbar. Die Inanspruchnahme des barocken Weltbildes in krisenhaften Situationen wirkt auch entlastend, weil die Anstrengung balancierender Identitätsarbeit guten Gewissens — aufgegeben werden kann. Vielleicht ist der Anteil dieses metaphysisch gesicherten Sinnes und Trostes an Simplicius' scheiternder Ich-Identität größer als der des Krieges und der realen gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine zweite Art der Bewältigung scheiternder Identität durchbricht dagegen das barocke Weltbild. Sie nimmt kritisch Bezug auf die »falsche« soziale Realität und entwirft gegen sie die »richtige« Gesellschaftsordnung und das gelungene Dasein als Möglichkeit in der Welt. Die Rede ist von den drei utopischen Entwürfen im dritten und fünften Buch: dem Mummelsee-Abenteuer, vor allem aber der Jupiter- und der Wiedertäufer-Episode. Hier kommt ein bürgerlicher Optimismus zum Ausdruck, dem die Jenseitsgewißheit fragwürdig zu werden beginnt. Trotz Situationskomik und ironischer Kommentierung durch Simplicius, worin m. E. Grimmelshausens ideologische Verunsicherung und Unentschiedenheit zum Ausdruck kommt, liegen der von Jupiter-Narr vorgebrachten Sozialutopie vom »teutschen Helden« durchaus keine närrischen, sondern »hochvernünftige« (ST, 216) und ernstzunehmende gesellschaftstheoretische Überlegungen zugrunde: Nachdem mein Held den U n i v e r s a l - F r i e d e n der gantzen Welt verschafft / wird er die Geist- und Weltliche Vorsteher und Häupter der Christlichen Völcker und unterschiedlichen Kirchen mit einer sehr beweglichen S e r m o n anreden / und ihnen die bißherige hochschädliche Spaltungen in den Glaubens-sachen trefflich zu Gemüth führen / sie auch durch hochvernünfftige Gründe und unwidertreibliche A r g u m e n t a dahin bringen / daß sie von sich selbst eine allgemeine Vereinigung wünschen [ . . . ] . (ST, 215f.)
Weiterhin ist die Rede von der Gründung einer Hauptstadt, der Einrichtung eines Parlaments und sozialer Gleichheit. Zwar wird diese politisch fortschrittliche, vernünftig-diskursiv begründete Gesellschaftstheorie angesichts konkreter Gewaltverhältnisse ironisiert, doch für eine Zeit behauptet, in der diese Verhältnisse beseitigt sein werden. Lebensgeschichtlich-konkret wird der Gegenentwurf zur bestehenden sozialen, aber auch weltanschaulichen Realität in Simplicius' Erinnerung. In Ungarn hat er die christlich-praktische Lebensweise wiedertäuferischer Gemeinden beobachtet, deren frommes, vor allem aber geordnetes Leben ihm gefallen hat. 24
Die streng durchorganisierte Gemeinde liefert ein Modell weltlicher Lebensordnung, demgegenüber die von Simplicius immer wieder in Anspruch genommene barocke »Ordnungskompetenz« als Sinnersatz angesichts einer nicht identitätsfähigen sozialen Realität erscheint: Ein solch seeliges Leben / wie diese Widertäufferische Ketzer führen / hätte ich gerne auch auffgebracht / [ . . . ] Ich gedachte / köntestu ein solches ehrbares Christliches Thun auffbringen unter dem Schutz deiner Obrigkeit / so wärest du ein anderer D o m i n i c u s oder F r a n c i s c u s [ . . . ] . (ST, 442)
Die Identität des Einzelnen wird in ihrer Abhängigkeit von der sozialen Realität gesehen, die Bedingungen ihres Scheiterns werden kritisiert: nicht nur reflexiv oder mit utopischen Gegenentwürfen, sondern vor allem durch eine entlarvende satirische Erzählhaltung. Grimmelshausens Satire steht ein für Gerechtigkeit und Humanisierung des gesellschaftlichen Lebens, für Gleichheit der Menschen im Namen des Naturrechts und im Namen der »humilitas« Christi gegen entwürdigende Zurichtungen seiner Natur."
Simplicius' Ich-Identität scheitert an der Unmöglichkeit, sich dem eigenen christlichen Ich-Ideal gemäß in die Gesellschaft zu integrieren. Der »falschen« sozialen Wirklichkeit wird aber die weltentsagende, auf das Jenseits orientierte Einsiedelei nicht einfach gegenübergestellt. Auch hierin zeigt sich »Grimmelshausens Kritik an der Ideologie seiner Zeit«, wie Italo Michele Battafarano einen Aufsatz überschrieben hat, in dem er Grimmelshausens »Ungleichzeitigkeit« hervorhebt: Für unzeitgemäß hält Grimmelshausen nicht nur Hexerei und Dämonologie, sondern auch Weltentsagung und asketische Praktiken. Seine Skepsis ihnen gegenüber bringt er im »Simplicissimus« zum Ausdruck, indem er dem Leser — zu dessen Lust und Nutzen — Pilger, Asketen und Einsiedler als hoffnungslos weit- und lebensfremde Gestalten präsentiert. 17
Selbst das idyllische, gänzlich unasketische Inseldasein, für das sich Simplicius zuletzt entscheidet, wird von ihm auch als Exil verstanden, aus dem er eines Tages in eine identitätsfähige, christlich-humane Gesellschaft zurückzukehren hofft. Der Wunsch nach einer dialogischen Lebensform und damit sozialer Identität wird bis zum Schluß nicht aufgegeben. Der 14 17
Peter Triefenbach: Der Lebenslauf des Simplicius Simplicissimus. Figur — Initiation - Satire. Stuttgart 1979. S. 24. Italo Michele Battafarano: Grimmelshausens Kritik an der Ideologie seiner Zeit. Ungleichzeitigkeit und Alltagsdenken in »Simplicissimus« und »Courasche«. In: Daphnis 1976. Bd. 5. H. 2 - 4 . S. 299. 25
»Schiff-Capitain Cornelissen« berichtet in seiner »Relation«, Simplicius »erfreue sich dermal eins daß er den Menschen: vornemblich aber Christen: und sonderlich seinen Landsleuten einmal dienen könte«. (ST, 583) N u r die realen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten, nicht ein prinzipieller Zweifel an einer sinnvollen, d. h. gottgefälligen sozialen Lebensform, veranlassen Simplicius aber, das Angebot des Kapitäns auszuschlagen, ihn nach Europa zurückzubringen: [ . . . ] mein GOtt, was wolt ihr mich zeichen / hier ist Fried / dort ist Krieg; hier weiß ich nichts von Hoffart / vom Geitz / vom Zorn / vom Neyd / vom Eyfer / von Falschheit / von Betrug / von allerhand Sorgen beydes umb Nahrung und Klaydung noch umb Ehr und R e p u t a t i o n ; [ . . . ] als ich noch in E u r o p a lebte / war alles (ach Jammer! da£ ich solches von Christen zeugen soll) mit Krieg / Brandt / Mord / Raub / Plünderung / Frauen und Jungfrauen schänden etc. erfüllt. (ST, 584) Angesichts der Ubermacht kriegsbestimmter sozialer Verhältnisse, in denen Simplicius keine Rolle übernehmen kann, ohne seine persönliche (»fromme«) Identität zu verleugnen, muß Ich-Identität scheitern. Persönliche Identität ist unter solchen Bedingungen total, d. h. bis zur physischen Vernichtung gefährdet. Sie kann nur noch durch Rückgriff auf barocke »Ordnungskompetenz« aufrecht erhalten werden: ein gottgefälliges Dasein ist nur als einsames möglich. Die einsame Lebensform kann nur vermittels des christlich-barocken Weltbildes als sinnvoll erfahren werden, deshalb greift Simplicius darauf zurück. Einen von unmenschlichen sozialen Handlungszwängen und Sanktionen freien Raum hat sich Simplicius auch innerhalb der Gesellschaft, nämlich als Narr, zu schaffen gewußt. Das närrische hat genau wie das einsame Außenseiterdasein die psychische Funktion, persönliche Identität zu retten. Simplicius spielt die Rolle des Kalbes darumb / damit ich die jenige auch genug nárrete / die mich zum Narren zu haben vermeynten: Und machte diesen vesten Schluß / daß der grundgütige GOtt einem jeden Menschen in seinem Stand / zu welchem er ihn beruffen / so viel Witz gebe und verleyhe / als er zu seiner selbst-Erhaltung vonnöthen. (ST, 113) Auch das Inseldasein ist in diesem Sinne zu verstehen; es ist zur »selbstErhaltung vonnöthen«. Simplicius' Umgang mit der Wirklichkeit ist jetzt aber unterschieden von dem in der Einöde zu Beginn des Romans. Das »harte Eremitisch Leben« (ST, 34) ist zu einem Dasein »höchster Vergnügung« (ST, 578) geworden, dem es an nichts mangelt — außer an mensch-
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licher Gesellschaft: Simplicius »wünschte offt daß ehrliche Christen Menschen bey mir waren«. (ST, 566) Melitta Gerhard ist zuzustimmen, wenn sie bemerkt: »Nicht Asketentum ist der Sinn von Simplicius' Einsamkeit; an Rousseausche Gedanken fast gemahnt die Verherrlichung seines schlichten, frohen Inseldaseins.«18 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß schon im 18. Jahrhundert eine Verwandtschaft zwischen dem Simplicius der »Continuatio« und dem bürgerlichen Robinson Crusoe gesehen wurde.19 Grimmelshausen entwirft am Schluß des Romans eine gelungene Lebensform angesichts einer nicht identitätsfähigen Gesellschaft. Dabei greift er zwar auf die sinnstiftende Kraft des christlich-barocken Weltbildes zurück — demzufolge das geglückte Leben im Jenseits zu erwarten ist, in dieser Welt kann nur daraufhin gelebt werden —, interpretiert es aber in wesentlichen Bestandteilen um. An die Stelle des Vanitasglaubens tritt die Einsicht in die Sinnhaftigkeit tätigen Lebens und einer dialogisch-sozialen Daseinsform, die nicht prinzipiell, sondern durch die besonderen Verhältnisse verhindert wird. An die Stelle strenger Askese treten Lebensgenuß und Diesseitsbezogenheit. Simplicius erreicht am Ende eine autonome Lebensform, die seine christlich fundierte und im Laufe seiner Lebensgeschichte modifizierte persönliche Identität sichert — Ich-Identität erreicht er freilich nicht. Sie bleibt utopisch (vgl. Wiedertäufer-Episode) oder als Hoffnung aufgehoben, »dermal eins« in friedliche, identitätsfähige soziale Verhältnisse zurückzukehren. In der Geschlossenheit der Romanstruktur kommt nur das Bedürfnis nach Sinn und Ordnung zum Ausdruck, nicht aber das ans Ziel gekommene menschliche, nämlich soziale Leben.
2.3. Ideologische Ungleichzeitigkeiten und Ich-Identität In jedem historischen Zeitpunkt sind mehr oder weniger unterschiedliche Erklärungsmuster (Ideologien) angesammelt, die der Einzelne benutzt, um sich im Zusammenhang sozialer oder kosmischer Realität zu verstehen und seinen Platz zu bestimmen. In Epochen des Umbruchs ist dies immer problematisch, weil ideologische Ungleichzeitigkeiten als Nicht-mehr Melitta Gerhard: Der deutsche Entwicklungsroman, S. 76. " Vgl. Wilhelm Kühlmann: Simplicissimus als deutscher Robinson — Lektüre Grimmelshausen bei A. G . Kästner. In: G R M 1975. Bd. 25 S. 9 2 - 9 3 . 18
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und Noch-nicht gleichzeitig Gültigkeit beanspruchen.20 Auch in Simplicius' Erleben innerer und äußerer Realität manifestiert sich die Gleichzeitigkeit christlich-barocken Ordnungswissens und frühbürgerlicher Diesseits- und Selbstbezogenheit. Der barocke ordo, in dem jede Erfahrung ihren bestimmten Platz hat, wird in Anspruch genommen und gleichzeitig durchbrochen (von utopischen Entwürfen, dem diesseitsorientierten, lustvollen Umgang mit der Wirklichkeit, dem modernen »gemischten« Charakter des Helden, der gleichzeitig religiös und gottlos, gutartig und böse etc. ist). Das barocke Weltbild mit seinen sinnstiftenden Elementen (vanitas, fortuna, Providentia) behält überall dort seine »Ordnungskompetenz«, wo gesellschaftliche Zwänge und individuelles Handeln nicht als Zusammenhängendes durchschaut werden. Seiner weltdeutenden Macht steht zum einen die ratio gegenüber, und zwar als Reflexion auf die eigene Lebensgeschichte, die aus dem blinden fatum eine Abfolge individueller Handlungen macht, sowie als Fähigkeit, barocke Wahrnehmungsmuster zu »rationalisieren«, d. h. sie zu ersetzen durch Einsicht in reale Verhältnisse und Begebenheiten. Zum andern wird der Hauptpfeiler barocker Weltauffassung, die mittelalterlich-christliche Jenseitsorientierung, von Simplicius immer wieder mit einer vitalen Diesseitsfreudigkeit durchbrochen, der das Lebensziel in der gelebten Zeit selbst liegt. Die Welt wird nicht prinzipiell, sondern nur dort als falscher Schein erfahren, wo Simplicius Rückschläge und Enttäuschungen sich nicht mehr anders erklären kann. In Extremsituationen greift er immer wieder unsicher auf barocke »Ordnungskompetenz« zurück, um sich zu orientieren und handlungsfähig zu bleiben. Bei Augustinus etwa war das Verhältnis zwischen religiöser und äußerer/innerer Realität nicht in dieser Weise problematisch und gestört, weil ihm die soziale und lebensgeschichtliche Realität von der göttlichen determiniert erschien. Seine Einzelexistenz im Hier und Jetzt war gesichert und aufgehoben im göttlichen Plan. Auch in einer schlechten, sündigen Welt konnte er sich schließlich finden und soziale Identität erreichen, weil Gott ihn mit den nötigen Eigenschaften ausgestattet hatte. Er konnte sagen: »Aber dies alles sind ja Geschenke meines Gottes, nicht ich habe sie mir
20
Von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« ist in der Sozial- und Geschichtswissenschaft seit Karl Mannheim die Rede, der sich seinerseits auf den Kunsthistoriker Wilhelm Pinder bezieht. Vgl. W. Pinder: Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. Berlin 1926. 28
selbst gereicht; sie sind allesamt gut, und ihre Summe — das bin ich!«21 Simplicius dagegen kann sich in der Welt nur negativ erfahren : was er hier unternimmt, das ist nicht er. Die soziale Wirklichkeit tritt ihm nicht nur als objektiver Zwang gegenüber, sondern reproduziert sich auch subjektiv. Beim »metzlen und todt schlagen« lacht ihm das Herz im »Leib an solcher Blutvergiessung«. (ST, 452) Regelmäßig führt ihn sein unidentisches, d. h. dem eigenen Ich-Ideal widersprechendes Handeln in Identitätskrisen. Die dadurch ausgelöste Identitätsbewegung möchte ich »barock« nennen, weil sie für die Strukturierung von Erfahrungen auf barocke Deutungsmuster zurückgreift. Sie zielt auf keine Balance, sondern kennt nur sündhafte, verdorbene soziale Identität einerseits und autonome, asketische, transzendental gesicherte persönliche Identität andererseits. Diese Identitätsbewegung kommt aber im Roman zu keinem Abschluß, weil Simplicius' Wunsch nach einer dialogischen, diesseitsbezogenen Lebensform die in Anspruch genommene »Ordnungskompetenz« des religiösbarocken Weltbildes immer wieder unausgesprochen in Frage stellt. Ich wähle ein Beispiel, in dem die Identitätsverwirrung sich einmal nicht in religiöser Zerknirschung dokumentiert, sondern im Gegenteil durch ein fundamentales Ungenügen am Ordnungswissen, das die barocke Ideologie bereitstellt. Simplicius hört vom Wunder des Mummelsees. Zwar wehrt er die Möglichkeit, über das religiöse Ordnungswissen hinausgehende Erfahrungen zu machen, unsicher ab und gibt zu bedenken, »daß nicht jeder seine Art so wol als seine Tieffe ergründen könne / die doch auch noch nicht erfunden worden wäre / da doch so Hohe Personen sich dessen unterfangen hätten«. (ST, 408) Gleichwohl verwirrt ihn die »andere«, nichtreligiöse Möglichkeit, etwas über den Zusammenhang der Welt zu erfahren. Verunsichert geht er an einen erinnerungsträchtigen Ort, der vertraute Vorstellungen gleichsam verbürgt und seine Verwirrung beenden soll; wie anders wären der übergangslose, durch kein Geschehen motivierte Ortswechsel und die sogleich einsetzende Selbstreflexion zu deuten? Simplicius sucht die Stelle auf, allwo ich vorm Jahr mein verstorbenes Weib das erste mal sähe / und das süsse Gifft der Lieb einsoffe. Daselbsten legte ich mich auff das grüne Gras in Schatten nider / ich achtete aber nicht mehr als hiebevor / was die Nachtigallen daher pfiffen / sondern ich betrachtete / was vor Veränderung ich seithero erduldet; f . . . ] und darneben auch an die vielfältige Veränderungen / deren ich mein Lebtag unterworffen gewesen / also daß ich mich des weynens nit enthalten konte. (ST,408f.) 21
Aurelius Augustinus: Confessiones, S. 35.
