Leibhaftige Frömmigkeit: Die Verehrung der Seitenwunde Christi als Schnittfläche und Fluchtpunkt spätmittelalterlicher Frömmigkeitsphänomene 9783161621970, 9783161622489, 3161621972

Auf dem weiten Feld der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie lenkt Anne Bezzel das Augenmerk auf die Verehrung de

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German Pages 418 [449] Year 2023

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
A Einleitung: Die Verehrung der Seitenwunde Christi im ausgehenden Mittelalter – der Versuch einer Annäherung
1 Vorurteile, Missverständnisse, Projektionen
2 Text, Körper, Bild: Der Niederschlag der Seitenwundenfrömmigkeit in literarischen, performativen und bildlichen Zeugnissen des Spätmittelalters
2.1 Schriftzeichen – die Seitenwundenfrömmigkeit in literarischen Zeugnissen des Spätmittelalters: Gertrud von Helftas Legatus, Angela von Folignos Liber und die Passionsbetrachtungen der Vita Christi des Ludolf von Sachsen
2.1.1 Die Seitenwundenfrömmigkeit im Legatus divinae pietatis der Gertrud von Helfta
2.1.1.1 Biographische Skizzen zu Gertrud von Helfta (1256–1302)
2.1.1.2 Schlüsseltexte der Seitenwundenfrömmigkeit des Legatus
2.1.2 Die Seitenwundenfrömmigkeit im Liber der Angela von Foligno
2.1.2.1 Biographische Skizzen zu Angela von Foligno (1248/49–1309)
2.1.2.2 Schlüsseltexte der Seitenwundenfrömmigkeit bei Angela von Foligno
2.1.3 Die Seitenwundenfrömmigkeit in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen
2.1.3.1 Biographische Skizzen zu Ludolf von Sachsen (1300–1378)
2.1.3.2 Schlüsseltext der Seitenwundenfrömmigkeit bei Ludolf von Sachsen: De Nona, in Passione Domini (Caput LXIV, Pars II)
2.2 Auf der Bühne des Glaubens – Die Seitenwundenfrömmigkeit im Kontext spätmittelalterlicher Performanzen: Die Vita der Elisabeth von Spaalbeeck, die „Frankfurter Dirigierrolle“ und das „Frankfurter Passionsspiel“
2.2.1 Die Seitenwunde in der Passionsperformanz der Elisabeth von Spaalbeeck
2.2.1.1 Biographische Notizen zu Elisabeth von Spaalbeeck (1246–1304)
2.2.1.2 Die Repräsentation der Seitenwunde in der Vita Elisabeth sanctimonialis in Erkenrode, Ordinis Cisterciensis; Leodiensis dioecesis (Codex signatus n° 2864–71 fol. 94v–109v)
2.2.2 Die Repräsentation der Seitenwunde in der „Frankfurter Dirigierrolle“ (FD) und dem „Frankfurter Passionsspiel“ (FP)
2.2.2.1 Texte im Kontext – Anmerkungen zu Entstehungszeit, Gestalt, Autorenschaft und soziologischer Verortung der „Frankfurter Dirigierrolle“ sowie des „Frankfurter Passionsspiels“
2.2.2.2 Die Repräsentation der Seitenwunde im „Frankfurter Passionsspiel“ und der „Frankfurter Dirigierrolle“: Szene 62. Heilung des Longinus (FD 238–242) und Szene 80. Heilung des Longinus (FP 4180–4217)
2.3 Glaubende Schau – schauender Glaube: Der Niederschlag der Seitenwundenfrömmigkeit in der bildenden Kunst
2.3.1 Die „Geburt der Kirche aus der Seitwunde Christi“ (Detail aus einer Bible moralisée, MS 270b, fol. 6r, Bodleian Library Oxford, um 1240)
2.3.2 „Die verwundende Braut“ im Rothschild Canticum ( fol. 19r, um 1320, Westflandern/Rheinland)
2.3.3 Die arma Christi im Passional der Kunigunde von Böhmen um 1320 ( fol. 10r der MS XIV.A.17, Národní knihovna, Prag)
2.3.4 Arma Christi aus dem English Bohun Psalter and Hours (Oxford, Bodleian Lib. MS Auct. D.4.4, fol. 236v, ca. 1380)
2.3.5 „Schmerzensmann“ (Hans Multscher, Ulmer Münster 1429)
2.3.6 Speerbildchen in einem Gebetbuch aus dem Besitz des Hartmann Schedel (um 1465)
2.3.7 „Eucharistischer Schmerzensmann mit Caritas“ (Nordwestdeutscher Meister, Köln, Tafelmalerei um 1470)
2.3.8 „Gregorsmesse“ (Master of the Holy Kinship, 1486, Utrecht, Museum Catharijneconvent, ABM s33)
2.3.9 „Christus in der Kelter“ (Anonym, Kalkar oder Xanten um 1500)
2.3.10 „Schmerzensmann und Maria vor Gott Fürbitte leistend“ (Hans Holbein der Ältere, Epitaph Augsburg 1508)
3 Der verwundete Leib Christi im Fokus des ausgehenden Mittelalters – Verschiebungen, Voraussetzungen und Verbindungslinien
B Die Devotion zur Seitenwunde Christi als Schnittfläche spätmittelalterlicher Frömmigkeitsströmungen
1 Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter
1.1 Der Körper des Frommen und der Leib Christi – Akteure auf der Bühne des Glaubens
1.2 Die Seitenwunde Christi als Fluchtpunkt einer somatischen Frömmigkeit
2 Essenz des Lebens und Symbol der Destruktion – Blut und Wunden als Objekte der Devotion
2.1 Ambivalenz, Ausgrenzung und Multiplikation – Ausformungen und Implikationen der Blut- und Wundenfrömmigkeit des ausgehenden Mittelalters
2.2 Konzentration versus Multiplikation: Die Seitenwunde Christi als zentrale Quelle des heiligen Blutes
3 Eindrückliche Wunden – das Phänomen der Stigmatisierung
3.1 Auf den Leib geschrieben – der Empfang der Stigmata als somatische imitatio des Passionschristus
3.2 Ins Herz getroffen – die Stigmatisierung durch die Seitenwunde als letztgültiges Siegel der conformatio Christi
4 „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft im Spiel der Geschlechteridentitäten
4.1 Frauenrollen, Männerbilder: Die Frage nach „sex“ und „gender“ im ausgehenden Mittelalter
4.2 Mann und Frau, Mutter und Geliebter – die Seitenwunde Christi als Ort der Aufhebung geschlechtlicher Demarkationslinien
5 Verzehren Gottes – die Eucharistiefrömmigkeit als sich Verzehren nach Gott
5.1 Die Sehnsucht nach der Einverleibung Gottes
5.2 Die Seitenwunde als Quellgrund der Eucharistie
6 Die Entdeckung der Liebe
6.1 Geistliches und Weltliches – Hoheslied und Minnelied
6.2 Von der Liebe durchbohrt: Die Seitenwunde als Zugang zum Minnelager der unio mystica
7 Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi
7.1 Niedrigkeit und Nähe – die Passionsfrömmigkeit als Theologie der Erreichbarkeit Gottes
7.2 Die Seitenwunde als verdichtetes Zeichen und Zentrum der memoria passionis
8 Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung
8.1 Scrupulositas versus Gnadengewissheit
8.2 Die Seitenwunde als Verkörperung der „nahen Gnade“
C Innen und Außen, Verwundung und Heilung, Leid und Leidenschaft – die Seitenwunde als vieldeutiges und verbindendes Signum der spätmittelalterlichen Frömmigkeit
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Hilfsmittel
Onlinequellen
Sekundärliteratur
Personenregister
Sachregister
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Leibhaftige Frömmigkeit: Die Verehrung der Seitenwunde Christi als Schnittfläche und Fluchtpunkt spätmittelalterlicher Frömmigkeitsphänomene
 9783161621970, 9783161622489, 3161621972

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Spätmittelalter, Humanismus, Reformation Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation herausgegeben von Volker Leppin (New Haven, CT) in Verbindung mit Amy Nelson Burnett (Lincoln, NE), Johannes Helmrath (Berlin), Matthias Pohlig (Berlin), Eva Schlotheuber (Düsseldorf ), Klaus Unterburger (München)

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Anne Bezzel

Leibhaftige Frömmigkeit Die Verehrung der Seitenwunde Christi als Schnittfläche und Fluchtpunkt spätmittelalterlicher Frömmigkeitsphänomene

Mohr Siebeck

Anne Bezzel, geboren 1976; 1996–2003 Studium der Ev. Theologie; Tätigkeit als freiberufliche Autorin (u.a. für Deutschlandradio Berlin); 2022 Promotion; Bildungsreferentin am Erfurter Augustinerkloster (Lutherstätte) orcid.org/0000-0003-4575-5311

Die Publikation wurde gefördert durch die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) und durch die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands (EKM). Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2022 von der Philosophischen Fakultät der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Dissertation angenommen. ISBN 978-3-16-162197-0 / eISBN 978-3-16-162248-9 DOI 10.1628/978-3-16-162248-9 ISSN 1865-2840 / eISSN 2569-4391 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nati­onal­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen, Germany. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Bodelshausen aus der Minion gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Amicis

Vorwort Zwischen dem allerersten „Ideenkeim“ (Umberto Eco), aus welchem die vorliegende Arbeit erwachsen ist, geweckt im Rahmen einer Exkursion des Erlanger Lehrstuhls für Kirchengeschichte im Münster von Heilsbronn durch ein spätmittelalterliches Interzessionsbild, und der nun abgeschlossenen Dissertationsschrift liegt beinahe ein Vierteljahrhundert. So mag es nicht verwundern, wenn auch die Liste der Menschen und Institutionen, die an dieser Stelle bedankt werden sollen, umfangreicher ausfallen muss, als dies üblich sein mag. Mein erster und größter Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Berndt Hamm, der den Glauben an eine Vollendung der Arbeit in all den Jahren nicht verloren hat. Er hat nicht nur während meiner Studienzeit durch seine Passion für mittelalterliche Kirchengeschichte meine eigene Begeisterung für dieses Themenfeld geweckt, sondern auch meinen Arbeitsprozess in großer Freundlichkeit und Zugewandtheit – langmütig und ermutigend! – begleitet und mich auch in meinen anderen literarischen Vorhaben und Projekten unterstützt. Zu Dank verpflichtet bin ich der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, die mir gleich zu Beginn meines Promotionsprokjekts ein Stipendium gewährt hat, ebenso wie der Hanns-Seidel-Stiftung, die mir nach Ablauf dieses universitären Stipendiums eine Anschlussförderung ermöglichte. Prof. Dr. Anselm Schubert danke ich für die Übernahme des Zweit- und Prof. Dr. Volker Leppin für das Drittgutachten. Kerstin Junger im Promotionsbüro der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen danke ich für ihre geduldige und kompetente Beantwortung aller Fragen zu Anträgen und Abläufen. Prof. Dr. Volker Leppin danke ich ferner dafür, dass er meine Arbeit dem Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der Reihe „Spätmittelalter, Humanismus, Reformation“ vorgelegt und mir im gesamten Prozess der weiteren Überarbeitung bei allen offenen Fragen stets überaus freundlich und zugewandt zur Seite gestanden hat – trotz räumlicher Distanz und Zeitverschiebung. Ihm sowie Prof. Dr. Amy Nelson Burnett, Prof. Dr. Johannes Helmrath, Prof. Dr. Matthias Pohlig, Prof. Dr. Eva Schlotheuber und Prof. Dr. Klaus Unterburger bin ich verpflichtet für ihre wohlwollende und konstruktive Kritik mit Blick auf die Druckfassung der Arbeit. Nach der Annahme des Manuskripts durch den Herausgeberkreis waren es meine Arbeitgeberin, die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, namentlich Herr Oberkirchenrat Michael Lehmann, sowie die Vereinigte Evangelisch-Lu-

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Vorwort

therische Kirche Deutschlands, namentlich Herr Oberkirchenrat Dr. Andreas Ohlemacher, die einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährten. Beiden Institutionen gilt mein herzlicher Dank. Dem Verlag Mohr Siebeck und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich für die gute Betreuung im Publikationsprozess – Frau Dr. Katharina Gutekunst, Frau Betina Burkhart, Frau Bettina Gade, Herrn Markus Kirchner, Frau Kendra Mäschke und Herrn Tobias Stäbler. Spätmittelalterliche Kunstwerke spielen in der vorliegenden Arbeit eine wichtige Rolle. Sie befinden sich in einem gesonderten Kunstdruckteil. Den besitzenden Institutionen in ganz Europa und den USA danke ich für ihre äußerst zeitnahe Bearbeitung meiner Nutzungsanträge Mein Dank gilt auch zahlreichen Menschen aus meinem persönlichen sowie meinem wissenschaftlichen Umfeld. Nach jener ersten Konfrontation mit dem bereits genannten spätmittelalterlichen Interzessionsbild im Heilsbronner Münster, durch das ich erstmals mit der Zentralstellung der Seitenwunde Christi für die Frömmigkeit des ausgehenden Mittelalters in Berührung kam, waren es die bleibenden Impulse von Prof. Dr. Christian Strecker sowie dessen großartige Literaturhinweise (als erster in langer Folge der schmale Band von Caroline Bynum „Why All the Fuss about the Body? A Medievalist’s Perspective“), welche die entscheidenden Weichen für mein wissenschaftliches Unternehmen stellen sollten. Den Mitgliedern der „Societas Mediaevistica“ verdanke ich es, zu einer Wissenschaftsgemeinschaft gehören zu dürfen, in der man einander wertschätzend und respektvoll behandelt. Die alljährlichen Treffen mit ihren Vorträgen und Werkstattberichten haben immer wieder von neuem meine Liebe zur mittelalterlichen Kirchengeschichte vertieft und mir stets überraschende und bereichernde Themenfelder erschlossen. Christine Ziepert danke ich für Ihre präzise Analyse meiner beruflichen Situation in einer schwierigen Lebensphase mit vielfältigen und konkurrierenden Aufgaben. Sie ermutigte mich, alle anderen Verpflichtungen gegenüber der Fertigstellung meines Dissertationsprojektes hintanzustellen  – eine Ermutigung, ohne die ich diesen Entschluss zu diesem Zeitpunkt womöglich nicht in der notwendigen Entschiedenheit gewagt hätte. Prof. Dr. Julia Knop und Prof. Dr. Miriam Rose haben mich nicht allein durch ihre kontinuierlichen Nachfragen nach dem Stand des Arbeitsprozesses motiviert und begleitet  – ich verdanke Prof. Dr. Julia Knop auch die Vermittlung eines äußerst verlässlichen und versierten Korrektors, den ich nach Beendigung meines eigenen Arbeitsprozesses mit allen formalen Korrekturen betrauen durfte. Ich danke Herrn Hannes Neitzke für seine stringente und gründliche Überarbeitung meines Manuskripts – ohne seinen unermüdlichen Einsatz und seine Bereitschaft, sein eigenes Dissertationsprojekt immer wieder zur Seite zu legen, um weitere Korrekturdurchgänge fristgerecht abzuschließen, würde diese Ar-



Vorwort

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beit nun nicht in Buchform vorliegen. Entscheidende Hilfestellungen mit Blick auf Formatierungsfragen erhielt ich bereits während des Schreibprozesses durch meinen Freund Dr. Henning Jürgens. Dankbar bin ich meiner Mutter Sabine Dauscher (gest. 2019) und meinem Vater Hartmut Dauscher – beide haben mein Vorhaben von ganzem Herzen unterstützt und liebevoll Anteil genommen. Ich danke auch meinen Schwestern Judith Jünger und Kathrin Kohl sowie meinen Schwiegereltern Ingrid (gest. 2022) und Dr. Ernst Bezzel. Die Begleitung meiner Großfamilie war und ist mir besonders wertvoll – ebenso wie die mir durch sie geschenkte Gewissheit, dass berufliche Erfolge für mich nicht das Wichtigste sind. Ich danke meinem Mann, der mir besonders in der Endphase der Formatierung unermüdlich zur Seite stand und der mich in all den Jahren immer wieder bei der Suche nach Freiräumen zur Fortführung meiner Arbeit bestärkt hat. Seine Mitfreude und die unserer Kinder Lea, Mirjam und Friedemann, die mir zudem bei der Vorbereitung auf das Rigorosum tatkräftig geholfen haben, machen den Löwenanteil meiner eigenen Freude über das nun fertiggestellte Buch aus. Gewidmet ist dieses Buch den Freundinnen und Freunden. Mögt Ihr es als kleine Gegengabe für Euer großes Geschenk der Freundschaft betrachten, für das ich Euch herzlich danke. Als eines von vielen wertvollen Zeugnissen Eurer Freundschaft habe ich es empfunden, mich trotz aller familiär und beruflich bedingter Unterbrechungen nie von Euch belächelt, sondern verstanden zu fühlen in meinem Wunsch, mich mit eben jenen Quellenzeugnissen des Mittelalters zu beschäftigen und dieses Projekt zu Ende zu führen. Erfurt, den 13. April 2023

Anne Bezzel

Inhaltsverzeichnis Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

A  Einleitung: Die Verehrung der Seitenwunde Christi im ausgehenden Mittelalter – der Versuch einer Annäherung  . . . . . . . . 1 1 Vorurteile, Missverständnisse, Projektionen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Text, Körper, Bild: Der Niederschlag der Seitenwundenfrömmigkeit in literarischen, performativen und bildlichen Zeugnissen des Spätmittelalters  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1 Schriftzeichen – die Seitenwundenfrömmigkeit in literarischen Zeugnissen des Spätmittelalters: Gertrud von Helftas Legatus, Angela von Folignos Liber und die Passionsbetrachtungen der Vita Christi des Ludolf von Sachsen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1.1 Die Seitenwundenfrömmigkeit im Legatus divinae pietatis der Gertrud von Helfta  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.1.1 Biographische Skizzen zu Gertrud von Helfta (1256–1302)  . . . . 26 2.1.1.2 Schlüsseltexte der Seitenwundenfrömmigkeit des Legatus  . . . . . . 32 2.1.2 Die Seitenwundenfrömmigkeit im Liber der Angela von Foligno  41 2.1.2.1 Biographische Skizzen zu Angela von Foligno (1248/49–1309)  . 41 2.1.2.2 Schlüsseltexte der Seitenwundenfrömmigkeit bei Angela von Foligno  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1.3 Die Seitenwundenfrömmigkeit in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.1.3.1 Biographische Skizzen zu Ludolf von Sachsen (1300–1378)  . . . . 77 2.1.3.2 Schlüsseltext der Seitenwundenfrömmigkeit bei Ludolf von Sachsen: De Nona, in Passione Domini (Caput LXIV, Pars II)  . . . 87 2.2 Auf der Bühne des Glaubens – Die Seitenwundenfrömmigkeit im Kontext spätmittelalterlicher Performanzen: Die Vita der Elisabeth von Spaalbeeck, die „Frankfurter Dirigierrolle“ und das „Frankfurter Passionsspiel“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2.2.1 Die Seitenwunde in der Passionsperformanz der Elisabeth von Spaalbeeck  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

XII

Inhaltsverzeichnis

2.2.1.1 Biographische Notizen zu Elisabeth von Spaalbeeck (1246–1304)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2.2.1.2 Die Repräsentation der Seitenwunde in der Vita Elisabeth sancti­mo­nialis in Erkenrode, Ordinis Cisterciensis; Leodiensis dioecesis (Codex signatus n° 2864–71 fol. 94v–109v)  . 126 2.2.2 Die Repräsentation der Seitenwunde in der „Frankfurter Dirigierrolle“ (FD) und dem „Frankfurter Passionsspiel“ (FP)  . 148 2.2.2.1 Texte im Kontext – Anmerkungen zu Entstehungszeit, Gestalt, Autorenschaft und soziologischer Verortung der „Frankfurter Dirigierrolle“ sowie des „Frankfurter Passionsspiels“  . . . . . . . . . . 148 2.2.2.2 Die Repräsentation der Seitenwunde im „Frankfurter Passions­spiel“ und der „Frankfurter Dirigierrolle“: Szene 62. Heilung des Longinus (FD 238–242) und Szene 80. Heilung des Longinus (FP 4180–4217)  . . . . . . . . . . . . . . 159 2.3 Glaubende Schau – schauender Glaube: Der Niederschlag der Seitenwundenfrömmigkeit in der bildenden Kunst  . . . . . . . . . 170 2.3.1 Die „Geburt der Kirche aus der Seitwunde Christi“ (Detail aus einer Bible moralisée, MS 270b, fol. 6r, Bodleian Library Oxford, um 1240)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2.3.2 „Die verwundende Braut“ im Rothschild Canticum ( fol. 19r, um 1320, Westflandern/Rheinland)  . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2.3.3 Die arma Christi im Passional der Kunigunde von Böhmen um 1320 ( fol. 10r der MS XIV.A.17, Národní knihovna, Prag)  . . 179 2.3.4 Arma Christi aus dem English Bohun Psalter and Hours (Oxford, Bodleian Lib. MS Auct. D.4.4, fol. 236v, ca. 1380)  . . . . . 184 2.3.5 „Schmerzensmann“ (Hans Multscher, Ulmer Münster 1429)  . . . 186 2.3.6 Speerbildchen in einem Gebetbuch aus dem Besitz des Hartmann Schedel (um 1465)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2.3.7 „Eucharistischer Schmerzensmann mit Caritas“ (Nordwestdeutscher Meister, Köln, Tafelmalerei um 1470)  . . . . . 191 2.3.8 „Gregorsmesse“ (Master of the Holy Kinship, 1486, Utrecht, Museum Catharijneconvent, ABM s33)  . . . . . . . . . . . . . . 192 2.3.9 „Christus in der Kelter“ (Anonym, Kalkar oder Xanten um 1500)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2.3.10 „Schmerzensmann und Maria vor Gott Fürbitte leistend“ (Hans Holbein der Ältere, Epitaph Augsburg 1508)  . . . . . . . . . . . . 195 3 Der verwundete Leib Christi im Fokus des ausgehenden Mittelalters – Verschiebungen, Voraussetzungen und Verbindungslinien  198



Inhaltsverzeichnis

XIII

B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi als Schnittfläche spätmittelalterlicher Frömmigkeitsströmungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1 Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1.1 Der Körper des Frommen und der Leib Christi – Akteure auf der Bühne des Glaubens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1.2 Die Seitenwunde Christi als Fluchtpunkt einer somatischen Frömmigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2 Essenz des Lebens und Symbol der Destruktion – Blut und Wunden als Objekte der Devotion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2.1 Ambivalenz, Ausgrenzung und Multiplikation – Ausformungen und Implikationen der Blut- und Wundenfrömmigkeit des ausgehenden Mittelalters  . . . . . . . . . . . . 219 2.2 Konzentration versus Multiplikation: Die Seitenwunde Christi als zentrale Quelle des heiligen Blutes  . 233 3 Eindrückliche Wunden – das Phänomen der Stigmatisierung  . . . . . . . . . . 245 3.1 Auf den Leib geschrieben – der Empfang der Stigmata als somatische imitatio des Passionschristus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3.2 Ins Herz getroffen – die Stigmatisierung durch die Seitenwunde als letztgültiges Siegel der conformatio Christi  . . . . 252 4 „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft im Spiel der Geschlechteridentitäten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.1 Frauenrollen, Männerbilder: Die Frage nach „sex“ und „gender“ im ausgehenden Mittelalter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4.2 Mann und Frau, Mutter und Geliebter – die Seitenwunde Christi als Ort der Aufhebung geschlechtlicher Demarkationslinien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 5 Verzehren Gottes – die Eucharistiefrömmigkeit als sich Verzehren nach Gott  . . . . . . . . . . . . . . 279 5.1 Die Sehnsucht nach der Einverleibung Gottes  . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5.2 Die Seitenwunde als Quellgrund der Eucharistie  . . . . . . . . . . . . . . 288 6 Die Entdeckung der Liebe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 6.1 Geistliches und Weltliches – Hoheslied und Minnelied  . . . . . . . . 297 6.2 Von der Liebe durchbohrt: Die Seitenwunde als Zugang zum Minnelager der unio mystica  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 7 Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 7.1 Niedrigkeit und Nähe – die Passionsfrömmigkeit als Theologie der Erreichbarkeit Gottes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

XIV

Inhaltsverzeichnis

7.2

Die Seitenwunde als verdichtetes Zeichen und Zentrum der memoria passionis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 8 Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung  . . . . . . . 341 8.1 Scrupulositas versus Gnadengewissheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 8.2 Die Seitenwunde als Verkörperung der „nahen Gnade“  . . . . . . . . 350

C  Innen und Außen, Verwundung und Heilung, Leid und Leidenschaft – die Seitenwunde als vieldeutiges und verbindendes Signum der spätmittelalterlichen Frömmigkeit  . . . . . . . . . 367 Quellen- und Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Hilfsmittel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Onlinequellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Sekundärliteratur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378

Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

A Einleitung: Die Verehrung der Seitenwunde Christi im ausgehenden Mittelalter – der Versuch einer Annäherung Wir wollten vergessene Formen des leibhaftigen Erlebens aufspüren, das gelebte ‚Fleisch und Blut‘ von Menschen in der Vergangenheit, die uns sonst nur Skelette oder schriftliche Spuren hinterließen. Ihre Sinne wollten wir wiedererstehen lassen. Die Landschaft, durch die wir uns bei diesen Erkundungen bewegten, waren die Selbstverständlichkeiten eines Aristoteles, einer Hildegard von Bingen, eines Dürer, Leonardo und Paracelsus. Unser moderner Körper erinnerte uns dabei ununterbrochen an die unüberbrückbare Distanz, die unser Leiberlebnis von dem ihren trennt.1

Als der katholische Theologe Karl Rahner im Jahr 1936 nach nur wenigen Wochen des Arbeitsprozesses an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck eine Dissertation über die typologische Bedeutung der Seitenwunde Christi einreichte, lag sein Haupt­augen­merk auf der Analyse altkirchlicher Quellen.2 Nach einem exegetischen Durchgang, auf­ruhend auf dem recht schmalen biblischen Textzeugnis,3 widmete er den Hauptteil seiner Untersuchung Autoren von den frühen patristischen Quellen bis zum Ausgang der Väterzeit und zeichnete somit von Tertullian bis ins 7. Jahrhundert die Genese und Fort­schrei­bung eines sich etablierenden theologischen Typus nach, in dem Christus als der zweite Adam, die Kirche als zweite Eva und die Seitenwunde Christi als Quelle des Geistes begriffen wurde.4 Wenngleich Rahners Interesse vornehmlich den altkirchlichen Aussagen zur Seitenwunde Christi galt, bietet seine Untersuchung überdies 1 

Duden, Body History, xiii. dazu Batlogg, Theologische Dissertation, 111. Batlogg merkt allerdings an, dass Karl Rahner sicher auf eigene Vorarbeiten zurückgreifen konnte und seine Qualifikationsschrift „nicht aus dem Hut gezaubert haben kann“ (ebd., 117). 3  Karl Rahner berücksichtigt für seine Untersuchung nicht allein die einschlägigen Verse aus dem Johannesevangelium, sondern auch paulinische und deuteropaulinische Texte; siehe dazu R ahner, Sämtliche Werke (Bd. 3), 11–36. 4  Vgl. dazu ebd., 36–71. 2  Vgl.

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auch einen Ausblick in Mittelalter und Neuzeit, sei es doch „in sich reizvoll, das Weiterleben dieses johanneischen Gedankens zu verfolgen“5. In der viele Jahrzehnte später, im Jahr 1999, erstmals im Druck vorliegenden Arbeit6 sind es immerhin neun Seiten, die Rahner der mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte von Joh 19,34 widmet, wobei er Autoren wie Beda Venerabilis, Alkuin, Rabanus Maurus oder Rupert von Deutz als Gewährsmänner der Übergangszeit zwischen Patristik und hochmittelalterlicher Theologie anführt, um als Zeugen einer gelehrten Theologie des Hochmittelalters unter anderem Anselm von Laon, Hugo von St. Viktor sowie Petrus Lombardus zu nennen.7 Einen eigenen Abschnitt widmet Rahner schließlich dem „fromme[n] Schrift­ tum“, wobei er mit Blick auf den Vorstellungskomplex der Geburt der Kirche aus der Seiten­wunde vorausschickt: Ist auch unsere Lehre im Gegensatz zur Väterzeit im Mittelalter hauptsätzlich ein Stück gelehrten Wissens der Schule gewesen und konnte auch dieser Gedanke schon deshalb nicht mehr so lebendig sein wie in der Väterzeit, weil man alle die Gedanken vom Fons vitae nicht mehr klar und lebendig in der theologischen Tiefe der Patristik kannte, so ist doch unsere Vorstellung nicht ganz aus der Frömmigkeit, aus dem lebendig erfaßten Glaubensgut verschwunden.8

Diese These belegt Rahner mit Verweis auf die bildende Kunst, wobei er besonders auf die Gattung der „Armenbibeln“ abhebt, in der die typologische Deutung der Seitenwunde als Geburtsstätte der Kirche sich durchaus erhalten habe.9 Mit Blick auf den Bereich der schriftlichen Zeugnisse der Epoche des Mittelalters hält er fest: Auch in der Literatur der Frömmigkeit selbst ist unser Gedanke nicht ganz untergegangen, wenn er auch seiner Natur nach wenig dazu angetan ist, die Frömmigkeit der Einzelseele zu beschäftigen. Aus Mangel an genügenden Unterlagen kann über das Auftreten dieses Gedankens in der aszetischen und mystischen Literatur des Mittelalters nichts Abschließendes gesagt werden, so reizvoll gerade diese Untersuchung sein müßte. Sie müßte allerdings etwas weiter ausgedehnt werden; man müßte das Weiterwirken und die langsame Umformung aller patristischen Fons-vitae-Gedanken in der mittelalterlichen Frömmigkeit aufzuzeigen suchen. Ohne ein Werturteil abgeben zu wollen, darf man doch sagen: Die Frömmigkeit des Mittelalters ist psychologischer eingestellt, wendet sich mehr als die Patristik an das Gemüt, an das Empfinden der Einzelseele, nimmt mehr Rücksicht auf die inneren Nöte des Einzelnen. […] [I]m 5 

Ebd., 71.

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Batlogg führt die vergleichsweise geringe Beachtung der Qualifikationsschrift Karl Rahners auf den Umstand ihrer späten Veröffentlichung zurück, auch wenn er festhält, dass Grundgedanken der Rahnerschen Ekklesiologie, die in seinem Gesamtwerk Niederschlag gefunden haben, hier bereits entwickelt werden; vgl. Batlogg, Theologische Dissertation, 112.126 f. 7 Siehe R ahner, Sämtliche Werke, 71–73. 8  Ebd., 74. 9  Vgl. dazu ebd.

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Mittelalter füllen sich diese alten Formeln mit neuem, andersartigen Leben, das dem Wesen der damaligen Frömmigkeit entspricht […].10

Für Karl Rahner lassen sich dabei entscheidende Verschiebungen nicht zuletzt daran ablesen, dass etwa bei Wilhelm von Thierry die Seitenwunde Christi als offene Pforte und Zugang zu „Ruhe, Trost und Süßigkeit“ beschrieben wird und sie zunehmend als „Symbol zarter, inniger Liebe [erscheint], mit der Jesus, der gekreuzigte Geliebte der Seele, sie ganz persönlich liebt“.11 Eine Dissertation, die sich knapp 100 Jahre nach Karl Rahner eben jenem „reizvollen“ Unterfangen widmen möchte, die dem „Weiterwirken“ und den etwaigen Prozessen der „Umformung“ der Bedeutungsaspekte der Seitenwunde Christi in der „mittelalterlichen Frömmigkeit“ nachgehen und dabei die These Rahners einer neuen Aufmerksamkeit für die „inneren Nöte des Einzelnen“ überprüfen möchte, wobei die Schlagworte „Ruhe, Trost und Süßigkeit“ wie auch „zarte, innige Liebe“ als mögliche Wegmarken betrachtet werden, eine solche Untersuchung, die die mittelalterliche Verehrung der Seitenwunde Christi zum Hauptgegenstand erhebt, weiß sich in ein völlig verändertes Diskursfeld eingebettet. Schon das ausgehende 20. Jahrhundert mit seinem neu erwachten Interesse an Körperhistorie, einer neuen Aufmerksamkeit für Kultur- und Kunstgeschichte, hat auch im deutschsprachigen Raum tiefgreifende Paradigmenwechsel eingeleitet. Autorin­nen und Autoren wie Caroline Walker Bynum oder Thomas Lentes haben mit ihren Untersuchungen dazu beigetragen, dass gerade für die Epoche des ausgehenden Mittel­alters Fragestellungen nach der Bedeutsamkeit des Leibhaftigen nunmehr als integraler und selbstverständlicher Bestandteil kirchengeschichtlicher Forschung gelten können. Der bereits bei Karl Rahner anklingende Gedanke der Zentralstellung von „Ruhe, Trost und Süßigkeit“ und von der „innige[n] Liebe“ als neuer Leitkategorie hat durch einen neuen, wertschätzenden Blick auf die Jahrhunderte vor der Reformation als Epoche, in der in Theologie und Frömmigkeit Gnade und Trost als Zentren christlicher Existenz pro­pagier­te wurden,12 an Gewicht gewonnen. Im Kontext der protestantischen Kirchen­geschichte ist es nicht zuletzt das Verdienst Berndt Hamms, dass bereits für das aus­gehen­de Mittelalter die „Zentrierung auf den Passionschristus“13, den „gekreuzigte[n] Gelieb­ten“, aufgedeckt wurde. Noch einmal: Eine Dissertation, die sich knapp 100 Jahre nach Karl Rahner, wenngleich unter Berücksichtigung einer anderen Epoche, erneut der kirchenhistorischen Rezeption der Seitenwunde Christi zuwendet, widmet sich diesem Unterfangen unter dem Vor­zeichen jener genannten neuen Voraussetzungen – 10 

Ebd., 74 f. Ebd., 75. 12  Diese neue Einschätzung verdankt sich vor allem Impulsen, die Berndt Hamm in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Publikationen immer wieder eingebracht hat. 13  Vgl. dazu Hamm, Zentrierung, 197. 11 

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der Relevanz des Körpers, gerade des verwundeten Körpers Christi, und des neuen Stellenwertes von Gnade und Trost. Der Katalog einer Ausstellung im Utrechter Museum „Catharijneconvent“ unter dem Titel „Body Language. The Body in Medieval Art“, die am 25. September 2020 eröffnet wurde, macht die Synthese dieser Voraussetzungen auf frappierende Weise sichtbar: Der Einband des Katalogs ist gleich einem mittelalterlichen „Speerbildchen“ geschlitzt, de facto aufgeschnitten, durch eine Wunde, die ins Innere blicken lässt. Im „Inneren“, gleich­sam jenseits der Seitenwunde, erfährt der Leser im Vorwort, dass die Vermittlung von Hoffnung und Trost als zentrale Abzweckung aller mittelalterlichen Darstellung des Körperlichen zu begreifen seien, auch wenn dieselben Motive den heutigen Betrachter14 womöglich zunächst verstören mögen.15 Die Ausstellung im Catharijneconvent zeigt exemplarisch, dass im Bereich der Kunstgeschichte die Relevanz des verwundeten Christuskörpers als Zentrum der mittelalterlichen Theologie wahrgenommen wird. Wenn die vorliegende Arbeit sich der Fragestellung nach den verschiedenen frömmigkeits­theo­logischen Facetten und Spielarten der Verehrung der Seitenwunde Christi im ausgehen­den Mittelalter zuwendet, geschieht dies nicht als hybrides Vorhaben, völlig unbekannte Quellen zu präsentieren, noch kann sie in irgendeiner Weise Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es soll lediglich der Versuch unternommen werden, jenes in der Rahnerschen Diktion „reizvolle“ Unterfangen zu wagen und einen Beitrag zu leisten, spätmittel­alter­li­che Frömmigkeit in ihrer Mannigfaltigkeit der Themenfelder mit der Verehrung der Seitenwunde Christi in Beziehung zu setzen. Dass eine kirchengeschichtliche Disser­tation, so gut sie es vermag, auf Fragestellungen und Anregungen einzugehen versucht, die in den letzten Dekaden von Forscherinnen und Forschern anderer Disziplinen aufge­wor­fen wurden, ist angesichts des Forschungsgegenstandes, der Seitenwunde Christi, evident, wenngleich sie sich ihrer eigenen Begrenztheit, diese fachfremden Diskurse bis ins Letzte zu durchdringen, sehr bewusst ist. Es muss an dieser Stelle noch offenbleiben, ob auch für das ausgehende Mittelalter gelten könnte, was Karl Rahner mit Blick auf die Patristik konstatiert: Wir müssen […] fragen, ob nicht die alten Christen ein Symbol hatten, das ihnen alles, was sie von der erlösenden Liebe Gottes wußten, in einem Gegen­stand ihrer Andacht zusammenfaßte. […] Das war ihnen aber die durchbohrte Seite Jesu.16 14  Die vorliegende Arbeit wechselt in der Bezeichnung zwischen männlichen und weiblichen Formen ab, um die gewichtige Tatsache, dass Frauen und Männer gleichermaßen Beteiligte in jenem religiö­sen Diskurs waren, abzubilden. 15  van Schijndel, Foreword, 7; an dieser Stelle danke ich Berndt Hamm, der mir den Katalog für die vorliegende Arbeit zur Verfügung stellte, sowie Christoph Burger (Amsterdam) für die Zusendung des niederländischen Originals. 16  R ahner, Sämtliche Werke, 83. Der sich darauf unmittelbar anschließenden These Rahners, das Mittelalter habe im Gegensatz dazu an dogmatischer Tiefe und Weite verloren, soll allerdings im Verlauf der vorliegenden Arbeit auf das entschiedenste widersprochen werden.



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Ob diese Feststellung womöglich auch für das ausgehende Mittelalter für zutreffend befunden werden könnte, soll durch die Analyse einschlägiger mittelalterlicher Zeugnisse überprüft werden. Ein kurzer Ausblick auf ein zentrales Quellenzeugnis der nachfolgenden Epoche, der Refor­mations­zeit, könnte jedoch als Beleg dafür angeführt werden, in welcher Selbst­ver­ständ­lichkeit die Seitenwunde sogar im Horizont und unter den Bedingungen einer epochalen Abgrenzungsbewegung vom Mittelalter ihren Platz zu behaupten wusste. Obgleich 1555, als Lucas Cranach der Jüngere  – im Jahr des Augsburger Religions­frie­ dens – das Altar­bild der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar vollendete17 und der refor­mato­ri­sche Glaube längst seinen festen Platz in einer fundamental veränderten Welt behauptete, findet sich doch auf dem Mittelbild des Weimarer Triptychon18, das unter dem programmatischen Titel „Gesetz und Evan­gelium“ als ein Abbild der refor­mato­rischen Bewegung in nuce gelten könnte, eben jenes zentrale Symbol. Auf den ersten Blick scheint das Triptychon (vgl. Abbildung 1, Abbildungsteil) freilich vor allem den Bruch mit Ver­gan­ge­nem, mit überkommenen Sehgewohnheiten zu betonen, wenn dem Bildbetrachtenden nicht die vertraute Figurengruppe unter dem Kreuz vor Augen gestellt wird – seien es nun die in den Evangelien belegten Augen­zeugen, seien es die typologischen Figuren der Synagoge und Ecclesia. Vielmehr konfrontiert das Bild den Betrachtenden mit einer Art „Who is Who“ der lutheri­schen Reformationsgeschichte: Neben dem Stifter, Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen (gest. 1554), seinen drei Söhnen und seiner Gattin auf den Seitenflügeln des Altars, erkennt man auf der Mitteltafel zur Rechten des Gekreuzigten, an der Seite Johannes des Täufers, Lucas Cranach den Älteren und Martin Luther.19 Auch mit Blick auf den theologischen Aussagegehalt des Bildes20 wirkt es wie eine Illustration jener zentralen „refor17 Bis zu seinem Tod im Jahre 1553 muss dessen Vater, Lucas Cranach der Ältere, als maßgeb­licher Künstler des Werkes gelten. Ohly, Gesetz, 27 f. merkt dazu an: „Im Jahrzehnt nach Luthers Tod schu­fen es der achtzigjährige, unlängst aus mehrjähriger, mit seinem Landesherrn Kurfürst Johann Fried­rich für seinen Glauben ertragener Gefangenschaft bei Kaiser Karl V. heimgekehrte und von Witten­berg nach Weimar übergesiedelte Lucas Cranach und sein Sohn, der, als sein Vater über dem Gemälde starb, im Jahr 1555 es vollendete.“ Vgl. dazu auch Moser, Cranach, 238 sowie Schmidt, Stadtkirche, 20 f. Zu dem über Jahre hinweg andauernden, gemeinsamen Reflexions- und Schaffensprozess, an dem Martin Luther, Lucas Cranach d. Ä. und d. J. beteiligt waren, vgl. auch Lentes, Andacht, 50 sowie Belting, Bild und Kult, 520. Eine ausführliche Beschreibung und Interpre­tation des Altarbildes liefert Ohly, Gesetz, 16–47. 18  Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund des Gemäldes vgl. etwa Jursch, die die Profilierung des lutherischen Geistes in Abgrenzung zur sich formierenden Gegenreformation betont; vgl. Jursch, Kunstdenkmäler, 65. 19 Vgl. Jursch, Kunstdenkmäler, 65–68. Augenfällig ist, dass die Stifterfiguren – anders als in früheren Jahrhunderten – im selben Größenverhältnis wie die biblischen Figuren gezeichnet sind. Biblische Personen und Personen des 16. Jahrhunderts befinden sich somit auf Augenhöhe; vgl. dazu ebd., 68. Auf der linken Seite des Kreuzes steht der auferstandene Christus, der im Gestus eines St. Georg den Teufel zu Boden ringt; vgl. dazu Ohly, Gesetz, 34. 20  Auf eine detaillierte Beschreibung der komplexen Bildaussagen und der implizierten

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matorischen Ausschließlichkeitsformulierungen“21, die als Kern lutherischer Theologie gehandelt werden: Die Prinzipien des solus Christus, des sola gratia, des sola fide und des sola scriptura sind hier eindrücklich ins Bild gesetzt. Dabei begegnet die Botschaft in der Botschaft! Denn in der expliziten Zentrierung auf die Heilige Schrift – Martin Luther hält dem Betrachter die Bibel gleichsam als Legende, als Untertitel des Bildes entgegen (sola scriptura) – sind vermittels der entsprechenden Bibel­verse jene anderen Grundprinzipien impliziert: Das solus Christus („Das Blut Christi reinigt uns von allen Sünden“), das sola gratia („Darum lasst uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wann uns Hilfe not sein wird“) ebenso wie das sola fide („Gleich wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muss auch des Menschen Sohn erhöhet werden, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“).22 Unbenommen: Das Altarbild zu Weimar kann wohl als das „eindrucksvollste Denkmal der reformatorischen Bildkunst“ angesehen werden.23 Und doch beherrscht weiterhin die Seitenwunde jenes Bild aus der Mitte des 16. Jahrhun­derts. Ließe der Betrachter auch die deutenden Worte der aufgeschlagenen Bibel in den Händen Luthers am rechten Bildrand für einen Augenblick beiseite, so spräche dennoch das zentrale Motiv auch für seine reformatorisch gesinnten Zeitgenossen, ja auch für uns Heutige eine deutliche Sprache: Die Seitenwunde, aus der sich zielgerichtet und unver­ mittelt ein Blutstrahl auf das Haupt Lucas Cranachs ergießt, ist nicht allein Sinnbild und Symbol der Passion Christi, sie ist auch das Zeichen der gnadenhaften Erlösung durch Christus.24 Sie ist – theologisch und künstlerisch – Fluchtpunkt und Zentrum des Bildes.25 theologischen Schlüsse dieses Simultangemäldes sei hier verzichtet; vgl. dazu jedoch unter Be­ rücksichtigung sämt­licher Bildmotive Jursch, Kunstdenkmäler, 27–37. 21  Diesen Begriff übernehme ich von Berndt Hamm, der zugleich auf die tatsächliche Verwurzelung dieser Formulierungen im späten Mittelalter hinweist: „Die Jahrzehnte vor Luthers Auftreten hallten wider von einem vielfältigen ‚solus, solus, solus‘“ (Hamm, Emergenz, 7). Vgl. dazu auch ders., Von der spätmittelalterlichen reformatio, 36–41. 22  Zit. nach Ohly, Gesetz, 28 f. Bei den Bibelzitaten handelt es sich um 1 Joh 1,7; Hebr 4,16 sowie Joh 3,14 f. Die Hervorhebungen sind von mir zur besseren Zuordnung vorgenommen. 23  So formuliert es Ohly, Gesetz, 27. Vgl. zum reformatorischen Gehalt des Bildes auch Schmidt, Stadtkirche, 20 f. Vgl. dazu als Antipode etwa einen ungefähr 50 Jahre früheren Holzstich Albrecht Dürers, auf welchem das Blut der Seitenwunde (und der anderen Kreuzeswunden) von Engeln in Abend­mahlskelchen aufgefangen wird; siehe dazu Wirth, Albrecht Dürer, 265. 24  Vgl. zur Positionierung Cranachs auf der linken Seite ausführlich Ohly, Gesetz, 30 f. Ohly hebt an dieser Stelle auch die Unvermitteltheit hervor, mit der der Blutstrahl den Künstler trifft. Diese Darstellungsweise sieht er im Kontrast zu mittelalterlichen Darstellungen, bei denen das Blut durch die Figur der Ecclesia bzw. den Abendmahlskelch den Gläubigen zugutekommt. Wenngleich damit ein häufiges Motiv angesprochen ist, so kennt doch auch das ausgehende Mittelalter den Gedanken der Unmittelbarkeit zwischen Seitenwunde und dem einzelnen Frommen; vgl. dazu etwa Lentes, Nur der geöffnete Körper, 154; siehe exemplarisch die Dar-



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Neben der Bibel als neuem reformatorischem Bildsymbol, als Illustration des sola scrip­tu­ra, ist es noch immer die Seitenwunde, die offenbar auf pointierte Weise die Erlösung des Menschen sola gratia zu kommunizieren vermag. Cranachs Darstellung erscheint damit jener spätmittelalterlichen Frömmigkeit verpflichtet, in welcher der Körper Christi gleichsam als Text26, als offenes Buch27 fun­gierte, als beschreibbare, lesbare Größe – und seine Verwundung mithin als beredtes Zeug­nis des Heils. Das Altarbild der Stadtkirche zu Weimar wirkt vor diesem Hintergrund wie ein Nachklang einer Epoche, in welcher dem Leib die Aufgabe zukam, die Botschaft des Heils und der nahen Gnade28 zu verkörpern, auch wenn ohne Frage bei Cranach eine gleichzeitige Akzentverschiebung auf das Wort als Medium der Verkündigung zu beob­achten ist.29 Für das ausgehende Mittelalter30, dessen Codierungen und Sehgewohnheiten offenbar bleibende Spuren bis hinein in die Reformation verzeichnen konnten, kann wohl in besonderer Weise Pierre Bourdieus Diktum geltend gemacht werstellung der Katharina von Siena, deren durch Selbstzüchtigung blutüberströmter Leib zugleich vom Blut des Gekreuzigten benetzt wird; siehe etwa bei Bynum, Wonderful Blood, pl. 11. 25  Gleichsam als dunkle Hintergrundfolie, vor der die Geschichte der gnadenvollen Errettung durch Christus dargestellt wird, ist zur Linken des Kreuzes der vom Teufel ins Höllenfeuer getriebene Adam sowie rechterhand das Volk Israel in der Wüste abgebildet, dessen Ungehorsam und Abfall von Gott durch Giftschlangen bestraft wird. Die eherne, erhöhte Schlange als alttestamentlicher Vorverweis auf das Kreuz erscheint somit doppelt  – einmal bildlich dargestellt im Hintergrund, einmal als neutestamentliches Zitat (Joh 3,14) in der von Luther dargebotenen Heiligen Schrift. 26  Vgl. dazu Lentes, Ort des Gedächtnisses, 76–79. Zur Vorstellung des göttlichen (wie auch menschlichen) Körpers als Text vgl. auch Renevey, Performing Body, 199 sowie Camille, Image, 62–99 und Kieckhefer, Unquiet Souls, 103. 27  Die Vorstellung des Leibes Christi als Buch findet sich etwa in einem spätmittelalterlichen englischen Gedicht, „The Charter of Christ“: „He was stretched on a tree – as parchment ought to be; the ink flowed from his face – blood from the thorns piercing it; the pens with which the letters were written – were the scourges beating it; the letters there – as all can see 5460 –; the wax sealing the document – the blood flowing from them“ (zit. nach Rubin, Eucharistie, 33 f.). 28 Zu dem von Berndt Hamm geprägten Begriff der „nahen Gnade“ vgl. etwa Hamm, Normierte Erinnerung, 209 sowie ausführlich ders., Die „nahe Gnade“, 541–557. 29  Zum Paradigmenwechsel vom Schauen zum Hören bei Luther vgl. Lentes, Andacht, 49–51. 30 Auf eine ausführliche Problematisierung des Begriffs des „Spätmittelalters“ soll im Rahmen dieser Arbeit weitgehend verzichtet werden. Allerdings ist zu vergegenwärtigen, dass durch Huizingas Herbst-Metapher eine negative Konnotation des Begriffs eingetragen wurde, die jedoch etwa durch das Verdienst Heiko Obermans ihrerseits korrigiert und hinterfragt worden ist; vgl. dazu Hamm, Gott berühren, 111 (Anm. 2). Eine knappe Problematisierung des Terminus „Mittelalter“ an sich, seiner Genese, seiner Ausdifferenzierungen, Konnotationen und Implikationen findet sich bei Grab­m ayer, Europa, 9 f. Weiterführend ist auch das von Volker Leppin (vgl. dazu Leppin, Wittenberger Reformation) und Berndt Hamm (vgl. dazu Hamm, Emergenz, 1–27, bes. 2–9) jeweils unterschiedlich akzentuierte Emergenz-Modell, das unter der Blickrichtung auf die Relation von ausgehendem Mittelalter zur Reformation das späte Mittelalter näher beschreibt. Im Folgenden sollen die Begriffe „Spätmittelalter“ bzw. „ausgehendes Mittelalter“ als temporale Termini ver­wen­det werden, die einzig dazu dienen, den Zeitraum etwa 1250–1500 begrifflich zu fassen.

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den: „Der praktische Glaube ist kein ‚Gemütszustand‘ und noch weniger eine willentliche Anerkennung eines Corpus von Dogmen und gestifteten Lehren (‚Überzeugungen‘), sondern, wenn die Formulierung gestattet ist, ein Zustand des Leibes.“31 Im Anschluss an Bourdieu könnte man sagen: Im Mittelpunkt des Glaubens begegnete kein Corpus von Dogmen, sondern das Corpus des Gekreuzigten, dessen Verwundung Heil und Gnade verkörperte.32 Die passio Christi und die Bedeutung des Körpers als Gegenstand wie zugleich als Akteur des Glaubens stellen zwei wesentliche Grundkoordinaten der Religiosität des aus­gehen­den Mittelalters dar. Eben jene Leibhaftigkeit der spätmittelalterlichen Frömmigkeit sowie ihre Fokussierung auf den „Passionschristus als normative Zentralgestalt“33 wurden in den vergangenen Jahren in der kirchenhistorischen Forschung eingehend untersucht.34 Wenn die vorliegende Arbeit die Relevanz und Omnipräsenz der spätmittelalterlichen Devotion zur Seitenwunde Christi postuliert und ihr eine eigene Untersuchung widmen möchte, so spielt dabei nicht zuletzt das Faktum eine Rolle, dass sich gerade hier jene beiden Grundkoordinaten spätmittelalterlicher Religiosität  – ihre Fokussierung auf die Passion sowie die Bedeutsamkeit des Somatischen – kreuzen. Womöglich liegt es gerade an der Zentralstellung der Seitenwunde in einer somatischen und passions­durch­drungenen Religiosität, dass sie, wie bereits eingangs konstatiert, einem blinden Fleck zu gleichen scheint.35 So gut als möglich möchte ich deshalb einen Beitrag dazu leisten, den vielfältigen Spuren nachzugehen, welche die Seiten­wunden­frömmigkeit hinterlassen hat. Es soll gefragt werden, durch welche Medien sie kolportiert und in welchen Strömungen gelebter Frömmigkeit sie eine entscheidende Rolle gespielt hat.36 31  Bourdieu, Sozialer Sinn, 126. Bourdieu vergleicht an dieser Stelle den Körper des Glaubenden mit einem Ort, an dem Erinnerungen gespeichert werden können: „Man könnte in Abwandlung eines Wortes von Proust sagen, Arme und Beine seien voller verborgener Imperative“ (vgl. ebd., 127 f.). 32  Welche immer wieder neuen Dimensionen hier zu entdecken sind, belegt etwa die großartige Aus­stellung unter dem Titel „Body Language. Het lichaam in de middel-eeuwse kunst“, die vom 25.9.2020 bis zum 17.1.2021 im Museum Catharijneconvent in Utrecht gezeigt wurde; für die Zusendung des Ausstellungskatalogs danke ich Prof. Dr. Christoph Burger. 33 Vgl. Hamm, Zentrierung, 172. 34  Vgl. etwa Köpf, Passionsfrömmigkeit, 722–755; sowie ders., Passion Christi, 21–23. Siehe dazu auch die unter B.1 und B.7 angeführte Literatur. 35  So liegt zumindest meines Wissens keine neuere Monographie vor, die sich ausschließlich mit der spätmittelalterlichen Seitenwundenfrömmigkeit beschäftigt, so sehr sie freilich in zahlreichen kirchen­historischen, kunstgeschichtlichen, soziologischen und kulturanthropologischen Untersu­chun­gen Berücksichtigung findet. 36  Wenn in dem Gebetbuch der Bonne von Luxemburg (um 1340), der Mutter Karl V., eine Nahansicht der Seitenwunde den Schlusspunkt des gesamten Buches bildet, ist dies m. E. ein exemplarisches Indiz für die Zentralstellung der Seitenwunde und ihrer Auffassung als Summe aller religiöser Betrachtung. Vgl. dazu Deuchler, Prayer Book, 277.

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Dabei soll letztlich die  – zugegebenermaßen kühne und zugleich spielerische – These überprüft werden, ob die Verehrung der Seitenwunde gleichsam als Fluchtpunkt der unter­schiedlichsten religiösen Praktiken und Devotionen, als Grundton im Stimmen­gewirr einer hochkomplexen spätmittelalterlichen Religiosität angesehen werden könnte. Der geschätzte Leser, die geschätzte Leserin mag sich bei der Entfaltung dieses Vorhabens nicht zu Unrecht an einen Taschenspieler erinnert fühlen, der unerklärlicherweise immer wieder dieselbe Karte aus dem Stapel zieht: Die Karte der Seitenwunde. Der spielerische Charakter der vorliegenden Arbeit möge, so meine Hoffnung, der Ernsthaftigkeit der Fragestellung keinen Abbruch tun. Ob meine Hypothese, dass die Seitenwunde womöglich als zentraler Fixpunkt auf jenem weiten Feld der Religiosität zwischen 1300 und 1500 betrachtet werden könnte, haltbar ist, muss an dieser Stelle freilich noch offen bleiben. Unbenommen könnten auch andere Facetten spätmittelalterlicher Frömmigkeit wie etwa die Verehrung der Gottesmutter, die Eucharistiefrömmigkeit oder das sich immer stärker ausdifferenzierende Bußwesen als paradigmatisch beziehungsweise als besonders typisches Emblem jener Frömmigkeitsepoche betrachtet werden. In jedem Fall erscheint mir eine eigenständige Untersuchung der Seitenwundenfrömmigkeit aus mehreren Gründen legitim, vielleicht sogar angezeigt: Gerade ihr Eingebundensein, ihre beständige und unauflösliche Kontextualisierung in andere Themenfelder mag dazu geführt haben, dass eine isolierte Untersuchung nicht unternommen wurde. Was bei manchen spätmittelalterlichen Kunstformen wie etwa der Speerbildchen begegnet – ein Herauslösen der Seitenwunde aus ihren Kontexten, eine Dekontextualisierung  – ist eigentlich gerade nicht möglich. Aufgrund dieser Vorüberlegungen soll die vorliegende Untersuchung auf drei vorauslaufenden Überlegungen aufruhen. Zunächst wird zu klären sein, unter welchen grundsätzlichen Prämissen eine Annäherung an die Seiten­ wundenverehrung des ausgehenden Mittelalters unternommen werden soll (A.1). Wie bereits angeklungen, ist jene Devotion eingebettet in den weiteren Kontext einer somatischen Frömmigkeit, einer Frömmigkeit also, die sowohl in ihren Gegenständen als auch in ihren Praktiken den Leib in den Mittelpunkt stellt.37 Insofern erscheint es mir angezeigt, in aller Kürze den bisherigen Umgang der Forschung mit dieser „leibhaftigen“ Dimension spätmittelalterlicher Frömmigkeit zu vergegenwärtigen und den aktuellen Diskurs über den Körper wenigstens kurz anzureißen. An dieser Stelle soll die Gefähr­dung durch moderne Missverständnisse und Projektionen zumindest in Ansätzen benannt werden, denen sich freilich auch die vorliegende Arbeit nicht zu entziehen vermag. Der zweite Schritt der Vorüberlegungen wird sich zunächst kurz den Kriterien widmen, die bei der Auswahl der verwendeten Quellen angelegt wurden. Bei 37 

Ausführlich wird sich B.1 mit diesem Konnex beschäftigen.

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dieser Auswahl soll – unabhängig davon, ob sich die These der Zentralstellung der Seitenwundenfrömmigkeit so pointiert bestätigen lässt oder nicht  – in jedem Fall nachgewiesen werden, dass es sich bei der Aufmerksamkeit für die Seitenwunde Christi nicht um ein regional eingrenzbares, sondern vielmehr um ein paneuropäisches Phänomen, nicht um ein auf bestimmte Trägerkreise beschränktes, sondern von sogenannten Laien und Geistlichen, von Männern und Frauen gleichermaßen mit Interesse wahrgenommenes Sujet handelt, das seinen Niederschlag in ganz unterschiedlichen Medien gefunden hat. Dieses Anliegen birgt freilich ein unabweisbares Dilemma: Gilt es zum einen, sich aus pragmatischen Gründen auf eine zu bewältigende Auswahl an Quellen zu konzentrieren, die sich durch ihren paradigmatischen Charakter zwar bis zu einem gewissen Grad begründen lässt, so steht freilich bei einem Ansatz, der sich nicht auf eine einzige Quelle einlässt, stets die berechtigte Anfrage nach weiteren Schriften und anderen Bildzeugnissen im Raum. Es ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen und dennoch eine unter den Bedingungen der Endlichkeit unabänderliche Tatsache, dass jede Eingrenzung von Quellenmaterial sich des Vorwurfs der Willkürlichkeit oder der Lenkung von Wahrnehmung nicht entziehen kann.38 Jedes Bild, jeder Text, der untersucht wird, könnte und müsste durch zahlreiche andere Texte und Bilder ergänzt werden, die womöglich in ihrer Summe auch zu anderen Beobachtungen führen könnten. Im vollen Bewusstsein der Unabschließbarkeit, kann die vorliegende Untersuchung nur stichprobenartig Beispiele präsentieren und analysieren, die dabei als singulär und beispielhaft zugleich verstanden werden. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann gerade auf Grund der weiten und facettenreichen Verbreitung der Devotion zur Seitenwunde nicht erhoben werden. Die vorliegende Arbeit versteht sich nicht als erschöpfende Analyse jenes Phänomens der spätmittelalterlichen Seitenwundenfrömmigkeit, sondern möchte lediglich als Anstoß und Impulsgeberin verstanden werden, als ein Beitrag, jenen vielfältigen Spuren weiter nachzugehen. Es ist ein vielleicht unbefriedigender Kompromiss, der diesem Dilemma zwischen Selbstbeschränkung und Wunsch nach größtmöglicher Breite der Zeugnisse entspringt, wenn im zweiten Hauptteil neben den eigentlichen Kronzeugen, die relativ ausführlich beschrieben und historisch kontextualisiert werden (A.2), auch andere Autorinnen und Autoren mit einschlägigen Beiträgen zur Seitenwundenfrömmigkeit wenigstens punktuell Berücksichtigung finden werden. Dieses Verfahren kann die Einschränkung der Perspektive auf die hier ausgewählten Hauptzeugen nicht ausgleichen, aber es möge dazu beitragen, die Fülle der mittelalterlichen Quellenlage anzudeuten. 38  Hierbei sehe ich anders als Rahner gerade nicht im „Mangel der Unterlagen“ die Herausforderung für die Forschenden, sondern in der überwältigenden Vielzahl relevanter Texte und Bilder, die auch nicht annähernd bewältigt werden kann.



1  Vorurteile, Missverständnisse, Projektionen

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Im Anschluss an die Darstellung der Hauptquellen wird in einem dritten Schritt (A.3) die methodologische Anordnung dargelegt, nach der schließlich die Verbindungslinien zu anderen devotionalen Phänomen sowie den unterschiedlichen Kontexten gezogen werden, in denen die Seiten­wunden­ frömmigkeit eingebettet war. Diese Themenfelder unter Berücksichtigung der ausgewählten Quellen auf ihre Relation zur Seitenwundenfrömmigkeit zu befragen, ist das Anliegen des Hauptteils der vor­liegen­den Arbeit (B). Zielpunkt dabei ist es, ein Tableau zu entwerfen, das die vielfältigen Ver­netzungen und Zusammenhänge aufzeigt, in denen die Devotion zur Seitenwunde als einender Fluchtpunkt betrachtet werden könnte. Bei der Betrachtung jener Schwerpunkte soll zugleich auch das meines Erachtens singuläre Potential der Vertiefung und der Zuspitzung, das der Seitenwundenfrömmigkeit eignet, in den Blick genommen werden. Dabei soll die Fragestellung leitend sein, inwiefern die Seitenwunde Christi als ideale Schnittfläche betrachtet wurde, als Projektionsfläche für eine Vielzahl unterschiedlicher Frömmigkeitspraktiken und frömmigkeitstheologischer Schwerpunkte des ausgehenden Mittelalters. In welcher Art und Weise eine solch einbettende Gesamtbetrachtung und Kontextuali­sierung der Seitenwundenfrömmigkeit den Blick für die theologischen Aussagegehalte jener uns heute so fremd anmutenden Frömmigkeit zu schärfen vermag und die These ihrer Zentralität gehalten werden kann, wird zu zeigen sein (C).39

1  Vorurteile, Missverständnisse, Projektionen For the only past we can know is the one we shape by the questions we ask; yet these questions are also shaped by the context we come from, and our context includes the past.40

In seinem Werk Epistola de anima konstatiert Isaak von Stella (gest. 1178): „Es gibt drei Arten von Sein, nämlich Körper, Seele und Gott. Aber ich gestehe mir ein, deren Wesen nicht zu kennen. Und ich verstehe weniger, was der Körper ist, als das, was die Seele ist, und weniger, was die Seele ist, als das, was Gott ist.“41 Die These des Zisterziensers erscheint auf den ersten Blick durchaus kühn, attestiert 39  An dieser Stelle sei angemerkt, dass die vorliegende Arbeit lediglich den Zeitraum des Spätmittelalters berücksichtigen kann und möchte. Den Prozess der Entfremdungen nachzuzeichnen, der im Zuge der Reformation einsetzte, den Verschiebungen und Alterationen nachzugehen, welche die Seitenwundenfrömmigkeit im katholischen wie evangelischen Milieu erfahren hat, die Nischen zu untersuchen, in denen sie fortgelebt und sich gewandelt hat, wäre die Aufgabe einer eigenständigen Arbeit – sie soll und kann hier nicht geleistet werden. 40  Bynum, Why all the Fuss, 30. 41  Tria itaque sunt, corpus, anima et Deus. Sed horum me fateor ignorare essentiam, minus-

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er doch dem Körper eine größere Rätselhaftigkeit als der Seele oder gar Gott selbst. Isaaks Postu­lat der Unfassbarkeit des Körpers sei einer Beschäftigung mit der Seiten­wun­den­frömmigkeit des Spätmittelalters vorangestellt, betreten wir doch eben hier jenes unsi­chere Terrain, von welchem Isaak von Stella spricht: das des Körpers. Unsicherheiten und Ambiguitäten begegnen auch demjenigen, der sich der spät­mittel­alter­lichen Seitenwundenfrömmigkeit widmet: Hier verschwimmen die Grenz­ziehungen zwischen den Geschlechtern, hier stellen Innen und Außen keine Gegensätze, sondern lediglich zwei aufs Engste zusammengehörige Pole des Menschen dar,42 hier erweist sich der Körper in besonders eindrücklicher Weise als enigmatische Größe, die sich vermeint­li­chen Selbstverständlichkeiten verweigert. Verwundung und Heil, Schmerz und unaus­sprech­liche Freude, Leid und Leidenschaft bilden im Denkhorizont der spät­ mittelalterlichen Seitenwunden­fröm­migkeit keine festgefügten Antipoden, sondern verschmelzen in eins. Es mag nicht zuletzt jene Aufhebung der Kategorien sein, die so kennzeichnend für eine zutiefst somatisch geprägte Religiosität des Spätmittelalters ist, welche der modernen Kirchen­historie sichtlich Schwierigkeiten bereitet hat. Neben einer bloßen Rückprojektion der eigenen Denkmuster, welche die Alterität des Vergan­genen zu entschärfen sucht,43 findet man als Reaktion auf eben jene Anders­artig­keit, die nicht zuletzt in der Präsenz des Körpers auf der Bühne des Glaubens besteht, oftmals unverhohlene Irritation und Ablehnung. Als prägnantestes Beispiel sei hier nur auf Johann Huizingas einflussreiches Buch „Herbst des Mittelalters“ verwiesen, in welchem er in dem Kapitel „Reque quid corpus, quam quid anima, et quid anima, quam quid sit Deus, intelligere. Zitiert nach McGinn, Mystik (Bd. 2), 437 (Anm. 71). 42 Vgl. dazu Lentes, Nur der geöffnete Körper, 154: „Außen und Innen gehörten zusammen. Deshalb wurde das innere Geschehen in Herz und Seele, die Begnadung und Entsühnung des Menschen durch das heilige Blut, als körperlicher Vorgang beschrieben. Heil war am Körper vorbei nicht zu erwerben […].“ 43  Jenes Phänomen der Rückprojektion beschreibt etwa Trexler, Gendering, 107: „Historians of course are often ready to tell us what ‚people‘ thought (not did), but on examination, their thoughts often turn out to be little more than the historian’s own, projected back onto the past intellectuals and thence according to the trickle-down theory, unto simple folk.“ Auch Le Goff/Truong, Une histoire, 10 geben zu bedenken: „Il fallait donc rendre corps à l’histoire. Et donner une histoire au corps. Car le corps a une histoire. La conception du corps, sa place dans la société, sa présence dans l’imaginaire et dans la réalité, dans la vie quotidienne et dans les moments exceptionnels ont changé dans toutes les sociétés historiques.“ Eine gleichsam umgekehrte Projektion ist freilich ebenso möglich. Hierbei verwandelt sich die Vergangenheit in ein attraktives Gegenbild der eigenen Gegenwart, wie etwa Caroline Bynum in ihrem Aufsatz über den vermeintlichen Wunderglauben des Mittelalters und dessen Affinität zum Grotesken und Monsterhaften vermerkt: „It is inevitable that each generation gets the Middle Ages it deserves. And in our world-weary, postmodern, pre-millenial mode, it is particulary difficult to ask whether the monstrous and marvelous Middle Ages we have discovered is in any sense ‚true‘“ (Bynum, Miracles, 801).

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ligiöse Erregung und religiöse Phantasie“ den „platte[n] Symbolismus“44 geißelt, der jenen „höchst sinn­li­che[n] Darstellungen der Gottesliebe“45 anhafte: Der Geist jener Zeit war so erfüllt von Christus, daß schon bei der geringsten äußeren Ähnlichkeit irgendeiner Handlung oder eines Gedankens mit des Herrn Leben oder Leiden der Christuston unmittelbar zu erklin­gen begann. Eine arme Nonne, die Brennholz für die Küche herbeiträgt, meint, daß sie damit das Kreuz trägt: die bloße Vorstellung des Kreuztragens genügt, um die Handlung in den Lichtglanz der höchsten Liebestat zu tauchen. Das blinde Weiblein, das wäscht, hält Zuber und Waschküche für Krippe und Stall.46

Neben diesen vergleichsweise „harmlosen“ mimetischen Praktiken, mit denen man den Leidens­weg Christi im eigenen Alltag nachzuvollziehen suchte,47 gab es freilich auch Aus­drucks­formen einer somatischen Frömmigkeit, die das Klischee des kruden, „ver­äußer­lichten“ Mittelalters noch stärker nährten.48 Bynum spricht an dieser Stelle gar von einer postmodernen Fixierung auf die Vorstellung des Mittelalters als Inbegriff des Bizarren und Grotesken.49 Diese Form von Emotionalität und Sinnlichkeit, die nicht allein die Seiten­ wunden­ frömmig­ keit, sondern zahlreiche Bereiche der spätmittelalterlichen Religiosität kenn­zeich­nete, mochte bei vielen modernen Historikern Befremden auslösen, wie Giles Constable lakonisch anmerkt: 44 Vgl.