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Die Neustrukturierung von Erfahrungen und damit die Überwindung der Identitätskrise wird, modifiziert zwar, doch im wesentlichen durch den Rückgriff auf religiös-asketische Vorstellungen geleistet: Ich r e s o l v i r t e mich / weder mehr nach Ehren noch Geld / noch nach etwas anders das die Welt liebt / zu trachten; ja ich name mir vor zu p h i l o s o p h i r e n / und mich eines gottseligen Lebens zu befleissen / zumalen meine Unbußfertigkeit zu bereuen / und mich zu befleissen / gleich meinem Vatter seel. auff die höchste Staffeln der Tugenden zu steigen. (ST, 410)
Die in Anspruch genommene »Ordnungskompetenz« des barocken Weltbildes wird jedoch schon bald wieder durchbrochen, und das gleich in zweifacher Weise. Zunächst dadurch, daß Simplicius sich auf das religiös nicht »abgesicherte« Mummelsee-Abenteuer einläßt. Zwar bleibt es lebensgeschichtlich folgenlos, doch zeigt sich in diesem Abenteuer der »neuzeitliche Mensch« Simplicius. Festzuhalten bleibt: Simplicius wird — ohne daß dies entsprechend motiviert würde — plötzlich von Fürwitz und Begierde dazu getrieben, Dingen buchstäblich auf den Grund zu gehen, die der Erkenntnis des Menschen entzogen bleiben sollen; vom Knan werden Fürwitz und Begierde eindeutig negativ beurteilt, er sieht darin ein Treiben, das Gott nicht gefällig ist. 22
Nicht nur in seinem modernen Wissensdrang durchbricht Simplicius die christlich-barocke Weltsicht, die man als Zeitgenosse gleichsam wie eine Brille in Anspruch nimmt, um naturwissenschaftliche und soziale Erscheinungen zu erkennen und sich in ihrer Komplexität deutend zu orientieren. Er durchbricht sie auch in seinem Streben nach sozialer Identität. Obwohl Simplicius sich nur auf seinen Bauernhof und nicht etwa in den Wald zurückgezogen hat, um dort das bequeme Leben eines Rentners und Privatgelehrten zu führen, sehnt er sich doch nach einer dialogischen, identitätsstiftenden Lebensform. In dieser Lage läßt er sich leicht von einem schwedischen Christen, der ihm den ersehnten sozialen Verkehr, »Freunde und Beförderung« (ST, 443) verspricht und ihm mit dieser Aussicht »das Maul gantz wässerig« (ST, 443) macht, abermals zum Kriegsdienst überreden. Daß Simplicius soziale Identität nur in einer vom Kriegsgeschehen bestimmten und deformierten Gesellschaft suchen kann, die in nicht ausbalancierbarem Widerspruch zu seinem christlichen IchIdeal steht und so die »barocke« Identitätsbewegung in Gang setzt, daran scheitert letztlich Ich-Identität in diesem Roman. 22
Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers, S. 70.
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Von der »drey Jahr und etlich Monat« dauernden Odyssee bringt Simplicius nur »einen Bart« und enttäuschte Hoffnungen heim. (ST, 455) Wiederum beginnt er auf seinem vom Knan verwalteten Hof das Leben eines Privatgelehrten. Hier, außerhalb sozialer Handlungszwänge, ist die Domäne der Selbstreflexion und Neuorientierung, aber auch der Identitätskrise. Bei seinem Bücherstudium begegnet Simplicius das nosce te ipsum des Anfangs seiner Identitätsgeschichte wieder und veranlaßt ihn zu einer Generalabrechnung mit seinem bisherigen Leben: Nosce teipsum, das ist / es sollte sich jeder selbst erkennen: Solches machte daß ich mich hindersonne / und von mir selbst Rechnung über mein geführtes Leben begehrte. (ST,455f.)
Seine verfehlte Ich-Identität, das, was er nicht ist, kommt ihm wieder zu Bewußtsein und verursacht eine schwere Identitätskrise: [ . . . ] der Leib ist müd / der Verstand verwirret / die Unschuld ist hin / mein beste Jugend verschlissen / die edle Zeit verlohren / nichts ist das mich erfreuet / und über diß alles / bin ich mir selber feind. (ST, 456)
Die Möglichkeiten sozialer Identitätssuche scheinen erschöpft. In selbstquälerischer Ratlosigkeit fallen ihm schließlich »etliche Schrifften des Quevarae unter die Hände«.23 (ST, 457) Wie immer in ausweglosen Situationen greift Simplicius auf die sinnstiftende Autorität des barocken Weltbildes zurück, für das Guevaras »Adjeu Welt« steht. Dessen asketische Ablehnung dieser Welt, in der keine Freiheit sei, bringt Simplicius dazu, wiederum, doch ratlos und unentschlossen, als Einsiedler in den Wald zu gehen. Der Roman führt damit in seiner ersten Fassung die Lebensgeschichte des Helden zu einem vorläufigen Ende, die Zukunft aber bleibt offen: »[...] ob ich aber wie mein Vatter seel. biß an mein End darin verharren werde / stehet dahin.« (ST, 463) Für die asketische, büßerische Einsamkeit ist Simplicius nicht geeignet, er kann diesem mittelalterlichen Ideal nicht mehr gerecht werden. In der endgültigen Romanfassung (mit der Continuatio) wird ein Modell sinnlich-diesseitsbezogenen christlichen Daseins konstruiert, das die kulturgeschichtlichen Ungleichzeitigkeiten zu vereinen sucht. Auf seiner Insel lebt Simplicius einsam und diesseitsbezogen, gottgefällig und das Dasein genießend. Ihm mangelt es an nichts hier — außer an menschlicher
23
Das Werk Antonius de Guevaras lag Grimmelshausen in der Übersetzung von Aeg. Albertinus vor. Das 24. Kap. des 5. Buches (»Adjeu Welt«) ist fast ausschließlich Zitat dieser Übersetzung.
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Gesellschaft. Die Hoffnung auf ein »vollständiges« Leben, auf Ich-Identität wird unausgesprochen aufrechterhalten. Der Roman wird nur der Ordnung halber und auf der Handlungsebene, nicht auf der gehaltlichen abgeschlossen: »Anfang und Ende schließen sich [...] nicht zum Kreis, die Lösung bleibt vorläufig, der Kritik ausgesetzt. Die formale >Abrundung< gleicht die widersprüchlichen Positionen nicht aus, sondern hebt sie erst hervor.« 24
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Volker Meid: Grimmelshausen, S. 133.
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3. Wieland: Geschichte des Agathon (1766/67)
Im Erscheinungsjahr des »Agathon« war das christliche, metaphysisch gesicherte Gewissen als psychische Ordnungsinstanz schon längst von einer vernünftig begründeten, aufgeklärten Moral abgelöst worden. Deren wesentlichste Bestandteile — freie Selbstbestimmung, Wahrhaftigkeit, Tugend und Natürlichkeit (des nicht metaphysisch gedeuteten Individuums) — machen auch den Gehalt des »Agathon« aus. Dies ist der Grund, daß Lessing ihn »den ersten und einzigen Roman für den denkenden Kopf«1 nannte. Lessings Vorbehalt gegen die Gattung an sich ist unüberhörbar. In Deutschland bleibt der Roman lange »eine Dichtungsart, die am meisten verachtet und am meisten gelesen wird«.2 Noch 1794 kann Johann Georg Sulzer konstatieren: »Das Natürliche ist ohngefähr gerade das Entgegengesetzte des Romanhaften.«3 Mit der »Geschichte des Agathon« wird der entscheidende Schritt in Richtung auf die ästhetische Emanzipation des deutschen Romans getan. Wielands Roman entspricht auf das vollkommenste der zeitgenössischen Poetologie (Gottsched, Lessing, Garve, Mendelssohn), deren Elemente Christian Friedrich von Blanckenburg systematisch auf die Gattung Roman übertrug und damit die »erste deutsche Romantheorie von historischem Gewicht«4 schuf. Die ästhetischen Kategorien dafür lagen vor — bis zum »Agathon« nur kein Roman, der ihnen gerecht geworden wäre. Blanckenburg selbst betont, er »habe größtenteils schon längst be-
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Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. 69. Stück. In: Lessings Werke. Bd. 9. Stuttgart (Göschen) 1890. S. 90. Johann Carl Wezel: Herrmann und Ulrike. Ein komischer Roman. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1780. Stuttgart 1971 ( = Reihe Texte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Paul Böckmann und Friedrich Sengle). Vorrede S. I. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1794). In: Dieter Kimpel / Conrad Wiedemann (Hrsg. ), Theorie und Technik des Romans im 17. und 18.Jahrhundert. Bd. I: Barock und Aufklärung. Tübingen 1970. S. 144. Eberhard Lämmert: Nachwort zu Blanckenburgs »Versuch«, S. 575.
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kannte, und angenommene Grundsätze und Bemerkungen auf die Romane angewandt.«5 Die Kernaussage seiner Poetik, daß der Roman die »anschauende Verbindung zwischen dem Innern und dem Äußern des Menschen«6 zu leisten habe, wird fast ausschließlich am »Agathon« entfaltet. Aus seiner Anschauung wird von Blanckenburg die »bürgerliche Epopee«7 als psychologische, realistische (wahrscheinliche) und moralische Dichtung charakterisiert. Realismus bezieht sich, wie bei Wieland, auf psychologisch und moralisch motivierte Handlungszusammenhänge und stellt damit das überkommene Mimesis-Konzept in Frage. Der »Endzweck« des zukunftsweisenden deutschen Romans ist von nun an die Entwicklung des exemplarischen Individuums im Sinne einer bürgerlichen Gesellschaftstheorie und Anthropologie: »die Geschichte Agathons [ist] die Geschichte aller Menschen.«8 Blanckenburg führt entsprechend aus, der Roman müsse »solche Empfindungen und Vorstellungen in uns erzeugen, die unsre Vervollkommnung befördern, und unsere Bestimmung uns näher bringen können.«9 Genau in diesem anthropologisch-moralischen Sinne wird das Identitätsproblem im »Agathon« entfaltet.
3.1. Ich-Identität und normative Gesellschaftstheorie Im 18. Jahrhundert wird die Identität des Individuums auf der Grundlage zweier verbreiteter Persönlichkeitstheorien diskutiert. Wieland versucht im »Agathon« beide zu verbinden. Es handelt sich zum einen um die Milieutheorie der französischen Aufklärung. Erich Groß nennt als Wielands Quellen: Malebranche, Montesquieu, Bonnet und Helvétius. Ihnen gemeinsam sei »die sensualistische Grundeinstellung in der Erkenntnistheorie, zum Teil auch in der Moral, die besonders die Abhängigkeit des Denkens und Handelns von den Sinnen und dadurch auch der Umwelt
5
Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Nachwort von E. Lämmert. Stuttgart 1977 ( = Reihe Texte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Paul Böckmann und Friedrich Sengle). S. XVIII.
Ebd., S. 360. Johann Carl Wezel: Herrmann und Ulrike, S. III. 8 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon. Erste Fassung. Hrsg. von Fritz Martini. Stuttgart 1979. S. 543. Nach dieser Ausgabe ( = A M ) wird im folgenden zitiert. ' Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, S. 423. 6 7
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betont.« 10 Daneben wird Wielands Denken von der Präformationstheorie Leibnizscher und Shaftesburyscher Provinienz beeinflußt. Der »ästhetische Moralismus Shaftesburys blieb im wesentlichen Wielands Weltanschauung. « 11 Auf Wieland wie auf die deutsche Ideenbildung im 18. Jahrhundert überhaupt wirkt zweifellos Leibnizens Vorstellung der fensterlosen Monade und die mit ihr zusammenhängende substantielle, entelechische Anthropologie stärker als die sich auf eine soziale Determiniertheit des Individuums berufende Milieutheorie. Im deutschen Identitätsroman werden Individuierung und Sozialisierung weniger in wirklichen als in möglichen gesellschaftlichen Verhältnissen dargestellt. An die Vorstellung der Identität des Einzelnen ist nicht nur in der »Geschichte des Agathon« immer auch die der »richtigen«, nämlich freien, bürgerlich-aufgeklärten Gesellschaft geknüpft. Angesichts realer (ständischer,
bürgerlich-philiströser)
gesellschaftlicher
Bedingungen
kann eine moralisch-normative bürgerliche Ich-Identität im 18. Jahrhundert allerdings nur schwer als ausbalancierte persönliche und soziale Identität gedacht und dargestellt werden: Das Bürgertum mußte sich in die drückende Lage der n i c h t mehr ständischen und n o c h nicht bürgerlichen Vergesellschaftung schicken und die antinomische Scheidung von »Besonderheit und Allgemeinheit«, von PolitischÖffentlichem und Menschlich-Privatem, von Beruf und geistig-weltanschaulicher Zugehörigkeit hinnehmen. Diese Gegensätze waren das besondere Kennzeichen der damaligen bürgerlichen Gesellschaft und in ihnen ist sie als Einheit zu begreifen. 12
Gesellschaftliche Totalität und eine harmonische Lebensform werden, wenn sie schon nicht erfahren und gelebt werden können, in das private Bewußtsein, ins hypostasierte Ich transformiert (dieser Vorgang erreicht bei Fichte seinen Höhepunkt). Die Literatur konnte ihre beispiellose Bedeutung in der bürgerlichen Kultur des 18. Jahrhunderts nur erlangen, weil sie (ζ. B. im »Agathon«, vor allem in den »Lehrjahren«) die Ganzheit des öffentlichen und privaten bürgerlichen Menschen ästhetisch konstruierte.
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11 12
Erich Groß: C . M . Wielands »Geschichte des Agathon«. Entstehungsgeschichte. Berlin 1930. S. 66. Ebd., S. 17. Hans J. Haferkorn: Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800. In : Bernd Lutz (Hrsg.), Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750—1800. Stuttgart 1974 ( = Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft Bd. 3). S. 182.
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Die aufklärerische Idee vom Menschen, in der das Einzelne und das Gesellschaftliche zusammenfallen, gründet in der (ethischen) Vernunft, kraft derer sich das Individuum die praktische Wahrheitsfrage: Was ist das Gute? beantworten kann. Die Idee des Guten (Vernünftigen, Natürlichen, Moralischen etc.) wird im 18. Jahrhundert zunehmend ästhetisiert; das Gute und das Schöne werden gleichbedeutend. An Schillers Denken ist dieser Zusammenhang besonders deutlich abzulesen. Auch bei Wieland findet sich die Vorstellung einer schönen Gesellschaft. Von Wolfram Buddecke wird die Asthetisierung präformations- und milieutheoretischer Denkvoraussetzungen bei Wieland hervorgehoben: Wielands Aussagen über das Verhältnis von Natur und Kunst sind für das Verständnis seiner Entwicklungskonzeption von großer, vielleicht entscheidender Bedeutung. Gerade hier nämlich ist jene eigentümliche dritte Position, welche die extremen Positionen des Präformismus und der Milieutheorie vergleicht und sie gewissermaßen zur Synthese bringt, besonders gut zu fassen.13 Doch ist nicht etwa anzunehmen, daß es schon bei Wieland so ausschließlich wie bei Schiller »die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert. « 1 4 Das Identitätsproblem wird von Wieland, seinem undogmatischen, Systemen sich widersetzenden Denken gemäß, unter verschiedenen Aspekten behandelt, wovon mir der wichtigste die kommunikative und identitätsstiftende (moralische) Vernunft zu sein scheint. Mit K o m munikation als der gleichzeitigen Voraussetzung für Individualität und Sozialität soll die das instrumentelle (zweckbezogene, äußere) Handeln übergreifende Dimension sinnhaften Lebensbezugs gemeint sein (Werte, Normen, Legitimationen). Vernunft realisiert sich, Moral wird manifest in kommunikativen Zusammenhängen. Kommunikativ und normativ wird Vernunft auch von Wieland verstanden. Ihr Tätigwerden, das »Selbstdenken ist daher nicht eingefroren im solus ipse, sondern ist immer auch ein Denken gegen und für andere.« 1 5 Die Vernunft ist Erkenntnisinstrument und Ziel zugleich. Im folgenden soll nun die Identitätssuche des Romanhelden als Problem der (moralischen) Vernunftrealisation untersucht werden.
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Wolfram Buddecke: C. M. Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon. Göttingen 1966. S. 51. Friedrich Schiller: Uber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Nationalausgabe. Bd. 20. Hrsg. von Benno v. Wiese. Weimar 1962. S. 341 (11. Brief). Peter Pütz: Die deutsche Aufklärung. Darmstadt 21979 ( = Erträge der Forschung). S. 40. 36
3.2. Wielands anthropologisch-aufklärerische Vorstellung von Individualität Im Zusammenhang der Säkularisierung (Verbürgerlichung) des barocken Weltbildes ist im »Agathon« an die Stelle der a priori Sinn verbürgenden Religion die immer problematische Moral getreten. Wielands Held soll »als eine moralische Person betrachtet« (AM, 383) werden. Dies setzt zweifellos eine Subjektivierung des Erzählgegenstandes und psychologische Perspektivierung voraus. Wielands Idee vom Menschen ist aber nicht etwa Goethes, in organologischer und humanistischer Tradition gedachten, allein auf sich selbst bezogenen Individuum vergleichbar. Im »Agathon« geht es um etwas anderes: So viel ich die Natur unsrer Seele kenne, deucht mich, daß sich in einer jeden, die zu einem gewissen Grade von Entwicklung gelangt, nach und nach ein gewisses idealisches Schöne bilde, welches (auch ohne daß man sich's bewußt ist) unsern Geschmack und unsre sittliche Urteile bestimmt, und das Modell abgibt, woraach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder dessen was wir groß, schön und vortrefflich nennen, zu entwerfen scheint. (AM, 217f.)