Huizinga, Herbst, 212. Vgl. ebd., 209. 46  Ebd., 202. 47  Im Hinblick auf die Devotio Moderna formuliert treffend Hamm, Gott berühren, 116: „Mystik vollzieht sich nicht abseits der ‚Vita activa‘, sondern hat ihren Platz in den profanen Lebensvollzügen einfacher, ungelehrter Menschen.“ Vgl. dazu auch Schuppisser, Schauen, 170: „Den Mitgliedern der Devotio Moderna wurde […] eine den ganzen Tag über andauernde, auch bei der Arbeit zu voll­ziehen­de Meditation verschiedener Glaubensinhalte zum Ziel gesetzt (indefesse ruminare: ‚unermüd­liches Wiederkäuen‘), durch welche Christi Vorbild derart verinnerlicht werden sollte, daß es im Herzen der Devoten stets präsent war und ihren alltäglichen Wandel formte.“ 48  Gegen die These einer veräußerlichten Religiosität vgl. nur Lentes, Ort des Gedächtnisses, 76: „Außen und Innen, Körper und Geist, gehörten in dieser Vorstellungswelt nicht nur fundamental zusammen. Vielmehr war der Körper geradezu die Bestätigung der inneren Haltung.“ Das Beispiel der Vision der Agnes Blannbekin, in welcher sie die Beschneidung des Christusknaben beweint, um schließlich dessen Vorhaut in ihrem Mund vorzufinden, ist wohl als eines der Beispiele zu nennen, die bereits bei den Zeitgenossen Irritationen ausgelöst haben mögen, was daran deutlich wird, dass Agnes zögert, dieses Erlebnis ihrem Beichtvater und Biographen mitzuteilen; vgl. dazu Wiethaus, Street Mysti­cism, 287.297. 49  Vgl. dazu Bynum, Miracle, 800.817. An anderer Stelle konstatiert sie: „Conditioned by classic accounts such as Johann Huizinga’s and recent popularizations such as Barabara Tuchman’s to see the late Middle Ages as violent in its daily practice, morbid, graphic and literalminded in its images, we are nonetheless surprised to find Christ depicted as chopped meat or to read of a crucified body as female. The images seem, if not disgusting, at least distasteful. Boundaries appaer to be violated here – boundaries between spiritual and physical, male and female, self and matter. There is something profoundly alien to modern sensibilities about the role of body in medieval piety“ (dies., Female Body, 161). 45 

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These manifestations of emotionalism and sensuousness may not appeal to the more restrained religious sentiments of modern Christianity. The passionate embraces given by Rubert of Deutz to an image of Christ and the desire of Hugh of Lincoln to gather and drink the sweat of our Lord seem downright unattractive today.50

Ob schlichtes Abgestoßensein, Befremden, Ärger oder gar Mitleid51  – all jene moder­nen Reaktionen auf Zeugnisse einer somatischen Frömmigkeit des ausgehenden Mittel­alters machen auf zweierlei aufmerksam: Zum einen auf das Faktum der Alterität ver­gan­gener Frömmigkeitspraktiken, die eine schlichte Integration in die eigene Erfahrungswelt unmöglich macht, zum anderen auf den jeweiligen eigenen Verstehens- und Denk­horizont, der unser Vorverständnis des Anderen, des Fremden prägt. Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden jene körperlichsinnlichen Ausdrucks­ formen des Glaubens nicht selten pathologisiert oder mussten sich den Vorwurf schlecht sublimierter Sexualität gefallen lassen: Von „klammernden Organen“52, die sich nach Gott ausstrecken ist hier die Rede, von einer missglückten Sublimierung der Triebe53. Augenfällig war mithin der Trend zur Medikalisierung somatischer religiöser Praktiken und im Zuge dessen deren Säkularisierung.54 Isolierte man etwa die Lichtvisionen der Hildegard von Bingen von ihrem genuin religiösen Kontext, so konnte man sie unter dem Krankheitsbild „Migräne mit Flimmerskotomen im Initialstadium“ fassen55 und in einen modernen Denkhorizont aufheben. Auch das Phänomen extremer 50 

Constable, Twelfth-Century Spirituality, 46. Beispiel für die divergierenden Möglichkeiten moderner Bewertungen liefert Bynum, Holy Feast, 209: „Some historians have responded to women’s ascetic practices with embarrassment or even anger; others have responded with compassion. Conservative historians of theology have sometimes blamed the women. Historians of medicine or psychiatry have sometimes blamed society. Marxist and feminist historians have often blamed the church. But, whatever its cause, women’s ascetism has seemed to modern scholars self-evidently dualistic and pathological – an effort to flee or destroy the flesh so that the spirit might return to God. It has generally met with repugnance or, ocassionally, with voyeuristic prurience.“ Etwas von der Hilflosigkeit, welche das befremdende, fremde Verhalten der Mystiker auszulösen vermag, wird etwa bei Herbert Thurston deutlich, der nach einer ausführlichen Beschreibung sämtlicher religiöser somatischer Praktiken der Nonne Lukardis von Oberweimar das abschließende Votum fällt: „Es müsste bestimmt schwer fallen, die Meinung verfech­ten zu wollen, Lukardis sei vor oder auch nach der Stigmatisation eine ganz normale Person gewesen“ (Thurston, Begleiterscheinungen, 160). Inwiefern auch eine durchaus empathische Betrachtungs­weise den im Wortsinn pathetisch-religiösen Bezugsrahmen der compassio Christi zu vernachlässigen Gefahr läuft, zeigt etwa Dinzelbachers Deutung einer Vision der Dorothea von Montau, die das schmerzhafte Durchbohrtwerden ihres Herzens durch von Christus und Maria geführte Lanzen als möglichen Hinweis auf „kindliche Mißbrauchserfahrungen“ oder auf ein „extrem traumatisches Deflo­rations­erlebnis“ begreift; vgl. Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit, 136. 52  Scholz, Glaube, 217. 53  Pfister, Hysterie, 485. 54  So etwa Bynum, Holy Feast, 194. 55 Vgl. McGinn, Mystik (Bd. 2), 513. 51 Ein



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asketischer Fastenpraktiken spätmittelalterlicher Frauen wurde unter der Kategorie Anorexia nervosa medizinisch erfasst.56 Herbert Thurston S. J. deutet in seinem Buch Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik im Falle der Lukardis von Oberweimar (gest. 1309) deren starke Schmerzen, Krämpfe und ein unkontrolliertes Klopfen der Hände als Symptome eines Rückenstarrkrampfes (Opisthotonus).57 An anderer Stelle konnte er jedoch gerade durch eine bewusst nüchterne und wissen­schaftliche Herangehensweise auch darum ringen, mittelalterliche Stigmatiker vom Ver­dacht der Hysterie zu befreien.58 Letztlich zeigt sich aber auch in diesem Fall der zugrundeliegende Referenzrahmen eines modernen, medizinischen Denkens in psycho­patho­logischen Kategorien.59 Dieser Deutungshorizont konnte auch namhafte Theologinnen wie etwa Gertrud von Helfta, deren Zurückhaltung gegenüber somatischen Praktiken betont werden muss,60 aufgrund der „Vertraulichkeiten, Zärtlichkeiten und Schmeicheleien der törichtsten und kindischsten Art, die Gertrud an Christus richtete“ als Frau „beschränkten Intellekt[s]“ und als „Beispiel für theopathische Heiligkeit“ zeichnen.61 Grundsätzlich ist zu betonen, dass viele der geschilderten somatischen Praktiken schlichtweg als Bestandteil einer gewissen Typologie zu betrachten sind, ja, dass man gleichsam von einer Art Erwartungshorizont sprechen könnte, dem vor allem weibliche Fromme zu entsprechen hatten. Die Rede von außergewöhnlichen Phänomenen sollte allein schon aus diesem Grunde nicht als „Tatsachenbericht“ aufgefasst und beurteilt werden. So schwer es uns Heutigen fallen mag, körperliche Praktiken des spätmittelalterlichen Glaubens nicht mit unseren Begrifflichkeiten zu behaften, erscheint es doch weiter­führend, von einer entkontextualisierenden modernen Vereinnahmung somatischer Frömmig­keitspraktiken so gut als möglich Abstand zu nehmen.62 Dies soll auch für eine weitere Spielart moderner Pathologisierung 56  Vgl. dazu die einschlägige Monographie von Caroline Walker Bynum (Bynum, Holy Feast) sowie Bell, Holy Anorexia sowie bereits Henisch, Fast. Zur Entwicklung der mittelalterlichen Fasten­praxis als Bußpraxis unter besonderer Berücksichtigung der Bußbücher vgl. Lutterbach, Fasten­busse, 390–437. 57 Vgl. Thurston, Begleiterscheinungen, 159. 58  So etwa ebd., 81. 59  Eine Übersicht solch abqualifizierender Bewertungen einer „praktischen Mystik“ liefert Dinzel­b acher, Frauenmystik, 310 f. Dort zitiert er Beurteilungen, die vom Vorwurf der Entartung in den 40er Jahren (Wentzlaff-Eggebert) bis zum Verdacht der Hysterie in den 70er Jahren (Holen­stein-Hasler) reichen; vgl. ebd. 60 Vgl. Harrison/Bynum, Composition, 74: „Although she gave religious significance to illness, her spirituality is not characterized by either intense attention to bodily experiences or elaborate physiological metaphors.“ 61 So James, Die religiöse Erfahrung, 279–281. Vgl. zu einer völlig gegenläufigen Einschätzung der somatischen Dimension der Frömmigkeit Gertruds Stephens, Incarnation, 83. 62 Eine behutsamere Annäherung eröffnet m.  E. etwa Johanna Zieglers performanz­ theoretischer Zugang, dem es gelingt, den fraglichen Zeugnissen einer somatisch geprägten Seitenwundenfrömmigkeit ohne pathologisierendem Vorverständnis zu begegnen; zur Deutung ekstatischer Praktiken im Deutungshorizont der Darstellungskunst vgl. Ziegler,

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gelten – dem Vorwurf des Masochismus. In der Tat begegnet man in der Praxis des spätmittelalterlichen Glau­bens oftmals dem Körper im (selbstgewählten) Schmerz. Doch auch hier darf der Bezugs­rahmen nicht außer Acht gelassen werden. Schmerz, am eigenen Körper erlitten, war stets Schmerz in der Nachfolge des Schmerzensmannes, mithin ein Akt der Mimesis. Die compassio, das Mit-Leiden mit Christus war aufs engste bezogen auf die passio Christi, deren Vergegenwärtigung  – die memoria passionis  – einen breiten Raum inner­halb der Religiosität einnahm.63 Die Erfahrung des Schmerzes wurde nicht um ihrer selbst willen gesucht, sie galt vielmehr als Form der Erkenntnis des rettenden Gnadenwirkens am Kreuz.64 Jener imita­tive Zugang zum Leiden Christi, welcher dem Körper des Frommen einen aktiven Part zuwies, spielte etwa in den religiösen Frauenbewegungen, aber auch in der dominika­nischen Frömmigkeit eine große Rolle.65 Die Passionsfrömmigkeit hatte somit nicht allein die passio Christi als Gegenstand der Betrachtung; jeder Fromme sah sich selbst zugleich zur compassio, zum Nachvollzug der passio, aufgefordert. Jenes uns Heutigen so fremd erscheinende, von Esther Cohen als „Philo­passionismus“ bezeichnete Ertragen des Schmerzes als Tugend, hat mit dem moder­nen Masochismus nichts gemein.66 Passio jedoch wurde in ihrer doppelten Wortbedeutung  – Leid und Leidenschaft  – ausge­ schöpft und in der Nachfolge des Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) verband man Leidens- und Brautmystik.67 Nachgerade der somit enthaltene Aspekt der Leidenschaft brachte lange Zeit eine sexuali­sierende Lesart spätmittelalterlicher somatischer Praktiken oder brautmystischer Texte mit sich, welche die Wahrnehmung und Bewertung dieser Frömmigkeit bis in die heutige Zeit geprägt hat. Die Sexualisierung mystischer Erfahrungen hat freilich eine lange Tradi­tion und führt über den kirchenhistorischen Fachbereich weit hinaus.68 Zweifel an der Artistic Nature, 194. Eine äußerst differenzierte Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen einer retrospektiven Diagnose von Krankheiten liefert Stolberg, Homo patiens, bes. 215–220. 63  Vgl. nur Köpf, Passionsfrömmigkeit, 728. Für eine ausführliche Darstellung der spät­ mittel­alter­lichen Passionsfrömmigkeit sei auf B.7 verwiesen. 64  Vgl. dazu etwa Camille, Seductions, 257. 65 So Dinzelbacher, Passionsmystik, 1771; Angenendt, Religiosität, 537 f. sowie Köpf, Passionsfrömmigkeit, 727. 66  Cohen, Sensibility, 51 fasst das Phänomen des „philopassianism“ wie folgt: „It is the complete opposite of the instinctive human reaction to pain: the deliberate, conscious attempt to feel as much physical anguish as possible. It is both diametrically opposed to human instincts and unique within the history of human cultures. Philopassianism is emphatically distinct from modern masochism. One did not seek pain in order to derive sensual pleasure from it. The physical sensation was invoked because it was considered useful, not pleasurable. The uses of pain were manifold, depending on the circumstances and the object. In the widest sense of the term, it might be said that pain was seen as an avenue to knowledge. Knowledge of the body, of the soul, of truth, of reality, and of God. Whether self-inflicted or caused by others, physical pain was a way of affirming the boundaries of identity.“ 67  Vgl. dazu Angenendt, Religiosität, 141. 68  Hier sei nur an Jean Martin Charcot und dessen Wirken an der Salpêtrière (seit 1862)



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Zulässigkeit eines Zugangs, der wie selbstverständlich die Dominanz des – um mit Foucault zu sprechen – „Sexualitätsdispositivs“69 voraussetzt, hat Caroline Bynum in ihrer Auseinandersetzung mit Leo Steinberg geäußert: Leser und Betrachter im 20. Jahrhundert neigen dazu, den Körper zu erotisieren und sich durch die Natur ihrer Sexualität zu definieren. Wir sollten aber m. E. nicht leichtfertig daraus schließen, daß es früher genauso war. […] Auch verstanden die Menschen damals körperliche Empfin­dungen, die wir als erotisch oder sexuell begreifen, nicht in dieser Weise.70

Eines ist wohl unbestritten: Eine Frömmigkeit, die körperliches Erleben und körperliche Erfahrungen zu Wort kommen lässt, konfrontiert den modernen Leser in der Tat mit wortgewaltigem erotischem Vokabular und eben jener Form „sinnlicher Gottesliebe“, wie sie Huizinga kritisierte.71 Gerade der Terminus der Sinnlichkeit72 erscheint mir jedoch aus zwei Gründen als beerinnert, der Besessenheitsphänomene unter dem Begriff der Hysterie im Sinne einer „Choreo­ graphie des nervösen Systems“ zu fassen suchte und auch mittelalterliche Mystikerinnen wie Beatrix von Nazareth, Christine von Stumtèle oder Katharina von Siena unter der Kategorie der hysterischen Ekstase zu fassen sucht; vgl. dazu Charcot/Richer, Die Besessenen in der Kunst, 131–135 sowie Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie, bes. 166–168. Zum Hysterieverdacht in der älteren Forschung vgl. auch Langer, Leibhafte Erfahrung, 440. An dieser Stelle sei etwa auf die einschlägige komparative Studie Cristina Mazzonis verwiesen, die sich mit Angela von Foligno (gest. 1309) und dem umstrittenen französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan (gest. 1981) befasst, der einen engen Konnex zwischen weiblicher Sexualität und mystischer Erfahrung postulierte, wobei er die Unaussprechlichkeit beider Erfahrungen als verbindendes Element betrachtet; vgl. dazu Mazzoni, (Un)Representability, 239–262. Ein ausführlicher Exkurs in psychoanalytische Fachbereiche kann jedoch an dieser Stelle nicht geleistet werden. 69  „Vielleicht wird man sich eines Tages wundern. Man wird Mühe haben zu verstehen, daß eine der Entwicklung gewaltiger Produktions- und Destruktionsapparate verschriebene Zivilisation noch die Zeit und die unendliche Geduld gefunden hat, sich mit einer solchen Beklemmung zu fragen, was es mit dem Sex auf sich habe. Man wird vielleicht lächeln, wenn man sich daran erinnert, daß die Menschen, die wir gewesen sind, da eine Wahrheit zu finden glaubten, die mindestens ebenso kostbar sein sollte, wie diejenige, nach der sie schon die Erde, die Sterne und die reinen Formen des Denkens befragt hatten. Man wird überrascht sein von der Hartnäckigkeit, mit der wir so getan haben, als müßten wir die Sexualität ihrer Nacht entreißen – eine Sexualität, die unsere Diskurse, unsere Institutionen, unsere Vorschriften, unser Wissen am hellichten Tag produziert und immer wieder lautstark hochgespielt haben. Und man wird sich fragen, warum wir so sehr danach verlangt haben, ausgerechnet das vom Gesetz des Schweigens zu befreien, was unsere lärmendste Beschäftigung war“ (Foucault, Sexualität, 188). 70  Bynum, Fragmentierung, 67. Eine kurze Zusammenfassung der Thesen, mit denen sich Bynum auseinandersetzt, findet sich bei Steinberg, Verbrechen, 166–174. Zur Problematik sexuali­sieren­der Deutungen vgl. auch Rubin, Eucharistie, 33. Wenngleich ich Bynum in ihrer Ablehnung der Kate­gorie des Sexuellen zustimme, so erscheint mir der Begriff des Eros, verstanden als Verzehren nach Gott, als durchaus hilfreich, um Texten und Praktiken des ausgehenden Mittelalters so gut als mög­lich gerecht zu werden; vgl. dazu bes. B.6. 71 Vgl. Huizinga, Herbst, 200. 72  Zur Verwendung von „sensory language“ vgl. ausführlich Rudy, Mystical Language, der dabei Bernhard von Clairvaux (S. 45–S. 65) und Hadewijch von Brabant (S. 67–S. 100) bes.

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sonders naheliegend, wenn es darum geht, dem Eigensinn mittelalterlicher Quellen nach­zuspüren, in welchen die „Wahr-Nehmung“, die Erkenntnis Gottes vermittels der Sinne eine solch wichtige Rolle spielt.73 Zum einen vermag er, moderne Assoziationen im Hegelschen Sinne aufzuheben, ohne eine meines Erachtens unangemessene Engführung der Sinneserfahrungen spät­mittel­alter­ licher Frommer vorzunehmen, die diese unangemessen auf den Bereich des Eros reduziert. Der Terminus der Sinnlichkeit ist vielmehr in der Lage, die Gesamtheit der mensch­lichen Sinne des Schmeckens, Riechens, Sehens, Hörens und des Berührens zu umgreifen, die in einer Religiosität, die sich dem inkarnierten Gottessohn zuwendete, gerade in ihrer Vielfalt eine wichtige Rolle spielte.74 Besonders pointiert zeigt dies eine Vision der Maria von Oingt75 (gest. 1310). Maria sieht sich selbst als verdorrten Baum, der von einem Fluss (Christus) getränkt wird. Ihre vormals leblosen Blätter ergrünen durch die Berührung mit dem lebensspendenden Wasser wieder und auf ihnen erscheinen die Namen der fünf Sinne.76 Zum anderen rechtfertigen zeitgenössische theoretische Abhandlungen über die Sinne als Medien der Gottesbegegnung die Verwendung dieses Begriffes als eines hermeneutischen Schlüssels.77 Intellekt und Empfinden – das Verstehen und Begreifen Gottes – bildeten im damaligen Diskurs keine gegensätzlichen Pole, sondern fielen in eins, wie nicht zuletzt die semantische Doppeldeutigkeit der lateinischen Vokabel sapere78 anzeigt. Dies verdeutlicht ein Wortspiel des Zisterziensermönches John von Ford (gest. 1214). Et quis sapiens, nisi qui sapiet Iesum et cui Iesus sapit? birgt ganz unterschiedliche Konnotationen: „Und wer ist weise, wenn nicht der, der Jesus verstehe und den Jesus versteht?“ berücksichtigt. Hale, Taste and See, 3 merkt an: „The soul is seen by the medieval mystic to posess its own sensuous body inextricable from the body proper and transformed by it. What made up the body for the medieval mystic  – body parts and five senses  – can be viewed as ‚duplicated‘ in an interior existence, that of the soul.“ 73  Vgl. dazu auch Langer, Leibhafte Erfahrung, 441. 74  Siehe dazu auch ausführlich unter B.1. 75  Die Herkunftsbezeichnung dieser Begine ist in der Forschungsliteratur nicht einheitlich gehandhabt; in der vorliegenden Arbeit werden sowohl Oingt als auch Oignies verwendet. 76  „Women’s sense that Christ is body, received and perceived by body, is vividly reflected in a vision given to the little known French nun, Marguerite of Oingt (d. 1310). Marguerite saw herself as a withered tree which suddenly flowered when inundated by a great river of water (representing Christ). Marguerite then saw, written on the flowering branches of her self, the names of the five senses: sight, hearing, taste, smell and touch. It is hard to imagine a more pointed way of indicating that the effect of experiencing Christ is to ‚turn on‘, so to speak, the bodily senses of the receiving mystic“ (Bynum, Female Body, 169). Zur Baumvision der Maria von Oingt siehe auch ausführlich und sehr instruktiv Müller, Mystical Language, 32–34. 77  Dass diese Erwägungen auch innerhalb der männlich dominierten, etablierten Theologie eine Rolle spielten, gibt etwa Hale, Taste and See, 5 zu bedenken: „In a Thomistic analysis knowledge occurs within a physical matrix and the primary function of the sensible world is to provide analogies that can be used by the rational mind, or even by the mystic’s soul, to imagine spiritual truths. From the bodily sensorium, Thomas explicitly gave primary to the sense of touch stating that ‚touch is the foundation of all other senses‘.“ 78  Georges, Handwörterbuch, 2486 f.



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weckt sicherlich andere Assoziationen als „Und wer ist weise, wenn nicht der, der Jesus schmecke und den Jesus schmeckt?“79 In Anlehnung an Aischylos und Kant könnte man somit vielleicht konstatieren, dass eine somatische Frömmigkeit des ausgehenden Mittelalters den Gläubigen zurief: „Wage, (Gott) zu schmecken, wage, (Gott) zu erkennen – oder anders formuliert: Wage, Deine Sinne zu gebrauchen, wage, Gott zu begreifen!“80 Einen Gott, nach dessen Duft und Wärme, nach dessen tröstender und gerecht machender Berührung sich der Fromme sehnte, wie es bereits Anselm von Canterbury (gest. 1109) in einem Gebet an Christus als Mutter formuliert: Christus, Mutter, der du unter deinen Fittichen deine Küken sammelst: Dieses dein verstorbenes Küken wirft sich unter deine Flügel. Denn durch deine Sanftmut werden die Erschreckten gestärkt, durch deinen Duft die Verzweifelnden erneuert. Deine Wärme macht die Toten lebendig, deine Berührung macht die Sünder gerecht.81

Neben dem geschilderten Befremden angesichts eines „Zuviel“ des Körpers, das oft mit einer sexualisierenden Lesart einherging, vertrat man in der (kirchen-) historischen Debatte lange Zeit auch die Annahme einer monolithischen Abqualifizierung des Körpers, mithin des weiblichen Körpers.82 In der Tat finden sich zahlreiche Hinweise auf eine durchaus abwertende Sichtweise des Körpers beziehungsweise auf ein antagonistisches Verhältnis zwischen Leib und Seele, wie es in zahlreichen lateinischen und volkssprachlichen Texten zum Ausdruck gebracht wurde.83 Diese negativen Aussagen sollten jedoch  – wie die jüngere kirchengeschichtliche und pro­fan­historische Forschung zeigen konnte – nicht 79  Et quis sapiens, nisi qui sapiet Iesum et cui Iesus sapit? (zit. nach McGinn, Mystik [Bd. 2], 469 [Anm. 176]). Weitere Beispiele für diese mittelalterliche Auffassung finden sich bei Bynum, Holy Feast, 151: „Intellect, soul and sensory faculties were not divided, with a seperate vocabulary to refer to each […] The mystical writer Rudolph Biberach (d. ca. 1350) pointed out that sapientia (wisdom, good taste) and sapere (to taste or savor) are related etymologically: ‚to taste‘ is ‚to know‘. As William of St. Thierry put it in the twelfth century: ‚[…] gustare, hoc est intelligere‘.“ So auch Dworschak, Gebrauch, 190. 80  Im Deutschen könnte diese Polyvalenz vielleicht noch am ehesten mithilfe der Verben „wahrnehmen“, „begreifen“ oder „besinnen“ nachempfunden werden. Vgl. dazu auch Bynum, Why all the Fuss, 26 sowie mit eindrücklichen Beispielen einer sinnlichen Frömmigkeit Hamm, Gott berühren, 125–127. 81 Neben dem Geschmackssinn wurden auch die anderen Sinne des Menschen in der Gottesbegegnung angesprochen, so etwa in Anselm von Canterburys (gest. 1109) berühmtem Gebet, in dem die Mütterlichkeit Jesu durch die Beschreibung ihres Duftes, ihrer Wärme und ihrer Berührung gepriesen wird: Christe, mater, qui congregas sub alas pullos tuos. Mortuus hic pullus tuus subicit se sub alas tuas. Nam lenitate tua exterriti confortantur, odore tuo desperantes reformantus. Calor tuus mortuos vivificat, attactus tuus peccatores iustificat (Anselm von Canterbury, Gebete, 65 f.). 82  Unter B.4.1 soll die These einer durchweg misogynen Grundhaltung des Spätmittelalters unter Berücksichtigung der Fragestellung nach Geschlechterbildern und dem modernen sex versus gender-Diskurs auf den Prüfstand gestellt werden. Deswegen verzichte ich an dieser Stelle auf eine Diskussion dieses Aspektes. 83 Eine Analyse einflussreicher mittelenglischer Gedichte dieser Thematik sowie deren lateinischer Gegenstücke wie etwa „The Royale debate“ und „Dialogus inter Corpus et Animam“

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dazu verleiten, einen besonders aus­ge­präg­ten Leib-Seele-Dualismus zu konstatieren, der sich wohl mehr einer post­aufklä­reri­schen Anthropologie verdankt, als dass er dem mittelalterlichen Menschenbild entspräche. Gerade die Betonung der Einheit von Leib und Seele,84 die seit dem Hochmittelalter viru­lent wurde, sollte für die gewichtige Rolle des Körpers grundlegend werden: Dieser wurde in der Sache des Glaubens nicht länger allein als Kerker, sondern durchaus auch als Gefährte der Seele angesehen.85 Obgleich, in der Tradition Tertullians und Irenäus’ stehend, die Beurteilung jenes Gefähr­ ten stets ambivalent und gebrochen blieb,86 bekannte sich die Frömmigkeit des Spät­mittel­alters nicht zuletzt in eindeutiger Frontstellung gegenüber einem dualistischen und leibfeindlichen Weltbild der Ketzerbewegungen des 12. Jahrhunderts zum deus incar­natus als Zentrum der Devotion und zu einer grundsätzlichen Bejahung des Körpers.87 Gerade die Hinwendung zum niedrigen Christus, zum Schmerzensmann, der mit dem Panto­krator des Hochmittelalters wenig gemein hatte,88 vermochte auch die Gebrochen­heit jeder fleischlichen Existenz – Verwundbarkeit und Tod – in sich aufzuheben und zu bejahen. Die Verehrung des verwundeten Christus als Retter des sündhaften Menschen zeigt findet sich bei Ackerman, Debate, 541–565. Auffällig ist jedoch, dass der Körper die alleinige Verantwortung für begangene Sünden zurückweist und die Seele dies anerkennt; vgl. ebd., 551 f. 84  Vgl. dazu Schreiner/Schnitzler, Historisierung, 11: „Nur weil Leib und Seele eine Einheit bilden, bestand nach Auffassung mittelalterlicher Theologen und Literaten die Möglichkeit, an Bewegungen des Körpers (motus corporis) Bewegungen der Seele (motus animae) abzulesen, aus dem Gesicht ( facies) einen Spiegel des Herzens (speculum cordis) zu machen und die Haltung des Körpers (gestus corporis) als Zeichen innerer Gesinnung (signum mentis) zu betrachten […]“. Langer konstatiert in seiner Analyse der von Jakob von Vitry verfassten Vita der Maria von Oignies (gest. 1213): „Die Brautmystik der Frauen überwindet den Gegensatz von Körper und Geist, von Außen und Innen. Bis in ihre Körperlichkeit hinein zeigen sich sichtbare leibliche Zeichen ihrer inneren Disposition. Die dieser anthropologischen Konzeption entsprechende Spiritualität umgreift Leib und Geist als Einheit. Die christlichen Wahrheiten werden nicht nur geistig, sondern auch leiblich-gesamtmenschlich erfahren“ (Langer, Leibhafte Erfahrung, 449). 85 Vgl. Rubin, Eucharistie, 32. Das Zusammenspiel von Leib und Seele, Innen und Außen umschreibt Caroline Bynum wie folgt: „Because preachers, confessors and spiritual directors assumed the person to be a psychosomatic unity, they not only read unusual bodily events as expression of soul, but also expected body itself to offer a means of access to the divine. Because they worshiped a God who became incarnate and died for the sins of others, they viewed all bodily events – the hideous wounds of martyrs or stigmatics as well as the rosy-faced beauty of virgins – as possible manifestations of grace“ (Bynum, Female Body, 196). 86 Vgl. dies., Images, 227. 87 Dem unbenommen versuchte man freilich, die Lüste des Körpers durch asketische Praktiken abzutöten. Vgl. dazu die Übersicht zur Frage „Dualismus im Christentum?“ bei Angenendt, Religio­sität, 562–567. Auch die Entscheidung des IV. Laterankonzils 1215 zur Frage der leiblichen Auferstehung ist im Kontext der Ketzerabwehr als ein wichtiges Signal für die positive Wertung des Körpers zu nennen; vgl. dazu Bynum, Resurrection, 154 f. sowie dies., Fragmentierung, 130.187 und dies., Material Continuity, 54. 88  Vgl. dazu Hamm, Zentrierung, 191. Auf die Herkunft des Motivs des Schmerzensmannes aus der Ostkirche und seiner Rezeption im Westen ab dem 12. Jahrhundert verweist Tanabe, Schmerzens­mann, 96.



1  Vorurteile, Missverständnisse, Projektionen

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besonders eindrücklich, dass man das Heil körperlich fasste, wie es etwa der Kartäuser Ludolf von Sachsen (gest. 1378) in seiner Vita Christi formuliert: „Aber er ließ es zu, dass man ihm fünf Wunden zufüge, damit er die fünf Sinne des Menschen­geschlechts erlöse, die vom Teufel gefangen genommen waren.“89 Das Paradoxon der „heilenden Verwundung“ ist meines Erachtens besonders geeignet dazu, sich der Fremdheit spätmittelalterlicher Körperkonzepte bewusst zu werden. So zeigt es sich, dass nicht allein der Rückbezug auf die Errungenschaften des Post­struktu­ralismus, der auf die diskursive Konstruiertheit von Körpern verweist,90 hilfreich ist, um der Alterität vergangener Frömmigkeitsformen und -praktiken gewahr zu werden.91 Gerade auch die Beschäftigung mit der Herzenswunde des vieldeutigen, poly­morphen Christuskörpers kann dazu beitragen, der Fremdheit der spät­mittel­alterlichen somatischen Frömmigkeit eingedenk zu bleiben.92 Wenn im Folgenden versucht werden soll, die Kontingenz der eigenen Kategorien93, die Kontext­gebundenheit des vermeintlich selbstverständlichen Leiberlebens und der eigenen Körperkonzepte94 so gut es geht zu berücksichtigen, 89  Quinque autem vulnera sibi infligi permisit, ut humani generis quinque sensus a diabolo captos redimeret (Ludolf, Vita Christi II, 139, l. Sp., Z. 17–20). Hier wie im Folgenden handelt es sich, wenn nicht anders angegeben, um meine eigene Übersetzung der jeweiligen Quellenschriften. 90 Vgl. K ay/Rubin, Introduction, 3. Eine Diskussion der Thesen Butlers, Foucaults, Laqueurs unter besonderer Berücksichtigung ihrer Korrelierbarkeit mit der Mediävistik bietet etwa auch Bennewitz, Konstruktion, 1–10. 91  Einen instruktiven Vergleich zur ähnlich gearteten Problemlage innerhalb der anthropologischen und ethnologischen Disziplin zieht Lorenz, Vergangenheit, 27: „Die Übertragung moderner Men­schen-, Körper- und Krankheitsbilder auf vormoderne Zeiten entpuppte sich hingegen bei der Inter­pre­tation frühneuzeitlicher Alltagsquellen bald ebenso als Sackgasse wie das ‚Übersetzen‘ fremder Riten in die Logik der ‚westlichen Welt‘, welches Ethnologie und Kulturanthropologie lange praktiziert hatten.“ Die Forderung Berndt Hamms, sich ein gerütteltes Maß an Skeptizismus gegenüber den eigenen Gedankengebäuden zu bewahren, die er im Kontext der Epocheneinteilung formuliert, möchte ich auch auf die vorliegende Problemlage angewandt sehen: „Begriffe der Geschichtsdeutung, so unentbehrlich sie sind, bekommen dann eine fatale Wirkung, wenn sie ihre Fragwürdigkeit verlieren, wenn man sich nicht mehr dessen bewußt ist, daß sie Gedankenkonstrukte sind, die der Vergangenheit übergestülpt werden, nicht aber Realitäten der Vergangenheit selbst oder Abbilder von Wirklichkeit“ (Hamm, Zentrierung, 163). 92 Vgl. Lochrie, Mystical Acts, 194. 93  Dies gilt, wie Bynum betont, etwa auch für die Frage nach dem zugrundeliegenden Wahr­heits­verständnis: „Thus when I say, for example, that a certain holy woman lived for years without eating, I do not mean to imply that this statement is true (or false) by twentieth-century standards of reporting or of scientific verification. I mean that such a story interested medieval people enough for them to re­cord it and that it expressed a way of finding value and giving meaning“ (Bynum, Holy Feast, 8). 94  In besonderem Maße gilt dies etwa von der Unterscheidung der Geschlechter: „Daß andere Maßstäbe ganz andere Logiken ermöglichten, hatte Gianna Pomata anhand der menstruierenden und laktieren­den Männer der italienischen Renaissance nachgewiesen, deren Existenz teilweise noch Ende des 18. Jahrhunderts weder von Akademikern noch der Bevölkerung ernsthaft bezweifelt wurden“ (Lorenz, Vergangenheit, 79).

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so geschieht dies in be­wusster Abgrenzung gegenüber eben jener Tradition, die im Zuge der Projektion eigener Wert­maßstäbe auf die Zeugnisse der Vergangenheit die skizzierten Ver­stehens­muster „Ver­äußer­lichung“, „Pathologisierung“, „Sexualisierung“ oder „Leib­feind­lich­keit“ bedingt hat. Ich halte es vielmehr für angebracht, das Verstummen der eigenen Begrifflichkeiten, die Unangemessenheit des eigenen Maßes ebenso auszuhalten, wie dies der theologischen Sprache nach Einschätzung des Philosophen Michel de Certeau zu Beginn des 17. Jahrhunderts abverlangt wurde.95 Dem eigenen Bezugsrahmen zu entkommen, wird wohl unmöglich sein. Als wegweisend erachte ich es jedoch  – in Abgrenzung zu einer Haltung der allzu selbstsicheren Eti­ kettie­rung der Phänomene somatischer Frömmigkeit – sich an Isaak von Stellas Ein­ge­ständnis fundamentaler Unsicherheit angesichts der Rätselhaftigkeit des Körpers zu orientieren. Oder um es in den Worten Simon Gaunts zu sagen: „We have nothing to feel smug about when contemplating medieval texts. We may have something to learn.“96 95  „Das

Verstummen der Sprache Gottes“ – so überschreibt Peter Hardt einen Abschnitt seines Buches „Genea­logie der Gnade. Eine theologische Untersuchung zur Methode Michel Foucaults“, der von Michel de Certeaus Fallstudie über die Besessenheit zu Loudun in einem Ursulinenkonvent in den 30ern des 17. Jahrhunderts handelt. Hardt konstatiert in diesem Absatz, bezugnehmend auf de Certeau: „Im Mittelalter als Zeit der geschlossenen Christenheit gibt es keine offizielle Trennung zwischen religiösem Handeln und öffentlicher Moral. An der Wurzel des Bruches, der die Sprache des Glaubens von den Handlungen der Menschen ablöst, steht die Kirchenspaltung, die den Zerfall der mittelalterlichen Strukturen beschleunigt. […] Hatte sich die Gesellschaft bis zu diesem Zeitpunkt in theologischen Kategorien artikuliert – so wie sich die heutige Gesellschaft politischer oder wirt­schaft­licher Referenzrahmen bedient –, so kann die Einheit nach der Entstehung partikulärer christlicher Orte in dieser Sprache nicht mehr ausgedrückt werden. […] Der Bruch zwischen Gott und der Welt, die Verdunkelung der Zeichen, die in der Immanenz die Transzendenz bezeichnen können, führt epistemologisch zunächst dazu, dass die theologische Sprache nicht länger in der Lage ist, die nun als autonom begriffene weltliche Wirklichkeit zu organisieren. La possession de Loudun liest sich dazu als Fallstudie, die den Statuswechsel der religiösen Sprache veranschaulicht. […] Der mangelnde Erfolg der exorzierenden Priester ruft die Mediziner auf den Plan, die dann mit ihrer Logik versuchen, dem Phänomen der Besessenheit Herr zu werden. […] Der Skandal besteht darin, dass die Legitimität des religiösen Diskurses bestritten wird und die Medizin mit der Theologie um den angemessenen Zugang zur Wirklichkeit konkurriert. Damit erweist sich die Kontinuität des Gottesdiskurses als gebrochen, und die humanwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassungen beginnen das epistemo­lo­gische Feld zu bestimmen. Die Religion stellt nicht länger den Lektüreschlüssel für die Transparenz der Wirklichkeit“ (Hardt, Genealogie, 126 f.). Vgl. dazu auch das abschließende Résumé bei de Certeau, La possession, 422 f. 96  Gaunt, Gender, 289. Freilich ist in den letzten Jahrzehnten, wie die Flut der einschlägigen Veröffentlichungen zeigt (vgl. allein die in Duden, Body History verzeichneten Titel), vor allem eine neue Aufmerksamkeit für den Körper zu verzeichnen. Jene „Renaissance des Körpers“, jene „Wiederkehr des Leiblichen“ (List, Das Schöne, 60) bildet somit die Hintergrundfolie der vor­liegenden Arbeit. Die Relevanz der Körperthematik formulierten bereits 1995 Tilley/ Ross, Introduction: „Why would a professional society of theologians gather to converse and debate about the body when issues of war and peace, justice, feminism, Bible and sacraments all calles to them with urgent voices? Be assured, gentle reader, this was no flight from reality, no disengagement from the intellectual life, no retreat into sentiment and sensuality. The Society



2  Text, Körper, Bild

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2  Text, Körper, Bild: Der Niederschlag der Seitenwundenfrömmigkeit in literarischen, performativen und bildlichen Zeugnissen des Spätmittelalters Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine Reihe von Quellen des ausgehenden Mittelalters eingehender untersucht werden sollen, um die spielerische These der Zentralstellung der Seitenwundendevotion innerhalb der spät­mittel­ alter­li­chen Religiosität zu stützen. Da ein quantitativer Zugang nicht möglich ist und vielmehr eine qualitative Auswahl angezeigt scheint, soll offengelegt werden, welche Auswahlkriterien angelegt wurden. Wie bereits erwähnt erscheint es zielführend, aufzuzeigen, dass die intensive Beschäftigung mit der Seitenwunde Christi sich als überregionales, paneuropäisches Phänomen nachweisen lässt, dass Männer ebenso wie Frauen als Autorinnen und Rezipienten einer spezifischen Seitenwundenfrömmigkeit gelten können und dass sowohl Laien als auch etablierte Theologen sich mit diesem Thema befassten.97 Als einende Klammer, gleichsam als verbindende Überschrift dient der Terminus der Frömmigkeit beziehungsweise der Frömmigkeitstheologie. Aus diesem Grund werden scholastische Autoren keine Berücksichtigung finden oder nur insofern, als ihre Texte von einem Frömmigkeitstheologen wie Ludolf von Sachsen aufgenommen und für sein frömmigkeitstheologisches Erbauungskonzept Verwendung gefunden haben. Die hierbei vorgenommene übergeordnete Untergliederung – Text, Körper, Bild – bedarf einer kurzen Er­läu­terung.98 Zunächst erscheint jene Unterscheidung durchaus angezeigt, um die Viel­stimmigkeit99 der Medien anzudeuten, durch welche die Verehrung der Seitenwunde Christi artikuliert wurde. Jene Unterteilung soll – um dies noch einmal zu betonen – nicht dem potentiellen Miss­verständnis Vorschub leisten, die literarischen Zeugnisse sprächen vornehmlich den Intellekt, Bilder und körperliche Performanzen hingegen allein die Sinne des Frommen an. Wie bereits konstatiert wurde, würde eine solche Differenzierung weder den Urhe­berin­nen noch den Empfängern und ihrem Verständnis der Aneignung von Glaubens­inhalten gerecht werden. Ein berechtigter Einwand auf methodischer Ebene gegen jene Dreiteilung sei jedoch kurz choose the theme ‚Religion and the Body‘ for its contemporary relevance […] to the challenges facing today’s church“ (ebd., vi). 97  Unter A.2.1, A.2.2 und A.2.3 werden die hier genannten Kriterien noch einmal eigens präzisiert und erläutert werden, um nachvollziehbar zu machen, was jene Quellen auszeichnet, die im weiteren Verlauf als wichtigste Diskussionsbasis meiner Thesen herangezogen werden sollen. 98  Diese Dreiteilung orientiert sich u. a. an Largier, Scripture. 99  Dass jener Dreiklang den gewichtigen Bereich der Musik vernachlässigt, ist mir bewusst; vgl. dazu allein mit dem Fokus auf England etwa Plank, Passion Music, 92–108 und die dort angegebene Literatur sowie für den Kontext der Devotio Moderna die einschlägigen Publikationen von Ulrike Hascher-Burger, etwa Burger, Gesungene Innigkeit.

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benannt: Da alle mimetischen und performativen Praktiken des Körpers auf die Ver­schriftung angewiesen waren, sofern sie nicht im Medium der bildlichen Darstellung transportiert wurden, sind es freilich auch unter A.2.2 Texte, denen man begegnet: Kör­per­sprache musste sich der Verschriftlichung bedienen, um über ihren direkten Adressatenkreis hinaus zu wirken. Da die vorliegende Untersuchung auf die ursprüng­li­che Unmittelbarkeit des Körpers verweisen und den Leib als Akteur der Frömmigkeit eigens berücksichtigen möchte, erscheint ein eigenes Unterkapitel dennoch gerechtfertigt. Wenn also nun im Folgenden Beispiele aus dem Bereich der Devotionsliteratur ebenso wie mystische Texte und Visionsschilderungen (A.2.1 literarische Zeugnisse), Berichte somatischer Performanzen, seien sie individuell-einmalig oder theatral und wiederholbar (A.2.2 performative Zeugnisse) und Beispiele aus dem Bereich der bildenden Kunst (A.3 künstlerische Zeugnisse) berücksichtigt werden, so trägt dies eben jener Bandbreite einer intellektuell-sinnlichen Vermittlung und Rezeption der Seitenwundenfrömmigkeit Rech­nung. Wenn Männer und Frauen, Laien und Ordensleute zu Wort kommen, gebildete und illiterate Adressatinnen in den Blick genommen werden, wenn Quellen aus dem südeuropäischen Foligno neben dem mitteleuropäischen Helfta, dem osteuropäischen Böhmen oder dem westeuropäischen Northampton Berücksichtigung finden, so ist dies der Versuch, trotz der notwendigen Eingrenzung der Quellen die Vielstimmigkeit und Omnipräsenz der spät­mittel­alterlichen Seitenwundenfrömmigkeit für Europa nachzuweisen.

2.1 Schriftzeichen – die Seitenwundenfrömmigkeit in literarischen Zeugnissen des Spätmittelalters: Gertrud von Helftas Legatus, Angela von Folignos Liber und die Passionsbetrachtungen der Vita Christi des Ludolf von Sachsen Gertrud von Helfta, Angela von Foligno und Ludolf von Sachsen sind keineswegs die einzigen, noch die ersten oder letzten Zeuginnen, die herangezogen werden können, wenn man nach dem Niederschlag einer expliziten Seitenwundenfrömmigkeit in literarischen Zeugnissen fragt.100 Zugleich bieten die 100  Als weitere bedeutende Kronzeugin wäre etwa Lutgart von Tongeren zu nennen. Auch wenn man das ausgehende Mittelalter mit Johannes Grabmeyer als den Zeitraum zwischen 1250–1500 fasst und so Lutgart von Tongeren (gest. 1246) gerade nicht in den fraglichen Untersuchungszeitraum fiele, so träfe dies nicht für den Text selbst, die von Thomas von Cantimpré verfasste Hagiographie, zu, in der von Lutgarts erstaunlichen Visionen der Seitenwunde Christi berichtet wird. Den Hinweis auf Lutgart von Tongeren verdanke ich Volker Leppin. Wenn eine Untersuchung ihrer unmittelbaren und existentiellen Visionen der Seitenwunde Christi, die Lutgart etwa vor einer illegitimen erotischen Beziehung mit einem Verehrer bewahrt, nicht im Kontext dieser Arbeit, sondern (wie auch Catharina von Siena) in einer eigenständigen Untersuchung gewürdigt werden soll, hat dies also nicht in erster Linie mit dem fraglichen Zeitrahmen zu tun (zumal dieser auch im Kapitel A.2.3 aus guten Gründen gesprengt wird),



2  Text, Körper, Bild

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einschlägigen Texte des Ludolf von Sachsen, der Gertrud von Helfta und der Angela von Foligno nicht allein eindringliche Visionen der Seitenwunde Christi, sondern sie zeichnen sich meines Erachtens durch einen frömmigkeitstheologischen „Mehrwert“ für andere aus, dem die Fragestellung der vorliegenden Arbeit gewidmet ist. Die hier ausgewählten Zeugnisse sind also keineswegs die einzigen einschlägigen Texte, sondern erscheinen lediglich als besonders geeignet, das Spektrum der Frömmigkeitstheologie in seinem Zentrum wie an seinen Rändern abzubilden: So ergänzen sich die als zutiefst persönlich geschilderten und zugleich toposartig ausgeformten Visionserfahrungen der Angela von Foligno und der Gertrud von Helfta, aus denen zugleich (frömmigkeits-) theologische Schlüsse gezogen werden und der kompilatorische Rekurs auf theologische Autoritäten, wie ihn Ludolf von Sachsen vorlegt, um seinen Lesern Grundaussagen mit Blick auf die Bedeutung der Seitenwunde Christi zu vermitteln. Zugleich wird im Folgenden deutlich werden, dass es sich um sehr unterschiedliche schriftliche Quellenzeugnisse101 handelt, die als maßgebliche Kronzeugen der vorliegenden Untersuchung ausgesucht wurden. Ihre Diversität verdankt sich zum einen der (theologischen) Individualität ihrer Verfasser, ihrer jeweiligen Gattungszugehörigkeit, ihrer sprachlichen Form und Kontextualisierung sowie nicht zuletzt ihren je eigenen Schwerpunktsetzungen mit Blick auf die Bedeutung und die Deutungszusammenhänge der Seitenwunde Christi. In den ausgewählten Kapiteln des Legatus der Theologin Gertrud von Helfta (gest. 1302) soll eine weibliche Stimme zu Wort kommen, die, in einem klösterlichen Kontext ver­an­kert, visionäre Mystik und systematische Theologie auf einen Nenner zu bringen vermag, wobei ihre durch und durch anspruchsvolle Diktion hohe Erwartungen an ihre Leserinnen stellt. Mit ihrer Beheimatung im mitteldeutschen Raum repräsentiert sie eines der damaligen Zentren mittelalterlicher Frömmigkeit. Die einschlägigen Passagen aus dem Memoriale der Angela von Foligno (gest. 1309) leisten durch ihre sehr individuelle, somatische und franziskanisch geprägte Mystik einen sehr eigenwilligen Beitrag. Dabei stellt die Zusammenarbeit zwischen weiblicher Theo­login/Mystikerin und männlichem Biographen ebenfalls ein besonderes Szenario dar, zumal durch das einfache Latein jener Quelle an vielen Stellen das eigentliche Idiom der Angela von Foligno, das Altitalienische, durchschimmert. Überdies kommt mit jener Quelle auch das sondern verdankt sich zwei Überlegungen: Zum einen wäre es wünschenswert, der komplexen Textüberlieferung genügend Raum zu geben, und diesem so frühen Zeugnis einer Seitenwundenvision auch unter traditionsgeschichtlicher Fragestellung zu begegnen, sondern auch dem Umstand, dass die hier berücksichtigten Textzeugnisse der Leitkategorie der „Frömmigkeitstheologie“ untergeordnet werden sollen. Zur komplexen Überlieferungsgeschichte siehe nur Newman, Collected Saint’s Lives, 17 f. Zu Lutgart siehe auch Smith, Excessive Saints, 101–103. 101  Die Reihenfolge der Analyse jener drei Textzeugnisse folgt der Chronologie und hat keinen eigenen Aussagegehalt.

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südliche Europa zu Wort und eine Theologin, bei der das Spiel mit Originalität und Topoi sich exemplarisch aufzeigen lässt. Aus der unübersehbaren Fülle der Devotionsliteratur als typischem Quellenbereich der Seiten­wunden­fröm­mig­keit sind die Passionsbetrachtungen der Vita Christi des Kartäusers Ludolf von Sachsen (gest. 1377/78), wohl abgefasst in Mainz, herausgegriffen, die durch ihren kompilatorischen Charakter, ihre zahlreichen Rückgriffe auf Anselm von Canterbury, Bernhard von Clair­vaux und andere Autoritäten, als eine Art common sense der Frömmigkeitstheologie zu begreifen sind. Ludolf versucht für seine Leser (wohl auch jenseits des Klosters und des Kleriker­kontextes) das große Weltendrama der Passion auf die Bühne des Alltags zu trans­portieren. Mit Gertrud von Helfta, Angela von Foligno (sowie deren Biographen Frater Arnaldus) und Ludolf von Sachsen sollen somit ganz eigenwillige und zugleich wohl auch für jene Epoche des Spätmittelalters exemplarische Autoren zu Wort kommen und Texte unter­sucht werden, deren Zielgruppen ebenso unterschiedlich waren wie ihre Breiten­wirkung oder ihre theologischen Akzente. Dass nicht noch weitere schriftliche Textzeugen berücksichtigt werden können, ist ebenso zu bedauern wie die Tatsache, dass auch mit Blick auf die tatsächlich ausgewählten Texte Fragestellungen der Überlieferungs­geschichte oder der Quellenlage nur angetippt werden können. 2.1.1  Die Seitenwundenfrömmigkeit im Legatus divinae pietatis der Gertrud von Helfta 2.1.1.1  Biographische Skizzen zu Gertrud von Helfta (1256–1302) Scribe, misericordissime Domine, vulnera tua in corde meo pretiose sanguine tuo, ut in eis legam tuum dolorem pariter et amorem.102

Lange Zeit wurden Leben und Werk Gertruds, der die Kirchengeschichte den seltenen Bei­namen „die Große“ zuerkannte,103 lediglich in frommen Erbauungsschriften bedacht und ihre Mystik zu einer „Art exotischer Blütensammlung karikiert“, die gleichwohl der Erquickung des männlichen Herzens dienlich sei, wobei man ihren Wirkungskreis, das Kloster Helfta, je nach Belieben zu einem „Treibhaus“ oder aber zu einem „Paradies auf Erden“ stilisierte.104 Das 102  Gertrud, Legatus II, C. IV, Z. 7–9. „Schreibe, barmherzigster Herr, deine Wunden in mein Herz mit deinem kostbaren Blut, so dass ich in ihnen lese deinen Schmerz ebenso wie deine Liebe.“ 103 Vgl. Lanczkowski, Gertrud, 100. 104 Vgl. Bangert, Demut, 1 f. (bes. Anm. 2–4). Zu Helfta vgl. auch Ruh, Ein neues Gertrud-Bild, 2 sowie Doyère, Introduction, 9–13. Die Schwestern des Klosters befolgten die Bene­dik­tus­regel und hielten sich an die Konstitutionen der Zisterzienser, deren Orden sie jedoch auf Grund des Gründungsverbotes neuer Frauenklöster nicht regelrecht angehörten; die Seelsorge lag in der Hand von Dominikanern; vgl. dazu Köpf, Gertrud, 538. Voaden,



2  Text, Körper, Bild

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sogenannte „Gertrudenbuch oder Gebet- und Erbauungsbuch, größtenteils aus den Offen­barungen der heiligen Gertrud und Mechthild gezogen“ des Michael Sintzel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts105 zeichnet die Autorin des Legatus divinae pietatis wie folgt: Im sechsundzwanzigsten Jahre ihres Alters  – es war am 27. Januar 1281  – ward sie zum ersten Male mit der sichtbaren Erscheinung ihres heißgeliebten göttlichen Bräutigams begnadigt, der von diesem Augenblicke an bis zum seligen Heimgang der Braut von Angesicht zu Angesicht mit ihr verkehrte, ihrem Herzen seine fünf Wundmale einprägte, mit sieben kostbaren Ringen, den Symbolen ihrer strahlenden Tugenden, sich ihr ver­mähl­te und zum Zeichen dieser unauflöslichen mystischen Verbindung in unbeschreib­li­cher Weise sein göttliches Liebesherz mit ihrem Herzen vertauschte. Das Leben der begna­dig­ten Klostertaube war fürder ein wesentlich ekstatisches, übernatürliches, geheim­nis­volles.106

Sucht man nach sachlichen Aussagen zu Gertruds Leben, so sieht man sich auf ihre eigenen Werke, die Exercitia spiritualia und das von ihr selbst verfasste Buch II des Legatus divinae pietatis verwiesen sowie auf dessen posthum durch Gertruds Mit­schwestern vorgenommene Ergänzungen.107 Freilich sind es nur bruchstückartige bio­gra­phi­sche Angaben, oftmals verknüpft mit besonderen göttlichen Gnadenerweisen, die Gertrud dem Leser anbietet. Dass jene Schilderungen nicht im Sinne einer eigentlichen Biographie oder einer Art Tatsachenbericht zu verstehen sind, sondern vielmehr als von Topoi und Theologie durchdrungene, stilisierte Texte zu lesen sind, muss sicherlich nicht eigens erwähnt werden.108 Die Herkunft Gertruds liegt im Dunklen. Das erste gesicherte Datum ist das Jahr 1261, in welchem Gertrud, wohl nach dem Tode ihrer Eltern, im Alter von fünf Jahren dem Kloster Helfta übergeben wurde.109 Die Äbtissin Gertrud von Hackeborn förderte ihre Bildung in den sieben freien Künsten, wobei Gertruds Community, 74 beschreibt die Gemeinschaft in Helfta als „a place of mutual support, spiritual reassurance and practical assistance.“ 105  Hierbei handelt es sich um eine deutsche Übersetzung der lateinischen LanspergiusAusgabe aus dem Jahr 1536, welche eine verstärkte Gertrud-Rezeption einläutete; vgl. dazu sowie zur gesamten Rezep­tions­geschichte ausführlich Bangert, Demut, 3–10. 106  Sintzel, Gertrudenbuch, 12. 107 Vgl. Gertrud, Gesandter, 568. Auf die Frage der Autorenschaft der Legatusbücher und der Rolle der Schwester N wurde bereits hingewiesen. 108  Wenn also im Folgenden bei der Darstellung der Lebensdaten oder biographischen Stationen Gertruds der Indikativ verwendet wird, so geschieht dies nicht in der naiven Haltung einer „historischen“ Schilderung des Gewesenen, sondern um der besseren Lesbarkeit willen. 109 Vgl. Gertrud, Gesandter, 567. Zur Geschichte des Klosters St. Maria zu Helfta, diesem „Glanz­punkt der Frauenspiritualität und der Frauenbildung im europäischen Kulturraum“ vgl. auch Ban­gert, Mystikerin Gertrud, 9–21. Es ist davon auszugehen, dass Gertruds Übergabe an das Kloster als Oblatin durch den frühen Verlust der Eltern zu erklären ist; vgl. dazu Marnau, Intro­duction, 6. Gertrud erwähnt ihre Aufnahme als Oblatin im Alter von fünf Jahren etwa in Gertrud, Legatus II, C.  XXIII/1, Z. 17–19. Zu Gertruds Ankunft im Konvent und ihrer Beziehung zu den anderen Helftaer Theologinnen vgl. auch Voaden, Community, 77.

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außergewöhnliche Begabung schon früh zu Tage trat.110 Ihre profunden Kenntnisse der lateinischen Sprache, lateinischer Kirchenväter ebenso wie profaner lateinischer Texte sind unbestritten – manche Stilfiguren innerhalb ihrer Werke, die an Passagen aus Homers Odyssee erinnern, lassen sogar die Vermutung zu, Gertrud habe auch Griechisch beherrscht.111 Der Jahreswechsel 1280/81 brachte für Gertrud offenbar eine entscheidende biographische Zäsur: Am 27. Januar 1281, kurz vor dem Festtag zu Mariae Reinigung, dokumentierte sie ihre erste mysti­sche Begegnung mit Christus, die sie, wie es im Legatus heißt, von einer „Gram­ma­ti­kerin in eine Theologin“112 wandelte. Dieses Erlebnis, das Gertrud selbst wohl als Kon­ver­sions­erlebnis empfand, bewirkte freilich keine grundlegenden Umwälzungen hin­sichtlich ihres alltäglichen Lebens als Klosterfrau.113 Dennoch änderte sich nicht allein ihre innere Frömmigkeitshaltung, sondern auch ihre intellektuelle Interessenlage: Im Zuge ihrer Hinwendung zur Theologie eignete sich Gertrud profundes Bibelwissen114 an und wurde unter anderem von Augustin, Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Viktor, Gregor dem Großen sowie nicht zuletzt durch Dionysius Areopagita maßgeblich geprägt, wobei sie letzteren wohl durch lateinische Übersetzungen beziehungsweise lateinische Kommentare rezi­pierte.115 Am Gründonnerstag des Jahres 1289 habe Gertrud ein Gesicht empfangen, in wel­chem ihr die Niederschrift ihrer vorangegangenen Visionen aufgetragen wird – acht Jahre waren zu diesem Zeitpunkt seit jenem ersten, entscheidenden Gnadenerlebnis bereits verstrichen. Bei jener Niederschrift handelt es sich um das zweite Buch des Legatus divinae pietatis, den Lega­tus memorialis abundantiae divinae pietatis.116 Insgesamt untergliedert sich der Legatus in fünf Bücher. Buch I ist als eine hagiographische Darstellung des Lebens der Gertrud von Helfta zu betrachten, Buch II wird von Kurt Ruh als „Bekenntnisbuch“ tituliert. Buch III enthält Berichte unterschiedlichster Gnadenerweise, während sich Buch IV stark am liturgischen Kalender orientiert und Erlebnisse Gertruds an kirchlichen Festtagen schildert. Buch V schließlich widmet sich Offenbarungen bereits verstorbener 110 Vgl.

Gertrud, Gesandter, 574. Vgl. dazu ausführlicher ebd., 574 f. 112  Gertrud, Legatus I, C. I/2, Z. 17–19: „Weshalb sie von da an, nachdem sie aus einer Grammatikerin zur Theologin gemacht worden war, alle Bücher göttlichen Inhalts, die sie in Besitz zu bringen oder zu erwerben vermochte, ohne Verachtung wiederkäute.“ Unde exhinc de grammatica facta theologa omnes libros divinae paginae quoscumque habere vel acquirere potuit infastidibiliter ruminans. 113 Vgl. Marnau, Introduction, 7–9. 114 Zur Rezeption der Heiligen Schrift bei Gertrud siehe Leicht, Schrift-Rezeption, 93–113. 115 Vgl. Gertrud, Gesandter, 575 f. Augustinus und Bernhard von Clairvaux erscheinen Gertrud gar in Visionen; vgl. dazu Eliass, Quelle der Weisheit, 146 f. (Anm. 249.251). Zum Einfluss des Dionysius vgl. auch de Certeau, Mystic Fable, 102. 116 Vgl. Marnau, Introduction, 12. 111 



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Mitschwestern.117 Die Frage nach einer tatsächlichen, „authentischen“ Verfasserschaft wurde dabei immer wieder gestellt. Als gesichert gilt, dass lediglich jenes zweite Buch von Gertrud eigenhändig verfasst wurde. Irene Leicht bezeichnet es als „Gnadenbuch“118 und Kurt Ruh als „eine in sich ge­schlossene Schrift, der im Grunde nichts hinzuzufügen ist“, als „eine der schönsten, die Frauen verfaßt haben“119. Insgesamt macht es jedoch nur 14 Prozent des gesamten Textcorpus aus.120 Der lange Zeit vorherrschenden Forschungsmeinung, bei den Büchern III, IV und (in Teilen) V handle es sich um Diktate Gertruds,121 widerspricht Kurt Ruh nachdrücklich und konstatiert für die Bücher III–V vielmehr die eigenständige Autorenschaft einer unbe­kannten Mitschwester N, die er auch für die Abfassung des stark hagiographisch geprägten Buches I annimmt.122 Im Prologus nennt Schwester N auch den zeitlichen Rahmen, in den die Abfassung der anderen Bücher des Legatus einzupassen ist: Die Bücher III–V sind wohl kurz vor Gertruds Tod, also zwanzig Jahre später, um 1301 verfasst worden.123 Da es an dieser Stelle nicht darum gehen soll, vermeintlich authentische Lebenszeugnisse der „historischen“ Gertrud von Helfta zu untersuchen – allein das Bewusstsein, dass es nicht um Schilderung „tatsächlicher“ Erlebnisse und Erfahrungen, sondern primär um theologische Aussagen geht, würde dieses Ansinnen in die 117 Vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 319 f. Ruh verweist an dieser Stelle auch auf die inhaltlichen wie formalen Parallelen der Bücher IV und V zu Mechthilds Liber specialis gratiae. 118 Vgl. Leicht, Schrift-Rezeption, 104. Leicht betont hier vor allem Gertruds Orientierung an paulinischer Gnadentheologie. Als Beleg dafür vgl. allein Gertrud, Legatus II, C. XX /12, Z. 4–8: „[U]nd unverrückt hoffe ich und werde umarmt von sicherster Liebe mit Dankbarkeit, keineswegs auf Grund meiner Verdienste, sondern allein durch die geschenkte Milde deines Erbarmens, oh mein höchstes, ja einziges, gänzlich wahres, ewiges Gut.“ [E]t firmiter spero et securissima caritate cum gratitudine complector, nullis omnino meis meritis, sed sola gratuita clementia misericordiae tuae, o meum summum, imo solum, totum, verum aeternale bonum. 119  Ruh, Mystik (Bd. 2), 333. 120  Vgl. ebd., 314. Bei den Exertitia spiritualia, dem zweiten, mit Sicherheit aus Gertruds Feder stam­men­den Werk, handelt es sich um sieben Meditationen, die zu einer fortschreitenden unio mit Gott anlei­ten wollen und lebenspraktische Anweisungen mit Gebeten verbinden; zu Inhalt und Aufbau der Exercitia spiritualia vgl. ebd., 333–336 sowie Köpf, Gertrud, 539. 121  Vgl. so etwa Gertrud, Gesandter, 101 sowie Köpf, Gertrud, 538 f. 122  Vgl. dazu Ruh, Mystik (Bd. 2), 314 f.321 (Anm. 26). Jene unbekannte Schwester N charakterisiert Ruh in Rückgriff auf Doyère wie folgt: „Sie war gleichermaßen gelehrt, der Sakralsprache mächtig und theologisch ausgebildet wie Mechthild und Gertrud, nur ohne mystisches Gnadenleben, stellte sich ganz in den Dienst der begnadeten Mitschwestern (aber auch des Klosters) und blieb so, als Sprachrohr und klösterlicher Sitte gemäß, ohne Namen. Merkwürdigerweise hat noch nie jemand die Aufmerksamkeit auf diese Persönlichkeit gerichtet, wo sie doch den Großteil der Schriften, die den Namen Mechthilds und Gertruds tragen, zumindest sprachlich, aber ohne Zweifel auch in nicht geringem Maße inhaltlich, geformt hat“ (Ruh, Ein neues Gertrud-Bild, 4.). Zu den großen, auch theologischen Unterschieden zwischen Buch II und den übrigen Büchern des Legatus vgl. Leicht, Schrift-Rezeption, 105; Kurt Ruh plädiert aus diesem Grund sogar für eine geson­derte Edition des zweiten Buches; vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 333. Vgl. zum Ver­hält­nis der einzelnen Bücher zueinander auch Bangert, Demut, 66–68. 123 So Ruh, Mystik (Bd. 2), 316.

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Aporie führen – werden im Rahmen der Analyse einschlägiger Seitenwundentexte aus dem Legatus alle Texte als gleichwertig betrachtet. Nicht die Figur der Gertrud von Helfta, sondern der Kontext Helfta als Ort theologischer Reflexion wird als relevant betrachtet, wenngleich damit nicht die Autorenschaft oder die Gewichtigkeit der Theologin Gertrud von Helfta in Abrede gestellt werden soll. Gertruds Lebensgeschichte wird immer wieder auch als eine Krankheitsgeschichte dargestellt und es muss dahingestellt bleiben, inwiefern sich in diesen Passagen Topoi und Tatsachen mischen beziehungsweise in welchem Verhältnis sie vorliegen, inwieweit Lebenserfahrungen und Lesererwartungen Niederschlag gefunden haben mögen. An zahlreichen Stellen des Legatus verweist Gertrud beziehungsweise Schwester N auf das Erleben körperlicher Schwäche und Gebrechen; nicht selten sind es gerade Phasen der somatischen Labilität, in denen Gertrud ihre Visionen empfängt, die in manchen Fällen eine vorübergehende Gesundung herbeiführen.124 Das genaue Datum ihres Todes ist nicht bekannt – vermutet wird meist jedoch Spätherbst oder Winter des Jahres 1302.125 Nur 40 Jahre später sollte Kloster Helfta durch Albrecht von Halberstadt zerstört werden, so dass Gertruds Heimatkonvent keinen dauerhaften Beitrag zur Verbreitung des Legatus leisten konnte.126 Erschwerend war wohl auch der Umstand, dass Gertruds Hauptschrift im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Werken prominenter Mystikerinnen ohne Le­giti­mierung durch einen männlichen Schreiber oder Beichtvater auskommen musste127 – so ist wohl die mehrfache Betonung des expliziten göttlichen Auftrags zur Abfassung128 sowie die durch die Klosterleitung in Auftrag gegebene Liste kirchlicher Autoritäten zu erklären, die das Werk guthießen.129 Dies mag umso gewichtiger gewesen sein, als der „Gesandte der göttlichen Liebe“ womöglich nicht auf ein ausschließlich weibliches Publikum abzielte.130 124 

Vgl. dazu Eliass, Quelle der Weisheit, 155–159 (bes. Anm. 283–290). Gertrud, Gesandter, 569. Köpf nennt als Todestag den 17. November – entweder des Jahres 1301 oder 1302; vgl. dazu Köpf, Gertrud, 539. 126 Vgl. Bangert, Demut, 4. 127  Als Beispiel für Helfta selbst nennt Ruh Heinrich von Halle als Beichtvater Mechthilds von Magdeburg, der für die Veröffentlichung des Werkes „Das fließende Licht der Gottheit“ seine Auto­ri­tät in die Waagschale warf; vgl. dazu Ruh, Mystik (Bd. 2), 317. 128 Von einem Gedrängtwerden zur Verschriftlichung des Erlebten durch den heiligen Geist spricht etwa der Prolog zu Legatus II; vgl. Gertrud, Legatus II, Prologus. 129  Als legitimierende Autorität werden etwa Dietrich von Apolda O. P. aufgeführt sowie Hermann von Loveia O. P.; vgl. dazu Ruh, Mystik (Bd. 2), 317 f. Ruh äußert Zweifel an der Echt­heit eben jener Liste. 130  Anna Harrison und Caroline Walker Bynum verweisen darauf, dass Gertrud von Helfta weder im Hinblick auf ihre Rolle als Autorin ihre Weiblichkeit thematisiert habe (der Schlüsselbegriff sei vielmehr humanitas, jenseits aller Geschlechtergrenzen), noch explizit für Frauen geschrieben habe: „Thus Gertrud writes of herself not as female but as human. If we look at her understanding of authorship and her sense of authorization, it seems true […] that the sex auf the author is beside the point. Nothing Gertrude says about her inadequacy or her power 125 So



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Kennt das 14. Jahrhundert noch keine, das 15. Jahrhundert lediglich acht Handschriften sowie eine mittelhochdeutsche Übertragung, als der Botte der götlichen miltekeit bekannt, so brachte das 16. Jahrhundert die entscheidende Wende: Die 1536 durch den Kölner Kar­täuser Johannes Lanspergius erstellte lateinische Druckausgabe lieferte der Rezeption Gertruds (die vor allem im romanischen Sprachraum zu verzeichnen ist)131 in den folgen­den Jahrhunderten eine gesicherte Textbasis.132 Als berühmtestes Beispiel für die Herausgabe von Textauszügen ist das von Martin von Cochem erstellte „Gertrudenbuch“ aus dem Jahr 1666 zu nennen.133 1606 begann im Konvent von Lecce in Apulien die Verehrung Gertruds als Heilige; 1674 schließlich weitete sich diese Verehrung europaweit auf den Benediktinerorden aus.134 In der Mitte des 18. Jahrhunderts übernahm die gesamte lateinische Kirche den Kult, nach­dem Gertrud 1678 in das Martyrologium Romanum aufgenommen worden war.135 Fernab aller Romantisierung, die Gertrud im Laufe der Jahrhunderte erfahren musste, überrascht ihr Hauptwerk, der Legatus, durch seine gedankliche Kühnheit136 und eine kon­se­quente Gnadentheologie, welche die Liebe Christi als unwiderstehliches Movens zur vera contritio ansieht, die als Reaktion auf die göttliche Liebe jede Strafe überflüssig macht.137 Somit kann der Legatus als bedeutsames Werk des ausgehenden Mittelalters in Anspruch genommen werden, der die eigene Verdienstlichkeit des Menschen relativiert und dessen Schwachheit heilsam aufgehoben weiß in der unwiderstehlichen Barmherzigkeit Gottes: Darum erkenne, dass ich, obgleich ich, wie es angemessen ist, jenem frommen Eifer Beachtung schenke, der sich um meines Ruhmes willen in Gebeten, Fasten, Nachtwachen und dergleichen übt – mit weit größerer Barmherzigkeit bei meinen Erwählten bin – auch wenn es den weniger Einsichtigen nicht so erscheinen möge – wenn sie zu meiner Barmherzigkeit Zuflucht nehmen, getrieben vom Stacheln der menschlichen Schwachheit.138

is gendered female; nothing suggests that her audience or her community is only women“ (Harrison/Bynum, Composition, 75). Ebenso urteilt auch Eliass, Quelle der Weisheit, 144. 131 Vgl. Bangert, Demut, 5 (bes. Anm. 20). 132 Vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 319. 133 Vgl. Köpf, Gertrud, 540. 134 Vgl. Gertrud, Gesandter, 588. 135  Vgl. ebd., 588 sowie Köpf, Gertrud, 540. 136  Als Beispiele seien etwa Gertruds Aussagen zu ihrer Löse- und Bindegewalt genannt; vgl. dazu Angenendt, Religiosität, 647. 137  Vgl. ebd., 99. Angenendt verweist an dieser Stelle auf die Orientierung Gertruds an der Gnaden­theo­logie Bernhards. 138  Unde intelligas quod quamvis, ut dignum est, pie respiciam ad studia illa quae in gloriam meam exercentur, ut sunt orationes, jejunia, vigiliae et similia, tamen (licet minus intelligentibus non videatur) majori compassionis affectu adsum electis meis, quando stimulis humanae fragilitatis impulsi ad misericordiam meam confugiunt […] (Gertrud, Legatus III, C.  XVIII/15, Z. 6–12).

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2.1.1.2  Schlüsseltexte der Seitenwundenfrömmigkeit des Legatus Gertrud von Helfta wurde lange Zeit als Schlüsselfigur und Mitbegründerin des Herz-Jesu-Kultes betrachtet.139 Es ist das Verdienst Kurt Ruhs, diese allgemein ventilierte These durch seine Analyse der Werkgeschichte des Legatus überzeugend in Frage gestellt zu haben.140 Begegnen in den Büchern I, III–V aus der Feder der Schwester N in der Tat zahl­reiche Visionen über das Herz Jesu,141 139  Vgl. etwa Ancelet-Hustache, Mechtilde, 347, die Gertruds „Gesandten der göttlichen Liebe“ im Hinblick auf seinen theologischen Grundgedanken mit Mechthild von Magdeburgs „Liber specialis gratiae“ parallelisiert: „Le Livre de la grace speciale et le Héraut de l’amour divin sont entièrement composés à la louange du Coeur de Jésus.“ So etwa auch noch bei Gertrud, Gesandter, 583: „Die Herz-Jesu-Verehrung nimmt ihren Anfang bei Gertrud von Helfta.“ Zu Gertruds Inanspruchnahme für eine neuzeitliche Herz-Jesu-Frömmigkeit vgl. ausführlich Bangert, Demut, 10 f. sowie ders., Gertrud, 760. Zugleich geht auch Bangert davon aus, dass es sich bei der Herzens­frömmig­keit um einen „unverzichtbare[n] Bestandteil im Spektrum Gertrudianischer Frömmigkeitspraxis“ han­dle; die Unterscheidung zwischen Gertruds eigener Hand und Schwester N, die Ruh vollzieht, berücksichtigt Bangert freilich nicht; vgl. ders., Demut, 11. Auch Vagaggini betrachtet Gertrud als Mitbegründerin einer Herz-Jesu-Frömmigkeit: „Avec Ste Mechtilde et Ste Gertrude, pour la première fois dans l’histoire, la dévotion au Sacrè Coeur est mise en pleine lumière. On ne voit rien de semblable avant elles, et il faudra attendre au moins deux siècles pour rencontrer pareils accents“ (Vagaggini, La dévotion, 47). 140 So Ruh, Mystik (Bd. 2), 323 (Anm. 29): „Allein im Hinblick auf die von Schwester N verfaßten Bücher konnte Gertrud ‚La théologienne du Sacré-Coeur‘, die ‚Apostola SS. Cordis‘ genannt werden.“ 141  Eine vollständige Auflistung sämtlicher Textstellen kann und soll hier nicht geleistet werden; dennoch sei auf einige einschlägige Kapitel verwiesen, an denen etwa die Vereinigung bzw. der Austausch zwischen dem menschlichen Herzen und dem Herzen Jesu beschrieben wird (so etwa Gertrud, Legatus III, C.  XXIV.LIII; Legatus IV, C.  II.XXIII.XXXVIII; Legatus  V, C.  IV.XXVII) oder gar die völlige Inkorporation des Menschen in Jesu Herz (Legatus IV, C. XXXVIII). Ferner wird das Herz Jesu als paradiesischer Garten gezeichnet (Legatus IV, C. XXXV; Legatus V, C. XXX); als Schatzkammer Gottes (Legatus IV, C. II; Legatus V, C. IIIf ) als genugtuende Opfergabe (Legatus V, C. If.XXXI); als Aufenthaltsort des Lieblingsjüngers Johannes (Legatus IV, C. IV ), als Vorbild des Herzens der heiligen Agnes, deren Herz dem Herz Jesu gleichgestaltet wird (Legatus IV, C. VIII); als Ort der Würdigung und Vervollkommnung menschlicher Werke (Legatus IV, C. IX), als Ort der Sündenvergebung (Legatus IV, C. XXV. LVIII; Legatus V, C.  XXVII), als Altar (Missa 8) und goldener Thron (Missa 11), als Pokal (Legatus V, C.  III); als bergendes Tuch für die Äbtissin auf dem Sterbelager und als Garten der Erquickung in ihrem Todeskampf (Legatus V, C. I); ferner als Trost auf dem Sterbebett der Mechthild von Hackeborn (Legatus V, C. IV ) sowie als Quelle der Liebesworte, die als höchste Reliquien auf Erden zu verehren sind: „Deshalb kannst du auch glauben, dass die würdigsten meiner Reliquien, derer man auf Erden habhaft werden kann, die Worte der süßesten und barmherzigsten Liebe meines Herzens sind“ (Unde et credere potes quod dignissimae reliquiae mea quae in terris haberi possunt sunt verba dulcissimi affectus benignissimi Cordis mei); so in Legatus IV, C. LII. Das Herz Jesu findet freilich auch in Buch II neben der Seitenwunde Erwähnung, jedoch nicht ausführlich; vgl. dazu Gertrud, Legatus II, C. IX.XX; breiter schließlich im Schlusskapitel des zweiten Buches, in dem Gertrud das Lob des Herzens Jesu als „Bundeslade der Gottheit“ (arcam divinitatis, scilicet deificatum Cor tuum) und als „das edelste Instrument Gottes“ (organum illud dulcisonum, scilicet divinum cor tuum) singt; vgl. dazu Gertrud, Legatus II, XXIII/9, Z. 2; XXIII/16, Z. 2 f. Gesondert sei auch auf die Verehrung der bzw. die Bezugnahme auf die fünf Kreuzeswunden Jesu verwiesen; vgl. dazu u. a. Gertrud, Legatus III, C.  XLVII.XLIX; Legatus IV, C.  II; Legatus V, C.  IIIf.XIV; auch bei Gertrud findet sich die



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so könnte im Hinblick auf das von Gertrud selbst verfasste Buch II vielleicht von einer Aufmerksamkeit für das Herz Jesu ge­spro­chen werden, die jedoch das Motiv der Verwundung dieses Herzens besonders her­vor­hebt. Gertrud selbst konzentriert sich nicht so sehr auf das Herz des Erhöhten, sondern auf das verwundete Herz des Passionschristus, auf seine Seitenwunde. Somit ist Irene Leicht rechtzugeben, die in ihrer Studie zur Schrift-Rezeption bei Gertrud von Helfta konstatiert: Die Seitenwunde Jesu, aus der dem Johannes-Evangelium zufolge Blut und Wasser hervorströmten, Symbole für die grundlegenden, die Kirche konstituierenden Sakramente Taufe und Eucharistie, diese offene Seitenwunde ist Inspirationsquelle der Mystik Ger­truds von Helfta.142

Die Relevanz der Seitenwunde innerhalb der von Gertrud selbst verfassten Textkomplexe des Legatus mag wohl in ihrer Hinwendung zur Passion Christi wurzeln, die sie immer wieder hervorhebt. Nach Michael Bangert ordnet Gertrud auch brautmystische Aspekte der Passionsthematik unter und widmet einen Großteil ihrer intellektuellen Aufmerksamkeit der Frage nach dem Leiden Christi: „Für Gertrud von Helfta gilt […], daß die Passionsmemoria für sie eine geradezu tota­le zeitliche und somatische Inanspruchnahme darstellt. Der Zugang zur Passion Christi ist seinshaft vorgegeben; der Legatus sieht im Leid ein Existential des Men­schen.“143 In der Tat liegt in den Büchern I, sowie III–V, wie bereits aufgezeigt, der Schwerpunkt auf der Herz-Jesu-Verehrung. Neben den außerordentlich zahlreichen Stellen, in denen das Herz des erhöhten Jesu visionär geschaut und theologisch ausgedeutet wird, finden sich jedoch auch in den Schwester N zugeschriebenen Büchern des Legatus Verweise auf die Seitenwunde, die aus den bereits genannten Gründen ebenfalls berücksichtigt werden sollen.144 Im Folgenden sollen die fraglichen Kapitel in aller gebotenen Kürze inhaltlich skizziert und die einschlägigen Textpassagen angeführt werden. Eine eingehende theologische Ausdeutung beziehungsweise eine Einordnung und Analyse im Kontext jener vielschichtigen, spät­mittel­alterlichen Seitenwundenfrömmigkeit wird an dieser Stelle nur punktuell erfolgen, da dies Bestandteil und Kernaufgabe des zweiten Hauptkapitels ist und hier nicht vollständig vorweg­ge­ nom­men werden soll (B). Zahl 5466 als Gesamtzahl aller Passionswunden Christi; vgl. dazu Legatus IV, C. XXXV. Zur Häufigkeit der Vokabel „Herz“ bei Gertrud von Helfta sowie bei Mechthild von Magdeburg vgl. Vagaggini, La dévotion, 36. 142  Leicht, Schrift-Rezeption, 93. 143  Bangert, Demut, 305. Dieser Konzentration auf den Aspekt des leidenden Christus widerspricht Bynum, Jesus as Mother, 191: „In comparison to many thirteenth- and fourteenth century mystics, Gertrud places little emphasis on suffering.“ 144  Freilich kann die getroffene Auswahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Berücksichtigt wurden jedoch die Textpassagen, die sich ausführlicher mit der Seitenwunde Christi befassen. Der interessanten Verschiebung zwischen Seitenwundenfrömmigkeit und Herz-JesuFrömmigkeit innerhalb des Legatus nachzugehen, kann hier leider nicht geleistet werden.

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Bei den hier berücksichtigten, einschlägigen Passagen handelt es sich um Legatus II, Caput IV (De sanctissimorum vulnerum Domini impressio­ne) und V (De vulnere amore), Legatus III, Caput XVIII (De dono praeperationis ad sumendum cor­pus Christi et de pluribus aliis insimul positis) und Caput XLV (De eo quomodo dominus acceptat reverentiam exhibitam imagini crucifixi) sowie um Legatus IV, Caput IV (De sancto Joanne apostolo et evangelista) und Caput XXXI (Quam utile sit Deo omnia opera sua commendare) Im ersten der ausgewählten Kapitel, in Kapitel IV (De sanctissimorum vulnerum Domini impressione) des zweiten Buches, das textintern in jene erste Gnadenzeit eingeordnet wird,145 begegnet der Terminus latus Christi nicht. Der Titel verweist vielmehr auf eine Stigmatisierungserfahrung Gertruds. Dennoch erscheint mir dieses Kapitel relevant, ist es doch augenfällig, dass die Einschreibung der Kreuzeswunden nicht reziprok in die entsprechenden Gliedmaßen erfolgt, wie dies oftmals der Fall ist, sondern der Fokus ausschließlich auf die Verwundung des Herzens gerichtet ist, obgleich von Christi Wunden in der Mehrzahl gesprochen wird und der Körper metaphorisch als Ort der Verwundung auch genannt wird. Es ist nicht die Seitenwunde Christi, die Gertrud hier meditiert, sondern sie bittet – gleich­sam spiegelbildlich – um die Verwundung ihres eigenen Herzens. Gertruds antwortende compassio, die sich auf Christi passio bezieht, fasst sie in das Symbol der Verwundung durch Liebe und Schmerz. Angeregt durch ein kleines Gebet bittet sie: „Schreibe, barmherzigster Herr, Deine Wunden in mein Herz durch dein kostbares Blut“.146 Das Gebet Gertruds findet offenbar einige Zeit später Erhörung. Ihre Sehnsucht, in Christi Wunden seinen Schmerz und seine Liebe zu lesen, erfüllt sich mit der Verwundung ihres eigenen Herzens, die zur Gesundung ihrer Seele gereicht („durch dessen Wunden du meine Seele geheilt hast“).147 Der Leser begegnet gleichsam einer im Wortsinn reflektierenden Seiten­wunden­frömmig­keit, wobei das Moment der heilsamen Verwundung ins Auge sticht: Christus vermag zu heilen, insofern er als verwundeter Schmerzensmann Gertruds Herz berührt, auf das er, wie auf eine Schreibtafel, mit seinem Blut seine Wunden einschreibt. An das Bild des verwundeten eigenen Herzens knüpft Gertrud auch im sich an­schließen­den Caput V (De vulnere amoris) des zweiten Buches an, dessen Geschehen sie zeitlich jedoch sieben Jahre später ansetzt und welches für einige Monate die vorerst letzte Niederschrift bleiben sollte.148 In einem von Gertrud erbetenen Fürbittgebet einer anderen Schwester spricht sich Gertruds Wunsch nach der Verwundung des eigenen Herzens in Entsprechung zu Christi durchbohrter Seite aus: „Durch dein verwundetes Herz, durch­bohre, geliebtester Herr, 145 So

Gertrud, Legatus II, C. IV/1, Z. 1. scribe, misericordissime Domine, vulnera tua in corde meo pretioso sanguine tuo (Gertrud, Legatus II, C. IV/1, Z. 7 f.). 147  quibus vulneribus animae meae medicasti (Gertrud, Legatus II, C. IV/3, Z. 6 f.). 148 Ebd., C. V/1, Z. 1; V/5, Z. 15. 146 



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deren Herz mit den Speeren deiner Liebe.“149 Wieder scheint eine Art reflexiven „Verwundungspotentials“ im Gebet angesprochen und eingefordert zu werden, wenn offenbar das eigene Verwundetsein des Herzens Christi die Macht besitzt, das Herz der Frommen durch die Speere der Liebe ebenfalls zu durchbohren. Nicht das intakte, heile Herz ist Gegenstand der Verehrung und Gegenstand der eigenen Sehnsucht, sondern das verwundete, durchbohrte Herz (tuum transvulneratum cor). Erneut könnte man von einer Art reflexiver Seitenwundenfrömmigkeit sprechen, wenn jene Bitte um die Verwundung des eigenen Herzens in der Textpassage über eine Vision am 3. Adventssonntag in einer Schau der Seitenwunde Christi während des Empfangs der Kommunion weiter ausgeführt wird: Nicht von einem Speer – in Anklang an das Johannesevangelium – sondern von einem Pfeil, der eher an den Liebesgott Amor denken lässt,150 der zugleich an einen Sonnenstrahl erinnert, und der direkt aus der Seitenwunde Christi hervorzugehen scheint, ersehnt Gertrud nun ihre eigene Verwundung: „[…] es schien mir, als ginge von der rechten Seite des Kruzifixes, das auf ein Blatt gemalt war, gleichsam aus der Seitenwunde, ein Strahl der Sonne aus, der wie ein Pfeil angespitzt war […] und mein Empfinden liebkosend anlockte.“151 Gertruds Leidenschaft, die erweckt und umworben wird, wobei die Metapher des Sonnenstrahls Wärme und Lebendigkeit aufruft, scheint hier viel stärker im Fokus zu stehen als das Moment des Leidens und der Verwundung. Schließlich, am Tage des Gedenkens der Menschwerdung Christi, erfüllt sich Gertruds Sehn­sucht, zum Spiegelbild des geschauten Bildes zu werden: Christus drückt ihrem Herzen eine Wunde ein, die zum Zentrum all ihrer Gefühle werden soll, seien es nun Freude, Hoffnung, Vergnügen, Schmerz oder Furcht. All jene Empfindungen werden gefestigt in Jesu Liebe: Und siehe, du tratest wie plötzlich herzu und fügtest meinem Herzen eine Wunde zu mit folgenden Worten: „Hier fließe zusammen die Aufwallung all dei­ner Gefühle [affectionum]. All Dein Entzücken, Hoffnung, Freude, Schmerz, Furcht und die übrigen Emp­fin­dungen sollen gefestigt werden in meiner Liebe.“152

Die Pluralform von affectum, mit der die Multivalenz menschlicher Empfindungen zum Ausdruck gebracht wird, lässt das bereits genannte affectum noch einmal anklingen, geht aber weit darüber hinaus. Nicht allein die Empfindung 149  Per tuum transvulneratum Cor, transfige, amantissime Domine, cor ejus jaculis amoris tui (ebd., C. V/1, Z. 4 f.). 150  Vgl. dazu auch ausführlich B.6.1. 151  videbatur mihi quasi de dextro latere crucifixi depicti in folio, scilicet de vulnere lateris, prodiret tamquam radius solis, in modum sagittae acuatus […] affectum meum blande allexit (ebd., C. V/2, Z. 2–6). 152  et ecce tu aderas velut ex improviso infigens vulnus cordi meo cum his verbis: ‚Hic confluat tumor omnium affectionum tuarum verbi gratia: summa delectationis, spei, gaudii, doloris, timoris, caeterarumque affectionum tuarum stabiliantur in amore meo‘ (ebd., C. V/2, Z. 10–15).

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der Liebe, sondern schlichtweg alle Empfindungen werden nun mithineingenommen und in der Wunde des Herzens, die das Spiegelbild der Wunde Christi zu sein scheint, in der Liebe Christi gefestigt. Betrachtet man noch einmal die Textstellen in ihrem Verhältnis zueinander, fällt eines auf: Die Schau der Seitenwunde, der Liebeswunde des Herrn, wird somit gerahmt vom Flehen um die Durchbohrung des eigenen Herzens und schließlich der Erhörung dieser Bitte. Die passio Christi ist umschlossen von Gertruds Streben nach compassio.153 In jener Form einer Art reflexiven Seitenwundenfrömmigkeit kann die Seitenwunde Christi nicht als Objekt distanzierter Betrachtung angesehen werden; sie ist zugleich ein transformatives Moment, das das Subjekt der Beterin unmittelbar und unwiderstehlich affiziert. Die Seitenwunde wird nicht allein geschaut, sie transformiert die eigene Anschauung der Welt und die eigene Wahrnehmung. Die Festigung aller Empfindungen in der Liebe – diese entscheidende Grunderfahrung des Glaubens, die als heilsam wahrgenommen und geschildert wird, – verdankt sich einer Wunde und einer reziproken eigenen Verwundung. Aus dem Buch III des Legatus sollen zwei Kapitel als Textpassagen berücksichtigt wer­den, in welchen die Seitenwunde ebenfalls eine Rolle spielt. Caput XVIII (De dono praeperationis ad sumendum corpus Christi et de pluribus aliis insimul positis) schildert verschiedene Erlebnisse, die Gertrud und ihren Mitschwestern während der Eucharistiefeier wider­fahren. Der verbindende Grundton der unterschiedlichen Begebenheiten ist die Artiku­la­tion des Zweifels an der eigenen Würdigkeit und Christi Ermutigung, trotz aller Skrupel getrost das Sakrament empfangen zu dürfen. Eingebettet in diese Thematik des Selbstzweifels sind zwei Visionen der Seitenwunde Christi. In der ersten Vision begegnet die Metapher des Baumes und seines Wurzelgrundes. Nie­der­gedrückt von der Überzeugung der eigenen Unwürdigkeit154 und der eigenen Schuld, wendet sich Gertrud an Jesus, „bittend, dass er selbst sie würdig befände, sie jederzeit Gottvater als Versöhnte vorzustellen“.155 Diese Bitte erfüllt Christus: „[J]ener liebens­ werteste Jesus schien sie an die Verwundung des Herzens zu ziehen, die ihm zugefügt worden war durch die Glut seiner Liebe. In dem dort ausfließenden Wasser wusch er sie und tränkte sie mit dem lebendig machenden Blut seines Herzens.“156 Auf diese Weise gewürdigt, gleichsam gereinigt von Sünden und 153  Die Reflexion über das Motiv der Verwundung setzt Gertrud im Folgenden fort. In der sich an­schließen­den Textpassage reflektiert sie über die Metapher der medizinischen Wundbehandlung. Dort nennt sie das geistliche Rüstzeug des Wassers der Andacht (aquam devotionis), der Salbe der Dankbarkeit (gratitudinem unctionis) sowie der Binde der Rechtfertigung (ligamen justificationis); vgl. dazu Gertrud, Legatus II, C. V/3, Z. 10 f.15. 154 Vgl. dies., Legatus III, C. XVIII/5, Z. 2 f. 155  orans ut ipse eam qualemcumque Deo Patri reconciliatam preasentare dignaretur (ebd., C. XVIII/5, Z. 12 f.). 156  ipse amantissimus Jesus per vaporem amoris sui vulnerati Cordis eam sibi attrahere videbatur et abluere in aqua inde profluenti, deinde irrigare ipsam in sanguine vivificante sui Cordis (ebd., C. XVIII/5, Z. 14–17).



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durch die unmittelbare Kommunion des Herzblutes Christi gestärkt, empfängt Gertrud ein weiteres Gesicht: „[…] und sie sah ihre Seele in der Gestalt eines Baumes, der eine Wurzel in der Seiten­wunde Christi angeheftet hatte.“157 Die Wunde Christi wird nunmehr als Wurzelgrund beschrieben, aus dem Gertrud göttliche und mensch­liche Kraft zufließt und ihr Leben mit unvergleichlicher Frucht krönt: [D]urch dieselbe Wunde fühlte sie, wie sie durch die Wurzel auf neuartige und wundersame Weise zugleich, durch die einzelnen Zweige hindurch sowohl in Frucht als auch im Blatt durchdrungen wurde von der menschlichen und göttlichen Tugend zugleich, in solchem Maße, dass die Frucht ihrer eigenen vollständigen Verwandlung durch sie einen neuen Glanz zurückgab wie wenn Gold durch Kristall leuchtet.158

Nicht allein der Baum aus der Paradiesgeschichte, vor allem Psalm 1, der das Bild des fruchtbaren Baumes, gepflanzt an den Wasserbächen verwendet, um den gerechten Menschen zu beschreiben, wird hier evoziert. Jene Früchte, die ihr aus der Seitenwunde Christi zuwachsen, erweisen sich jedoch nicht allein für Gertrud selbst als heilbringend: Zum einen verströmen sie auf ihre Bitte hin ihren Saft für die Himmlischen, um deren Freude zu vergrößern, zum anderen lindern sie die Strafen für die Seelen im Fegefeuer und führen schließlich für die auf Erden wan­deln­den Menschen zur Vertiefung der Gnade und des wahren Bußschmerzes.159 Hier berührt der Legatus zentrale spätmittelalterliche Themenbereiche wie die Frage nach den Früchten der Buße und der im Bußwesen zunehmend entscheidenden Leitkategorie des „wahren Reueschmerzes“, der vera contritio.160 Die Möglichkeit der stellvertretenden Buße wird hier als selbstverständlich proklamiert – das entscheidende ist jedoch, dass Gertrud die Linderung der Fegefeuerstrafen nicht durch eigene Bußleistungen wie Gebete oder asketische Übungen ins Werk setzt, sondern diese Linderungen allein dadurch erwirken kann, dass sie selbst ohne eigenes Zutun durchdrungen wird von den Tugenden, die ihr aus der Seitenwunde Christi zuströmen. Das soteriologische Potential der Seitenwunde wird an dieser Stelle nicht nur inhaltlich auf die Spitze getrieben, insofern dem Leser des Legatus vor Augen geführt wird, dass es nicht einmal notwendig ist, dass jeder Christ vergleichbare Visionen erfahren muss; es ist bereits ausreichend, dass manchen Menschen diese besonderen Gnaden157  animam suam, in similitudine arboris, conspiceret radicem habere fixam in vulnere lateris Jesu (ebd., C. XVIII/6, Z. 2 f.). 158  per ipsum vulnus tamquam per radicem, novo quodam mirabili modo sensit se quasi per singulos ramos simul et fructus atque folia penetrari a virtute humanitatis simul et divinitatis, in tantum quod fructus totius conversationis ipsius per eam novum reddidit splendorem, sicut aurum lucet per crystallum (ebd., C. XVIII/6, Z. 3–9). 159  cujus pars defluens in superos, ipsis gaudium cumulavit; pars vero defluens in Purgatorium, poenas eorum mitigavit; pars autem defluens in terras, justis dulcinem gratiae, et peccatoribus amaritudinem poenitentiae augmentavit (ebd., Z. 21–25). 160  Vgl. dazu Angenendt, Religiosität, 645. Zum mittelalterlichen Bußwesen insgesamt Ohst, Pflichtbeichte.

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gaben zuteilwerden, da vermittelt über diese Ausnahmefiguren deren Früchte auch anderen zugutekommen  – eine Denkfigur, die dem spätmittelalterlichen Menschen auch aus dem Kontext der Heiligenverehrung durchaus vertraut war. Blickt man noch einmal auf die Ausgangssituation zurück – die Proklamation der eigenen Unwürdigkeit – so wird die frömmigkeitstheologische Pointe dieser Passage noch einmal deutlich: Die sich als unwürdig empfindende Gertrud wird als würdiges Medium dargestellt, durch welches die Bußpein anderer gemildert, deren Reueschmerz vertieft und deren Hoffnung auf Errettung und Gnade gestärkt wird. Der Leserin wird auf diese Weise vor Augen geführt, dass es nicht notwendig ist, die besonderen Gnadenerlebnisse und Visionen einer herausragenden Figur wie Gertrud von Helfta selbst nachvollziehen oder durchleben zu müssen. Das tröstliche Potential der Lektüre des Legatus liegt vielmehr in der Erkenntnis, dass jene außergewöhnlichen Einsichten in das Gnadenpotential des verwundeten Christus und seiner Seitenwunde auch den gewöhnlichen Glaubenden zugutekommen können. Noch ein zweites Mal  – in der Schlusspassage dieses Kapitels  – spielt die Seitenwunde eine Rolle. Noch einmal ist dabei der bestimmende Grundton die eigene Unwürdigkeit angesichts der Einverleibung Christi im Sakrament. Der Bitte an Christus, er möge das Sakrament an ihrer Stelle selbst empfangen und ihr gleichsam häppchenweise nach ihrem Vermögen einhauchen, kommt Christus zunächst nicht nach: Sie fragte den Herrn, ob er nicht lieber an ihrer statt jene allerheiligste Hostie aufnehmen könne und sich selbst einverleibe, um ihr dann nach und nach so viel davon durch seinen edlen und allersüßesten Atem einzuhauchen, wie er dächte, dass es angesichts ihres Geringseins angemessen sei.161

Schließlich schmiegt sich Gertrud mit ihrer linken Seite an Christi geheiligte rechte Seite, um dort, wie es der Psalmvers (Ps 17,8; 91,1) sagt, unter dem Schatten seiner Flügel zu ruhen.162 Durch diese innige Berührung entsteht parallel zu Christi Liebeswunde, und gleichsam aus derselben, an Gertruds linker Seite eine rosenfarbene Narbe.163 Solchermaßen zur Kommunion hinzutretend, empfängt Christus für Gertrud die Hostie, die, in sein Innerstes inkorporiert, schließlich aus seiner Seitenwunde heraustritt, um diese wie ein Pflaster zu bedecken: 161  exorabat Dominum, quatenus ipse pro se Hostiam illam sacrosanctam in persona sua susciperet et sibimet incorporaret, ac deinde ex nobili spiramine suavissimi affluatus sui singulis horis tantum sibi aspiraret, quantum exiguitati suae congruere cognosceret (ebd., C. XVIII/27, Z. 1–7). 162  Hinc cum per moram in sinu Domini quasi sub umbra brachiorum ipsius requievisset (ebd., C. XVIII/27, Z. 7 f.). 163  „[S]ie erkannte, wie aus der liebreichen Wunde der allerheiligsten Seite des Herrn sich an ihrer linken Seite etwas wie eine rosafarbene Narbe zusammenzog“ se cognovit ex amatorio vulnere sanctissimi lateris Domini, se in sinistrum quasi roseam cicatricem contraxisse (ebd., C. XVIII/27, Z. 10–12).



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[E]s schien ihr, als habe der Herr mit seinem eigenen göttlichen Mund jene aller­ heiligste Hostie in sich aufgenommen, welche im Innersten jener allerheiligsten Wunde der Seite Christi hindurchgehend hervortrat und sich wie ein Pflaster auf die nämliche lebensspende Wunde legte.164

In einer Audition wird Gertrud durch Christus diese Vision abschließend gedeutet: Jene Hostie stelle das Bindeglied zwischen Christus und Gertrud da, bestünde sie doch aus seiner Wunde und deren Narbe: „Sieh diese Hostie, die dich und mich verbindet auf jene Weise, dass sie zu einem Teil aus deiner Narbe und zum anderen Teil aus meiner Wunde besteht, und aus beiden uns zum Pflaster gemacht ist.“165 Caput XLV (De eo quomodo dominus acceptat reverentiam exhibitam imagini crucifixi) schließlich berichtet von Gertruds nächtlicher, hingebungsvoller Versenkung in Christi Wunden. Dieser verleiht sie dadurch Ausdruck, indem sie die eisernen Nägel eines Kruzifixes, das sie stets bei sich trägt, durch duftende Gewürznelken ersetzt.166 Diese Tat der Liebe lohnt Christus, indem er die Heilung der Wunden ihrer Sünden durch den Balsam seiner Gottheit erwirkt.167 Gertruds Liebkosung des Kruzifixes,168 ihre medita­tio passionis führt sie an den Rand physischer Erschöpfung.169 Die ersehnte Ruhe gewährt Christus, der Bräutigam, jedoch nicht; vielmehr fordert er Gertrud zu eifrigem Gebet auf. Erst kurz vor Tagesanbruch ist es Gertrud gestattet, in Schlaf zu sinken,170 in welchem Christus sie in seinen Armen wärmt. Stärkung erlangt Gertrud jedoch aus Jesu Seiten­wunde, aus der der Herr sie mit zarten Händen nährt: Und siehe, der Herr Jesus […] erschien ihr in eben jenem Schlaf und wärmte sie zärtlich an seinem Busen. Als bereitete er aus der honigfließenden Wunde seiner heiligen Seite ihr eine allerschmackhafteste Mahlzeit, so legte er mit wundersamem Liebreiz zur Stärkung die einzelnen Bissen mit seiner zarten Hand in ihren eigenen Mund.171 164  ipse Dominus videbatur ore suo deifico in se suscipere Hostiam illam sacrosanctam, quae per­trans­iens intima illius de vulnuere lateris Christi sanctissimi progrediebatur et quasi emplastrum super idem vivificum vulnus se coaptavit (ebd., C. XVIII/27, Z. 13–17). 165  Ecce Hostia haec te mihi conjunget eo modo, quod ex una parte contegat cicatricem tuam, et ex alia parte vulnus meum, utrisque nobis factum emplastrum (ebd., C. XVIII/27, Z. 17–20). 166  tandem memor quo affectu clavos ferreos de quadam imagine Crucifixi, quam prope se semper habe­bat, extraxerit et pro ipsis gariofolos redolentes infixerit (ebd., C. XLV/1, Z. 2–5). 167  Ego affectum illum in tantum acceptavi, quod pro eo omnibus vulneribus peccatorum tuorum balsa­mum nobilissimum meae divinitatis infundi (ebd., C. XLV/1, Z. 9–11). 168  Hinc ista imaginem Crucifixi accipiens ipsam suavibus osculis arctisque amplexibus demulcens, multi­mode blandiebatur (ebd., C. XLV/2, Z. 1–3). 169  ‚Vale, dilecte mi, et habe bonam noctem et permitte me dormire ad recuperandas vires quas in medita­ti­one tecum pene totaliter expendi‘ […] (ebd., C. XLV/2, Z. 4–6). 170  […] nullatenus eam corporali somno quiescere permittebat, donec omnibus pene viribus consumptis refici oporteret; et hinc tandem ante ortum diei modice obdormivit (ebd., C. XLV/3, Z. 4–6). 171  Et ecce Dominus Jesus […] apparuit ei per somnum ipsamque in sinu suo delicate confovens, quasi in vulnere suavifluo benedicti lateris sui coenaturam quamdam saporosissimam ipsi

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Es ist die Motivik der mütterlichen Zuwendung und Geborgenheit, die Christus in dieser Vision zugeschrieben wird. Die Erfahrung des Gewärmt- und Gehaltenwerdens ebenso wie des kleinkindlichen Gefüttertwerdens zeichnen Christus, dessen verwundete Seite besonders hervorgehoben wird, als Ursprungsort jener „allerschmackhaftesten Mahlzeit“, als Figur mit durch und durch weiblichen Zügen. Die sprachlichen Anklänge an das Hohelied sind dabei offensichtlich. Zuletzt seien noch zwei Kapitel aus Buch IV des Legatus erwähnt, die im Folgenden ebenfalls berücksichtigt werden sollen. Caput IV (De sancto Joanne apostolo et evangelista) vereint verschiedenste Visionen des Apostels Johannes,172 den Christus Gertrud als treuesten Beschützer im Himmel zuge­wiesen hat.173 In der Vision, die zeitlich mit dem Festtag des Apostels Johannes verbunden wird, begeg­net ihr dieser und lädt sie ein, seine besondere Nähe zu Christus zu teilen und mit ihm an dessen Brust zu ruhen.174 Johannes weist Gertrud dabei die rechte, verwundete Seite des Herrn zu und erwählt für sich selbst die linke, unversehrte. Er begründet diese Wahl durch sein Einssein mit Gott; demgegenüber bedürfe Gertrud aufgrund ihres Verhaftetseins im Körperlichen des geöffneten Körpers als Zugangsmöglichkeit zu Trost und Seligkeit: Daraufhin fragte sie den seligen Johannes, warum er selbst die linke Seite der Brust des Herrn gewählt, sie (jedoch) auf die rechte gestellt habe? Jener antwortete ihr: „Deshalb, weil ich schon alles besiegt habe und ein Geist mit Gott geworden bin, kann ich genau dort eindringen, wohin das Fleisch sich nicht erstreckt […]. Du jedoch, solange du immer noch im Körper lebst, kannst nicht auf meine Weise das Undurchdringliche durchdringend erforschen. Deshalb habe ich dich an die Öffnung des göttlichen Herzens gestellt, so dass du dort dann um so freier den Trunk der Süße und des Trostes herausziehen kannst.“175

Die frömmigkeitstheologische Aussage ist dabei eindeutig: Trost und Hoffnung sind auch inmitten der irdischen Existenz möglich, da die Seitenwunde wie ein Durchschlupf fungiert, der den Zugang zu Christus ermöglicht – auch für den confecit et mira blanditate singulas offas manu sua delicata ori ipsius ad reficiendum imposuit (ebd., C. XLV/3, Z. 6–12). 172  Auf den besonderen Stellenwert des Johannes in Theologie und Frömmigkeit verweist auch Kurt Ruh. Allein die Ausführlichkeit dieses Kapitels zeugt von der besonderen Relevanz des Apostels für Gertrud. 173  ego tibi assigno istum quem semper apud me habeas patronum in caelis fidelissimum (Gertrud, Legatus IV, C. IV/2, Z. 11–13). 174  ‚Veni mecum, tu electa Domini, et repausemus simul supra dulcifluum pectus Domini, in quo latent totius beatitudinis thesauri‘ (Ebd., C. IV/3, Z. 10–13). 175  Tunc ista requisivit a beato Joanne cur ipse laevam partem pectoris Domini praeligens, eam ad dextram colocasset. Cui ille respondit: ‚Ideo, inquam, quoniam ego jam decivi omnia, et unus spiritus cum Deo effectus, penetrare possum subtiliter quo caro non pertingit […] tu vero cum adhuc vivens in corpore non possis pari mihi modo solidiora penetrando investigare: ergo te ad aperturam divini Cordis locavi, ut eo liberius exinde haustus dulcedinis et consolationis extrahere possis (ebd., C. IV/4, Z. 6–10). Zur Tradition des Ruhens des Johannes an der Brust Jesu und an seiner Seitenwunde bei den griechischen und lateinischen Vätern vgl. Leclercq, Sacré-Coeur, 3 f.



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Menschen, der anders als der Apostel Johannes nicht in der völligen Einheit mit Gott aufgehoben ist. Das letzte Kapitel, das für die Seitenwundenfrömmigkeit des Legatus herangezogen wird, Caput XXXI (Quam utile sit Deo omnia opera sua commendare) in Buch IV, berichtet von einer Vision der Seitenwunde Christi, ausgelöst durch die Evangelienlesung am Donnerstag nach Ostern. Angeregt von Maria Magdalenas Schau ins Grab Christi (Joh 20,11 f.) fragt auch Gertrud: Wo, Herr, ist das Grabmal, in welchem ich hineinblickend die Freude des Trostes finden könnte? Daraufhin deutet der Herr auf dieselbe Wunde seiner Seite. „Als sie sich daraufhin niederbeugte, hörte sie abwechselnd diese zwei Worte von zwei Engeln: ‚Du kannst niemals von meiner Gemeinschaft ge­trennt werden! Alle deine Werke gefallen mir auf vollendete Weise!‘“176 Die Seitenwunde Christi wird somit zum monumentum, zum Erinnerungszeichen sowohl für die unauflösliche Gemeinschaft mit Christus als auch für die Versicherung, die eigenen Werke im Angesicht Gottes für gerecht und würdig befunden zu wissen. Zweifel an der eigenen Rechtfertigung oder die Angst vor Gottesferne haben im Angesicht der Seitenwunde keinen Platz mehr. 2.1.2  Die Seitenwundenfrömmigkeit im Liber der Angela von Foligno 2.1.2.1  Biographische Skizzen zu Angela von Foligno (1248/49–1309)177 Stimmen. Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur Heilige hörten.178

Angela von Foligno, wohl 1248 unweit von Assisi im umbrischen Foligno als Tochter einer wohlhabenden Familie geboren,179 charakterisiert der französische Philosoph Ernest Hello im Vorwort seiner französischen Übersetzung ihrer Schriften wie folgt: La vie d’Angèle est un drame où la vie spirituelle se déclare comme une réalité visible. […] Ce drame a pour théâtre l’Ineffable. C’est un éclair qui déchire une nuée. Le langage d’Angèle est une lutte corps à corps avec les choses qui ne peuvent pas se dire. Dans 176  ‚Ubi est, Domine, monumentum in quod ego prospiciens invenire possim consolationis delectatio­nem?‘ Tunc Dominus ad vulnus lateris sui ipsam ostendit. Ad quod dum se inclinaret, deintus quasi vice duorum angelorum intellexit haec duo sibi dicta […]. ‚Tu nunquam poteris a mea societate disjungi.‘ ‚Omnia opera tua mihi perfectissimo modo placent‘ (Gertrud, Legatus IV, C. XXXI/1, Z. 4–11). 177  Eine ausführlichere Darstellung der Biographie Angelas sowie der Werkgeschichte und des Kontexts des Memoriale erscheint mir an dieser Stelle angezeigt, da nach meiner Einschätzung Angela von Foligno, anders als Gertrud von Helfta, keine besonders breite Rezeption erfahren hat. Dass dieser Umstand Angelas zum Teil durchaus verstörender Fremdheit geschuldet ist, ist bei aller Anstrengung einer möglichst objektiven Sichtung ihrer Texte, nicht von der Hand zu weisen. 178  Rilke, Duineser Elegien, 12. 179 Vgl. Köpf, Angela, 125.

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l’atmosphère où elle est introduite, comme un profane épuovanté par la voisinage du sanctuaire, le vocabulaire des hommes recule silencieusement. Captive dans la parole humaine, Angèle fait comme Samson. […] Comme Samson […], Angèle, fille d’Extase, prends sur ses épaules les portes de sa prison, et les emporte sur la Hauteur.180

Jene „Tochter der Ekstase“, jene „Gefangene der menschlichen Worte“ führte offenbar zunächst ein Leben in weltlichen Bindungen als Ehefrau und Mutter mehrerer Söhne.181 Der radikale Wandel im Leben der Angela von Foligno, der man später den Ehrentitel theologorum magistra182 beifügen sollte, vollzog sich wohl 1285 – Angela war zu diesem Zeitpunkt bereits 37 Jahre alt.183 Gepeinigt vom Bewusstsein ihrer Sündhaftigkeit184 erbat sie vom heiligen Franziskus, der ihr in einer Vision erschien, ihr einen geeigneten Beichtvater zuzuweisen, den sie in ihrem Verwandten Frater A(rnaldus)185 finden sollte. Hier lässt sich exem180  Die französische Passage Hellos könnte wie folgt übersetzt werden: „Das Leben Angelas ist ein Drama, in welchem sich das spirituelle Leben wie eine sichtbare Realität offenbart. […] Dieses Drama ist für das Theater das Unaussagbare. Es ist ein Blitz, der die dunklen Wolken zerreißt. Die Ausdrucksweise Angelas ist ein Nahkampf mit den Dingen, die sich nicht sagen lassen. In der Atmosphäre, in welcher sie angesiedelt ist, als ein Laie, entsetzt von der Nachbarschaft des Heilig­tums, zieht sich der Wortschatz der Menschen leise zurück. Eingeschlossen in die menschliche Sprache, handelt Angela wie Samson […] Wie Samson nimmt Angela, Tochter der Ekstase, die Pforten ihres Gefängnisses auf ihre Schultern und stemmt sie in die Höhe“ (Angela, Visions et instructions, 25). Die Wortgewalt Angelas betont etwa Louis Veuillot, der ihre literarische Qualität über die Dantes stellt; vgl. Hello, Von heiligen Frauen, 55. Zumindest erwähnt werden soll an dieser Stelle, dass in der Forschung bisweilen Zweifel an der Existenz einer „historischen Angela“ geäußert wurden; so etwa durch Dalarun, Angèle. Auf diese These wird im Folgenden noch einmal kurz Bezug genommen werden. Von einer ausführlichen Diskussion dieser Fragestellung im Kontext der vorliegenden Arbeit, die dem literarischen Niederschlag eines Frömmigkeitsphänomens (und nicht der tatsächlichen Historizität Angelas oder ihrer Autorenschaft) nachzugehen sucht, möchte ich absehen. Zur Diskussion der Dalarunschen These vgl. auch Bederna, Ich bin du, 123–127. 181 Vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 510. Auch für Angela von Foligno wie für Gertrud von Helfta gilt, dass die aus den Quellen erhobenen biographischen Eckdaten angesichts der anzunehmenden topischen Gestaltung nicht im Sinne einer historischen Faktenbasis betrachtet werden, wenngleich die hier gebotene kurze Skizze diese Angaben referiert. 182 Vgl. Angela, Zwischen den Abgründen, 13 sowie Gobry, Angèle, 7. An gleicher Stelle nennt dieser Angela „un astre de première grandeur au firmament de la mystique“. 183  Lachance, Introduction, 16. 184  Mit Kurt Ruh ist m. E. eine gewisse Skepsis gegenüber einer oftmals anzutreffenden, allzu malerischen Betonung der Verderbtheit Angelas und ihrer (vor allem sexuellen) Sündhaftigkeit angebracht; vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 510 f. In diese Richtung geht etwa Lachance, Introduction, 16 f. sowie Höcht, Wundmale, 92. Angelas ikonographisches Attribut, der Teufel an der Kette, mag sich dieser Tradition verdanken; vgl. dazu Wimmer, Handbuch, 107 f. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass die Selbstbezichtigungen, die man in Angelas Schriften durchaus findet, zu einem guten Teil als Topoi angesehen werden können und sich ganz grundsätzlich auf den Konflikt zwi­schen einer Existenz in der Welt und der Sehnsucht nach radikaler Christusnachfolge zurück­f ühren lassen können. 185  Zur Diskussion um die Überlieferung des Namens Arnaldus in den gewichtigsten Handschriften vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 510 (Anm. 24). Zur unsicheren Forschungslage hinsichtlich der Identität des Arnaldus sei auf Coakley, Women, 113 verwiesen: „It is indeed not only the



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plarisch aufzeigen, dass der äußeren, geographischen Nähe Folignos zu den Wirkungsstätten des Heiligen zu­gleich auch Angelas innere Nähe zu Franziskus korrespondierte.186 Obgleich noch eingebunden in ihre familiären Pflichten, richtete sich Angela an einer franziskanisch geprägten Frömmigkeit aus, die den Gekreuzigten ins Zentrum stellte. In dieser liminalen Phase ihrer Biographie beschritt sie den Weg der Buße und vollzog in Schmerz und Reue erste Schritte der Annäherung an Christus, die später als die ersten 19 Passus ihres Bußweges im Memoriale nachgezeichnet werden sollen.187 Gerade in der Darstellung ihres Reueschmerzes, in ihren Selbstbezichtigungen und den Schilderungen ihrer Selbstzüchtigungen ist davon auszugehen, dass ein Gutteil dessen als Topoi betrachtet werden kann, als Ausdrucksform des grundsätzlichen Konflikts, dem vor allem Frauen im ausgehenden Mittelalter ausgesetzt waren: Dem Zerrissensein zwischen einem Leben, das familiären Verpflichtungen unterworfen war, und der Sehnsucht nach radikaler Christusnachfolge. Jene radikale Hinwendung zum Christus nudus konnte Angela jedoch erst vollziehen, als all ihre weltlichen Bindungen durch den von Angela erbetenen Tod ihrer engsten Familien­angehörigen aufbrachen: Mutter, Ehemann und ihre Söhne starben innerhalb kürzester Zeit: Und es geschah, nach dem Willen Gottes, dass zu jener Zeit meine Mutter starb, welche mir ein großes Hindernis gewesen war. Und danach starb mein Mann und alle Söhne innerhalb kurzer Zeit. Und weil ich das vorher beschriebene Leben aufnehmen wollte und Gott gebeten hatte, dass sie stürben, hatte ich daraufhin großen Trost, nämlich durch ihren Tod.188 identity of Angela that is obscure here, but also that of the writer. He refers to himself only as ‚frater scriptor‘ (‚friar-writer‘, ‚brother writer‘) or (once) ‚Friar A‘. He calls himself a kinsman of Angela and also her confessor and adviser, but he remains mute about the circumstances of his life beyond his encounters with her. Later traditions that name him ‚Arnold‘ have no basis in the sources and it is not at all clear that he is to be identified with the bishop’s chaplain to whom Angela first confessed after her conversion, as has often been assumed.“ 186  Zur besonderen Rolle Franz von Assisis und des Franziskanerordens in Foligno vgl. Köpf, Angela, 126 sowie Bederna, Ich bin du, 128. Eine ausführliche Darstellung der Beziehung Angela-Franz liefert Bernardo, Francesco. 187  „Relieved and invigorated by the full confession of her sins, Angela began her new life and embarked resolutely on the way of penance. It was initially a slow and painful process. For five and a half years […] she struggled, ‚making only small steps at a time‘, to liberate herself from the sinful past and to grow more sensitive to the demands of her new calling. The first nineteen steps of the Memoriale describe this season of purification as suffering“ (Lachance, Introduction, 18). 188  Et factum est, volente Deo, quod illo tempore mortua fuit mater mea, quae erat mihi magnum impedimentum. Et postea mortuus est vir meus et omnes filii in brevi tempore. Et quia incoeperam viam praedictam et rogaveram Deum quod morerentur, magnam consolationem inde habui scilicet de morte eorum (Angela, Mem. I, Z. 89–93). In der Folge zitiere ich Angelas Schriften nach der kritischen Edition von Thier/Calufetti. Angelas ambivalente Gefühlslage – ihre Freude über die gewonnene Freiheit sowie ihre Trauer über den Verlust der Angehörigen –

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In der Folgezeit löste sie sich schrittweise von ihren Besitztümern und entschloss sich gegen innere und äußere Widerstände für eine Lebensweise in Armut und Selbst­ent­äußerung.189 Ihrer Aufnahme in den franziskanischen Drittorden im Jahr 1291 stand nun nichts mehr im Weg.190 Somit wählte sie das für sie und, wie Bernd Thum anmerkt, „für viele Angehörige der Oberschichten des 13. Jahrhunderts zu einem gesuchten Fasci­no­sum gewordene religiöse Büßerleben“191. Als wahrhaft eruptives Erlebnis, gleichsam als Grunddatum ihres religiösen Aufbruchs, wird ihre ebenfalls im Jahr 1291 unternommene Wallfahrt nach Assisi geschildert:192 Schon auf dem Weg von Foligno nach Assisi hatte sie Franziskus als Fürsprecher vor Gott angerufen mit der Bitte, ihr in ihrem Streben nach der Erfüllung ihrer Ordensgelübde sowie nach der Verwirklichung wahrer Armut beizustehen.193 In einer Audition vergewisserte sie der Heilige Geist mit süßen Worten der Erhörung ihrer Bitten.194 In Assisi angelangt, geriet sie in der Kirche hat vielfach Erstaunen und Befremden ausgelöst; vgl. dazu Ruh, Mystik (Bd. 2), 511, sowie Köpf, Angela, 126. Rolf Beyer merkt dazu an: „Angela hat um den Tod von Mann und Kindern gebetet, damit sie in der franziskanischen Armutsnachfolge leben kann. […] Ist diese Handlungsweise zu rechtfertigen? Bekundet Angela nicht eine extreme Form von ‚Heilsegoismus‘, wenn sie Gott dankt, daß er ihr Tötungs­gebet erhört hat? Die Frage ist vom Standpunkt einer verbürgerlichten Religion kaum ange­messen zu beurteilen. […] Ist die Radikalität ihres Befreiungswunsches vielleicht aus der Tatsache zu erklären, daß für sie als Frau keine andere Lösung aus dem Geflecht sozialer und familiärer Bindungen möglich war?“ (Beyer, Die andere Offenbarung, 222 f.). 189  „Woraufhin in mir dann das Verlangen geweckt wurde, mich aller Besitztümer mit aller Willenskraft zu entledigen, obwohl ich von einem Dämon heftig bekämpft wurde, dass ich jenes nicht tun solle und dadurch oft versucht wurde. Und obwohl es mir von den Brüdern und von dir und von allen, denen es gefiel, mir Ratschläge zu geben, verboten wurde, habe ich es nichtsdestoweniger geschafft, mich aller Güter und aller Laster zu enthalten.“ Unde et tunc datum est mihi desiderium expropriandi me cum tanta voluntate quod, quamvis impugnarer multum a daemone ut illud non facerem et saepe temptarer inde, et quamvis prohiberetur mihi a fratribus et a te et ab omnibus a quibus conveniebat me habere consilium, nullo tamen modo potuissem abstinere pro omnibus malis et bonis (Angela, Mem. I, Z. 173–178). 190 Vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 511. Einen kurzen Abriss der Terziarinnenbewegung liefert etwa Beyer, Die andere Offenbarung, 217–219. 191  Thum, Rilke, 94. Claudio Leonardi merkt dazu an: „Cette entrée ne paraît pas le choix d’un itinéraire pour rejoindre la perfection, mais une conséquence de ce qu’était désormais sa vie“ (Leonardi, Portrait, 69). 192 Vgl. Köpf, Frauenbewegung, 234. 193 Vgl. Angela, Mem. III, Z. 19–21. 194  Auffällig ist die Betonung Angelas besonderer Erwählung durch den Heiligen Geist, die wie folgt beschworen wird: „Und er hub an zu sprechen: Meine Tochter, die mir süß ist, meine Tochter, mein Geliebtes, mein Tempel, Tochter, mein Geliebtes, liebe mich, weil du viel geliebt bist von mir, viel mehr als du mich liebst. Und oft und oft sprach er: Tochter und süße Braut [bist du] mir. Und er sprach: Ich liebe dich mehr als irgendjemand sonst, der im Tal Spoletina sein möge.“ Et incoepit dicere: Filia mea, dulcis mihi, filia mea, delectum meum, templum meum, filia, delectum meum, ama me, quia tu es multum amata a me, multum plus quam tu ames me. Et saepissime dicebat: Filia et sponsa dulcis mihi. Et dixit: Ego diligo te plus quam aliquam quae sit in valle Spoletina (Angela, Mem. III, Z. 43–46).



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S. Francesco vor einem Bildnis des Heiligen,195 das ihn an der Brust Christi zeigt, in Verzückung.196 Jener von Kurt Ruh als „hysterieartige[r] Ausbruch“197 bezeichnete Zustand wurde von den Anwesenden, unter denen sich auch ihr Beichtvater Arnaldus befand, mit großem Be­frem­den wahrgenommen.198 Das zutiefst aufwühlende Erleben der Gegenwart Gottes, als des omne bonum, das ihr mit ihren körperlichen wie geistigen Augen zu schauen gewährt worden war, war jedoch ein flüchtiges.199 Die Trauer über den Verlust jener intensiven Gottes­begegnung brach sich nicht nur in Kreischen, Schreien und unverständlichem Stammeln Bahn, sie führte Angela auch an den Rand der Todessehnsucht: Und dann, nach dem Scheiden [Gottes], habe ich angefangen zu schreien mit hoher Stimme. Laut rief ich, ohne jedes Schamgefühl und schrie dieses Wort, nämlich: Die Liebe ist nicht erkannt worden und warum nur hast du mich verlassen? Ich konnte nichts [anderes] sagen und nichts rufen als ohne jede Zurückhaltung eben dieses nämliche Wort: Die Liebe wurde nicht erkannt und warum und warum und warum. Doch wurde dieses bereits erwähnte Wort so von der Stimme abgeschnitten, dass es nicht verstanden wurde. Und nun wurde ich voll Gewissheit und ohne Zweifel gewahr, dass derselbe tatsächlich Gott gewesen sei. Und ich schrie, dass ich sterben wolle, und es war mir ein großer Schmerz, dass ich nicht starb, sondern am Leben blieb; und daraufhin trennten sich all meine Begleiter von mir.200

Dieses von ihr selbst als schamlos bezeichnete Verhalten erwies sich im doppelten Wort­sinn als anstoßerregend. Wendeten sich Angelas Gefährten, wie sie schildert, von ihr ab, so drängte es einen anderen Zeugen des Geschehens, Bruder Arnaldus, von Sorge und Befrem­den getrieben, zu seinem Beichtkind. Nach Angelas anfänglicher Weigerung, Arnaldus die Umstände ihres aufsehen195  Zur Relevanz der Bildbetrachtung als auslösendes Moment einer conversio vgl. auch Largier, Kunst des Weinens, 173. 196 Vgl. Köpf, Frauenbewegung, 234 f. 197 Vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 511. 198  Was Dinzelbacher insgesamt für die Wahrnehmung Angelas und ihrer theologischen Aussagen konstatiert – die Ambivalenz zwischen Verehrung und Verteufelung, die die Schicksale vieler religiös auffälliger Frauen kennzeichnet – ist m. E. besonders im Hinblick auf Angelas Ausbruch in der Franziskusbasilika zu Assisi zu bedenken. Gerade in dieser Krisis – man denke nur an das Befremden und die Ablehnung durch die Zeugen  – hätte Angelas Geschick eine negative Wendung nehmen können. Vgl. dazu Dinzelbacher, Heilige oder Hexen, 60–63. Angelas Gefühlsausbruch führte bei modernen Lesern oftmals dazu, sie als eine „full-fledged hysteric“ einzuschätzen; vgl. dazu Mazzoni, (Un)Representability, 247. 199 Vgl. Angela, Mem. III, Z. 103–108. 200  Et tunc post discessum coepi stridere alta voce vel vociferari, et sine aliqua verecundia stridebam et clamabam dicendo hoc verbum scilicet: Amor non cognitus, et quare scilicet me dimittis? Sed non poteram vel non dicebam plus nisi quod clamabam sine verecundia praedictum verbum scilicet: Amor non cognitus, et quare et quare et quare. Tamen praedictum verbum ita intercludebatur a voce quod non intelligebatur verbum. Et tunc me reliquit cum certitudine et sine dubio quod ipse firmiter fuerat Deus. Et ego clamabam volens mori, et dolor magnus erat mihi quia non moriebar et remanebam; et tunc omnes compagines meae disiungebantur (Angela, Mem. III, Z. 109–117).

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erregenden Auftretens zu offenbaren, fügte sie sich schließlich seinem Wunsch. Die in der Fran­ziskus­basilika erlebte Gottesschau Angelas gerierte somit zur Initialzündung, als Anstoß für das in der Folgezeit entstehende Liber, in welchem Arnaldus die theologischen Äußerungen und Unterweisungen, Visionen und Auditionen Angelas zu Papier bringt.201 Dabei ist zu gewärtigen, dass  – folgt man Arnaldus’ Aussagen – eine Hermeneutik des Ver­dachts als originäres Movens zur Verschriftlichung vorgelegen hat.202 Diese sollte jedoch bald schon von einem ernsthaften Interesse an Angelas theologischem Denken und mystischem Erleben abgelöst werden,203 das er in der Folgezeit schriftlich fixierte. Mit großer Sicherheit ist davon auszugehen, dass Arnaldus sich für die Niederschrift des ersten Teils des sogenannten Liber Lelle,204 dem Memoriale, verantwortlich zeichnete, dessen Entstehungszeit Kurt Ruh in den Jahren 1294 bis 1296 ansetzt.205 Der zweite Teil des Liber Lelle, die sogenannten Instructiones, stammen mit großer Sicher­heit nicht aus der Feder des Arnaldus – die Umstände ihrer Verschriftlichung sind jedoch weithin ungeklärt. Für eine Vielzahl unterschiedlicher Schreiber oder Redak­toren206 spricht die Inhomogenität dieser „Sammlung quantitativ, stilistisch und inhaltlich divergierender Schriften (von Traktaten und Briefen bis hin zur Beschreibung des Todes der Hauptperson des Memoriale)“.207 201 

Leonardi merkt dazu an: „[…] à partir de ce moment, l’expérience d’Angèle sort de la vie privée pour devenir en quelque sorte publique“ (Leonardi, Portrait, 70). 202  Vgl. exemplarisch für das Moment des Verdachtes als Motivation für die Niederschrift durch Frater Arnaldus Angela, Mem. II, Z. 116–118.121–123: „Und weil ich die Ursache des bereits erwähnten Geschreis wissen wollte, begann ich sie auf jede mir mögliche Weise zu nötigen, dass sie selbst mir anzeige, warum sie auf diese Weise und so viel geschrien und gerufen habe, als sie nach Assisi gekommen war […]. Weil ich verblüfft war und weil ich jenen Verdacht hegte, dass sie etwa von irgendeinem bösen Geist sein könnte, habe ich sehr versucht, sie auf jenen Verdacht zurückzuführen, weil auch ich damals jenen Verdacht hatte.“ Et volens scire causam clamoris praedicti coepi cogere eam omni modo quo potui quod ipsa indicaret mihi quare sic et tantum striderat vel clamaverat quando venerat Assisium […]. Quod ego stupens et suspectum illud habens ne forte posset esse ab aliquo maligno spiritu, valde conatus fui reddere ei illud suspectum quia et ego illud suspectum habebam tunc. 203  Die Frage, ob oder inwieweit es sich bei jenem Sinneswandel des Frater Arnaldus um einen litera­ri­schen Topos handeln könnte, soll an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Es sei lediglich exempla­risch auf den ähnlich gelagerten Fall der Elisabeth von Spaalbeeck und Philipp von Clairvaux verwiesen, in welchem letzterer ebenfalls seine anfängliche Skepsis betont; vgl. dazu unter A.2.2.1. 204  ‚Lelle‘ ist der häufig verwendete Kosename Angelas; vgl. dazu Ruh, Mystik (Bd. 2), 510. 205  Vgl. ebd., 513. Eine ausführliche Begründung eben jener Datierung liefert Coakley, Women, 112. 206  Kurt Ruh denkt an dieser Stelle etwa an eine im Memoriale mehrfach erwähnte socia sowie an einen Sekretär; vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 513; vgl. zur Diskussion auch Bederna, Ich bin du, 85. Lachance nimmt in Anlehnung an eine Hypothese Thiers und Calufettis Frater Arnadlus immerhin für einen Teil der Instructiones in Anspruch; vgl. dazu Lachance, Introduction, 50. 207  Bederna, Ich bin du, 85. Ebenfalls zum Liber Lelle zählt die Edition Thier/Calufetti schließlich auch die dem Memoriale vorgeschaltete Testificatio sowie den Prologus und den



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Auf die höchst komplexe und problematische Textgeschichte des Liber Lelle in seiner Gesamtheit, die in der Forschung eingehend diskutiert wird, soll hier nicht im Einzelnen ein­ge­gangen werden, da sie die vorliegende Fragestellung nicht wesentlich tangiert.208 Richtet man sein Augenmerk zunächst auf das Memoriale, welches Bernard McGinn als „eine der ersten und bestimmt längsten und komplexesten Autohagiographien des Spät­mittel­alters“209 bezeichnet, so wirft die Formulierung McGinns bereits eine der im Zusammenhang mit dem Memoriale dringlichsten Fragen auf: Kann man an dieser Stelle von einer Autohagiographie oder einer Hagiographie sprechen? Anders formuliert: Welches Verhältnis besteht zwischen redaktioneller Arbeit durch Bruder Arnaldus und der genuine voice der Mystikerin selbst. Im Hinblick auf letztere ist festzuhalten, dass sie, beheimatet in Angelas umbrischen Dialekt, von Arnaldus ins Lateinische übertragen wurde,210 das freilich von Italianismen durchsetzt blieb.211 Kann man den redaktionellen Einschüben des Franziskaners Glauben schenken, so ist er sich bei dieser Aufgabe eher einer Verkürzung des Diktierten als dessen Ergänzung be­wusst,212 ein nicht in allen Hand­schriften enthaltenen Epilogus – Textkomplexe, die sich im Wesentlichen um die Verteidigung Ange­las und die Betonung ihrer göttlichen Erwähltheit bemühen; vgl. dazu ebd. In der Testificatio werden etwa die zur Prüfung des Textes einbestellten Autoritäten angeführt; vgl. Angela, Mem., Testificatio. 208 Katrin Bederna problematisiert im Hinblick auf die von Thier  und Calufetti vorgenommene Edition des Memoriale den Eindruck eines „fest umrissenen Textkorpus“. Zu ihrer harschen Kritik an der Ausgabe im Einzelnen vgl. Bederna, Ich bin du, 83 f. Da Bederna trotz massiver Bedenken eben jene kritische Edition – obgleich mit Einschränkungen – für ihre Untersuchungen nutzt, folge ich ihr an diesem Punkt. Einen Überblick über die zahlreichen text-, literar- und traditionskritischen Probleme, wie etwa die von Thier/Calufetti aufgeworfenen Zwei-Redaktionen-These (der auch Ulrich Köpf folgt) findet sich ebd., 84; siehe auch Köpf, Frauenbewegung, 231 f. Eine knappe, übersichtliche Darstellung der Zwei-Redaktionen-These liefert etwa auch Lachance, Introduction, 53 f. Erwähnt werden soll an dieser Stelle die in meinen Augen überzeugende Argumentationsführung Bedernas, die sich in Abgrenzung zu Thier/Calufetti für die Sekundarität der sogenannten Kurzfassung des Textcorpus ausspricht: „So hat die Kurzvariante eine gegenüber dem vollständigen Liber gänzlich veränderte narrative Struktur. Die Mehrstimmigkeit (Gott/Frau/Schreiber) ist aufgegeben. Es wird keine Geschichte in der Geschichte mehr erzählt. Unterdrückt werden auch historische Bezüge, wie die ohnehin äußerst seltene namentliche Nennung von Personen des Liber, die Hinweise auf seinen franziskanischen Hintergrund und die Thematisierung aktueller dogmatischer Fragen. Von einer Erzählung mit historischem Anspruch wird der Liber so zur zeit- und ortlosen Legende, frei übertragbar in andere Zusammenhänge“ (Bederna, Ich bin du, 88). Zur Traditionsgeschichte des Liber Lelle vgl. ebd., 89 f. 209  McGinn, Mystik (Bd. 3), 277. McGinn verortet Angela neben Hadewijch, Mechthild von Magdeburg und Margarete Porete als „eine der ‚vier Evangelistinnen‘ der Mystik des 13. Jahr­hun­derts“; vgl. ebd., 264. 210 Vgl. Bederna, Ich bin du, 86. Zuweilen beließ Frater Arnaldus auch ganze Passagen im umbrischen Idiom; vgl. dazu Lachance, Introduction, 49. 211 Vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 512f: „Auf weite Strecken glaubt man, nichts anderes als ein leicht ‚verfremdetes‘ Italienisch zu lesen.“ 212  Et ego nolebam unam dictionem plus scribere nisi sicut ipsa loquebatur, immo et plura dimittebam quae non poteram scribere (Angela, Mem. I, Z. 37 f.). Auch die der Eile des Diktates

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Umstand, den Angela immer wieder kritisiert: „Dasjenige, das schlechter und nichtig ist, hast du aufgeschrieben, aber von dem Kostbaren, das die Seele empfunden hat, hast du nichts geschrieben.“213 In seiner umfassenden Studie über die Kooperation zwischen Mystikerinnen und deren männ­lichen Schreibern betont John W. Coakley im Hinblick auf Angela und Frater Arnal­dus, dass sich deren Zusammenarbeit gerade dem Bewusstsein ihrer fundamentalen Ver­schie­ den­heit verdanke.214 Durch die „Zweistimmigkeit“ des Memoriale, durch das In­ einan­der von Substanz und Kommentierung, ergibt sich ein komplexes Geflecht aus ver­schie­denen Erzählebenen.215 Wurde nunmehr das Diktum McGinns im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Fremd- oder Selbstbericht überprüft, so ist mit Coakley auch die ausschließliche Charak­teri­sierung als Hagiographie an sich zu hinterfragen: Die häufigen Einschübe theologischer Dis­kur­se,216 die das Erlebte zu deuten versuchen, weisen über eine reine Hagiographie weit hinaus.217 Gerade dieser Umstand empfiehlt Angelas Text als Kronzeugen der vorliegenden Untersuchung, der es um die (frömmigkeits-) theologische Reflexion der Bedeutung der Seitenwunde Christi zu tun ist und nicht primär um die Analyse hagiographischer Textkorpora. Anspruchsvoll gestaltet sich überdies auch der Versuch, den Text zu gliedern, ein Umstand, der, wie Claudio Leonardi annimmt, der tagebuchähnlichen Struktur des Wer­kes geschuldet sei.218 Das Memoriale selbst gibt freilich ein geschuldete Abfassung in der 3. Person merkt Arnaldus eigens an. Vgl. dazu Angela, Mem. II, Z. 140–143; IX, Z. 511–521. 213  Illud, quod deterius est et quod nihil est, scripsisti, sed de pretioso, quod sentit anima, nihil scripsisti (Angela, Mem. II, Z. 151 f.). 214  „[H]e appears not simply as Angela’s admirer and beneficiary but also as her genuine collaborator, whose contributions become a substantive part of the literary product. The friar stands finally with Angela in the text of the Memorial […] he shares […] an acute sense of the otherness of the woman about whom he wrote, a conviction that she spoke from an experience of God which he could in no sense share or supervise and which remained, for all of his efforts, finally beyond the reach of his words. For the friar it is, paradoxically, precisely from that conviction that the possibility of true collaboration arises“ (Coakley, Women, 111 f.). 215  Vgl. dazu ausführlich die interessanten Beobachtungen ebd., 115 f. 216  An dieser Stelle sei noch einmal an Angelas Ehrentitel als magistra theologorum erinnert, der sich mit Sicherheit eben den theologisierend-reflektierenden Passagen innerhalb des Liber verdankt. 217  Auch Coakley betont den hagiographischen Charakter des Textes als Schilderung einer vita sancta, fügt jedoch hinzu: „There are also points in the Memorial, particularly in the late supplementary steps, when the narrative of Angela pushes momentarily beyond hagiography per se. These are the moments when, instead of simply reporting the revelations and mystical states that come to her, she pauses to reflect upon them, to generalize and formulate teachings of her own about the nature and knowability of God“ (Coakley, Women, 118). 218  „Ce n’est pas une oeuvre intellectuelle, mais une sorte de journal, dû à une personne sans culture, qui dit ce qu’elle a éprouvé. C’est en vain qu’Arnaud a cherché à donner un ordre à ces matériaux“ (Leonardi, Portrait, 70). Leonardis Einschätzung Angelas intellektueller Fähigkeiten muss jedoch m. E. auf das entschiedenste widersprochen werden.



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Gliederungsschema vor  – dreißig Schritte der inneren Bußwandlung Angelas sollen beschrieben werden (triginta Passus vel mutationes quas facit anima).219 Letztlich bringt Arnaldus jedoch nur 21 Schritte zu Papier, die er mitten im 20. Schritt durch einen redaktionellen Einschub unterbricht, um schließlich zu konstatieren, dass er nach dem 19. Schritt, verunsichert über die weitere Zählung, zu dem Entschluss gekommen sei, eine Darbietung des Erzählten in sieben weiteren Schritten vorzunehmen.220 Der sich dadurch ergebenden formalen Grobstrukturierung in zwei Hauptteile, näher hin Kapitel I (19 ½ Schritte) sowie die Kapitel III–IX (7 Zusatzschritte), die durch den redaktionellen Einschub in Kapitel II verbunden sind, korrespondiert nach Bederna eine inhaltliche Zweiteilung in eine Rückschau auf den Weg der Selbstentäußerung und Askese (19 ½ Schritte) sowie eine zeitnahe Schilderung mystischen Erlebens (7 Zusatz­schritte).221 Letztere sei als eine Darstellung von „ständig sich selbst überbietendem Spü­ren der Nähe Gottes […] d. h. vom Erkennen in und mit Dunkel und vom Erkennen über dem Dunkel“ zu begreifen.222 Wendet man sich nunmehr dem zweiten Bestandteil des Liber Lelle, den Instructiones zu, so ist an dieser Stelle auf einen Gliederungsversuch von vornherein zu verzichten: Die Summe dieser 36 von anderer Hand als der des Arnaldus223 verschriftlichten Sendbriefe, Traktate, Ermahnungen, Dikten und Berichte weist keinerlei redaktionelle Ordnung auf.224 Die sprachlichen wie theologischen Abweichungen der Instructio­nes gegenüber dem Memoriale225 lassen bei einzelnen Stücken massive Zweifel an deren Authen­ti­zität aufkommen.226 219  Angela, Mem. I, Z. 5. Nach Pozzi lehnt sich die Dreißigzahl an die Scala del Paradiso des Giovanni Climaco an; vgl. Angela, Libro, 87. 220 Vgl. Angela, Mem. I, Z. 304–311; II, Z. 6–17. Die Nennung der sieben Zusatzschritte findet sich in dies., Mem. II, Z. 20–79. Hier vermutet Ruh die Vorlage der Siebenzahl bei Bonaventuras Itinerarium; vgl. dazu Ruh, Angela, 45. 221 Vgl. Bederna, Ich bin du, 98. 222 Ebd., 99. Bederna unternimmt überdies anhand von Schlüsselbegriffen eine instruktive detaillier­te Darstellung des Handlungsverlaufs, auf den an dieser Stelle jedoch nur verwiesen werden soll; vgl. dazu ebd., 100–111. Ein anderes Gliederungsschema legt Lachance vor, der das Memoriale im Lichte der Instructio II dreigliedert; vgl. dazu Lachance, Introduction, 55–78. 223  Zur Diskussion über die Identität des Verfassers bzw. der Verfasserin der Instructiones vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 513. 224  Vgl. ebd. 225  Ruh nennt hier etwa den Vorstellungskomplex des Deus increatus, der allein in den Instructiones zum Ausdruck gebracht wird, sowie die dem Memoriale völlig fremde rhetorische Kunstfertigkeit; vgl. dazu Ruh, Mystik (Bd. 2), 514. 226 Vgl. Bederna, Ich bin du, 85: „Die Inhomogenität der Instructiones zeigt, daß sie von verschie­denen Personen geschrieben bzw. redigiert wurden. Nimmt man das Memoriale inhaltlich und stili­stisch als Maßstab der Authentizität, so sind sicher viele der 36 Instructiones samt der Peroratio nicht authentisch.“ Da für die vorliegende Fragestellung die Frage nach der Authentizität im Sinne der histo­risch abgesicherten Zuschreibung des Textes zu Angela nichts liegt, soll diese Problematik ledig­lich erwähnt werden.

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Beiden Textkomplexen gemein ist jedoch Angelas Aufnahme theologischer Grund­gedan­ken des Areopagiten: Ihre Schau Gottes, den sie als das All-Gute (omne bonum) fasst, ereignet sich in der Finsternis (tenebra).227 Gerade dieser Finsternis verdankt sich die Gewissheit ihrer Gottesschau: „Deswegen war sie vollkommen sicher und alles weit über­treffend, gerade weil sie im Dunkel geschaut wurde und über die Maßen geheimnisvoll war; und des­we­gen schaue ich sie mit Dunkel, weil das Allgute alles übertrifft und alles andere Dunkel ist.“228 Ihre Formulierungen über die unterschiedslose Allgegenwart Gottes in Gutem und Bösem229 erinnern an Margarete von Porete sowie Meister Eckhart, die aufgrund eben jener Aussagen ins Fadenkreuz der Inquisition gerieten. Die unschwer erkennbare Prägung durch franziskanische Theologie, etwa in der Vor­stellung des nudus nudum Christum sequi, in der unio passionalis sowie in der starken Be­tonung der Armut230 soll hier nicht in Abrede gestellt werden.231 Die wesentliche Eigentümlichkeit des Liber jedoch, die über franziskanisches Denken hin­aus­geht, die Rede von der Erkenntnis Gottes in der Dunkelheit, in der „Nicht-Liebe“ sprengt den franziskanischen Bezugsrahmen und sollte im 227 Vgl.

Angela, Mem. IX, Z. 89–103. Ideo erat certissimum et magis superans omnia, quanto magis videbatur in tenebra, et secretissimum; et propterea video cum tenebra, quia superat omne bonum et omnia et omne aliud est tenebra (Angela, Mem. IX, Z. 40–42). Ruh, Angela, 46 merkt dazu an: „Kein Zweifel, daß diese Schau, die über alles Gestalthafte, alle ‚Natur‘ hinausführt und die nur der affektlosen Seele zuteil wird, in der Mystischen Theologie, cap. 1, des Dionysius Areopagita ihren Grund hat.“ Dagegen verweist Bederna auf die fundamentalen Unterschiede zu den Schriften des (Pseudo-) Dionysius: „So nah an Dionysius, wie manche es gerne sähen, ist Angela aber keineswegs. Dies verhindert vor allem die Abwesenheit von Lichtmetaphern. […] Das Dunkel Angelas ist kein leuchtendes und geliebtes wie das des Dionysius, sondern tief und undurchdringlich“ (Bederna, Ich bin du, 153). An anderer Stelle spricht Ruh auch von einer maßgeblichen Beeinflussung durch Bonaventura; vgl. dazu Ruh, Angela, 48. Lachance, Introduction, 104 f. betont die Anleihen bei augustinischem sowie neuplatonistischem Gedankengut sowie Angelas Beeinflussung durch zeitgenössische Predig­ten. 229  „Und jetzt begreife ich, dass er gegenwärtig ist und ich begreife, wie er gegenwärtig ist in jeder Kreatur oder in jeder Sache, die Sein hat, im Dämon, im guten Engel, in der Hölle, im Paradies, im Ehebruch und im Mord und auch im guten Werk.“ Et tunc intelligo eum prasentem, et intelligo quomodo est praesens in omni creatura vel in omni re habente esse, in daemone, in bono angelo, in inferno, in paradiso, in adulterio, in homicidio et in bono opere (Angela, Mem. IX, Z. 324–327). 230 Der Armutsbegriff, der bei Angela sehr differenziert ausformuliert wird (vgl. dazu Bederna, Ich bin du, 129 sowie Ruh, Mystik [Bd. 2], 517 f.), ist eingebettet in die Rede einer dreifachen Gemeinschaft mit Christus: in Armut, in Verachtung und im Schmerz; vgl. dazu Angela, Instructio XXXIV, Z. 136 f. Unter dem Titel Tres sunt ‚societates‘ Christi ad perfectionem amoris dei ducentes, scilicet paupertas, despectus et dolor folgt eine ausführliche Abhandlung über jenen Dreischritt in die Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten. Gemeinschaft (societas) mit Christus als dem Buch des Lebens (librum vitae) vollzieht sich in der imitatio jener Haupttugenden der Armut, der Verachtung und des Schmerzes; vgl. dazu auch Slade, Alterity, 113. 231  Die Einbettung Angelas in die franziskanische Tradition betonen etwa Ruh, Mystik (Bd. 2), 516–523, sowie Lachance, Introduction, 15–108 (passim). 228 



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20. Jahrhundert, wie zu zeigen sein wird, einen gewichtigen Anknüpfungspunkt darstellen. Das, was oftmals als Proprium Angelas beschrieben wird, ihre radikale Ausrichtung auf das Kreuz Christi,232 das sie als ihre Lagerstätte beschreibt,233 zeigt uns Angela mithin zugleich als Typus ihrer Zeit, als eine der eindrücklichsten Vertreterinnen spät­mittel­alter­li­cher Passionsfrömmigkeit234 und radikaler conformatio Christi. Ihre Hinwendung zum gekreuzigten Christus verband Angela mit dem Spiritualen Ubertin von Casale, der ihr, wie er im Prolog seines 1305 verfassten Hauptwerkes Arbor Vitae crucifixae Iesu schreibt, die Erneuerung des Geistes Christi in seinem Herzen ver­danke und bekennt, „er habe nicht daran zweifeln können, dass er [Jesus] selbst es sei, der in ihr spreche.“235 Das Verhältnis Angelas zu den Spiritualen,236 ist mit Bederna als eines von „Nähe und Distanz“ geprägtes zu beschreiben.237 In gefährliche Nähe zur Bewegung des Spiritus Libertatis rückten Angela die quie­ti­stischen Elemente ihrer Theologie sowie die Proklamation ihrer eigenen Unfehlbarkeit – eine Nähe, die Angela in den Instructiones jedoch entschieden von sich weist.238 232  So etwa Ruh, Mystik (Bd. 2), 523. Der Verbindung zwischen Angelas Kreuzes­theo­logie und den fraglichen Textabschnitten über die Seitenwunde Christi soll an entsprechendem Ort nach­gegangen werden. 233  Angela, Mem. IX, Z. 104–107: „Ich lobe Dich, geliebter Gott, in deinem Kreuz habe ich mein Lager bereitet; für das Haupt oder anstelle eines Kissens habe ich die Armut, auf einem anderen Teil des Ruhelagers habe ich Schmerz mit Verachtetsein gefunden.“ Laudo te Deum dilectum, in tua cruce habeo factum meum lectum; pro capitali vel pro plumatio inveni paupertatem, aliam partem lecti ad pausandum inveni dolorem cum despectu. 234  Wie Bederna zeigen kann, sprengt Angela den Rahmen einer rein auf die Passion ausgerichteten Frömmigkeit; vgl. dazu ausführlich Bederna, Ich bin du, 148. 235 Im Prologus primus libri primi findet sich Ubertins Verweis auf Angela: Vigesimoquinto autem anno etatis mee: & modo quem pretereo ad reuerende matris & sanctissime angele de fulgineo uere angelice uite in terris me adduxit noticiam. Cui sic cordis mei defectus: & sua secreta beneficia reuelauit iesus: ut dubitare no possem ipsum esse qui loquebatur in illa: & sic oia dona propria per mea malitiam perdita in immensum multiplicata restituit: ut iam ex tunc non fuerim ille qui fui (Ubertinus, Arbor, 5). Die Bedeutung Angelas für Ubertin betont etwa auch Gobry, Angèle, 7. Coakley, Women, 112 weist darauf hin, dass der Arbor Vitae das einzige zeitgenössische Werk sei, in dem Angela Erwähnung findet; folgt man der These Dalaruns, so ist Ubertin von Casale (Mit-) Autor des Liber selbst; vgl. Dalarun, Angèle, 94–97. Zu theologischen Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen Ubertin und Angela vgl. ausführlich Lachance, Introduction, 111; allgemein zu Ubertin vgl. Ruh, Mystik (Bd. 2), 485–495. Die Verbindung zwischen Ubertin und Angela, deren Datierung sowie deren Intensität in der Forschung freilich sehr umstritten ist (vgl. dazu Bederna, Ich bin du, 129 f.), hat auch Eingang in ein literarisches Werk gefunden. In seinem Roman „Der Name der Rose“ lässt Umberto Eco diese Verbindung anklingen; vgl. Eco, Name der Rose, 77.81.83. 236  Zur Bewegung der franziskanischen Spiritualen und der Geschichte des Armutsstreits siehe Ruh, Mystik (Bd. 2), 457–495; Flood, Armut, 95 f.; Schlageter, Franziskaner, 393; Schmucki, Spiritualen, 1584; Köpf, Armut, 782 f. 237  Eine Auflistung der einigenden und unterscheidenden Aspekte und somit eine „Ortsbestimmung des Liber im Armutsstreit“ bietet Bederna, Ich bin du, 129. 238  Vgl. dazu die christologisch begründete Distanzierung etwa in Angela, Ins. III, Z. 180– 183: „Wiederum hüte dich vor denen, die von sich sagen, sie haben den Geist der Freiheit,

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Es mag wohl Angelas Gratwanderung zwischen Orthodoxie und Häresie geschuldet ge­we­sen sein, dass der Liber Lelle nach ihrem Tod im Jahr 1309 die Bestätigung durch kirch­liche Autoritäten suchte. In der dem Liber vorangestellten Testificatio beruft man sich auf eine Kommission von Theologen, die, angeführt von Kardinal Jakob Colonna, nach eingehender Prüfung die Rechtgläubigkeit des Werkes attestiert habe.239 An verschiedenen Stellen scheint man bemüht, dem Makel der weiblichen Verfasserschaft durch Bezug­nahme auf Schrift und Tradition argumentativ zu begegnen.240 In der Folgezeit sollte der Liber Lelle wie ein Kettenbrief tradiert werden: Beinah 100 Jahre ruhte das Werk in den Archiven; 1381 findet sich erstmals der Titel Liber sororis lelle de fulgineo. ordinis continentium.241 Erst Ende des 15. Jahrhunderts erscheint der Name „Angela“ im Titel; in den folgenden Jahrhunderten verbreitet sich der Textkomplex in zahlreichen Übersetzungen, etwa im Umfeld der Devotio Moderna. Oftmals gekürzt, oft­ mals als Bestandteil von Vitensammlungen oder theologischen Traktaten fand der Liber zahlreiche Leser, darunter auch Theresa von Avila, Franz von Sales, Johann Arndt und Gerhard Tersteegen.242 Im 20. Jahrhundert kam es schließlich  – jenseits der kirchenhistorischen Forschung243  – zu einer denn sie sind offenkundig gegen das Leben Christi, weil Gott Vater seinen Sohn – der nicht dem Gesetz unterworfen war, vielmehr über dem Gesetz und der Geber des Gesetzes [war] – selbst unter das Gesetz legen wollte und der aus freien Stücken zum Diener gemacht wurde.“ Iterum cave tibi ab his qui se dicunt habere spiritum libertatis, qui sunt aperte contra vitam Christi, cum Deus Pater Filium suum – qui non erat obligatus legi, immo supra legem et conditor legis – et ipsum voluit constituere sub lege; et qui erat liber factus est servus. Diese Pointe mutet beinah lutherisch an! Vgl. dazu auch Dinzel­b acher, Mystik, 251. Ders., Heilige oder Hexen, 61 verweist auf die inhaltliche Nähe Angelas zu Aussagen der Margarete von Porete, die als vermeintliche Anhängerin der Brüder und Schwestern des freien Geistes verbrannt wurde; zu dieser Bewegung vgl. ausführlich Manselli, Brüder, 218–220. 239  Vgl. zu diesem Vorgang auch Dinzelbacher, Heilige oder Hexen, 63; wie Lachance, Introduction, 111 zeigen kann, wirkte sich aber gerade die Berufung auf den Kardinal Colonna als kontraproduktiv für die Legitimierung des Werkes aus, da dieser selbst auf Grund seiner Sympathien für die Spiritualen kurze Zeit später durch Bonifaz VIII. exkommuniziert wurde. 240  Vgl. auch die Notwendigkeit männlicher Autorisierung bei Gertrud von Helfta unter A.2.1.1.1. 241 Vgl. Bederna, Ich bin du, 89. Köpf nennt „27 vollständige oder unvollständige Handschriften ihres Werkes“ sowie „rund 50 lateinische Ausgaben und vollständige Übersetzungen ins Italienische, Spanische, Französische, Deutsche, Flämische und Englische“ seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert; vgl. Köpf, Frauenbewegung, 226. 242 Zur Geschichte der Werktradierung bis ins 20 Jahrhundert vgl. auch Lachance, Introduction, 111–117. Die von den Zeitgenossen Arndts unerkannte immense Bedeutung Angelas für das 2. Buch seiner „Vier Bücher vom wahren Christentum“ sollte erst Gottfried Arnold aufdecken; Gerhard Tersteegen weckte in pietistischen Kreisen durch die Aufnahme Angelas in seine „Auserlesenen Lebens­be­schrei­bun­gen heiliger Seelen“ neu das Interesse an der umbrischen Mystikerin; vgl. dazu Köpf, Frauen­be­wegung, 226f; zur Rezeption Angelas siehe auch Dinzelbacher, Mystik, 252. 243  Die relativ geringe Beachtung, die Angela im deutschsprachigen Forschungsraum erfahren hat, notiert Ulrich Köpf im Jahre 1988; vgl. köpf, Frauenbewegung, 227: „Nicht einmal alle Editionen ihres Werks aus unserm Jahrhundert sind in den größeren Bibliotheken vorhanden, und manche wichtige Monographie ist in Deutschland überhaupt nicht greifbar – ganz



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Wiederentdeckung Angelas. Einige dieser Neuinterpretationen möchte ich an dieser Stelle kurz aufführen, zeigen sie doch die bleibende Faszination dieser Theologin, die meines Erachtens in der Kirchenhistorie selbst noch nicht die gebührende Beachtung gefunden hat.244 Hingewiesen sei hier zunächst auf das literarische Feld. In einer Veröffentlichung im Jahr­buch der deutschen Schillergesellschaft aus dem Jahre 1976 zeigt Berndt Thum anhand zweier bis dato unedierter Briefe Rainer Maria Rilkes dessen Interesse an Angela auf. Die im Jahre 1908 mit Dr. Gustav Noll geführte Korrespondenz belegt, dass Rilke durch die Empfehlung Nolls auf Angela von Foligno aufmerksam gemacht wurde.245 Wie Thum nachweisen kann, wurden sprachliche Wendungen und inhaltliche Versatz­stücke der „Duineser Elegien“, die Rilke vier Jahre später unter dem Eindruck seiner in­ten­siven Angela-Lektüre verfasste,246 maßgeblich durch die umbrische Mystikerin in­spiriert.247

zu schweigen von den zahlreichen lokalen Publikationen über Angela.“ Bederna spricht zwar in ihrer 2004 erschienenen Monographie von einem explosionsartigen Wachstum der AngelaForschung; ein Blick in die Bibliographie zeigt jedoch die geringe Beteiligung deutscher Forschender; vgl. dazu Bederna, Ich bin du, 78.285–287. In deutscher Sprache existieren meines Wissens bislang überdies nur zwei Auswahlübersetzungen aus den 50er (Angela, Zwischen den Abgründen) und 70er Jahren (Angela, Gesichte), die jedoch durchaus erbauliche Züge tragen und damit für eine wissenschaftlich motivierte Beschäftigung nur bedingt geeignet sind. 244  Als notwendige Ergänzung der hier gewählten Beispiele sei auf Lachance, Introduction, 117 verwiesen. Nicht weiter ausgeführt, jedoch genannt werden soll die Angela-Rezeption bei der französischen Philosophin Luce Irigaray (vgl. dazu bes. Irigaray, Speculum, 239–252); eine kritische Würdigung ihrer Interpretation Angelas liefert Slade, Alterity, 109–126. 245  In seinem Schreiben vom 10. September 1908 wird deutlich, dass Rilke auf die Anempfehlung Angelas (zusammen mit Mechthild von Magdeburg) durch Noll reagiert, die ihm dieser angesichts Rilkes gelungener Übersetzungsarbeit der „Portugiesischen Sonette“ der Elisabeth Barrett Browning ans Herz legt: „Wenig kundig, wie ich bin, ist mir die Mechthild von Magdeburg nur ungefähr bekannt; die hl. Angela da Foligno (die ich in meiner Vie des Saints nicht finde) hab ich nicht einmal nennen hören. Und doch fühl ich bei dem was sie sagen und anführen deutlich, daß ich diese beiden Gestalten mir aneignen muß, um sie nie wieder zu vergessen“ (Rilke, zit. nach Thum, Rilke, 89). Noll hatte in seinem Schreiben an Rilke die Parallelen zwischen Mechthild und Angela zu E. Browning aufgezeigt: „Zwar sind jene von der geistlichen Minne, Elisabeth von irdischer Sehnsucht erfüllt, allein ihre Herzen tragen alle die gleich Glut, die gleiche Keuschheit, das gleiche Bangen vor der Gnade der Liebe, die gleiche Demut vor dem Geliebten. […] Wie Angela von Foligno gestehen muß, daß sie während der Umarmung ihrer Seele nicht mehr stehen kann, so gesteht Elisabeth, daß ihr die Knie versagen, ‚kaum wissend, wie dies schwere Herz hier tragen‘“ (ebd., 92). 246  Rilke lagen Angelas Schriften in der französischen Übersetzung des Ernest Hello vor; vgl. dazu Thum, Rilke, 95. 247  Zu den sprachlichen sowie inhaltlichen Parallelen vgl. im Einzelnen ebd. 97–102. Abschließend nimmt Thum mit Bestimmtheit eine klare Grenzziehung zwischen moderner Poesie und mittel­alterlichen Visionstexten vor. Dennoch kann er nach einer detailliert geführten, vergleichenden Analyse der fraglichen Texte „eine gewisse formale Ähnlichkeit der Welterfahrung – man ist versucht zu sagen ‚Technik‘ der Welterfahrung“ – aufzeigen, die trotz der „gänzlich anderen geistes­geschicht­lichen und gesellschaftlich-funktionalen Zusammenhängen“ zu bestehen scheint; vgl. ebd., 102.