Von moralischer Entwicklung ist hier die Rede, der eine aufklärerische Anthropologie des ethischen a priori zugrunde liegt. Das Erreichen von Ich-Identität, »daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens, welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird« (AM, 11), steht von Anfang an fest und wird von Wieland dem Roman programmatisch vorangestellt. Er führt aus, daß es um »so wohl die innere als die relative Möglichkeit« der Entwicklung des »Individual-Charakters« unter bestimmten historischen und lebensweltlichen »Umständen« gehe. (AM, 5) Auf dem Weg zur Ich-Identität soll der Held auf verschiedene »Proben« gestellt werden, »durch welche seine Denkensart und seine Tugend erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und nach abgesondert würde.« (AM, 10) Individualität wird vom Aufklärer Wieland als Bestimmung zum Menschsein begriffen. Die Bestimmung des Menschen ist für ihn mit dem (vernünftigen, moralischen) Plan der »Natur« gegeben. »Mein Dasein ist der Beweis, daß ich eine Bestimmung habe« (AM, 260), stellt Agathon fest; und vom Autor wird der Leser aufgefordert, seiner Bestimmung zu leben, d. h. vernünftig und moralisch (tugendhaft) zu handeln: Meine jungen Freunde, beschäftigt euch mit den Vorbereitungen zu eurer Bestimmung — oder mit ihrer würklichen Erfüllung. Bewerbet euch um die Ver-
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dienste, von denen die Hochachtung der Vernünftigen und der Nachwelt die Belohnung ist; und um die Tugend, welche allein den innerlichen Wohlstand unsers Wesens ausmacht. (AM, 357)
Wielands Held ist ausdrücklich auf die Möglichkeit, das Ideal »des Menschen« bezogen. Heinrich Vormweg betont dieses aufklärerisch-anthropologische Konzept so stark, daß er zu dem Ergebnis kommt, »daß es sich hier weniger um die Entwicklung, als um die Aufklärung eines Menschen handelt. Vielleicht läßt sich so von einem >Aufklärungsroman< als einer species des Typs >Entwicklungsroman< sprechen.« 16 Gegen diese auf eine Weise richtige Ansicht spricht die psychologische Anlage des »Agathon«. Es ist Wieland auch »um eine Seelen-Malerei zu tun.« (AM, 383) Dabei bestehe die Wahrheit des »Agathon« darin, »daß die Character nicht willkürlich, und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet, sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen« (AM, 5) würden. Die ethisch verstandene »Natur« des Menschen, »Individual-Charakter« und »Umstände« werden von Wieland dialektisch aufeinander bezogen. Ihr gegenseitiges Aufeinandereinwirken konstituiert das Identitätsproblem im »Agathon«. Die Identitätsbewegung wird in Gang gehalten durch moralphilosophische Diskurse, Selbstreflexion und das Aufeinandertreffen eines idealistischen (in Wielands Sprache: schwärmerischen) Ich-Ideals mit der gesellschaftlich-politischen Praxis. Im »Agathon« wird noch deutlicher als im »Simplicissimus« der Zusammenhang zwischen Ich-Identität und einer »richtigen«, identitätsfähigen Gesellschaftsordnung hergestellt. Die Identitätskrisen des Helden entstehen durch nichtöffentliches (Hippias/Danae) und öffentliches Handeln (Intrigen in Athen und Syracus). In den Lebensstationen nach Delphi und vor Tarent (Athen, Smyrna, Syracus) vollzieht sich jeweils sehr deutlich die beschriebene Identitätsbewegung. Die nächsten drei Kapitel sollen nun zeigen, wie sich das Problem der Ich-Identität in Athen, Smyrna und Syracus als moralisches stellt. Dabei wird deutlich werden, daß Wielands normativ-aufklärerisches Identitätskonzept so utopisch ist wie jene gesellschaftliche Ordnung, in der es allenfalls zu verwirklichen wäre (Tarent).
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Heinrich Vormweg: Die Romane Chr. M. Wielands. Zeitmorphologische Reihenuntersuchung. Diss. Bonn 1956. S. 391.
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3.2.1. Athen. Revision der Wahrnehmung äußerer Realität Der Roman beginnt medias in res. Agathon ist aus Athen geflohen. Vorläufig bleibt im dunkeln, wie es dazu gekommen ist. Erst im siebten Buch wird die Vorgeschichte (Delphi, Athen) in den Erzählzusammenhang eingeholt und so die Identitätskrise erklärt, mit deren Darstellung Wielands Roman beginnt: Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang, als Agathon, der sich in einem unwegsamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemühung einen Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges anlangte [ . . . ] . Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin wir ihn das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen. (AM, 15)
Später erst ist Agathon fähig, die Erfahrungen zu reflektieren, die zu seiner Identitätskrise geführt haben. Im Gespräch mit Danae (7. Buch) erkennt er, daß die athenische politische Wirklichkeit mit seinem im weltabgeschiedenen Delphi erworbenen Ich-Ideal unvereinbar gewesen ist. Sein auf einer »idealistischen Sittenlehre« (AM, 270) beruhendes Selbstkonzept hat sich im öffentlichen Leben nicht realisieren können, weil er noch nicht gewußt hat, »daß Tugend, Verdienste und Wohltaten gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödlichsten Haß erbittern kann. « (AM, 289) Erst jetzt ist Agathon in der Lage, die Geschichte, d. h. die reflektierte Erfahrung seines Athener Lebensabschnittes zu erzählen. Als er dagegen nach der Flucht aus Athen auf dem Schiff cilicischer Seeräuber und Menschenhändler versucht hat, das Geschehen zu reflektieren, ist ihm das Erkennen sinnhafter Zusammenhänge noch mißlungen: »Warum leidet der Unschuldige? Warum sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches Schicksal die Tugendhaften?« (AM, 36) Die Reflexion hat ihn nur noch mehr verwirrt, und er ist ihr ausgewichen — »sein in Zweifeln verwickelter Geist arbeitete sich loszuwinden, bis ein neuer Blick auf die majestätische Natur die ihn umgab, eine andre Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte. — « (AM, 37) Die Einsichten, mit denen Agathon seine Wahrnehmung äußerer, nicht aber innerer Realität revidiert, gelingen ihm nur aus der Distanz zum Geschehenen und im Dialog, an den seine Fähigkeit zur Selbstreflexion immer gebunden bleibt. Zwar hat Agathon »Gelegenheit genug gehabt, vieler irrigen Einbildungen los zuwerden [...]« (AM, 305), das Bild von sich aber ändert die Erfahrung mit der Gesellschaft nicht. Das Schwärme39
rische an Agathons Tugendvorstellungen wird durch die soziale Realität zwar relativiert, nicht aber ihre prinzipielle normative Geltung: Kurz, ich dachte darum nicht schlimmer von der Menschheit, weil sich die Athenienser unbeständig, ungerecht und undankbar gegen mich bewiesen hatten; aber ich faßte einen desto stärkern Widerwillen gegen eine jede andere Gesellschaft, als eine solche, welche sich auf übereinstimmende Grundsätze, Tugend und Bestrebung nach moralischer Vollkommenheit gründete. (AM, 306)
Die negativen sozialen Erfahrungen werden in einer Weise gedeutet, die das eigene moralisch-schwärmerische Ich-Ideal nicht in Frage stellt, sondern nur bekräftigt: Der Verlust meiner Güter, und die Verbannung aus Athen schien mir die wohltätige Veranstaltung einer für mich besorgten Gottheit zu sein, welche mich dadurch meiner wahren Bestimmung habe wiedergeben wollen. (AM, 306)
Die Unvermittelbarkeit von sozialer Realität und Wieland-Agathons aufklärerisch-idealistischem Konzept von Ich-Identität kommt an dieser Stelle deutlich zum Ausdruck. Sie bleibt bis zuletzt das zentrale Problem des Romankonzepts und erzwingt, soll nicht das Scheitern aufklärerischer Ideen zugegeben und demonstriert werden, einen utopisch-fragwürdigen Romanschluß.
3.2.2. Smyrna. Revision der Wahrnehmung innerer Realität In Smyrna wird Agathon an den gebildeten, nach stoisch-hedonistischen Prinzipien von seinem Vermögen lebenden Hippias verkauft. Er will Agathon die Unhaltbarkeit eines platonischen Tugendideals demonstrieren und macht ihn zu diesem Zwecke mit der Hetäre Danae bekannt. Es dauert auch nicht lange, bis Agathon ihr durchaus nicht platonischer Liebhaber wird. Hippias (Helvétius), der nach der Maxime lebt: »Befriedige deine natürliche Begierden, und genieße so viel Vergnügen als du kannst« (AM, 102f.), drückt Agathon seine Freude über dessen neue, scheinbar hedonistische Lebensform aus: »Ich bin erfreut, Callias (sagte er zu ihm) daß du, wie ich sehe, einer von den Unsrigen worden bist.« (AM, 198) Diese Äußerung löst eine neue Identitätskrise aus : Ists möglich? Einer von den Seinigen? Dem Hippias ähnlich? Ihm, dessen Grundsätze, dessen Leben, dessen vermeinte Weisheit mir vor kurzem
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noch so viel Abscheu einflößten? Und die Verwandlung ist so groß, daß sie ihm keinen Zweifel übrig läßt? Gütiger Gott! Wo ist euer Agathon? Ach! es ist mehr als zu gewiß, daß ich nicht mehr ich selbst bin! (AM, 199) Agathons Ent-wicklung aus den neuen Erfahrungen, die seinem bisherigen moralischen Selbstkonzept vollkommen widersprechen, kann nur durch Selbstreflexion geschehen. Sie stellt sich in krisenhaften Situationen von selbst ein. Zunächst übernimmt ihre Aufgabe gleichsam stellvertretend ein Traum, der beweist, »daß Träume nicht allemal Schäume sind«. (AM, 202) Im Traum erscheint Agathon seine, Sinnlichkeit in reinste Tugend sublimierende, Psyche als Verkörperung des eigenen (nach wie vor gültigen) Ich-Ideals; sich selbst sieht er nun »in einem tiefen Schlamme versenket«. (AM, 205) »Schlamm« wird von Wieland als Metapher für Selbstentfremdung benutzt; sie taucht auch in einem anderen Handlungszusammenhang auf, in dem Agathon nach sozialer Identität strebt. Ahnlich wie in der Danae/Hippias-Gesellschaft hat sein psychischer Zustand in Athen einer »Betäubung« geglichen, »worin nach meinem Freunde, Plato, unsre Seele eine Zeit lang, von sich selbst entfremdet, liegen bleibt, nachdem sie aus dem Ocean des reinen ursprünglichen Lichts, der die überhimmlischen Räume erfüllet, plötzlich in den Schlamm des groben irdischen Stoffes heruntergestürzt worden ist.« (AM,307f.) Weil die Selbstentfremdung nur »eine Zeit lang« anhält, sind Identitätskrise und -bewegung unausweichlich. Diesmal wird sie durch einen Traum in (Reflexions-)Bewegung gebracht. Uber ihn nachdenkend erkennt Agathon, daß es keinen Weg zurück in den gesellschaftsfrei-unschuldigen Zustand moralischer Schwärmerei mehr geben kann (Delphi); gleichwohl ist er aber auch in seinen gegenwärtigen sozialen Umständen nicht zu Hause — wieder schließen sich persönliche und soziale Identität aus. Nähert er sich einem von beiden Identitätszuständen, so entfernt er sich beinahe zwangsläufig vom andern : Danae hört auf, »Danae für ihn zu sein ; und durch eine ganz natürliche Folge wurde er in dem nämlichen Augenblick wieder Agathon.« (AM, 321) Durch Selbstreflexion arbeitet sich Agathon aus dem »Schlamm« sexueller, emotionaler Erfüllung und geistvoll-hedonistischer Lebensführung heraus, indem er sein verdrängtes moralisches Selbstkonzept wieder erinnert. Er sieht ein, »daß ihm nichts als die Flucht von dieser allzureizenden Zauberin seine vorige Gestalt wieder geben könne.« (AM,318) Damit Agathon aber nach den geordneten und interpretierten, mit einem Wort strukturierten Erfahrungen auch handele, bedarf es eines »unverhofften 41
Zufalls«. (AM, 359) So ist es immer: Die Erfahrungen, die Agathon macht, bleiben seltsam folgenlos. »Kurz, seine Erfahrungen machten ihm die Wahrheit seiner ehemaligen Denkungs-Art verdächtig, ohne ihm einen gewissen geheimen Hang zu seinen alten Lieblings-Ideen benehmen zu können.« (AM, 372) Die Revision der Wahrnehmung innerer (moralischer) Realität wird zwar behauptet, verändert aber nicht das Denken und Handeln des Helden. Die Figur Agathon bleibt bis zuletzt ein aufklärerisch-idealistisches Konstrukt, das Wieland nicht aufgeben will, trotz aller Kritik der »Schwärmerei«, die an ihm demonstriert wird. Er tut es nicht, weil mit dem rührenden, schwärmerischen Beharren auf persönliche Identität auch die ideale und »richtige« Gesellschaftsordnung eingelöst sein will. 3.2.3. Syracus. Die Preisgabe sozialer Identität Der Zufall führt Agathon nach Syracus. Dort will er als »Fürstenerzieher«, einer Lieblingsrolle des bürgerlichen Intellektuellen im deutschen 18. Jahrhundert, Einfluß auf eine vernünftige (aufklärerische) Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse nehmen und in einer identitätsfähigen sozialen Ordnung auch sein moralisch-normativ fundiertes Ich-Ideal realisieren. Obwohl Agathon »die Wahrheit seiner ehemaligen DenkungsArt verdächtig« (AM, 372) geworden ist, und er »seine Erfahrungen« gemacht hat, um »die Klippen zu vermeiden, an denen die Klugheit oder die Tugend derjenigen zu scheitern pflegt, welche sich den öffentlichen Angelegenheiten unterziehen« (AM, 373), mißlingt auch sein neues Vorhaben. Es steht von vornherein fest, daß auch dieses Mal die intelligible nicht mit der empirischen Wirklichkeit auszusöhnen ist: Agathon kommt glücklich nach Syracus, um an dem H o f eines Fürsten zu lernen, daß auf dieser schlüpfrigen Höhe die Tugend entweder der Klugheit aufgeopfert werden muß, oder die behutsamste Klugheit nicht hinreichend ist, den Fall des Tugendhaften zu verhindern. (AM, 374)
Wie in Athen setzen Agathons Erfolg und Ansehen auch hier die Maschine der Hofintrige (vor allem über die Hofdame Cleonissa) in Gang: Es konnte nicht anders sein als daß derjenige, dessen beständige Bemühung dahin ging, seinen Prinzen tugendhaft, oder doch wenigstens seine Schwachheiten unschädlich zu machen, sich den herzlichen Haß dieser Höflinge zuziehen mußte. (AM, 489)
Nach dem voraussehbaren Scheitern als Reformer und Fürstenerzieher gerät Agathon in eine Identitätskrise, die ihm selbst zunächst verborgen 42
bleibt, weil gekränkte »Eigenliebe« (AM, 520), »sein Herz und seine Einbildungskraft« (AM, 521) einen Verblendungszusammenhang schaffen, der jede vernünftige Reflexion verhindert. »Der Affect, in welchen er dadurch gesetzt werden mußte, gab allen Gegenständen, die er vor sich hatte, eine andre Farbe.« (AM, 520) Bevor eine geplante »Conspiration« gegen den Prinzen und Tyrannen Dionys durchgeführt werden kann, wird Agathon verhaftet. Nur mit der Hilfe des Freundes Archytas aus Tarent kann Agathon überhaupt sein Leben retten; seine gescheiterte soziale Identität wird offenbar. In dieser Situation eines erneuten Illusionszusammenbruchs reflektiert Agathon seine bisherigen gesellschaftlichen Realisierungsversuche und erfährt »den ganzen Abscheu vor dem geschäftigen Leben, welchen er nach seiner Verbannung von Athen dagegen gefaßt, und den ganzen Hang, welchen er zu Delphi für das Contemplative gehabt hatte, wieder. « (AM, 527) Indem er nun den Entschluß faßt, ein Privat-Dasein in Tarent zu führen, koppelt er sein moralisch definiertes Selbstkonzept von dessen sozialer Realisation und damit von sozialer Identität ab und versucht es in ein gesellschaftsfreies Moratorium bürgerlicher Privatheit und Innerlichkeit zu retten. Er bequemte sich also endlich, einen Schritt zu tun, der ihm von den Freunden Dions für eine feigherzige Verlassung der guten Sache ausgelegt wurde; in der Tat aber das einzige war, was ihm in den Umständen, worin er sich befand, vernünftiger Weise zu tun übrig blieb. (AM, 527) In Syracus endet mit der resignativen Aufgabe eines sozialen Identitätsanspruchs Agathons moralische Identitätskrise, ohne daß sie gelöst wäre. Wieland verweist mit aufklärerischer Konsequenz auf die Gebundenheit von Ich-Identität an eine identitätsfähige, nämlich moralische Gesellschaftsordnung. Ist diese nicht gegeben, muß jene scheitern. Einen Kompromiß verbietet der normative Anspruch seines aufklärerisch-philosophischen Weltbildes. Man darf an dieser Stelle des Romangeschehens wohl sagen, daß Wieland nicht nur die unbeschränkte Herrschaft deutscher Territorialherren als identitätszerstörende kritisiert, sondern einen prinzipiellen Zweifel an der Realisierbarkeit aufklärerischer Gesellschaftstheorie und Anthropologie äußert.