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Doch auch innerhalb philosophischer Diskurse fand sie Beachtung. Zu denken ist hier etwa an George Bataille (1897–1962). In seinem dreibändigen Werk, das durch seine Wider­stän­digkeit zahlreiche Kritiker auf den Plan rief,248 unternahm der französische Philosoph den Versuch, in intensiver Auseinandersetzung mit Angela von Foligno eine neue Mystik,249 eine neue Theologie zu begründen, die sich einzig das Unbekannte als Objekt setze.250 An entscheidender Stelle erscheint der Entwurf dieser atheologischen Agenda Batailles, sein Versuch einer Übersetzung Angelas in ein modernes Zeichen­system, fragwürdig: In Abkehr von Angelas christozentrisch-theologischem Denken, welches das Leiden Christi als rettendes Geschehen begreift, substituiert Bataille das Bildnis des Passionschristus durch möglichst schockierende photographische Aufnahmen menschlicher Folteropfer.251 Auch wenn Bataille sich des Vorwurfs des Sadismus erwehrt, erscheint die Funktionalisierung des leidenden Mitmenschen als Mittel zum Zweck  – der Philosoph erstrebt dadurch das Einreißen, die Auflösung des eigenen Selbst – und ist somit meines Erachtens nicht als Fortführung des mittelalterlichen compassio-Gedankens anzusehen.252 Auch im Bereich der Psychoanalyse griff man das Werk der Angela von Foligno auf. In ihrem 1996 in „Gender and Text in the Later Middle Ages“ publizierten Aufsatz unter­nimmt Cristina Mazzoni den Versuch eines „comparative reading“ zwischen Angela von Foligno und dem Psychoanalytiker Jacques Lacan, zwischen dem Memoriale und „Encore“, einem Abschnitt aus Lacans Seminar aus den Jahren 1972/73, in dem er über weib­liche Sexualität doziert.253 Als tertium comparationis geriert dabei die These der Unaussprechlichkeit des absolut 248  Zu diesen zählten etwa Roger Caillois sowie Jean-Paul Sartre, die Batailles Hinwendung zur Mystik als Abkehr von politischem Denken (miss-) verstanden; vgl. dazu ausführlich Hollywood, Beautiful, 221 f. 249  Jedoch ist anzumerken, dass Bataille den Mystikbegriff problematisierte und ihn gegen den von ihm verwendeten und bevorzugten Terminus der inneren Erfahrung (expérience intérieure) abgrenzte; siehe dazu ebd., 222 (Anm. 11). 250  Vgl. ebd., 224. Der entscheidende Anknüpfungspunkt an Angelas Denken ist dabei ihre Rede von einer Offenbarung im Angesicht des Gottmenschen Christus und einer diese Offenbarung in unaussprechlicher Weise übersteigenden Erfahrung der Offenbarung des Nichts, der Dunkelheit. In Analogie dazu entwirft Bataille seine Philosophie eines doppelten Offenbarungsweges: „Bataille seeks to articulate the relationship between an ecstasy generated before an object and out of love for an other and that experienced in the void“ (ebd., 229). 251  Siehe dazu Bataille, Oeuvres, 140. 252  Ähnlich urteilt auch Amy Hollywood, wenngleich sie Batailles Kontext, den Beginn des Zweiten Weltkrieges als Hintergrundfolie in Rechnung stellt: „I am tempted to write that which one cannot ruin literally, one ruins symbolically, but that begs the question of the reality of the torture victim’s suffering and death. Bataille, unlike Angela, does not desire his own death, but is his desire to live within its breath dependent on the death of the other?“ (Hollywood, Beautiful, 231, Anm. 38). Zur Rezeption Angelas bei Bataille vgl. auch Durastanti, Préface, 13 f. 253 Vgl. Mazzoni, (Un)Representabilty, 239 f. Zur eigentümlichen Analogie zwischen Mystik und Psychoanalyse vgl. de Certeau, Mystic Fable, 8. Allerdings muss angemerkt werden, dass Lacan Angela nicht erwähnt, dafür jedoch etwa Hadewjich sowie Theresa von Avila; vgl. Lacan, Encore, 70.



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Anderen – das bei Angela durch Gott, bei Lacan durch die Frau repräsentiert wird – sowie das Bemühen, die Grenzen des Sagbaren durch eine Sprache zu überschreiten, die das Un­sag­bare in Worte zu kleiden vermag.254 Dabei fungiert Angelas Memoriale in der Argumentations­linie Mazzonis als Gegengewicht, ja als Instrument einer Dekonstruktion der Lacanschen Thesen,255 durchbrechen doch Angelas Worte letztlich das eigene Postulat der Unsagbarkeit des Anderen. Die einschlägige Veröffentlichung Katrin Bedernas aus dem Jahr 2004, in der sie Angela von Foligno neben Caterina Fieschi für eine Subjektphilosophie der Moderne fruchtbar macht, sie mit der Philosophie des Anderen von Emmanuel Lévinas sowie mit Paul Ricœurs Hermeneutik des Selbst korreliert, um sie im Sinne einer correctio fraterna in das Gespräch um das Subjekt einzubringen und so mit ihnen einen Subjektgedanken [zu] skizzieren, der an Stelle der zeitgenössischen Absetzung des Subjekts das Sich-selbst-Setzen, an Stelle seiner hypotrophen Setzung jedoch sein Sich-selbst-nicht-so-gesetzt-Haben und seine Verwiesenheit auf den Anderen [zu] bedenken,256

sei als letztes Beispiel für die zeitlose Faszination genannt, die von Angela bis in die Gegenwart ausgeht, als Beleg für die Offenheit ihrer Texte auch für moderne Diskurse. Im folgenden Abschnitt soll nunmehr anhand ausgewählter Textpassagen aus dem Me­moria­le sowie den Instructiones Angelas Beitrag zu einer Theologie der Seitenwunde in ihrer eigenen Gegenwart, im ausgehenden Mittelalter skizziert werden. 2.1.2.2  Schlüsseltexte der Seitenwundenfrömmigkeit bei Angela von Foligno In der gesamten Frauenmystik des Mittelalters nimmt das Kreuz Christi einen wichtigen Platz ein. Bei Angela von Foligno ist es völlig ins Zentrum gerückt, umschließt alle an­deren Formen der Spiritualität, ist in der soteriologischen Perspektive Anfang, Mitte und Ende der Heilsgeschichte.257

Das Kreuz vor Augen zu haben, bedeutete für Angela ebenso wie für zahlreiche zeitgenössische Mystiker und Mystikerinnen den gemarterten, verwundeten Leib Christi in den Blick zu nehmen.258 Kreuzesmeditation und die Hinwen254  Mazzoni merkt dazu an: „What strikes the reader in both Angela’s and Lacan’s texts is the level of self-conscious violation of the boundaries set by their respective discourses – be they scientific or religious. I have shown some of the ways in which Angela of Foligno speaks of the unspeakable Other, God, and how Lacan speaks of the unspeakable Other, Woman“ (Mazzoni, [Un]Representability, 253). 255  Vgl. ebd., 258. 256  Bederna, Ich bin du, 15. 257  Ruh, Mystik (Bd. 2), 523. 258  Obgleich Angela an körperlichen Phänomenen nicht sonderlich interessiert ist, vertritt sie doch eine grundlegend positive Sicht auf den Leib (vgl. Bederna, Ich bin du, 144f ). Eine besonders eindrückliche Vision vom leibhaftigen Christus zeigt diesen mit Angela vereint auf dem Brautbett. Dieses, eigentlich sein Grabmal, ist Schauplatz einer von zärtlicher Berührung

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dung zur Seitenwunde stehen bei Angela in enger Verbindung. Folgt man der Einschätzung der Editoren ihres Werkes, so spielt nach Ludger Thier und Abele Calufetti die Seitenwunde sogar die gewichtigere Rolle: [P]er Angela il Sacro Cuore in senso proprio non era al centro delle sue attenzioni. Ma il costato di Cristo crocifisso squarciato dalla lancia, che fa ricordare la mistica nata nella spiritualità cristiana attorno alle parole del vangelo di Gv. 19, 33–37, sembra essere stato, in tutta la sua ascesi, un punto prediletto della sua meditazione.259

Im Folgenden sollen drei Texte kurz skizziert werden, in denen sich der Niederschlag der spätmittelalterlichen Seitenwundenfrömmigkeit260 bei Angela von Foligno besonders ein­drück­lich nachzeichnen lässt.261 Gleich im ersten Kapitel des Memoriale, überschrieben als „Die ersten zwanzig Schritte der seligen Angela auf dem Weg der Buße und der geistlichen Vervollkommung“ (Priores viginti Passus B. Angelae in via paenitentiae et spiritualis perfectionis) begegnet der Leser einer Vision der Seitenwunde Christi, näherhin im 14. Passus der eigentlich 30, de facto jedoch nur 20 einer Freundin geschilderten Bußschritte Angelas.262 Gerade auf Grund der streng schematischen Gliederung dieses Kapitels und der klaren Einordnung der Vision der Seitenwunde in die Ordnung der einander folgenden Buß­statio­nen, erscheint es mir angebracht, den gesamten Kontext der fraglichen Passage zu berücksichtigen und einen etwas ausführlicheren inhaltlichen Abriss aller 20 Stationen des Bußweges zu bieten:263 Getreu dem mittelgeprägter Begegnung zwischen Christus und der Mystikerin, in der sie Christus auf den Mund küsst, sie ihre Wange an seine Wange schmiegt und von Christus gestreichelt wird; vgl. Angela, Mem. VII, Z. 98–108. 259  Angela, Mem., 145 (Anm. 15). Meine (freie) Übersetzung dieser Passage lautet: „Für Angela stand das Heilige Kreuz im eigentlichen Sinne nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Aber die Seite des gekreuzigten Christus, durchbohrt von der Lanze, die eine Mystikerin, hineingeboren in eine christ­liche Spiritualität, geprägt vom Wort des Evangeliums nach Joh 19,33–37, erinnern muss, ist schein­bar der Ort, den sie in all ihrer Askese als einen Lieblingspunkt ihrer Meditation [begreift].“ 260  Auch mit Blick auf die Texte der Angela von Foligno gilt, dass sie auf Grund ihres Zeugnisses einer spätmittelalterlichen Seitenwundenfrömmigkeit ausgewählt wurden, da sie für den Leser einen theologischen Mehrwert bedeuteten, insofern er sich mit den von Angela dargestellten theologischen Ausdeutungen der Seitenwunde auseinandersetzen konnte. 261  Auch hier sei darauf verwiesen, dass an dieser Stelle lediglich eine kurze Darstellung der Texte erfol­gen kann; eine Tiefenstrukturanalyse, eine Darlegung der je spezifischen Eigenheiten und theo­logi­schen Implikationen der fraglichen Passagen soll erst im zweiten Hauptteil der Arbeit ge­leistet wer­den. 262  Die anfängliche Ankündigung einer Erzählung der triginta Passus vel mutationes quas facit anima (Angela, Mem. I, Z. 5) wird letztlich nicht eingelöst; stattdessen endet Mem. I mit dem 20. Passus; in Mem. II. ordnet Frater Arnaldus das Gehörte noch in weiteren sieben Schritten (vgl. Angela, Mem.  II, Z. 20–79). Capites III–IX schließlich bieten weitere sieben Zusatzschritte. 263  Ein weiterer Grund für eine ausführliche Behandlung der gesamten 20 Schritte ist auch die Tatsache, dass Angelas Werk im deutschsprachigen Raum – anders etwa als der Legatus der Gertrud von Helfta – noch wenig Beachtung gefunden hat und es somit geraten scheint, diese Quelle eingehender vor­zu­stellen.



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alterlichen Bußschema264 setzt Passus 1 mit der Schilderung ihrer „Er­kennt­nis der Sünde“ und ihrer daraus resultierenden Höllenangst ein,265 die das Bedürfnis nach heilsamer Beichte in Angela weckt. In Passus 2 berichtet Angela von der Gewährung eines Beichtvaters durch den heiligen Franziskus,266 der ihre Buße (paenitentia) in Passus 3 ermöglicht.267 Die in Passus 4 geschilderte Erkenntnis der Gnade Gottes, die sie der Hölle entreißt,268 stürzt Angela in Passus 5 zunächst in niederschmetternde Selbsterkenntnis der eigenen Un­zu­läng­lichkeit.269 Vor dieser dunklen Hintergrundfolie erstrahlt in Passus 6 die (neuerliche und vertiefte) Erkenntnis der göttlichen Gnade (illuminatio gratiae) umso heller und veranlasst Angela unter Anrufung Mariens und aller Heiliger zu einer umfassenden Bitte um Vergebung bei durch sie beleidigten Mitgeschöpfen.270 Im siebten und achten Passus versenkt sich Angela in die Betrachtung des gekreuzigten Christus, der um der Sünde der Menschen willen,271 ja um ihrer eigenen Sünden willen (crucifixus fuerat pro me)272 gestorben sei. Die Anschauung des gemarterten Christus­kör­pers veranlasst Angela dazu, sich vor dem Kreuz zu entkleiden und die Keuschheit ihrer Glieder zu geloben: Aber in dieser Erkenntnis des Kreuzes wurde mir ein solch großes Feuer verliehen, dass ich, neben dem Kreuz stehend, mich all meiner Kleider entledigte und mich ihm völlig darbot. Wenngleich mit Bangen versprach ich dennoch darauf­hin, ihm mit beständiger Keuschheit zu dienen und ihn mit keinem der Glieder zu be­lei­di­gen.273 264  Analog zu dem im Decretum Gratiani formulierten und etwa auch durch Abaelard ausgeführten Dreischritt der Buße in contritio – confessio – satisfactio setzen die Bußschritte des Memoriale mit dem Sündenbewusstsein und der Notwendigkeit der Beichte ein; vgl. dazu Benrath, Buße, 460. Hamm, Zentrierung, 179 skizziert die Elemente wahrer Buße wie folgt: „Buße bekundet sich in Reue und Tränen, Gebet und Beichte, Genugtuung und Verdienst […].“ Besonders einschlägig dazu in seiner Gesamtheit Ohst, Pflichtbeichte. 265  „Der erste Passus ist die Erkenntnis der Sünde, auf Grund derer die Seele sehr fürchtet, dass sie in der Hölle verdammt werde“. Primus Passus est cognitio peccati qua anima valde timet ne damnetur in inferno (Angela, Mem. I, Z. 7 f.). 266  Vgl. ebd., Z. 9–26. 267  Vgl. ebd., Z. 27 f. 268  „Der vierte Passus ist die Erkenntnis der göttlichen Barmherzigkeit, welche die vorhergesagte Barmherzigkeit ihr zugestanden hat und sie aus der Hölle gerissen hat […].“ Quartus Passus est recog­nitio divinae misericordiae, quae praedictam misericordiam concessit ei et extraxit eam de inferno […] (ebd., Z. 29 f.). 269  „Der fünfte Passus ist die Erkenntnis ihrer selbst, weil sie, bereits ein wenig erleuchtet, nichts in sich sah als Verderbnis.“ Quintus Passus est cognitio sui, quia iam aliquantulum illuminata nihil videt in se nisi defectus (ebd., Z. 39–48). 270  Vgl. ebd., Z. 49–58. 271  „Achtens, im Anblick des Kreuzes, wurde mir die große Erkenntnis zuteil, wie der Sohn Gottes für unsere Sünden gestorben ist.“ Octavo, in aspectu crucis data est mihi maior cognitio quomodo Filius Dei fuerat mortuus pro peccatis nostris (ebd., Z. 62 f.). 272 Ebd., Z. 67. 273  Sed in ista cognitione crucis dabatur mihi tantus ignis quod, stando iuxta crucem, expoliavi me omnia vestimenta mea et totam me obtuli ei. Et quamvis cum timore, tamen tunc

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Diesem symbolisch-performativen Akt der Entkleidung möchte Angela nun eine um­fassen­de Nacktheit, eine Entledigung von Gütern, Bindungen und Freundschaften folgen lassen;274 ein Vor­ha­ben, welches sie, wie sie in Passus 9 berichtet, erst nach dem Tod ihrer Familien­an­ge­hörigen zu verwirklichen vermag.275 Nun, im zehnten Passus, da sie tatsächlich frei ist, den Kreuzweg zu beschreiten, lässt Christus sie die offenbaren Zeichen seiner Passion, die Wunden seiner Geißelung schau­en,276 die er für sie erlitten habe.277 Das Geschaute vertieft erneut das Bewusstsein ihrer mannig­fachen Sünden, die sie als erneute Ursache für Christi Wunden begreift.278 Wiederum führt diese Erkenntnis zu noch härteren Bußleistungen, die im elften Passus angedeutet, jedoch erneut von Frater Arnaldus nicht ausgeführt werden.279 Da Angela die vollkommene Loslösung von allen Besitztümern als obligate Voraus­setzung der Kreuzesnachfolge erkennt („[…] beschloss ich alles gänzlich zurückzulassen, auf dass ich Buße tun könne und zum Kreuz kommen“280), wählt sie in Passus 12 gegen alle innere Anfechtung281 und Widerstände von außen282 die Armut, um schließlich los­ge­löst von aller Furcht auf ihre bleibende Geborgenheit in Gott vertrauen zu können.283 Der 13. Passus ist meines Erachtens als Praeludium, als Auftakt zur Passage über die Seitenwunde zu begreifen, thematisiert er doch die Bitte Angelas an Maria und Johan­nes um ein sicheres Zeichen, das ihr eine bleibende Vergegenpromisi ei servare perpetuam castitatem et non offendere eum cum aliquo membrorum (ebd., Z. 67–71). 274  „[I]ch beraubte mich aller irdischen [Güter] und aller Männer und Frauen und aller Freunde und Eltern und meines Besitzes und all dessen, was mein Eigentum war“. expoliarem me de omnibus terrenis et de omnibus hominibus et feminis et de omnibus amicis et parentibus et de omnibus aliis et de possessione mea et de meipsa (ebd., Z. 81–83). 275  Vgl. ebd., 85–93. 276  Die ausführlichen Beschreibungen, etwa der einzelnen Barthaare Christi, und der Verweis auf das Schauen all seiner Verwundungen kann als „zeittypisch realistisch“ beschrieben werden, ist jedoch für die Summe der Visionen des Memoriale eher singulär; vgl. dazu Bederna, Ich bin du, 101. 277  ostendebat mihi quomodo omnia sustinuerat pro me (Angela, Mem. I, Z. 99 f.). 278  „Und daraufhin wurden mir auf wundersame Weise all meine Sünden ins Gedächtnis zurückgerufen, durch welche mir gezeigt wurde, dass ich, weil ich kürzlich erneut ihn durch meine Sünden verwundet hatte, größten Schmerz haben musste.“ Et tunc reducebantur mihi in memoria mea mirabiliter omnia peccata mea quibus ostendebatur mihi quod, cum ego recenter iterum plagassem eum peccatis meis, maximum dolorem debebam habere (ebd., Z. 108–110). 279  Hic est longus Passus ad scribendum et mirabilis et supra humanum modum difficilis (ebd., Z. 117 f.). 280  […] deliberavi relinquere omnia omnino ut possem facere paenitentiam et venire ad crucem (ebd., Z. 121 f.). 281 Ebd., Z. 127 f. 282  hoc dissuaderetur mihi ab omnibus (ebd., Z. 129). 283  „[…] weil, auch wenn alles Böse mir zustoße, ich dennoch freudig stürbe in Gott“. […] quia, etsi omnia mala mihi accidebant, laeta moriebar de Deo (ebd., Z. 136 f.).

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wärtigung der Passion er­mög­liche (signum certum quo semper possem habere in memoria passionem Christi continue); im Traum schaut sie daraufhin das Herz Jesu als Sinnbild reiner Wahrhaftigkeit jenseits allen Truges (in isto corde non est mendacium, sed omnia sunt ibi vera), ein Traumbild, das sie beschämt, da sie es als Antwort auf ihren Spott gegenüber einem Pre­diger deutet.284 Nunmehr, gleichsam nach zwei Drittel des Bußweges und unmittelbar im Anschluss an Angelas Wunsch im dreizehnten Passus, durch den Schmerz der Gottesmutter und des Lieblings­jün­gers in die Passionsbetrachtung einzugehen285 schaut Angela in ihrer Kreuzesandacht im vierzehnten Passus den Schmerzensmann in großer Klarheit.286 Dies, so wird eigens hervorgehoben, bewirkt eine größere und alles überbietende Erkennt­nis Christi.287 Erschien im 13. Passus der Schmerz der historischen Zeugen der Passion als Vehikel der eigenen memoria passionis und das Herz Christi als Signum derselben, so ist es nun das zentrale Symbol des Schmerzes Christi, die Seitenwunde, aus der Angela als unmittel­bare, gegenwärtige Zeugin der Passion schöpfen darf: „Und daraufhin rief er mich und sagte mir, dass ich meinen Mund auf die Wunde seiner Seite legen solle und es schien mir, als sähe und tränke ich sein Blut frisch aus seiner Seite fließend und es wurde mir zu verstehen gegeben, dass ich in diesem gereinigt werde.“288 Diese Vision, die Erkenntnis der Reinigung im Blut Christi, versetzt die Mystikerin in große Freude, deren Gegenpol sie 284 

Vgl. ebd., Z. 138–143. […] intravi per dolorem Matris Christi et sancti Ioannis (ebd., Z. 138). 286  Christus ostendit se mihi vigilanti in cruce magis clarum (ebd., Z. 144 f.). Bederna, Ich bin du, 101 nennt den 14. Schritt neben der Schau der Wunden in Passus 10 die zentrale Vision innerhalb der Gesamtkomposition des ersten Kapitels des Memoriale. 287  […] hoc est quod dedit mihi maiorem cognitationem de eo (Angela, Mem. I, Z. 145 f.). 288  Et tunc vocavit me et dixit mihi quod ego ponerem os meum in plagam lateris sui, et videbatur mihi quod ego viderem et biberem sanguinem eius fluentem recenter ex latere suo, et dabatur mihi intelligere quod in isto mundaret me (ebd., Z. 146–149). Bewegten sich die im textkritischen Apparat von Thier/Calufetti aufgeführten variablen Lesarten in Passus 14 bislang nur im Bereich vernach­lässigbarer grammatikalischer Abweichungen, erscheint es an dieser Stelle angebracht, die durch die von den Herausgebern als sogenannte erste Redaktion bzw. erste Textfamilie (B) alternative Lesart ebenfalls anzuführen, wenngleich die Differenzen m. E. nicht von weitreichender inter­preta­to­ri­scher Konsequenz erscheinen: Et tunc vocavit me et dixit mihi quod ponerem os meum et biberem sanguinem eius fluentum recenter de latere suo, et videbatur mihi quod ego ponerem os meum in plagam lateris sui et biberem sanguinem eius, et dabatur mihi intelligere quod in isto mundaret me. Nur kurz sei auf die Unterschiede hingewiesen: Der Begriff Wunde (plaga) findet sich in diesem ersten Nebensatz nur im Haupttext, B spricht an dieser Stelle in einem Atemzug vom Anlegen des Mundes und Trinken des frisch fließenden Blutes aus der Seite. Beide Textvarianten betonen in identischem Wortlaut den visionären Charakter (et videbatur mihi) des nun erfolgenden Trinkens aus der Seitenwunde – und auch B verwendet nun das Lexem plaga. Als letzter signifikanter Unterschied sei noch das Fehlen des Verbes videri bei B genannt: das Motiv des Schauens des Blutes fehlt an dieser Stelle. Die theologische Schlussfolgerung, die Reinigung Angelas durch das Blut, ziehen beide Redaktionen jedoch in identischer Weise. Zur Aufschlüsselung des Siegels B vgl. dies., Il libro, 51–55. 285 

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jedoch noch im selben Atemzug benennt: „[O]bgleich ich durch das Bedenken der Passion Traurigkeit empfand.“289 Jener dunkle Gegenpol, die Traurigkeit, wird nunmehr weiter ausgezogen und führt zum unbestrittenen Scheitelpunkt ihres Bußweges: dem Wunsch nach Überbietung der Leiden Christi.290 Diese Überbietung möge sich, wie der 14. Passus fortführt, durch die Wahl eines beson­ders schändlichen Ortes, eines besonders schändlichen Todeswerkzeugs sowie durch eine quä­lend lange Dauer des Sterbens manifestieren.291 Jene eingangs geschilderte große Freude, das Bewusstsein der Reinigung durch das aus der Seitenwunde empfangene Blut, wandelt sich am Ende des 14. Passus in das Gefühl zutiefst empfundener Unwürdig­keit.292 Dieser Höhe- – oder sollte man sagen – Tiefpunkt der Priores viginti Passus wird nun durch die in Passus 15 neuerliche Zufluchtnahme zu Maria und Johannes, die bereits im voran­ gegangenen Schritt thematisiert wurde, gerahmt. Auch Angelas Wunsch, an deren Schmerz über die Passion teilzuhaben, erinnert an Passus 13; an dieser Stelle führt er die Mystikerin überdies zur Erkenntnis der Größe des Johannes, der „mehr sei als ein Mär­ty­rer“.293 289  […] quamvis ex consideratione passionis habere tristitiam (Angela, Mem. I, Z. 149 f.). Signifikant erscheint im Gegensatz dazu die Betonung des Aufgehobenseins aller Traurigkeit in ungetrübte Freude gerade angesichts der Passion Christi in dies., Mem. VI, Z. 252–254. 290  „Und ich bat den Herrn, dass er mich mein ganzes Blut um seiner Liebe willen vergießen lasse, so wie er selbst es für mich getan hatte. Und ich kam um seiner Liebe willen zu dem Entschluss, mir zu wünschen, dass all meine Glieder den Tod erleiden sollten, einen anderen als seine Passion, nämlich einen viel schändlicheren.“ Et rogavi Deum quod faceret me totum sanguinem meum propter amorem suum, sicut fecerat ipse pro me, spargere. Et disposui me propter amorem suum quod volebam quod omnia membra mea paterentur mortem, aliam a passione sua, scilicet magis vilem (dies., Mem. I, Z. 151–154). 291  „[…] weil Christus am Holz gekreuzigt wurde, sollte ich an einem Flussufer oder an einem äußerst schändlichen Ort oder durch ein äußerst schändliches Werkzeug gekreuzigt werden; und weil ich nicht würdig war zu sterben wie die Heiligen gestorben sind, schaffe er mir einen viel schändlicheren Tod und ein langes Sterben.“ […] quia Christus fuit crucifixus in ligno, me crucifigeret in una ripa vel in uno vilissimo loco vel in una vilissima re; et quia non eram digna mori sicut fuerunt mortui sancti, faceret me mori magis viliter et cum longa morte (dies., Mem. I, Z. 157–160). 292  Angelas Wunsch nach der Überbietung der Schändlichkeit des Todes Jesu führt sich schließlich selbst ad absurdum: „Und ich vermochte es nicht, mir einen so schändlichen Tod auszudenken, wie ich ihn ersehnte; ja, ich litt vieles, weil ich keinen so schändlichen Tod finden konnte, der in keiner Weise dem der Heiligen ähnlich war, weil ich [dazu] völlig unwürdig war.“ Et non poteram cogitare ita vilem mortem sicut ego desiderabam; immo multum dolebam quod non poteram invenire vilem mortem in qua nullo modo similarer sanctis, quia eram omnino indigna (ebd., Z. 160–163). 293  […] et existimo eum fuisse plus quam martyr (ebd., Z. 171 f.). Zum Stellenwert der compassio virginis Mariae im Zugang zu Gottes Erbarmen und innerhalb der Nachfolge Christi vgl. nur Hamm, Zentrierung, 179 sowie Schuppisser, Schauen, 187, der als einschlägigen Text für jenes Phänomen einen Ausschnitt aus dem lateinischen Speculum Humanae Salvationis zitiert: „Ein allzu bestialisches Herz scheine der zu haben der durch solche Tränen und Klagen nicht zum Mitleiden bewegt werde (Nimis bestiale cor habere videretur, qui tantis lacrimis et lamentationibus non compateretur.).“ Zur Bewertung dieser Form der compassio mit der Gottesmutter im Zuge der Reformation hält Jonathan Reinert fest: „Wie sich im Motiv der



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Gegen den Widerstand von Dämonen und ihr nahestehender Menschen und trotz bleibender Bitternis auf Grund ihres Sündenbewusstseins ringt Angela noch einmal um die Verwirklichung vollständiger Besitzlosigkeit.294 Im 16. Passus schließlich wird Angela in der Meditation über das ‚Vater Unser‘ etwas von der göttlichen Süßigkeit zuteil: „Und während ich betete, legte er in mein Herz das ‚Vater Unser‘ […] und ich begann etwas von der göttlichen Süßigkeit zu schmecken“.295 Auch im anschließenden Schritt ist es für Angela, die sich „in der Passion Christi ein­ge­schlossen hat“296 die Meditation des Wortes Gottes, die ihr eine bleibende Sicherheit, Licht und glühende Gottesliebe gewährt, die sie, wie sie eigens betont, in den Predigten der Priester nicht zu finden imstande wäre.297 Passus 18 beschreibt nunmehr ein solch intensives Empfinden Gottes, welches Angela zu unaufhörlichen körperlichen Bußleistungen anspornt; dem Verlangen, nicht zu essen, wider­steht sie jedoch, da sie dieses als Versuchung enttarnt.298 Allein die Nennung des Namens Gottes oder der Anblick eines Bildes löst unkontrollierbares Schreien bei ihr aus, das ihre Umgebung zutiefst befremdet und sie dem Vorwurf der Besessenheit aussetzt, einem Vorwurf, dem sie selbst nichts entgegenzusetzen vermag.299 ‚Pietà‘ zeigt, das Maria mit dem toten, geschundenen Jesus auf dem Schoß darstellt, konnte dabei auch die Gottesmutter selbst zum Bezugspunkt des Mitleids werden, wogegen Luther im dritten Absatz des Passionssermons polemi­siert: ‚Der art seynd, die mitten yn der passion weyt auß reyßen und dem abschied Christi zu Betha­nien und von der Junckfrawn Marien schmertzen viel eyntragen und kummen auch nit weyter. Da kumpt es, das man die passion ßo vill stund vorzeugt, weyß gott, ab es mehr zum schlaffen ader zum wachen erdacht ist.‘“ (Reinert, Passionspredigt, 47). 294  Angela, Mem. I, Z. 173–178: „Woraufhin in mir dann das Verlangen geweckt wurde, mich aller Besitztümer mit aller Willenskraft zu entledigen, obwohl ich von einem Dämon heftig bekämpft wurde, dass ich jenes nicht tun solle und dadurch oft versucht wurde. […] Und obwohl es mir von den Brüdern und von dir und von allen, denen es gefiel, mir Ratschläge zu geben, verboten wurde.“ Unde et tunc datum est mihi desiderium expropriandi me cum tanta voluntata quod, quamvis impugnarer multum a daemone ut illud non facerem […] et quamvis prohiberetur a fratribus et a te et ab omnibus a quibus conviebat me habere consilium. Auf die interessante Textvariante „a parentibus“ sei hier nur verwiesen; vgl. dazu Angela, Mem., 146 (Anm. 16). Im Hinblick auf die Thematik der Aufgabe des Besitzes vgl. bereits ebd., Mem. I, Z. 120–137. 295  Et dum ego orabam, posuit in corde meo ‚Pater noster‘ […] et coepi gustare aliquid de dulcedine divina […] (ebd., Z. 187 f.192f ). 296  Et tunc reclusi me in passione Christi (ebd., Z. 212). 297  Vgl. ebd., Z. 205–247. 298  „Achzehntens, nachdem ich das Empfinden Gottes gehabt hatte und solches Entzücken im Gebet gehabt hatte, geschah es, dass ich mich nicht ans Essen erinnerte. Und ich wollte, dass es mir nicht ziemte, zu essen […] aber ich erkannte, dass dies eine Versuchung war.“ Decimo octavo, postea habui sentimenta Dei, et habebam tantam delectationem in oratione quod non recordabar de comestione. Et voluissem quod non oportuisset me comedere […] sed cognovi esse deceptionem (ebd., Z. 248 f.252 f.). 299  Vgl. ebd., Z. 261 f.264: „Ja, wann immer Leute mir sagten, dass ich besessen wäre wegen etwas, das ich nicht anders tun konnte […] da war es mir nicht möglich, die mich Verleumdenden zu befriedigen.“ Immo quando personae dicebant mihi quod eram indaemoniata pro eo quod non poteram facere aliud […] et non poteram satisfacere male mihi dicentibus. Zur Grat-

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Als Kontrapunkt dieser tiefen Verunsicherung erscheint nun die Gnade, die Angela im 19. Passus in der „Kontemplation der Gottheit und Menschheit Christi“ (contemplatione divinitas et humanitas Christi) zuteilwird.300 Übertroffen wird diese Erfahrung noch durch die Antwort des Herrn auf Angelas Bitte, sie wolle nichts denn ihn allein,301 in der er verspricht, die Trinität werde in sie eingehen.302 Dieses Versprechen, so merkt Frater Arnaldus an, sollte in Passus 20, auf Angelas Pilger­weg nach Assisi, eingelöst werden.303 Die Aufzeichnung dieses von ihm zuerst ab­ge­fassten Erlebnisses, so fährt er fort, möchte er jedoch zu einem späteren Zeitpunkt bieten, da es seinem Empfinden nach offenbar den Rahmen des vorliegenden Schemas sprengen würde.304 Der zweite für die vorliegende Arbeit entscheidende Passus Angela experitur suavem potentiam Dei amplexu brachii Crucifixii et introitu ad vulnera eiusdem atque gaudet spirituali certitudine305 findet sich in Caput VI, dem so genannten Quartus Passus supplens des Memoriale. Dabei handelt es sich um den vierten der insgesamt sieben Zusatzschritte, in denen Frater Arnaldus, wie er in Caput II, dem redaktionellen Scharnier zwischen Caput I (passi) und Caput III–IX (passi supplementari) erläutert, in der Materie fortzufahren gedenkt.306 Folgt man dem Bedernaschen Schema,307 so ist jener Quartus Passus supplens näherhin dem zweiten Hauptteil zuzurechnen, der Angelas Weg von „Liebe zu Erkenntnis“308 nachzeichnet.309 Die innere Spannung, die diesen vierten Zusatzschritt kennzeichnet, lässt sich bereits in seiner Überschrift ablesen: Quartus wanderung zwischen Begnadung und Besessenheit vgl. Dinzelbacher, Heilige oder Hexen, 169. 300 Vgl. Angela, Mem. I, Z. 272. 301  Ebd., Z. 285f: „Ich will weder Gold noch Silber, und gäbest du mir die ganze Welt, ich wollte nichts denn nur dich allein.“ Nolo aurum nec argentum, et si dares mihi totum mundum, nolo aliud nisi te. 302 Ebd., Z. 287: […] tota Trinitas veniat in te. 303  Vgl. ebd., Z. 292 f. 304  Vgl. ebd., Z. 304–311. In der Tat erfolgt die Schilderung dieses Passus in epischer Breite in dies., Mem. III, Z. 1–128. 305  Dies., Mem. VI, Z. 227–229. 306 Vgl. dies., Mem. II, Z. 11–15. Z. 20–79 schließt sich daran eine Kurzübersicht der folgenden sieben Zusatzschritte an. 307  Die Grobstrukturierung des Memoriale in drei Teile untergliedert Bederna, Ich bin du, 98 in Kapitel I und II (19 Schritte sowie redaktionelle Erläuterungen), Kapitel III–VII (Zusatzschritte 1–5) sowie Kapitel VIII und IX (6. und 7. Zusatzschritt). Zur inhaltlichen Gliederung bemerkt Bederna: „Der erste Teil des Memoriale erzählt nicht von Erkenntnis, sondern Entäußerung mit dem Ziel vollkommener Armut. Der zweite erzählt von ständig sich selbst überbietendem Spüren der Nähe Gottes, Erkenntnis ihrer selbst und des Anderen in sich und der dritte von einer doppelten Umkehrung alles bisher Erfahrenen, d. h. vom Erkennen in und mit Dunkel und vom Erkennen über dem Dunkel“ (ebd., 99). 308  So eine weitere Charakterisierung ebd., 103. 309  Da es an dieser Stelle nicht um den Versuch einer eigenen Gliederung des Memoriale gehen soll, sei nur gleichsam spielerisch darauf verwiesen, dass, wenn man die sieben Zusatzschritte als Einheit belässt, eben jene Vision der Seitenwunde dann im (numerischen) Mittelpunkt jener passi supple­men­tari zu stehen kommt. M. E. ist dies kein Zufall!

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Passus est revelatio humilitationis propriae et reformationis et certificationis divinae.310 In der Tat wechseln sich in rascher Folge die Erkenntnis der eigenen Niedrigkeit und des Angefochtenseins mit dem Erleben göttlicher Nähe und Versicherung ab; ja bisweilen greifen diese beiden Spannungspole innerhalb einer Vision, eines Erlebnisses ineinander. Bevor Angela jene geistige Sicherheit in den Armen, in der Seitenwunde Christi genießen darf, hatte sie einen regelrechten Parforce-Ritt durch die Höhen und Tiefen ihrer Gottes­er­fahrungen geschildert, wobei sich das Erleben von Gottesferne, Versuchung durch den Teufel,311 Unwillen zur Beichte312 und schließlich doch erfolgende, erlösende Beich­te,313 die allein durch Gottes Gnade ermöglichte Kommunion und die Erneuerung ihres Wun­sches nach einem Martyrium314 – in rascher Folge abgewechselt. Die fundamentalen Erkenntnisse, die Angela aus diesen durch und durch ambivalenten Erfahrungen zu ziehen vermag, ist zum einen das Bewusstsein der Unmittelbarkeit ihrer Christusbeziehung,315 zum anderen, dass sie nunmehr eben jene Negativerfahrungen der Gottesferne und des Versuchtwerdens als Bestandteil des göttlichen Willens, als Proprium des „göttlichen Spieles“ begreift und akzeptiert. Vor dem Hintergrund dieses kurz angerissenen Präludiums des Caput VI ist die Schilderung ihres Eingehens in die Seitenwunde Christi unter der Überschrift Angela experitur suavem potentiam Dei amplexu brachii Crucifixii et introitu ad vulnera eiusdem atque gaudet spirituali certitudine tatsächlich ein starker Kontrapunkt! Denn die Erfahrung des immer neuen Gottesverlustes in jenem „Versteckspiel“ verkehrt sich nun ins Gegenteil. Gott weicht der ihn zu halten suchenden Seele nunmehr nicht länger aus, er gewährt ihr vielmehr die ungestüm ersehnte Nähe und Geborgenheit in seinen Armen: Versunken in die Betrachtung des Kreuzes wird die Seele Angelas von Liebe entflammt, ein Zustand, der all ihre Glieder mit Freude erfüllt: „Ich war in irgend­einem Dorf in der Vesper und betrachtete ein Kreuz. Und während ich das Kruzifix mit den körperlichen Augen betrachtete, wurde die Seele sofort und plötzlich von 310 

Angela, Mem. VI, Z. 3 f. Die Versuchung (die Angela klar als solche erkennt) ist in eine Alltagsszene eingebettet: Der Teufel flüstert der Kopfsalat waschenden Angela ein, sie wäre nicht einmal dieser Küchenarbeit würdig. Zeit und Ewigkeit, Diesseitiges und Jenseitiges liegen auch in Angelas Antwort nah beieinander: Sie bekennt, der sofortigen Höllenfahrt und des Mistsammelns würdig zu sein; vgl. ebd., Z. 148–153. 312  Vgl. ebd., Z. 162. 313  Vgl. ebd., Z. 170–185. 314  Vgl. ebd., Z. 193–202. 315  Aufschlussreich ist etwa die Relativierung der Kommunion als entscheidender Ort der Gottesbegegnung, wenn sie Christus sprechen lässt: „Es gefällt mir gut, dass du kommunizierst, denn wenn du mich aufnimmst, hast du mich bereits aufgenommen; und wenn du mich nicht aufnimmst, hast du mich [ebenso] schon aufgenommen.“ Bene placet mihi quod tu communices, quia si tu me recipis, tu me iam recepisti; et si tu non me recipis, tu me iam recepisti (ebd., Z. 163–165). 311 

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einzig­artiger Liebe entflammt und alle Glieder des Körpers empfanden die größte Freude.“316 Nunmehr schaut und empfindet die Mystikerin, wie „Christus in ihr“ ihre Seele mit eben jenem Arm umfängt, mit dem er ans Kreuz geschlagen wurde.317 Freude und Sicherheit, Begriffe, die innerhalb dieses Passus refrainartig wiederkehren, erwachsen Angela aus diesem Erlebnis.318 Die in der Umarmung durch den Gekreuzigten erlebte Gottesbegegnung schenkt Angela die Erkenntnis, dass in Christus der Ermög­li­chungsgrund der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen in seiner fleischlichen Existenz zu finden ist: Und daraufhin verblieb die Seele in einzigartiger Freude, durch welche die Seele verstand, wie jener Mensch, nämlich Christus, im Himmel steht und auf welche Weise wir schauen, wie dieses vergängliche Fleisch in eine Gemeinschaft mit Gott gebracht wird.319

Himmlisches und Irdisches verschmelzen, Leib und Seele erscheinen als versöhnte Protagonisten. Man gewinnt den Eindruck, dass die eingangs erwähnte Betrachtung des Kruzifixus (respiciendo crucifixum oculis corporis) die vorliegende Passage gliedert: Nach jenem kur­zen theologischen Einschub gleitet Angelas Aufmerksamkeit vom Arm des Ge­kreu­zig­ten schließlich zu seiner Hand, deren Nägelmale ihr als sichtbare Zeichen seines stellvertretenden Leidens gelten.320 Die Betrachtung dieses Leidens gereicht ihrer Seele zu einer solch überwältigenden Freu­de, die sich jeder Mitteilbarkeit entzieht.321 Sagbar ist lediglich jenes soteriologische Paradoxon: Die Freude wurzelt in der Passion; alle Traurigkeit wandelt sich in leiden­schaftliche Freude und Ergötzen: „Und auf keine Weise konnte ich nun 316  Quadam vice ego eram in Vesperis et respiciebam in crucem. Et respiciendo crucifixum oculis corporis, statim subito accensa fuit anima uno amore, et omnia membra corporis sentiebant cum maxima laetitia (ebd., Z. 232–234). 317  „Und ich sah und fühlte, dass Christus in mir die Seele umarmte mit jenem Arm, mit welchem er gekreuzigt worden war […]“. Et videbam et sentiebam quod Christus intus in me amplexabatur animam cum illo brachio cum quo fuit crucifixus […] (ebd., Z. 235 f.). 318  „Und ich freute mich mit derselben großen Freude und Sicherheit, mehr denn ich es je gewohnt gewe­sen war.“ Et gaudebam cum ipso tanta laetitia et securitate plus quam unquam consueverim (ebd., Z. 237 f.). Im gesamten Unterabschnitt (Z. 227–270) findet sich insgesamt allein neunmal das Lexem laetitia (ergänzt durch fünf Formen von delectare) sowie der Begriff der securitas (verstärkt durch die viermalige Verwendung des Nomens certitudo, der Adjektive certissimus bzw. certificatus, sowie des Verbums certificari). 319  Et ex tunc remansit anima in una laetitia, qua comprehendit anima, qualiter iste homo, scilicet Chri­stus, stat in caelo, videlicet quomodo itam carnem nostram videmus unam societatem esse factam cum Deo (ebd., Z. 239–241). 320  „Und ich freute mich so darüber jene Hand zu schauen, welche er mit jenen Zeichen der Nägel zeigte, und dabei sagte: Siehe jene [Male], die ich für euch ertragen habe.“ Et delector ita videre illam manum, quam ostendet cum illis signis clavorum, quando dicet: Ecce illa quae sustinui pro vobis (ebd., Z. 250 f.). 321  „Und die Freude, welche hier ihre Seele ergriff, kann auf keine Weise erzählt werden.“ Et laetitia, quam hic capit anima, nullo modo potest narrari (ebd., Z. 251 f.).



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irgendeine Traurigkeit angesichts der Passion empfinden, sondern ich ergötzte mich darin, jenen Menschen zu sehen und zu ihm zu kommen.“322 Angelas Passionsmeditation führt den Leser gerade nicht in die Tiefen der Traurigkeit oder der Zerknirschung, wie dies in vielen Betrachtungen der Leiden Christi als Zielpunkt benannt wird, sondern vielmehr zum Ursprung getroster Freude. Hatte der Blick der Mystikerin zunächst die Oberfläche des Christuskörpers zum Objekt ge­nom­men – seinen Arm, die verwundete Hand – so wendet sie sich nunmehr seinem Innersten zu. Dieses „Innen“ birgt für sie die vollkommene Freude.323 Es ist die Seitenwunde, die Außen und Innen verbindet und Angela Zugang zu dieser im Schmerzens­ mann eingeschlossenen Freude gewährt; unaussprechliche Freude und Ergötzen begleiten auch ihr immer wieder vollzogenes Eingehen in die Seite Christi: „Und einmal schien es der Seele, dass sie mit solch großer Freude und Lust eintrete hinein in jene Seite Christi und mit solch großer Freude ging sie in der Seite Christi umher, dass es auf keine Weise möglich ist, dass davon gesagt oder erzählt werden kann.“324 Die Seitenwunde scheint wie ein eröffneter Raum der Freiheit und der freudigen Unbeschwertheit und das Erleben, das Angelas Seele dort zuteilwird, lässt sich mit Worten nur unzulänglich beschreiben. Dieser zeitlich nicht näher fixierten Erfahrung des Eintretens in die Wunde Christi stellt der Text ein weiteres Erleben zur Seite, das mit einer konkreten Situation verknüpft ist und ausführlicher geschildert wird: Während Angela die Aufführung eines Passions­spie­les auf der Piazza di Santo Domenico verfolgt,325 verfällt sie in eine Art ekstatischen Zustand, in dem sie weder ihre Zunge noch ihre Glieder bewegen kann. An die Stelle eines eigenen, autonomen Körperempfindens tritt ein unaussprechliches Empfinden Gottes. Im Zustand vollkommener Ohnmacht, die sie inmitten der Menschenmenge auf den Boden wirft, erscheint es ihr, als trete ihre Seele in die Seite Christi ein, in der sie – wie wie­derum betont wird – keine Traurigkeit, sondern nichts als ungetrübte Freude findet:326 322  Et nullo modo possum nunc habere tristitiam aliquam de passione, sed delector videre et pervenire ad illum hominem (ebd., Z. 252–254). 323  „Und die ganze Freude ist lediglich in demselben leidenden Gott-Menschen.“ Et tota laetitia est modo in isto Deo homine passionato (ebd., Z. 254). 324  Et aliquando videtur animae quod cum tanta laetitia et delectatione intret intus in illud latus Christi, et cum tanta laetitia vadit intus in latus Christi, quod nullo modo posset dici vel narrari (ebd., Z. 255–257). 325 Thier/Calufetti merken zur Situierung dieses Passionsspiels an: „Questa sacra rappresentazione della Passione di Christo è secondo Ferré la più antica che la storia ricordi […] ed ebbe luogo a Foligno nella Piazza di S. Domenico, la maggiore della città, davanti alla Chiesa di S. Maria Infraportase“ (ebd., 279, Anm. 24). 326 Ganz offensichtlich empfindet Angela selbst eine gewisse Diskrepanz zwischen der erwarteten Reaktion einer compassio passionis, die sie jedoch zu überspringen scheint, indem

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Als damals die Passion Christi auf dem Platz der Santa Maria aufgeführt wurde und es schien, dass es nun ans Trauern ginge, und mir dann im Gegenteil auf wun­dersame Weise eine solch große Freude zuteilwurde, ich so erfreut wurde, da verlor ich die Sprache und lag da, nachdem ich begonnen hatte, Gott auf jene unsagbare Weise zu empfinden. Und ich versuchte wohl ein Weilchen, mich von den Menschen fernzuhalten und ich war um dieser wundersamen Gnade willen darauf bedacht, noch ein Weilchen abseits bleiben zu können. […] Und ich lag und hatte die Sprache und die Kontrolle über die Glieder verloren. Und es schien mir, als träte daraufhin die Seele ein, hinein in die Seite Christi. Und es herrschte dort keine Traurigkeit, vielmehr eine solch große Freude, dass es nicht möglich ist, davon zu erzählen.327

Angelas (beinah ironisch erscheinende) Formulierung  – „und es schien, dass es nun ans Trauern ginge“ – wird bewusst konterkariert: Auch wenn es wie ein Wunder erscheinen mag, erlebt sie das Gegenteil: Große, sprachlos machende Freude, die darin gipfelt, dass Angela die Seitenwunde als Ort vollkommener Freude betritt, in der sie wiederum das Fehlen jedweder Traurigkeit konstatiert. Die Geborgenheit in der Seite Christi enthebt Angela aller vormals gehegter Zweifel; in Christus wird ihre Sehnsucht nach einer letztgültigen Versicherung der Wahrhaftigkeit all ihrer mystischen Erlebnisse gestillt: Früher aber, vor dem gerade bereits Erzählten habe ich so oft gejammert und begehrt, ich und die Gefährtin. Und es war mein Begehr bis zu diesem Zeitpunkt, dass ich nicht getäuscht würde, dass ich wüsste, dass ich nicht getäuscht würde. Und ich dachte: Wenn ich wissen könnte, dass ich nicht getäuscht sei, darin liegt mein ganzes Sein. Und auf diese Weise wurde ich so vergewissert, dass ich auf keinerlei Weise mehr zweifelte noch zweifeln konnte.328

Wie weitreichend die Befreiung von allen Zweifel zu verstehen ist, die Angela durch jenes Eintreten in die Seitenwunde gewährt wird, wie sie das gesamte Denken und Fühlen Ange­las verändert, wird in der sich anschließenden Passage (De controversa ‚Dei abso­luta et ordinata potentia’ rogata, Angela narrat quomodo in quadam mystica visione mysterium divinae voluntatis, potentiae, bonitatis, sapientiae iustitiaeque noverit, omni denique dubio ablato), die den ihr unmittelbar ungetrübte Freude zuteilwird. Das in diesem Passus so gehäuft verwendete Gegensatzpaar tristitia – laetitia hatte diese Kontroverse bereits im Vorfeld deutlich gemacht. 327  Unde et quando repraesentata fuit Passio Christi in platae Sanctae Mariae et videtur quod tunc fuisset plangendum, et mihi tunc e converso tanta laetitia tunc miraculose tracta fuit et delectata, quod perdidi loquelam et iacui postquam incoepi habere illud inenerrabile sentimentum Dei. Et studui vel aliquantulum elongari a personis, et reputavi pro miraculosa gratia quod potui aliquantulum declinare. Et iacui et perdidi loquelam et membra. Et videbatur mihi quod tunc anima intravit intus in latus Christi. Et erat non tristitia, immo tanta laetitia quod narrari non potest (Angela, Mem. VI, Z. 257–265). Eine vollkommen wörtliche Übersetzung Angelas erweist sich auf Grund des gesprochenen Charakters der Texte oftmals als schwierig. 328  Prius vero, ante istud quod praedictum est, multotiens ploravi, ego et socia, et desideravi. Et erat desiderium meum ad hoc scilicet non essem decepta, ut scirem me non esse deceptam. Et cogitabam: Si possum scire quod non sim decepta, hic iacet totum factum meum. Et modo sum ita certificata quod nec aliquo modo dubito nec dubitare possum (ebd., Z. 266–270).

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vierten Zusatzschritt abschließt, noch einmal bekräftigt. Neuerlich verunsichert über ihr Nachdenken über die Frage nach der Weltordnung, schaut sie schließlich wie auf einem großen Weltgerichtsgemälde alle bereits geretteten und noch zu rettenden Seelen, alle Verdammten, alle Dämonen und Heiligen und die bestehende Weltenordnung als die beste aller denkbaren Ordnungen.329 Dieses Einverständnis geht so weit, dass Angela sogar die Möglichkeit ihrer eigenen Verdammnis nur mit Gleichmut betrachten kann, zeige sich doch auch darin letztlich die Gerechtigkeit Gottes: Und in der Folge blieb ich so zufrieden und sicher; auch wenn ich ganz sicher gewusst hätte, dass ich verdammt sei, ich hätte aus keinem Grund darüber trauern können; ich hätte mich nicht weniger gemüht und darum geeifert, zu beten und ihn zu ehren. Und es blieb in meiner Seele ein Frieden und eine Ruhe und eine Festigkeit, wie ich mich nicht erinnern konnte, sie jemals so vollständig besessen zu haben und in welcher ich jemals so bleibend gewesen wäre […]. [A]uch wenn sie gewusst hätte, dass sie verdammt wäre, hätte sie keinen Schmerz empfunden, so sehr hatte sie die Gerechtigkeit Gottes vollständig verstanden.330

Jener Perspektivwechsel betrifft nicht nur sie selbst, sondern wandelt auch ihre Sicht auf Gottes Macht und Willen: „Und nun sah ich weder Macht noch Willen so wie ich es früher getan hatte; sondern ich sah etwas Feststehendes, Starkes, so Unaussprechliches, dass ich von diesem nichts sagen kann, außer dass es das eine Gute war.“331 Erneut bleibt Angela nur das Ringen um Begriffe für das Ungreifbare.332 An die Stelle der Liebe tritt das Unbenennbare, der Kontrast zwischen Außen und Innen scheint sich zu verwischen333  – wie an so vielen Stellen innerhalb des Memoriale werden auch hier ver­meint­lich festgefügte Grenzziehungen und Definitionen des eigenen Selbst fragwürdig, gera­ten theologische Apriori in die Aporie angesichts der Erfahrung des unsagbar An­de­ren. 329 

Vgl. ebd., Z. 312–317. Et ex tunc remaneo ita contenta et securata, quod si certissime scirem me esse damnandam, nulla ratione possem dolere, et non minus laborarem et studerem orare et honorare eum. Et reliquit in anima mea unam pacem et unam quietem et soliditatem, quam non recordor unquam me habuisse ita plene et in qua sum continue. […] etiam si sciret se damnandam, non doleret, tantum intellexit plene iustitiam Dei (ebd., Z. 317–322.330 f.). 331  Et tunc non videbam nec potentiam nec voluntatem illo modo sicut prius; sed videbam unam rem stabilem, firmam, ita indicibilem, quod de ea nihil possum dicere nisi quod erat omne bonum (ebd., Z. 334–336). 332  Vgl. ebd., Z. 336 f. 333  „Und dort schaute ich nicht die Liebe, sondern ich sah jenes Unaussagbare. Und ich wurde in jenen Zustand versetzt und ich war in diesen großen Zustand geschickt, der ebenfalls unsagbar ist. Und ich wusste nicht, dass ich dann in diesem großen Zustand stand und ich wusste nicht, ob ich innerhalb des Körpers war oder außerhalb.“ Et non videbam ibi amorem, sed videbam illam rem inenarrabilem. Et ego eram tracta de illo statu, et eram missa in isto maximo statu et inennerabili. Et nescio si tunc in isto maximo statu stabam, et nescio si eram in corpore vel extra (ebd., Z. 337–340). 330 

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Der letzte Textpassus des Liber, der für die vorliegende Untersuchung zur Seiten­ wun­ den­ fröm­ migkeit des Spätmittelalters berücksichtigt werden soll, befindet sich im zweiten Hauptteil des Werkes, innerhalb der Instructiones, die Bederna als ein „in weiten Teilen […] praktisch gewendetes und theologisch systematisierendes Memoriale“334 bezeichnet. Sowohl Lachance als auch Thier und Calufetti schließen sich der Einschätzung Ferrés an, der anonym bleibende Redaktor der Instructio IV (Angela Assisium peregrinans revela­tio­nibus et charismatibus mirifice fruitur) habe zum Schülerkreis Angelas gehört.335 In seinen einleitenden Zeilen (Verba scriptoribus quae ad thema introducunt) beschreibt der Redaktor die engen Bande, die zwischen Angela und ihm bestünden.336 Zugleich betont er, dass nicht so sehr jene Verbundenheit, sondern vielmehr eine womöglich dauer­hafte Trennung das entscheidende Movens für Angela dargestellt habe, ihm von ihrer Wandlung (mutatio)337 zu berichten und einer Niederschrift zuzustimmen.338 Der nun folgende Bericht dieser Wandlung steht unter der Überschrift In sacrificio Missae die dominico ante festum Indulgentiae,339 und untergliedert sich seinerseits in drei Unterabschnitte: a) Describitur quomodo Angela in abyssum divinitatis elata sit simulque in visione 334 

Bederna, Ich bin du, 113. Uneinigkeit herrscht jedoch hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zum radikalen Flügel der franziska­ni­schen Armutsbewegung. In der englischen Ausgabe des Memoriale von Lachance (Angela, Complete Works, 401) folgt dieser Ferré, Le livre, 288 in dessen Charakterisierung des Autors als Spiritualem und der Deutung seiner erwähnten Abwesenheit als Flucht oder Exil; Thier/Calufetti formulieren hingegen zurückhaltender: „L’anonimo redattore di questa Instructio fu certamente uno dei più fedeli discepoli di Angela; si dimostra anzi del gruppo degli ‚zelanti‘ del movimento franscescano pauperistico, ma sulla linea dell’ ortodossia; così il suo allontanamento non ci sembra dovuto a un decreto di condanna all’esilio come invece appare al Ferré (Le livre de l’expérience des vrais fidèles, 288, nota 2)“ (Angela, Mem., 485 f.). 336 Siehe dies., Ins. IV, Z. 10 f. 337  Vgl. ebd., Z. 8. 338  Vgl. ebd., Z. 11–15. Das Motiv der Unwilligkeit Angelas, über ihre Visionen zu sprechen, sowie die fundamentale Problematik, das Unsagbare in Worte zu fassen, durchzieht diese Instructio wie ein roter Faden (vgl. nur Ins. IV, Z. 16–20.69–71.131.138.152 f.211 f.215) und ließe sich in Angelas Worten wie folgt zusammenfassen: Secretum meum mihi (Angela, Ins. IV, Z. 138). Zur Verortung dieses Diktums im mönchischen Kontext vgl. Lachance, Complete Works, 401. 339  Zur konkreten historischen Datierung dieser Instructio siehe ebd.: „This instruction and instruction 26 deal with the same events surrounding Angela’s participation in the feast of the Portiuncula or Indulgence celebrated in 1300 at the church of St. Mary of the Angels. According to tradition, because of his special fondness for this church […] Francis had obtained from Pope Honorius III, in 1216, the granting of a plenary indulgence to pilgrims who visit it on its feast of its dedication, August 2 […].“ Die Chronologie der gesamten Instructio beschreibt er schließlich wie folgt: „According to Ferré, the chronological sequence of the events in question is as follows: Mass at the altar of the Virgin in the upper church of the basilica of St. Francis, Sunday 31 July 1300; Mass at the altar of St. Michael in the upper church of the basilica of St. Francis, Monday, 1 August 1300; procession from Assisi to the Portiuncula, Monday afternoon 1 August 1300; Mass and revelations at the Portiuncula, Tuesday morning, 2 August 1300. The Mass of the morning of August 1 is not indicated in this instruction; instruction 26 fills this lacuna.“ 335 

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Crucifixi telo compassionis transfixa sit340 sowie b) In praefata visione contem­plat etiam quomodo filios suos spirituales amplexum, benedictionem et exhortationes Christi accipiant341 und schließlich in c) Cogitationes scriptoris de praedictis visio­nibus.342 Im ersten Unterabschnitt wird berichtet, wie Angela während einer vor dem Marienaltar der Franziskuskirche gesungenen Messe, näherhin während der Elevation der Hostie und des Sanctus-Hymnus, eine Vision zuteilwird.343 Verschlungen in das unerschaffene göttliche Licht, in den Abgrund344 Gottes, schaut sie die Gestalt des gekreuzigten Gott­menschen, der ihr erscheint, als sei er eben erst vom Kreuz abgenommen.345 Seine frisch blutenden Wunden, vor allem aber seine verdrehten Glieder346 stellen für Angela einen solch „verflüssigenden“ Anblick dar, dass sie, durchbohrt von ihrer com­passio, geistig und körperlich in die Schmerzen des Kreuzes transformiert wird: „Bei jenem verflüssigenden Anblick wurden ihre Eingeweide durch ein so großes Mitleiden durchbohrt, dass es so scheint, als wäre ihr ganzer Verstand und ihr ganzer Körper wahrhaft in die 340 

Angela, Ins. IV, Z. 30–71. Z. 72–102. 342 Ebd., Z. 103–138. 343  Vgl. ebd., Z. 32–35. Eine Verknüpfung zwischen liturgischem Geschehen und Visionen findet sich im Liber häufig; vgl. dazu Lachance, Introduction, 87. 344 Wenngleich an dieser Stelle nicht vom Abgrund Gottes, sondern vom abgründigen Verschlungen­wer­den die Rede ist, so wird doch der Begriff abyssatio bzw. abyssare in den Instructiones häufig ver­wen­det; vgl. dazu ebd. sowie Bederna, Ich bin du, 176; bes. ausführlich und weiterführend ebd., 183–188. 345 „[S]o wurde die Seele im nämlichen ungeschaffenen Licht verschlungen und aufgenommen und an sich gezogen mit einem solch großen Genuss des Geistes und mit einer solchen Anschaulichkeit, welche gänzlich und vollständig unsagbar ist […]. Nach diesem so beschaffenen abgründigen Ein­ge­taucht­werden in Gott […] erschien das Abbild jenes gesegneten gekreuzigten Gottes und Menschen so, als wäre er erst vor kurzem vom Kreuz abgenommen, sein Blut schien so frisch und rot aus den Wunden zu fließen, als wenn es dann unmittelbar aus neuerlichen Wunden vergossen wurde.“ [S]ic fuit anima in ipsum increatum lumen absorpta et assumpta et a se tracta cum tanta mentis fruitione et illustratione, quod omnino est ineffabile totum. […] Post talem abyssalem absorptionem in Deum […] apparuit effigies illius benedicti Dei et hominis crucifixi quasi tunc noviter de cruce depositi, cuius sanguis apparebat sic recens et rubicundus per vulnera effluens ac si tunc immediate de recentibus vulneribus fuisset effusus (Angela, Ins. IV, Z. 36–38.40–44). 346 „Und daraufhin erschien auch in allen Gelenken jenes seligen Körpers eine solch große Auflösung der Verbindungen und der Einheit der Glieder […], dass die Nerven und die Verbindungen der Kno­chen jenes allerheiligsten Körpers vollständig gelöst schienen von der geschuldeten Harmonie des Zusammengefügtseins […]. Und größeres Leiden wurde erweckt durch den Anblick der schreckli­chen Lösung der Anordnungen der Einheit der Glieder, aus welcher alle Nerven schmerzlich hervor­zu­treten schienen, als durch den Anblick der offenen Wunden.“ Tunque etiam apparebat in iuncturis omnibus illius benedicti corporis tanta dissolutio compaginis et unionis membrorum […] quod nervi et iuncturae ossium illius sacratissimi corporis videbantur omnino laxati a debita harmonia iuncturae […] Et maiori configebatur telo in aspectu tam dirae resolutionis compagum unionis membrorum, ex qua omnes nervi videbantur dolorose protensi, quam in aspectu vulnerum apertorum […] (Angela, Ins. IV, Z. 44–46.48 f.53–55). 341 Ebd.,

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A Einleitung

Schmerzen des Kreuzes verwandelt.“347 Mit Leib und Seele hineingenommen in den Schmerz Christi ist es die Vision des gekreuzigten wahren Gottes und wahren Menschen, durch welche Angela das Paradoxon der zweifachen Natur Christi anschaulich gemacht wird.348 Im anschließenden zweiten Unterabschnitt (b) wechseln die Perspektiven. Nicht mehr Angela ist nun das Subjekt der Handlung, sondern ihre geistlichen Söhne, die Bettel­mönche; nicht mehr der gemarterte Leib des Schmerzensmannes als ganzer ist Objekt der Betrachtung, sondern ausschließlich seine Seitenwunde. Erfüllt von Freude und Schmerz, mit Myrrhe und Honig getränkt, gleichsam vergöttlicht und gekreuzigt, erblickt die Mystikerin Christus, umringt von ihren Söhnen.349 Einen nach dem anderen umfängt Christus in liebender Umarmung: Ihre Häupter lieb­kosend heftet er sie an sich und lässt sie seine Seitenwunde küssen.350 Der Anblick dieser gleich­sam zerfleischenden/zerfleischten Liebe (eviscerato amore), einer Liebe, die das Inner­ste nach Außen kehrt, verändert Angelas Gemütszustand grundlegend: Die Freude, die in der Seele der Mutter über die diesen erwiesene zerfleischende Liebe jenes seligen gekreuzigten Gottes und Menschen entfacht worden war, machte sie die inner­sten Schmerzen vergessen, die durch ihre Seele in dem so furchtbaren Anblick ge­gan­gen waren.351

Nunmehr wird Angela gewahr, dass sich das Umschlungen- und Hinein­ genommen­werden in die Seitenwunde Christi in graduell abgestufter Intensität vollzieht, welche sich in der variierenden Häufigkeit, der Tiefe des Hinein­ gezogenwerdens sowie im unter­schied­lichen Benetzwerden durch das Blut der Seitenwunde manifestiert: Auch schien es ihr eine große Abstufung [zu geben] bei der Umarmung der Söhne und der Anheftung an die Seite: Denn einige stieß er mehr, andere weniger hinein; einige heftete er öfter an, einige nahm er wahrhaftig innerlich, körperlich auf. Bei manchen 347  Ad cuius liquefactivum conspectum tanta compassione transfixa sunt sua viscera, quod vere in crucis dolores videbatur tota mente et corpere transformata“ (ebd., Z. 51–53). 348  Siehe ebd., Z. 57–67. 349  staret simul iocundata et dolorata, mirrata et melliflua, quasi deificata et crucifixa, ecce subito circa illum benedictum Jesum sic doloratum multitudo filiorum huius sanctae matris apparuit […] (ebd., Z. 75–77). 350  „[…] der selige Jesus selbst legte diese, die er mit so großer Liebe einzeln umfing und deren Köpfe er beim Küssen streichelte, an die Seitenwunde an.“ […] quos ipse benedictus Jesus cum tanto amore singulos amplexans, ad vulnus lateris osculandum cum manibus eorum stringens capita applicabat (ebd., Z. 77–79). 351  […] quod gaudium genitum in anima matris de tam eviscerato amore illius benedicti Dei et hominis crucifixi, ostenso super istos, fecit eam oblivisci dolorum sibi intimorum qui in aspectu tam diro eius animam pertransibat (ebd., Z. 79–82). Formen des Lexems viscera sind innerhalb der nun folgenden Abschnitte der Instructio IV abundant: Es lassen sich noch neun weitere Formen finden. Auf den theo­lo­gischen Aussagegehalt soll an gegebener Stelle unter 2. noch abgehoben werden.