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3.3. Versuchte Vollendung. Zur gebrochenen Geschlossenheit der Romanstruktur In einer selbstreflexiven Identitätsbewegung hat sich Agathon zwar von illusionären Selbstkonzepten seiner schwärmerischen »Einbildungskraft« befreien können, gleichwohl müßte seine Ich-Identität an einer prinzipiell nicht identitätsfähigen realen gesellschaftlichen Ordnung scheitern. Dies gibt Wieland deutlich genug zu verstehen, wenn er ironisch konstatiert, daß der griechische Autor den Lesern »einen Gefallen getan habe, seinen Helden, nachdem er eine hinlängliche Anzahl guter und schlimmer Abenteuer bestanden hat, endlich für seine ganze übrige Lebens-Zeit glücklich zu machen.« (AM, 552f.) Im »Agathon« bleibt die identitätsstiftende Lebensform der Republik Tarent unausgeführt, das weitere Schicksal des Helden den Vermutungen der Leser überlassen. In der offenen Romanstruktur, deren Geschlossenheit lediglich ratlos behauptet wird, ist ein Ungenügen am Bestehenden enthalten, aber auch an dessen utopischen Gegenentwurf, an den der Herausgeber-Erzähler selbst nicht glaubt. Die Vorstellung einer gänzlich aufgeklärten, freien und moralischen Gesellschaft muß vom Realisten Wieland als Illusion zurückgewiesen, vom Philosophen Wieland aber utopisch aufrechterhalten werden. Ist Illusion durch schlechte Transzendenz, das Verfehlen und Verschleiern realer Lebensordnung gekennzeichnet, so bezieht sich Utopie normativ auf die Möglichkeiten des Gattungswesens Mensch und kritisch auf gegebene gesellschaftliche Verhältnisse. 17 Auch wenn es der fiktive Herausgeber den Lesern überläßt, dem »Land der schönen Seelen, und der utopischen Republiken [ . . . ] soviel Glauben beizumessen, als sie gern wollen« (AM, 552), und sich so einer eindeutigen Stellungnahme entzieht, ist doch ein kritischer Zeitbezug unüberhörbar. Die Idee des zu moralischem und freiem Handeln fähigen Menschen ist in der »Geschichte des Agathon« an eine bürgerliche Gesellschaftsordnung gebunden: »Der größeste Teil derTarentiner bestund aus Fabricanten und Handelsleuten. Die Wissenschaften und schönen Künste stunden in keiner besonderen Hochachtung bei ihnen; aber sie waren auch nicht verach17
»Nicht eine jede inkongruente, das jeweilige >Sein< transzendierende und in diesem Sinne >wirklichkeitsfremde< Orientierung wird uns als eine utopische gelten. N u r jene >wirklichkeitstranszendente< Orientierung soll von uns als eine utopische angesprochen werden, die, in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seinsordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt.« Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Frankfurt/M. 1969 (1. Aufl. 1929). S. 169.
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tet.« (AM, 559) Es ist wohl kaum zu bestreiten, daß Wieland mit der Tarenter Republik einen Gegenentwurf zum zeitgenössischen deutschen Kleinstaat-Despotismus und zur unterentwickelten politischen, dagegen hypostasierten »geistigen« bürgerlichen Kultur andeutet. Archytas regiert die Tarentiner »mehr durch die Macht der Sitten als durch das Ansehen der Gesetze« (AM, 559) ; er verkörpert18 die auf Freiheit und Moral beruhende Staatsform einer bürgerlichen Gesellschaft. Diese identitätsfähige republikanische Staatsform, die in der Lage ist, Agathons gegen politische Ö f fentlichkeit
schlechthin
»gefaßten
Widerwillen
zu
besänftigen«
(AM, 560), stellt auch die politische und soziale Wirklichkeit des Autors (und des Lesers) in Frage, insofern ist Wielands utopischer Entwurf ernst gemeint. Damit der Erzähler seine Absicht, »aus seinem Helden einen tugendhaften Weisen zu machen« (AM, 556), realisieren kann, bleibt »ihm freilich kein andrer Weg übrig, als seinen Helden in diesen Zusammenhang glücklicher Umstände zu setzen, in welchem er sich nun bald, zu seinem eigenen Erstaunen, befinden wird.« (AM,556) Der dem wiederholt postulierten Realismus (Wahrheitsanspruch) des Romans offensichtlich widersprechende utopische Schluß wird ästhetisch legitimiert: Unser Verfasser wollte dem Vorwurf ausweichen, welchen Horaz gleichnisweise in dem bekannten Verse Amphora coepit Instituí currenta rota cur urceus exit? denjenigen Dichtern macht, in deren Werken das Ende sich nicht zu dem Anfang schickt. (AM, 553) Wielands normativer Identitätsentwurf und aufklärerische Gesellschaftstheorie machen einen utopischen Schluß von vornherein notwendig. Sein philosophisches Programm widersetzt sich absichtsvoll den realen gesellschaftlichen Verhältnissen: Vermöge der Natur der Sache ist jedes Glied einer werdenden bürgerlichen Gesellschaft allen andern darin gleich, daß es Mensch, d. i. ein vernünftiges, sich selbst durch den Gebrauch seiner Vernunft bestimmendes Wesen, folglich eine freie Person ist." 18
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Auf den beispielhaften Charakter von Figuren und Handlungen in Wielands »Agathon« weist Joachim Campe hin: »Die Macht des Beispiels liegt darin, daß Archytas im Sinne von Dürkheims Analysen eine moralische Persönlichkeit verkörpert; der Heiligenschein, mit dem Wieland die Figur versieht, bedeutet keine einmalige menschliche Aura, sondern [...] die höchste Vollendung des Regelhaften.« Joachim Campe: Der programmatische Roman. Von Wielands »Agathon« zu Jean Pauls »Hesperus«. Bonn 1979. S. 100. Christoph Martin Wieland: Uber Constitutionen (1792). In: Sämmtliche Werke. 31. Bd. Leipzig (Göschen) 1857. S.276. 45
Dies Programm kann auch als das des »Agathon« gelesen werden und macht deutlich, daß ein nicht-utopischer Romanschluß nicht möglich gewesen wäre, ohne die Absicht des Romans zu verfehlen, nämlich »daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens [ . . . ] ein eben so weiser als tugendhafter Mann sein wird«. (AM, 11) Der ganze Roman hat ja vorgeführt, wie unmöglich es in der »falschen« (wirklichen) Gesellschaft ist, tugendhaft zu bleiben und weise zu handeln. Mit der zurückgenommen-behaupteten Schlußutopie erreicht Wieland eine doppelte Wirkung. Einmal kritisiert er mit der Gestaltung utopisch-politischer Voraussetzungen für gelingende Ich-Identität die »falschen«, fürstlich-partikularistischen deutschen Verhältnisse und stellt ihnen »richtige«, von ihrem Charakter her aufgeklärt-bürgerliche entgegen. Zum andern leistet Wieland mit der Zurücknahme des utopischen Schlusses schon früh eine Selbstkritik, die sich auf die Aporien aufklärerischer Gesellschaftstheorie bezieht. Die prinzipiell mit der sozialen Realität unversöhnlichen aufklärerischen Ideen haben Agathon (nach dem Scheitern in Syracus) in eine ausweglose Lage geführt, die der fiktive Herausgeber resigniert und ratlos konstatiert. Wieland gibt sein Romankonzept im Grunde auf, wenn er vor der Tarent-Handlung den Herausgeber bemerken läßt: wir an unserm Teil nehmen uns der Sache weiter nichts an; unsere Absichten sind bereits erreicht, und die glücklichen oder unglücklichen Umstände, welche dem Agathon noch bevorstehen mögen, haben nichts damit zu tun. (AM, 552)
Daß Idee und Geschichte nicht zur Deckung kommen, darin liegt die Wahrhaftigkeit und auch die Modernität dieses Romans.
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4. Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman
Ist für Wieland noch ein makrotheoretisches, normativ-aufklärerisches Denken charakteristisch, so vollzieht schon Moritz die empirische, mikrotheoretische Wende der Aufklärung. Wielands »Geschichte des Agathon« liegt die Idee des Menschen zugrunde. Sein anthropologischer Roman ist nicht primär als Lebensgeschichte eines Individuums, sondern »eigentlich als hypothetische und experimentelle Darstellung der >conditio humanaAnton Reiser< potentielle Symbole, sie sind der Symbolisierung fähig, bleiben aber oft auf der psychologischen Zwischenstufe stehen.« 6 Könnte Wielands »Agathon« als Roman mit verdeckt autobiographischem Gehalt bezeichnet werden,7 so Moritz' »Reiser« als autobiographischer Roman.
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Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977. S. 71. August Langen: Karl Philipp Moritz' Weg zur symbolischen Dichtung. In: Z D P 1 9 6 2 . Bd. 81. S. 176. Ebd., S. 184. »Die Ubereinstimmung Wielands mit seinem Romanhelden betrifft die Art der Individualität und die weltanschaulichen Probleme, nicht jedoch die Biographie, die vielmehr in die idealische Symbolwelt einer als Bildungsbereich konzipierten Antike verlegt ist.« Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976. S. 100. 49
4.1. Reisers Verhältnis zur Wirklichkeit Die im »Simplicissimus« angedeutete und ersehnte identitätsstiftende gesellschaftliche Ordnung wird im »Agathon« sozialutopisch gestaltet. Dem empirisch-analytisch orientierten Verfasser des »Reiser« dagegen zwingen die eigene Betroffenheit und seine erfahrungsseelenkundliche Perspektive eine autobiographische Romanstruktur gleichsam auf und verhindern die utopische oder ästhetische Lösung des Identitätsproblems. Dessen Schlüssel liegt in Reisers Reagieren auf die soziale Wirklichkeit, das einem internalisierten quietistischen Zwang gehorcht, der sich psychisch als Melancholie manifestiert. Diese These soll im folgenden entfaltet werden. 4.1.1. Quietismus und Elternhaus Als Moritz 1756 geboren wird, hat die pietistische Bewegung bereits ihren Höhepunkt überschritten. Sie ist gegen Ende des 17. Jahrhunderts hauptsächlich von Philipp Jakob Spener (seine »Pia Desideria« sind 1675 erschienen) und August Hermann Francke ausgegangen. Dieser genuine, weltzugewandte Pietismus, zu dessen wesentlichen Bestandteilen die nach außen gerichtete »praxis pietatis« gehört, ist für Moritz-Reisers Sozialisation nicht bedeutsam geworden. Prägenden Einfluß gewinnt dagegen ein quietistischer Zirkel, dem sich der hypochondrische Vater angeschlossen hat. Diese quietistische Spielart des Pietismus charakterisiert Fritz Stemme so: »In diesem Quietismus wurde Spontaneität, Aktivität mit >Ver-ichungEnt-ichung< verwechselt.«8 Robert Minder beschreibt das Verhältnis von Luthertum, Pietismus und Quietismus folgendermaßen: Gegen das Luthertum gehalten, ist der Pietismus eine »introvertierte« Form der Frömmigkeit; er fordert Askese, entwertet die Welt, mißtraut allem Kreatürlichen, während bei Luther doch Ubersinnliches immer mit Sinnenhaftem vermengt ist und neben der »Theologia deutsch« die kräftigen »Tischreden« stehen. Gegen den Quietismus gehalten, enthält der Pietismus jedoch ein aktives, ein »extravertiertes« Element: er ist nicht Weltflucht, sondern Askese in der Welt; er berührt sich bisweilen fast — bei Francke hauptsächlich — mit der »Bewährungstheorie« von Calvin, von Knox. 9 8
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Fritz Stemme: K. Ph. Moritz und die Entwicklung von der pietistischen Autobiographie zur Romanliteratur der Erfahrungsseelenkunde. Marburg 1950. S. 48. Robert Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz, Frankfurt/M. 1974 (Berlin 1936). S. 121.
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Dem alten Moritz vermittelt sich die Lehre der Mme Guyon (1648—1717) über Johann Fr. v. Fleischbein (1700—1774), dem in Pyrmont lebenden maßgebenden Führer und Verbreiter des deutschen Quietismus. Für ihn besteht die guyonische Lehre vor allem in der »mortificatio«, darin, »alle Leidenschaften zu ertöten, und alle Eigenheiten auszurotten.« (RM, 8) Damit hat er aber die quietistische Lehre im wesentlichen mißverstanden, denn er nimmt nicht zur Kenntnis, daß die »Ertötung« bei Mme Guyon in mehreren Stufen gedacht ist. Sie unterscheidet drei Stände der mystischen Hinneigung, die auf der untersten Stufe als »wirkende Betrachtung« beginnt, als ein sich karitativ bewährendes Christentum, worüber die meisten nicht hinauskommen. »Diese Grundsätze, die durchaus die Möglichkeit einer innerweltlichen Mystik offenlassen, werden durch Moritzens Vater mißachtet. «10 Dessen Auslegung der quietistischen Lehre ist die eines Hypochonders. In der Erziehung äußert sie sich als Anleitung und Zwang zum Selbsthaß (Einschränkungsphantasien), aber auch zu Wiedergeburts- bzw. Ausdehnungsphantasien. Nicht zuletzt bewirkt auch die durch den religiösen Fanatismus des Vaters zerrüttete Ehe der Eltern beim Kind Reiser jene für sein ganzes Leben so charakteristische Zerrissenheit (melancholische Identitätsbewegung). In ihr reproduziert sich psychisch unter anderem die frühkindliche Liebe zur Mutter (Ausdehnungsphantasien) und die Furcht vor dem Vater (Einschränkungsphantasien): »So schwankte seine junge Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen, zu seinen Eltern hin und her.« (RM, 14) Der Ursprung des melancholischen Wirklichkeitserlebens liegt in der frühen Kindheit und dieses ist für Moritz-Reiser zeit seines Lebens eine psychische Tatsache geblieben: Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.« (RM, 13)
Vor allem diese psychische Tatsache verhindert Reisers Ich-Identität. Wenn die kleinbürgerlichen Verhältnisse, in denen Reiser lebt, auch bedrückend und nicht ohne Not sind, so sind sie doch noch identitätsfähig. Schlechte Kleidung, demütigende Freitische, Ausbeutung und Ungerechtigkeit müssen auch Reisers Mitschüler und andere Lehrburschen erleiden, ohne in Verzweiflung und Suizid getrieben zu werden. Reiser ist so-
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Eckehard Catholy: K. Ph. Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft. Tübingen 1962. S. 53.
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gar noch verhältnismäßig privilegiert (durch Protektion und seine besonderen Fähigkeiten). Daß seine Existenz trotzdem zu einer Abfolge von Katastrophen wird, liegt in seiner quietistisch-melancholischen Wahrnehmung und gestörten Deutung sozialer und innerer Wirklichkeit begründet: Jeder Leser des Romans wird frappiert sein, wie Reiser eigentlich nur durch seine Sucht, andere und sich zu belauern, minimale Ereignisse zu deuten, zu drehen und zu beklopfen, keinen Anschluß an das Leben findet — und damit sein Unglück selbst verschuldet, denn die Möglichkeit eines Anschlusses wurde ihm so oft als irgendeinem andern geboten. 11
4.1.2. Einschränkung — Ausdehnung: die melancholische Identitätsbewegung Reisers Identitätsproblem ist kein religiös-ethisch (»Simplicissimus«) oder moralisch-aufklärerisch (»Agathon«) begründetes, sondern hängt im wesentlichen mit einer Krankheit zusammen: der Melancholie. Im »Reiser« stellt sie sich dar als ein säkularisiertes quietistisches Lebensgefühl, für das der Antagonismus »Einschränkung-Ausdehnung« charakteristisch ist. Einschränkung äußert sich als Inferioritätsgefühl und Selbsthaß, die auf die Erwartung anderer projiziert werden und in einer Art self-fulfilling prophecy wirkliche Ablehnung erzeugen (etwa bei Reisers Mitschülern). Ausdehnung kann als säkularisierter Wiedergeburtswunsch verstanden werden. In solchen Zuständen phantasiert sich Reiser aus jenen drückenden sozialen und persönlichen Problemen heraus, die zu einem beträchtlichen Teil durch sein melancholisches Wirklichkeitserleben selbst erzeugt worden sind. Zwischen den beiden extremen Erlebnisweisen der (Selbst-) Verachtung und des Schwelgens in auratischen Selbstentwürfen ist Reiser ständig hin- und hergerissen. Hans Joachim Schrimpf weist darauf hin, daß diese beiden Pole melancholischen Bewußtseins schon im Romantitel symbolisch enthalten seien und auf den Einsiedler Antonius und das Theater verwiesen: Eremit und Schauspieler bilden nämlich hier nicht Gegensätze, die einander ausschließen, sondern eine symptomatische Entsprechung. Sie sind gleichermaßen aus der Gesellschaft Herausgehende, viatores, die ihre Selbstverwirklichung als Einsiedler in der Wüste oder als öffentliche Person auf den Brettern suchen. Die Dialektik von Enge und Weite, Selbstverleugnung und Selbstdar-
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Robert Minder: Glaube, Skepsis und Rationalismus, S. 156.
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Stellung, die den ganzen »Anton Reiser« strukturell prägt, deutet sich im Titel Der internalisierten väterlich-quietistischen Forderung nach völliger Passivität und Entselbstung steht im Roman die säkularisierte Sehnsucht nach Wiedergeburt, nach sozialer Identität entgegen. Ihr Fehlschlagen, sei es jeweils schwerwiegend oder nicht, löst stets eine schwere Identitätskrise, Niedergeschlagenheit und Melancholie aus. So auch anläßlich eines Schulfackelzuges, an dem Reiser nicht teilnehmen kann, weil ihm das Geld für eine Fackel fehlt. Wieder einmal empfindet er schmerzlich seine sozial isolierte Lage. Die verhinderte Möglichkeit, im Fackelzug auch »in R e i h und G l i e d e zu gehen« (RM, 251), macht ihm sein Dasein unerträglich. Soziale Anerkennung ist ihm immer dann wichtig, wenn sie unerreichbar scheint. Als Reiser zu Hause von fern die Musik hörte, so tat dies eine sonderbare Wirkung auf sein Gemüt — er dachte sich lebhaft den Glanz der Fackeln, die Menge der Zuschauer, das Getümmel, und seine Mitschüler als die Hauptpersonen dieses prachtvollen Schauspiels — und sich nun ausgeschlossen, einsam und von aller Welt verlassen — dies versetzte ihn in eine Wehmut, die derjenigen völlig ähnlich war, da seine Eltern ihn oben auf der Stube allein gelassen hatten [ . . . ] und er sich da auch so einsam und von aller Welt verlassen fühlte, und sich aus den Liedern der Madame Guion tröstete. (RM, 251) Wieder einmal regrediert Reiser in die der quietistischen Einschränkung eigene Wollust und meidet von nun an gesellschaftlichen Verkehr. Diese lustvolle affektive Besetzung der Einschränkung, »jene schwermutsvolle tränenreiche Freude« (RM, 22), the joy of grief, bleibt im Roman als durchgehendes Motiv präsent. Selbstreflexion und Synthese alter und neuer Erfahrungen, das hieße in diesem Falle etwa: Erhöhung der eigenen Frustrationstoleranz und Nutzung der Reiser immer wieder gebotenen Möglichkeiten eines sozialen Anschlusses — sie werden verhindert von der regressiven Lust am eigenen unglücklichen Bewußtsein. Der wollüstigen Einschränkung steht eine selbstzerstörerische gegenüber. Das Reisers Melancholie zugrundeliegende und von dieser wiederum in Gang gehaltene Inferioritätsgefühl verursacht periodisch wiederkehrende Depressionen, die sich als quietistische Befindlichkeiten wie »Vernichtung«, »Seelenlähmung« etc. äußern und eine realitätsbezogene reflexive Auseinandersetzung mit den Identitätsproblemen und damit eine
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Hans Joachim Schrimpf: Moritz. Anton Reiser. In: Benno v. Wiese (Hrsg.), Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1963. S. 99. 53
gelingende Identitätsbewegung vereiteln. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion,
die den Zusammenhang zwischen sozialer Realität und eigenen
Selbstkonzepten
herstellt, ist bei Reiser melancholisch besetzt mit
schlechtem Gewissen, Selbsthaß und archaischer Angst vor dem Erfolg, womit sich die quietistisch-rigide Lebensfeindschaft des Vaters psychisch reproduziert. Identitätskrisen bleiben deshalb unbewältigt, schaffen sich Luft in Selbstaggressionen (bis zum Suizid) oder werden über die Phantasie kompensiert. Wie wenig Reisers Identitätskrisen und verfehlte Ich-Identität von äußeren Realitäten abhängen, zeigt sich besonders deutlich während einer Episode am Hannoverschen Gymnasium, in der sich seine sozialen Phantasien zu realisieren »drohen«. Reiser gelangt durch die Deklamation zweier eigener Gedichte wieder zu einigem Ansehen unter Lehrern und Schülern — jedoch: Bei dieser bessern Wendung seines Schicksals behielt Reiser demohngeachtet noch immer seine schwermütige Laune bei, woran er nun einmal ein besonderes Behagen fand; und selbst an dem Tage, da ihm die unerwartete Ehre der öffentlichen Kritik seiner Gedichte widerfahren war, ging er den Nachmittag einsam und schwermütig, bei dem trüben und regnigten Wetter in der Stadt umher — und wollte am Abend zu Philipp Reisern gehen, um diesem sein Glück zu sagen. (RM, 310) Reiser soll sogar eine Rede auf den Geburtstag der Königin von England verfassen und öffentlich vortragen. »Keiner seiner reichen und angesehenen Mitschüler schämte sich nun mehr mit ihm umzugehen, und ihn in seiner schlechten Wohnung zu besuchen.« ( R M , 319) Reisers Stimmung an diesem ehrenvollen Tag, an dem er nun endlich »zur Verwunderung aller« ( R M , 24), wie er einst phantasiert hat, hervortreten würde, sie ist eine — depressive: Indes kam Reisern an diesem Tage alles so tot, so öde vor; die Phantasie mußte zurücktreten — das W i r k l i c h e war nun da — und eben daß nun dies, wovon er so lange geträumt hatte, schon wirklich und nichts weiter als dies war, machte ihn nachdenkend und traurig [ . . . ] er dachte und fühlte die Nichtigkeit des Lebens [ . . . ] . (RM, 322f.) Dieser Zustand ist in der modernen Psychologie als »Erfolgsdepression« bekannt. Sie »tritt paradoxerweise gerade dann auf, nachdem der Patient einen überraschenden Erfolg gehabt hat. Diese Depression ist gewöhnlich das Resultat schwerer unbewußter Schuld- oder Wutgefühle. « 1 3 Auf Rei13
Fredrick C. Redlich / Daniel X. Freedman : Theorie und Praxis der Psychiatrie. Frankfurt/M. 1970. S. 779. 54
sers kindliche Schuld- und Ohnmachtserfahrungen gehen letztlich alle Identitätskrisen des Jugendlichen zurück. Es ist Reiser unmöglich, seiner paradoxen Identitätskrise reflexiv Widerstand zu leisten und die neue identitätsstiftende soziale Rolle des geachteten Schülers zu übernehmen: »bei der heitersten lachendsten Aussicht zog sich das schwarze Melancholische immer wieder wie eine Wolke vor seine Seele.« (RM, 328) Statt realitätsbezogener Selbstreflexion und einer sozialen Lebensform kommt es wiederum zur melancholischen Selbstisolation (Einschränkung) und damit zwangsläufig zu illusorischen Zukunftsphantasien (Ausdehnung): Es fing an, ihm wieder so enge in Hfannover] zu werden, beinahe, wie damals, da ihm die Reise nach Bfraunschweig] zu dem Hutmacher bevorstand. - Alle seine Gedanken fingen allmählich an, ins Weite zu gehn — er träumte sich in eine romanhafte Zukunft hin —. (RM, 330)
In dieser melancholischen Identitätsbewegung ist unschwer das in Reisers Kindheit internalisierte quietistische Glücksverbot zu erkennen. Das Umschlagen der Einschränkung in Ausdehnung steht als Idee der Wiedergeburt im Mittelpunkt der quietistischen Lehre. Entmenschlichung, das Abtöten aller »Eigenheit« (RM, 8), und Vergöttlichung fallen im Ergebnis zusammen. Palingenesiephantasien äußern sich bei Reiser — das religiöse Empfinden ist ihm immer fremd geblieben — in säkularisierter Form. Sie kreisen ständig um eine auratische soziale Identität, um die soziale Wiedergeburt. Reisers Selbstentwürfe bleiben stets abhängig von dem ihm aufgezwungenen quietistischen Lebensgefühl; sie bleiben melancholische Illusion, der keine Realität genügen kann. Hans Joachim Schrimpf bemerkt, daß sich der Palingenesiegedanke im Roman als »fortdauernde Aufbruchstimmung niedergeschlagen«14 habe. Vom Erzähler wird das quietistisch-melancholische Erleben der Wirklichkeit zwar als Reisers identitätszerstörende Krankheit analysiert und kritisiert, jedoch keine Heilung vorgeführt. Die Melancholie vereitelt soziale Identität immer aufs neue, weil Reiser keine persönliche Identität herstellen kann; es gelingt ihm nicht, sich zu akzeptieren. Sein (quietistisches) Ungenügen an sich selbst äußert sich als Selbsthaß (Einschränkung) oder in Form von narzißtischen Omnipotenzphantasien (Ausdehnung). Diese beiden Existenzmöglichkeiten können etwa an Reisers Theatromanie und der Lobenstein-Episode beobachtet werden. 14
Hans Joachim Schrimpf : Moritz. Anton Reiser, S. 118.
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In Hannover führt der illusorische Selbstentwurf des Schauspielers den Romanhelden aus der selbsterzeugten melancholischen Enge und Identitätskrise vorläufig heraus. Anders ergeht es dem Hutmacherlehrling Reiser, dem Ausdehnungsphantasien angesichts realer Zwänge, die kein melancholisches Rückzugsverhalten mehr zulassen, mißlingen. Mit zwölf Jahren beginnt Reiser eine Lehre bei dem Braunschweiger Hutmacher Lobenstein, der die quietistische Lehre instrumentalisiert und durch Drohungen mit der ewigen Verdammnis seine Arbeiter unterdrückt und ausbeutet. Durch Identitätsverleugnung,
»Heuchelei und Verstellung«
(RM, 64) gelingt es Reiser zunächst, bevorzugt behandelt zu werden. Hausintrige und Reisers natürliche Lebhaftigkeit lassen Lobenstein jedoch bald die Uberzeugung gewinnen, der Satan habe » s e i n e n T e m p e l in A n t o n s H e r z e n s c h o n s o weit a u f g e b a u e t , daß er s c h w e r l i c h w i e d e r z e r s t ö r t w e r d e n k ö n n e . « (RM, 71) Die äußeren Verhältnisse werden nun auch real für Reiser immer drückender. Lobenstein »schien zu glauben, da nun mit Antons Seele doch weiter nichts anzufangen sei, so müsse man wenigstens von seinem Körper allen möglichen Gebrauch machen. « (RM, 72) Jedoch sind es nicht primär die harten Arbeitsbedingungen, die Reisers Einschränkungsphantasien in Gang setzen; mit ihnen kann sein auratisches Selbstkonzept noch in phantasiehafte Ubereinstimmung gebracht werden: Das Färben und anschließende Spülen von Hüten in der eiskalten Oker machte, daß Anton beide Hände aufsprangen, und das Blut ihm heraussprützte. Allein statt daß dieses ihn hätte niederschlagen sollen, erhob es vielmehr seinen Mut. Er blickte mit einer Art von Stolz auf seine Hände, und betrachtete die blutigen Merkmale daran, als so viele Ehrenzeichen von seiner Arbeit. (RM, 72)
Die identifikatorische Phantasie versagt erst, als Reiser »eine Last auf d e m R ü c k e n , und zwar einen Tragkorb mit Hüten bepackt, über die öffentliche Straße tragen mußte, indem Lobenstein vor ihm herging — es war ihm, als ob alle Menschen auf der Straße ihn ansähen.« (RM, 101) Sein auratisches Selbstkonzept läßt sich angesichts dieser öffentlich zugeschriebenen Rolle nicht länger aufrechterhalten. Das alte Inferioritätsgefühl und der quietistische Selbsthaß beginnen nach diesem Vorfall selbstzerstörerisch zu arbeiten. Das Einschränkungsgefühl setzt sich in seiner schwarzen Variante (vgl. dagegen joy of grief) durch: Es war ihm denn eine Art von Wonne selbst in das Hohngelächter mit einzustimmen, das er seiner schwarzen Phantasie nach über sich erschallen hörte —
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in einer dieser fürchterlichen Stunden, wo er über sich selbst in ein verzweiflungsvolles Hohngelächter ausbrach, war der Lebensüberdruß bei ihm zu mächtig, er fing auf dem schwachen Brette, worauf er stand, an zu zittern und zu wanken. — Seine Knie hielten ihn nicht mehr empor; er stürzte in die Flut [ . . . ] . (RM,102f.)
Moritz kommentiert den Zustand seines Helden, mehr emotional beteiligt als rational analysierend, folgendermaßen: So war Anton nun in seinem dreizehnten Jahre, durch die besondre Führung, die ihm die göttliche Gnade, durch ihre auserwählten Werkzeuge hatte angedeihen lassen, ein völliger Hypochondrist geworden, von dem man im eigentlichen Verstände sagen konnte, daß er in jedem Augenblick l e b e n d starb. (RM, 90)
Moritz' aufklärerische Distanz und gleichzeitige Verbitterung über das eigene Lebensschicksal kommen an dieser Stelle symptomatisch zum Ausdruck. Es wird deutlich, daß Moritz' eigene melancholisch deformierte Psyche zur Diskussion steht. Hierin ist wohl auch ein wesentlicher Grund für das Scheitern seines aufklärerisch-optimistischen Romankonzepts zu sehen. 4.1.3. Befreiungsversuche. Zum Verhältnis von melancholischer Phantasie und Selbstreflexion Der Aufklärer Moritz glaubt an die identitätsstiftende Kraft der Selbstreflexion. Dies wird deutlich an seinen Beiträgen im »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« und gehört auch zum Programm des »Reiser«. Der Roman will »den Blick der Seele in sich selber schärfen« (RM, 6), einige »Winke« geben, »um sich selbst zu prüfen« (RM, 382), er will zeigen, wie sich durch Selbstreflexion Identitätskrisen »unvermerkt in Harmonie und Wohlklang« (RM, 122) auflösen. Dieses Programm bleibt jedoch uneingelöstes Postulat. Zweierlei verhindert die Gestaltung selbstreflexiv geordneter Erfahrung und damit von Ich-Identität. Zum einen wurde schon deutlich, daß die Fähigkeit zur Selbstreflexion verdrängt wird von der »Einbildungskraft«, die sich regressiv und kompensatorisch als Melancholie und Schwärmerei realisiert. Hierin behauptet sich der autobiographische Gehalt des Romans, nämlich Moritz' eigene melancholische Bewußtseinslage. Aber auch die empirisch-psychologische, Reisers melancholisches Lebensgefühl ursächlich zergliedernde Perspektive bzw. Schreibweise verhindert die ästhetische Konstruktion von Ich-Identität. Mit der beabsichtigten Schaffung von »Harmonie und Wohlklang« stößt 57
Moritz »an die Grenze seiner erfahrungsseelenkundlichen Zuständigkeit.« 1 5 Der Gymnasiast Reiser entdeckt das Lesen als Mittel, »die Ideen in seinem Kopfe« ( R M , 252) zu ordnen. Hat er vorher sentimentale Romane und Rührstücke identifikatorisch gelesen, um die defiziente eigene Existenz zu kompensieren, so liest er nun philosophische Werke (Wolff, Mendelssohn, Spinoza) und macht sich über Shakespeare und Goethes »Werther« mit dem Lebensgefühl des Sturm und Drang vertraut. Hat jene Lektüre der autosuggestiven Erzeugung illusionärer Selbstkonzepte gedient, so scheint diese Klärung der eigenen Umstände zu ermöglichen und Orientierungswissen zu vermitteln. Reiser ist nun »minder unglücklich, weil seine Denkkraft angefangen hatte, sich zu entwickeln. — W o er ging und stund, da m e d i t i e r t e e r jetzt, statt daß er vorher bloß p h a n t a s i e r t hatte. « ( R M , 254) Gleichwohl irrt er »ohne Stütze und ohne Führer in den Tiefen der Metaphysik umher. « ( R M , 255) Unverkennbar ist, daß Reisers quietistisch-wirklichkeitsflüchtige Grundstimmung auch hier die realitätsbezogene und -ordnende Kraft der Selbstreflexion einholt und zunichte macht. Das alte Problem der Orientierungslosigkeit stellt sich von neuem. Reiser bleibt hin- und hergerissen zwischen Einschränkungs- und Ausdehnungsstimmungen. In solchen Zuständen, die schon sprachlich ihren quietistischen Ursprung signalisieren, erscheint ihm sein Dasein als »ein Werk des schrecklichen blinden Ohngefährs« ( R M , 278), wandert er »mühsam über die d ü r r e H e i d e « , wird ihm »die einsamste Wüste« ( R M , 277) wünschenswert. Mit einem Wort, er weiß nicht, wo er »nun in dieser großen ö d e n Welt festen Fuß fassen« ( R M , 275) soll. Reiser beginnt seine Melancholie, ein »Gefühl der A u s d e h n u n g und E i n s c h r ä n k u n g unsers Wesens« ( R M , 290) zu reflektieren. D o c h ist »seine Denkkraft noch nicht geübt und nicht stark genug, sich die aufsteigenden Bilder der Phantasie gehörig unterzuordnen«. ( R M , 290) Sie wird es bis zum Romanende nicht sein. Reisers Fähigkeit zur Selbstreflexion weicht der anstrengenden Identitätsarbeit stets durch die Flucht in Einschränkungs· und Ausdehnungsphantasien aus. Shakespeare- und Wertherlektüre dienen schon bald wieder der Erzeugung eines auratischen Selbstgefühls, das ihn »über alle seine Verhältnisse erhaben« ( R M , 295) macht: Und
15
Hans-Jürgen Schings: Agathon — Anton Reiser — Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.), Goethe im Kontext. Tübingen 1984. S. 60. 58
das verstärkte Gefühl seines isolierten Daseins, indem er sich als Wesen dachte, worin Himmel und Erde sich wie in einem Spiegel darstellt, ließ ihn, stolz auf seine Menschheit, nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen sein, das er sich in den Augen andrer Menschen schien. (RM, 295)
Auch Reisers Einschränkungs- und Inferioritätsgefühle reproduzieren ungebrochen den alten Zwang: Es war die unverantwortliche Seelenlähmung durch das zurücksetzende Betragen seiner eignen Eltern gegen ihn, die er von seiner Kindheit an noch nicht hatte wieder vermindern können. - Es war ihm unmöglich geworden, jemanden außer sich, wie s e i n e s g l e i c h e n zu betrachten — jeder schien ihm auf irgendeine Art w i c h t i g e r , b e d e u t e n d e r in der Welt, als er, zu sein — daher deuchten ihm Freundschaftsbezeigungen von andern gegen ihn immer eine Art von H e r a b l a s s u n g — weil er nun g l a u b t e , v e r a c h t e t w e r d e n zu k ö n n e n , so wurde er wirklich verachtet [...]. (RM, 368f.)