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erschien auf den Lippen die Rötung durch das rote Blut, das bei anderen das ganze Gesicht färbte – gemäß der oben beschriebenen Abstufungen.352

Allen Söhnen jedoch gilt der reiche Segen und an alle ergeht der Ruf Christi, seinen Weg des Kreuzes, der Armut und der Schmach in Wort und Tat aufzudecken und auf diese Weise ein Gegengewicht zu all jenen überbordenden Kräften zu bilden, die danach trach­ten, die Wahrheit Christi zu verdecken.353 Sind alle Bettelmönche Adressaten dieses Aufrufes, so erkennt Angela zugleich, dass analog zu ihrer abgestuft vollzogenen Ver­schmelzung in die Seitenwunde des Gekreuzigten auch der Ruf zur Nachfolge in unterschiedlicher Radikalität erfolgt; eine Aussage über diese Unterschiede, so der Redak­tor, trifft Angela ihm gegenüber nicht und eine Nachfrage erscheint ihm vollends unpassend.354 Alle jedoch sollen sich mühen, die Umarmung Christi gleichsam reziprok zu erwidern, indem sie danach streben, den Weg der Schmach, der Armut und des Kreuzes zu umar­men.355 Besonders in diesem Abschnitt wird deutlich, dass Angela nicht ausschließlich zutiefst persönliche Seitenwundenvisionen beschreibt, die im Leser zwar Staunen und Andacht hervorrufen mögen, die aber keine theologischen Schlüsse enthalten – im Gegenteil! Unmissverständlich skizziert Angela in der Bildersprache ihrer Vision eine Seitenwundentheologie der Gnade, sie beschreibt einen Zusammenhang zwischen Berufung zur Nachfolge Christi 352 

Videbatur etiam magnus gradus in filiorum amplexu et applicatione ad latus, quia quosdam plus, quosdam minus infigebat, quosdam etiam saepius applicabat, quosdam vere intus corporaliter absorbebat; apparebatque in labiis rubricatio rubentis sanguinis, quae in aliquibus totam faciem colorabat secundum gradus supra expressos (ebd., Z. 83–87). 353  „Und [sie] mit einzelnen, großen Segnungen überschüttend sprach er: Enthüllt, Söhne, den Weg mei­nes Kreuzes und der Armut und des Verachtetseins; weil nun ganz besonders die Ver­hüllen­den im Überfluss vorhanden sind; außerdem habe ich euch alle einzeln erwählt, damit durch euch, durch euer Beispiel und Wort, enthüllt wird, dass meine Wahrheit niedergetreten wird und verhüllt.“ Singulisque largas benedictiones effundens, dicebat: Discooperite, filii, viam crucis et paupertatis et despectus mei; quia nunc specialiter cooperitores abundant, et ego ad hoc singulariter vos elegi, ut per vos discooperiatur veritas mea conculcata et absonsa, exemplo et verbo (ebd., Z. 87–91). An dieser Stelle begegnet der Leser der im Memoriale kaum, in den Instructiones jedoch häufig angeführte dreifache Gesellschaft Christi; vgl. dazu Bederna, Ich bin du, 112 f. Die Anspielung auf jene so zahlreichen „Verdecker“ führt mitten hinein in den geschichtlichen Kontext der Instructiones. Vgl. dazu ebd.: „Inhaltlich sind die Instructiones insbesondere von historischem Inter­esse. Es finden sich in ihnen zahlreiche Spuren des Armutsstreits und der Auseinandersetzung um die Bewegung des Spiritus Libertatis.“ Für die vorliegende Instructio IV gilt dies für den Armuts­streit. 354  „Und es begriff jene selige Seele, dass so wie ihr alle Zeichen gemäß den verschiedenen Abstufungen erschienen waren, auch die Worte, die gesagt worden waren, auf verschiedene Weise von den Söhnen in Anspruch genommen wurden, gemäß der verschiedenen Grade. Und es war ihr erlaubt, diese je für sich in ihren Graden zu schauen, doch wollte sie darüber nicht eigens sprechen. Auch erschien es mir nicht angemessen, nachzufragen […].“ Et intelligit anima illa benedicta quod sicut omnia signa sibi secundum diversos gradus apparent, sic et verba quae dicuntur secundum diversos gradus diversimode a filiis requiruntur. Et licet eos viderit singulariter in gradibus suis, noluit tamen hoc de aliquo dicere specialiter, nec etiam mihi congruum videbatur requiri […] (Angela, Ins. IV, Z. 91–95). 355  Vgl. ebd., Z. 96 f.

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A Einleitung

in wahrer Armut und dem intimen Eintauchen in seine Seitenwunde. Der Abschnitt endet mit der nochmaligen Beschreibung jener evisceratum amor, die in den Augen des Gottmenschen leuchtete, als er seine Söhne an die Seitenwunde gelegt habe: Auch sagte sie, dass es ihr unmöglich sei, die sich hingebende Liebe zu beschreiben, die im Blick seiner Au­gen und seines gesegneten Angesichtes des Gottes und Menschen Jesu Christi über diesen Söhnen geleuchtet habe, sowohl in der Umarmung als auch im Anlegen an die heilige Wunde.356

In den sich anschließenden Überlegungen des Schreibers (c) unterstreicht der Redaktor vor allem die Leitbildfunktion Angelas für ihn und seine Brüder.357 Augenfällig ist die Stich­wortverbindung zum Vorangegangenen: Auch an dieser Stelle steht für die Be­schreibung der engen Zusammengehörigkeit der Terminus inviscero. Der Redaktor bleibt im Bild, insofern dieses Hineingefügtwerden in die Eingeweide, in die praecordia, der heiligen Mutter erfolgt.358 In vielerlei Hinsicht erinnert die nun folgende Vision (‚Die processionis ad Sanctam Mariam Angelorum‘ amplius eadem visio iteratur, in qua etiam Virgo Maria filios Angelae amplectitur), die Angela während der Prozession zur Kirche Santa Maria Angelorum zuteilwird,359 an die am Sonntag vor dem Ablassfest geschaute.360 Wieder sind es Meta­phern, welche die Grenzüberschreitung von Außen nach Innen, beziehungsweise von Innen nach Außen in Worte kleiden:361 356  Dixit autem omnino ei esse impossibile exprimere evisceratum amorem, qui lucebat in aspectu oculorum et illius benedictae faciei Dei et hominis Jesu Christi super istos filios, et in amplexu et applicatione ad sacrum vulnus (ebd., Z. 98–101). 357  Angela erscheint als Wurzelgrund für die Früchte ihrer Söhne, deren Vollendung ihr zur Freude ge­reicht und sie krönt; liegt in ihr der Beginn des göttlichen Werkes, so sollen die Söhne nach dessen Voll­endung und Weiterführung trachten; vgl. dazu ebd., Z. 107–111). 358  Vgl. ebd., Z. 104 f. Die Wortbedeutungen für praecordia changieren zwischen „Zwerchfell“, „Einge­weide, Gedärme, Magen“, „Brusthöhle, Herz“ sowie „Oberbauchgegend unter den Rippen“; vgl. Georges, Handwörterbuch, 1835. Des Weiteren fungieren die Cogationes scriptoris de praedictis visionibus auch als erklärender Einschub, inwiefern der sich anschließende Abschnitt, der eine solch ähnlich gelagerte Vision der Inkorporation der Bettelmönche in die Seitenwunde Christi schildert, dennoch als eigenständiges Novum verstanden werden müsse. Der Schreiber verweist darauf, dass die Verwandlung Angelas in den Gekreuzigten zwar ein kontinuierlicher Prozess sei, zugleich jedoch auch immer neue Steigerungen enthalte, die dann von der Mystikerin als etwas Neues erlebt würden; so Angela, Ins. IV, Z. 112–115.119– 124.128–130. Das bereits bekannte Motiv der Widerständigkeit Angelas, ihre Visionen anderen mitzuteilen, wird an dieser Stelle ebenfalls noch einmal auf­ge­nom­men: Dem Gefühl der Blasphemie stehen Angelas mütterliche Gefühle für ihre Söhne gegenüber, die sie schließlich dazu bewegen, das Unaussprechliche auszusprechen; vgl. dazu ebd., Z. 131–138. 359  Vgl. ebd., Z. 142 f. 360  Auch der Zustand, in den Angela entrückt wird, wird in ähnlichen Worten umschrieben: Hier wie dort finden sich etwa die Lexeme abyssalus (Z. 40.143), increatus (Z. 36.143), (a) tractus (Z. 37.143). 361  Eine wesentliche Rolle spielt wie bereits in den voranstehenden Passagen der häufige Gebrauch ver­schiedener Derivate des Stammes viscus/vieo; vgl. dazu Georges, Handwörterbuch, 3517.3482 f.



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Die Einwohnung Christi in den Söhnen, die zugleich deren Ver­wandlung in Christus bewerkstelligt sowie die aufs innigste vollzogene Entäußerung seines Innersten in seine Söhne, an der sich Angela nicht satt sehen kann: Und sie sah jenen seligen dreieinigen und einen Gott so herrlich Wohnung nehmen im Bewusstsein der Söhne und sie sah, wie diese Söhne sich in den bereits ge­schil­derten verschiedenen Graden verwandelten; es war ihr selbst wahrhaftig wie ein großes Paradies, jene göttliche Einwohnung in diesen zu schauen.362

Einen neuen Akzent setzt jedoch der Aufruf Christi an die Bettelmönche, sich ihm mit Leib und Seele aufzuopfern, ein Aufruf, dem der Redaktor seinen Aufruf an die Brüder zur Erwiderung der Liebe Christi anfügt: Seid, geliebte Söhne, mir ein Brandopfer, voll­ständig mit ganzem Verstand und mit ganzem Leib. Bedenkt, Brüder, wie sehr es nötig ist, dass jener mit Empfinden und Werken geliebt wird, der sich uns so innerlichst gibt und der unser so liebend und völlig in Besitz nehmend in Anspruch nimmt.363

Hatte in der bereits geschilderten Vision der Seitenwunde die Elevation der Hostie und der Gesang des Sanctus die Schau des Gekreuzigten initiiert, so ist es nunmehr das in der Pro­zession mitgeführte Kruzifix. Dieses scheint auf wunderhafte Weise vor Angelas Augen in der Luft zu schweben.364 Es ist, als habe die Sehnsucht Angelas die Macht, erneut die Schau des zärtlichen Umfangenwerdens all ihrer Söhne in der Seitenwunde her­vo­rzurufen: „Und dann wurden, auf das Verlangen der Mutter hin, vor diesen seligen Ge­kreu­zig­ten alle Söhne, sowohl die abwesenden als auch die anwesenden, versammelt, welche er auf die bereits geschilderte Weise streichelte und umarmte und sie an die Seite anhefte­te.“365 Wieder wird deutlich, dass Angela die Seitenwunde nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Menschen als den entscheidenden „Fixpunkt“ betrachtet. Ist die Schilderung dieser Szene weit weniger detailreich, so trifft die in der Überschrift angekündigte Charakterisierung (amplius) der weiterreichenden Erzählung umso mehr auf die nun folgende Passage zu, die in ihrer theologischen Ausdeutung der Seiten­wun­den­vision tatsächlich über das 362  Viditque illum benedictum Deum triunum et unum sic maiestate inhabitare mentes filiorum, transformando istos filios in se diversimode secundum gradus praedictos, quod vere unus magnus paradisus erat sibi videre illam inhabitationem divinam in istis (Angela, Ins. IV, Z. 144–148). 363  Estote, filii dilecti, mihi sacrificium holocausti totaliter et mente et corpore.  – Pensate, fratres, quantum per affectus et opera debet amari ille, qui sic nobis viscerose se donat et qui sic amorose et possessive totaliter nos requirit (ebd., Z. 154–157). 364  „Und es wurde vor ihren Augen in der Luft getragen während der ganzen Prozession, von keiner Hand unterstützt, getragen.“ Et efferebatur ante eius oculos per aerem in tota processione, nullius manus adiutorio latus (ebd., Z. 160 f.). 365  Tunque ante istum benedictum Crucifixum ad matris desiderium congregati sunt omnes filii et absentes et praesentes, quos modo praemisso stringens et amplexans applicabat ad latus (ebd., Z. 162–164). Der Rückbezug auf das voranstehende wird besonders in der verkürzten Darstellung und der redaktionellen Notiz modo praemisso deutlich.

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A Einleitung

bereits Gesagte hinausgeht: „Und er sprach: Ich bin es, der die Sünden der Welt trägt; und ich habe alle eure Sünden getragen, damit sie euch in Ewig­keit nicht angerechnet werden. Hier ist das Bad eurer Reinigung, hier ist der Preis eurer Erlösung; hier ist das Haus eurer Wohnstatt.“366 In der Seitenwunde finden die Mönche die Gewissheit der Auslöschung aller Sündenstrafen und eine Heimat, aus der niemand sie vertreiben kann. Geborgen in dieser Wohnstatt kön­nen die Bettelmönche nun gegen alle Anfeindungen die Wahrheit Christi aufdecken: „Daher fürchtet euch nicht, Söhne, diese bekämpfte Wahrheit meines Weges und meines Lebens zu verteidigen und aufzudecken, weil ich beständig mit euch bin, ein Helfer und ein Verteidiger.“367 Das Wissen um das Mitsein Christi verleiht den in der Seitenwunde beheimateten Mönchen jene Furchtlosigkeit, derer sie bedürfen, um dem Weg der Wahrheit treu zu bleiben. Ebenfalls ein neuer theologischer Aspekt ist die Rede von der dreistufigen Reinigung, derer die Söhne Angelas teilhaftig werden sollen. Neben einer generellen Reinigung von aller Schuld wird auch eine spezielle Gnadengabe verheißen, die das Vermeiden von Sünden leicht machen solle.368 Der dritte Grad der Reinigung ist von solch grenz­über­schrei­tender Qualität (excessus), dass Angela nur nach langem Drängen bereit ist, das Un­aus­sprechliche auszusprechen, wohl im Bewusstsein der Gratwanderung, die sie mit ihrer Rede von der Transsubstantiation und vollkommener Wandlung der Söhne in Gott betritt: Bei dem dritten aber handelt es sich um einen so großen Exzess, dass ich auf keinerlei Weise etwas von ihr erfahren konnte, weil sie selbst sagte, dass es völlig un­sag­bar wäre. Und als ich rücksichtslos darauf bestand, dass sie irgendetwas sagte, sagte sie endlich: Was willst du, das ich sage? Dieselben schienen in Gott verwandelt, so dass ich nichts anderes in ihnen sah als Gott, bald als der glorreiche, bald als der leidende Gott, so dass ich diese vollständig in ihn verwandelt und verschlungen sah.369

Hatte abgesehen von den theologischen Ausführungen doch eine weitgehende Kongruenz zwischen den beiden Visionen der Seitenwunde bestanden, so kommt nun vor der Marien­kirche, dem Zielpunkt der Prozession, eine tatsächliche Erweiterung ins Spiel: Maria, Königin der Barmherzigkeit und Mutter aller Gnade, 366  Et dicebat: Ego sum qui tollo peccata mundi; et peccata omnia vestra tuli, nec vobis imputabuntur in aeternum. Hic est lavacrum vestrae mundationis; hic est pretium vestrae redemptionis; hic est domus vestrae habitationis (ebd., Z. 164–167). 367  Unde non timeatis, filii, hanc veritatem viae et vitae meae impugnatam defensare et discooperire, quia ego continue vobiscum sum adiutor et defensor (ebd., 167–169). 368  Ostensa etiam sibi fuit mandatio omnium filiorum in triplici gradu […] Quaedam est generalis mundatio ab omni culpa. Quaedam est aliquorum specialis, scilicet collatio magnae gratiae et vigoris ad faciliter vitanda peccata […] (ebd., Z. 170–173). 369  In tertia autem est tantus excessus quod omnino nihil poteram habere ab ea, dicente ipsa quod omnino est ineffabile. Cumque importune instarem quod aliquid diceret, tandem dixit: Quid vis ut dicam? Ipsi videntur transformati in Deum sic quod quasi nihil in eis aliud video quam Deum, nunc gloriosum, nunc passionatum, ita quod istos videtur totaliter in se transsubstantiasse et inabyssasse (ebd., Z. 175–180).

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erscheint und beugt sich zu ihren Söhnen und Töchtern herab.370 Ähnlich wie auf den mittelalterlichen Interzessionsbildern tritt auch hier nun die Mutter Jesu neben ihren Sohn. Die Parallelität des Vorweisens der Brust beziehungsweise der Seiten­wunde, welche die Interzessionsbilder charakterisiert, kennzeichnet auch die folgende Szene. Doch wie auf jenen Bildern halten sich Analogie und Differenz die Waage: Wie in der Szene mit Christus  – dort ließ Christus die Söhne seine verwundete Brust küssen – spielt der Kuss auch hier eine Rolle – nunmehr ist es Maria, die jeden einzelnen (wieder­um in Abstufungen) auf die Brust küsst. Auch hier ist das Motiv des Verschlungenwerdens präsent – dort war es die Seitenwunde, die den Zugang zum Leib Christi eröffnete, hier muss das Fleisch Mariens gleichsam trans­zendiert, in Licht gewandelt werden, um den Zugang zum Leib der göttlichen Jung­frau zu ermöglichen: Und alle küsste sie auf die Brust, manche mehr, manche weniger; und als sie diejenigen mit den bereits erwähnten Küssen umfing in den Armen der so großen Liebe, so dass sie diesen völlig erleuchtet schien, gleichsam in einem gewissen unendlichen Licht, schien sie sie in ihre Brust aufzunehmen. Und doch schien es ihr nicht so zu sein, dass sie fleischliche Arme sah, sondern ein gewisses allersüßestes be­staunens­wertes Licht, in welche sie diese aufnahm in ihre Brust und über diesen mit der größten sich hingebenden Liebe zuschließt.371

Vereint erscheinen Maria und Christus in jener das Innerste nach Außen kehrenden Liebe, einer Liebe, die die Gläubigen ins Innerste des göttlichen Körpers zu verschlingen vermag. Das Bild der Eingeweide, zu welchen ja die Seitenwunde als Zugang verstanden werden muss, klingt auch im vorletzten Unterabschnitt der Instructio IV (In sacrificio Missae ‚mane die Indulgentiae‘ prioribus visionibus additur visio S. Francisci benedicentis, laudantis et horantis filios spirituales) noch einmal an. In dieser letzten Vision betritt Franz von Assisi die Szene. Zunächst wird die Thematik des Armutsstreites aufgenommen und Angela als Vermittlerin, als Sprachrohr zwischen dem Ordensgründer und den Bettelmönchen gezeichnet. Ihr Visionsbericht übermittelt die Botschaft des Franz, dass all jene unter seinen Söhnen, die sich glühend in der Nach­folge Christi und der Beachtung der Armutsregel üben, seines Beistands und des Bei­stands Gottes gewiss sein können.372 Der Passus endet mit dem Bild des durch die Liebe zu seinen Söhnen 370 

Vgl. ebd., 181–185. Et omnes osculabatur in pectore, quosdam plus, quosdam minus; et quosdam, cum praedictis osculis amplexabatur brachiis tantae caritatis quod eos, sicut tota apparebat luminosa, in quoddam quasi infinitum lumen videbatur intra suum pectus absorbere. Non tamen videbatur sibi quod videret brachia carnea sed quoddam admirandum lumen dulcissimum, in quo absorbebat eosdem intra suum pectus claudens cum maximo super istos eviscerato amore (ebd., Z. 185–191). 372  „Dann lobte er bei gewissen eifernden Söhnen den Eifer der Beachtung der Armutsregel […] und sie sollen sich nicht fürchten, weil ich mit ihnen bin und der ewige Gott ist ihr Helfer.“ 371 

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A Einleitung

seiner Eingeweide beraubten, sich zerfleischenden Heiligen: „Und mit so großer Liebe lobte er jene Söhne […] und so liebreich segnete er sie, dass es schien, als würde er sich gänzlich in Liebe zu ihnen zerfleischen.“373 Im letzten Abschnitt der Instructio IV (Post peregrinationem Angela ipsa nuntium visionem filiis suis aptat) geißelt Angela noch einmal in harschen Worten die allzu über­mäßige Wissbegier des Schreibers und ruft ihn stattdessen zur beispielhaften Nach­ahmung des schmerzensreichen, armen und verachteten Lebens Christi.374 Der welt­ver­gessene Lebenswandel, den die Mystikerin fordert, trachtet danach, in allen äußerlichen Lebens­voll­zügen stets zugleich in Christus zu sein: „Und in all euren Taten möget ihr immer ausgerichtet sein gen Himmel, hin zu jenem seligen ungeschaffenen Gott und gekreuzig­ten Menschen, so dass ihr beim äußeren Handeln, Sprechen, Essen immer innerlich in jenem seligen Gott inwendig seiet“.375 Die letzten Zeilen des Passus unterstreichen noch einmal Angelas herausragende Be­deu­tung: Neben den Verdiensten Mariens vertraut der Schreiber auch auf die Inter­zessions­gewalt der Mystikerin; sie ist Gottes geliebte Dienerin, in deren Verdienste die Bettel­mönche wie Zweiglein eingepfropft werden, sie ist die Leiter, auf welcher jene bis zur Passion Christi hinaufsteigen, um vollständig in sein Leiden verwandelt zu werden.376 Der Zielpunkt jedoch ist das Geborgenwerden im Gewandbausch Gottes, am Busen Gottes, der Ruhestätte aller Seligen. Dort, so hofft man, möge man, eins mit Christus, ein­treten: „[S]chließlich, eins mit dem seligen Jesus, eintretend in Tunc in quibusdam filiis ardentibus zelo observandae paupertatis regulae laudavit […] et non timeant quia ego cum eis sum, et aeternus Deus adiutor est eorum (ebd., Z. 199.204 f.). 373  Et cum tanto affectu laudabat illos filios […] et sic amorose benedicebat eosdem, quod totus videbantur eviscerari in amore super ipsos (ebd., Z. 205.207 f.). 374  „Was willst du so vieles hören? Der selige Gott selbst hat alles inniglich über euch ausgegossen und selbst die süßeste Mutter. Und sie selbst wollen die ganze Last eurer Buße tragen, so sehr wünschen sie, dass ihr ein leuchtendes Beispiel seid ihres schmerzensreichen, allerärmsten und verachteten Lebens.“ Quid vultis tanta audire? Ipse benedictus Deus totus viscerose effunditur super vos, et ipsa dulcissima Mater. Et ipsi volunt totum portare onus vestrae paenitentiae, tantum petunt ut sitis exempla luminosae vitae suae dolorosae, pauperrimae et despectae (ebd. Z. 210–213). 375  Et in omnibus actibus vestris semper intentio vestra esset in caelo in illo benedicto Deo increato et homine crucifixo, ita quod operando, loquendo, comedendo exterius, semper interius intrinsecati essetis illi benedicto Deo […] (ebd., Z. 223–225). 376  „[…] es ist recht, darum zu bitten, um der Verdienste seiner ruhmreichen Mutter willen und durch die Fürbitte seiner geliebten Schülerin, dass wir würdig gemacht werden, in deren Verdienste wie Zweiglein eingepfropft zu werden, auf dass wir durch dieselbe, gleich wie auf einer Leiter der heilsamen Vorbilder und der tiefgreifenden Verdienste, beständig fortschreiten auf die Höhe ihres herausragenden Lebens und Fortschritte machen in der Verwandlung ihres allerheiligsten Leidens.“ […] dignatur requirere per merita gloriosae Matris suae et per intercessionem suae dilectae famulae, cuius meritis nos ut ramusculos dignatus est inserere, ut per ipsam, tamquam per scalam salutarium exemplorum et radicalium meritorum, in summitatem suae excellentissimae vitae et transformationem sacratissimae passionis suae ascendamus continue […] (ebd., Z. 229–233).



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den väterlichen Busen, mögen wir ruhen mit jenem, wo alle Ruhe ist der Seligen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“377 Das Motiv des Verschmelzens, des Hineintretens, das Angela bereits mit der Seitenwunde Christi verbunden hatte, bildet somit auch den Schlusspunkt der Instructio IV  – nunmehr gewen­det auf Gott Vater, gefasst jedoch in eine mütterliche Metapher. Das ersehnte Ziel ist dasselbe: Ruhe und Geborgenheit, ein paradiesisches Aufgehobensein des Menschen aus aller Schuld und Gottesferne. 2.1.3  Die Seitenwundenfrömmigkeit in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen Longinus hat mir die Seite Christi mit der Lanze geöffnet; und ich bin hineingegangen, dort ruhe ich sicher.378

2.1.3.1  Biographische Skizzen zu Ludolf von Sachsen (1300–1378) Über das Leben des Ludolf von Sachsen,379 des Verfassers der Vita Christi, eines „Jesus­buch[es] mit überwältigender Verbreitung“,380 ist trotz der Popularität seines Haupt­wer­kes, das als einer der Schlüsseltexte der Passionsbetrachtung des ausgehenden Mittel­alters gilt,381 recht wenig bekannt. Das Geburtsdatum des Kartäusers, dessen Ur­sprungs­familie wohl in Norddeutschland beheimatet war,382 ist nicht genau zu bestim­men, jedoch geht die Mehrheit der Forscher davon aus, dass Ludolf um das Jahr 1300 geboren wurde383 und am 10. April 1378 verstorben ist.384 Die Lebenszeit des Ludolf von Sachsen ist somit nahezu deckungsgleich mit dem sog. „Baby­lo­nischen Exil“ der Päpste, welches 1309 durch die Verlegung der Papstresidenz von Rom nach Avignon durch Klemens V. 377  […] donec, una cum benedicto Jesu introeuntes in paternum sinum, requiescamus cum illo, ubi est omnis requies beatorum in saecula saeculorum. Amen (ebd., Z. 233–235). 378  Longinus aperuit mihi latus Christi lancea; et ego intravi, ibi requiesco sucurus (Ludolf, Vita Christi II, 138, Sp. 1, Z. 45–47). Hier wie auch im Folgenden gebe ich die in der Pariser Edition vor­ge­nommene Unterteilung in zwei Spalten an und ergänze die in der Werkausgabe leider nicht vor­handene Zeilenzählung, um das Auffinden der Zitate zu erleichtern. 379  Der Name des Kartäusers ist entsprechend der Zeit und des Ortes in unterschiedlichen Schreibweisen überliefert; vgl. dazu Olszewsky, Ludolf, 312. 380  Angenendt, Religiosität, 140. Auch McDonald, Passion Devotion, 127 bezeichnet die Vita Christi neben den Meditationes Vitae Christi des Pseudo-Bonaventura als einflussreichste Leben-Jesu-Literatur der Zeit mit einer ausgedehnten Reichweite auch und gerade durch Übersetzungen in an­dere Sprachen wie etwa ins Altenglische (vgl. ebd., 128–130). 381 So Lentes, Blick, 43. 382 Vgl. Geyer, Ludolf, 479. 383  Zur Diskussion siehe nur Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 35. 384 Vgl. Geyer, Ludolf, 480. Somit blieb es Ludolf erspart, das große abendländische Schisma zu erle­ben: Die Vorboten der Spaltung der westlichen Kirche in eine römische sowie in eine avignone­si­sche Obödienz waren nur wenige Tage vor dem Tod des Kartäusers in den divergierenden Interessen der Kardinäle in Rom bezüglich des Nachfolgers Gregors XI. und in den Unruhen innerhalb des Volkes auf den Plan getreten; vgl. dazu Fink, Schisma, 491 f.

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seinen Anfang nahm und erst durch Papst Gre­gor XI. im Januar des Jahres 1377 durch dessen Rückkehr nach Rom beendet werden sollte.385 Als erstes relativ unumstrittenes Datum seines Werdegangs gilt für einen Großteil der Forscher das Jahr 1339/40, in welchem Ludolf in die Straßburger Kartause eintrat (1339) und dort seine Profess ablegte (1340).386 Aufgrund der widersprüchlichen Quellenlage herrscht hinsichtlich Ludolfs biographischen Stationen vor seiner Aufnahme in den Orden des heiligen Bruno Uneinigkeit. Sowohl Baier als auch Bodenstedt vertreten hierbei die These, dass Ludolf vor seiner Profess im Kartäuserkloster zu Straßburg ein Mitglied des dortigen Dominikanerordens gewesen sei.387 In vielfältiger Weise war Ludolf von den Umstürzen und Krisenerfahrungen seiner Zeit unmittelbar betroffen: Im Machtkampf zwischen Imperium und Sacerdotium,388 welcher zwischen Ludwig dem Bayer und Johannes  XXII. beziehungsweise dessen Nachfolgern offen aus­brach und 1324 zur Exkommunikation des Kaisers führte,389 hatte sich der Straßburger Bischof zu Ludwig dem Bayer gehalten. Als Folge wurde Straßburg, das auch Ludolf Heim­statt war, in den Jahren 1329–1353 mit dem päpstlichen Interdikt belegt.390 Die in den Jahren 1347–1352 ganz Europa heimsuchende Pestepidemie, welcher wohl ein Drittel der Gesamtbevölkerung zum Opfer fiel,391 forderte auch in Straßburg Tausende von Men­schen­leben; allein von den Kartäusern starben in den Jahren 1348–1350 etwa 900 Mönche am „Schwarzen Tod“.392 Zu diesem Zeitpunkt hatte Ludolf die Stadt jedoch bereits verlassen: Im Jahr 1343, drei Jahre nach seiner Profess in der Straßburger Kartause, folgte er dem Ruf in das Amt des Priors in Koblenz.393 Mutmaßungen, er habe sich an der von Johannes Tauler und Thomas von Straßburg im Jahre 1347 angeblich unter­nom­me­nen Revolte gegen das päpstliche Interdikt beteiligt, sind somit hinfällig.394 385 Vgl.

386  Vgl.

ders., Päpste, 366 f.412. nur Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 74; Bodenstedt, Vita, 1; Conway,

Vita, 1. 387 Vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 74; ebenso Bodenstedt, Vita, 1–3. 388  Hatte noch Thomas von Aquin mit dem Ausspruch „Subesse Romano pontifici sit de necessitate salutis“ die klare Dominanz der Kirche gegenüber dem Staat eingefordert (vgl. dazu Möller, Geschichte, 193, der zugleich die Idee einer „Harmonie von Kirche und Welt unter der Führung der Kirche“ [vgl. ebd., 192] betont), so konnte dieses Gedankengebäude angesichts der Realitäten des 14. Jahrhunderts nicht lange bestehen: Anstelle von Autonomie und Überlegenheit des Papsttums dokumentierte sich dessen Verfall nach dem Tod Bonifaz’  VIII. im Jahr 1303 sowohl in der politischen Abhängigkeit seiner Nachfolger vom französischen Königshaus als auch in moralischen Missständen innerhalb der Kurie, wie beispielsweise in deren unmäßigem Finanzgebaren und hochherrschaftlichem Lebensstil; vgl. dazu auch Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 13. 389  Vgl. ebd., 13 f. 390  Vgl. ebd. 391  Vgl. ebd., 402; siehe auch ebd., 14. 392  Vgl. ebd. 393  Vgl. ebd., 81. 394  Vgl. ebd.

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In Ludolfs erste Straßburger Zeit datiert Baier die Enarratio in Psalmos. Diese Psalmen­exe­gese erreichte zwar eine weit geringere Verbreitung als die später verfasste Vita Chri­sti, das Hauptwerk des Kartäusers, sie erfreute sich jedoch ebenfalls großer Beliebtheit.395 1348, bereits fünf Jahre nach seiner Übernahme des Priorenamtes in Koblenz, ersuchte Ludolf seinen Rücktritt und siedelte nach Mainz über. Über die Beweggründe, welche Ludolf zu dieser Entscheidung geführt haben mögen, können freilich nur Vermutungen angestellt werden: Baier weist jedoch darauf hin, dass das Priorenamt im Kartäuserorden weniger als Auszeichnung, denn in erster Linie als Bela­stung empfunden wurde. Von einem Verschulden Ludolfs, welches seinen Rücktritt herbei­geführt haben sollte, berichten die Quellen nichts.396 In jene Mainzer Periode, in welcher Ludolf von Sachsen als einfacher Mönch in der sich noch im Aufbau befindlichen Kartause weilte, ist wohl die Abfassung beziehungsweise die Fertig­stellung der Vita Christi zu datieren.397 Gegen 1360 kehrte er nach Straßburg zurück, an den Ort, an welchem er etwa zwanzig Jahre zuvor das Ordensgelübde der Kartäuser abgelegt hatte, und verblieb dort bis zu seinem Tod.398 Seine Bedeutung für die Nachwelt verdankt sich maßgeblich seinem Hauptwerk, der Vita Christi, aus der auch Ludolfs einschlägiger Beitrag zur Seitenwundenfrömmigkeit seiner Epoche erhoben werden soll. Bevor eine kurze Darstellung der Vita Christi in ihrer Gesamtheit die Einordnung des aus­ge­wählten Textpassus erleichtern soll, dürfen doch die anderen Schriften des Kar­täusers nicht unerwähnt bleiben: Sein literarisches Oeuvre umfasst den bereits erwähnten Psal­menkommentar, in dem er die Psalmen nach der Methode des vierfachen Schrift­sinnes exegesiert, schließlich eine Predigtsammlung unter dem Titel Sermones Magistri Ludolphi, weiterhin Flores et fructus arbore Vitae Iesu Christi, eine Zusammenstellung von Stundengebeten, sowie den Tractatus bonus fratris Ludolfi magistri in theologia, qua­liter vivendum sit homini spirituali, eine Anleitung zu asketischer Frömmigkeit. Über­dies verfasste er das Werk Remedia contra tentationes sowie auch die Schrift Ludolfi Cartusiensis Rationes XIV ad proficiendum in virtute, die später in die Vita Christi integriert wurde.399 Besonders die Vita Christi des Kartäusers400 traf – wie zu zeigen sein wird – den Nerv des religiösen Bewusstseins zahlreicher Zeitgenossen. 395 

Vgl. ebd., 99–101. Vgl. ebd., 82. 397  Vgl. ebd., 83; ebenso Bodenstedt, Vita, 17; siehe auch Olszewsky, Ludolf, 313. Eine ge­nauere zeitliche Eingrenzung nimmt Geyer vor, welche die Abfassung der Vita Christi in den Zeit­raum 1348–1368 datiert; vgl. dazu Geyer, Ludolf, 480. 398 Vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 74. 399 Vgl. Geyer, Ludolf, 480. 400  Der Orden des heiligen Bruno, welchen Ludolf nach seiner Existenz als Dominikaner als geistliche Heimat wählte, gewann inmitten einer Epoche tiefgreifender Veränderungen und Verunsicherungen enorme Attraktivität. Jener „strengste[…] Orden[…] der katholischen Kirche“ (Baier, Passions­be­trach­tungen [Bd. 1], 21) erfreute sich wohl gerade auf Grund seiner harten Ordenszucht großer Be­liebt­heit: „Die Stille, Zurückgezogenheit und Konsequenz ihrer 396 

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Die Vita Christi e quatuor Evangeliis et scriptoribus orthodoxis concinnata, so der voll­ständige Titel des in der Literatur kurz als Vita Christi bezeichneten Hauptwerkes des Lu­dolf von Sachsen, kann mit Recht als „Sammelbecken der Leben-Jesu-Frömmigkeit von der Patristik bis zu Ludolfs Zeitgenossen“401 bezeichnet werden.402 Zwei weitere Zitate mögen die herausragende Stellung dieses Buches noch eindrücklicher illustrieren und zugleich in die Frage nach der Gattungszugehörigkeit dieses Werkes ein­führen: „Eine ‚Vita Jesu Christi‘ übertrifft alle im ganzen Mittelalter, die des Kartäusers Ludolf von Sachsen. Sie ist die beliebteste Passionslektüre.“403 „Kein Andachtsbuch deut­scher Herkunft war, soviel ich sehe, im Spätmittelalter im In- und Ausland so verbreitet und beliebt, nach keinem ist so viel ‚geistlich exerziert‘ worden […] wie nach dieser Vita Christi.“404 Leben-Jesu, Passionslektüre, Andachtsbuch  – diese unterschiedlichen Charakteri­ sierun­ gen verweisen meines Erachtens auf den vielschichtigen Charakter des Buches und sollen im Folgenden kurz entfaltet werden. In einer Zeit, in welcher das Interesse der Frommen sich in zunehmendem Maße auf die Mensch­lichkeit Christi und seine irdische Existenz richtete,405 entstand auf der Grundlage beziehungsweise durch Ausarbeitung der bereits seit frühpatristischer Zeit belegten Evangelien­harmonien eine Literaturgattung, welche als Leben-Jesu-Literatur bezeichnet werden könnte.406 Das Programm, das Leben Jesu auf der Grundlage der vier Evangelien möglichst voll­stän­dig darzustellen, legt Ludolf bereits im Titel des Werkes dar: Vita Christi e quatuor Evangeliis et scriptoribus orthodoxis concinnata. Hatte man sich bis zum 13. Jahrhundert vor allem in der bildenden Kunst mit dem Leben Christi auseinandergesetzt, so zählt die Vita Christi des Ludolf von Sachsen neben wenigen anderen Werken, Frömmigkeit haben einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. […] Die Kartäuser reihen sich so ein in die breite Strömung der gei­stigen Erneuerung mit dem Streben nach Verinnerlichung und gelebtem Glauben als Reaktion auf die Krise des 14. Jhs.“ (ebd., 31). 401  Nissen, Ludolf, 331. 402  Auf eine ausführliche Besprechung der Quellenlage sowie eine detaillierte Gliederung soll an dieser Stelle verzichtet werden, da dies den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen würde; eine sorg­f ältige Analyse des Werkes in seiner Gesamtheit liefern jedoch sowohl Baier als auch Bodenstedt, auf deren Ergebnisse ich maßgeblich rekurriere. Im Folgenden soll gleichwohl die Frage nach der Gattungs­zugehörigkeit des Werkes und den wichtigsten Quellen gestellt sowie Aufbau und Wirkungs­geschichte der Vita Christi wenigstens kurz beleuchtet werden. 403  Stammler, zit. nach Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 190. 404  Boehmer, zit. nach ebd. 405 Vgl. Bynum, Jesus as Mother, 129; als „erfolgreichsten Lehrmeister der christologischen Betrach­tung im Spätmittelalter“ bezeichnet K arrer, Die große Glut, 371 die Vita Christi. 406 Vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 3), 399 f. Jenen engen Konnex zwischen LebenJesu-Literatur und Evangelienharmonien verdeutlicht Borse, Evangelienharmonie, 1030, indem er die Vita Christi des Ludolf von Sachsen als „Evangelienharmonie im weiteren Sinn“ bezeichnet.



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wie zum Beispiel den Meditationes Vitae Christi des Pseudo-Bonaventura, zu den Vorreitern407 einer literarischen Annäherung an jenes Thema, welches sich gerade vermittels des Mediums der (teils volkssprachlichen) Literatur einer immer größeren Popularität erfreute.408 Die zweite Bezeichnung „Passionslektüre“, mit welcher Stammler die Vita Christi belegt, trägt dem Umstand Rechnung, dass vor allem das Leiden und Sterben Christi zum vordring­li­chen Gegenstand der Leben-Jesu-Frömmigkeit avanciert war.409 Die dritte Charakterisierung verweist auf den weiteren Kontext, welchem die Vita Christi zugeordnet werden muss: der Literaturgattung des Andachtsbuches. Als Andachts- beziehungsweise Er­bauungs­buch410 fand es wohl vor allem für den privaten Gebrauch Verwendung. Hier­bei ist es jedoch aufschlussreich, dass neben einer Beschreibung der Vita Christi als „one of the most popular devotional books of the late Middle Ages“411 auch andere, beziehungsweise mystische Anklänge wahrgenommen werden können.412 Eine solch auf den ersten Blick verwirrend erscheinende doppelte Charakterisierung der Vita Christi als Inbe­griff der „vielleicht wichtigste[n] Erscheinung im spätmittelalterlichen Christentum, de[s] ‚Devotionalismus‘“413 und zugleich als mystisches Werk vermag vielleicht eine Notiz Kieckhefers zu klären: But the techniques of ‚mystical‘ interpretation are not always distinguishable from those of devotional reading; one of the classics of fourteenth-century German devotionalism, Ludolf of Saxony’s Vita Christi, is also in part an exercise in discearning the mystical meaning of the gospel.414

Seine Popularität verdankt das Hauptwerk des Kartäusers vielleicht eben jener Tatsache, dass es als Leben-Jesu zum einen dem erstarkenden Interesse seiner Zeitgenossen am histo­rischen Jesus Rechnung trug, welches sich nicht zuletzt in den Kreuzzügen doku­mentierte und vice versa durch diese genährt wur407  Conway geht mit Bodenstedt davon aus, dass Ludolfs „encyclopedic life of Christ“ möglicherweise das erste oder doch zumindest eines der ersten Exemplare dieser Literaturgattung darstellt; vgl. dazu Conway, Vita, 1. 408 Vgl. Braun-Niehr/Niehr, Leben Christi, 1778 f. 409  „Mit der Hinwendung zum Menschgewordenen konzentrierte sich das Gebet weithin auf Passions­frömmigkeit. Wiederum ist Bernhard einer der großen Initiatoren gewesen. In den Mittelpunkt stellte er ‚Jesum, et hunc crucifixum‘ – Jesus und ihn als Gekreuzigten“ (Angenendt, Religiosität, 537). Auch Ludolf von Sachsen verwendet allein zehn Kapitel auf die Darstellung der Passion Christi; zum genauen Aufbau vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 3), 412. 410  Die Bezeichnung „Erbauungsbuch“ wählt Olszewsky, Ludolf, 313. 411  Bodenstedt, Vita, 95. 412 „On the basis of contemporary sources, catalogs of manuscripts, and registers of incunabula, Boehmer concludes that the Vita Christi was the most influential work of German mysticism in the fourteenth and fifteenth centuries“ (ebd., 17). 413  Kieckhefer, Hauptströmungen, 90. 414  Ders., Convention, 50.

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de,415 zum anderen das Phänomen der normativen Zentrierung auf den Passionschristus416 und die in diesem Zusammenhang stehende Entwicklung einer compassio-Frömmigkeit durch seine gleichzeitig erbauliche wie auch mystische Ausrichtung berücksichtigte. Ist eine Gattungszuweisung der Vita Christi immerhin ein komplexes Unterfangen, so ge­staltet sich eine Untersuchung der Quellenlage der Vita Christi als noch weitaus schwie­riger: Dem Leser begegnet auf Grund der „kompilatorische[n] Arbeitsweise des aszeti­schen Autors“417 eine ungeheure Fülle an verwendetem Quellenmaterial, welches aber nur zu einem Teil von Ludolf explizit als Zitat gekennzeichnet ist.418 Neben der Heiligen Schrift, besonders den Evangelien, die Ludolf in sehr reflektierter und differenzierter Weise zur Grundlage seiner Betrachtungen macht,419 sowie apo­kryphem Material, schöpft der Kartäuser vor allem aus patristischen Quellen.420 Doch auch zeitgenössische Autoren wie etwa Michael von Massa, David von Augsburg, Heinrich Seuse und Mechthild von Hackeborn beeinflussten das literarische Schaffen des Kar­täusers nachhaltig.421 Hin­sichtlich 415 Vgl.

Himmelmann, Leidensverständnis, 286. vorangegangenen Paradigmenwechsel innerhalb der Christologie vgl. Hamm, Zentrierung, 197. 417  Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 3), 449 merkt dazu an: „Sehr viele seiner Aussagen, die zu den schönsten seines Werkes zählen, bringt er in Formulierungen zeitgenössischer oder älterer aner­kannter Theologen zum Ausdruck und nicht in eigenen.“ 418  „The mosaic structure of the Vita Christi is indebted to many writers, both Christian and profane, to many, but by no means all, of whom Ludolphus pays tribute. Since the verbal dependence of Ludolphus upon his sources is in many instances very close, the authors he uses can often be determined. But the vastness of the compilation, and the great number of authors utilized in it render a study of the sources rather difficult“ (Bodenstedt, Vita, 24). Auf eine detaillierte Besprechung der fraglichen Quellen muss im Hinblick auf die Themenschwerpunktsetzung verzichtet werden; eine sehr ausführliche Analyse der Quellen findet sich jedoch jeweils bei Baier und Bodenstedt. 419  Gerade im Umgang mit der Schrift erweist sich Ludolf als kompetenter Theologe, wie Bodenstedt nachweist: „He differentiates particular aims of the four evangelists. The argumentative purpose of Matthew is to show that the Man-Jesus is the Messiah and the Christ promised in the prophecies. His analysis of Matthew’s Gospel gives twenty-two proofs in support of that fact. Ludolphus shows that Mark, besides dwelling on the miracles of Christ, offers a series of twenty proofs that Jesus is King, supreme in power and might. In the Gospel of Luke he points out six proofs that the saving and healing character was dominant in the life of Jesus. He observes that Luke includes many parables on mercy and forgiveness. He finds that John has nineteen proofs that Jesus is the Son of God“ (Bodenstedt, Vita, 100 f.). 420 Vgl. Silagi, Ludolf, 2167; ebenso Nissen, Ludolf, 331. 421 Vgl. Olszewsky, Ludolf, 313. Conway fasst Bodenstedts ausführlichen Forschungsbeitrag hinsichtlich der Quellenlage der Vita Christi wie folgt kurz zusammen: „As well as bringing together a wide range of theological authorities from the patristic age down to his own century, Ludolph has also written a work which in many ways is like other works in his time, and certainly appears to have been influenced by the most important devotional writings known in the forteenth century. Bodenstedt discusses those works which had the greatest influence on the Vita Christi. They are the Meditationes Vitae Christi of the pseudo-Bonaventure, the De contemplatione of Guiges du Pont, the De exterioris et interioris hominis compositione 416 Zum



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des Aufbaus der Vita Christi findet man hingegen klare, durchgehende Struk­tu­ rierungs­linien, die im Folgenden kurz benannt werden sollen. Zunächst sei auf die Zweiteilung des Werkes verwiesen: Pars I umfasst 92, Pars II 89 Ka­pitel; dem Gesamtwerk ist ein Prolog vorangestellt.422 Als programmatisches Schrift­zitat, mit welchem Ludolf seine Darstellung des Lebens Jesu überschreibt, fungiert ein Vers aus dem 1. Korintherbrief: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus.“ (1 Kor 3,11)423 In seiner Vorrede beschreibt Ludolf die Vorzüge der Leben-Jesu-Betrachtung und hebt hervor, dass die nun in der Vita Christi geschilderte Ereignisfolge nicht etwa den Cha­rakter des Vergangenen trage, sondern vielmehr in der Erinnerung des Frommen eine gegen­wärtige Größe darstelle: „Lies also die Dinge, die geschehen sind, so, als geschähen sie jetzt; halte die vergangenen Taten vor Augen als seien sie gegenwärtig, und umso eine größere, schmackhafte Freude wirst Du empfinden.“424 Der Leser wird gleichsam per­sönlich dazu aufgefordert, sich den tatsächlichen Akteuren im Leben Christi bei­zu­gesellen: Geh mit den Magiern nach Bethlehem und bete mit ihnen den kleinen König an […]. Tritt herzu zum Sterbenden, zusammen mit seiner Mutter und Johannes, um mit ihm zu leiden und Mitleid zu empfinden […]. Suche den Auferstandenen, zusammen mit Maria Magdalena.425

Neben dieser durch reale Vergegenwärtigung ausgelösten intellektuellen Aneignung des Lebens Jesu fordert der Autor seine Leser auch zur Nachahmung des Gelesenen auf: Das Leben Jesu Christi – dessen Haltungen so gut wie möglich nachzuahmen sind – soll er derart lesen, dass sein Eifer dafür wächst. Wenig Nutzen hätte es, wenn er das Gelesene nicht auch nachahmen wollte. Deshalb sagt Bernhard: „Was nützt es dir, den frommen Namen des Erlösers in Büchern immer wieder zu lesen, wenn du nicht danach trachtest, die Frömmigkeit ins Leben umzusetzen?“426

secundum triplicem statum incipientium, proficientium et perfectorum of David of Augsberg, the Descriptio terrae sanctae of Burchardus de Monte Sion, O. P., the Lignum Vitae of St. Bonaventure, Sermo 43 in cantica canticorum by St. Bernard, the Speculum humanae salvationis, the authorship of which is not known, the Horologium Sapientiae of Henry Suso, the Stimulus Amoris, probably composed by James of Milan, O. F. M., and the De remediis contra tentationes spirituales and De profectu spirituali of Venturino da Bergamo, O. P.“ (Conway, Vita, 3 f.). 422  Vgl. näheres dazu bei Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 140. 423  Vgl. ebd. 424  Lege ergo quae facta sunt, tamquam fiant; pone ane oculos gesta praeterita tamquam praesentia, et sic magis sapida senties et jucunda (Ludolf, Vita Christi I, Proömium, 7, r. Sp., Z. 41–44). 425  Vade cum Magis in Bethlehem, et adora cum eis parvulum regem […] Adesto morienti, cum beata matre ejus et Joanne, ad compatiendum et condolendum sibi […] Quaere resurgentem, cum Maria Magdalena […] (ebd., 3, l. Sp., Z. 40–53). 426  Si etiam ipsam vitam Christi legat, ut mores ejus posse imitari. Parum enim prodest si legerit, nisi et imitatus fuerit. Unde Bernardus: ‚Quid tibi prodest, pium Salvatoris nomen lec-

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Recordatio und imitatio, gleichsam „Innen“ und „Außen“ scheinen folglich bei Ludolf ineinander zu greifen. Sein Werk versteht er offensichtlich als Anregung und hilfreichen Ausgangspunkt für ein christusförmiges Leben: „Durch die häufige Betrachtung seines Lebens wird das Herz zur Nachahmung und Erlangung seiner Tugenden angeregt, be­flü­gelt und mit göttlicher Kraft erleuchtet.“427 Ludolf beginnt den ersten Teil des Werkes mit einer Betrachtung über die Geburt des Wortes aus dem Vater und in der Zeit, um ihn schließlich mit der Schilderung der Spei­sung der 4000, der Warnung vor Verstockung und der Heilung des Blinden in Betsaida zu beschließen.428 Der zweite Teil setzt somit mit dem sogenannten Petrusbekenntnis ein. Bodenstedt weist in Aufnahme von Coleridge auf die exegetisch-theologische Leistung des Kartäusers hin, der wie kein anderer Exeget vor ihm Mk 8,3 als entscheidende Schlüsselstelle im Aufriss des Markusevangeliums erkannt hätte.429 Die Passion Christi bildet nun den eigentlichen Horizont des zweiten Teils; zunächst wen­det sich Ludolf jedoch in 57 Kapiteln dem öffentlichen Wirken Jesu zu,430 um schließlich in Kapitel 58 mittels eines gesonderten Prologs die Passionsbetrachtungen zu eröffnen.431 Jene Betrachtungen nehmen nicht nur einen breiten Raum innerhalb des Gesamtwerkes ein, das in seinen letzten Kapiteln schließlich die Erscheinungen des Auferstandenen, Chri­sti Himmelfahrt, Pfingsten, allgemeinere Glaubensfragen, Mariae Himmelfahrt, das End­gericht und nochmals abschließend den Nutzen der Leben-Jesu-Betrachtung thema­tisiert.432 Die insgesamt zehn Kapitel, welche der Kartäuser der Passion Christi widmet, folgen mit Aus­nahme eines allgemeineren Einführungs- und Schlusskapitels überdies einem besonderen Schema, insofern sie den kanonischen Horen zugeteilt sind: Beginnend mit der ersten Komplet am Gründonnerstag werden die Schilderungen den Stundengebeten Matutin, Prim, Terz, Sext, Non, zweiter Vesper zugeordnet, um schließlich mit der Komplet am Karfreitag zum Abschluss zu kommen.433 Ebenfalls erwähnt werden muss an dieser Stelle das Moment der Wirkungsgeschichte, die der Vita Christi beschieden wurde. Bodenstedt merkt dazu an: ticare in libris, nisi habere studeas pietatem in moribus?‘ (ebd., Proömium, 1, r.  Sp., Z. 29–2, l. Sp, Z. 1). 427  Siehe ebd., 6, r. Sp., Z. 25–28. 428  Vgl. dazu auch Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 140 f. 429 Vgl. Bodenstedt, Vita, 96 f. 430  Vgl. ebd., 97. 431 Vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 142. 432  Vgl. ebd., 147. 433  Vgl. ebd., 143–145. Sämtliche Kapitel der Vita Christi weisen zumeist eine in sich geschlossene Struk­tur auf, wobei die Kapitel dem Aufriss lectio, meditatio und oratio folgen: Auf die lectio, welche mittels biblischer, apokrypher und patristischer Überlieferungen die jeweilige Situation aus dem Leben Jesu beschreibt, folgt in der meditatio die Aufforderung, das Beschriebene als gegenwärtiges und heilsrelevantes Geschehen mitzuerleben. Die oratio schließlich soll Anreiz geben, im Gebet mit Christus in den Dialog zu treten; vgl. dazu Nissen, Ludolf, 331.

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The Vita Christi not only reflected the thought of earlier ages, but in turn influenced later writers. About a century after the death of Ludolphus an anonymous Carthusian wrote that the Vita was known throughout the world. The same holds for succeeding centuries.434

Geht man mit Kieckhefer davon aus, dass es im Spätmittelalter eine Leserschaft für kon­tem­plative Literatur auch außerhalb des Klosters gegeben habe,435 so darf man annehmen, dass sich jene weltweite Leserschaft sowohl aus Klerikern wie auch aus Laien rekrutierte. Auch Baier verwirft die Annahme eines exklusiv monastischen Adressatenkreises: „Wenn der Straßburger Kartäuser aus der gesamten Tradition der Kirche schöpfte und eine ‚Sum­ma evangelica‘ schaffen wollte, so ist zu erwarten, daß er auch das ganze Gottesvolk an­spricht, dem das Evangelium verkündet wird, selbst wenn er nicht immer die Angehörigen der einzelnen Stände unterscheidet.“436 Die von Bodenstedt konstatierte weltweite Verbreitung437 gewinnt an Probabilität ange­sichts der Fülle der bekannten Handschriften und Drucke in lateinischer Sprache sowie in volkssprachlichen Übersetzungen.438 Zahlreiche Handschriften, welche bis heute im Bestand europäischer Bibliotheken zu finden sind, belegen die früh einsetzende Ver­brei­tung der Vita Christi.439 Im Jahr 1472 wurde das Hauptwerk des Ludolf von Sachsen in Köln erstmals gedruckt; noch über 60 Ausgaben folgten in unterschiedlichen Städten Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Belgiens, wobei ein Großteil derselben in das 15. und 16. Jahrhundert zu da­tieren ist.440 Im 18. Jahrhundert ebbte die Welle der Vervielfältigung ab; im 19. Jahrhundert er­schien in Paris die bis heute maßgebliche Edition der Vita Christi zunächst als Folio- (1865) und schließlich als vierbändige Ausgabe (1870/78).441 Neben der lateinischen Version existieren zahlreiche 434 

Bodenstedt, Vita, 53. the flourishing of mystical literature in the late Middle Ages was largely the product of shifting boundaries within the Church: the formation of a lay reading public and an audience for contemplative literature outside the cloister, the ministry of friars and other clerics to religious women, the availability of Carthusians as counselors to those seriousminded layfolk who sought them out in their cloisters. What distinguished a twelfth-century mystic such as Bernhard of Clairvaux most sharply from a fourteenthcentury writer like Johannes Tauler was not the theological message but the context; by the time Tauler preached, the Church he addressed by his spoken and written word was immeasurably more complex than that which Bernhard could have anticipated“ (Kieckhefer, Convention, 33 f.). 436  Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 137. 437  Selbstredend bezeichnet der Terminus „weltweit“ an dieser Stelle die damals von einem euro­zen­trischen Standpunkt aus betrachtete bekannte Welt. 438  Eine Darstellung verschiedener Textformen der Vita Christi kann auf Grund der höchst marginalen Textvarianten unterbleiben. Vgl. dazu Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 133–135. 439 Vgl. Bodenstedt, Vita, 18. 440  Vgl. ebd., 19. 441  Vgl. ebd., 20. 435 „[…]

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Übersetzungen  – teils des gesamten Werkes, teils ausgewählter Passagen  – in niederländischer, deutscher, englischer, italie­ni­scher, portugiesischer, katalonischer, kastilischer und französischer Sprache.442 Legt jene Fülle schriftlicher Vervielfältigung bereits ein beredtes Zeugnis über die Be­liebt­heit und den Bekanntheitsgrad eben jener Leben-Jesu-Darstellung ab, so möchte ich aus der großen Menge ihrer Leserschaft vor allem eine religiöse Gruppierung sowie eine Einzel­person herausheben, welche in besonderer Weise der Vita Christi des Ludolf von Sachsen ver­bunden waren: die Devotio Moderna und Ignatius von Loyola (gest. 1556).443 Die hohe Wertschätzung der Vita Christi in der Devotio Moderna nimmt nicht wunder, bedenkt man, dass nicht nur für Ludolf, sondern auch für die Devotio Moderna der histo­rische Jesus gleichsam „Mitte und Wurzel“ der Frömmigkeit darstellte.444 Als „Standardlektüre“ in den Kreisen der Devoten weit verbreitet, durchdrang sie nicht nur deren Denken; sie spiegelt sich überdies in Werken, die im Kontext der Devotio Moderna verfasst wurden, wie etwa in der Schrift Ene devote Oefeninge der Kijnsheit, des Middels ende des Eyndes ons Heren Christi des Johannes Brugmann O. F. M. (gest. 1473).445 Auch eines der Hauptwerke aus der Frühzeit der Devotio Moderna, die Epistola de Vita et passione Domini nostri (entstanden vor 1450) ist wesentlich von Ludolfs Werk geprägt.446 Die Tatsache, dass Ludolf immer wieder als mutmaßlicher Autor des zumeist Thomas von Kempen (gest. 1471) zugeschriebenen Andachtsbuches Imitatio Christi in Be­ tracht gezogen wurde, bezeugt einmal mehr die enge Verbindung zwischen dem Kar­täuser und den Nachfolgern Geert Grootes.447 Anfang des 16. Jahrhunderts, knapp 200 Jahre nach ihrer Entstehung, sollte die Vita Christi noch einmal indirekt in den Gang der Kirchengeschichte eingreifen, spielte sie doch in der Geburtsstunde des Jesuitenordens eine nicht unwichtige Rolle. Beinahe ro­man­haft schildert Boehmer in seiner Biographie über Ignatius von Loyola dessen Be­kehrung, welche der damalige Offizier adeliger Herkunft nach seiner Verwundung in Pamplo­na im Sommer des Jahres 1521 auf dem Krankenlager während der Lektüre der Vita Christi durchlebte.448 Neben einer Sammlung von Heiligenleben in spanischer Sprache stellte das Hauptwerk des Kartäusers nicht nur den Auslöser und den Anstoß zu 442  Vgl. ebd., 20–22. Für eine detaillierte Darstellung der Editionen und Übersetzungen sei auf Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 151–153 verwiesen. 443  Diese Fokussierung ist freilich anfechtbar, da auch andere bedeutende Gestalten der Kirchen­geschichte, wie etwa Theresa von Avila (gest. 1582), die große Reformatorin der Karmeliten, als Exem­pel herangezogen werden könnte. Zur Rezeption der Vita Christi bei Theresa von Avila vgl. ebd., 186–188. 444 Vgl. Iserloh, Devotio Moderna, 929. 445 Vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 167 mit Anm. 26. 446  Vgl. ebd. 447 Vgl. Bodenstedt, Vita, 57. 448 Vgl. Boehmer, Ignatius, 30 und Mateo, Vita Christi, 287–307.



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seiner Bekehrung dar;449 wie Baier detailliert belegen kann, existiert auch eine eklatante gedankliche sowie literarische Ab­hängig­keit der berühmten „Exerzitien“ des Ignatius von Ludolfs Leben-Jesu-Dar­stellung.450 Auch der Name des Ordens, den Ignatius 1539 begründete und der ein Jahr später durch Paul III. bestätigt wurde,451 ist mit der Vita Christi verbunden, da Ludolf wohl als erster den Terminus „Jesuiten“ verwendete:452 „So nämlich, wie sie hier durch die Taufgnade durch Christus Christen genannt werden, so werden wir in der Herrlichkeit des Himmels von Jesus selbst Jesuiten genannt werden.“453 Es scheint, als verdanke die Vita Christi, welcher die „Exerzitien“ in solch großem Aus­maß verpflichtet sind,454 nun umgekehrt dieser bedeutenden Schrift des Ignatius jene Beach­tung innerhalb der kirchengeschichtlichen Forschung, die ihr meines Erachtens nicht nur ange­sichts ihrer immensen Wirkungsgeschichte gezollt werden sollte. 2.1.3.2  Schlüsseltext der Seitenwundenfrömmigkeit bei Ludolf von Sachsen: De Nona, in Passione Domini (Caput LXIV, Pars II) Wenn im Folgenden die einschlägige Passage der Vita Christi des Ludolf von Sachsen, die sich eingehend der Betrachtung der Seitenwunde widmet, als letzter Quellentext auf dem Feld der literarischen Zeugnisse (A.2.1) analysiert werden soll, so ist vorauszuschicken, dass jenes letzte Beispiel aus dem Spektrum 449 Als „Bekehrungsbuch“ des Ignatius bezeichnet auch Rahner die Vita Christi. Vgl. R ahner, Ignatius, 337. 450 Vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd.  1), 176–178. Eine literarische, aber v. a. theologisch-ge­dank­liche Abhängigkeit der „Exerzitien“ von der Vita Christi konstatiert auch Falkner, Proömium, 260 f.: „Eine gewisse literarische Abhängigkeit der Exerzitien vom Leben Jesu ist nicht zu leugnen. Sie ist in zahlreichen Studien, in denen die ‚Quellen‘ der Exerzitien erforscht wurden, aufgezeigt worden. […] Auch wenn diese Studien viele Berührungspunkte der Exerzitien mit Ludolfs Text nachweisen, gehen sie doch nicht auf die tiefere Schicht der tatsächlich gegebenen Verwandtschaft ein. Allein schon das Vorwort zum Leben Jesu Christi enthält auffallend viele Ähnlichkeiten mit den Exerzitien in der theologischen Sicht des Heilsgeschehens, in der Empfehlung, wie die Heils­ereig­nisse zu aktualisieren sind, und in der Methode der Übungen, die persönliche Betroffenheit auslösen und zur Umkehr führen sollen.“ 451 Vgl. Switek, Ignatius, 410. 452 Vgl. Bodenstedt, Vita, 78. Von einer Abhängigkeit des Ordensnamens von der Verwendung des Begriffes in der Vita Christi spricht auch Richstätter, Herz-Jesu-Verehrung, 140.167. 453  Sicut enim hic per gratiam baptismalem a Christo dicuntur Christiani, sic in coelesti gloria ab ipso Jesu dicemur Jesuitae (Ludolf, Vita Christi I, 86, l. Sp., Z. 43 f.). 454  „Da nicht bekannt ist, daß Inigo in den Monaten nach der Verwundung einen anderen Lehrmeister des Gebets als den Kartäuser zur Verfügung hatte, wird man in der Annahme nicht fehl gehen, daß Inigo eben dessen Anweisungen für das Beten, die sich vor allem im Vorwort zum Leben Jesu Christi finden, befolgt und vollzogen hat. Diese Vermutung wird dadurch erhärtet, daß Ludolfs Anleitungen für das Beten im Exerzitienbuch inhaltlich ihren Niederschlag gefunden haben. Indem Inigo dem Kartäuser als Lehrmeister folgte, wurde in ihm die totale Hinwendung zur Person Jesu Christi ange­regt und eingeleitet  – ein Ereignis, das ein bloßes Übernehmen von Formulierungen weit übersteigt“ (Falkner, Proömium, 263).

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frömmigkeitstheologischer Literatur nicht zuletzt auf Grund seines „überpersönlichen“ Charakters ausgewählt wurde. Entfalten Gertrud von Helfta und Angela von Foligno ihre theologische Ausdeutung der Seitenwunde ausgehend von ihren geschilderten Visionserlebnissen, so rekurriert Ludolf von Sachsen zum einen auf den äußerst schmalen biblische Quellenbeleg, vor allem aber bietet er seinen Lesern eine Art kompilatorische Zusammenstellung, man könnte beinah sagen eine frömmigkeitstheologische Summe von Aussagen altkirchlicher und scholastischer Autoren wie Augustinus oder Chrysostomus, Anselm von Canterbury, Albertus Magnus und weiteren Autoritäten, die mundgerecht dargeboten werden. Das Kapitel De Nona, in Passione Domini, Caput LXIV des zweiten Teiles der Vita Christi, ist – auch dies muss eingangs erwähnt werden – nicht der einzige Textpassus, der die allgemeine Verehrung der Wunden Christi reflektiert. Bereits im Proömium begegnet dem Leser in der Bildersprache des Hoheliedes das einschlägige Bernhard-Zitat: Deswegen nun hört meine Taube in den Felsenhöhlungen, dass sie in den Wunden Christi voller Andacht verweilen möge, und dass sie unter dem Joch der Betrachtung in jenen Wunden verbleiben soll. Von dort [erlangen] die Märtyrer ihre Duldsamkeit, von dort [erlangen] jene ihre große Zu­versicht beim Höchsten.455

Zugleich nimmt es nicht Wunder, dass die ausführlichste Beschäftigung mit den Wunden, vor allem aber in spezifischer Zuspitzung mit der Seitenwunde Christi in eben jener Passage der Passions­nach­er­zählung zu finden ist, die sich an Mt 27; Mk 15; Lk 23 sowie maßgeblich an Joh 19 orien­tiert.456 Eine Konzentration auf diesen Textabschnitt, der sich in seiner Gesamtheit wie eine Summe des theologischen Nachdenkens über die Seitenwunde präsentiert, weil Ludolf sich in diesem Abschnitt an der biblischen Vorlage abarbeitet, in der die Seitenwunde erwähnt wird, erscheint mir nicht zuletzt deswegen angezeigt, da hier deutlich wird, welche Fülle an Konnotationen und frömmigkeitstheologischen Positionen der Kartäuser jenseits des biblischen Zeugnisses aufnimmt und damit die Seitenwunde Christi in den Fokus rückt. Gerade der Umstand, dass Ludolf selbst vor allem die Aussagen anderer referiert, gerade weil seine Vita Christi dem Leser eine Art „Sedimentierung“ von Traditionsgut darbietet, ermöglicht einen Einblick in eine Art „common sense“ der frömmigkeitstheologischen Deutungen der Seitenwunde im ausgehenden Mittelalter. Das einschlägige Kapitel De nona, in Passione Domini, gliedert sich in 18 Unterabschnitte, die von einem Gebet abgeschlossen werden. Von Interesse für die 455  Idcirco denique audit columba mea in foraminibus petrae, quod in Christi vulneribus tota devotione versetur, et jugi meditatione demoretur in illis. Inde martyri tolerantia; inde illi fiducia magna apud Altissimum (Ludolf, Vita Christi I, Proömium, 5, l. Sp., Z. 17–23). 456  Ludolfs exegetisches Anliegen bzw. seine Ausrichtung an den biblischen Texten wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die entsprechenden Bibelstellen stets über den Kapiteln verzeichnet sind; vgl. dazu etwa ders., Vita Christi II, 127.



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vorliegende Unter­su­chung sind die Abschnitte 12–18 sowie das Schlussgebet.457 Unter der programmatischen Überschrift Sed Christi latus aperitur führt der Unter­ab­schnitt zwölf des Kapitels De nona, in Passione Domini in medias res. Nach einer recht redundant erscheinenden Passage, die beschreibt, dass und inwiefern die zum toten Christus am Kreuz zurückkehrenden Soldaten458 nicht dessen Beine brachen459  – typisch für die Vita Christi sind an dieser Stelle sowohl die historisierenden als auch die biblisch-alttestamentlich geführten Begründungen dieses Faktums460  – folgt die Schilderung der Er­öffnung der Seitenwunde durch Longinus. Dieser Vorgang wird nun in vielfältigster Weise kommentiert. Die in Joh 19,34a in einem knappen Halbvers geradezu lakonisch geschilderte Öffnung der Seite Christi umgibt Ludolf mit einem komplexen Geflecht aus legendarischen Ergän­zun­gen, paraphrasierenden Erklärungen, moralischen Ap457  Die ersten 11 Unterabschnitte des Textauszugs De Nona, in Passione Domini werden hier nicht eigens behandelt, da sie für die vorliegende Fragestellung nicht relevant sind. Dennoch sollen die jeweiligen Untertitel wenigstens aufgeführt werden, um einen Eindruck des Gesamtaufrisses des Kapitels zu geben: 1. Contemplatio Christi moribundi, 2. Verbo septimo, Dominus animam in manus Patris sui commendat, 3. Christus spiritum emittit, 4. Septem documenta ex Christi exspiratione, actus con­for­ma­tionis et oratio, 5. Veli templi scissio, 6. Alia signa facta, moriente Domino, 7. Mystice haec signa fiunt in conversione peccatoris, 8. Centurio Christum esse filium Dei confitetur, 9. Omnis creatura Christo morienti compatitur, 10. Dolor mulierum, praesertim Beatae Mariae Virginis, 11. Franguntur latronum crura. 458  Im Unterabschnitt elf wurde berichtet, wie zwei Soldaten den mit Christus gekreuzigten Dieben die Beine gebrochen hatten; vgl. ebd., 135, r. Sp., Z. 7–54. 459  Charakteristisch ist an dieser Stelle, auf welche Weise die durch die Evangelien vorgegebenen Grund­daten durch eigene Überlegungen erklärt, ergänzt und umschrieben werden: „Als aber jene zum Herrn zurückgekehrt waren, um zu sehen, ob er schon tot sei – sei es, weil er bitterere Martern erduldet hatte als die Schächer, oder vielleicht auch weil er vor den Anderen aufgerichtet worden war, oder weil er die Fähigkeit besaß, seine Seele auszuhauchen […].“ Redeuntibus autem illis versus Dominum, ut viderunt eum jam mortuum: eo quod acerbiora supplicia quam latrones pertulerat vel quia forte ante alios suspensus fuit, vel quia potestatem ponendi animam suam habuit […] (ebd., 136, l. Sp., Z. 1–6). 460 „[…] brachen sie nicht seine Beine, weil dies nicht gemacht wurde, außer zu dem Zweck, dass die im Sterben Liegenden den Kreuzen nicht entkommen können, damit es erfüllt werde gemäß der Schrift, in welcher im Buch Exodus gesagt wird: Keinen Knochen von ihm werdet ihr zerschlagen, nämlich vom Passalamm, welches das wahre Lamm Gottes vorwegnahm, nämlich Christus, das tot bereits gar war zum Mahl der Christen. Deswegen nämlich wurde es durch die göttliche Ordnung so festgesetzt, dass die Knochen des Passalammes nicht zerbrochen wurden, weil die Kno­chen des wahren Lammes am Kreuz nicht gebrochen sind, so dass Symbol und Wahrheit einander ent­sprechen.“ […] non fregerunt ejus crura, quia hoc non fiebat, nisi ad hoc quod evadere non possent depositi de patibulis, ut impleretur consecutive Scriptura, qua dicitur in Exodo: Os non comminuetis ex eo, scilicet, ex Paschali agno, qui verum Agnum Dei, scilicet Christum, praefigurabat, qui mortuus jam coctus ad esum fidelium erat. Ideo etenim ordinatione divina constitutum est, ut ossa agni Paschalis non frangerentur, quia veri Agni ossa in cruce fracta non sunt, ut sic figura et veritas corresponderent (ebd., 136, l. Sp., Z. 7–20). Auf die Rezeption der Tradition des Vierfachen Schriftsinns sei hier verwiesen, der Ludolf erlaubt, im Gefolge des Evangelisten Johannes (Joh 19, 36) sowie im Sinne des allegorischen Schriftsinns im Passalamm aus Ex 12,46 sowie Ps 34,21 Christus präfiguriert zu sehen; vgl. dazu Mühlenberg, Schriftauslegung, 479.

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pellen, allegorischer Exegese des Alten Testamentes, patristischen Zitaten sowie Allgemeinplätzen eines offenbar „po­ pu­ lären“ Antijudaismus.461 Refrainartig wiederholt sich dabei der Topos von der Boshaftigkeit und Grausamkeit der Juden, refrainartig begegnen auch die diversen alttestamentlichen Schriftzitate, die das Geschehen als von alters vorherbestimmten göttlichen Ratschluss offenbaren,462 refrain­artig eingestreut sind die zahlreichen Zitate der einschlägigen theologischen Auto­ri­tä­ten.463 Longinus, der einst stolze Gottlose, dessen spätere Bekehrung und Martyrium bereits an dieser Stelle angedeutet wird, eröffnet Jesu Seite, um den Tod Jesu zu bestätigen. Präzise und nüchtern schildert Ludolf das Geschehen, um es schließlich durch Zitation der Autoritäten des Bibelwortes und des Kirchenvaters Augustinus auszudeuten: Aber, um sich seines Todes zu versichern, eröffnete einer der Soldaten, mit Namen Longinus, da­mals gottlos und hochmütig, danach freilich bekehrt und zum Märtyrer gemacht, das Eisen von einer langen Lanze ausstreckend gegen seine heilige Seite, nämlich die des Herrn Jesus, die rechte Seite durch eine große Wunde: damit ein anderes Schriftzitat erfüllt werde, das nämlich durch den Mund des Zacharias [= Sacharja] sagt: „Sie werden sehen, den sie durchbohrt haben“; gemäß Augustinus wird in irgendeiner Weissagung versprochen, dass Christus an [eben] der Stelle, an welcher er gekreuzigt wurde, im Fleisch wiederkommen werde.464

Sogleich wird die Verantwortlichkeit des Longinus relativiert – er habe lediglich auf Geheiß der Juden gehandelt: „Und merke wohl, dass jener Soldat dies getan hat zur Besänftigung der Juden, die sich des Todes Christi vergewissern wollten.“465 Wenngleich die Vergewisserung des Todes Jesu als Motivation benannt 461  Man könnte an dieser Stelle vielleicht den modernen Begriff der „Blase“ bemühen, wenn man bedenkt, in welchem Ausmaß sich religiöse Texte, Performanzen und bildliche Darstellungen in ihrer Negativdarstellung „der Juden“ gegenseitig bestätigten und verstärkten; vgl. als nur ein exempla­risches Beispiel stereotyper Darstellung von Juden etwa die Abbildung bei Scribner, Schmerzens­mann, 93. 462  Vgl. Sach 12,10 (sowie Joh 19,37) und 2 Sam 18,6–18. 463  In Abschnitt zwölf werden namentlich genannt: Augustinus, Theophilus, Chrysostomos sowie Iso­dorus. Trotz dieser Struktur erscheint die nun folgende Passage dennoch eher als eine assoziative, eher zufällige Aneinanderreihung unterschiedlichster Bruchstücke, die gleichwohl eine Art Synopse der wichtigsten Auslegungstraditionen an die Hand geben möchte. Zu quellengeschichtlichen Fragen vgl. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 2), passim. 464  Sed, ut certificarentur de morte ejus, unus militum, Longinus nomine, tunc impius et superbus, post vero conversus et Martyr factus, porrigens ferrum de longe lancea sacrum latus ejus, scilicet Domini Jesu, dextrum vulnere grandi aperuit: ut impleretur alia Scriptura, per os scilicet Zachariae dicens: Videbunt in quem transfixerunt; in qua prophetia, secundum Augustinum, promissus est Christus in ea qua cruzifixus est carne venturus (Ludolf, Vita Christi II, 136, l.  Sp., Z. 20–32). Siehe dazu auch Sach 12,10. Die Komplexität der Ludolfschen Gedankengänge, die gegenseitigen Abhängigkeiten der unterschiedlichen Aspekte, soll an dieser Stelle durch eine möglichst wörtliche Übersetzung offengelegt werden, wenngleich eine Glättung oder Umstrukturierung der Satzteile unbenommen zu einem besser lesbaren Deutsch führten. 465  Et nota quod iste miles fecit hoc ad complacentiam Judaeorum, de morte Christi certificari



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wird, so offenbare der von Seiten der Juden ergehende Befehl an Longinus einmal mehr deren Grausamkeit, die auch vor dem toten Jesus nicht haltmacht: „Durch dies wird auch die übermäßige Grau­sam­keit derselben offenbar, weil sie nicht durch die Qualen befriedigt waren, welche sie dem lebendigen Christus zugefügt hatten, sondern es auch wagten, den toten zu verwunden.“466 Ludolf folgt einem theologischen Grundgedanken seiner Zeit, wenn er hinzufügt, dass auch die heutigen reuelos Sündigenden jenen historischen Juden in ihrer Schänd­lichkeit in Nichts nachstünden: „So wagt auch heute derjenige Christus, den einmal Gekreuzigten, wiederum zu verwunden, der es sich herausnimmt, ohne Furcht zu sündigen oder gar sich seiner Sünde zu brüsten.“467 Die Durchbohrung der Seite Christi wird in den Worten des Chrysostomos als Totenschändung dargestellt, die in ihrer Ver­werf­lichkeit die Kreuzigung selbst übertroffen habe.468 Im nun folgenden Abschnitt, der von der Heilung und Bekehrung des blinden Longinus durch das am Speer herablaufende Blut der Seitenwunde handelt, lassen sich die wich­tig­sten Elemente der Longinuslegende ablesen, die der Germanist Konrad Burdach in seiner Abhandlung über den Gral benennt: Die Erleuchtung des Augen- und Glaubenslichtes469 sowie die Quittierung des Militärdienstes, die Unterweisung durch die Apostel und die Aufnahme eines mönchischen Lebens in Caesarea Kappadozien, sein missionarisches Wirken, die Erlangung bischöflicher Ehre und zuletzt gar das Erringen der Märtyrerkrone. All diese Elemente finden sich auch bei Ludolf: volentium (ebd., Z. 32–35). Dies wird wenig später unter Berufung auf Theophilus nochmals eigens betont (vgl. auch Z. 43–46). 466  In quo etiam patet nimia ipsorum crudelitas, quia non satiati poenis, quas Christo viventi inflixerant, etiam mortuum vulnerare conati sunt (ebd., Z. 35–39). 467  Vgl. ebd., Z. 39–42: Sic et hodie Christum semel crucifixum conatur rursus vulnerare, qui sine timore peccare praesumit, vel de peccato se jactare. Ludolf führt an dieser Stelle nicht näher aus, welche Vergehen er dabei insinuiert. Schwerhoff, Christus zerstückeln, 501 verweist etwa auf den Tat­bestand des „Schwören[s] und Fluchen[s] bei den göttlichen Gliedern. Zeitgenössische Theologen sahen darin eine verdammenswerte Gotteslästerung. Nach ihrem Verständnis handelte es sich dabei geradezu um das Gegenteil andächtiger Verehrung des Heilands im Medium der Passion. Vielmehr kreuzigten viele angebliche Christen den Herrn durch ihre wüsten Reden erneut. Bereits 1279 verglich der Dominikaner Laurenz von Orleans in seiner ‚Somme le Roi‘ die Marterung Jesu durch die Juden und seine Misshandlung durch die Blasphemiker. Dabei kamen die Juden besser weg: Immerhin hätten sie keine seiner Knochen gebrochen, während die Schwörer ihn so klein hauten, wie man es mit keinem Schwein in der Metzgerei machen würde.“ Schwerhoff verweist wenig später auch auf eine Verurteilung der Gotteslästerer in der Vita Christi; vgl. dazu ebd., 503. 468  „Daher sagt auch Chrysostomos: ‚Sie hatten seine Seite mit der Lanze eröffnet und hatten auch den übrigen toten Körper geschändet, denn dass der Soldat auch den toten Körper schändete, war viel schlimmer, als ihn zu kreuzigen.‘“ Unde et Chrysostomus: ‚ Aperuerant ejus costam lancea, mortuo corpori de reliquo convitiantes, nam et in mortuum convitiari corpus militem, multo deterius fuit, quam crucifigi‘ (Ludolf, Vita Christi II, 136, l. Sp., Z. 46–51). Vgl. dazu auch leitz­m ann/Burdach, Judenspieß, 28. 469  Die Blindheit des Longinus wird auf vielen bildlichen Darstellungen eindrücklich abgebildet; vgl. etwa Wirth, Kreuzigung mit Longinus, 181.

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Es wird aber überliefert, dass jener, welcher ihn durchbohrte, dessen Augen vor dem Alter fast blind gewesen waren, durch Zufall, oder wahrscheinlicher durch den göttlichen Willen, als er ihn mit der Lanze verwundete (wenngleich er nicht wusste, dass er durch das Blut Christi, das an der Lanze herabrann, an den Augen berührt wurde), in der Folge klar sah und sogleich er­leuchtet an Christus glaubte. Deshalb gab er auch den Militärdienst auf und führte, angeleitet von den Aposteln, in Caesarea Cappadodicae 38 Jahre lang ein mönchisches Leben; dadurch, dass er in aller Heiligkeit verblieb, bekehrte er durch Wort und Beispiel viele zu Christus. Von ihm hat auch Isodorus folgendes gesagt: „Longinus hat durch die Lanze die Seite des Retters geöffnet und er hat nicht nur Gnade gefunden, sondern auch bischöfliche Ehre und die Krone des Martyriums erhalten“.470

Noch einmal wird durch die Wendung Non suffecit Judaeis et aliis471 die Unersättlichkeit, die Maßlosigkeit der jüdischen Grausamkeit472 unterstrichen, die in der Schändung, in der Verspottung des toten Leibes Christi offenbar werde. Der Unterabschnitt endet mit der allegorischen Auslegung der Joab-AbsalomErzählung (2 Sam 18,6–18).473 Den drei Lanzen, die Joab in Absaloms Herz schleuderte, korrespon­die­ren die drei Schmerzen Christi, deren Ursachen wie folgt benannt werden: „So wurde auch Christus am Kreuz durch die Lanze des Soldaten und überdies noch von drei Lanzen, nämlich von drei Schmerzen, durchbohrt: Der erste erwuchs aus der Größe der eigenen Qualen, der zweite aus der Bitterkeit der geliebten Mutter, der dritte aus der Undankbarkeit der Sünder, von denen er vorher wusste, dass sein Leiden ihnen nicht nützen werde.“474 Auch die mit ihren Schwertern auf Absalom losgehenden Leibwächter des Joab finden ihre allegorische Entsprechung: Zum einen in den Juden und ihren Schmähreden (Judaei in­va­serunt eum gladiis linguarum suarum acutissimis) 470  Fertur autem quod illius, qui eum lanceavit, cum fere caligassent oculi prae senectute, et casu, vel potius nutu divino, sicut et lanceavit, licet nesciens, sanguine Christi per lanceam defluente oculos tangeret, continuo clare vidit, et protinus illuminatus in Christum credidit. Unde et militiae cedens, instructus ab Apostolis, in Caesarea Cappadociae triginta octo annis monachicam vitam duxit, et in omni sanctitate permanens, verbo et exemplo multos ad Christum convertit. De eo quoque sic dicit Isodorus: ‚Lancea Longinus latus Salvatoris aperuit, et non tantum veniam invenit, sed episcopatus honorem et martyrii coronam promeruit.‘ (Ludolf, Vita Christi II, 136, l. Sp., Z. 51 – r. Sp., Z. 13). Nach Burdach stammt die Verortung in Cäsarea in Kappadozien aus dem Martyrologium Hieronymiamum, sein Martyrium selbst sei in Märtyrerakten aus dem 9. Jahrhundert (etwa bei Hrabanus Maurus) beschrieben worden; die von Burdach ebenfalls breit dargestellten Elemente der griechischen Longinus-Legende etwa bei Gregor von Nyssa hat Ludolf an dieser Stelle nicht rezipiert; vgl. dazu ausführlich Burdach, Gral, 209–223. 471  Vgl. das voranstehende […] non satiati poenis, quas Christo viventi inflixerant (Ludolf, Vita Christi II, 136, l. Sp., Z. 37 f.). 472  Wenngleich durch das Wörtchen aliis eine Alleinschuld der Juden an dieser Stelle etwas abgemildert erscheint, so bleibt diese Aussage in ihrer Unbestimmtheit doch sichtbar blass. 473  Vgl. ebd., r. Sp., Z. 16–21. 474  Sic et Christus in cruce lancea militis, et insuper tribus lanceis, id est tribus doloribus est confixus: quorum primum habuit ex propriarum poenarum magnitudine; secundum, ex dilectae Matris suae amaritudine; tertium, ex peccatorum ingratitudine, quibus suam Passionem praescivit non profuturam fore (ebd., Z. 21–29).

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gegen den gekreuzigten Christus, aber auch in den freiwillig Sündigenden.475 Diese Parallelisierung ist dem Leser bereits begegnet; an dieser Stelle wird jedoch verschärfend darauf hingewiesen, dass das Vor­gehen gegen den Christum regnantem vergleichsweise noch schwerer wöge.476 Der Unterabschnitt 13 Miraculum et significatio sanguinis et aquae de latere Christi fluentis widmet sich nun der Kommentierung des zweiten Halbverses Joh 19,34b. Die – wie wiederum eigens betont wird – schmähliche Tat der Juden ist zugleich wunderhaftes Ge­schehen, dem die Sakramente der Kirche ihre Wirksamkeit verdanken: Die von den Juden zugefügte Schmach aber war in einem Zeichen hervorgegangen, weil auf wunder­same Weise aus dem ausgelöschten Körper wahres Blut und klares Wasser herausflossen. Daraus folgt: Und unaufhörlich flossen Wasser und Blut heraus, aus denen die Sakra­mente der Kirche ihre Wirksamkeit besitzen.477

Dem Dualismus von Blut und Wasser korrespondiert eine zweifach differenzierte soteriologische Konsequenz. Die Passion Christi bewirkt eine vollkommene Reinigung des Menschen: „Dies aber ist geschehen, um zu zeigen, dass wir durch die Passion Christi die ganze Reinigung gewinnen, von den Sünden und von den Makeln“.478 Diese beiden Aspekte werden nun unter Zuhilfenahme von 1 Petr 1,18 sowie Ez 36,25 dargestellt. Von den Sünden freilich durch das Blut, welches der Preis für unsere Erlösung ist, gemäß jenes Wortes des Petrus: Ihr seid nicht durch vergängliches Gold und Silber losgekauft, sondern durch das kostbare Blut Christi; von den Makeln freilich durch das Wasser, welches ein Bad unserer Wiedergeburt ist, gemäß jenes Wortes des Ezechiel: Ausgegossen ist über euch reines Wasser, und ihr werdet gereinigt werden von all euren Befleckungen.479

475 

Vgl. ebd., Z. 30–32. Vgl. ebd., Z. 35–38. 477  Sed contumelia a Judaeis illata in signum prodiit, quia de corpore exstincto sanguis verus, et aqua pura miraculose manaverunt. Unde sequitur: Et continuo exivit sanguis et aqua, ex quibus habent efficaciam Ecclesiae sacramenta (ebd., Z. 41–47). 478  Hoc autem factum est, ad ostendendum quod per Passionem Christi plenam consequimur ablutionem, scilicet a peccatis, et maculis […] (ebd., Z. 47–51). Zu möglichen Konnotationen des Terminus macula vgl. Schenk, Sünde, 397, der im Hinblick auf das komplexe Sündenverständnis des Mittelalters festhält: „[…] wie bereits abgenommene Fesseln Druckstellen […] und wie bereits abgewischter Schmutz noch Gestank […] und verfärbte Flecken […] hinterlassen können, so blieben auch nach Beendigung der Tat Makel im Sünder zurück, die näher zu beschreiben seien.“ Zur religiö­sen und religionsphänomenologischen Bedeutung des Wassers allgemein vgl. Dinzelbacher, Hand­buch, 219–221. 479  […] a peccatis quidem, per sanguinem, qui est pretium nostrae redemptionis, secundum illud Petri: Non corruptibilibus auro et argento redemptis estis, sed pretioso sanguine Christi; a maculis vero, per aquam, quae lavacrum est nostrae regenerationis, secundum illud Ezechielis: Effundum super vos aquam mundam, et mundabimini ab omnibus inquinamentis vestris (Ludolf, Vita Christi II, 136, r. Sp., Z. 51–137, l. Sp., Z. 5). 476 

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Sowohl alttestamentliche als auch neutestamentliche Texte, wenngleich nicht explizit genannt, bilden auch im Folgenden den entscheidenden Verstehenshorizont für die Auf­fächerung der Sünden- und Sühnevorstellung des Kartäusers, die er angesichts seiner Re­flexion über die Seitenwunde darlegt.480 Blut und Wasser aus der Seitenwunde Christi werden zunächst gesondert betrachtet. Ludolf verbindet sie mit verschiedenen Aspekten und Begrifflichkeiten der Sündenlehre und illustriert sie durch zwei Motive aus der ExodusErzählung – zum einen durch das rettende Blut auf den Türpfosten der Israeliten (Ex 12), zum anderen durch die Wasser des roten Meeres beim Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 14): Oder das Blut kann be­zogen werden auf das Lösegeld und auf unsere Erlösung, damit wir von Strafen los­ge­kauft werden; das Wasser aber auf das Bad und auf die Reinwaschung der Sünder, damit wir von Fehltritten gereinigt werden. Durch das Blut des Lammes nämlich wird ein Haus beschützt vor dem Schlag des Engels; und durch das Wasser des roten Meeres werden die Feinde ausgelöscht.481

Den zentralen Termini „Loskauf “ (redemptio) und „Abwaschung“ (ablutio) korres­pon­dieren dabei Blut und Wasser: „Es wurde vergossen, ich wiederhole es, jenes zur Erlö­sung, dieses zur Reinwaschung der Erlösten; jenes, um den Gefangenen loszukaufen, dieses, um den Unreinen reinzuwaschen.“482 Nach der solchermaßen getroffenen Unterscheidung betont Ludolf jedoch abschließend den engen Konnex beider Aspekte, wobei er die Befreiung von Sünden als ersten Schritt zu betrachten scheint, auf den die Erlösung von Strafe und die Abwaschung der Makel sekundär erfolge: „Aber diese zweite Bedeutung wird durch die erste ausreichend ver­stan­den: Weil dort, wo die vollkommene Reinwaschung der Sünden ist, die Erlösung von Strafen folgt; und wo eine Abwaschung der Makel ist, dort auch die Reinigung von Sünden bereits vorangegangen ist.“483 Mit der Wendung Hoc etiam factum competit figurae schließt Ludolf nun die in der mittel­alterlichen Ekklesiologie so gewichtige Vorstellung der Geburt der Kirche aus der Seiten­wunde an die voranstehende Passage an. Dem im Paradies schlafenden Adam entspricht Christus, die aus Adams Rippe erschaffene Eva präfiguriert die aus der Seitenwunde Christi hervorgehende Kirche: „Denn wie aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus Blut und Wasser strömte, 480  Zu nennen sind hier Ex 12,21–23; 14,23–31; 1 Petr 1,19; 1 Kor 7,23; Röm 3,25; 5,9; Eph 1,7. 481  Vel, potest referri sanguis ad pretium atque ad nostram redemptionem ut redimamur a poenis: aqua vero ad lavacrum et ad peccatorum ablutionem, ut purgemur a culpis. Sanguine enim agni domus servantur a percussione Angeli; et aqua maris rubri exstinguuntur inimici (Ludolf, Vita Christi II, 137, l. Sp., Z. 6–13). 482  Effusus est inquam, ille ad redemptionem, ista ad redempti ablutionem; ille ut redimeret captivum, ista ut ablueret immundum (ebd., Z. 13–17). 483  Sed hic secundus sensus satis intelligitur in primo: quia ubi est plena a peccatis ablutio, ibi sequitur et a poenis redemptio; et ubi est a maculis ablutio, ibi praecedit et a peccatis purgatio (ebd., Z. 17–22).



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oder vielmehr herausfloss, durch welche die Kirche geheiligt wurde, so wurde aus der Seite des im Paradies schlafenden Adam die Frau geformt, welche die nämliche Kirche darstellt.“484 Die Emphase, mit der Ludolf auf das Wunderhafte dieses Geschehens (Et factum est hoc miraculose)485 verweist, mischt sich mit seinem apologetischen Bemühen, jedwedes Ver­dachts­moment des Betruges abzuweisen.486 Der Unterabschnitt 13 kehrt mit einer neuerlichen Verunglimpfung der Juden an seinen Ausgangspunkt zurück – nunmehr jedoch im Gewand eines Appelles an den Leser (con­si­dera nunc), der deren Boshaftigkeit (malitia) und Unersättlichkeit (non fuerunt saturati) bedenken soll, die in der Durchbohrung der Seite des toten Christus ihren Höhe­punkt gefunden habe.487 Unter der Überschrift Tria documenta e lanceatione lateris Christi, actus conformationis et oratio wendet sich der Unterabschnitt 14 nun direkt an seinen Leser, um mit ihm die glaubenspraktischen Lehren aus den bislang angestellten Betrachtungen über die Seiten­wunde zu ziehen. Drei verschiedene Lesarten (Ex hoc articulo lanceationis lateris, haben­tur tria documenta) dieses Symbolon deutet Ludolf nun aus:488 Zunächst zeigt er die Seitenwunde als Liebeswunde, daraufhin als Pforte zu den Sakramenten und schließ­lich als Ort der vollständigen conformatio des menschlichen Willens mit dem Willen Gottes. Der Christ, der Jesu Tod durch seine eigene Abkehr von der Welt und ihren Sünden nach­zuahmen sucht, muss Christus auch im Durchbohrtwerden seines Herzens gleichgestaltet werden: „Die erste [Lehre] ist, dass wir, weil wir mit Christus abgestorben sein werden, nämlich der Welt und den Sünden, wir dann auch mit der Lanze verwundet werden müssen mit Christus“.489 Diese Verwundung geschieht durch den Wurfspieß der Liebe (cuspide videlicet caritatis).490 484  […] quoniam sicut de latere Christi dormientis in cruce exivit, vel fluxit sanguis et aqua, quibus consecratur Ecclesia; ita de latere Adae dormientis in paradiso, mulier, quae ipsam Ecclesiam figurabat, est formata (ebd., Z. 23–29). 485  In naturalistischer Detailtreue betont Ludolf, dass einem bereits erkalteten toten Körper kein Blut mehr zu entströmen pflege; vgl. ebd., Z. 30–34: „[…] weil aus einem toten Körper, in welchem bereits durch die Kälte des Todes das Blut geronnen ist und in Verwesung verwandelt wurde, weder Blut herauszuströmen pflegt, noch von irgendeinem [toten Körper] klares Wasser fließt.“ […] quia de corpore mortui, in quo statim per mortis frigiditatem sanguis coagulatur, et in tabem convertitur, non solet sanguis exire, nec de aliquo aqua pura manare. 486  „Jenes Blut aber war wahr und rein; und das Wasser war wahr und rein, und nicht, wie etliche sagten, eine wässerige Flüssigkeit oder Phlegma.“ Ille autem sanguis erat verus et purus; et aqua vera et pura, et non, ut quidam dixerunt, humor aquaticus, seu phlegma (ebd., Z. 34–37). 487  Vgl. ebd., Z. 38–49. Das Ergebnis dieser Schändung fällt nach Ludolf auf die Schuldigen selbst zurück, der Schlüsselbegriff der Schande (contumelia) wird nun auf die Juden selbst angewandt. Zum men­talitäts­geschichtlichen Hintergrund spätmittelalterlicher Auffassungen jüdischer Ehre vgl. Jütte, Ehre, 144–165; zum mittelalterlichen Schandediskurs über die Juden und ihrer Rolle als ver­meint­liche Christusmörder siehe etwa Baroja, Honour and Shame, 97. 488  Ludolf, Vita Christi II, 137, l. Sp., Z. 52–54. 489  Primum est, quod nos cum mortui fuerimus cum Christo, scilicet mundo et peccatis, tunc debemus et lanceari cum Christo […] (ebd., Z. 54–137, r. Sp., Z. 2). 490  Vgl. ebd., Z. 2 f. Auf das Motiv des Verwundetseins durch Liebe soll an gegebener Stelle

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Ludolf zitiert an dieser Stelle ausführlich ein Gebet des Augustinus, in dem die Heils­wirksamkeit der Wunde Christi, die Sündigkeit der eigenen Seele und die Herzens­här­tig­keit des Menschen beschrieben werden; letztere möge, so die Sehnsucht des Beters, durch die Macht des Wurfgeschosses der Liebe durchstoßen und durch den Tränenstrom aus der Seitenwunde des Erlösers erweicht werden: Durch diese Lanze der Liebe bittet auch Augustinus, dass sein Herz durchbohrt werde, wenn er sagt: „Ich bitte dich, Herr, um deiner heilsamen Wunden willen, welche du erlitten hast für unser Heil am Kreuz, aus welchen jenes kostbare Blut hervorströmte, durch welches wir erlöst sind, verwunde diese meine sündige Seele, für die du sogar bereit warst, zu sterbe; verwunde sie durch den feurigen und allermächtigsten Speer deiner allermächtigsten Liebe. Durchbohre mein Herz mit dem Speer deiner Liebe, damit meine Seele dir sage: Durch deine Liebe bin ich verwundet, so dass aus derselben Wunde deiner Liebe überreichliche Tränen fließen bei Tag und Nacht. Durchstoße, flehe ich, Herr, diesen meinen sehr har­ten Sinn durch die starke Lanze der frommen Liebe, dass sie tiefer zum Innersten ein­drin­ge mit gewaltiger Kraft.“ Dies [sagt] Augustinus.491

Bußfertigkeit und Reueschmerz, wahrhaft empfundene Liebe – die unter Nutzung verschiedener Termini wie amor, caritas und dilectio allein sechsmal anklingt! – verknüpft Augustinus und in seiner Nachfolge auch Ludolf von Sachsen an dieser Stelle explizit mit der Seitenwunde. Die zweite Lehre, die der Leser aus der Betrachtung der Seitenwunde ziehen möge, ist die rechte Andacht und Ehrfurcht gegenüber den Sakramenten, die der Fromme in blei­ben­der Gegenwärtigung ihres Ursprungsortes empfangen soll: „Die zweite Lehre ist, gemäß Chrysostomos, dass wir die Sakramente der Kirche mit der[selben] Aufmerksamkeit und Andacht empfangen müssen, als wenn sie uns aus der Seite Christi zuflössen.“492 Nach nochmaligem Verweis auf die Analogie zwischen Christus und Adam sowie zwi­schen Eva und der ecclesia führt Ludolf die augustinische Exegese der Vokabel aperuit aus der Vulgatafassung von Joh 19,34 an: näher ein­ge­gangen werden; dass Ludolf hier die Vulgatafassung von Hl 5,9 anklingen lässt, sei jedoch bereits erwähnt. 491  Hac etiam amoris lancea, cor suum perforari Augustinus petiit, dicens: ‚Rogo te, Domine, per illa salutifera vulnera tua, quae Passus es pro salute nostra in cruce, ex quibus emanavit ille pretiosus sanguis, quo sumus redempti, vulnera hanc animam meam peccatricem, pro qua etiam mori dignatus es, vulnera eam igneo et potentissimo telo tuae potentissimae caritatis. Confige cor meum jaculo tui amoris, ut dicat tibi anima mea: Caritate tua vulnerata sum; ita ut ex ipso vulnere amoris tui uberrimae fluant lacrymae die ac nocte. Percute, obsecro, Domine, hanc durissimam mentem meam valida cuspide piae dilectionis, ut altius ad intima penetret virtute potenti.‘ haec Agustinus (ebd., Z. 5–24). 492  Secundum documentum est, juxta Chrysostomum, quod nos percipere debemus sacramenta Ecclesiae ea intentione atque devotione, ac si nobis de latere Christi profluerent (ebd., Z. 24–29).



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Von daher gebrauchte der Evangelist gemäß Augustinus ein treffendes Wort. Er sagte nämlich nicht: Seine Seite wurde durch­stoßen oder verwundet oder sonst irgendetwas anderes; sondern sie wurde geöffnet, damit sie ein Zeichen gebe, dass gewissermaßen die Pforte des Lebens offensteht; weil von dort die Sakramente der Kirche fließen, ohne die man nicht eingehen kann zum wahren Leben.493

Der Leser wird nun dazu angehalten, sich zu vergegenwärtigen, dass die Rede vom direkten Ausfluss der Sakramente aus der Seitenwunde in besonderer Weise für die beiden Haupt­sakramente der Kirche zu gelten habe und deren Heilsnotwendigkeit (sine quibus ad veram Vitam non intratur) begründe, da sie die redemptio sowie die ablutio der Sünder bewirkten.494 Wie bereits in Unterabschnitt 13 stellt Ludolf erneut den Zusammenhang zwischen Blut und Eucharistie sowie zwischen Wasser und Taufe her. Dabei unterstreicht er nochmals die bleibende Identität zwischen dem der Seitenwunde entströmenden Blut und dem Blut im Abendmahlskelch.495 Die Vita Christi zeichnet die Seitenwunde hier explizit in einen ekklesiologischen Horizont ein und betont deren unumstößliche Heilsnotwendigkeit für jeden Glaubenden. Nach der Adam-Christus-Typologie führt Ludolf nun mit seiner Rede von der Arche Noah als Präfiguration der Kirche ein weiteres wichtiges, ekklesiologisches Motiv und zugleich eine weitere Deutung der Seitenwunde ein: Als deren Abbild kann der Zugang in der Seiten­wand der Arche verstanden werden, durch welchen die Tiere vor dem Verderben gerettet wurden: „Dies wurde vorhergesagt, da Noah befohlen wurde, in die Seite der Arche einen Zugang zu machen, durch welchen die Tiere eintreten sollten, welche nicht in der Flut umkommen sollten; durch dies wurde die Kirche präfiguriert.“496 Als abschließenden Aspekt der zweiten Lehre verweist Ludolf auf die Erzählung des sich zu Christus bekennenden Schächers am Kreuz, der nach Augustin aus der Seitenwunde das Sakrament der Taufe empfangen habe, ein Faktum, das die Taufe als conditio sine qua non der Errettung zeige.497 493  Unde secundum Augustinum, vigilanti verbo Evangelista usus est, ut non diceret: latus ejus percussit, aut vulneravit, aut quid aliud; sed aperuit, ut innuat, quod ibi quodammodo ostium vitae apertum est; quia inde sacramenta Ecclesiae manaverunt, sine quibus ad veram vitam non intratur (ebd., Z. 33–41). Vgl. Joh 19,34 (Vg.). 494  Et nota quod hoc, quod dicitur sacramenta manasse de latere Christi, specialiter intelligendum est de duobus praecipuis sacramentis, sine quibus non intratur ad vitam, videlicet: de sacramento re­demptionis, et de sacramento ablutionis (ebd., Z. 41–48). 495 Vgl. ebd., Z. 48–55. Dunkel bleibt m. E. das in Anlehnung an Augustin formulierte Diktum des Was­sers als Beimischung zum Kelch; vgl. ebd., 138, l. Sp. Z. 1–4. 496  Hoc praenuntiabat, quod Noe in latere arcae ostium facere jussus est, quo intrarent animalia, quae non erant diluvio peritura, quibus praefigurabatur Ecclesia (ebd., Z. 5–9). 497  „Über dieses Blut und dieses Wasser sagt der nämliche Augustinus auch – was glaubhaft ist  – dass jener Schächer, dem der Herr das Paradies versprochen hat, bespritzt wurde mit Wasser und Blut, welche aus der Seite Christi flossen, und dass er durch solch heiligste Taufe gerettet wurde; denn ohne Taufe wird keiner errettet, auch nicht durchs Martyrium.“ De istis etiam sanguine et aqua dicet idem Augusti­nus, quod credibile est quod latro ille, cui promisit Do-

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Eine dritte und letzte Lehre legt Ludolf seinem Leser vor: Die Seitenwunde muss als Zu­gang zum göttlichen Herzen verstanden werden. Dies sei der Ort, an dem der mensch­liche Wille sich dem göttlichen gleichgestaltet, um letztlich – gleichsam wie Eisen im Feuer – im Willen Gottes aufzugehen. Die conformatio des Willens, so scheint es, ist jedoch nur der zweite Schritt, welcher die Vereinigung der Liebe vorausgehe: Die dritte Lehre ist, dass wir unseren ganzen Willen dem göttlichen Willen gleichförmig machen sollen, und dass der Wille Gottes uns in allen Dingen und über allen Dingen willkommen sei: Deshalb wurde das Herz Christi verwundet durch die Wunde der Liebe um unseret­willen, weil ja wir vermittels der erwidernden Liebe durch die Pforte der Seite zu seinem Herzen hineingehen können und dort all unsere Liebe mit seiner göttlichen Liebe ver­einen, so dass sie wie ein mit Feuer glühend heißes Eisen wieder zu einer einzigen Liebe gemacht wird.498

Voraussetzung für diese grenzüberschreitende Erfahrung ist zugleich ein Akt der Eingrenzung, der Ordnung. Ludolf spricht hier von der Notwendigkeit, all seine Sehn­süchte (desideria) in Gott zu gründen und zu ordnen.499 Dies erinnert an die Bernhardinische Rede von der Ordnung der Liebe (ordinatio carita­tis),500 die er in Sermo 49 seiner Hoheliedpredigten über Hl  2,3 breit ausführt.501 Mög­licherweise mag Ludolf Bernhards Ausführungen eingedenk gewesen sein, wenngleich er in der Folge andere Akzente setzt. Spielt beim Zisterzienser der Gedanke der Beson­nen­heit (discretio), die den blinden Eifer in rechte Bahnen zu lenken habe, eine wichtige Rolle,502 so verwendet der Kartäuser das aus den Gliedergebeten spätmittelalterlicher Texte geläufige Programm einer Art symbolischer Parallelisierung der Körper, welches sich der Überzeugung verdankt, dass sich Jesus am ganzen Leib verwunden ließ, „um das minus paradisum, aspersus fuit aqua et sanguine, de Christi latere exilientibus, et tali sanctissimo Baptismate salvatus sit; cum sine Baptismate nemo salvetur, vel martyrio (ebd., Z. 9–17). 498  Tertium documentum est, quod nos omnem voluntatem nostram conformare debemus voluntati divinae, et quod voluntas Dei in omnibus, et super omnia sit nobis accepta: eo quod cor Christi vulnera­tum est amoris vulnere propter nos, quatenus nos per amorem reciprocum intrare possimus per ostium lateris ad cor ejus, et ibi omnem amorem nostrum ad suum divinum amorem counire, ut sicut ferrum candens cum igne, in unum redigatur amorem (ebd., Z. 17–29). 499  Homo enim omnia desideria sua debet fundare et ordinare in Deum, amore Christi […] (ebd., Z. 29–32). 500  Zum Gedanken der Liebe als Mitte der bernhardinischen Mystik vgl. McGinn, Mystik (Bd. 2), 295–339, bes. 332. Freilich findet sich der Vorstellungskomplex einer Ordnung der Liebe bereits bei Augustinus; vgl. dazu etwa Stock, Gottes wahre Liebe, 36. 501 Vgl. Bernhard, Opera Omnia II, 75, Z. 27–29. 502  „[Daraus] folgt: Er ordnete in mir die Liebe. [Dies ist] gänzlich notwendig. Denn wo heftige Eifersucht [ist], dort ist die größte Besonnenheit nötig, welche ist die Ordnung der Liebe.“ Sequitur: Ordinavit in me caritatem. Omnino necessarie […] Ubi ergo vehemens aemulatio, ibi maxime discretio necessaria, quae est ordinatio caritatis (ebd.). Dies erinnert zugleich ein wenig an das ethische Programm des Maßhaltens in der Nikomacheischen Ethik des Aristoteles; vgl. dazu Gigon, Aristoteles, 745. Allerdings verbreitete sich dieses Werk des Aristoteles erst im 13. Jahrhundert vermittels lateinischer Übersetzungen.



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von der Wunde der Sünde kranke Menschengeschlecht […] zu heilen“.503 Diese Tra­di­tions­linie lässt sich auch noch in der Himmlischen Funtgrub des Johann Paltz aus dem 15. Jahrhundert finden.504 Der Verwundung der Gliedmaßen Christi korrespondiert jeweils die Bitte um Heilung des entsprechenden Körpergliedes des Menschen, wobei die Füße die Begierden, die Hände die Werke und das Herz den Willen verkörpern: Weil er durch die Füße, durch welche die Leidenschaften verstanden werden, gekreuzigt wurde; und der Mensch muss sich in allen guten Wer­ken üben und alle schlechten Werke meiden durch die Liebe Christi, weil er durch die Hände, durch welche die Werke verstanden werden, gekreuzigt wurde; der Mensch muss aber sein ganzes Wollen dem göttlichen Willen gleichförmig machen für jene Wun­de der Liebe, die er am Kreuz für den Menschen empfangen hat, als der Pfeil der un­be­sieg­baren Liebe sein honigfließendes Herz durchbohrt hat.505 503  Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 3), 462. Baier stützt diese Aussage auf einen Vers der Vita Christi: Quia enim genus humanum vulneribus peccatorum fuit plenum […] ideo Jesu in omni parte corporis sui plagas suscepit, ut per eius livores sanaremur […] voluit flagellari et vulnerari in toto corpore, ut sanaret totam nostram vitam et conversationem (Ludolf, zit. nach ebd., 463, Anm. 37). Dieser Vorstellungskomplex findet sich auch bei der Verknüpfung des Heiligen Sebastian und der Pest: Die Darstellung der Verwundung seiner Achselhöhlen und der Leistengegend weisen ihn als Schutzheiligen gegen die Pest aus, da die ersten Pestsymptome an diesen Körperstellen aufzutreten pflegen; vgl. dazu Helas, Martyrium, 114 und dies., Sebastian, 116. 504  Zu dem andern mustu merken, das die hend bedeuten die werk, die fuß die gedanken oder begird. Zu dem dritten soltu also sprechen: Ach liber herre Jesu, ich dank dir der linken hant, die du hast lassen durchgraben. Ich opfer dir all mein boße werk darein und bit dich, vergib mir die. – Und bet ein Pater noster in die libe. Darnach danke ich dir der rechten handt, die du hast lassen durch graben. Ich opfer dir alle meine gutte werk dar ein und dank dir der und bitte dich, hilf mir gute werk vollbringen. – Und bete ein Pater noster. Darnach danke ich dir deß linken fuß, den du hattest lassen durch graben. Ich opher dir alle mein boße gedanken und begird darein und bit dich, vergib mir die und erloße mich davon. – Und bete ein Pater noster. Darnach danke ich dir des rechten fuß, den du hast lassen durch graben. Ich opher die all mein gute werk und begird darein und dank dir der und bitte dich, das du die wellest bestetigen. – Und bet ein Pater noster. Zu dem letzten danke ich dir deiner rechten seiten. Darein opher ich mich selber und mein leib und sele und bit dich, das du mir wollest mein herze aufbrechen und entzunden in deiner lieb, als du dir dein herz hast lassen aufbrechen auß grosser lieb (Paltz, Opuscula, 205, Z. 9–24). Die gleiche typische Zuordnung der Werke zu den Händen und der Begierden zu den Füßen findet sich auch im Kapitel „Von dem Leiden Christi, wie man das bedenken soll“; vgl. ebd., 223, Z. 4–18. Doch auch noch das 18. sowie das 19. Jahrhundert schienen diese Form der Verehrung eines spezifischen Körpergliedes Christi, verbunden mit der Bitte um Heiligung eines menschlichen Körperteils, zu kennen. So wurde z. B. die verwundete Zunge Christi im Gebet angeführt, um um die Vergebung der Verfehlungen der eigenen Zunge zu bitten; vgl. dazu Kriss-Rettenbeck, Bilder, 64. Verschiedene Beispiele für Gliedergebete finden sich etwa bei Angenendt, Religiosität, 239 f. Zu Paltz siehe auch Hamm, Frömmigkeitstheologie. 505  […] quia pedibus, per quos affectus accipiuntur, est crucifixus; et in omnibus bonis operibus se exercere, ac cuncta mala opera devitare, amore Christi, quia manibus, per quas opera accipiuntur, crucifixus est; omnem vero voluntatem suam conformare voluntati divinae, pro illo amoris vulnere, quod in cruce pro homine accepit, cum invincibilis amoris sagitta cor suum mellifluum perforavit (Ludolf, Vita Christi II, 138, l. Sp., Z. 32–43).

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Die bereits als ostium vitae506 bezeichnete Seitenwunde benennt Ludolf nun auch als ostium amoris, „durch die Augustinus eingetreten war, als er sagte: ‚Longinus hat mir die Seite Christi geöffnet durch die Lanze; und ich trete ein – dort ruhe ich sicher. Die Nägel und die Lanze rufen mir zu, dass ich in Wahrheit versöhnt bin mit Christus, wennichihnliebe.‘“507 Nach der Darlegung jener drei documenta ruft Ludolf den Leser nun dazu auf, sich dem Gehörten entsprechend zu gestalten (Ad conformandum se huic articulo),508 indem er der alles übertreffenden Liebe Christi eingedenk sei, die in der Verwundung der Seite Christi offenkundig geworden ist: „Um sich gemäß dieses Abschnitts zu formen, erinnere sich der Mensch daran, welch außerordentliche Liebe Christus durch die Öffnung seiner Seite uns gezeigt hat, in welcher er uns eine offenstehende Tür zu seinem Herzen gegeben hat.“509 Das solchermaßen geöffnete Herz wird somit zum Schauplatz der unio, an welchem menschliche Gottesliebe und göttliche Menschenliebe verschmelzen.510 Es ist die Liebe Christi, die ihn dazu treibt, aus seiner Wunde die Sakramente zu vergießen und so den Menschen den Zugang zum Leben zu öffnen: „Der Mensch möge auch erwägen, mit welch großer Liebe Christus aus seiner Seite für uns die Sakramente vergossen hat, durch welche wir zum ewigen Leben eingehen kön­nen.511 Das abschließende Gebet ist durchdrungen vom Gedanken der conformatio Christi: Der Verwundung der Seite, die das Ausfließen der Sakramente ermöglichte, korrespondiert für Ludolf die Verwundung des Menschenherzens, um die der Glaubende bitten soll. Erst als solchermaßen Verwundeter erweist er sich der Sakramente würdig: Jesus, der du ge­wollt hast, dass die Seite deines toten Körpers durch die Lanze geöffnet werde und daraus Blut und Wasser hervorgehe, verwunde, bitte ich, mein Herz durch die Lanze der Liebe, damit ich deinen Sakramenten würdig gemacht werde, welche aus derselben aller­hei­lig­sten Seite geflossen sind.512

Die Schlusssequenz des Gebetes erscheint zunächst paradox: Bezeichnet Ludolf die ge­öff­nete Seite Christi zum einen als Tür des Lebens, die den Erwählten und 506 

So bereits ebd., 137, r. Sp., Z. 38 f. […] per istud vulnus quasi per ostium amoris Augustinus intraverat, cum dicebat: ‚Longinus aperuit mihi latus Christi lancea; et ego intravi, ibi requiesco sucurus. Clavi et lancea clamant mihi, quod vere reconciliatus sum Christo, si eum amavero.‘ (Ebd., 138, l. Sp., Z. 43–49). 508  Ebd., Z. 50. 509  Ad conformandum se huic articulo, rememoretur homo, quam superexcellentissimum amorem Christus in apertione lateris sui nobis ostenderit, in quo nobis aditum patulum ad cor ejus dedit (ebd., Z. 50–55). 510  Vgl. ebd., Z. 55–138, r. Sp., Z. 4. 511  Recogitet etiam homo, quanta caritate Christus ex latere suo nobis profuderit sacramenta, quibus intremus ad vitam aeternam […] (ebd., Z. 4–7). 512  Jesu, qui latus corporis tui mortui, lancea aperiri, et exinde sanguinem et aquam exire voluisti, vulnera, quaeso, cor meum lancea caritatis, ut tuis dignus efficiar sacramentis, quae de eodem sacratissimo latere profluxerunt (ebd., Z. 9–15). 507 



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Gerechten geöffnet wird, so spricht er gleich darauf davon, dieser Zugang sei für die Sünder und Büßer vorgesehen: In der Öffnung deiner Seite, Herr, hast du deinen Auserwählten den Zugang zum Leben eröffnet. Durch diese deine Pforte, Herr, treten die Gerechten in es ein. Gedenke nicht, Herr, so bitte ich, meiner Ungerechtigkeiten, so dass du mir ihret­we­gen diesen Zugang verschließt, welchen du für die Sünder und Büßer vorgesehen hast.513

Wie später noch deutlich werden wird, bilden diese beiden Gruppen für Ludolf keine tatsächlichen Gegensätze. Unterabschnitt 15 (Beata Maria Virgo sentit vulnus lateris Christi) liefert eine knappe Dar­stellung, inwiefern der Schmerz der Seitenwunde, den Christus selbst nicht mehr empfunden habe, die Jungfrau Maria getroffen habe.514 Auch jedes heutige Vergehen gegen Christus, so Ludolf, erneuere und vertiefe den Schmerz Mariens.515 Unter der Überschrift Dominus sanguinem fundit piissime, plenissime et acerbissime reflektiert der Kartäuser im Unterabschnitt 16 nun drei Eigenschaften des Blutvergießens am Kreuz. Doch zunächst stellt er dem Leser noch einmal vor Augen, was dort aus der „Zerreißung“516 des Herzens Christi dem Menschen entspringt – nämlich der Preis seiner Erlösung – und dass diese Verwundung ihre Entsprechung in der Verwundung des menschlichen Herzens finden solle, um Mitleiden und Liebe in ihm zu wecken.517 Jenes aus der Seite Christi entspringende Lösegeld sei es, das den Vater besänftige.518 Die Fülle der Erlösung – hier zitiert Ludolf Ps 129,7 (Vg.) – könne man begreifen, wenn man sich die „Woge des Blutes“ imaginiert, die aus fünf Stellen des gemarterten Christus­körpers geflossen sei: „Ganz und gar reichlich, weil nicht ein Tropfen, 513  In apertura lateris tui, Domini, aperuisti electis tuis januam vitae. Haec porta tua, Domine, justi intrabunt in eam. Noli, Domine, quaeso, iniquitatum mearum recordari, ut propter eas mihi claudas aditum istum, quem peccatoribus et poenitentibus providisti (ebd., Z. 15–22). 514  Et licet istud vulnus lateris non senserit Christus, quia mortuus, beata tamen Virgo Mater ejus bene sensit, cujus felicissimam animam crudelis illa lancea tunc transfixit (ebd., Z. 24–29). 515 Vgl. ebd., Z. 29–34. Darin erfülle sich immer wieder von neuem die Prophetie des Simeon: „Deshalb hat sich nun an ihr vollständig die Weissagung des Simeon bewahrheitet, in welcher er zu sich gesagt hatte: Und deine eigene Seele wird ein Schwert durchbohren.“ Unde nunc perfecte verificata est in ea Simeonis prophetia, qua sibi dixerat: Et tuam ipsius animam pertransibit gladius (ebd., Z. 34–37). 516 Nach Georges, Handwörterbuch, 2535 findet sich dieses Lexem besonders häufig im Zusam­men­hang mit dem Zerreißen des Tempelvorhanges im Kontext der biblischen Passionserzählung. 517  Ex hac cordis Christi scissione, a cujus arcano, tamquam a fonte, pretium nostrae salutis copiose est effusum, merito etiam ad compatiendum et amandum vulneratur cor nostrum, quia hic maxime apparuit, quam copiosa apud eum redemptio fuerit (Ludolf, Vita Christi II, 138, r. Sp., Z. 39–46). 518 „[…] aus der eigenen Seite brachte er das Lösegeld der Genugtuung hervor, durch welches er den Vater versöhnte.“ […] de proprio latere protulit pretium satisfactionis, quo placeret Patrem (ebd., Z. 49 f.).

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sondern eine Quelle von Blut freigiebig durch fünf Teile [Glieder] des Körpers herausfloss.“519 Wiederum müsse, so in Berufung auf Anselm von Canterbury, das Ausmaß der passio Christi ein ähnliches Maß an compassio im Menschen hervorrufen.520 Dies ins Werk zu setzen vermag, so scheint es, die eingehende Betrachtung des leidenden Christus am Kreuz. In den Worten des Anselm stellt Ludolf dem Leser die Schrecken der Passion vor Augen: Die Nacktheit Christi, die erlittenen Hiebe, die ihn bereits vor der Kreuzigung zerfleischt haben, das Gekreuzigtwerden zwischen Verbrechern, die An­hef­tung mit eisernen Nägeln, der Trank aus Essig und Galle, die Verwundung seiner Seite, der Blutstrom aus den fünf Wunden – all das soll gleichsam die „Verflüssigung“ des Men­schen zur Folge haben, die äußerlich zu reichlich vergossenen Tränen, innerlich jedoch zum Schmelzen der menschlichen Seele im Feuer des Mitleidens führe. Die im Wortsinne Liebens­würdigkeit und die Sanftheit des leidenden Christus werden dem Leser dabei noch einmal eigens vor Augen geführt: „Sieh den Nackten und durch die Hiebe Zerfleischten, in der Mitte zwischen Räubern am schimpflichen Kreuz mit eisernen Nä­geln Angehefteten, mit Essig und Galle getränkt und nach seinem Tod durch eine Lanze an der Seite verwundet, wie er einen reichen Strom von Blut aus den fünf Wunden der Hände und Füße und der Seite vergießt. Lasst einen Tränenstrom hervorfließen, meine Augen; und vergehe, meine Seele, durch das Feuer des Mitleidens vor Reue über diesen liebens­werten Mann, den du als in solch großer Sanftmut von Schmerzen Geschwächten siehst.“ Dies [sagt] Anselmus.521

Jene scheinbare Hilflosigkeit522 konterkariert Ludolf jedoch im Folgenden: Christus habe die Verwundung seines Leibes an Händen, Füßen und seiner Seite erlaubt, um  – so wie es gängige mittelalterliche Vorstellung war  – auf diese Weise die fünf Sinne des Menschen aus der Gefangenschaft des Teufels zu befreien: „Aber die fünf Wunden ließ er sich zu­fügen, damit er die fünf Sinne des Menschengeschlechts, die vom Teufel gefangen ge­hal­ten werden, erlöse.“523 Nach dieser einführenden Passage geht der Kartäuser nun auf den dreifachen Charakter des Blutvergießens Christi ein, das, wie er betont, auch heute und um unseretwillen (quippe hodie pro nobis) auf zärtlichste, vollständigste und bitterste 519  Prorsus copiosa, quia non gutta, sed unda sanguinis largiter per quinque partes corporis emanavit (ebd., Z. 54–139, l. Sp., Z. 1). 520  Siehe ebd., Z. 1–4. 521  ‚Vide nudum et verberibus laceratum in medio latronum cruci ignominiose ferreis clavis affixum, aceto et felle potatum, et post mortem lancea in latere vulneratum, et copiosos sanguinis rivos ex quinque vulneribus manuum, pedumque, et lateris effundentem. Fletum deducite, oculi mei; et liquesce, anima mea, igne compassionis, super contritione amabilis viri hujus, quem in tanta mansuetudine tantis vides affectum doloribus‘: haec Anselmus (ebd., Z. 5–17). 522  Auch diese Konnotation des Lexems contritio findet sich bei Georges, Handwörterbuch, 1638. 523  Quinque autem vulnera sibi infligi permisit, ut humani generis quinque sensus a diabolo captos redimeret (ebd., Z. 17–20).



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Weise geschehe.524 Dazu führt er aus, dass die Zuschreibung piissime im Beweggrund (causa) der Passion Christi wurzele, nämlich in Jesu brennender Liebe, die ihn zum freiwilligen Leiden um unseret­willen getrieben habe525 Jenes pro nobis wandelt sich in Worten des Augustinus in ein aus der Per­spektive Christi den Einzelnen ansprechendes pro te: Oh Mensch, bedenke, wie viele und große Dinge ich für dich erlitten habe: Als du feindlich mit meinem Vater gewesen bist, habe ich dich versöhnt, als du wie ein verlorenes Schaf umhergeirrt bist, habe ich dich gesucht und auf meinen Schultern getragen und habe dich meinem Vater zurück­ge­ge­ben. Mein Haupt habe ich den Dornen ausgesetzt, meine Hände den Nägeln ent­gegen­gestreckt, mein Blut für dich vergossen, meine Seele für dich hingegeben, um dich mit mir zu vereinen; und du trennst dich von mir? Kehre um zu mir, und ich werde dich auf­nehmen.526

Das Moment der Vollständigkeit illustriert Ludolf anhand einer drastischen Darstellung des am Kreuz ausblutenden Körpers Christi, in welchem kein einziger Tropfen Blut mehr verblieben sei: „Aufs vollständigste hat er es vergossen, wenn das Maß bedacht wird, weil er das ganze Blut vergossen hat, so dass kein einziger Tropfen mehr in ihm verblieben ist.“527 Jener Blutverlust habe sich Schritt für Schritt während der verschiedenen Marterungen der Passion vollzogen: Während der Geißelung habe Christus das unter der Haut fließen­ de Blut vergossen (Nam sanguinem intercutaneum fudit in flagellatione), durch das Auf­setzen der Dornenkrone das Blut seines Hauptes (et quidquid sanguinis habuisset in vertice et capite, effusum fuit in spinarum confossione).528 Das Blut in seinen Venen und Nerven habe er in seinem Todeskampf (sanguinem vero venarum, atque nervorum, fudit in agonia, dum prolixius oraret), das in Händen und Füßen befindliche durch die Annagelung am Kreuz verloren (et in manuum et peduum conclava­tio­ne).529 Aus der Seitenwunde sei schließlich das Blut, das im Herzen und in den unteren Glied­maßen verblieben war, geflossen (sed 524  Vgl. ebd., Z. 20–22. Die Übersetzung des Adverbs piissime mit „zärtlich“ erscheint mir angesichts der inhaltlichen Füllung als die angemessenste; vgl. dazu Georges, Handwörterbuch, 1722 f. 525  „Aufs zärtlichste, wenn der Grund bedacht wird, denn der Grund des Vergießens seines kostbaren Blutes war der zärtlichste, weil er das selbe aus bren­nend­ster Liebe vergossen hat, auf Grund derer er aus freiem Willen für uns leiden wollte.“ Piissime fudit, si consideretur causa, nam causa effusionis sui pretiosi sanguinis, fuit piissima, quia ipsum fudit ex caritate ferventissima, ex qua voluntarie pro nobis pati voluit (Ludolf, Vita Christi II, 139, l. Sp., Z. 23–27). 526  O homo, recogita qualia et quanta pro te Passus sum: cum esses inimicus Patri meo, reconciliavi te; cum tamquam ovis perdita oberrares, quaesivi te, et in humeris meis portavi te, et Patri meo te reddidi. Caput meum spinis opposui, manus meas clavis objeci, sanguinem meum pro te fudi, animam meam pro te posui, ut jungerem te mihi; et tu divideris a me? Convertere ad me, et ego suscipiam te (ebd., Z. 29–41). 527  Plenissime fudit, si consideretur mensura, quia totum sanguinem effudit, ita ut unica gutta in eo non remaneret (ebd., Z. 41–44). 528  Vgl. ebd., Z. 44–48. 529  Vgl. ebd., Z. 48–51.

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sanguinem qui remansit in corde, vel in membris inferioribus, effudit in lateris apertione).530 Die Zuschreibung von Jes 53,2 lasse sich, so Ludolf abschließend, aus eben jener Vollständigkeit des Blutverlustes erklären.531 In Kontrast zu Jes 53, in Kontrast zu jener abstoßenden Gestalt des Gemarterten, wird nun­mehr im letzten Abschnitt die übergroße Bitternis (acerbissime) des Geschehens gerade durch die ursprüngliche Vortrefflichkeit und Zartheit des Körpers Jesu expliziert. Hier­bei spielen zwei Aspekte der mittelalterlichen Vorstellungswelt eine Rolle: Zum einen der Gedanke, dass die Verletzlichkeit und Empfindsamkeit eines besonders edlen Körpers höher sei als die eines ungeschlachten und groben und zum anderen der antike Vorstellungskomplex hinsichtlich der menschlichen Zeugung, der dem männlichen Part die formgebende Rolle, der Mutter jedoch die Beisteuerung der Materie, d. h. des Blutes zuweist.532 Da bei Christus der Heilige Geist als Baumeister, eine Jungfrau jedoch als Spenderin des Blutes angenommen wird und deshalb von einer besonders edlen und zarten Natur Christi auszugehen ist, muss somit folgerichtig die besondere Bitterkeit seines Leidens attestiert werden: Auf das bitterste hat er es vergossen, wenn die Natur bedacht wird, denn umso zarter und edler die Natur und die Verbindung, desto empfänglicher ist sie für ihre Ver­ letzung, und in Folge dessen ist die zugefügte Strafe und ihre Empfindung grausamer. Aber es steht fest, dass die Zusammensetzung des Leibes Christi besonders zart war, weil der Heilige Geist der Baumeister war und er geformt war aus dem Blut der Jungfrau; und folg­lich war das Vergießen seines Blutes und die Zufügung der Strafen am allerbitterlichsten und deswegen sprach er: Gebt acht, nämlich geistig, und sehet, sinnlich, ob es einen ähn­li­chen Schmerz wie meinen Schmerz gibt. Als spräche er: Nein.533

Unterabschnitt 17 (Quid in vulneribus Christi quaerendum?) ist durchdrungen von alt­testa­mentlichen Bezügen.534 Unvermittelt wird der Leser als amica Christi apostrophiert, welche, der Taube aus Hl 2,14 und dem Spatz aus Ps 83,4 gleich, 530 

Vgl. ebd., Z. 51–54. Vgl. Jes 53,2 (Vg.) sowie Ludolf, Vita Christi II, 139, l. Sp. Z. 55–139, r. Sp., Z. 1. 532  So etwa Aristoteles: „[…] das Weibchen liefert stets den Stoff, das Männchen dasjenige, was es formt, denn dies ist die Kraft, von der wir sagen, dass sie jeder von uns besitze, und dies ist es, was es bedeutet, Männchen oder Weibchen zu sein […]. Während der Leib vom Weibchen herrührt, ist es die Seele, die vom Männchen stammt“ (Aristoteles, zit. nach Laqueur, Leib, 44). 533  Acerbissime fudit, si consideretur natura, nam quanto natura et complexio est nobilior et delicatior, tanto est suae laesionis perceptibilior, et per consequens poena inflicta, et ejus sensibilitas est acerbior. sed constat quod complexio corporis Christi fuit delicatissima, quia Spiritus Sancti artificio, de Virginis sanguine formata; et ergo sui sanguinis effusio et poenarum illatio fuit acerbissima, et ideo dicit: Attendite, scilicet mentaliter; et videte, sensibiliter, si est dolor similis, sicut dolor meus. Quasi diceret: Non.“ (Ludolf, Vita Christi II, 139, r. Sp., Z. 1–15) Die Unvergleichlichkeit des Schmerzes fasst Ludolf abschließend in die Verse aus den Klageliedern (Klg 1,12). 534  Besonders hervorstechend für den gesamten Abschnitt ist eine wahre Metaphernflut 531 



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aufgefordert wird, in den Höhlen des Felsens zu nisten: „Erhebe dich also, Freundin Christi, sei wie die Tau­be, die in den höchsten Gefilden in Höhlen nistet, dort, wie ein Spatz, der ein Haus ge­fun­den hat, hörst du nicht auf zu wachen“.535 Dass mit dem Felsen der Leib Christi, mit den Höhlen seine Wunden gemeint sind, ergibt sich aus dem Folgenden: „[D]ort, wie die Turteltaube, verberge die Jungen der reinen Liebe; dort senke den Mund, auf dass du die Wasser der Quellen des Heilandes trinkst.“536 Überdies wird die Seitenwunde zugleich als Quellgrund des Paradiesstromes (Gen 2,10) sowie – wie bereits in Unterabschnitt 14 – als rettender Eingang zur Arche (Gen 6,16) um­schrieben: Hier nämlich ist die Quelle, welche in der Mitte des Paradieses entspringt, die, in fromme Herzen ausgegossen, die gesamte Erde befruchtet und befeuchtet. Sieh die Pforte in der Seite der Arche, durch die die Tiere eingegangen sind, welche nicht durch die Sintflut umkommen sollten.537

Den Gedanken der Errettung vor dem Untergang führt Ludolf, erneut an die Bilder der Höhlungen im Felsen und der Höhlung der Felswand anknüpfend, fort und individua­li­siert ihn. Nunmehr geht es darum, am Tage des eigenen Todes Zuflucht zu suchen: „Strebe nun also nach den Höhlen jenes Felsens und der Höhlung der Lehmwand und am Tage deines Untergangs laufe zurück und sei in ihnen geborgen, dass du dort vermagst, Weide zu finden und dem Rachen der Löwen zu entkommen.“538 Ganz der Bildsprache des Hoheliedes verpflichtet, ja dieses in weiten Teilen direkt zitie­rend, ist die nun anschließende Passage, die Ludolf von Anselm von Canterbury entlehnt. Honig­wabe und Honig, Wein und Milch, die Köstlichkeiten des bräutlichen Liebes­mahls539 wandeln sich (convertitur/mutatur) in die Sakramente der Kirche: aus dem Cantica Canticorum, was allein angesichts Ludolfs intensiver Bernhard-Rezeption nicht erstaunt. 535  Surge ergo, amica Christi, esto sicut columba nidificans in summo ore foraminibus, ibi, ut passer inveniens domum, vigilare non cesses (Ludolf, Vita Christi II, 139, r. Sp., Z. 17–22). 536  […] ibi, tamquam turtur, casti amoris pullos absconde; ibi os appone, ut haurias aquas de fontibus Salvatoris (ebd., Z. 22–24). Zum Bild der nistenden Taube mit ihren Jungen vgl. Ps 83,4 (Vg.): […] etenim passer invenit sibi domum et turtur nidum sibi ubi ponat pullos suos altaria tua Domine virtutum rex meus et Deus meus. Das Motiv des Wasserschöpfens aus den Heilsquellen entstammt Jes 12,3 (Vg.): […] haurietis aquas in gaudio de fontibus salvatoris. 537  Hic enim est fons egrediens de medio paradisi, quia in corda devota diffusus, foecundat et irrigat universam terram. Ecce ostium in latere arcae, quo intrant animalia non peritura diluvio (Ludolf, Vita Christi II, 139, r.  Sp., Z. 25–29). Vgl. dazu Gen 6,16 (Vg.): […] fenestram in arca facies et in cubito consummabis summitatem ostium autem arcae pones ex latere deorsum cenacula et tristega facies in ea. Vgl. dazu auch Röm 5,5 (Vg.). 538  Ad hujus ergo petrae foramina, et maceriae cavernam stude nunc, et in die exitus tui recurre, et in eis latita, ut ibi valeas pascua invenire, et ora leonum evadere (Ludolf, Vita Christi II, 139, r.  Sp., Z. 29–33). Mehrere Bibelstellen mögen hierbei den Bezugsrahmen darstellen; zur Metapher der Felsenhöhle(n) vgl. Ex 33,22 (Vg.); bes. jedoch Hl 2,14 (Vg.) (columba mea in foraminibus petrae in caverna maceriae); zur Weide Joh 10,9 (Vg.) sowie zum Rachen der Löwen Ps 21,22 (Vg.) und möglicherweise Dan 6,22 (Vg.). 539  Vgl. die Anleihen aus Hl  5,1 (Vg.): Veniat dilectus meus in hortum suum et comedat

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Daher [sagt] Anselmus: „Eile, säume dich nicht! Iss deine Honigwabe mit deinem Honig; trink deinen Wein mit deiner Milch. Das Blut wird dir in Wein verwandelt werden, dass du berauscht wirst; in Milch wird das Wasser verwandelt werden, damit du ernährt wirst.“540

Auch bei Anselm ist der verwundete Leib Christi der durchlöcherte Felsen; seine Seiten­wunde und seine Wunden sind jedoch nicht allein der Ort des Ernährtwerdens, sondern auch Schauplatz inniger unio: Im Fels sind dir Löcher bereitet, in seinen Gliedern Wunden; und in der Lehmwand seines Körpers deine Höhlungen, in welchen du nach der Art der Taube dich verborgen hälst und jede einzelne [Wunde] küsst; aus seinem Blute werden deine Lippen wie ein scharlachrotes Band und dein Mund süß.541

Das unmittelbar daran anschließende Gregorius-Zitat setzt  – ebenfalls die Metaphern des Hohe­liedes verwendend – noch einmal eigene Akzente. Es ruft zur Versenkung in die Wun­den, näherhin in die Seitenwunde auf, um in der Vergegenwärtigung des Kreuzes­leidens die Geduld Christi nachzuahmen und nicht zuletzt um dort heilbringende Nahrung zu finden. Dieser Weg, so betont der Kirchenvater, stehe auch der einfachen Seele (simplex anima) offen.542 Securitas, protectio und consolatio – unter diesen Schlagworten fasst Ludolf selbst die in Christi Wunden zu suchenden Heilsgüter. Die Momente der Sicherheit, des Schutzes und des Trostes werden nun in den Worten des Bernhard von Clairvaux beziehungsweise des Augustinus näher illustriert: Die Wunden des Heilands werden zur sicheren Wohnstatt, in welcher Christus die Seele umso fructum pomorum suorum veni in hortum meum soror mea sponsa messui murram meam cum aromatibus meis comedi favum cum melle meo bibi vinum meum cum lacte meo comedite amici bibite et inebriamini carissimi. 540  Unde Anselmus: ‚Festina, ne tardaveris; comede favum tuum cum melle tuo; bibe vinum tuum cum lacte tuo. Sanguis tibi in vinum convertitur, ut inebrieris; in lac aqua mutatur, ut nutriaris.‘ (Ludolf, Vita Christi II, 139, r. Sp., Z. 33–38). 541  ‚Facta sunt tibi in petra foramima, in membris ejus vulnera; et in corporis ejus maceria, tua caverna, in quibus instar columbae latitans et deosculans singula, ex sanguine ejus fiant sicut vitta coccinea labia tua, et eloquium tuum dulce‘ (ebd., Z. 38–45). Vgl. dazu Hl 2,14 (Vg.) sowie auch Cant Solomon 4,3 (Vg.): [S]icut vitta coccinea labia tua et eloquium tuum dulce. 542  „Darum [sagt] auch Gregorius: ‚In den Höhlungen des Felsens hätte ich gern die Wunden der Hände und Füße des am Kreuz hängenden Christus erkannt; in der Höhlung der Fels­ wand jedoch die Seitenwunde, die durch die Lanze gemacht wurde; von ihr hätte ich in eben diesem Sinn gesagt: es wird gesagt, dass es gut ist, in den Höhlungen des Felsens und in der Höhle der Felswand zu sein. Denn wie durch die Erinnerung des Kreuzes die Geduld Christi nachgeahmt wird, und so wie man dieselben Wunden durch ein Bild der Erinnerung zuführt, so findet auch die einfache Seele in den Wunden Nahrung, wodurch sie gesundet – gleich wie eine Taube in den Öffnungen.‘ – so Gregorius.“ Unde et Gregorius: ‚Per foramina petrae, vulnera manuum et pedum Christi in cruce pendentis libenter intellexerim, cavernam vero maceriae, vulnus lateris, quod lancea factum est, eodem sensu dixerim: et bene in foraminibus petrae, et in caverna maceriae, esse dicitur, quia dum in crucis recordatione patientiam Christi imitatur, dum ipsa vulnera, propter exemplum, ad memoriam reducit, quasi columba in foraminibus, sic simplex anima in vulneribus nutrimentum, quo convalescat invenit:‘ haec Gregorius (Ludolf, Vita Christi II, 139, r. Sp., Z. 45–140, l. Sp., Z. 4).



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gewisser erretten kann, je sicherer sie dort ihre Wohnung nimmt („Und in der Tat, wo befindet sich denn für Schwache sichere und stärkende Ruhe, wenn nicht in den Wunden des Heilands? Umso sorgloser ich dort wohne, desto mächtiger ist jener, [mich] zu erretten.“).543 Schutz vor aller Anfechtung findet die Seele in ihrer Grün­dung auf dem sicheren Felsen;544 bleibende Trö­stung des Gewissens trotz begangener Sünde schenkt das Eingedenksein der Wunden Christi: „Ich habe eine schwere Sünde begangen, beunruhigt sich das Gewissen, aber es bleibt doch nicht gänzlich verwirrt, weil ich mich der Wunden des Herrn erinnere.“545 Diese Wunden, so betont Ludolf mit Jes 53,5 (Vg.), wurden Christus ja um unserer Ver­ feh­ lun­ gen willen beigefügt.546 Angesichts der Lösegewalt des Todes Christi verliert nun­mehr selbst der Tod seine Schrecken, wie Ludolf in einer tröstlichen rhetorischen Frage darlegt: „Welcher Grund für unseren Tod ist denn so beschaffen, dass er nicht durch den Tod Christi aufgelöst wird?“547 Der Gedanke an diese Errettung, so Ludolf, wirke in der Gesinnung des Menschen gleich einem mächtigen Heilmittel, das gegen alle Ängste wappne und jeder Heilsungewissheit das Wort verbietet: „Wenn also in unsere Gesinnung ein solch mächtiges und solch wirkkräftiges Heilmittel gekommen ist, kann ich von keiner noch so großen Krankheit mehr erschreckt werden.“548 Noch einmal unterstreicht Ludolf das Angewiesensein des Menschen auf Gott und fasst diese Abhängigkeit in eine somatische Metapher: „Ich aber nehme das, was mir aus mir selbst heraus gebricht, glaubend aus den Eingeweiden des Herrn in Anspruch; weil sie über­fließen von Barmherzigkeiten und es fehlen auch nicht die Löcher, aus welchen sie heraus­fließen.“549 Die fünf Wunden des Schmerzensmannes fungieren dabei als Öffnun­gen zum Innersten der Süße Gottes: Sie haben die Hände und Füße durchbohrt und die Seite haben sie mit einer Lanze durchstochen; und durch diese Ritzen ist es mir erlaubt, Honig vom Felsen zu saugen 543  Et revera, ubi tuta firmaque infirmis requies, nisi in vulneribus Salvatoris? Tanto illic securior habito, quanto ille potentior est ac salvandum (ebd., Z. 9–13). 544  „Es tobe die Welt, es schmerze der Leib, es lauere der Teufel; ich falle nicht, denn ich bin gegründet auf einem starken Felsen.“ Fremit mundus, premit corpus, diabolus insidiatur; non cado, fundatus enim sum supra firmam petram (ebd., Z. 13–15). 545  Peccavi peccatum grande, turbabitur conscientia; sed non pertubabitur, quoniam vulnerum Domini recordabor (ebd., Z. 16–19). 546  Vgl. ebd., Z. 19 f.: Nempe, ipse vulneratus est propter iniquitates nostras. 547  Quid tam ad mortem, quod non Christi morte salvatur? (Ebd., Z. 20–22). 548  Vgl. ebd., Z. 22–25. 549  Ego vero fidenter quod ex me deest, usurpo mihi ex visceribus Domini; quoniam misericordiae affluunt, nec desunt foramina per quae effluant (ebd., Z. 25–29). Bei der Wendung quod ex me deest handelt es sich wohl um ein Diktum vulgare des Kirchenvaters Augustin; vgl. zum Verständnis dieses Diktums im Kontext der Augustinrenaissance im Mittelalter ausführlich Oberman, Werden und Wertung, 100 (Anm. 68); 121 und passim. Zur Herkunft des Diktums konstatiert ders., Spät­scho­lastik, 126: „Soweit wir feststellen können, geht die Lehre des facere quod in se est auf Ambrosius zurück.“

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und Öl vom härtesten Gestein, das heißt, zu schmecken und zu sehen, wie freundlich der Herr ist.550

Jene Offenheit, jene Zugänglichkeit Gottes wird nun in den Worten Bernhards besungen: „Offen steht das Geheimnis des Herzens durch die Höhlungen des Körpers, offen steht jenes große Sakrament der Frömmigkeit, offen liegen die Eingeweide der Barmherzigkeit unseres Gottes, in welchen uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe.“551 Die Wunden Christi und insbesondere seine Seitenwunde verwandeln das Arcanum in das Offenbarte, das Ferne in das unsagbar Nahe. Die Wunden erscheinen wie Fenster zu den Eingeweiden Christi, aus denen dessen Süße, seine Milde und sein Erbarmen leuchten, das auch die Ent­ fernten und Verdammten zu erreichen vermag; ihnen wohnt also eine Heilskraft inne, die alle menschlichen Kategorien überwältigt und aufhebt: Sicherlich liegen die Ein­ge­weide durch die Wunden offen! Wo nämlich leuchtet es klarer hervor als aus deinen Wun­den, dass du, Herr, süß und mild bist und voller Erbarmen? Denn größere Barmherzigkeit und Liebe hat niemand als der, der seine Seele hingibt für seine Freunde. Du, Herr, hast größere gehabt, der du deine Seele auch für die Entfernten und Verdammten hingegeben hast.552

Angesichts jener Barmherzigkeit, die alles menschliche Tun weit überschreitet, ist das ein­zi­ge Verdienst das Mitgefühl mit dem leidenden Christus: Meum proinde meritum, miseratio Domini.553 Im Folgenden weist Ludolf mit Bernhard auf den paradox erschei­nen­den Konnex zwischen überbordender Sündenschuld und überbordender Gnade hin: Freilich, wo die Vergehen zahlreich geworden sind, dort ist auch die Gnade im Überfluss vorhanden. Und wenn ich der Gnade des Herrn von Ewigkeit an und bis in Ewigkeit teil­haftig bin, werde ich auch von der Barmherzigkeit des Herrn in der Ewigkeit singen. Welche Menge der Süße in den Höhlungen des Felsens, welche Fülle der Gnade und welche Vollkommenheit der Tugenden!554

550 

Foderunt manus et pedes, latusque lancea perforaverunt; et per has rimas licet mihi surgere mel de petra, oleumque de saxo durissimo, id est gustare et videre, quoniam suavis est Dominus (Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 25–34). Vgl. Deut 32,13 (Vg): [U]t sugeret mel de petra oleumque de saxo durissimo sowie Ps 33,9 (Vg.): [G]ustate et videte quoniam suavis est Dominus. 551  Patet arcanum cordis, per foramina corporis; patet magnum illud pietatis sacramentum; patent viscera misericordiae Dei nostri, in quibus visitavit nos oriens ex alto. Quidni viscera per vulnera pateant! (Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 35–41). 552  Quidni viscera per vulnera pateant! In quo enim clarius quam in vulneribus tuis elucet, quod tu, Domine, suavis et mitis es, et multae misericoridae? Majorem enim miserationem et dilectionem nemo habet, quam ut animam suam ponat quis pro amicis suis: Tu, Domine, majorem habuisti, quia animam tuam etiam posuisti pro abditis et damnatis (ebd., Z. 39 – r. Sp., Z. 2). Vgl. auch die entsprechenden Bibelzitate Ps 85,5 (Vg.); Joh 15,13 (Vg.). 553  Ludolf, Vita Christi II, 140, r. Sp., Z. 2 f. 554  Ebd., Z. 4–16.