Die melancholische Identitätsbewegung, die auf Vernichtung persönlicher und sozialer Identität und gleichzeitig auf Schaffung einer illusionären auratischen Identität zielt, beherrscht als internalisierter und säkularisierter quietistischer Zwang Reisers Identitätssuche.
4.2. Illusion statt Utopie. Zum fragmentarischen Schluß des »Anton Reiser« Mit Moritz' empirischer Analyse ist kein utopischer literarischer Entwurf vereinbar. Im Roman wird die »richtige« Lebensordnung nur negativ, durch Kritik der »falschen« angedeutet. Es geht Moritz auch um etwas anderes: Nicht die sozialen Verhältnisse gehören zum thematischen Zentrum des Romans, sondern die melancholische Identitätsbewegung des Helden und die ihr zugrundeliegende Erziehung interessieren ihn vor allem. Sie verhindern Ich-Identität unter allen Umständen und erfüllen so psychisch ein Leben lang das quietistische Melancholiegebot der Kindheit. Reiser imaginiert in der melancholischen Ausdehnungsbewegung illusorische Selbstentwürfe, die in keiner möglichen sozialen Realität Gestalt gewinnen könnten. In der Einschränkungsbewegung wird komplementär dazu jede mögliche soziale Identität melancholisch uminterpretiert und 59
bestritten. In eine melancholische Verstimmung 16 fällt Reiser auch dann, wenn die äußeren Verhältnisse befriedigend sind und es das Schicksal einmal gut mit ihm meint. Dies ist etwa der Fall am Hannoverschen Gymnasium. Die allgemeine Achtung, sogar die seines Vaters, die ihm hier entgegengebracht wird, kann er nur als »glänzendes Elend« (RM, 354) empfinden. Die kleinsten Vorfälle erzeugen gleich Gefühle der »Vernichtung«, der »Lähmung« oder des »lästigen Seins«. So setzt auch der Erfolg die alles Reale buchstäblich »vernichtende« quietistische Phantasie in Gang — das wirkliche Leben in Hannover, »das A l l z u b e k a n n t e d o r t d e u c h t e ihm so fade.« (RM,341) Wieder treten statt der Selbstreflexion Einschränkungsphantasien zusammen mit denen der Ausdehnung auf. Schließlich erlöst sich Reiser von der frühkindlich-archaischen depressiven Sanktion gegen den Erfolg (Einschränkung) durch ursprünglich ebenfalls religiös eingeübte soziale Schwärmerei (Ausdehnung). Das Theater nährt nun die Hoffnung auf soziale Wiedergeburt, auf das Zurücklassen realer Verhältnisse: »Theater — und reisen — wurden unvermerkt die beiden herrschenden Vorstellungen in seiner Einbildungskraft, woraus sich denn auch sein nachheriger Entschluß erklärt.« (RM, 342) Inferioritätsgefühl und Geltungsdrang sind komplementäre Gefühlszwänge, die sich periodisch als säkularisierter quietistischer Strafmechanismus gegen die Realität glücklicher Umstände richten. Reiser empfindet einen paradoxen »Trieb nach V e r ä n d e r u n g seiner Lage, und die Begierde, sich auf irgendeine Weise, sobald wie möglich, öffentlich zu zeigen, um Ruhm und Beifall einzuernten«. (RM, 364) Anders als in den »Lehrjahren« ist die Theaterleidenschaft des Helden keine bloße Verirrung, sondern geradezu notwendige Folge seiner Erziehung. Moritz hebt in der Vorrede zum vierten Teil des Romans hervor, »daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wordurch er von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdrängt wurde«. (RM, 382) Moritz' analysierender,
16
»Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert. « Sigmund Freud : Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke Bd. X. 1913—1917. Frankfurt/M. 3. Aufl. 1963. S. 429.
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erfahrungsseelenkundlicher Zugriff deckt zwar soziale Ursachen und die psychische Geschichte von Reisers Melancholie und seinen illusionären Selbstkonzepten auf, er leistet aber keinen ästhetisch-konstruktiven Gegenentwurf. Als Reiser »mit reizenden Aussichten auf Ruhm und Beifall« (RM, 498) der Speichschen Truppe nach Leipzig nachreist, ist diese schon »eine zerstreute Herde«. (RM, 499) Mit diesem Satz bricht der Roman ab. Moritz glaubt bis zuletzt, einen geschlossenen
Identitätsroman
schreiben zu können. In der Vorrede zum 1790 veröffentlichten vierten Teil heißt es: »Widerspruch von außen und von innen war bis dahin sein ganzes Leben. — Es kömmt darauf an, wie diese Widersprüche sich lösen werden!« (RM, 383) Die Zuversicht des Ausrufungszeichens bleibt uneingelöst. Reisers Selbstwahrnehmung und -darstellung bleiben bis zuletzt von seiner kleinbürgerlich-quietistischen Erziehung geprägt. Sie realisiert sich psychisch als melancholisches und illusionäres Verhältnis zur Wirklichkeit. Selbstreflexion wird von der Melancholie in Dienst genommen und richtet sich nicht auf die äußere Realität, sondern erkennt und bestätigt in allen äußeren Verhältnissen nur die kindliche Erfahrung der »Seelenlähmung«, der »Vernichtung« und der »Enge«. Reiser bleibt in jeder möglichen sozialen Realität unfrei, melancholisch vermittelter Wirklichkeitswahrnehmung, einem illusionär-narzißtischen Selbstkonzept und dem Haß auf das empirische Ich zwanghaft unterworfen. Die von Moritz intendierte Objektivierung des autobiographischen Gehalts (Er-Form, Symbolik, Harmoniewille) ist zweifellos mißlungen. Der Roman hat keinen organischen, in seiner Abfolge notwendigen Zusammenhang; er bleibt Fragment. Seine Episoden bringen keinen Fortschritt, weil Reisers Melancholie in jeder Lebensetappe erneut nur die alte Gewalt, die ihm als Kind angetan wurde, reproduziert. Zudem arbeiten die eigene Betroffenheit sowie die analytisch-erfahrungsseelenkundliche Zergliederung des wirklichen Geschehens dem Harmonieund Stilwillen des Autors entgegen. In der unerreichten Ich-Identität und dem hoffnungslosen Schluß liegen aber auch die Wahrhaftigkeit des Romans (Moritzens) und so etwas wie Kritik an den »falschen« sozialen Verhältnissen. Nicht zuletzt das Unharmonische macht jene Modernität aus, die Adorno meint, wenn er sagt: Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat vom Stil nicht abzulösen; doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, der fragwürdigen Einheit von Form und Inhalt, Innen und Außen, 61
Individuum und Gesellschaft, sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität. 17
17
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt/M. 1977(1947). S. 117. 62
5. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre
Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.1 Wenn es so etwas wie ein Programm der »Lehrjahre« gibt, so ist es in nuce diese Äußerung Friedrichs am Romanende. Die Kontingenz der Lebensgeschichte des Helden wird durch glückliche Fügungen, das merkwürdige pädagogische Interesse einer geheimen Gesellschaft sowie die symbolische Werkstruktur 2 beseitigt. Meisters Identitätssuche stellt sich im Roman als individuelles Telos heraus, dem Goethe selbst ein wenig ratlos gegenübersteht: Es gehört dieses Werk übrigens zu den inkalkulabelsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches, mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet [ . . . ] . Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange.3 Ein größerer Gegensatz zu der melancholisch gestörten Identitätsgeschichte eines Anton Reiser als die von vornherein entelechisch gesicherte 1
2
3
Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. VII. 9. durchgesehene Ausg. München 1977. S. 610. Nach dieser Ausgabe ( = HA) wird im folgenden zitiert. Vgl. Gesprächsaufzeichnung des Kanzlers v. Müller, 22. Januar 1821. In: J. W. v. Goethe, Gedenkausgabe, Briefe und Gespräche. Bd. 23. Hrsg. von Ernst Beutler. 2. Aufl. Zürich 1966. S. 119. Es mache Goethe »Freude und Beruhigung zu finden, daß der ganze Roman durchaus symbolisch sei, daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeineres, Höheres verborgen liege.« Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. In den letzten Jahren seines Lebens. Gedenkausgabe Bd. 24. Hrsg. von Ernst Beutler. 3. Aufl. Zürich 1976. S. 141f. 63
Selbstvollendung Wilhelm Meisters läßt sich kaum denken. Der idealisierende Harmoniewille der deutschen Klassik ist in den »Lehrjahren« unübersehbar. Karl Schlechta hebt diesen Umstand polemisch hervor: Er entwickelt sich — gewiß; aber auf eine geheimnisvolle Weise wird er auch immer weniger: er verliert an Farbe und Kontur, an Bestimmtheit in jeder Hinsicht, an Wärme und Überzeugungskraft; seine Gestalt, seine Empfindungs- und Ausdrucksweise verliert sich — wir merken das besonders, wenn er da und dort wieder einmal in den alten Ton zurückfällt. Aus einem lebendigen und in seiner Lebendigkeit unverwechselbaren Menschen wird beinahe ein Begriff, ein »Ideal«. [ . . . ] Die Komik seiner immer fortschreitenden Perfektion schneidet uns ins Herz. Es ist oft, als schritte er als idealisierter Doppelgänger hinter seiner eigenen Leiche einher.4
Thema der »Lehrjahre« ist die das ganze 18. Jahrhundert prägende Antinomie zwischen bürgerlichem Selbstbewußtsein und versagter gesellschaftlicher Wirkung, die scharfe Trennung privater und öffentlicher Daseinsformen. Wie für Reiser sind es daher auch für Meister beim Theater buchstäblich die Bretter, die die Welt bedeuten. Anders als für Reiser ist das Theater für Goethes Helden jedoch nur eine Durchgangsstation, nach deren Uberwindung er durch das Zusammentreffen verschiedener märchenhaft· glücklicher Umstände Ich-Identität erreicht. Von diesem Endpunkt her ist Goethes Roman zu verstehen. Anders als im »Reiser« wird die Identitätssuche des Helden literarisch nicht realistisch-analytisch organisiert; sondern all die mehr oder weniger unzusammenhängenden Geschehnisse des Romans werden vom erreichten Ziel her in einen symbolischen Sinnzusammenhang gestellt. »Zufälle«, »Irrtümer« und »Täuschungen« werden so vom Schluß her motiviert und erweisen sich als notwendige Erfahrungen. Der Einfluß der Turmgesellschaft bleibt durch Romanfiguren und symbolische Vorausdeutungen immer gegenwärtig, Identitätskrisen verlaufen gemäßigt, immer bleibt Meister in existenzsichernde familiäre Beziehungen eingebunden, überhaupt scheint die soziale Realität für den Romanhelden gemacht zu sein. All dies macht die Identitätssuche in den »Lehrjahren« zum Idealtyp eines freien Spiels in einem »psychologischen Moratorium«, das nach Erik H. Erikson jede Gesellschaft ihrer Jugend gewährt, und »in dessen Rahmen die Extreme subjektiven Erlebens, die Alternativen ideologischer Ausrichtung und die Möglichkeiten realistischer Verpflichtung erst spielend und dann in ge-
4
Karl Schlechta: Goethes Wilhelm Meister. Frankfurt/M. 1985 (1953). S. 186f.
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meinschaftlicher Bemeisterung erprobt werden können.« 5 Das glückliche Ende der Identitätssuche steht in den »Lehrjahren« von vornherein fest. In der Verbindung organologischer und neuhumanistischer Vorstellungen liegt die Einmaligkeit des Goetheschen Konzepts eines Identitätsromans; auf dieses trifft der Begriff des Bildungsromans zu — aber nur hierauf. Bildung hat im 18. Jahrhundert eine ähnlich emphatische Bedeutung wie Aufklärung, wird aber von Goethe durchaus nicht in einem aufklärerischen Sinne bestimmt. Bildung ist für ihn organische Entfaltung menschlicher Natur, nicht aber Prozeß und Ergebnis vernunftbegründeter Reflexion. Eckermann erinnert sich an eine Äußerung Goethes zu diesem Problemzusammenhang: Das Gespräch lenkte sich auf [ . . . ] die Frage: wie das Sittliche in die Welt gekommen? »Durch Gott selber«, erwiderte Goethe, »wie alles andere Gute. Es ist kein Produkt menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angeborene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern.'
Gleichwohl ist Goethes organologisches Bildungskonzept nicht ausschließlich individualistisch zu verstehen. Gesellschaftlichkeit ist hier unabdingbare Voraussetzung für Individualität; beides fällt in der neuhumanistischen Idee der Universalgesellschaft zusammen. In ihr erst stellt sich »die unendliche Mannigfaltigkeit menschlicher Züge, deren Verbindung in Einem Individuum unmöglich ist, gesellschaftlich« 7 dar. Dieselbe neuhumanistische Vorstellung gehört auch zu Goethes Bildungsbegriff: Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. [ . . . ] Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. (HA, 552)
Bildung heißt in den »Lehrjahren« Ent-wicklung angeborener Fähigkeiten und organische Einfügung des Individuums in eine Gesellschaft im Zustand prästabilierter Harmonie.
5 6 7
Erik H. Erikson: Das Problem der Ich-Identität, S. 212. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 614. Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert. In: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Werke in 5 Bd. Hrsg. von Andreas Flitner u. Klaus Giel. Bd. I. Darmstadt 1960. S. 386.
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5.1. Der passive Held In seinem Beitrag zur Romantheorie (im fünften Buch der »Lehrjahre«) bestimmt Goethe die Haltung des Romanhelden als »leidend, wenigstens nicht im hohen Grad wirkend«. ( H A , 307) Der oft kritisierten Passivität Wilhelm Meisters liegt ein neuer, antiaristotelischer Handlungsbegriff zugrunde, der als entscheidende Voraussetzung des Identitätsromans gelten darf. Definiert wurde er von Lessing, Engel, Wezel und Blanckenburg als »innere Handlung«. Am prononciertesten spricht vielleicht Johann Jakob Engel diese neue Sichtweise aus: Der eigentliche Schauplatz aller Handlung ist die denkende und empfindende Seele: und die körperlichen Veränderungen gehören nur in so ferne mit in die Reihe, als sie durch die Seele, als Zeichen von den Absichten und Bewegungen einer andern Seele, Begriffe und Entschlüsse hervorbringen, oder irgend einen andern zur Handlung gehörigen Eindruck auf sie machen.8 An der orientierungslosen Passivität Wilhelm Meisters — Goethe hat ihn deshalb einmal einen »armen Hund« 9 genannt — besteht kein Zweifel; doch ist es ein Mißverständnis, deswegen die Individualität und den Eigenwert des Romanhelden anzuzweifeln. Wolfgang Kayser tut es. Für ihn sind die »Lehrjahre« kein Figuren-, sondern ein Raumroman (wie der Pikaro-Roman!). Die Passivität des Helden, seine Bildsamkeit also, widerspreche dem Charakter des Bildungsromans: Wie unbestimmt, unfest, biegsam bleibt auch Goethes Wilhelm Meister. Erst durch die mißdeutenden Ratschläge des unepischen Schiller kam Goethe dazu, seinem Helden zugleich eine Entwicklung nachzusagen (aber auch nur das).10 Passivität, Orientierungslosigkeit, »Biegsamkeit« und Identitätsverwirrung des Romanhelden sind konstitutive Voraussetzungen für den Identi-
Johann Jakob Engel: Über Handlung, Gespräch und Erzehlung (1774). In: Dieter Kimpel / Conrad Wiedemann (Hrsg.), Theorie und Technik des Romans im 17. und 18. Jahrhundert. Bd. I. Tübingen 1970. S. 127. ' »Wilhelm ist freilich ein armer Hund, aber nur an solchem läßt sich das Wechselspiel des Lebens und die tausend verschiedenen Lebensaufgaben recht deutlich zeigen, nicht an schon abgeschlossenen festen Charakteren.« Gesprächsaufzeichnung des Kanzlers v. Müller, 22.1.1821. In: J. W. v. Goethe, Gedenkausgabe, Briefe und Gespräche. Bd. 23. Hrsg. von Ernst Beutler. 2. Aufl. Zürich 1966. S. 119. 10 Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. 16. Aufl. Bern 1973. S. 364. 8
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tätsroman, die als gleichsam vollwertiges soziales Handeln verstanden werden müssen. Max Weber definiert: »Handeln« soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. »Soziales« Handeln aber soll solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist." In diesem Sinn handelt der Held des Identitätsromans. Er zeichnet sich durch einen gleichermaßen hohen Grad an (äußerer) Passivität wie (innerem) Identitätsbewußtsein aus.