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Wie auch Unterabschnitt 14 endet Quid vulneribus Christi quaerendum? mit einem Ge­bet, in dem Christus um seines vergossenen Blutes willen um Beistand in der Todes­stun­de und am Tage des Gerichts angefleht wird: O Herr, wie dein Blut herausgeflossen ist, unsere reiche Erlösung, so verlass mich nicht in der Stunde des Todes und lass mich am Tage des Gerichtes nicht mit den Gottlosen zugrunde gehen; geselle mich aber, der ich durch dein heiliges Blut erlöst bin, deinen Erwählten bei.555

Was aber erfleht der Beter für die Spanne bis zu seinem Tode? Zu Lebzeiten gibt es für ihn offenbar nur einen Zufluchtsort und eine heilsame Medizin: den verwundeten Leib Christi und dessen verwundende Liebe. Und so fährt Ludolf fort: „[…] indem du mich in der Zwischenzeit in den Höhlungen des Felsens birgst und in der Höhle der Felswand und dadurch, dass du mich mit deiner Liebe verwundest, damit ich durch die Liebe matt werde.“556 Diese Liebe, die den Frommen mit Christus vertraut macht, entfremdet ihn zugleich der Welt.557 Mit Hl 8,6 endet das Gebet: „Denn stark wie der Tod ist deine Liebe; und Leidenschaft hart wie das Totenreich.“558 Im letzten Unterabschnitt (Dispositio corporis Christi in cruce positi) des für die vorlie­gen­de Untersuchung relevanten Kapitels De Nona, in Passione Domini lenkt Ludolf noch einmal den Blick des Lesers auf den Leib Christi am Kreuz. In dieser Betrachtung, so der Kartäuser, könne der Leser Hoffnung und Zuversicht gewinnen: „Bedenke nun wohl die Anordnung des Leibes Christi am Kreuz stehend, weil du aus dieser Sache einen reichen Gewinn an Hoffnung und Zuversicht haben wirst“.559 Die von Bernhard entlehnte Passage stellt dies plastisch dar – sie zeichnet gleichsam das Bild des gekreuzigten Christus in all seinen beredten Aspekten: Wer wird wohl nicht zur Hoffnung gerissen werden und dazu, Vertrauen zu fassen, der seine Aufmerksamkeit richtet auf die Anordnung seines Leibes? Sieh das zum Kuss sich neigende Haupt, die zur Umarmung ausgebreiteten Arme, die Hände durchbohrt, um reichlich zu geben, die Seite eröffnet, um zu lieben, die Durch­boh­rung der Füße, um bei uns zu bleiben.560 555  O Domine, sicut exivit sanguis tuus, copiosa redemptio nostra, non permittas me in hora mortis, vel in die judicii perire cum impiis; sed me tuo pio cruore redemptum aggrega cum electis tuis (ebd., Z. 17–22). 556  Ebd., Z. 22–25: […] abscondendo me interim in foraminibus petrae, et in caverna macariae, et vulnerando me caritate tua, ut amore langueam. 557  Qui enim vere te diligit, pro te vulneratur et languet; et donec te videat, a mundi actionibus est velut mortuus alienus (ebd., Z. 26–28). Zum Motiv des Krankseins vor Liebe vgl. Hl 2,5; 5,8 (Vg.). 558  Fortis est, enim, ut mors, dilectio tua; et dura velut infernus aemulatio (Ludolf, Vita Christi II, 140, r. Sp., Z. 28–30). 559  Considera nunc bene corporis Christi, in cruce positi, dispositionem; quia ex hoc in spem et fiduciam rapieris majorem […] (ebd., Z. 32–35). 560  Quis non rapiatur ad spem, et ad impetrandi confidentiam, qui ejus attenderit corporis dispositionem? Vide caput inclinatum ad osculum, brachia extensa ad amplexum, manus per-

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In der Haltung des Körpers,561 so fährt Ludolf fort, weiterhin auf Bernhard rekurrierend, lasse sich die Zuwendung, die Er­niedri­gung Gottes zu den Menschen ablesen. De nona endet mit einem Gebet, in welchem die Seitenwunde Christi und ihr Spiegelbild – die Liebeswunde des Menschen – noch einmal besonders in den Vordergrund rücken. Das zweigeteilte Gebet widmet beiden Verwundungen je einen Abschnitt und bezieht sie in unmittelbarer Weise aufeinander. Der erste Teil des Gebets, der die Ereignisse der neunten Stunde, Jesu Todesstunde am Kreuz, zusammenfasst, endet mit der Durchbohrung der Seite Jesu: Herr Jesus Christus, der du in der neunten Stunde am Kreuz hängend und mit lauter Stimme rufend deinen Geist in die Hände des Vaters befohlen hast, und mit geneigtem Haupt den nämlichen Geist ausgehaucht hast, und der du, bereits gestorben, die Wunde der Seite durch die Lan­ze eines Soldaten empfangen hast […]562

Im zweiten Abschnitt wird nun die eigentliche Bitte vorgebracht, die den Gesetzmäßigkeiten der mittelalterlichen compassio und der imitatio verpflichtet ist und auf jenes heilsgeschichtliche Grunddatum der Verwundung Gottes aus Liebe antworten möchte: […] mache mich würdig, so bitte ich, nun und allezeit, meinen Geist dir anzubefehlen und durch das Schwert der Liebe mein Herz zu ver­wunden; schreibe [in mein Herz] die Wunden deines Körpers ein, damit durch diese uner­laub­te Gedanken von ihm abgehalten werden, so dass ich schließlich an meinem Lebensende meinen in deine Hände gelegten Geist mit seligen Seelen vereinen darf. Amen.563

Es wird Aufgabe des zweiten Hauptteils dieser Arbeit sein, die vielschichtigen Facetten der in der Vita Christi des Ludolf von Sachsen sich manifestierenden Seitenwunden­fröm­mig­keit nachzuzeichnen, dieselben zu reflektieren und zu analysieren.

foratas ad largiendum, latus apertum ad diligendum, pedum affixionem ad nobiscum manendum (ebd., Z. 36–44). 561  corporis extensionem ad se totum nobis impendendum (ebd., Z. 44–46). „die Ausstreckung des Körpers, um sich von oben ganz zu uns herabzuneigen.“ 562  Domine Jesu Christe, qui hora diei nona pedens in patibulo, et clamans voce magna, in manus Patris spiritum commendasti, et, inclinato capite, eumdem spiritum emisisti, et jam mortuus vulnus lateris, de lancea militis suscepisti (ebd., Z. 47–50). 563  [D]ignare, quaeso, nunc et semper, spiritum meum tibi commendatum habere, et gladio caritatis cor meum transverberare, eique vulnera tui corporis imprimere, et per haec, cogitationes illicitas ab ipso repellere, ac tandem in fine vitae meae, spi. ritum meum in manus tuas commendatum, cum beatis spiritibus collocare. Amen (ebd., Z. 50–141, Z. 4).



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2.2  Auf der Bühne des Glaubens – Die Seitenwundenfrömmigkeit im Kontext spätmittelalterlicher Performanzen: Die Vita der Elisabeth von Spaalbeeck, die „Frankfurter Dirigierrolle“ und das „Frankfurter Passionsspiel“ Verfolgte der voranstehende Abschnitt die Absicht, exemplarisch darzulegen, in welcher Weise eine Verehrung der Seitenwunde Christi ihren Niederschlag in mystisch-kontem­pla­tiven Texten finden konnte, die einen Beitrag zur Ausbildung einer Theologie der Seitenwunde leisteten, soll im Folgenden das Augenmerk auf einen anderen Bereich gelenkt werden, in dem die Seitenwunde ebenfalls eine zentrale Rolle spielte, mithin auf den Bereich des Theatralen oder Performativen. Im Hintergrund steht die ge­nui­ne Nähe, die zahlreichen Überschneidungen zwischen dem Diskursfeld des Sakralen und des Theatralen, die sich an vielen Beispielen aufzeigen lässt. Besonders intensiv wurde diese Korrelation etwa mit Hinblick auf die mittelalterliche Liturgie untersucht.564 Wie etwa Jan-Dirk Müller konstatiert, lässt sich die Meßliturgie […] als Reihung thea­tra­ler Akte verstehen und wurde in Analogie zum Theater – mit dem Offizianten in persona Christi – interpretiert. […] Tendenzen zur Theatralisierung lassen sich auch an Formen ekstatischer Frömmigkeit beobachten, die die Imitatio Christi als buchstäblich-kör­per­hafte Nachahmung auffassen.565

Dass das theatrale Moment gerade in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit – sei sie nun individuell oder kollektiv gefasst – als tatsächlich allgegenwärtig gedacht werden muss, hebt Müller hervor, wenn er betont: Die Theatralität mittelalterlicher Frömmigkeit ist nicht auf Rituale, kollektive liturgische und paraliturgische Akte beschränkt. Auch die spätmittelalterlichen Formen individueller Devotion enthalten theatrale Elemente, ohne doch Theater zu sein. Dies gilt insbesondere für die Passionsfrömmigkeit. Me­ditations­tech­nik und ästhetische Praktiken setzen sich zum Ziel, den leidenden Christus der from­men Seele möglichst eindrücklich zu vergegenwärtigen. Der Gläubige soll sich vor­stellen, das Drama der Kreuzigung rolle vor seinen Augen ab […]. Das Heilsgeschehen soll auf einem imaginären Theater repräsentiert werden.566

Das Theatrale als Bestandteil, als ein Wesensmerkmal der christlichen Religiosität zu begreifen, ist jedoch keine moderne Erkenntnis. Bereits ein Text des frühen 12. Jahr­hunderts, die Passage De tragoediis im ersten Buch der Gemma Animae des Hono­rius Augustodunensis (1080–1154), vergleicht den Priester mit einem Schauspieler, der auf der Theaterbühne der Kirche agiert, um dort das Drama des Kampfes Christi und den Sieg der Erlösung zur Aufführung zu bringen: 564  Vgl. etwa die bei Müller, Realpräsenz, 113 (Anm. 1) aufgeführten Beiträge. Auf den Zusammen­hang zwischen Passionsspiel und Ikonographie verweist Touber, Passionsspiel. 565 Ebd. 566 Ebd., 127.

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Man muss wissen, dass diejenigen, die die Tragö­dien in den Theatern vortragen, durch ihre Gesten dem Volk das Geschehen der Kämpfe vorstellen. So repräsentiert auch unser Schauspieler den Kampf Christi vor dem Volk im Theater der Kirche durch seine Gesten und tritt ein für den Sieg ihrer Erlö­sung.567

Im 20. Jahrhundert ist es vor allem das Verdienst der Kulturwissenschaften, den Blick für die Relation zwischen sakralem und theatralem Diskursfeld geschärft zu haben. Als in den 70er Jahren der Ethnologe Victor Turner und der Theaterwissenschaftler und Re­gisseur Richard Schechner568 das Potential der gegenseitigen Interpretation zwischen Ritualforschung569 einerseits und Theaterwissenschaft andererseits aufzeigten,570 war dies ein wichtiger Impuls innerhalb der Kulturwissenschaften, der eine Bewegung auslöste, die gemeinhin als „performative turn“571 bezeichnet wird. Dabei spielte seit Mitte der 1970er Jahre das Theater als heuristisches Modell für die Geistes- und Sozial­wissen­schaften ebenso eine Rolle wie die breite Rezeption des Austinschen Konzeptes des Performativen in den Kulturwissenschaften.572 Die „Erforschung der Nahtstelle zwischen Ritual 567  Sciendum quod hi qui tragoedias in theatris recitabant, actus pugnantium gestibus populo repraesentabant. Sic tragicus noster pugnam Christi populo Christiano in theatro Ecclesiae gestibus suis repraesentat, eique victoriam redemptionis suae inculcat (ders., Gemma, col. 570). 568  Vgl. dazu die einschlägigen Veröffentlichungen Schechners, etwa Schechner, Between Theater and Anthro­pology; ders., Performance Theory sowie ders., Performance Studies. In der letztgenannten, jüng­sten Veröffentlichung bietet Schechner eine sehr übersichtliche, knappe Darstellung der relevanten Diskursrichtungen und deren Vertreter wie etwa Erving Goffman, John Langshaw Austin, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault und Judith Butler. 569 An dieser Stelle muss auf die Turnersche Ritualdefinition verwiesen werden, die Bachmann-Medick, Cultural Turns, 111 f. wie folgt zusammenfasst: „Rituale, so könnte man definieren, sind vom Nützlichkeitsprinzip des sozialen Lebens abgehoben. Sie sind symbolisch-expressive, kultische Handlungssequenzen, sakrale Zwischenphasen im Kontinuum des Alltagslebens oder mit kultureller Symbolik aufgeladene konventionalisierte symbolische Handlungsweisen. Eine solche Bedeutungs­auf­ladung […] fehlt hingegen bei Zeremonien. Und noch eine weitere Unterscheidung Turners ist hier ein­schlägig: ‚Ceremony indicates, ritual transforms.‘“ 570  Victor Turner hatte die Idee, seine in über zwei Jahren gesammelten Beobachtungen und ethno­lo­gischen Ritualforschungen beim Stamm der Ndembu im nordwestlichen Sambia mit seinen Studierenden direkt performativ nachzuvollziehen. Dies geschah im Rahmen eines Drama Workshop in New York in Zusammenarbeit mit Richard Schechner, Theaterwissenschaftler und Theaterdirektor. Bei der Umsetzung von Feldforschung in Rollenspiele ereignete sich nicht allein der unmittelbare Nachvollzug fremder Erfahrungen, sondern es wurde überdies die Affinität zwischen rituellem und theatralem Handeln deutlich gemacht; vgl. dazu die ausführliche Beschreibung des Projektes bei Turner, Dramatisches Ritual, 195–209 sowie Bachmann-Medick, Cultural Turns, 112–114. 571  Siehe dazu Köpping/R ao, Die „performative Wende“. 572  So etwa Hempfer/Pfeiffer, Vorwort, VII. Allgemein kann man sagen, dass der sogenannte performative turn die Wahrnehmung von kulturellen Vorgängen als Performanzen gestärkt und die bislang geltende reine Textzentrierung abgelöst oder doch zumindest ergänzt hat. Hier ist nicht der Ort, auf das unübersehbare Feld der performance studies einzugehen – eine instruktive Sammlung der relevanten Primärtexte liefert Wirth, Performanz. Angesichts des verwirrenden semantischen Feldes von Performanz, Performance und Performativität als



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und Theater“573, für welche die Namen Richard Schechner und Victor Turner stehen, hat sich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen als äußerst fruchtbar erwiesen.574 Dieser vorgängig, gleichsam als ein weiteres „Hauptgleis“ für die Ent­wick­lung der sogenannten performance studies, ist die handlungsbezogene Sprechakttheorie des Sprachphilosophen John L. Austin zu nennen.575 Bereits in den 50er Jahren hatte Austin das Augenmerk auf den performativen Charakter bestimmter Sprechakte gelenkt, näherhin solcher Sprechakte, „in denen etwas sagen etwas tun heißt, in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen“.576 Eine kirchenhistorische Beschäftigung mit einer von „leibhaftigen“ Vorgängen, Praktiken und Inhalten durchdrungenen spätmittelalterlichen Religiosität kann von dem breit ge­f ächer­ten interdisziplinären Interesse an ihren ureigensten Gegenständen profitieren, wie meines Erachtens der bereits 1999 „neuen kulturwissenschaftlichen Grundbegriffen“ (so Bachmann-Medick, Cultural Turns, 109) sei an dieser Stelle auf die Turner­sche Begriffsklärung bzw. Begriffsherleitung verwiesen: „Obwohl viele Sozialwissenschaftler die Begriffe Aufführung (performance) und Drama mißbilligen, scheinen sie von zentraler Bedeutung zu sein. Performance stammt […] vom mittelenglischen parfournen, später parfourmen, das auf das altfranzösische parfournir – par (‚gründlich‘) plus fournir (‚ausstatten‘) zurückgeht  –, deshalb hat Performance nicht unbedingt die strukturalistische Implikation der Formgebung, sondern eher den prozessualen Sinn von ‚zur Vollendung bringen‘ oder ‚ausführen‘“ (Turner, Ritual, 143). Erhellend erscheint mir auch eine Auflistung der Charakteristika von Performances in Fischer-Lichte, Performance, 41: „Der Begriff der Performance […] intendiert eben diese beson­deren Bedingungen: die Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, das Flüchtige und Transitorische, das Ereignishafte, Emergenz und Ambivalenz der Bedeutungen, das Entstehen von Spielräumen – und was sich aus diesen Bedingungen ergibt.“ Im Hinblick auf die Ablösung des Textmodells und das Verständnis des Perfomanz-Begriffes heben Martschukat/Patzold, Geschichtswissenschaft, 2 f. hervor: „Die kollektive wie kulturelle Selbstschöpfung durch Handlungsweisen, die in kollektiven Deutungsmustern gründen und diese Muster zugleich auch ihrerseits wieder begründen, hat in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften der letzten Jahre so viel Aufmerksamkeit erfahren, daß sogar von einem Paradigmenwechsel die Rede ist: von text- zu handlungsorientierten Betrachtungen. Zumindest, so die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte, müsse das Text-Modell notwendig durch ein Handlungs-Modell ersetzt werden.“ 573 Vgl. Turner, Dramatisches Ritual, 195. 574  Auch andere Disziplinen machen sich den performanztheoretischen Ansatz zu eigen: Für den profan­histo­rischen Bereich vgl. etwa von Hülsen-Esch, Inszenierung und Ritual; für den Bereich der Germanistik vgl. Müller, Aufführung, sowie die Bei­träge in Ziegeler, Ritual und Inszenierung. Für die neutestamentliche Exegese haben die Veröffentlichungen Christian Streckers als Pionierleistung zu gelten; in Sonderheit Strecker, Die limina­le Theologie sowie ders., Performative Welten. Vgl. ebd. bes. 2–65 mit einem umfassenden Überblick über die Bandbreite der Performanztheorien unter Berücksichtigung der sprachlichen, kommunikativen, kulturellen, ästhetisch-theatralen, sozialen sowie der wissen­schaft­lichen Performanz. 575  Vgl. dazu Bachmann-Medick, Cultural Turns, 107. 576 Vgl. Austin, Sprechakte, 35. Eine Übersicht über die Merkmale performativer Äußerungen findet sich ebd., 37. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 107 fasst Austins Überlegungen prägnant zusammen: „In bestimmten Akten des Sprechens  – so Austin  – werden bestehende Sachverhalte nicht nur im Modus der Aussage wiedergegeben, sondern geradezu erschaffen. Sprechen und Handlungs­voll­zug fallen in performativen Äußerungen bzw. Sprechakten zusammen, z. B. im Versprechen, Befehlen, Taufen.“

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von Mary A. Suydam und Joanna E. Ziegler edierte Aufsatzband „Performance and Transformation“ eindrücklich belegt. Dort widmen sich neben Theologen und Religionswissenschaftlern auch Anglisten, Ro­ma­nisten, Kunsthistoriker, Anthropologen, Philosophen sowie Mediävisten unter per­formanz­theoretischen Prämissen etwa dem Bereich des flämischen Beginentums,577 Maria von Oignes, Margarete von Kempe,578 Brigitta von Schweden, Thomas von Can­tim­pré, Richard Rolle, Elisabeth von Spaalbeeck und Margaretha Ebner.579 Ihre jeweiligen Untersuchungen fußen dabei auf den grundlegenden Arbeiten der anthro­ po­logischen Ritualforschung Victor Turners, Richard Schechners Performance Theory aber auch auf Manfred Pfisters Dramentheorie und den Ausführungen zu Ritual und Theater des Religionswissenschaftlers Ronald Grimes.580 Für die vorliegende Arbeit ist dieser Ansatz insofern inspirierend, als er Deutekriterien für die Untersuchung von Performanzen an die Hand gibt und grundlegend darauf auf­merksam macht, dass neben dem Medium „Text“ auch körperliches Agieren und leibhaftige Ausdrucksformen der spätmittelalterlichen Seitenwundenfrömmigkeit als gewich­tige Vermittlungswerkzeuge zur Verfügung standen und in ihrer Relevanz wahr­genommen werden müssen. Freilich gilt: „Körperlichkeit ist nur über Sprache […] erfahrbar und vermittelbar.“581 Dies im­pliziert, dass auch performative Zeugnisse nur in Form von Texten auf uns über­kom­men sind – dennoch scheint es mir entscheidend, dass sie Vorgänge beschreiben, in denen der Körper als Bedeutungsträger fungierte, als Botschafter einer Frömmigkeit, die selbst „leibhaftig“ ist.582 Dies erscheint umso gewichtiger, als für das ausgehende Mittelalter zu vergegenwärtigen ist, dass der überwiegende Teil der Frommen auf Medien der Frömmigkeits- und Glaubens­ver­mittlung angewiesen war, die eine Literalität nicht zur conditio sine 577 

Vgl. dazu Suydam, Beguine Textuality, 169–171. den Performanzen der Margarete von Kempe siehe auch Hopenwasser, Performance Artist, 97–131 (mit Literatur). 579 Vgl. Suydam/Ziegler, Performance and Transformation. Zum Erleben der Passionsmeditation als real körperliche, schmerzhafte Schwangerschaft durch Margarete Ebner vgl. etwa Camille, Mimetic Identification, 183. Zu den Performanzen der Margarete von Kempe vgl. Renevey, Performing Body. 580  Vgl. dazu die Hinweise auf die jeweiligen theoretischen Hintergründe in Suydam, Background, 2–10. 581  Lorenz, Vergangenheit, 11. Zur bleibenden Bedeutung des Körpers trotz des Vorgangs der Verschriftlichung vgl. auch Wolf, Inszenierte Wirklichkeit, 405, der bei seiner Untersuchung des Donaueschinger Passionsspieles von der Notwendigkeit des Textes als „Medium der Absicherung körperlicher Kommunikation“ spricht, die keineswegs „vom Ende des Körpers [kündete]“. An dieser Stelle soll immerhin kurz darauf verwiesen werden, dass Pierre Bourdieu und auch Judith Butler umgekehrt betonen, dass die Sprache selbst eine Körpertechnik darstellt; vgl. dazu ausführlich Strecker, Performative Welten, 16–18. 582 Das Performanzen eigene transitorische, flüchtige Moment (vgl. Fischer-Lichte, Performance, 41) entzieht sie selbst freilich jedweder tatsächlichen Fixierung. Insofern stehen dem Historiker in den schriftlichen Zeugnissen nur die Versuche einer „Dingfestmachung“ zur Verfügung. 578  Zu



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qua non erhob.583 Bei der hier intendierten Berücksichtigung spätmittelalterlicher Performanzen geht es folg­lich nicht nur darum, die These der Bandbreite und Omnipräsenz der Seiten­wunden­frömmigkeit aufzuzeigen, sondern darauf zu verweisen, dass theatrale Darstellun­gen „Inszenierungen von Frömmigkeit“ darstellten, die sich gleichsam voraussetzungslos an alle richteten.584 An dieser Stelle wurden – aus Gründen, die noch näher zu beschreiben sind – drei Bei­spie­ le performativer Zeugnisse aus drei Jahrhunderten ausgewählt. Gesondert dargestellt werden soll zunächst die Vita der Elisabeth von Spaalbeeck (1246–1304) die von einer individuellen, eigenwilligen Performanz der Seitenwunde zeugt, eine Per­formanz, die in Elisabeths theatralen Nachvollzug der gesamten Passion Christi einge­bettet ist. Daneben werden (auf Grund ihrer engen Zusammengehörigkeit) in einem Kapitel die ein­schlägigen Abschnitte zweier Texte der Hessischen Passionsspielgruppe – der „Frank­f ur­ter Dirigierrolle“ (ca. 1315–1345) sowie des „Frankfurter Passionsspieles“ (1493)585  – auf ihre jeweilige Inszenierung der Seitenwunde Christi hin untersucht.586 Die Beweggründe dieser Auswahl sind mannigfaltig: Als wichtiges Leitkriterium galt das Be­streben, trotz der notwendigen quantitativen Reduktion der Quellen zumindest auf eine größt­mögliche Unterschiedenheit ihrer Charakteristika zu achten. Sowohl die beiden Texte aus dem Bereich der Passionsspiele als auch die Vita der Elisa­beth von Spaalbeeck zeugen von einer theatralen Darstellung der Passion Jesu inklusive deren dramatischen Höhepunktes: der 583  Dabei konnte die theatrale Darstellung als eine besondere Form der bildlichen Darstellung präsentiert werden, etwa wenn zu Beginn des „Donaueschinger Passionsspiels“ den Zuschauenden verkündet wurde: Wy willen ju eyn bilde gheven. Vgl. dazu Largier, Scripture, 207. 584  Dieses Anliegen wird, wie zu sehen ist, besonders bei Elisabeth von Spaalbeeck eindrücklich artikuliert. „Voraussetzungslos“ bedeutet natürlich nicht eine völlige Unkenntnis der christlichen Tradition. 585  Im Folgenden benutze ich die gängigen Abkürzungen FD bzw. FP. 586 Gerade mit Blick auf die Passionsspiele ist die Fülle der möglichen Textbeispiele überwältigend, wie ein Blick in den von Rolf Bergmann erstellten Katalog der allein deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen eindrücklich zeigt: Etwa vierzig Passionsspiele bzw. Passionsspiel­frag­mente aus dem Spätmittelalter sind dort katalogisiert; vgl. Bergmann, Katalog, 27–34. Berücksichtigte man überdies auch den englischen Sprachraum, so würde die Fülle der potentiellen Quellen vollends unübersehbar: Man denke etwa an die entsprechenden Spiele des Chester Cycle oder an die Spiele aus York; vgl. dazu Happé, English Mystery Plays sowie ders., Medieval English Drama; Gib­s on, Theater of Devotion; sowie Ashley, Sponsorship, 9–24. Die hier getroffene Auswahl ver­dankt sich der Überlegung, dass vermittels der Dirigierrolle eine Quelle zur Verfügung steht, die durch ihre Gattung offenbart, wie sehr die mittelalterliche Spieltradition an der Inszenierung, der Darstellung der Szenen interessiert war; die Analyse des Frankfurter Passionsspieles mit dem voll­ständigen Spieltext rückt die gegebenen Konnotationen der Seitenwundenszene ins Blickfeld. Anre­gend erscheinen dabei sowohl die Verschiebungen als auch die Parallelen zwischen den beiden so eng verwandten Texten. Vgl. zur Bedeutsamkeit von Dirigierrollen als Bruchstücke einer „Interdependenz zwischen der Sprache der Körper und jener der Texte“ auch Wolf, Inszenierte Wirklichkeit, 381.

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Durchbohrung der Seite Christi. Jenseits dieses einenden Momentes fallen freilich die grundlegenden Unterschiede unmittelbar ins Auge, die zwischen der Seitenwunden-Performanz der Elisabeth von Spaalbeeck und dem Passions­ spiel beziehungsweise dem Regietext bestehen: Handelt es sich bei Elisabeths Perfor­ manz der Seitenwunde um einen außergewöhnlichen Einzelfall, der an bestimmte litur­gi­sche Zeiten gebunden ist, ist die Darstellung der Seitenwunde in FD sowie in FP fester Bestandteil einer institutionalisierten, beliebig wiederholbaren Theateraufführung. Begegnet man einmal der individuellen Persönlichkeit Elisabeths, deren einzigartiger Leib durch die Seitenwunde gezeichnet wird, ist die Seitwunde bei FD/FP losgelöst von einer bestimmten historischen Person, sondern kann auf die jeweiligen Jesusdarsteller der je konkreten Inszenierung übertragen werden. Findet man einmal das beinahe wortlose, körperzentrierte und damit vieldeutige Agieren der Begine, so hat man es in FD/FP mit einer visuellen Darstellung der Wunde zu tun, die jedoch durch den erläuternden Text des Theatermanuskriptes ergänzt und ausgedeutet wird. Ist die Seitenwunde Elisabeths Signum göttlicher Erwählung, wunderhaft und erstaun­lich, so ist deren Darstellung bei FD/FP schlicht Bestandteil bühnentechnischer Insze­nierung, die nicht den Eindruck des Wunders erwecken möchte, sondern vielmehr nach theatraler Illusion strebt, ohne das Moment der Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem vollständig aufzugeben.587 Konnte Elisabeth mit ihrer Darstellung nur eine stark begrenzte Zahl an Zuschauern erreichen, so ist davon auszugehen, dass die Passionsspiele über 587  Roeder, Gebärde, 96 f. unterstreicht die Distanz zwischen Darstellern und Rolle im mittel­alter­lichen geistlichen Spiel, die sich nicht zuletzt in einem Darstellungsstil äußert, in dem „die Gebärde niemals spontane ‚Ausdrucksbewegung‘, sondern Signal, hinweisendes Zeichen ist.“ Diese Distanz lasse sich auch ablesen an dem „Konjunktiv, in den fast alle Anweisungen gesetzt sind […]. [Dieser] bezeichnet das Tun niemals so unmittelbar wie der Indikativ. In ihm spiegelt sich eine reflektierende Haltung, die zwischen Gedanken und Ausführung unterscheidet. Darüber hinaus finden sich zahl­reiche Hinweise auf einen deiktischen, zeichenhaften Gebärdenstil, aus denen hervorgeht, daß eine Rolle, eine Handlung oder ein Gefühl nur ‚vorgegeben‘, angedeutet, signalisiert werden […]. Den Konjunktionen  – quasi, velut, sicut, tamquam  – entspricht in den volkssprachlichen Spielen das Bin­de­glied als ob“ (ebd., 98). Zu Ausnahmen dieser Regel etwa beim „Donaueschinger Passionsspiel“ vgl. jedoch Wolf, Inszenierte Wirklichkeit, 388 f. Dagegen sieht Grünberg, Das religiöse Drama, 181 im Hinblick auf die detailreichen Marterszenen m. E. zurecht folgende Gefahr: „Die Martergreuel werden mit peinlicher Beachtung aller naturalistischer Details vorgeführt, sodaß man fast sagen könnte, daß die Zuschauer beinah mehr eine große Folter- und Hinrichtungsexekution, diese beliebten Volksvergnügen jener Tage, vorgeführt erhielten, als eine heilige Begebenheit voll über­irdischer Größe und tiefster Mystik. Das Mimische hat das Religiöse fast verdrängt, wenn auch natürlich das Thema selbst die Grundidee der Kirche vorführt.“ Das Auskosten der Marterszenen ist etwa beim „Alsfelder Passionsspiel“ (AP) besonders deutlich; vgl. dazu AP  5566–5622; Wirth, Oster- und Passionsspiele, 232 konstatiert im Hinblick auf die Annagelung ans Kreuz: „Während nämlich das Annageln Christi an das Kreuz in früheren Stücken kurz erwähnt wird, läßt unser Verfasser 11, sage elf, Personen dabei Reden halten, Nagel für Nagel unter Zwischenpausen ein­schla­gen.“ Ähnlich auch Daxelmüller, Süße Nägel, 174, der betont, dass man „die Realitätsnähe der Passions­spiele keinesfalls unterschätz[en dürfe].“



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die Jahrhunderte hinweg eine große Breitenwirkung verzeichneten. Während Elisabeth ganz offenbar den Schmerz Christi am eigenen Leib nachempfindet, leidet der Jesusdarsteller der Inszenierung von FP/FD nicht.588 Jenseits der angeführten, fragmentarischen Beobachtungen lassen sich die ent­spre­chenden Texte auch in die von Richard Schechner entwickelte duale Klassifizierung von Per­formanzen einordnen, die auch Susan Rodgers und Joanna E. Ziegler in ihrer von per­formanz­theoretischen Überlegungen geleiteten Analyse des „Trance Dance of Faith“ der Elisabeth von Spaalbeeck übernehmen: Mit Schechner unterscheiden sie zwischen „trans­portative performances“ und „transformative performances“.589 Mit FD und FP wurden Beispiele einer sogenannten „transportative performance“ ausgewählt, die sich durch ihren überindividuellen Charakter, ihre Wiederholbarkeit, das Moment der bewussten Rollenübernahme (sowie das Ablegen derselben am Ende der Aufführung) auszeichnen und für die das klassische westliche Theater exemplarisch ist.590 Elisabeth von Spaalbeecks Passions-Performanz, die auch die Erscheinung der Seiten­wun­de an ihrem Körper umfasst, ist meines Erachtens der Kategorie der „transformative per­formances“ zuzuordnen.591 In solchen werden die Akteure einem gravierenden Um­ge­stal­tungsprozess unterworfen: Specifically transformative performances, however, are more religiously loaded events […]. Here, the protagonist goes through a process of gradually becoming-the-god. The mythic implications and timescape dimensions of the performance scene are obviously much weightier here.592 588  Müller, Realpräsenz, 132 hält fest: „Der Spieler leidet […] nicht. Wenn ihm tatsächlich Schmerz widerführe, wäre dies ein Unfall. Er soll Schmerz darstellen, damit der Zuschauer mittels des Vorge­f ühr­ten Schmerz imaginieren kann.“ 589  Vgl. dazu sehr ausführlich Schechner, Between Theater, 117–150 sowie einen stark gerafften Überblick über beide Formen bei Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 322. 590 „In transportative performances (the strongest example of which would be a fairly traditional Western-style theatrical play), the performers enter a performance space and time temporarily shuck off their normal selves, ‚take up a role‘, play it and then return to their starting point at the end of the performance“ (ebd.). 591  Mit Jan-Dirk Müller ist auch für Elisabeth von Spaalbeeck festzuhalten, dass als das Ziel ihres actus conformationis sicher nicht Illusion, sondern Transformation anzunehmen ist; vgl. zum Unter­schied zwischen frommer Mimesis und Schauspiel ausführlich Müller, Realpräsenz, 128 f. 592  Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 322. Neben den fundamentalen Unterschieden gibt es auch Gemein­samkeiten – so etwa die Notwendigkeit einer innerlichen Vorbereitung auf den Rollen­wechsel. Rodgers und Ziegler weisen darauf hin, dass insbesondere der Rückzug aus einer „trans­por­tative performance“ in das „normale Selbst“ ungleich viel schwerer und risikoreicher zu beurteilen ist als bei einer „transformative performance“: „[B]oth types of events demand a certain cooling-down process to help the actor or ritualist safely re-enter normal space and time again and take up his or her regular social persona. However, this phase is a more spiritually dangerous undertaking in fully trans­formative events. In these, divinity and a foundational past time have been temporarily re-pres­ented for protagonists and audience“ (ebd.).

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Wie bereits in Abschnitt A.2.1 kann auch hier auf die Fülle der möglichen Quellen­ bei­ spie­ le unterschiedlichster Performanzen, die Zeugnis für die spätmittel­alter­li­che Sei­ten­wun­den­frömmigkeit ablegen, angesichts der Unmöglichkeit einer vollständi­gen Berück­sich­tigung nur mit Bedauern hingewiesen werden. Dennoch bleibt zu hoffen, dass die ausgewählten Quellentexte zumindest ihre Verweis­f unk­tion erfüllen: Dass neben Wort und Bild auch der Leib als Schauplatz der spät­mittel­alter­lichen Seitenwundenfrömmigkeit zu berücksichtigen ist. 2.2.1  Die Seitenwunde in der Passionsperformanz der Elisabeth von Spaalbeeck 2.2.1.1  Biographische Notizen zu Elisabeth von Spaalbeeck (1246–1304) Folglich bildet unsere Jungfrau, deren ganzes Leben ein Wunder ist […] nicht allein Christus und denselben als Gekreuzigten mit ihrem Körper ab, sondern auch den mystischen Leib Christi, nämlich die Kirche, stellt sie dar.593

Über den Werdegang und die Lebensumstände der Elisabeth von Spaalbeeck (1246–1304) ist der Nachwelt kaum etwas bekannt. Dies mag auf den ersten Blick erstaunen, existiert doch eine in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch Philipp von Clair­vaux594 verfasste Vita dieser ungewöhnlichen Frau, deren Frömmigkeit Susan Rodgers und Joanna E. Ziegler als „one of the most intriguing and unusual examples of medieval women’s mysticism“595 bezeichnen. Die Existenz von etwa zehn Kopien des lateinischen Manuskriptes sowie eine aus dem 14. Jahrhundert stammende Übersetzung ins Mittelenglische596 zeugen von einer gewis­sen Kontinuität des Interesses an Elisabeth von Spaalbeeck, obschon ihre Vita keinen Ein­gang in die Vitensammlung des Chrysostomos Henriquez oder in die Acta Sanctorum der Bollandisten gefunden hat.597 Bis in die Gegenwart hinein konnte die niederländische Mystikerin jedoch nicht 593  Nostra igitur virgo, cujus tota vita miraculum […] non solum Christum et ipsum crucifixum in suo corpore, sed etiam Christi corpus mysticum, id est Ecclesiam, effigiat et exponit (Philipp von Clairvaux, Vita, 378, Z. 25–28). Hier wie im Folgenden zitiere ich nach der Vita Elisabeth Sanctimonialis in Erkenrode, Ordinis Cisterciensis, Leodiensis Dioecesis des Abtes Philipp von Clairvaux wie sie im Catalogus Codicum Hagiographicorum Bibliothecae Regiae Bruxellensis, vol. I (Brussels 1886), 362–378 abgedruckt ist. 594  Zu Philipp von Clairvaux vgl. Njus, Politics of Mysticism, 301. 595  Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 299. 596  Die von C. Horstmann im Jahre 1885 in der Zeitschrift „Anglia“ edierte mittelenglische Fassung ist mir leider nicht zugänglich. Einige wenige Auszüge des Manuskriptes „Oxford Bodley Douce 114“ liegen mir etwa durch Rebecca Clouse’s einschlägige Veröffentlichung „The Virgin Above the Writing in the First Vita of Douce 114“ vor. In der folgenden Quellenanalyse ist notgedrungen allein die mir zugängliche lateinische Fassung Gegenstand der Untersuchung, so interessant ein verglei­chen­der Blick auf die mittelenglische Übersetzung wäre. 597 Vgl. Simons, Reading, 10, der jedoch darauf hinweist, dass die letztere der beiden Sammlungen immerhin den Tag ihrer kultischen Verehrung nennt.

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den Bekanntheitsgrad einer Christina Mirabilis598, Maria von Oingt oder gar Katharina von Siena599 verzeichnen, allesamt ebenfalls Protagonistinnen der mittelenglischen Handschrift „Oxford Bodley Douce 114“, die auch Elisabeths Vita enthält.600 Die Kanonisierung „in a scholarly sense“, die Rodgers und Ziegler eben jenen genannten Mystikerinnen attestie­ren, blieb Elisabeth versagt.601 Eine wichtige Schlüsselrolle mit Blick auf eine Verstärkung der Wahrnehmung der nie­der­ländischen Mystikerin kommt Caroline Bynum zu, die sie in verschiedenen Publika­tio­nen der frühen 90er Jahre immerhin kurz erwähnt.602 Im deutschsprachigen Raum nahmen sich Peter Dinzelbacher603 und im Anschluss daran Arnold Angenendt Elisabeths an, letzterer, indem er unter dem Stichwort „Emotionalisierung und Passions­betrachtung“ eine deutsche Übersetzung einer Passage aus Elisabeths Vita bietet.604 Eine intensivere Beschäftigung mit Elisabeth von Spaalbeeck setzte erst in den vergan­ge­nen Jahren ein, wobei vor allem Forscherinnen und Forscher auf den Plan getreten sind, die sich zumeist interdisziplinären Zugängen verpflichtet fühlten und mit Hilfe von kultur­ anthro­ po­ logischen, beziehungsweise performanztheoretischen Beiträgen auf­schluss­reiche Deutun­gen der in Elisabeths Vita dokumentierten „mimetische[n] Nachahmung der Leidens­geschichte in Trance“605 liefern.606 Meines Erachtens gelingt auf diesem Wege eine Beschrei598 

Eine englische Übersetzung der Vita der Christina legte unlängst Barbara Newman vor; vgl. dazu Newman, Collected Saint’s Lives, 127–157. 599 Zu Katharina von Siena vgl. nur die einschlägige neue Untersuchung von Carolyn Muessig, die Katharina wie folgt charakterisiert: „Catherine as a woman had no ecclesiastical office but took on a quasi-sacerdotal role as a peace negotiator, papal reformer, and preacher, positions that were explicitly recognized by later supporters“ (Muessig, Stigmata, 138). 600  Vgl. dazu Clouse, Virgin, 88: „Her religious observances are neither as repulsive to modern sensibilities as Angela of Foligno’s, nor as fantastic as those of Christina Mirabilis.“ Simons, Reading, 10 bemerkt zu Elisabeths Bekanntheitsgrad: „Only in the late nineteenth century, when the Latin text and the Middle-English translation were edited almost simultaneously, did the Life become more widely accessible, but even so it provoked little historical reflection until a few years ago.“ 601 Vgl. Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 307. 602  Die Art und Weise, in der Bynum sich Elisabeth nähert, wurde von Rebecca Clouse scharf kritisiert; Bynums Deutung des von Elisabeths Biographen Philipp von Clairvaux verwendeten Lexems imbellicitas als „Verrücktsein“ weist sie zurück; vgl. dazu ausführlich Clouse, Virgin, 87. Vgl. dazu Bynum, Holy Feast, 119–122 sowie dies., Fragmentierung, 207 (Anm. 36). Ein Blick auf die Quelle selbst lässt Clouse’s Kritik an Bynum plausibel erscheinen: Philipp verwendet den Begriff ein­deutig als Beschreibung der körperlichen Gebrechlichkeit Elisabeths. 603 Vgl. Dinzelbacher, Mystik, 201–203. 604 Vgl. Angenendt, Religiosität, 539. Auch Christoph Daxelmüller widmet Elisabeth eine kurze Passage, um sie schließlich als „klassisches Beispiel für schizophrene Bewusstseinsveränderung“ zu klassi­fizieren; vgl. dazu Daxelmüller, „Süße Nägel“, 132. 605  So die Charakterisierung bei Dinzelbacher, Mystik, 201. Interessant ist hierbei, dass bereits Dinzel­bacher mit dem Begriff der Trance die Performanzforschung zu berücksichtigen scheint bzw. ähn­liche Beobachtungen anstellt, auch wenn er auf die entsprechende Literatur nicht eingeht. 606  Zu nennen sind hier etwa Clouse, Virgin, 87–102, die vor allem die Eigenheiten des

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bung der Vorgänge, die durch ihre performanz­theo­re­ti­schen Begriff­lich­kei­ten jedwede Pathologisierung vermeidet.607 In der Tat liegt der Schwerpunkt der mutmaßlich 1267608 verfassten Vita auf der Dar­bie­tung eines Augenzeugenberichtes des von Philipp beobachteten performativen Nach­voll­zugs der Passion Christi;609 biographische Hinweise zur Protagonistin dieser Performanz sind hingegen spärlich.610 Das Wenige, das dem Text des Zisterzienserabtes hinsichtlich der Lebensumstände Elisa­beths zu entnehmen ist, sowie die von Philipp angeführten Hintergründe und Um­stän­de der Abfassung der Vita seien im Folgenden kurz aufgeführt, wobei erneut darauf verwiesen werden muss, dass sich Fakten und Topoi wohl schwer voneinander trennen lassen: Philipp nennt das Jahr 1266 als Zeitpunkt seines (etwa sechsmonatigen)611 Besuches bei Elisabeth,612 der damals etwa Zwanzigjährigen,613 die wohl einer angesehenen Familie ent­stammte.614 Bereits im Kindesalter, so Philipp, habe mittel­engli­schen Manuskripts in den Mittelpunkt ihrer Forschung stellt; Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 299–355 machen Performanztheorien auf der Grundlage anthropologischer und kunsthistorischer Zugänge fruchtbar; interdisziplinären Arbeitsweisen sind auch Simons, Reading, 10–23; sowie Brown, Performatio Christi, 70–88 verpflichtet; Njus, Politics of Mysticism, 285–317 versucht die Lücke der historischen Kontextualisierung Elisabeths zu schließen. 607  In der Eingangspassage ihres einschlägigen Aufsatzes „Elisabeth of Spaalbeeck’s Trance Dance of Faith“ machen Susan Rodgers und Joanna E. Ziegler deutlich, unter welchen Prämissen und mit welchen Absichten sie ihren interdisziplinären Ansatz vertreten: „Interdisciplinary work stands to bring much to medieval studies. But this is only so if researchers are well grounded in their respective fields and are not interested in some mere polite sharing of ideas across disciplinary boundaries but rather wish to formulate new, more powerful approaches to difficult cultural materials. In that spirit, this essay is written in order to shed light on one of the most intriguing and unusual examples of medieval women’s mysticism. Our subject is Elisabeth of Spaalbeeck, virgin and visionary, whose thirteenth-century Vita attest to a holy life of performance. The blending of these two particular disciplines may at times be unsettling to medievalists. The language of anthropology, for instance, may jolt the reader, for it characterizes ecstasy and holiness in ways that may be unfamiliar to medievalists. Yet it is precisely because our approaches, when combined, disrupt customary categories and expectations for interpretive language that we believe such a blending of disciplines may offer fresh and revealing insights“ (Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 299 f.). 608  So etwa Dinzelbacher, Mystik, 201. 609  Zimdars-Swartz verwendet die erhellende Bezeichnung „miraculous reenactment of Christ’s Passion“; vgl. Zimdars-Swartz, Stigmata, 3. 610  An gegebenem Ort werde ich Mutmaßungen hinsichtlich dieser so offenkundigen Leerstelle anstellen. Ebd., 8 spricht dagegen von einer Fülle biographischer Hinweise in Philipps Vita. 611 Vgl. Ziegler, Artistic Nature, 181. 612  Philipp von Clairvaux, Vita, 376, Z. 2 f. Vgl. auch Njus, Politics of Mysticism, 285. 613  Zur Altersangabe vgl. Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 43 f.: „[W]ie nun gesagt wird, du hättest die Zwanziger erreicht mit unausgesetzter Züchtigung und der Abtötung des eigenen Fleisches.“[Q]uam nunc attigisse dicitur vicennalem continuata castigatio et sic propriae carnis mortificatio. Zimdars-Swartz, Stigmata, 9 deduziert aus eben jener Textstelle, dass Elisabeth zum Zeitpunkt der Begegnung ein Alter von 25 Jahren erreicht haben müsse. 614  Njus, Politics of Mysticism, 287 spricht von ihrer edlen Abstammung ohne eine Quellenangabe zu nennen; womöglich stützt er diese Aussage auf die verwandtschaftlichen Bezie-



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sich die körperliche Gebrechlichkeit der jungen Frau gezeigt: Im Alter von etwa fünf Jahren sei Elisabeth, unfähig sich selbst zu retten, beinah einem Feuer zum Opfer gefallen.615 In den folgenden Jahren sei ihre asketisch gepräg­te Frömmigkeit zunehmend zu Tage getreten.616 Als innere Motivation für die Begegnung mit der jungen Frau nennt Philipp von Clairvaux seine Absicht, die ihm zu Ohren gekommenen Gerüchte über Elisabeth – vor allem ihre Stigmatisierung – selbst in Augenschein zu nehmen (veni et vidi), um sie durch eigene Prü­fung zu verifizieren.617 Der äußere Umstand, der ein Zusammentreffen ermöglicht, ist die ihm als Abt obliegende Visitation des zisterziensischen Frauenklosters Erkenrode bei Liège.618 Dort begegnen sich der Abt und Elisabeth, da eine an die Kapelle von Spaalbeeck ange­baute Zelle619 die Heimstatt der jungen Frau darhungen Elisabeths zu William von Ryckel, die er in seinem Aufsatz nachweist. Einen indirekten Verweis auf ihren familiä­ren Hintergrund (bzw. den ökonomischen Status ihrer Familie) finde ich darüber hinaus in Philipp von Clairvaux, Vita, 378, Z. 17–22; diese Passage spricht von den offenbar nicht gerade ärmlichen Zuständen am Esstisch, an dem es Früchte, Fleisch und Fisch zu geben schien. 615  „Sie war nämlich seit den Kindheitsjahren ihres Lebens, näherhin bis sie etwa fünfjährig war, von einer so großen Schwäche des Körpers und der Glieder erfasst, dass sie weder innerhalb noch außer­halb des Hauses, in dem sie wohnte, einem Brand ohne fremde Hilfe entkommen konnte“. Tanta enim a puerilibus annis aetatis suae, videlicet dum adhuc esset quinquennis vel circa, corporis et membrorum imbecillitate tenetur, quod nec instante immo nec extante domus in qua degit incendio sine alieno adminiculo inde posset exire (Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 8–11). Vgl. dazu auch Njus, Politics of Mysticism, 289. 616 Vgl. Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 12–15. 617  „Als ich freilich von diesen wundersamen Werken des Herrn gehört hatte, bin ich, Bruder Philipp von Clairvaux, […] da ich den Erzählungen nicht glaubte, daraufhin selbst gekommen und habe mit meinen Augen gesehen und habe überprüft, was mir nicht einmal zur Hälfte berichtet worden war.“ Quae quidem mirabilia Domini opera cum audissem, ego frater Philippus de Claravalle, […] non credebam narrantibus, donec ipse veni et vidi oculis meis et probavi quod dimidia pars mihi non fuerat nuntiata (ebd., 363, Z. 15–18). Die Erwähnung weiterer Zeugen soll die Verlässlichkeit des Berichtes untermauern; vgl. dazu Brown, Performatio Christi, 72. 618  Zur Ortsangabe siehe Philipp von Clairvaux, Vita, 363, Z. 7–10 sowie zu seiner Visitations­auf­gabe Z. 16 f.: „in jenen Landesteilen das Amt der Visitation ausübend“ circa partes illas officium visitationis exercens. Siehe dazu auch Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 301.306. 619 Vgl. Brown, Performatio Christi, 71 sowie Zimdars-Swartz, Stigmata, 8. Immer wieder ist in der Vita Elisabeth von der camera die Rede; am ausführlichsten wird diese in Philipp von Clairvaux, Vita, 373, Z. 32–37 beschrieben: „Eine ehrenhafte Kammer auszurüsten für das ange­messene und ehrerbietige Gebet, für diejenigen, die zusammenkommen zur Feier des Göttlichen schick­lich und ausreichend geschmückt, habe ich daselbst veranlasst zu schaffen; […] in der Mitte dieser Klausur ist eine Pforte, durch welche das Innere der Kapelle offensteht und vom Lager der Jungfrau aus hat man einen freien Blick auf den Altar.“ Cameram honestam aptari et oratorium competens et devotum, iis quae ad celebranda divina conveniunt decenter et sufficienter ornatum, fabricari feci ibidem; […] in cujus clausurae medio est ostium per quod patet ad interiora capellae, et de cubili virginis liber transit intuitus ad altare. Die unmittelbare Nachbarschaft, das Ineinanderübergehen zwischen sakralem und säkularem Raum, zwischen Kapelle und Wohnraum, wird in dieser Passage beson­ders deutlich. Njus, Politics of Mysticism, 295 nimmt an, dass Elisabeth den Bau dieser Zelle William von Ryckel verdankt habe. An-

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stellt, in der sie vor Familienmitgliedern und ansässigen Priestern620 in großer Regelmäßigkeit die Passion Christi darzustellen pflegt. In dieser Darstellung, die sich am Schema der Horen orientierte, übernimmt sie sämt­liche Rollen des Geschehens.621 Im Kontext dieser Aufführungen traten auch die bluten­den Stigmata auf,622 wobei die Vita Elisabeth hinsichtlich der Häufigkeit derselben keine explizite Aussage trifft.623 Begleitet wird Philipp von Clairvaux bei seinem Besuch von dem Benediktinerabt William von Ryckel, der ihm auch als Übersetzer zur Seite steht.624 Die ursprüngliche Skepsis des Besuchers wandelt sich im Folgenden in Bewunderung, der er in seinem Be­richt Ausdruck verleiht.625 Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Mystikerinnen626 gibt es bei Elisabeth von Spaal­beeck keine Hinweise auf gesellschaftliche Widerstände oder Anfeindungen, ein Um­stand, der sich wohl ihrer bereits erwähnten verwandtschaftlichen Beziehung zu William von Ryckel627 verdankt. Der Abt von St. Truiden brachte sie womöglich mit anderen einflussreichen Persönlichkeiten in Kontakt und gewährleistete ihre Protektion gegenüber potentiellen Gegnern.628 schauliches Bildmaterial zu der noch heute erhaltenen Kapelle in Spaalbeeck liefern Rodgers/ Ziegler, Trance Dance, 337 f. sowie Simons/Ziegler, Phenomenal Religion, 117–126. 620  Vgl. etwa Zimdars-Swartz, Stigmata, 3. 621  Ziegler, Artistic Nature, 182 merkt dazu an: „Clearly, her activities took on the nature of staged events, performed for audiences on a regular basis, the small chapel attached to her living quarters providing the environment and venue of a theater.“ Caciola, Discerning Spirits, 116 verweist auf die schriftlichen Vorgaben, die Elisabeth inspiriert haben mögen, so etwa Pseudo-Bedas De meditatione passionis Christi per septem diei horas libellum, das wohl in einen zisterziensischen Kontext einzuordnen ist. Caciola konstatiert: „Thus Elisabeth’s activities were a highly accom­plished public performance of a fairly common type of devotional prayer“ (ebd.). Besonders interessant erscheint mir, dass Elisabeth ihren grenzüberschreitenden „active, energetic, outward-thrusting, specifically ecstatic dance“ (Rodgers/Ziegler, Trance Dance, 301) dennoch in einen festen Rahmen einpasste: in die streng strukturierte Abfolge der Horen. 622  Eine bildliche Darstellung der Stigmatisierung der Elisabeth aus der Mitte des 17. Jahrhunderts findet sich bei Sleiderink, Een straf van God, 45 abgedruckt. 623 Vgl. Philipp von Clairvaux, Vita, 363, Z. 28–32. Von frequenter et maxime sextis feriis ist dort die Rede. 624  Offenbar war Elisabeth nicht des Französischen, Philipp nicht des Flämischen mächtig; vgl. Philipp von Clairvaux, Vita, 373, Z. 37–39; siehe auch Ziegler, Artistic Nature, 181. 625 Vgl. Simons, Reading, 10 sowie Zimdars-Swartz, Stigmata, 33. 626  Vgl. etwa das Schicksal der Zeitgenossin Juliana von Mont-Cornillon, die auf Betreiben des Prinz­bischofs Heinrich von Geldern Lüttich verlassen musste; zu den politischen Verbindungen und Ver­flech­tungen Heinrich von Gelderns und William von Ryckel siehe ausführlich Njus, Politics of Mysticism, 285–317, bes. 287–289. 627  Der Werdegang des William von Ryckel umfasst seine Tätigkeit als Kaplan und Sekretär Williams  II. von Holland sowie sein Amt als Abt von St.  Truiden in den Jahren 1249–1272; er stand in enger Ver­bin­dung mit Heinrich von Geldern, Heinrich II. von Brabant sowie Johannes I. von Brabant; vgl. dazu ebd., 290. 628  Siehe dazu ebd., 289: „Philip’s comment that the care of this same virgin had been commended by the bishop of the place […] to the abbot of Saint-Truiden of the Order of Saint Benedict, her neighbour and relative, is most likely evidence of the alliance between William of Ryckel and Henry of Guelders. The partnership was extremely beneficial to Elisabeth, who unlike Juliana, was freely allowed to follow her spritual practice. With such support, there



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Verschiedene Episoden, die in Philipps Bericht Erwähnung finden – so etwa die Besuche von Ratsuchenden, bei welchen Elisabeths Gabe, die Geister zu unterscheiden, im Zentrum steht – machen deutlich, dass die junge Mystikerin nicht das Leben einer Reklu­se führte,629 sondern vielmehr als Begine anzusprechen ist.630 Trotz ihrer körperlichen Schwäche, die sie an Spaalbeeck band, müssen ihrem Einfluss beziehungsweise ihrem Ruf als religiöse Charismatikerin nicht solch enge geographische Grenzen gesetzt gewesen sein.631 Auch ihrer Fürbitte für Sünder und ihrem stellvertretenden Leiden wurde offenbar großes Gewicht beigemessen.632 Vielleicht angesichts ihrer unzweifelhaften Reputawere apparently no immediate external obstacles for Elisabeth to struggle against – no forced marriage, no embarassed friends or family, and no suspicious local clergy. While this cannot be confirmed, Philip’s text does not recount any of these difficulties although they were wellknown hagiographic topoi.“ Wie leicht auch Elisabeth ein Opfer möglicher Gegenspieler hätte werden können, zeigt die These, dass die Klage des Franziskaners Gilbert von Tournai über stigmatisierte Frauen gegen Elisabeth gerichtet sein könnte; vgl. dazu Zim­dars-Swartz, Stigmata, 9. Einen Auszug des Traktates De scandalis ecclesiae in englischer Über­setzung liefert Caciola, Discerning Spirits, 118: „Among this type of silly women was one who achieved a semipublic reputation for being marked with Christ’s stigmata. If this is true, it should not be rumored in secret, but let it be known openly. If, however, it is not true, let this hypocrisy and simulation be thwarted.“ 629  So etwa Njus, Politics of Mysticism, 295, der stattdessen von ihrem „ensuing state of semi-en­clo­sure“ spricht. Dafür sprechen etwa die Besuche von Ratsuchenden, gegenüber denen Elisabeth religiöse Hellsichtigkeit demonstriert – in einem Fall wird ihr offenbart, dass sich ein Ex­kommuni­zier­ter in den Reihen der Besucher befindet, einem Abt offenbart sie ein von ihm vergessenes kirch­liches Fest, in einem anderen Fall wählt sie aus einer Gruppe einen jungen Mann aus, dem sie den geist­lichen Stand anempfiehlt, in welchem sich dieser im Folgenden als mustergültig erweist; vgl. Philipp von Clairvaux, Vita, 375, Z. 9–42, 376, Z. 10–18, 376, Z. 35–377, Z. 3. Ein weiteres religiö­ses Charisma, das Philipp beschreibt, soll hier wenigstens erwähnt werden: die rein geistige Ver­bindung zu Marie von Lille, deren Martyrien sie in einer Vision geschaut hat; siehe dazu ebd., 376, Z. 19–34 sowie Sleiderink, Een straf van God, 44: „Naast haar extreme lijdensdevotie was Elisabeth vooral vermaard om har visionaire gaven. De abt van Clairvaux gaf daarvan een sterk staaltje: Elisabeth bleek op de hoogte te zijn van het lijden van een zekere Maria uit Rijsel die zij enkel in visioenen had ontmoet.“ („Elisabeth war außer durch ihre extreme Leidensfrömmigkeit vor allem um ihrer visionären Gaben wegen berühmt. Der Abt von Clairvaux gab hierfür ein rasantes Bei­spiel: Elisabeth erwies sich als informiert über das Leiden einer gewissen Maria aus Rijsel, die ihr ausschließlich in Visionen begegnet war.“ Diese wunderbare deutsche Übersetzung verdanke ich Prof. Dr. Christoph Burger, Amsterdam). 630  Als Begine wird Elisabeth etwa bei Visconsi, She Represents, 76 f. sowie bei Caciola, Discer­ning Spirits, 113 bezeichnet. 631  Dies leitet Njus etwa aus der Episode mit dem Elisabeth und ihrer Familie gänzlich unbekannten Edelmann ab; vgl. dazu Njus, Politics of Mysticism, 303. Allgemein zu Elisabeths Ruchbarkeit als heilige Frau vgl. Zimdars-Swartz, Stigmata, 19–21. 632  „Auch haben wir durch eine gewisse sehr würdige Person des Vertrauens erfahren, welche wir nicht wagen wegen der Empfehlung des Geheimen preiszugeben, dass die Gebete, Leiden und Fürbitten der oft genannten unschuldigen Jungfrau viele Tausende von Seelen von den Stricken der Sünden und den Strafen des Fegefeuers befreit haben.“ Intelleximus etiam per quadam fide dignissimam perso­nam, quam propter secreti commendationem prodere non audemus, quod saepedictae virginis innocentis orationes, passiones, supererogationes multa millia animarum a vinculis peccatorum et poenis purgatorii liberarunt (Philipp von Clairvaux,

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tion633 aber sicher auch auf Grund ihrer hervorragenden Verbindungen bestand  – anders als bei Juliana von Mont-Cornillon oder Mechthild von Magdeburg  – für Elisabeth wohl nicht die Notwendigkeit, sich einem Or­den anzuschließen. Diskutiert wird in der Forschung jedoch, ob Elisabeth in ihren letzten Lebens­jahren dem Konvent von Erkenrode beigetreten sein könnte.634 Unsicherheit herrscht auch im Hinblick auf ihr Todesdatum: Während das Gros der Forscher diese Frage gänzlich offenlässt, votiert Njus für das Jahr 1304, Dinzelbacher und Clouse halten hingegen das Jahr 1316 für wahrscheinlich.635 In seinem 2008 veröffentlichten Aufsatz „The Poltics of Mysticism: Elisabeth of Spaal­beeck in Context“ kommt Jesse Njus meines Erachtens das Verdienst zu, die spärlichen bio­graphischen Notizen zu Elisabeth durch den nachdrücklichen Verweis auf zwei weitere Dokumente, in denen Elisabeth Erwähnung findet, mit interessanten Aspekten an­zu­reichern.636 Zum einen nennt Njus das von William von Ryckel abgefasste Reliquien-Inventar, das Eli­sa­beth nicht nur als Absenderin Vita, 377, Z. 13–17). Zu Elisabeths Sorge um die Seelen anderer vgl. auch Zimdars-Swartz, Stigmata, 22. 633  Auf die Wahrung des Anstands während ihrer Darstellung der Passion Christi weist Philipp von Clair­vaux seine Leser eigens hin: „Auch muss man jenes wissen: In den körperlichen Bewegungen und oben beschriebenen Gesten der bereits erwähnten Jungfrau ist nichts Unschickliches vorgekommen, nichts, was die Augen der Zuschauer beleidigen könnte. Beim Einherschreiten durch ihre Kammer, obgleich man nichts sieht und ihre Kleider über den Boden gleiten, erregt sie niemals Anstoß durch ihre Füße. Niemals strauchelt sie oder schwankt sie. Auch wenn sie sich zu Boden legt oder aufsteht, auch während sie liegt oder durch eine Umherwälzung des gesamten Körpers den Ort wechselt, wird sie stets von ihrem eigenen Gewand eingewickelt und verhüllt, so dass nichts ungeordnet, nichts völlig unschicklich erscheint.“ Illud etiam sciendum, quod in praedictae virginis corporeis motibus et gestibus suprascriptis nihil indecens, nihil quod intuentium oculos offendere possit occurit. Incedendo enim per cameram, quamvis nihil videat et vestes ejus defluant super terram, nunquam offendit pedibus, nunquam cespitat aut vacillat. Item deponendo se ad terram, aut surgendo, aut dum jacet seipsam totius corporis volutatione localiter transferendo, ita semper proprio vestimento obvolvitur et velatur, ut nihil incompositum, nihil prorsus appareat inhonestum (Philipp von Clairvaux, Vita 373, Z. 15–21). Zur Notwendigkeit dieser apologetischen Passage vgl. Zimdar-Swartz, Stigmata, 24 f. 634  Vgl. nur Bussels, Elisabeth, 53. Njus fasst die grundsätzliche Unsicherheit hinsichtlich dieser Frage wie folgt zusammen: „Herkenrode certainly took an interest in Elisabeth. The nuns mentioned her to Philip of Clairvaux when he arrived on visitation […] and Herkenrode may have aquired the land on which Elisabeth’s chapel stands, probably becoming responsible for its continued preser­vation. The relationship between Elisabeth and the abbey makes it likely that she joined them when her protectors had died, but whether she simply took refuge there or actually became a nun is complete speculation. She may even have remained at her chapel under their auspices“ (Njus, Politics of Mysticism, 291, Anm. 23). Vgl. dazu auch Brown, Performatio Christi, 71 sowie Sleiderik, Een straf van God, 52. 635  Sehe ich recht, so verzichten Ziegler und Rodgers ebenso wie Simons und ZimdarsSwartz in dieser Frage auf eine Festlegung; vgl. ansonsten Njus, Politics of Mysticism, 285 (mit Anm. 1) sowie Dinzelbacher, Mystik, 201 (mit Anm. 250) und Clouse, Virgin, 87 (mit Anm. 1). 636  Auf die Wichtigkeit dieser Texte hatte vor Njus bereits Nancy Caciola hingewiesen, allerdings mit anderen Schlussfolgerungen; vgl. dazu Caciola, Discerning Spirits, 122.



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beziehungsweise Empfängerin von Reliquien nennt,637 sondern auch auf ihre Rolle als religiöse Autoritätsperson verweist, der die Authentifizierung von Reliquien oblag.638 Dieses Dokument unterstreicht somit Elisabeths Bedeutung als religiöse Charismatikerin, die sie auch jenseits ihrer spektakulären performatio Christi aus­gezeichnet zu haben scheint. Die zweite Textgruppe umfasst die von Jacques de Gaulle edierten französischen Hofdoku­mente, die über eine Intrige am französischen Hof in den Jahren 1276–1278 Zeugnis ab­le­gen.639 Auslöser für den Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Hofparteiungen war der Tod des Prinzen Louis im Jahre 1276. Während die eine Seite die Königin Maria von Brabant des Giftmordes an ihrem Stiefsohn beschuldigte, behauptete die Gegenseite, zwei Beginen, unter ihnen Elisabeth von Spaalbeeck, hätten den wahren Grund für den Tod des Prinzen benannt: Dieser sei ein göttliches Strafgericht für die homosexuellen Neigungen seines Vaters,640 des Königs Philipp III.641 Eine vom König selbst in die Wege geleitete Untersuchung unter der Ägide des Pierre de Benais und des Bischofs von Lüttich, in der die Beginen aufgefordert wurden, die ver­meint­lichen Behauptungen zu wiederholen, sollte Aufklärung bringen. Bei den drei in Fol­ge stattfindenden Befragungen wies Elisabeth jedwede Beteiligung an den Ver­leum­dun­gen – sei es gegen den König oder die Königin – zurück.642 Dieses Dokument, das ihre Verflechtung mit dem französischen Hof zeigt, unterstreicht das politische Gewicht, das Elisabeth von Spaalbeeck ganz offenbar in die Waagschale zu werfen vermochte643 und ist überdies ein 637  Als Empfängerin von Reliquien erscheint hier etwa die bereits erwähnte Marie von Lille; vgl. dazu Njus, Politics of Mysticism, 309 (mit Anm. 88). 638  Vgl. ebd., 286.307–310. 639  Zu diesem Zeitpunkt habe Elisabeth in Nivelles gelebt; vgl. dazu Caciola, Discerning Spirits, 113; vgl. auch Njus, Politics of Mysticism, 292 f.310–316; sowie Ziegler, Artistic Nature, 182. 640 Die Anschuldigung wurde wohl durch das enge Verhältnis des Königs zu seinem Kammerherren Pierre de la Broce genährt; vgl. dazu ausführlich Sleiderink, Een straf van God, 48. Ohne Prozess wird jener schließlich am 30. Juni 1278 gehängt; vgl. ebd., 51. 641  Drei Zeitdokumente, von de Gaulle Ende des 19. Jahrhunderts ediert, geben Zeugnis von den Ereignissen; vgl. dazu insgesamt de Gaulle, Documents historiques, 87–100. Dort ist etwa in einem Bericht des päpstlichen Legaten Simon von der schändlichen und ungeheuerlichen Diffamierung der Elisabeth von Spaalbeeck gegen den König zu lesen; vgl. dazu auch Caciola, Discerning Spirits, 113. 642  Auf eine ausführliche Schilderung der Ereignisse sowie eine Nennung aller dramatis personae wird hier verzichtet; vgl. dazu sehr detailreich Njus, Poltics of Mysticism, 290 (Schautafel); 310–317. Eine Gesamtdarstellung der Ereignisse liefert auch Sleiderink, Een straf van God, 42–53, der im einleitenden Satz des Beitrages die Dinge auf den Punkt bringt: Die Intrige mutet „märchen­haft“ an! (Vgl. ebd., 42: „Het klinkt bijna als een sprookje […]“). Zu den Hintergründen vgl. bes. ebd., 47–50. 643  Das implizierte Risiko einer solchen Parteinahme bzw. des Widerstandes gegen eine erzwungene Parteinahme, wie sie Benais erwirken wollte, liegt auf der Hand. Es muss als glückhafter Zufall gelten, dass Elisabeth nicht den Hofintrigen zum Opfer fiel, wobei freilich offenbleibt, inwiefern sie tat­säch­lich entsprechende Äußerungen gegen den König getätigt haben mag und somit sehenden Auges in die Ereignisse verwickelt wurde. Njus, Poltics of Mysticism,

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Hinweis darauf, welch hohes Ansehen sie als mulier religiosa genoss.644 Diese Einschätzung überdauerte die Jahrhunderte, wie ihre Auf­nahme in den Kanon der heiligen Frauen des Zisterzienserordens im 20. Jahrhundert deutlich macht, wenngleich eine offizielle Heiligsprechung durch den Papst ausblieb.645 Dass sie selbst sich jeder Festlegung entzog, kennzeichnet sie nach Nancy Cacciola bis zum heutigen Tag: „In short, Elizabeth […] remains a cipher to the end, for no consensus on her character ever was achieved.“646 2.2.1.2  Die Repräsentation der Seitenwunde in der Vita Elisabeth sancti­mo­nialis in Erkenrode, Ordinis Cisterciensis; Leodiensis dioecesis (Codex signatus n° 2864–71 fol. 94v–109v) Die literarische Spur, die Elisabeth von Spaalbeeck hinterlassen hat, stammt aus der Feder des Zisterzienserabtes Philipp von Clairvaux. Von ihr selbst sind keine Schriften über­lie­fert.647 Das einschlägige Motiv und die vordringlichste Motivation, die der Abfassung des Textes zugrunde liegt – die Begutachtung der Stigmata648 – berührt sich mit der Interessen­lage der vorliegenden Arbeit, näher hin mit ihrer Fragestellung nach dem Niederschlag der Seitenwundenfrömmigkeit in performativen somatischen Vollzügen der Religiosität. Das literarische Ergebnis dieser Visitation ist jedoch kein Text, der sich ausschließlich mit der Beschreibung der Stigmata Elisabeths oder gar „deren Wahrheitsfrage“ befasst. Elisabeth wird auch nicht auf ihr Gezeichnetsein durch die Wunden reduziert. Ebenso wie der Zisterzienser über sein ursprüngliches Anliegen hinaus bemüht ist, die Gänze des Phänomens Elisabeth sowie ihrer performativen Passions-Mimesis zu be­leuch­ten und zu beschreiben, scheint 315 resümiert: „Despite the possible risk, this episode shows her not only obtaining political support through her networks but providing it as well.“ 644  Sleiderink, Een straf van God, 44, merkt dazu an: „Al tijdens haar leven werd Elisabeth van Spaalbeeck omgeven door een geur van heiligheid en haar roem was wijd verspreid.“ („Alle Zeit ihres Lebens war Elisabeth von Spaalbeeck umgeben von einem Geruch der Heiligkeit und ihr Ruhm war weit verbreitet“). 645  Vgl. ebd., 52: „In de zeventiende eeuw ging ze zelfs behoren tot de canon van heilige vrouwen van de cistercienzer orde, als werd Elisabeth van Spaalbeeck officieel nooit heilig verklaard. Vermoedelijk zal dat ook niet mer gebeuren.“ („Im zwanzigsten Jahrhundert gehörte sie zum Kanon der heiligen Frauen des Zisterzienserordens, wenn Elisabeth von Spaalbeeck auch offiziell nicht heiliggesprochen wurde. Vermutlich soll das auch nicht mehr geschehen“). 646  Caciola, Discerning Spirits, 114. 647 Vgl. Simons, Reading, 11. Elisabeths spärliche verbale Äußerungen werden von Philipp meist nur indirekt oder sinngemäß zitiert; in ihrem eigenen Idiom (mit beigefügter Über­ setzung) erscheint lediglich ihre Reaktion auf die für sie offenbar sehr wichtige bildliche Darstellung Jesu am Kreuz: Here, soete Here, id est Domine, dulcis Domine. „Herr, süßer Herr, das heißt: Herr, süßer Herr“ (Philipp von Clairvaux, Vita, 367, Z. 24). 648  Brown, Performatio Christi, 70 gibt zu bedenken: „This was an important mission for Philip, and a necessary investigation since Elisabeth is the first known documented case of the stigmata after St. Francis. This was an entirely new phenomenon, very suspect in the eyes of the Church, and this woman was claiming to have the gift that had been given to Francis.“

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es auch hier angebracht, einen kurzen Abriss der insgesamt 30 Abschnitte der Vita Elisabeth zu bieten, um analog zu den bereits dar­ge­stell­ten Quellentexten einen Gesamteindruck der Textbasis zu liefern, in welche die Passagen über die Seitenwundenfrömmigkeit eingeschrieben sind.649 Zunächst sei auch hier die Frage aufgeworfen, welche Art von Text hier vorliegt. Dem Versuch einer ein­ dimen­sionalen Gattungszuordnung muss an dieser Stelle entsagt werden. Ganz offensichtlich handelt es sich – ungeachtet der Betitelung des Textes als Vita – nicht um eine Lebensbeschreibung oder Hagiographie im klassischen Sinne. Abweichend vom Gros solcher Biografien ist der Verfasser des vorliegenden Textes keineswegs ein nahe­stehen­der Vertrauter oder langjähriger Wegbegleiter noch versucht derselbe, die Gesamtheit der Lebensvollzüge seines Objektes zu schildern.650 Auch die meisten der sonst üblichen hagiographischen Topoi wie freiwillige radikale Armut, Krankenfürsorge oder Wundertaten spielen im vorliegenden Text keine gewichtige Rolle.651 Angesichts dieser Beobachtungen und mit Blick auf das originäre Anliegen Philipps, das die Abfassung des Textes initiiert habe,652 votiert Jesse Njus dafür, den Text als Bericht einer probatio beziehungsweise als „hagiographische Probatio“ aufzufassen.653 Wenngleich diese Gat­tungs­bezeichnung durchaus als hilfreich angesehen werden muss  – der Text enthält in der Tat 649  Dies

erscheint umso dringlicher geboten, als der interessierte Leser meines Wissens innerhalb der deutschsprachigen Literatur nurmehr mit stark verkürzten Einzelpassagen dieses vielschichtigen Quellentextes konfrontiert wird, so dass eine umfassende Analyse der Quelle durchaus wünschens­wert wäre, jedoch mit Blick auf die gesamte Arbeit nicht im gewünschten Maße geleistet werden kann. 650  Zu den fundamentalen Unterschieden im Vergleich mit anderen Beginen-Viten geben Rod­gers/Ziegler, Trance Dance, 307 zu bedenken: „Where so many Begine vitae are concerned with ‚the totality of women’s lives, their words, laughter, tears, sleep and dreams‘, Elisabeth’s is excepti­onally focused on other things. Abbot Philip is narrating, almost exclusively, ‚what she does‘ at the Holy Hours of the day: Matins, Prime, Terce, Sext, None, Vespers, and Compline. His report in fact reads like a transcription of movement, a script with an ample provision for the use of the props and established routines to accompany her movements. He is not a participant in these actions nor does he suggest that he is her confessor, a circumstance otherwise frequently the case with authors of the Begine vitae. Many recording clerics were lifelong friends (intimier) with their subjects. Philip, how­ever, spent only a short time with Elisabeth (about six month), after which he returned to his mo­nastery.“ 651  Vgl. zu den Auslassungen sonst üblicher hagiographischer Topoi wie etwa freiwillige Armut, Kran­ken­fürsorge oder Wundertaten auch Ziegler, Artistic Nature, 183. Dagegen finden sich (wenngleich relativ knapp gehaltene) Verweise auf Elisabeths wundersames Fasten sowie auf die überirdische Reinheit ihres Körpers und schließlich Anekdoten, die ihre geistliche Hellsichtigkeit schildern; vgl. dazu Philipp von Clairvaux, Vita, 378, Z. 3–19 sowie u. a. ebd., 376, Z. 35–377, Z. 6. Zur Relevanz asketischer Praktiken im Bereich der Nahrungsaufnahme bzw. Nahrungs­ab­sti­nenz vgl. nur Bynum, Fragmentierung, 126–130 und dies., Holy Feast, passim. Zum Umgang mit außergewöhnlichen körperlichen Praktiken in Beginenviten und dem Verhältnis zwischen „Innen“ und „Außen“ allgemein vgl. Simons, Reading, 15. 652  Wie bereits dargelegt, offenbart Philipp sein Anliegen, die kolportierten Gerüchte mit eigenen Augen zu sehen und zu prüfen; vgl. Philipp von Clairvaux, Vita, 363, Z. 17 f. 653  „[This] is a probatio (often mistakenly called a vita) written by Abbot Philip of Clairvaux.