5.1.1. Liebe. Aktivierung von Identitätswünschen Er glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen, aus dem er schon so lange sich zu retten gewünscht hatte. (HA, 35) Meister will die Schauspielerin Mariane heiraten und zum Theater gehen. Der Erzähler kommentiert diesen Entschluß mit ironischem Lächeln: Nun dachte er sich in den Armen seiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf dem blendenden Theatergerüste; er schwebte in einer Fülle von Hoffnungen, und nur noch manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nachtwächters, daß er noch auf dieser Erde wandle. (HA, 43) Mit erwachtem und von der Liebe verrücktem Selbst-Bewußtsein will Meister sein illusorisches Selbstkonzept realisieren und sich gleichzeitig gegen die Lebensform der Eltern abgrenzen. Die erfahrene Mariane weiß, wie bodenlos Meisters Realisationsgewißheit ist, schlägt sie sich selbst doch nur mit der Hilfe ihres Liebhabers Norberg durch. Als Meister von dessen Existenz erfährt, bricht sein erster großer Selbst- und Lebensentwurf angesichts realer Verhältnisse zusammen. Zur Selbstreflexion, d. h. zur realitätsbezogenen Verarbeitung seiner Identitätskrise unfähig, flüchtet Meister sozusagen ersatzweise in die Krankheit und das der Jugend eigene Pathos des Leidens: »Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal des Jammers und der
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Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Hrsg. von Johannes Winkelmann. 1. Halbband. 5. Aufl. Tübingen 1976. S.l. 67
Tränen.« (HA, 78) Meister bleibt zwischen selbstquälerischen Stimmungen und selbstvergessener Flucht in die Geschäftigkeit hin- und hergerissen: »So hatte sich denn unser Freund völlig resigniert und sich zugleich mit großem Eifer den Handelsgeschäften gewidmet. « (HA, 79) Statt mit der gemachten Erfahrung eigene Zukunftsentwürfe zu modifizieren, realitätshaltiger zu machen, werden diese von Meister insgesamt verworfen, wodurch seine »stumme Verzweiflung« (HA, 79) und Orientierungslosigkeit noch verstärkt werden. Die Liebe, seine Dichtungsversuche und Theaterleidenschaft, seine ganze Person stellt Meister selbstzerstörerisch in Frage. Der berufliche Eifer kann seine Umwelt und ihn selbst nicht lange über eine äußerste Identitätsverwirrung hinwegtäuschen, die schließlich von außen beendet wird: Wilhelm wird vom Vater auf eine geschäftliche Reise geschickt. Schon beim Verlassen des Elternhauses schlägt die verzweifelte Stimmung in eine heitere Naturschwärmerei um: Er fühlte sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit völliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem »Pastor fide«, vor, die an diesen einsamen Plätzen scharenweise seinem Gedächtnisse zuflössen. (HA, 87) Das Abenteuer der Identitätssuche beginnt beinahe selbst so harmlos wie ein Schäferspiel — es kann nicht übel ausgehen. Vorläufig wird Meisters Identitätskrise durch äußere Umstände beiseite geschoben, wenn auch nicht gelöst. 5.1.2. Bohème. Verstohlene Wunschbefriedigung Wilhelm macht Rast in einem Städtchen, in dem er in den Kreis Philines und anderer brotloser Schauspieler (Laertes, Melina) gezogen wird. Der Kontrast zum vertrauten kaufmännisch-bürgerlichen Milieu wird noch verstärkt durch Mignon, ein androgynes Kind, das Wilhelm Schaustellern abgehandelt hat, und den todtraurigen Harfner. Die alten, verdrängten Wünsche, das Theater und die Liebe (Philine), üben ihre vorläufig noch uneingestandene Faszination wieder aus. Wilhelm läßt sich, wenn auch schlechten Gewissens, auf das neue Abenteuer ein, schießt Melina sogar von dem ihm anvertrauten Geld etwas vor, so daß dieser Kostüme auslösen und wieder Theater spielen kann. Seine verdrängten sexuellen und sozialen Realisationswünsche halten ihn zunächst gegen seinen Willen hier und verursachen eine neuerliche Identitätskrise, weil »das Verdrängte 68
einen kontinuierlichen Druck in der Richtung zum Bewußtsein hin« 12 ausübt. Das krampfhaft angenommene Selbstkonzept des Kaufmanns beginnt erneut fragwürdig zu werden, mit ihm aber auch die gegenwärtigen Bestrebungen: Er erinnerte sich der Zeit, in der sein Geist durch ein unbedingtes hoffnungsreiches Streben emporgehoben wurde, wo er in dem lebhaftesten Genüsse aller Art wie in einem Elemente schwamm. Es ward ihm deutlich, wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war, in welchem er nur noch schlürfend kostete, was er sonst in vollen Zügen eingesogen hatte; aber deutlich konnte er nicht sehen, welches unüberwindliche Bedürfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte, und wie sehr dieses Bedürfnis durch Umstände nur gereizt, halb befriedigt und irregeführt worden war. (HA, 141f.) Vergeblich versucht Meister sich aus seiner Identitätsverwirrung »herauszudenken«, gerät aber eben dadurch »in die größte Verwirrung«. (HA, 142) Zwanghaft wird er in »einer Gesellschaft festgehalten [...], in welcher er seine Lieblingsneigungen hegen, gleichsam verstohlen seine Wünsche befriedigen und, ohne sich einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Träumen nachschleichen konnte.« (HA, 142) Als sich Meister mit der neugegründeten Theatertruppe im Schloß eines Grafen aufhält, trifft er mit dem Adligen Jarno zusammen, der rücksichtslos Reflexionshilfe leistet: »Es ist schade, daß Sie mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse spielen.« (HA, 175) In dessen Gesellschaft fängt Meister zwar »an zu wittern, daß es in der Welt anders zugehe, als er es sich gedacht« (HA, 180), doch kann ihn Jarno mit seiner unpädagogischen Direktheit nicht zur Aufgabe seiner »verstohlenen« Identitätswünsche bewegen. Vorläufig bleibt, von Jarno vermittelt, Shakespeare das einzige Bildungserlebnis. Vor allem identifikatorische Hamlet-Phantasien initiieren Selbstreflexion und führen zum Vergleich mit eigenen Erfahrungen: Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die mich von Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakespeares Stücken erfüllt und entwickelt. [...] Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespeares Welt getan, reizen mich mehr als irgend etwas andres, in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun f...]. (HA, 192) Von der »wirklichen Welt« hat Jarno allerdings profanere Vorstellungen als Wilhelm. Statt vom Schicksal redet er vom »tätigen Leben«, statt vom 12
Sigmund Freud: Die Verdrängung (1915). In: S. F., Werkausgabe in 2Bdn. Hrsg. von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis. Bd. 1 : Elemente der Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1978. S. 439. 69
Theater von einer Stellung beim Militär. Jarno versùcht Meisters illusorischen Zukunftsentwurf, »aus dem großen Meere der wahren Natur wenige Becher zu schöpfen und sie von der Schaubühne dem lechzenden Publikum (s)eines Vaterlandes auszuspenden« (HA, 192), durch realistischen Weltbezug zu korrigieren. Seine Reflexionshilfe verfehlt aber ihr Ziel, Wilhelm zur Aufgabe seines bohèmehaften Lebens zu bewegen. Sie erreicht im Gegenteil, daß Meister die psychischen Widerstände gegen seine »verstohlenen« und verbotenen Identitätswünsche aufgibt und sich entschließt, beim Theater zu bleiben und wie bisher weiterzuleben. In Jarno begehrt Meister gegen das väterliche Uber-Ich auf. Wieder bestimmt die Phantasie Meisters Verhältnis zur Wirklichkeit: Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er seinem Talent schuldig war, die Gunst der Großen, die Neigung der Frauen, die Bekanntschaft in einem weiten Kreise, [ . . . ] die Hoffnung für die Zukunft bildeten ein solches wunderliches Luftgemälde, daß Fata Morgana selbst es nicht seltsamer hätte durcheinander wirken können. (HA, 206f.)
Das illusorische Wirklichkeitsverhältnis erreicht seinen Höhepunkt nach der Episode auf dem Grafenschloß während einer abenteuerlichen Reise der Theatertruppe. Wilhelm genoß ein nie gefühltes Vergnügen. Er konnte hier eine wandernde Kolonie und sich als Anführer derselben denken. In diesem Sinne unterhielt er sich mit einem jeden und bildete den Wahn des Moments so poetisch als möglich aus. (HA, 223)
Die Unhaltbarkeit dieses Selbstkonzeptes wird symbolisch durch einen Uberfall, der die Theatertruppe in alle Winde zerstreut, demonstriert. Wilhelm bleibt unverletzt zurück. In höchster Not erreicht ihn jedoch unerwartete Hilfe und dazu eine schöne Zukunftsaussicht in Gestalt der Amazone (Natalie). Abermals wird der Leser vor allen weiteren Verwicklungen des glücklichen Ausganges von Wilhelms abenteuerlicher Bildungsodyssee versichert. Nach dem Uberfall liegt Meister genesend im Bett. Er hofft vergebens auf einen Zufall, der ihn aus seiner quälend ungewissen Lage und Identitätskrise herausführte. »Der Faden seines Schicksals hatte sich so sonderbar verworren; er wünschte die seltsamen Knoten aufgelöst oder zerschnitten zu sehen.« (HA, 241) Selbstreflexiv gelingt ihm dies nicht. Das Grübeln und die erzwungene Untätigkeit verstärken nur noch die Verwirrung, so daß er sich schließlich mit schlechtem Gewissen in die ihm vom Vater übertragenen Geschäfte, in die Rolle des Kaufmanns flüchtet. Wil70
helm reist mit dem Vorsatz ab, »nicht etwa planlos ein schlenderndes Leben fort(zu)setzen« (HA, 238), ohne daß er seine Bohème-Erfahrung reflektiert und verarbeitet hätte. Deshalb bleiben seine Vorsätze fragwürdig; sie bringen Wilhelm nicht weiter, wie sich bald herausstellen soll. Meister geht auch aus den noch folgenden Identitätskrisen ohne eigentliche und eigene, d. h. psychisch geordnete Erfahrung hervor. Selbstreflexion und Neustrukturierung von Erfahrungen werden durch Fremdbeurteilung, identifikatorische Phantasie, glückliche Umstände, vor allem aber durch den Erzähler und die symbolische Werkstruktur gleichsam stellvertretend geleistet. Auf diese Weise werden die Erfahrungen des Helden sinnhaft strukturiert, ohne daß sich das in seinem Bewußtsein widerspiegelte. Identitätssuche wird nicht als offenes Experiment der (außerästhetischen) Wirklichkeit nachgebildet, ihr schließliches Gelingen steht vielmehr von vornherein fest. Als einer der ersten hat dies Friedrich Schlegel in seiner »Meister«-Besprechung festgestellt: Lernen muß er überall können, und auch an prüfenden Versuchungen wird es ihm nie fehlen. Wenn ihm nun das günstige Schicksal oder ein erfahrner Freund von großem Uberblick günstig beisteht und ihn durch Warnungen und Verheißungen nach dem Ziele lenkt, so müssen seine Lehrjahre glücklich endigen.13 Angesichts diffuser, auf phantasieerzeugte soziale Rollen bezogener Selbstkonzepte kann schlechterdings von einer realitätsbezogenen selbstreflexiven Identitätsbewegung nicht die Rede sein. Ich-Identität wird vielmehr von außen (dem Turm) und ferner symboüsch vermittelt; vor allem aber stellt sie sich durch organische Entfaltung eines individuellen Telos her, d. h. durch schicksalhafte »Zufälle« und gleichsam von allein. Hierin ist m. E. das Charakteristische der Werkstruktur zu sehen. Schillers Bemerkung über Meisters »Hang zum Reflektieren«, daß er »jedes dunkle Gefühl in einen Begriff und Gedanken« 14 verwandle, kann am Romantext kaum bestätigt werden. In seinem Bildungskonzept hat Goethe präformations- und mileutheoretische Annahmen verknüpft. Für die Vermittlung dieser beiden im 13
14
Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler, unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Bd. : Charakteristiken und Kritiken I (1796— 1801). Zürich 1967. S. 129. Brief an Goethe vom 5. Juli 1796. In: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. Bd. 20. 2. Aufl. Zürich 1964. S. 195. 71
18. Jahrhundert meist kontrovers diskutierten Entwicklungstheorien stehen in Deutschland vor allem die Namen Herder und Johannes N. Tetens. Auf diesen wenig genannten Philosophen weist Ernst Leopold Stahl hin: Tetens entwickele maßgeblich die fundamentale Konzeption der humanitätsphilosophischen Bildungsidee, welche die Anschauungen der Ausbildung und der Anbildung verknüpft, daher auf das »innere Bildungsprincip« nicht weniger Gewicht legt, als auf die »äußern Ursachen«. Daß Tetens ebenso wie Herder und Goethe diese Verbindung unternommen hat, berechtigt uns dazu ihn unter diejenigen zu stellen, durch welche die Bildungsidee zu ihrer spezifisch humanitätsphilosophischen Form konstituiert wurde. 15
Charakteristisch für diese Bildungsidee ist auch das Denken in organologischen Kategorien. Paradigma ist die Pflanze; die Bildung Wilhelm Meisters kann daher vor allem über Goethes morphologisches Denken verstanden werden. Die Metamorphose des Menschen verwirklicht sich im Einzelindividuum wie im Gattungsindividuum: Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt ab mit der Blüte und dem Samen. [ . . . ] Was so bei einzelnen geschieht, geschieht auch bei ganzen Korporationen, f . . . ] So bringt ein Volk seine Helden hervor [ . . . ] . "
Dabei hängt in der einzelnen Lebensgeschichte vieles vom Zufall ab, der sich im Gelingen gleichwohl als notwendig erweist. So irre sich Wilhelm, hebt der Abbé (dessen Entwicklungs- und Erziehungstheorie Goethes Auffassung wiedergibt) hervor, wenn er glaube, von seinem Bohème-Erlebnis sei nichts »Übriggeblieben«, denn »alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei«. (HA, 422) Der Zufall erweist sich zwar vom Ende der Bildungsgeschichte her als notwendig, entbindet das Individuum aber nicht von der Selbst-Verantwortung und Identitätsarbeit. Schon im ersten Buch widerspricht der Fremde (als einer der Emissäre des Turms) Meisters Schicksalsglauben: Leider höre ich schon wieder das Wort Schicksal von einem jungen Manne aussprechen, der sich eben in einem Alter befindet, wo man gewöhnlich seinen lebhaften Neigungen den Willen höherer Wesen unterzuschieben pflegt. [ . . . ] Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen [...]. (HA, 71) 15
16
Ernst Leopold Stahl: Die religiöse und humanitätsphilosophische Bildungsidee und die Entstehung des deutschen Bildungsromans im 18. Jahrhundert. Bern 1934. S. 88. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, S. 314.
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Mit Vernunft ist bei Goethe jedoch keineswegs die Fähigkeit zur Selbstreflexion gemeint. Daß er ihr keine identitätsstiftende Kraft beimißt, hängt mit seinem praxisbezogenen und anschaulichen Denken zusammen, das er selbst oft betont hat. In seinen »Maximen und Reflexionen« ist zu lesen: »Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist.« 17 In diesem Denken liegt das Entsagungskonzept begründet, wie es sich schon in den »Lehrjahren« andeutet. Goethes Bildungsidee ist von Kants oder Schillers Vorstellung einer Reflexions-Identität weit entfernt. Bildung ist bei ihm auch kein moralisch-normativer Begriff wie etwa bei Wieland; gleichwohl bezieht sie sich auf eine idealistische Anthropologie, die aber nicht aus einer philosophischen Idee »des Menschen« abgeleitet, sondern in den »Lehrjahren« symbolisch und als organologisch-individuelles Telos realisiert wird. Goethe geht, anders als Wieland, von einer nicht weiter begründbaren Entfaltung natürlicher Anlagen sowie der kalkuliert irrationalen Vorstellung einer individuellen Bestimmung aus.
5.1.3. Theater. Kunst als Lebensform Bevor Meister die Kaufmannsgeschäfte wieder aufnimmt, besucht er den Theaterdirektor Serlo, um dort ein Engagement für Melina und die anderen Schauspieler »seiner« Truppe zu erwirken. Sofort lebt er wieder ganz in der Welt des Theaters: »Zum erstenmal seit langer Zeit fand sich Wilhelm wieder in seinem Elemente.« (HA, 243) Um Wilhelm zu halten, nährt Philine dessen gerade verdrängte18 Schauspielerphantasien. Sie gibt ihm zu verstehen, daß sie gewiß überzeugt sei, er werde nunmehr sein Talent nicht länger vergraben, sondern unter Direktion eines Serlo aufs Theater gehen. Sie konnte die Ordnung, den Geschmack, den Geist, der hier herrsche, nicht genug rühmen, sie sprach so schmeichelnd zu unserm Freunde, so schmeichelhaft von seinen Talenten, daß sein Herz und seine Einbildungskraft sich ebensosehr diesem Vorschlage näherten, als sein Verstand und seine Vernunft sich davon entfernten. (HA, 250)
17
18
Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. Gedenkausgabe. Bd. 9. 2. Aufl. Zürich 1962. S. 554. Freuds Charakterisierung der Verdrängung als »Mittelding zwischen Flucht und Verurteilung« bezeichnet genau Meisters psychische Lage. Vgl. Sigmund Freud: Die Verdrängung, S. 85.
73
In Meister bricht der unbewältigte Konflikt zwischen dem Selbstkonzept des Kaufmanns und dem des Schauspielers erneut auf. Zur selbstreflexiven Abarbeitung der neuen alten Identitätsverwirrung ist Meister nicht fähig. Wieder hofft er auf glückliche Umstände, auf »irgendein Ubergewicht von außen«. (HA, 276) Die Identitätswünsche schwanken »noch hin und wider«. (HA, 277) Meister entscheidet sich schließlich für das Theater — ein notwendiger und bildender Irrtum, wie sich später im Vergleich mit dem »arbeitsamen Hypochondristen« Werner (HA, 499) herausstellen wird. Den Ausschlag für die Entscheidung gibt in der Tat ein »Übergewicht von außen«, nämlich der Tod des Vaters. Wie vage und wenig realitätsbezogen Meisters Entschluß ist, kommt in einem trotzig-schwärmerischen Brief an Werner zum Ausdruck: »Daß ich Dir's mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.« (HA, 290) Wilhelms Ich-Ideal orientiert sich insgeheim nicht an einer ihm gemäßen bürgerlichen, sondern an einer aristokratischen Identität, die unerreichbar bleiben muß, wenn der Autor sich nicht anders entscheidet und sie seinem Helden gewährt. Er wird sie ihm auch halb ironisch gewähren, doch vorläufig beklagt sich Wilhelm, daß in Deutschland nur »dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf, personelle Ausbildung möglich (ist). Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden ; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. « (HA, 290) Nur beim Theater scheint es ihm möglich, »eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. « (HA, 292) Der Entschluß, Schauspieler zu werden, wird als Irrtum und Selbstentfremdung gleichsam symbolisch kommentiert. Meister unterschreibt Serlos Vertrag mit falschem Namen, träumt dabei von der Amazone und bemerkt darüberhinaus noch, »daß Mignon an seiner Seite stand, ihm am Arm hielt und ihm die Hand leise wegzuziehen versucht hatte. « (HA, 293) Auch der Turm greift über einen Emissär, der den Geist in einer HamletAufführung spielt, mit einem buchstäblich schleierhaften Rat ein: »Zum e r s t e n - u n d l e t z t e n m a l ! F l i e h ! J ü n g l i n g , flieh!« (HA,328) Die notwendige Entscheidung, die mehr künstliche als künstlerhafte Lebensform aufzugeben und das Theater zu verlassen, wird Meister wieder einmal durch äußere Umstände abgenommen. Bevor eine sich anbahnende Theaterkrise zum Ausbruch kommt (Wilhelm beginnt bei der Probe für »Emilia Galotti« angesichts der Souveränität Serlos an seinem Talent zu zweifeln), stirbt Aurelie, Serlos Schwester. Über dies Ereignis 74
wird Meister in die Turmgesellschaft eingeführt. Er soll nämlich Aurelies untreuem Liebhaber, dem Turmangehörigen Lothario, einen Abschiedsbrief überbringen. Neben dieser äußeren Handlung wird der Ubergang vom Theater zur Turmgesellschaft vor allem durch das sechste Buch, die »Bekenntnisse einer schönen Seele«, motiviert. Aus diesem pietistischen Tagebuch, dessen empfindsame Schreiberin in engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu Natalie (der Amazone) steht, hat Wilhelm der sterbenden Aurelie vorgelesen. Er ist somit, ohne es zu wissen, schon mit einem Teil seiner eigenen Zukunft (Natalie) vertraut geworden. Auch zu Meisters Ich-Ideal steht dieses Buch in einem gewissen kritischen Verhältnis, stellt es doch dessen idealistisch-gesellschaftslose Unbedingtheit in Frage. Natalie wird später Reflexionshilfe leisten und Meisters Identifikation mit der »schönen Seele« korrigieren: Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe ; und doch, wenn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will, sich überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein. Dennoch sind die Menschen dieser Art außer uns, was die Ideale im Innern sind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, sondern zum Nachstreben.« (HA, 518) Wie die ausschließliche religiöse bleibt auch die gesellschaftslos künstlerische Lebensform ohne soziale Identität und verfehlt die spezifisch menschliche Bestimmung, sich kommunikativ zu realisieren und IchIdentität im hier beschriebenen Sinn zu erreichen. Wilhelms Vorhaben, gesellschaftliche Widerstände mit Hilfe der Kunst zu umgehen, endet mit Resignation und Identitätsverwirrung. In dieser Stimmung trifft er wiederum mit Jarno zusammen, der sofort eine Veränderung an ihm feststellt. Er fragt Wilhelm nach seinen alten Schauspielerplänen: »Ich bin gestraft genug!« rief Wilhelm aus; »erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon machen. Wie völlig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Geschäft ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff.« (HA, 433f.) Jarno reflektiert Wilhelms Erfahrungen und verallgemeinert sie: »Wissen Sie denn, mein Freund, [ . . . ] daß Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben [..-.] ?« ( H A , 434) Mit seiner Reflexionshilfe will Jarno Wilhelms private Erfahrungen in identitätsrelevantes gesellschaftliches Wissen verwandeln. Dies mißlingt ihm ebenso wie sein Versuch, Wilhelm von dem notwendig Illusionshaften der Lebensform des Schauspielers zu 75
überzeugen. Meister verändert sich, ohne selbstreflexive Erfahrungen zu machen. Seine Bildung besteht nicht im Fortschreiten eines Vernunftzustandes, sondern in der metamorphotischen Ent-wicklung eines Lebensgefühls, das sich selbst kaum bewußt wird.
5.1.4. Turm. Der rechte Weg, den man nie mehr verläßt Irritiert betrachtet Meister aus der Entfernung Lotharios Schloß, den Sitz der Turmgesellschaft: Alle äußere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bedürfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von künstlichen Gärten und großen Alleen. Ein Gemüse- und Baumgarten drang bis an die Häuser hinan [...]. (HA, 423)
In diesem wahrhaft bürgerlichen Schloß hat Wilhelm gleich in der ersten Nacht einen Traum, der den Leser wiederum symbolisch des glücklichen Ausgangs der Lehrjahre und Identitätssuche des Helden versichert: Die Amazone erscheint ihm, rettet seinen Sohn Felix vor dem Ertrinken und hält ihn selbst zurück von identitätszerstörenden Schuldgefühlen, die ihn in Gestalt des toten Vaters und der toten Mariane einholen wollen. »Wie gern ließ er sich halten!« (HA, 426) Die Traumsymbolik ist leicht zu durchschauen: Wilhelm entgeht dem identitätsabweisenden Schuldgefühl 19 und der Unglücksbereitschaft durch die Gewißheit der bevorstehenden Realisierung von Intimität und sozialer Identität. Es wird deutlich, daß in der Turmgesellschaft eine gesteigerte Lebensepoche beginnt, in der Identitätsbewußtheit an die Stelle des Experimentierens mit Rollen tritt. Auch wenn sich Meisters beleidigte Selbstliebe noch ein wenig sträubt, ist er doch schon Jarnos Meinung: »>Überhaupt dächte ichSie entsagten kurz und gut dem Theater, zu dem Sie doch einmal kein Talent haben. υ Pi ^ a .s Ν
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Der Identitätsroman verkörpert bis heute, wo er nicht affirmativ-epigonenhaft wird (Gustav Freytags »Soll und Haben« könnte hierfür als Prototyp angesehen werden), das subversive bürgerliche Gedächtnis. »Unmöglich« ist er auch nach dem historischen Zusammenbruch des bürgerlichen Weltbildes nicht geworden. Dies demonstriert vielleicht kein Roman besser als Thomas Manns »Zauberberg« — und ihm folgen andere Identitätsromane. Döblins »Alexanderplatz« etwa ist für Walter Jens »ein Entwicklungsroman im klassischen Sinne, Biberkopf ein höchst moderner, mit allem Raffinement der Prosa unseres Jahrhunderts beschriebener Bruder Heinrich Lees und Wilhelm Meisters«.2 Uber einen zeitgenössischen Roman ist zu lesen: »Die Blechtrommel ist ein Entwicklungs- und Bildungsroman. Strukturell zehrt das Buch von den besten Traditionen deutscher Erzählprosa.« 3 Mit Günter Herburgers 1969 erschienenem Roman »Die Messe« feiert nach Marcel Reich-Ranicki »der wackere deutsche Entwicklungsroman [...] nicht fröhlich zwar, doch mißmutig und elegisch Urständ«. 4 Weitere Beispiele ließen sich anführen. Stimmen sie aber wirklich so? Im Rahmen einer engen Bestimmung des Gattungstyps »Identitätsroman« wohl kaum. Der Identitätsroman im engeren Sinne erzählt von einem bestimmten Lebensabschnitt: dem der Jugend bzw. Adoleszenz. Zwar kann die beschriebene Identitätsbewegung in jedem psychologischen Roman auftauchen, weil das Identitätsproblem ein lebenslanges und von zentralem Interesse für den modernen Literaten ist. Die Identitätsarbeit während der Adoleszenz hat jedoch eine besondere, herausgehobene Bedeutung und einen prinzipiell anderen Charakter als spätere Identitätskrisen oder der nicht-selbstreflexive Aufbau von Identitäten während der Kindheit. Die Jugendperiode ist im Unterschied zu anderen Lebensabschnitten gekennzeichnet durch die Suche nach allgemeinsten Handlungsprinzipien, durch das probeweise Eingehen auf verschiedene soziale Rollen und durch den Versuch einer ersten und jede weitere Identitätsarbeit bestimmenden Selbstdefinition in der Auseinandersetzung mit sozialen Erwartungen, moralischen Grundsätzen, allgemeinen und individuellen (Kindheit) Vorstellungen vom gelungenen Selbst. In diesem Sinne ordnet Erik H. Erik2
3
4
Walter Jens: Uhren ohne Zeiger. In: W. J., Statt einer Literaturgeschichte. 7. erw. Aufl. Pfullingen 1978. S. 53. Hans Magnus Enzensberger: Wilhelm Meister, auf Blech getrommelt. Uber Günter Grass (1959). In: H . M. E., Einzelheiten. Frankfurt/M. 1962. S. 225. Marcel Reich-Ranicki: Der grüne Hermann. Günter Herburger: »Die Messe«. In: M. R.-R., Lauter Verrisse. Frankfurt/M. / Berlin / Wien 1973. S. 95.
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son dem Jugendalter eine »normative Identitätskrise« zu. In der Adoleszenz wird der Jugendliche gezwungen, »Entscheidungen zu treffen, die mit wachsender Beschleunigung zu immer endgültigeren Selbstdefinitionen, zu irreversiblen Rollen und so zu Festlegungen »fürs Leben< führen«.5 Gegenüber dieser Bestimmung hat sich der Erzählgegenstand in neueren »Identitätsromanen« verschoben. Hier geht es mehr um Probleme der Ich-Identität im allgemeinen, die Abrechnung mit den Vätern, um Kindheitserfahrungen und Zeitgeschichte. Weniger die prozeßhafte Identitätssuche als die erinnernde Analyse mehr oder weniger gescheiterter IchIdentität bestimmt die Erzählweise. Meist wird versucht, »die Arbeit des Gedächtnisses zu beschreiben, als Krebsgang, als mühsame rückwärts gerichtete Bewegung«.6 Das Identitätsproblem wird in zeitgenössischen Romanen besprochen, erörtert und befragt: am augenscheinlichsten vielleicht bei Max Frisch. Dem neuen Erzählinteresse wird eine neue Erzählweise gerecht. Mit der Ablösung erzählerischer Kontinuität durch das Prinzip der Simultaneität scheint in diesem Jahrhundert auch der, eine kontinuierliche Biographie erzählende, traditionelle Identitätsroman »veraltet« zu sein. Es sieht so aus, als sei ein Lebenskontinuum so wenig wie das linear Epische noch erreichbar: Das einsträngige Erzählen wird so problematisch, wie es die Vorstellung gesicherter Identität geworden ist. Literarischen Ausdruck findet dieser Zusammenhang in Romanen wie »Berlin Alexanderplatz«, dem »Malte« oder dem »Mann ohne Eigenschaften«. Besonders in ihm wird die »Auflösung der Ordnung«7 ständig auf das Erzählproblem bezogen. Auf die disparat gewordenen Lebensformen, die ins Endlose gesteigerten sozialen Optionen reagiert das moderne Individuum mit extrem hoher Rollendistanz, mit »Eigenschaftslosigkeit«. Kann für den hochreflexiven modernen Menschen das Problem der Ich-Identität überhaupt noch relevant sein? Diese Frage stellt sich Niklas Luhmann in einem Beitrag zur »neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung« : Mit der neuzeitlichen Gesellschaftsentwicklung nehmen aus Gründen, die grob als hochgetriebene Komplexität und funktionale Systemdifferenzierung bezeichnet werden können, selbstreferentielle Prozesse am Umfang und Bedeutung zu: Man liebt sich als Liebenden, verdient (oder verliert) Geld durch Geld, regelt die Rechtsetzung rechtlich, forscht über Forschung, erzieht Er-
5 6 7
Erik H. Erikson: Das Problem der Ich-Identität, S. 137. Christa Wolf: Kindheitsmuster. Darmstadt / Neuwied 1977. S. 11. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg 1952. S. 639.
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zieher, entscheidet über Entscheidungen [...]· An die Stelle von Eschatologien, die den Prozeß durch ein richtendes Ende, und von Entwicklungstheorien, die den Prozeß durch einen präformierenden Anfang identifizieren, ist die Vorstellung einer selbst evolvierenden Evolution getreten [...]. Braucht man für endlos-selbstreferentielle Prozesse überhaupt noch Identität? Und wozu? Man braucht sie gerade für den Vollzug der Selbstreferenz.8 D a s Grundproblem des traditionellen Identitätsromans, wie Sozialisierung und Individuierung widerspruchslos möglich seien, ist weiterhin aktuell. Ich sehe daher keinen Grund, warum der Identitätsroman im engeren Sinn e p r i n z i p i e l l nicht mehr möglich sein sollte, 9 wenn auch nicht zu leugnen ist, daß er in der hier beschriebenen Ausprägung tatsächlich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auszumachen ist. 1 0 D a s mag seinen Grund in einer gewissen Verbrauchtheit, aber auch dem hohen Anspruch dieses Romantyps haben. Zu große Probleme klingen mit, wenn ein »Bildungs-« oder »Entwicklungsroman« prätendiert ist: der Entwurf des freien Individuums und die damit verbundene Zeitkritik und Gesellschaftstheorie. Hinzu kommt, daß nicht die exemplarischen Entwürfe, sondern das eher Private und Authentische in der zeitgenössischen Literatur Konjunktur haben — bis auf weiteres.
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Niklas Luhmann: Suche der Identität und Identität der Suche — über teleologische und selbstreferentielle Prozesse. Statement in Poetik und Hermeneutik VIII, S. 593f. Jürgen Jacobs (Wilhelm Meister und seine Brüder) etwa vertritt diese Auffassung, S. 278: »Im 20. Jahrhundert scheint das Ende des Bildungsromans heraufzuziehen. Denn nachdem die Junghegelianer schon den >Verfaulungsprozeß< der großen bürgerlichen Philosophie zu registrieren hatten, scheint nunmehr das bürgerliche Zeitalter im ganzen sich seinem definitiven Ende zuzuneigen. Das optimistische und aktive Weltverhältnis einer aufsteigenden und sich selbstbewußt emanzipierenden Gesellschaftsschicht ist verschwunden. An seine Stelle tritt das Erlebnis der Entfremdung und abgründiger Irritation. Gleichzeitig zerfällt die bürgerliche Vorstellung des autonomen, im Einklang mit der Welt sich entfaltenden Individuums. Damit aber sind die Voraussetzungen für das Erzählen einer abgerundeten Bildungsgeschichte zerbrochen. « »In neuerlichen biographisch organisierten Mythentraktaten verloren sich die Spuren des Wilhelm Meisterlichen Bildungsromans. In der Theorie des Romans nach dem Zweiten Weltkrieg ist diese Gattungsform auch in modernisierter Fassung nicht wieder aufgetaucht.« Dietrich Scheunemann: Romankrise. Die Entstehungsgeschichte der modernen Romanpoetik in Deutschland. Heidelberg 1978. S. 236. 146
Literatur
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