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Schilderungen überprüfender Maßnahmen des Autors654  – lässt sich meines Erachtens darüber hinaus noch eine weitere Dimension konstatieren. Wie die einschlägigen Veröffentlichungen all jener Forscherinnen und Forscher, die sich mit neueren Performanztheorien befassen, herausgearbeitet haben, ist die Vita Elisabeth des Zisterzienserabtes der Versuch einer schriftlichen Fixierung einer „performance of mysticism“655, einer „performatio Christi“656, welcher er als Augenzeuge beigewohnt hat oder, wie Ziegler es formuliert: „a record of her physical enactments only – of the bodily manifestations of her beliefs“.657 Gleich einer Choreographienotation versucht der Text eine getreue Niederschrift des Bühnen­geschehens zu liefern. Philipp müht sich, für den Leser festzuschreiben, was er selbst als unmittelbarer Zuschauer der Performanz wahrgenommen hat. Dabei steht dem Zisterzienserabt freilich nicht das Instrumentarium moderner Tanznotationsmethoden etwa eines Rudolf Laban zur Verfügung – gleichwohl ist die Genauigkeit und Detail­ver­sessen­heit verblüffend, mit welcher er die einzelnen Bewegungsabläufe Elisabeths be­schreibt.658 Allerdings übernimmt Philipp dabei einen nicht ausschließlich rezeptiven Part: Er nimmt nicht nur wahr, sondern lenkt die Wahrnehmung seiner Leser durch seine das nonverbale thea­trale Geschehen kommentierenden und ausdeutenden Zusätze, die gleichsam als fort­lau­fende Übertitel der stummen und doch so beredten Performanz erscheinen.659 Die Frage, die er sich dabei stellt und die er im Bedeutungssystem des biblischen Sprach­kos­mos beantwortet, lautet: Wen repräsentiert Elisabeth, als welche Person agiert sie?660 […] A probatio is a test, or – as in this case – the record of a test of authenticity, a test usually performed and recorded as part of an inquisitio or inquisition“ (Njus, Politics of Mysticism, 292). 654  So überprüft der Abt mit ganz pragmatischen, nüchternen physikalischen Methoden etwa den wunder­samen Atemstillstand der Begine während ihrer raptus-Zustände: „Auch in diesem Raptus und bei anderen legte ich zwischen Mund und Nasenlöchern, wie ich es selbst des Öfteren gesehen habe, eine ganz leichte Feder, so dass, wenn durch die Lippen oder durch die Nasenlöcher der leichteste Hauch ausginge, dieser sofort die Feder fortwehte.“ In hoc etiam raptu et in aliis inter os et nares ipsius aliquotiens vidi levissimam plumam poni, ita quod, si per labia aut per nares vel levissimus flatus exiret, statim plumam ejiceret (Philipp von Clairvaux, Vita, 366, Z. 18–20). 655  So die Terminologie bei Visconsi, She Represents, 76. 656 Vgl. Brown, Performatio Christi. 657  Ziegler, zit. nach Visconsi, She Represents, 77. An anderer Stelle schreibt Ziegler, Artistic nature, 182: „Clearly, her activities took on the nature of staged events, performed for audiences on a regular basis, the small chapel […] providing the environment and venue of a theater.“ 658  Auf eben diese Genauigkeit des Textes stützte sich wohl auch die 1992 von J. E. Ziegler angeregte Um­setzung von Textpassagen durch die Tänzerin und Choreographin Paula Hunter; vgl. dazu ebd., 188. 659  Möchte man im Metaphernfeld des Theaters bleiben, so könnte man sagen, dass Philipp dem Zu­schauer (zu dem er den Leser macht) ein erläuterndes Programmheft an die Hand gibt, mit Hilfe dessen die durchaus offene und vieldeutige Performanz der Begine gelesen und verstanden werden soll. 660  Den Konnex zwischen theatralem Agieren Elisabeths und deutendem Bibelzitat stellt



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Das Feld der Chiffren, auf welchem er sich bewegt, ist das der Heiligen tungs­ horizont umgreift die gesamte christliche HeilsSchrift,661 sein Deu­ geschichte: Der Körper der jungen Begine ist nicht nur der Schauplatz, an dem sich die Abbildung und Darstellung (effigiat et exponit) des gekreuzigten Christus ereignet und dessen Gezeichnetsein durch Stigmata und Leiden die Passion Christi vergegenwärtigt. Elisabeth repräsentiert darüber hinaus auch den mystischen Leib Christi, die Kirche: Ihr leidenschaftliches Agieren in Freude und Verzückung stärkt den Glauben an Auferstehung und Himmelfahrt, ihr ganzer geist­licher Lebenswandel zeugt von der Sendung des Heiligen Geistes.662 In besonderer Weise ist es jedoch der performative Nachvollzug der Passion Christi, den Philipp von Clairvaux als Verkündigungsgeschehen auffasst. Der Leib Elisabeths geriert dabei als Lektionar, er tritt gleichsam an die Stelle der lectio:663 „[W]ie durch Lesun­gen erzählt sie in ihren Gesten den Anfang der göttlichen Passion“.664 Gegenüber dem liber clausus, dem verschlossenen Buch Philipp oftmals durch Formulierungen wie ut repraesentet illud (Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 37), illud propheticum Isaiae Lmo repraesentans (ebd., 365, Z. 10), Tunc, si loqui valeret, vere diceret illud propheticum (ebd., 366, Z. 36 f.), ac si illud evanglicum nobis exponeret (ebd., 370, Z. 23), illud insinuans (ebd., Z. 26), de se ipsa illud apostoli repraesentans (ebd., 374, Z. 6 f.). Bemerkenswert ist die Verwendung des Lexems persona, wenn er Elisabeths Hineinschlüpfen in die unterschiedlichen Rollen der Passion beschreibt: „Aus dem bereits gesagten wird also deutlich, dass sie auf neue und unerhörte Weise gleichzeitig die Person des leidenden Herren und des Verfolgers oder wütenden Henkers darstellte; die Person des Herrn, während sie litt; die des Verfolgers, während sie prügelte, zerrte oder aber durchbohrte oder durchstoßen wurde.“ Ex praedictis igitur apparet quod novo et inaudito modo simul et semel in se personam exhibit Domini patientis et persecutoris seu carnificis saevientis: personam Domini, dum patitur; persecutoris, dum pulsat, trahit, aut percutit aut minatur (ebd., 365, Z. 15–18). 661  Philipp von Clairvaux zitiert hierbei zuweilen wörtlich, zuweilen frei Verse des Alten und Neuen Testa­mentes; im Hinblick auf das Alte Testament sind dies vor allem Passagen aus den Propheten­büchern, Zitate aus dem Neuen Testament entstammen überwiegend den Evangelien. 662  „Also zeigt und stellt die Jungfrau […] nicht allein Christus und denselben als Gekreuzigten in ihrem Körper dar, sondern auch den geheimnisvollen Leib Christi, das ist die Kirche. Sieh nämlich, dass sie in den unterschiedlichen Horen den Ritus der allum­fassen­den Kirche darstellt […] durch die Stigmata und Martern baut sie den Glauben an das Leiden auf; im Jubel und der Fröhlichkeit nach den Martern die Auferstehung; in den Verzückungen den Glauben an die Himmelfahrt; in der Schamesröte und den Offenbarungen und dem geistlichen Leben den Glauben an die Sendung des Heiligen Geistes.“ Nostra igitur virgo […] non solum Christum et ipsum crucifixum in suo corpore, sed etiam Christi corpus mysticum, id est Ecclesiam, effigiat et exponit. Ecce enim in horarum distinctione repraesentat ritum universalis Ecclesiae […]; in stigmatibus et poenis fidem astruit passionis; in jubilio et jocunditate post poenam, resurrectionis; in raptibus, ascensionis; in rubore et revelationibus et spirituali vita, Spiritus Sancti missionis (ebd., 378, Z. 25–28.30–32). Sicher nicht zufällig fallen im Anschluss an diese Passage auch die Stich­ wörter sacramento altaris et confessionis. Vgl. dazu auch Zimdars-Swartz, Stigmata, 35: „In her body, then, she presents the main tenets of Christian faith as a living religious experience.“ 663  Vinken, Via crucis, 22, spricht von den weiblichen, stigmatisierten Körpern als „Bühne eines Passi­ons­spiels“. 664  quasi pro lectionibus, in suis gestis texit exordium Dominicae passionis (Philipp von Clairvaux, Vita 364, Z. 30 f.). Interessant erscheint mir an dieser Stelle das für das performative leibliche Ge­schehen so passende Verbum texere, welches im klassischen Latein „weben,

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und unergründlichen Geheimnis (profunda mysteria) und den dem Unkundigen verschlossenen Pergamenten setzt die Per­for­manz der Begine einen starken Kontrapunkt: [U]nd keine Entschuldigung vermag ein Mensch vorzubringen, auch wenn er noch so ungebildet und einfach wäre […], dass er sagte: Ich kann so tiefe Geheimnisse nicht lesen oder verstehen, weil ich die Buchstaben nicht kenne oder „weil es [für mich] ein verschlossenes Buch ist“.665

Die Abzweckung dieses Unterfangens ist dabei eindeutig: Es gilt, auch dem Ungelehrten (idiota) zu ermöglichen, in den Gliedmaßen, im Körper dieses Mädchens, das einem lebendigen und offen­liegenden Veronikatuch gleiche, ein lebendes Bild seines Heils und eine beseelte666 Geschichte seiner Errettung zu lesen, weil nicht auf Häuten oder Blättern, sondern in den Gliedern und dem Körper unseres erwähnten Mädchens, gleichwie durch ein leben­di­ges und offenes Veronika[tuch], der ungebildete Mensch ein lebendiges Bild seiner Er­rettung und eine belebte Geschichte des Loskaufs zu lesen vermag wie ein des Lesens und Schreibens kundiger/gebildeter Mensch [litteratus].667

Vor diesem Hintergrund könnte es auch folgerichtig erscheinen, dass Elisabeth als histo­rische Gestalt, als reale Person, nur von untergeordnetem Interesse und der vor­liegende Text auf Grund dieser Beobachtung nur sehr bedingt als klassische Vita einzu­ordnen ist. Erinnerungswürdig ist sie vielmehr als Person im Wortsinn;668 ihr Körper ist nur insofern be­merkenswert,669 als er durchlässig wird für die Darstellung der anderen, fremden Körper. Elisabeths Leib wird transparent, ja gleichsam zu einem Transparent,670 zu einer Projektionsflechten“ bedeutete; vgl. dazu Georges, Handwörterbuch, 3097. Die Bedeutung „erzählen“ bzw. „einen Text abfassen“ kam wohl erst im Mittellatein hinzu; vgl. dazu Habel/Gröbel, Mittellateinisches Glossar, 400. 665  et nihil excusationis praetendere possit homo, quantumcumque illitteratus aut simplex […] ut dicat: ‚Non possum legere aut intelligere tam profunda mysteria, quia nescio litteram‘ vel ‚quia liber clausus est‘ (Philipp von Clairvaux, Vita, 373, Z. 8–11). 666  Das Adjektiv animatus evoziert auch die Konnotation, Elisabeth habe der Geschichte Leben einge­haucht, vgl. Georges, Handwörterbuch, 438. 667  cum non in membranis aut chartis, sed in membris et corpore memoratae nostrae puellae, scilicet vivae et apartae Veronicae, suae salvationis vivam imaginem et redemptionis animatam historiam sicut litteratus ita valeat legere idiota (Philipp von Clairvaux, Vita, 373, Z. 11–14). 668 Vgl. dazu Georges, Handwörterbuch, 1641: „persona, ae, f. (von *per-sonare = *per-zonare, ver­klei­den, zu griech. ζώνη, also urspr. die Verkleidung), die Maske, Larve des Schauspielers, die den ganzen Kopf bedeckte und je nach Verschiedenheit der darzustellenden Charaktere verschieden war […] 1) der Charakter, die Rolle, Person, die der Schauspieler darstellt.“ Zur Verbindung zwischen Mystik und Theater siehe auch Ziegler, Artistic Nature, 193. 669  Allerdings werden seine bemerkenswerten Fähigkeiten, nicht zuletzt seine Fähigkeit zu leiden, mehrfach eigens kommentiert; vgl. dazu exemplarisch Philipp von Clairvaux, Vita, 369, Z. 5–10.12–14; 370, Z. 10. 670  Siehe dazu auch den bereits zitierten Vergleich Elisabeths mit dem Schweißtuch der Veronika; vgl. Philipp von Clairvaux, Vita 373, Z. 12.



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fläche des Kreuzweges Christi. Der Sprachlosigkeit der jungen Begine671 steht die Beredsamkeit ihres Körpers in der performativen Mimesis gegenüber, ihr Körper ist im Butlerschen Sinne „von Gewicht“672 und zugleich gekennzeichnet von Bedeutungs­losigkeit und Schwäche.673 In dem Maße, in dem die Person hinter die Performanz zurücktritt, erscheint es mir ange­mes­sen, die aufgeworfene Frage nach der Gattung des Textes an dieser Stelle ab­schließend eher zugunsten des choreographischen denn des biographischen Elements zu be­antworten.674 Wenn Philip von Clairvaux sich müht, das unmittelbar erlebte Ereignis durch einen (überaus detailgetreuen) literarischen Text einem weit größeren Publikum zu vermitteln als jenem, welches Elisabeths Passionsperformanz beiwohnen konnte, so muss er zwar von einem Grundanliegen der jungen Begine  – der Vermittlung des Heilsgeschehens an die Ungelehrten jenseits des Diktats der Buchstaben – abrücken. Was ihn jedoch bleibend mit Elisabeth eint, ist der missionarische Impetus, den er am Ende seiner Vita Elisabeth zur Sprache bringt: Die Repräsentation Christi, die Präsenz des Heilsgeschehens in Elisabeth, solle – um noch einmal eine Anleihe bei poetischer Terminologie zu nehmen – eine Art Katharsis zur Folge haben:675 „Wie unentschuldbar bist du, oh Mensch, wenn dich die so lebendigen und offenkundigen Argumente nicht ermun­tern zur Kräftigkeit des Glaubens und zur Empfindung der Liebe und zum Eifer der Frömmig­keit.“676 671  In den Zuständen des raptus, welche auf den mimetischen Nachvollzug der Passion während der Horen folgen bzw. denselben vorausgehen, scheint Elisabeth weder des Sprechens noch des Hörens mächtig: selbst „geraubt“ ist sie ihrer Autonomie und ihrer autonomen Handlungsoptionen beraubt; vgl. etwa Philipp von Clairvaux, Vita, 366, Z. 36; 368, Z. 8; auch jenseits der Ver­zückungs­zu­stände beschreibt der Abt sie (wohl dem Topos entsprechend) als wortkarg und zurückhaltend in der Rede: In verbis tamen est rara (ebd., Z. 16). 672 Vgl. Butler, Körper von Gewicht, 297: „Performative Akte sind Formen des autoritativen Spre­chens.“ Die „Macht des Zitats“, die Judith Butler am Beispiel des Richters nachweist, der sich be­stän­dig auf den Gesetzestext bezieht, könnte man im Falle Elisabeths (bzw. in der Deutung des Zister­zien­serabtes) in der wiederholten Referenz auf biblische Texte verorten. Vgl. Auch dies., Per­forma­tive Akte. 673  Die Beschreibung ihrer körperlichen Schwachheit zieht sich wie ein roter Faden durch den Text; vgl. v. a. Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 8–12; 369, Z. 8f; das leitende Stichwort ist dabei imbecillus/imbecillitas; vgl. dazu Georges, Handwörterbuch, 60 f. 674  Brown, Performatio Christi, 88 notiert: „Ultimately, Elisabeth’s body is not her body at all, simply a text that can be studied, a medium through which Philip can understand and convey Christ’s body.“ Freilich werden Elisabeths Lebensumstände und ihre geistlichen Gaben kurz beschrieben, wie der Auf­riss des Gesamttextes zeigen wird, aber sie erscheinen doch sekundär im Vergleich mit den Schil­derungen ihrer mimetischen Performanzen. 675  Das missionarische Element der Vita Elisabeth betont etwa Zimdars-Swartz, Stigmata, 35. Auch Brown, die sich der mittelenglischen Version des Textes widmet, bemerkt: „Philip needs to end with a gloss as to how to interpret Elisabeth’s life and body, as well as how to understand the miracles that he has recounted. He ends with an appeal to the reader to be stirred by the facts of the story, and if they are not it is ‚inexcusable‘“ (Brown, Performatio Christi, 87). 676  Quam inexcusabilis es, o homo, si ad te robur fidei et caritatis affectum et devotionis studium tam viva et manifesta non excitant argumenta (Philipp von Clairvaux, Vita, 378,

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A Einleitung

Analog zu den übrigen, bereits vorgestellten Quellentexten soll nun auch die Vita Elisa­beth in ihrer Gänze skizziert werden,677 wobei die Stellen, die von der Stigmatisierung Elisa­beths durch die Seitenwunde handeln, besonders berücksichtigt werden. Der Text, wie er im Catalogus codicum hagiographicorum Bibliothecae regiae Bruxel­len­sis vorliegt, ist in 30 Unterabschnitte gegliedert. Beginnend mit zwei Schriftzitaten678 benennt Philipp im ersten Abschnitt zwei Momente, die ihn zur Niederschrift des Folgenden gedrängt haben: Die alles Gewesene und alles Ge­gen­wärtige überbietende Selbstoffenbarung Gottes in der Person der Elisabeth von Spaal­beeck sowie den sich daraus für Philipp ergebenden Anspruch, von jenem wunderhaften Geschehen zu künden: [D]erselbe unser Herr […] wirkt in diesen Tagen ein wunder­sa­mes Werk in der Person dieser armen und unschuldigen Jungfrau, von welchem wir weder lesen noch hören, dass es je in unseren oder in alten Zeiten gewirkt worden sei. Jedoch vom Ruhm des Herrn, weil wir ihn gesehen und gehört haben, können wir nicht nicht sprechen.679

Im zweiten Abschnitt geht er näher auf die Umstände ein, die ihn zu Elisabeth geführt haben. Auf einer Visitationsreise zum Konvent von Erkenrode in der Nähe von Lüttich680 waren dem Abt Gerüchte über Elisabeths erstaunliches Wirken zu Ohren gekommen. Den Berichten aus zweiter Hand über ihren regelmäßigen Nachvollzug der Passion, der ihren Mitmenschen zum Heil gereichen soll, möchte der Abt zunächst keinen Glauben schenken. Durch ihre Passion hat sie es oftmals und wun­der­sam unternommen, dass sie die Ungläubigen zur Festigkeit des Glaubens, die Sünder zur Buße, die Undankbaren zum Dank, die Harten und Widerständigen zur Empfindung von Frömmigkeit und Andacht geholt und eingeladen hat.681 Z. 34–36). Anders als in dem berühmten  – wenngleich opaken  – Diktum des Aristoteles im sechsten Kapitel seiner Poetik werden hier nicht Mitleid und Furcht als Mittel bzw. Abzweckung des Nachvollzuges genannt. Philipp spricht an dieser Stelle vielmehr von „lebendigen und offenkundigen Argumenten“ mit Hilfe derer eine „Kräftigkeit des Glaubens“, eine „Empfindung der Liebe“ und ein „Eifer der Frömmigkeit“ erregt werden solle; vgl. Aristoteles, Opera omnia, 461, Z. 11–16. Zur Diskussion um die rechte Über­setzung des Genitivs sowie der Interpretation der gesamten Passage vgl. etwa Stich, Poetik, 15; Albert, Katharsis, 36. Unbenommen dessen spielen die Affekte Furcht und Mitleid auch in der Performanz Elisabeths eine große Rolle. 677  Um der gebotenen Kürze willen kann hier leider nicht der gesamte Text vorgestellt werden, was ange­sichts des Desiderates einer vollständigen deutschen Übersetzung bedauerlich ist. 678 Hierbei handelt es sich um Sir 42,16 sowie um Tob 12,7: Quoniam, ut legitur in Ecclesiastico XLII, Gloria Domini plenum est opus ejus, et in Tobia: Opera Domini revelare honorificum est (Philipp von Clairvaux, Vita, 362, Z. 1 f.). 679  idem Dominus noster […] his diebus unum opus mirabile in persona cujusdam pauperis et innocentis virginis operatur, quale eum nec legimus nec audivimus operatum fuisse in diebus nostris aut in diebus antiquis. Quam quidem Domini gloriam quia vidimus et audivimus, non possumus non loqui (ebd., 363, Z. 2–6). 680  Vgl. ebd., Z. 7–10. 681  passionis suae miracula multipliciter et mirabiliter suscitavit, ut incredulos ad fidei firmitatem, peccatores ad poenitentiam, ingratos ad gratiam, duros et obstinatos ad pietatis et devotionis affectum accersat et invitet (ebd., Z. 12–15).



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Er entschließt sich daher, sich selbst über die Richtigkeit des Erzählten ein Bild zu machen: Als ich freilich von diesen wundersamen Werken des Herrn gehört hatte, bin ich, Bruder Philipp von Clairvaux, als ich in jenen Landesteilen das Amt der Visitation ausübte, da ich den Erzählungen nicht glaubte, daraufhin selbst gekommen und habe mit meinen Augen gesehen und habe überprüft, was mir zu einem halben Teil nicht berichtet worden war.682

An dieser Stelle unterstreicht der Zisterzienser den hohen Anspruch, den er hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes erhebt: Das Gehörte zu schauen und das Geschaute zu durch­drin­gen ist Voraussetzung seines Berichtes, wobei er seine eigene Augenzeugenschaft sowie die Bürgschaft verlässlicher Zeugen zur conditio sine qua non seiner Erzählung erhebt.683 Abschnitt drei benennt nun konkret, was bislang nur angedeutet wurde: Die Offenbarung Gottes in Elisabeth manifestiert sich sichtbar in der Stigmatisierung des Mädchens. Jene wird nun ausführlich beschrieben: Man hat also Gewissheit, dass das bereits erwähnte Mädchen ganz offenkundig die Wundmale unseres Herrn Jesus Christus an seinem Körper trägt: An den Händen und Füßen und auch an der Seite [des Mädchens] stehen nämlich ohne den Verdacht einer Täuschung frische Wunden offen, regel­mäßig und in großem Ausmaß am sechsten Tag [der Woche] flüssiges Blut aus­stoßend.684

Neben der Beteuerung, dass hier kein Betrugsfall oder der Versuch einer Täuschung (absque simulationis ambiguo aut fraudis scrupulo) vorliegt, fällt auch die Betonung der Regel­mäßigkeit dieser Blutungen – besonders an Freitagen – ins Auge. Die Genauigkeit der Untersuchung, der die Stigmata durch Philipp unterzogen wurden, wird durch die an­ge­fügte differenzierende Beschreibung, welche die Seitenwunde von den übrigen Kreu­zes­wunden abhebt, noch unterstrichen: „Die Wunden der Glieder sind rund, die der Seite länglich: so dass jene die Einprägungen der Nägel, diese die der Lanze vorwei­sen.“685 Das Gezeichnetsein durch die Stigmata, welches doch für sich genommen beim Leser be­reits 682  Quae quidem mirabilia Domini opera cum audissem, ego frater Philippus de Claravalle, circa partes illas officium visitationis exercens, non credebam narantibus, donec ipse veni et vidi oculis meis, et probavi quod dimidia pars mihi non fuerat nuntiata (ebd., Z. 15–18). 683  Vgl. dazu ebd., Z. 18 f.24–27. 684  Sciendum igitur est quod praefata puella manifestissime stigmata Domini nostri Jesu Christi in corpore suo portat: in cujus scilicet manibus et pedibus necnon et latere absque simulationis ambiguo aut fraudis scrupulo evidentissime patent plagea recentes, frequenter et maxime sextis feriis sanguinis irriguum evomentes (ebd., Z. 28–32). 685  Vulnera membrorum rotunda sunt, lateris est oblongum: ut illa clavorum, hoc lancea significent impressuras (ebd., Z. 32 f.). Anders als in den Beschreibungen der Stigmata des Franz von Assisi bei Thomas von Celano und Bonaventura werden hier lediglich die Wunden, nicht die Nägel selbst genannt; vgl. dazu Daxelmüller, Süße Nägel, 101–107 sowie Celano, Leben und Wunder, 453–455. Dass Franz als männlicher Gegenpart im Hintergrund des Textes steht, zeigt Philipp von Clairvaux, Vita, 373, Z. 4 f.

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höchstes Erstaunen auslösen sollte, steht nun jedoch nicht als isoliertes Faktum im Raum, sondern wird vielmehr aufs engste mit Elisabeths Nachvollzug der Passion Christi im Rhythmus der Horen verbunden.686 Beide Phänomene werden in einem Atemzug genannt, in beiden agiert Christus als Subjekt, der Elisabeth als Objekt, als Medium seiner Selbstoffenbarung erwählt hat. Nachdem Philipp kurz den ersten Akt des Agierens der jungen Begine beschreibt – nächtens erhebt sie sich, um die Gefangennahme des Herrn darzustellen687 – betont er gleich darauf die Passivität Elisabeths, ihren Zustand des „Ergriffenwerdens“ (raptus).688 Jeder Station des performativen Kreuzweges gehe solch ein raptus voraus, in welchem Elisa­beth unbeweglich, wie ein hölzernes oder steinernes Standbild erscheint, atemlos, ihrer Sinne beraubt.689 Der absoluten Ohnmacht und Entrückung folge dann ein rasches, rhythmisches Durchmessen ihrer Kammer, wobei sie auch hier von überirdischen Kräften geleitet scheint: Nach diesem Ergriffensein, so als wäre sie zu sich selbst zurückgekehrt, erhob sie sich und stieg rasch aus dem Bett und schritt durch ihre Kammer mit einem solch wundersamen und wohlgeordneten Schritt, dass man glaubte, sie würde von Engelshand geführt.690 686  „Auch zeigt durch die Person dieser Jungfrau […] der Bräutigam der Jungfrauen […] entlang der sieben Horen an den einzelnen Tagen die bereits erwähnten Stigmata, nämlich in der Matutin, der Prima, Tertia, Sexta, Nona, in der Vesper und in der Komplet, [uns] auf wundersame Weise die Darstellung seiner allerreichesten und beglückenden Passion.“ In persona etiam ejusdem virginis, […] sponsus virginum […], praeter stigmata supradicta septenis horis singulis diebus, in Matutinis scilicet, prima, tertia, sexta, nona, vesperis et completorio, mirabili modo repaesentationem suae beatissimae et beati­ficae passionis ostendit“ (ebd., 363, Z. 33–38). 687  „Wie sie sich nämlich mitten in der Nacht erhob, um auf wundersame Weise die Anfänge der Passion des Herrn zu offenbaren, nämlich wie er als Gefangener herausgetreten ist und wie er von den Händen der Ungläubigen aufs grausamste herausgeschleppt wurde.“ Media siquidem nocte surgit ad confiten­dum mirifice principia passionis Dominicae, videlicet quomodo captus extitit et distractus et impio­rum manibus crudelissime pertractus (ebd., 363, Z. 38–364, Z. 2). 688 Die passivische Verbform rapitur unterstreicht, dass Elisabeth keinesfalls selbstbestimmt agiert, son­dern als Objekt göttlichen Handelns anzusehen ist. Eine Diskussion über die negativen Konnotationen des Begriffes raptus und seine traditionsgeschichtlichen Wurzeln liefert Weiss, Ekstase und Liebe, 5 f. Eine einschlägige Einordnung Elisabeths in den Interpretationsrahmen der Trance-Zustände bieten Rodgers/Ziegler, Trance Dance, bes. 310–312. 689  „Doch glaube ich nicht, jenes weglassen zu dürfen, dass sie in dieser wie in den anderen Horen, noch ehe sie sich erhob, ergriffen/weggerissen wurde, und in diesem Zustand, in dem sie ergrif­fen/weggerissen wurde, keinen bescheidenen Zeitraum lang wie irgendein Bild aus Holz oder Stein ohne Empfindung und Bewegung und Atemhauch völlig starr verharrte, so dass sie von sich selbst aus nichts berühren oder sich bewegen konnte, noch nicht einmal den kleinen Finger; ja vielmehr wurde sie wie eine ganze Maschine bewegt.“ Illud tamen non aestimo praetermittendum, quod tam hac quam aliis horis antequam surgat rapitur, et in eodem statu in quo rapitur non modico spatio ut imago quaedem ligni aut lapidis sine sensu et moto et flatu tota rigida perseverat, ita quod de ipsa nihil tangi aut moveri potest, nec etiam minor digitus, quin tota machina moveatur (Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 2–6). 690  Post quem raptum, quasi ad se reversa, surgit et exit de lecto velociter, et incedit per cameram suam mirabili et composito gressu, angelica ut creditur manu ducta (ebd., Z. 6–8). Mit Blick auf den mittelenglischen Text betont Rebecca Clouse die Bedeutsamkeit der Vokabel „to ryse“ für die gesamte Vita; vgl. dazu Clouse, Virgin, 95.



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Der Abschluss des dritten Abschnittes berichtet, wie sie seit Kin­des­beinen von großer Gebrechlichkeit gezeichnet ist, die sich durch die selbst­aufer­leg­ten körperlichen Züchtigungen noch verstärkt habe.691 Philipp resümiert: „[W]eil die Beweglichkeit und der Schritt der selbigen Jungfrau, so wie es weiter unten möglich sein wird, es beschreiben zu können, nicht aus sich selbst, sondern eher aus irgendeiner göttlichen und verbor­genen Kraft her­vor­gehen.“692 In Abschnitt vier kehrt Philipp nunmehr zum eigentlichen Gegenstand zurück und be­schreibt Elisabeths imitatio der Gefangennahme Jesu in allen Einzelheiten: Ebenso wie sie ihren eigenen Leib durch Schläge zum Klingen bringt und so die Instrumente der litur­gi­schen Feier ersetzt. Auf das Schicklichste schreitet sie durch ihre Kammer und ohne Unter­lass hin und her laufend, schlägt sie sich häufig mit beiden Handflächen auf die Wangen; daraus ergibt sich eine klare Regelmäßigkeit des Zusammenklangs der Töne: und so heiligt sie über eine lange Zeit anstelle mit Singen von Psalmen und klingender Zim­beln die Vigilen der ersten Nachtstunden.693

So setzt sie anstelle der lectio ihr körper­liches Gebaren, um den Beginn der Passion zu erzählen.694 Dabei zerrt sie sich selbst am Gewand einmal in die eine, dann in die andere Richtung, fällt beinahe vornüber, erhebt die geballten Fäuste gegen sich selbst. In Zeichen und Gebärden drückt sie Angst und Schrecken aus. Sie traktiert sich mit Schlägen auf die Wange, den Hinterkopf, zwi­schen die Schultern und den Hals, um kurz darauf den Kopf auf den Boden zu schlagen und sich an den Haaren zu ziehen. Schließlich hat es den Anschein, als wolle sie sich die Au­gen durchbohren695 – und geriert als Folterknecht und Gefolterte zugleich: Aus dem be­reits geschilderten wird also deutlich, dass sie auf neue und unerhörte Weise gleich­zeitig und auf einmal in sich [selbst] die Person des leidenden Herrn und des Verfolgers oder henkerischen Wütenden darstellt: die Person des Herrn, solange 691  Philipp flicht an dieser Stelle ein, dass Elisabeth auf Grund ihrer körperlichen Schwäche beinahe einem Hausbrand zum Opfer gefallen wäre. Ihre Zucht und ihre Jungfräulichkeit werden an dieser Stelle ebenfalls betont. Vgl. dazu Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 8–16. 692  quod motus et gressus ipsius virginis inferius prout fieri poterit describendi, non ex ipsius sed potius ex quadam divina et occulta virtute procedunt (ebd., Z. 18–20). Vgl. dazu auch Zimdars-Swartz, Stigmata, 12. 693  incedit honestissime per cameram suam et sine intermissione eundo et redeundo utraque palma crebro ordine se percutit in maxillis, clara exinde et concordi sonorum constantia resultante: et sic diu loco psalmodiae quasi in tympanis et cymbalis benesonantibus primi nocturni vigilias solemni­zat“ (Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 26–30). 694  „Danach jedoch, wie durch die Lesungen webt/erzählt sie in ihren Gesten den Anfang der göttlichen Passion, nämlich wie er gefangen genommen wurde.“ Postmodum vero, quasi pro lectionibus, in suis gestis texit exordium Dominicae passionis, videlicet quomodo captus fuit (ebd., Z. 30 f.). 695  Vgl. dazu ebd., Z. 32–365, Z. 15. Diese Passage verdankt einer deutschen Übersetzung bei Angen­e ndt, Religiosität, 538 f. eine gewisse Bekanntheit.

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A Einleitung

sie leidet, die des Ver­folgers, wenn sie schlägt, zerrt, entweder [indem sie] stößt oder gestoßen wird.696

Von den unsag­ba­ren Anstrengungen dieser multipersonalen Performanz erschöpft auf der Erde liegend, er­f ährt Elisabeth schließlich göttlichen Trost.697 In Abschnitt fünf nimmt der Abt noch einmal die Metapher des Musikinstrumentes auf, um den Körper Elisabeths, der zum Lobe Gottes erklingt, eingehend zu beschreiben: „Anstelle des Singens von Psalmen verwendet die junge Tamburinspielerin das Fleisch, anstelle der Zither die Knie als Tamburin, den Jubelschrei als Psalterium, die Hände und Finger als Plektrum“.698 Schließlich verwandelt sich jener musizierende Leib zu einem Signifikanten des Kreuzes.699 Erst der Zustand des raptus, in den Elisabeth gleitet, löst ihren Körper aus der Kreuzesform.700 Im folgenden Abschnitt sechs kommt Philipp von Clairvaux auf die Schmerzen und Ängste zu sprechen, welchen Elisabeth nur während des raptus enthoben ist, die sie je­doch jenseits dieses Zustandes umso heftiger heimsuchen.701 Ihr Körper ist durch den Nachvollzug der Passion aufs Äußerste geschwächt.702 696  Ex praedictis igitur apparet quod novo et inaudito modo simul et semel in se personam exhibet Domini patientis et persecutoris seu carnificis saevientis: personam Domini, dum patitur; persecutoris, dum pulsat, trahit, aut percutit aut minatur (Philipp von Clairvaux, Vita, 365, Z. 15–18). Diese einzig­artige Synthese der Rollen, dieses wortlose Drama unterlegt Philipp mit Worten aus der Heiligen Schrift (Jes 50,6; Hiob 1,10; Num 27,16 und Jes 40,29) und passt das Geschehen somit fest in den biblischen Deutungsrahmen ein. 697 Vgl. Philipp von Clairvaux, Vita, 365, Z. 21–24. Auch hier wird die Körperlichkeit des inneren Geschehens anschaulich gemacht, wenn Philipp vom Aufatmen (respirans), vom tiefen Atem­schöp­fen (suspirans) Elisabeths schreibt, mit welchem sie den geistlichen Trost in sich aufnimmt (supernum et spirituale solatium). 698  Loco psalmodiae […] nova tympanistria carnem ponens pro cithara, genas pro tympano, jubilum pro psalterio, palmas et digitos pro plectro (ebd., Z. 30–32). 699  Vgl. ebd., 366, Z. 2–7. Tatsächlich wie in einer Choreographie-Notation wird jede noch so kleinste Bewegung der Begine im Raum aufgezeichnet, so dass es ein leichtes wäre, den Bewegungsablauf nach­zu­vollziehen, etwa wenn ihr Vorbeugen des Rumpfes nach vorne, das Führen ihrer Finger in hori­zon­taler Linie vor ihrem Gesicht, von Ohr zu Ohr, beschrieben wird (transversaliter ab aure usque ad aurem, ducendo digitos). Ihr Leib erscheint Philipp wie ein verkörpertes Gebet; vgl. dazu Philipp von Clairvaux, Vita, 366, Z. 7 f.: gestu etiam corporis devotam orationem insinuat. 700 An dieser Stelle erfährt der Leser die in der vorliegenden Arbeit bereits erwähnte Durchführung einer Probe, mit der Philipp den Wahrheitsgehalt jener performatio passionis auf nüchterne und objektive Weise zu überprüfen scheint: „Auch in diesem Raptus und bei anderen legte ich zwischen Mund und Nasen­löchern, [wie] ich es selbst des Öfteren gesehen habe, eine ganz leichte Feder, so dass, wenn durch die Lippen oder durch die Nasenlöcher der leichteste Hauch ausginge, [dieser] sofort die Feder fort­wehte.“ In hoc etiam raptu et in aliis inter os et nares ipsius aliquotiens vidi levissimam plumam poni, ita quod, si per labia aut per nares vel levissimus flatus exiret, statim plumam ejiceret (ebd., Z. 18–20). 701 „nun erstmals wird sie nach dem Ende des Raptus zu sich zurückgekehrt […] von Ängsten und Qualen getroffen.“ nunc primum finito raptu ad se reversa […] angustiis affligitur et torturis (ebd., Z. 26–29). 702  Elisabeth vermag sich nurmehr über den Boden zu wälzen; vgl. ebd., Z. 33 f.



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Das Aus­maß ihrer Beklemmung, so Philipp, übersteige sogar die von ihm miterlebten Qualen und Schmerzensschreie von Sterbenden.703 Mit einem Zitat aus Jes 33,14 (Vg.) stellt Philipp dem Leser die Ungeheuerlichkeit dieser freiwilligen Aneignung des Leidens Christi wäh­rend der sieben Horen vor Augen.704 Im Zustand des raptus erscheint Elisabeth dem Be­trach­ter wie tot705  – allein die Macht Gottes vermag sie wieder zum Leben zu erwecken.706 Schließlich ist von einem gegenständlichen Stimulans ihrer Passionsfrömmigkeit die Rede: Die junge Begine besitzt ein lebensechtes Bildnis des Gekreuzigten (tabula quadeam optime depictam habens imaginem Domini crucifixi),707 dessen gemalte Füße sie mit Küssen bedeckt. Zum ersten Mal kommt Elisabeth selbst im Text des Abtes zu Wort  – und dies in ihrem eigenen Idiom, welches der Zisterzienser jedoch sogleich für seine Leser übersetzt: „Here, soete Here, das ist: Herr, süßer Herr.“708 Die Betrachtung dieses Bildes stellt ihre im Innersten ihres Herzens verschlossene Liebe gleichsam auf die Bühne – und diese bricht sich mit freudigen, verliebten Seufzern Bahn.709 Ihre innere Bewegung macht sie äußerlich bewegungslos: Die Lippen an die Füße der Kruzi­fix­dars­tellung geheftet, verharrt sie bewegungslos im raptus, ihr ganzer Leib ist mit dem Bildnis verschmolzen, all ihre Sinne scheinen in diesem aufzugehen.710 Ihre jungfräuliche Schüchternheit (cum verecundia virginali) hält sie jedoch davon ab, über die Klarheit und Heiterkeit zu sprechen (in verbis tamen est rar), die sie ganz offenbar in dieser Ruhephase zwischen den Lobgesängen der Nacht und der Prim er­f üllt.711 Abschnitt 8 beginnt mit der Ankündigung, der Leser möge sich nun einer knapperen Dar­stellungs­weise gegenwärtigen, da die Ereignisse der folgenden Horen weitgehend deckungs­ gleich mit den bereits geschilderten seien.712 703  „Ich wage zu sagen, dass unter allen Sterbenden, welche ich in den Todesängsten befindlich gesehen habe, ich niemand erinnere gesehen zu haben, der von solch großen und bitteren Schmerzen gequält worden wäre.“ Audeo dicere quod inter omnes morientes quos vidi seu in mortis angustia constitutos, nullos memini vidisse tantis ac tam asperrimis doloribus cruciatos (ebd., Z. 41–367, Z. 2). 704  Vgl. ebd., Z. 2–6. 705  „Du würdest mit Blick auf Bewegung und Atem nichts anderes in ihr sehen als bei einem leblosen Kadaver.“ motus et flatus nihil aliud in ea quam cadaver exanime repraesentari videres (ebd., Z. 12 f.). 706  Alle sichtbaren Zeichen des Schmerzens weichen durch die Macht Gottes von Elisabeth; die Freude ihres Herzens strahlt zugleich auf ihrem Antlitz, wobei die Verknüpfung der Begriffe exterioris vultus und interiorem mentis jocunditatem einmal mehr den engen Konnex zwischen innerem Empfinden und äußerem Erscheinungsbild betont; vgl. ebd., Z. 17–19. 707  Vgl. ebd., Z. 21 f. 708  Here, soete Here, id est Domine, dulcis Domine (ebd., Z. 24). 709  „Zwischen diesen bringt sie große, tiefe und verliebte Atemzüge […] aus dem innersten Geheimnis des Herzens hervor.“ Inter haec larga, profunda et amorosa suspiria […] ex intimo cordis arcano pro­ducit (ebd., Z. 26.28). Vgl. zu den verschiedenen Bedeutungsaspekten von produco bei Georges, Handwörterbuch (Bd. 2), 1956. 710  Vgl. dazu Philipp von Clairvaux, Vita, 367, Z. 33–368, Z. 10. 711  Siehe ebd., Z. 16–21. 712  So ebd., 368, Z. 22.

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A Einleitung

Sich selbst Lügen strafend, liefert Philipp nun dennoch eine sehr ausführliche Beschrei­bung von Elisabeths performativer Darstellung der Gefangennahme Jesu.713 Im darauffolgenden Abschnitt legt der Abt besonderes Gewicht auf die Schilderung der Terz, während derer die Begine Jesu Gebundensein an die Martersäule pantomimisch dar­stellt.714 Abschnitt zehn fasst nunmehr die Horen Sext, Non und Vesper zusammen, insofern als Elisabeth während dieser Gebetszeiten mit ihrem Körper die Gestalt des Kreuzes formt. Nach einer äußerst umfangreichen Beschreibung dieses Vorganges715 verweist Philipp abschließend 713  Detailgetreu schildert der Abt das körperliche Gebaren der Begine: Die Verschränkung der Arme hinter dem Rücken, welches die Bande Jesu versinnbildlichen solle, sowie ihr rastloses Umherlaufen in ihrem Zimmer, das Jesu Weg von Annas zu Kaiphas, von Pilatus zu Herodes darstelle. Nicht ohne die Schändlichkeit des jüdischen Volkes eigens zu betonen, spricht er von deren Lust an der Schmähung Christi; vgl. dazu ebd., Z. 25–37. All jene Zeichen der Gewalt und der Schmähungen, die Elisabeth sich zufügt, vermag er, wie er sagt, weder zu erinnern noch zu schildern: „Aber wie viele Zeichen der Gewalt und Indizien der Beleidigungen die sich so selbst fesselnde Jungfrau dar­stellte, dazu reicht weder das Gedächtnis aus, es zu behalten, noch der Geist, es zu diktieren.“ Quot autem signa violentiae et injuriarum indicia sic a seipsa virgo vinculata figuret, nec memoria ad tenendum nec ingenium suppetit ad dictandum (ebd., Z. 37–39). Ganz offensichtlich fasziniert fährt er nunmehr fort (vgl. dazu ebd., Z. 39–369, Z. 3), Elisabeths Körperbeherrschung zu beschreiben, ver­mittels derer sie sich ohne Zuhilfenahme der Hände – die sie weiterhin auf dem Rücken ver­schränkt hält (mirabili totius corporis flexione, brachiis semper iunctis et dorso adhaerentibus) – rück­lings auf die Erde legt und sich schließlich auf solche Weise kräftig zu schlagen beginnt, dass Philipp erstaunt konstatiert: „Danach jedoch zieht sie die Hand unter dem Rücken hervor und mit so harten und rasch folgenden Schlägen der Handflächen traktiert sie ihre eigene Brust, dass alle Zu­schauenden staunen und sich wundern und diese Tugend als übermenschlich zu sein erachten, wie eine solche Person, die sich diesen Geschlechts, Alters, Gesundheit und Wohlbefinden des Zustandes erfreut, so viele und so schnelle und heftige Schläge sich zuzufügen und zu ertragen vermag.“ Post haec vero manus exerit de sub dorso et ita duris et densis palmarum percussionibus proprium pectus tundit ut omnes intuentes stupeant et mirentur, et supra humanam arbitrentur esse virtutem quomodo una eademque persona, etsi sexus, aetatis, sanitatis et complexionis prosperitate gauderet, tot et tam veloces et ponderosos ictus sibi inferre valeat et suffere (ebd., Z. 3–8). Wiederum ohne fremde Hilfe sich erhebend, setzt Elisabeth ihre rastlose Wanderung durch ihre Kammer fort, die sie erst gegen Ende der Prim mit dem Beginn des reglosen raptus aussetzt. Philipp resümiert schlussendlich die Körper­zustände Elisabeths während der Prim: „[…] sich abwechselnd entweder einherschreitend oder stehend oder liegend oder sich schlagend.“ […] aut incedens aut stans aut jacens aut se percutiens alternis vicibus; diese stets gleiche Choreographie wird dann von dem bereits geschilderten raptus und dem Ruhen auf dem Bett abgelöst; vgl. dazu ebd., Z. 15–20. 714  Dabei habe sie ihre Arme in einer Stellung gehalten, die Raum für die Säule freigelassen habe: vacuo relicto spatio pro columna; vgl. dazu ebd., Z. 22–25. 715 Auf zweifache Weise gebärdet sich Elisabeth so, dass sie die Kreuzform darstellt  – alternierend einmal stehend, einmal auf der Erde liegend. Mit Blick auf die erste Variante – den Stand  – ist zu bemerken, dass hier wie beiläufig die Stigmata an den Füßen des Mädchens erwähnt werden, die das Ausharren in Kreuzesform noch wundersamer machen: „[…] sie setzt Fuß auf Fuß und Wunde auf Wunde: auf­recht­stehend, Hände und Arme in Form eines Kreuzes ausstreckend.“ […] pedem pedi et vulnus vulneri superponit: stans recta, manibus et brachiis in formam crucis extensis (ebd., Z. 34–36). Zur liegenden Kreuzform merkt Philipp an, dass Elisabeth nicht mit dem Gesicht zur Erde – und somit wie in der monastischen Liturgie – sondern auf dem Rücken liegend die Kreuzform einnimmt. Elisa­beth selbst erscheint dem Betrachter wie von Sinnen, ja geradezu in Ekstase; vgl. ebd., Z. 36 bzw. 370, Z. 1. Die offenkundig durch



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auf das biblische Zeitschema, das dieser Performanz zugrunde liegt: „Aber in den drei Horen, in denen man glaubt, dass der Herr am Kreuz gehangen habe, nämlich in der sechsten, neunten und der Abendstunde, werden diese Zeichen des Kreuzes in den Gliedern und am Körper der unschuldigen Jungfrau gezeigt.“716 Äußerst knapp und auf das bereits Geschilderte rekurrierend benennt er im folgenden Un­ ter­ abschnitt den Darstellungsinhalt der Komplet, die Grablegung des Herrn.717 Mit der Wendung tam corde quam corpore – „mit dem Herzen ebenso sehr wie mit dem Leib“ – schärft Philipp in Abschnitt zwölf dem Leser ein, dass alle die von ihm berichteten „Zeichen und Gesten der Passion des Herrn“, dass die gesamte Repräsentation der Passi­on durch Elisabeth letztlich als Darstellung ihrer compassio mit Christus zu betrachten sei.718 In direktem Anschluss an diese insgesamt zwölf Abschnitte, in denen sich Philipp über­ wiegend der Beschreibung der Passionsperformanz Elisabeths widmete, kehrt er recht unvermittelt zum eigentlich ausschlaggebenden Anlass seines Besuches zurück: der Zeich­nung der Begine durch die Wundmale Christi sowie ihren wundersamen Blut­fluss. Dieses Phänomen beschreibt er in mehreren Schritten: Aber jenes meine ich hier einfügen zu müssen, dass ich und meine Gefährten, Äbte und Mönche, in den Nächten und zu gewissen anderen Stunden Blut aus den Augen derselben ausfließen sahen und das Leinen­kleid, mit welchem sie angetan war, wurde durch die daraus fließenden Tropfen gefärbt. Ebenso sprudelte vor unseren Augen aus den Händen und Füßen reichlich Blut.719

das Stehen auf ihren verwundeten Füßen verursachten Schmerzen nötigen Elisabeth dazu, sich nurmehr über den Boden wälzend fortzubewegen („auf eine Weise, die ich nicht zu erklären vermag, wechselt sie den Ort, sich über die Brust und den Rücken und die Flanke wälzend.“ modo quem explicare nequeo, volvendo se super pectus et dorsum et latera, locum mutat) – um dann jedoch wunderbarerweise ohne fremde Hilfe aufrecht auf einem Fuße zu balancieren; vgl. dazu ebd., Z. 7–10. In dieser Stellung pendelt Elisabeth schließlich hin und her, um – wie der Abt mutmaßt – die Abnahme Christi vom Kreuz darzustellen (vgl. ebd., Z. 11–16). Ihr Beugen des Gesichtes bald nach vorne, bald nach rechts, bald nach links deutet er als Verkörperung des Bibel­wortes aus Mt 8,20 vom Unbehaustsein des Menschensohnes; das Ablegen ihres Hauptes auf der rechten Schulter verdeutliche das Aushauchen des Geistes (Joh 19,30). Auch an dieser Stelle betont Philipp die göttliche Urheberschaft aller Bewegungen und Regungen des Mädchens; vgl. dazu Philipp von Clairvaux, Vita, 370, Z. 27–30. 716  Haec autem tribus horis quibus Dominus in cruce creditur pependisse, scilicet sexta, nona et vesperis, crucis insignia in virginis innocentis membris et corpore demonstrantur (ebd., Z. 31–34). 717  Siehe dazu ebd., Z. 35–39. 718  Vgl. ebd., 371, Z. 1–3. Dem Leiden im Mitleiden folgt jedoch auch die Anteilnahme an der Frucht der Passion, nämlich an der Freude der Auferstehung, die sich ebenfalls in den Zügen des Mädchens lesen lasse; vgl. dazu ebd., Z. 3–6. 719  Illud etiam hic arbitror inserendum, quod ego et sociis mei, abbates et monachi, in nocturnis et aliis quibusdam horis vidimus sanguinem per ipsius oculos exeuntem et vestem lineam qua superinduitur guttis inde fluentibus intingentem. Item per manuum et pedum vulnera sanguis, nobis videntibus, pluries ebullivit (ebd., Z. 7–11).

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Eigens akzentuiert gegenüber dem von ihm und seinen Gefährten720 (zu nicht näher de­fin ­ ier­ten Zeiten) beobachteten Blutfluss aus Augen und Nägelwunden beschreibt Philipp nun in einem eigenen Absatz die Seitenwunde des Mädchens. Dabei fällt zum einen der offen­bar gewichtige Konnex zu Karfreitag (sexta feria, hora nona)721 ins Auge, zum anderen die Tatsache, dass das Aussehen der Seitenwunde an dieser Stelle nicht noch einmal eigens beschrieben wird. Vielmehr bleibt diese selbst verborgen.722 Ihre Existenz steht dennoch außer Zweifel: Auch sahen wir aus der Seite derselben um einen gewissen sechsten Tag, zur neunten Stunde, durch eine Öffnung des Kleides, etwa auf Brusthöhe, nicht gänzlich rotes, sondern wie mit Wasser vermischtes Blut ausfließen. Und das Wollkleid, das [eng] an ihrem Fleisch anlag, sahen wir von demselben Blut getränkt.723

Die entscheidenden johanneischen Stichworte ‚Blut‘ und ‚Wasser‘ sind somit bereits ge­fallen; dennoch unterstreicht Philipp noch einmal explizit den Bezug zu Joh 19,34: „Scheint nicht etwa auch der Teil der Seite auf jene im Evangelium bezeugte Wunde anzuspielen, aus der geöffnet Blut und Wasser hervorströmte?“724 Die „Schriftgemäßheit“ der von ihm und den Seinen bezeugten Seitenwunde stellt er somit noch einmal ins Zentrum, um schließlich auch das Durchtränktsein der Gewänder Elisa­ beths anhand alttestamentlicher Zitate zu deuten und an die Heilige Schrift rückzu­binden: In Jes 63,3, so Philipp, sei dieses Durchtränktsein des Gewandes mit Blut bereits präfiguriert.725 Nunmehr müsse man aber neben dem äußeren Gewand (indu­men­tum exterius), welches das Fleisch der Jungfrau bedecke, auch von dem inneren Gewand (indumentum interius) sprechen, welches das Fleisch selbst sei  – in diesem Sinne sei das Durch­tränktsein der Hände und Füße und schließlich der Seite des Mädchens zu ver­stehen.726 Die ganze Elisabeth wird ein Abbild des Schmerzensmannes, wenn der Abt hin­zu­fügt, das aus den Augen fließende Blut habe ihre Wangen 720  Besonders auffällig ist an dieser Stelle die Rückkehr in die 1. Person Plural, wohingegen in den voranstehenden Artikeln Philipp als von ihm (im Singular) beobachteten Ereignissen spricht. 721  In der Non hatte bislang nicht die Seitenwunde, sondern die Nägelwunden der Füße eine Rolle ge­spielt; vgl. nochmals Philipp von Clairvaux, Vita, 369, Z. 34 f. 722 Die zurückhaltende Formulierung dieses Passus legt die Vermutung nahe, dass es Philipps Anliegen, Elisabeth als besonders schicklich darzustellen, widersprochen hätte, wenn an dieser Stelle eine ausführliche Beschreibung der Seitenwunde erfolgen würde. 723  De latere etiam ipsius quadam sexta feria, hora nona, per aperturam vestimenti, factam circa mamillam, sanguinem non omnino rubeum, sed quasi admixtum aquae, vidimus defluentem. Et vestimentum laneum quod adhaeret carni, vidimus eodem sanguine inquinatum (ebd., 371, Z. 11–14). 724  Necnon et partem lateris circa vulnus illud evangelicum insinuasse videtur, quod de aperto latere exivit sanguis et aqua (ebd., Z. 15 f.). 725  Vgl. ebd., Z. 16 f. 726  Nam non solum indumentum exterius quod tegit carnem virginis, sed etiam indumentum interius, quod est caro virginis, in manibus scilicet, pedibus et latere, sanguine aspersum conspeximus et intinctum (ebd., Z. 17–20).



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benetzt und Blutströme seien von ihren Fingernägeln und Fingerspitzen geflossen.727 In den darauffolgenden Abschnitten 14 bis 17 scheint Philipp nun um eine durch die Heilige Schrift abgesicherte Einordnung dieser weiblichen Repräsentation der Passion Christi zu ringen. Dieses Problem arbeitet er in verschiedenen Schritten ab: Ausgehend von Maria, in deren Rolle Elisabeth schlüpft (Abschnitt 14), vergleicht er die Begine mit der Sulamit des Hoheliedes (Abschnitt 15), um dann einen grundsätzlichen Dis­kurs über die Stellung der Frau in der Heilsgeschichte, beziehungsweise in der Geschichte des Alten Bunden anzuschließen (Abschnitt 16). Den Endpunkt dieser Gedankenfolge bietet die Versicherung der unzweifelhaften Schicklichkeit und weiblicher Züchtigkeit der konkreten Protagonistin seines Berichtes, Elisabeth (Abschnitt 17). Einsatzpunkt ist in Abschnitt 14 zunächst die Gestalt der Gottesmutter Maria. Anknüp­fend an die vorangehende Passage der Seitenwunde berichtet er, wie Elisabeth die Mutter des Herrn neben dem Kreuz stehend darstellt, die – gleich ihrem Sohn – auf der rechten Seite ihres Leibes von dem von Simeon geweissagtem Schwert durchdrungen wird. Die Her­zens­wunde Mariens erscheint hier als Abbild der Seitenwunde Christi: [U]nd unter ihrer rechten Brust hielt sie ihre rechte Hand: Gleichsam passend zur Erscheinung des Sohnes wurde sie auf jener Seite, nämlich auf der rechten, von einem Schwert durchbohrt, wie es der heilige Simeon prophezeit hatte. Wo nämlich der Schmerz [ist], dort [ist] die Hand. Deshalb zeigte die Hand durch die Auflegung an jene Stelle, den Schmerz des Schwertes im Herzen, an der Stelle, von der das materielle Schwert zu den Eingeweiden des Erlösers durchgedrungen ist.728

Die in der Gestalt Christi und Mariens so gezüchtigte Jungfrau vergleicht Philipp von Clair­vaux nunmehr mit der Sulamit des Hoheliedes (7,1). Diese Frauen­ figur, die das Moment des Kampfes („Feldlager“) ebenso evoziert wie das der Freude („Rei­gen­tänze“) ähnelt in dieser Ambivalenz Elisabeth, deren Körper gekreuzigt, deren Geist jedoch durch Gott überschäumende Freude kennt.729 Das Aufgehen Elisabeths in der Passion Christi, das Verschmelzen der jungen Begine mit dem Gekreuzigten fasst der Abt am Ende des 15. Abschnittes noch einmal in ein­drucks­volle Worte: Die Jungfrau im Kreuz und das Kreuz in der Jungfrau zu betrachten – beides werde dem Betrachter zur Quelle des Heils.730 Abschnitt 16 widmet sich nunmehr grundsätzlich der Fragestellung, inwiefern 727  Siehe dazu ebd., Z. 20–24. Das Bluten der Finger wird durch das Ringen bzw. das Verschränken der Hände erklärt. 728  et tenens subtus maxillam dextram dextram manum: quasi ad instar Filii lanceati ab illa parte, scilicet dextera, pertransiret gladius a sancto Simeone promissus. Ubi enim dolor, ibi manus. Unde ab illa parte significabat manus appositione dolorem gladii cordis, a qua parte transivit materialis gladius ad viscera Redemptoris (ebd., Z. 27–31). 729  Vgl. dazu ebd., Z. 36–372, Z. 1. 730  „Wen also würde es nicht erfreuen […] die Darstellung einer so reichlichen Tugend, eines so glorreichen Heils zu sehen: nämlich die Jungfrau im Kreuz und das Kreuz in der Jungfrau zu

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Frauen ange­sichts der Schwäche ihres Geschlechtes, die einer solch glorreichen Darstellung des gött­lichen Sieges zu widersprechen scheint, dennoch als Werkzeuge des Heilsplanes fungie­ren können.731 Etwaigen Skeptikern gegenüber führt Philipp nun Frauen der Bibel ins Feld, die selbst jene überzeugen müssten. Die Geschichten einer Deborah, Ester oder Judith sowie der Mirjam zeigten, wie auch das weibliche Geschlecht zum Ruhme Gottes agiere.732 Jene Heldinnen des Alten Bundes würden freilich weit übertroffen von der Mutter Jesu, deren fleischliche Einheit mit dem Sohn der Abt durch die Zitation von Lk 1,78 unterstreicht.733 Die Teilhabe der Jungfrau an der siegreichen Passion könne man, so Philipp, bereits bei dem Propheten Jesaja gleichsam zwischen den Zeilen lesen. Dieser habe seine Worte über die Verlassenheit Gottes in der Kelter mit Bedacht gewählt, als er den Herrn über die Abwesenheit des Mannes, nicht aber einer Frau klagen lässt: [U]nd durch Jesaja spre­chend sagt der Herr, bedrückt von seinem Leiden, bezeichnenderweise: Ich habe die Kel­ter allein getreten und von den Völkern war kein Mann mit mir. Er sagte nämlich nicht ‚Frau‘ oder ‚Mensch‘, welches das allgemeine Geschlecht ist, sondern ‚ein Mann‘ ist nicht bei mir: damit die Jungfrau, deren Frucht in der Presse des Kreuzes gedrückt wurde, nicht ausgeschlossen erscheine vom Druck der Kelter und der Frucht.734

Hat Philipp somit seine Beweisführung zu Gunsten der Würde des weiblichen Ge­schlech­tes unter Zuhilfenahme der Schrift beendet, stellt er Elisabeth nunmehr Franz von Assisi als herausragenden „außerkanonischen“ männlichen bedenken?“ Quem igitur non delectet videre […] repraesentationem tam copiosae virtutis, tam gloriosae salutis: virginem scilicet in cruce et crucem in virgine contemplando? (Ebd., Z. 10–13). 731  „Dass, wenn jemand vielleicht vor der Schwäche des weiblichen Geschlechts zurückschreckt in der Bezeichnung oder Darstellung eines solch glorreichen Sieges […].“ Quod si quis forsitan infirmitatem sexus muliebris abhorret in designatione seu exhibitione tam gloriosae victoriae […] (ebd., Z. 14–16). Das mittelenglische Manuskript „Oxford Bodley Douce 114“ weist nach Clouse, Virgin, 89 f. an eben dieser Stelle eine Auslassung auf, eine Tatsache, die die Autorin zu einer Diskussion möglicher Ursachen anregt: „The gender implications of this omission emphasize the problem of the manuscript. Is Douce 114 a faulty translation or a censored one, a compilation shaped by a flawed original, by the writer’s modesty, ignorance, or anticipation of an ignorant audience, limited supplies of time and materials, or an ideological bias advantageous to English medieval religious women?“ 732  Vgl. dazu Philipp von Clairvaux, Vita, 372, Z. 17–19. 733  „Daher ist es wahrhaftig möglich, zu derselben Jungfrau Mutter zu sagen: Dieses Fleisch ist von dei­nem Fleisch. Diese Eingeweide der Barmherzigkeit unseres Gottes, in denen uns besucht hat der Aus­gang aus der Höhe, sind aus deinen Eingeweiden hervorgegangen.“ Unde ipsi Virgini Matri veraciter dici potest: ‚Haec caro de carne tua. Haec viscera misericordiae Dei nostri, in quibus visitavit nos oriens ex alto, de tuis dulcissimis visceribus processerunt‘ (ebd., Z. 23–26). 734  et per Isaiam Dominus loquens de passionis suae pressura, signanter dixit: Torcular calcavi solus et de gentibus non est vir mecum. Non enim dixit ‚mulier‘ aut ‚homo‘, qui est communis generis, sed ‚vir‘ non est mecum: ne Virgo cujus fructus premebatur in prelo crucis, a torcularis pressura et fructu videatur excludi (ebd., Z. 30–34). Dieses Wort sei freilich auch im Hinblick auf die Jungfrau Juda zu ver­stehen, die von der Ecclesia beerbt worden sei; vgl. dazu ebd., Z. 34–39.



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Zeugen für Christus, ja, als ihr männ­liches Gegenstück zur Seite.735 Beide, so Philipp, dienten als lebendige Beispiele, die die Menschen im Kreuze Christi zu finden lehrten, was der Anbetung, der Nach­ah­mung und der Liebe wert sei.736 Keiner könne sich nunmehr noch länger auf seine mangelnde Bildung berufen, aufgrund derer ihm die Heilige Schrift ein „verschlossenes Buch“ bleiben müsse. Die somatische Per­formanz Elisabeths öffnet auch dem Analphabeten den Zugang zur Geschichte seines Heils, ihre Glieder treten an die Stelle von Pergament und Papyrus, ihr ganzer Leib erscheine wie das Schweißtuch der Veronika.737 Darin, so wird deutlich, liegt der unschätzbare Nutzen und wahre Sinn dieser so unge­wöhn­lichen imitatio passionis  – indem Elisabeth als lebendes Bild (vivam imaginem), als be­leb­te Geschichte (animatam historiam) zum Schlüssel des Verstehens auch für den Un­ge­lehrten fungiert.738 Als Schlusspunkt dieses Bogens einer Apologie weiblich-religiöser Autorität betont Ab­schnitt 17 letztlich die Schicklichkeit Elisabeths, die all ihren Bewegungen, Gesten sowie ihrer Kleidung eigen sei.739 735  „Auch im männlichen Geschlecht, nämlich in der Person des seligen Franziskus, hat er sich längst selbst offenbart.“ In sexu etiam virile, videlicet in persona beati Francisci, dudum relevavit idipsum (ebd., 373, Z. 4 f.). 736  „[…] so dass beide Geschlechter nicht allein aus dem Zeugnis der Schriften, sondern auch durch lebendige Beispiele unter den Bedingungen der menschlichen [Natur] durch das Kreuz Christi fänden, was man ehren, verehren solle, vor was man Ehrfurcht habe, was nachgeahmt, geliebt werden möge.“ […] ut sic uterque sexus non solum ex testimonio Scripturarum, sed ex vivis exemplaribus conditionis humanae in cruce Christi inveniat quod honoret, veneretur, revereatur, imitetur, amet (ebd., Z. 5–8). 737  „[…] und keine Entschuldigung vermag ein Mensch vorzubringen, auch wenn er noch so ungebildet und einfach wäre […], dass er sagte: Ich kann so tiefe Geheimnisse nicht lesen oder verstehen, ‚weil ich die Buchstaben nicht kenne‘ oder ‚weil es [für mich] ein verschlossenes Buch ist‘, weil nicht auf Häuten oder Blättern, sondern in den Gliedern und dem Körper unseres erwähnten Mädchens, gleichwie durch ein lebendiges und offenes Veronika[tuch], der ungebildete Mensch ein lebendiges Bild seiner Errettung und eine belebte Geschichte des Loskaufs zu lesen vermag wie ein des Lesens und Schreibens kundiger Mensch.“ […] et nihil excusationis praetendere possit homo, quantumcumque illitteratus aut simplex […] ut dicat: ‚Non possum legere aut intelligere tam profunda mysteria, quia nescio litteram‘ vel ‚quia liber clausus est‘ cum non in membranis aut chartis, sed in membris et corpore memoratae nostrae puellae, scilicet vivae et apertae Veronicae, suae salvationis vivam imaginem et redeptionis animatam historiam sicut litteratus ita valeat legere idiota (ebd., Z. 8–14). 738  Die Darstellung Elisabeths als belehrendes, pädagogisches Bild erinnert an die Auffassung der Gottes­mutter als lesbares, wegweisendes Buch, welches der Glaubende studieren solle; vgl. dazu Schrei­n er, Die betende Jungfrau, 336. 739  Dieser Umstand muss offenbar gerade wegen der Exzessivität der beschriebenen Passionsperformanz sowie angesichts ihrer weiblichen Protagonistin noch einmal hervorgehoben werden: „Auch muss man jenes wissen: In den körperlichen Bewegungen und oben beschriebenen Gesten der bereits erwähnten Jungfrau ist nichts Unschickliches vorgekommen, nichts, was die Augen der Zuschauer beleidigen könnte.“ Illud etiam sciendum, quod in praedictae virginis corporeis motibus et gestibus suprascriptis nihil indecens, nihil quod intuentium oculos offendere possit occurrit (Philipp von Clairvaux, Vita, 373, Z. 15–17). Das Prinzip der Züchtigkeit gilt ebenso für die Bekleidung der Begine; vgl. dazu ebd., Z. 17–21.

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Abschnitt 18 stellt eine Zäsur dar – die Materie der Horen wird nun vollständig beiseite­ge­lassen740 und der Autor widmet sich anderen Bereichen – so etwa legt er dar, dass es der Benediktinerabt des Klosters St. Truden, ein Verwandter Elisabeths, gewesen sei, der als Mittelsmann zwischen der Delegation Philipps und der jungen Begine gewirkt habe.741 Auch der Wohnort  – man möchte fast sagen  – die ‚Bühne‘ Elisabeths wird an dieser Stelle be­schrieben: Durch den unmittelbaren Zugang zwischen der Kapelle und die an diese ange­bauten Kammer scheinen profaner und sakraler Raum beinahe nahtlos ineinander über­zugehen.742 Diese Tatsache wirkte sich nicht zuletzt auf Elisabeths Eucharistiefrömmigkeit (Abschnitt 19) aus, konnte sie doch auf dem Bett ruhend  – wohl durch ein Fensterchen – die Eleva­ti­on der Hostie sehen. Der Erhebung der Hostie durch den Priester pflegt sie auf zweierlei Wei­se zu antworten: Ergriffen vom raptus743 streckt sie ihren Körper in Kreuzform aus und zeigt ihre Wunden. Auf diese Weise verkörpert sie die paulinische Synthese (1 Kor 11,26) zwischen Eucharistie und Gedächtnis des Todes Jesu, mit hierher ausgebreiteten Armen und daraufhin dem Kreuz zugewandt, durch sich selbst jenes [Wort] des Apostels darstellend: Sooft ihr dieses Brot essen werdet und dieses Blut trinken werdet, verkündet ihr den Tod des Herrn, etc. So nämlich in sich [selbst] das Kreuz darstellend und die Wunden zeigend, scheint sie den Tod des Herrn zu verkünden.744

Elisabeths tatsächlicher Empfang der Hostie ist dann nicht allein begleitet von sehn­süch­ti­gem Seufzen und in geistiger Begierde vergossenen Tränen745  – all dies Topoi einer ge­stei­gerten, bräutlich geprägten Eucharistiefrömmigkeit – im Empfang des Sakra­men­tes wird Elisabeth gleichsam selbst vom Geist Gottes 740  Das für Elisabeth mehrfach angewendete Lexem imbellicitas („Schwäche“, „Gebrechlichkeit“) be­zieht der Abt nunmehr auf sich, d. h. auf seinen Schreibgriffel (stilus), der nicht imstande sei, all das niederzuschreiben, dessen er selbst in den Horen Zeuge geworden ist; vgl. dazu ebd., Z. 22–24. 741  Philipp unterlässt es hierbei nicht, auf den besonderen Scharfsinn sowie den tadellosen Ruf dieses Mannes zu verweisen; vgl. dazu ebd., Z. 28–32. 742  Vgl. dazu ebd., Z. 32–37; Njus, Politics of Mysticism, 295 nimmt an, dass Elisabeth den Bau die­ser Zelle William von Ryckel verdankt habe. 743  Wie schon in den Horen hat Elisabeths Körperbeherrschung in der Reaktion auf das Sakrament etwas durch und durch Wunderhaftes: „Sofort jedoch, als sie die erhobene, konsekrierte Hostie erblickt, in eben demselben Augenblick des Anblicks trägt sie den ganzen Körper von der Nierengegend aufwärts vom gegenüberliegenden Bett in wundersamer Bewegung.“ Statim vero cum elevatam aspicit hostiam consecratam, in ipso visionis momento totum corpus a renibus et supra ex transverso lecti motu transfert mirabili (Philipp von Clairvaux, Vita, 374, Z. 4–6). 744  extensis brachiis hinc et inde crucem faciens, de se ipsa illud apostoli repraesentans ‚Quotiens manducaveritis panem istum et biberitis hunc sanguinem, mortem Domini annuntiabitis‘, etc. Sic enim in se crucem exhibens et plagas ostendens, mortem Domini annuntiare videtur (ebd., Z. 6–9). 745  Vgl. dazu ebd., Z. 22–24.



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empfangen.746 Diesem inneren, wunderhaften Geschehen der Verschmelzung mit dem Göttlichen korres­pon­dieren nun auch somatische Phänomene, die Elisabeths Körper der fleischlichen Ver­fasst­heit entrückt und der überirdischen Sphäre verwandt erscheinen lassen: Weder Kauen noch Schlucken der Hostie sei zu beobachten gewesen.747 Im Folgenden (Abschnitt 21) fügt Philipp hinzu, dass diesem Akt der Vereinigung mit Gott im Sakrament der Eucharistie stets das Sakrament der Beichte voranzugehen pflege, wenn­gleich er vermerkt, dass die Begine ihrem Beichtvater, dem Abt von St. Truden, mehr Lobenswertes denn Schändliches anzuvertrauen habe.748 In Abschnitt 22 schlüpft Elisabeth nunmehr749 selbst in die Rolle der Seelenhirtin – wenngleich sie nicht selbst die Beich­te abnimmt, so veranlasst sie in frommer Hellsichtigkeit einen Fußsoldaten aus Philipps Gefol­ge, die Beichte abzulegen und den geistlichen Stand zu wählen.750 Am Rüsttag des Jahres 1265, so berichtet der folgende Abschnitt, sei Elisabeth durch die Dornen­ krone Christi gekrönt worden;751 hier wird auch die wundersame Fähigkeit der Begine erwähnt, andere an von diesen vergessene Festtage im Jahreskreis zu erinnern.752 Ebenso wunderhaft ist Elisabeths rein geistige Verbindung mit einer anderen Jungfrau (Abschnitt 24), die Philipp selbst als herausragendes Beispiel geistlicher Tugenden bekannt ist, der Elisabeth lediglich im Zustand des raptus zu begegnen vermag und deren Qualen sie als ungleich schärfer befindet als ihre eigenen.753 Elisabeths Hellsichtigkeit ist noch einmal Gegenstand des Abschnitts 746  „[…] und in demselben Augenblick, in dem sie den Mund öffnet und die Hostie aufnimmt, [in dem Moment, in dem] der Geist dieses Mädchens den Geist Gottes in sich aufnimmt, wird sie von dem Aufgenommenen auf­ge­nom­men und innerhalb eines Augenblicks fortgerissen.“ […] et in ipso momento quo os aperit et hostiam accipit, ejusdem puellae spiritus Spiritum Domini suscipiens, suscipitur a suscepto et rapitur in instanti (ebd., Z. 25–27). 747  Vgl. dazu ebd., Z. 28–30. 748  Siehe dazu den gesamten Abschnitt 21 (ebd., 375, Z. 3–8). 749  „Des Weiteren, weil wir die Beichte erwähnt haben […].“ Porro, quia de confessione fecimus mentionem (ebd., Z. 9). 750  Diese sehr breit geschilderte Episode, die mit der Bitte mehrerer junger Männer um die Fürbitte Elisa­beths einsetzt, unterstreicht durch zwei Erzählstränge die herausragende religiöse Autorität, die der Begine von Philipp zuerkannt wird: Zum einen durch die Feststellung, dass der von Elisabeth aus­ge­son­derte junge Mann später in besonderer Weise die mönchischen Tugenden an den Tag legen sollte, zum anderen, dass ein anderer Jüngling, der den Rat zur Beichte zunächst nicht befolgt hatte, auf Elisa­beths zweite strenge Ermahnung die päpstliche Absolution sucht; vgl. dazu insgesamt ebd., Z. 9–42. 751 Diese über die Kreuzeswunden hinausgehende Stigmatisierung wird als besonders schmerzhaft ge­schil­dert; der zunächst unerklärliche Kopfschmerz Elisabeths rührt bei genauer Untersuchung durch ihre Angehörigen von zahlreichen Einstichen, die wie von einer Dornenkrone verursacht scheinen: „[S]ie sehen und zeigen den Herantretenden einmal rund um den jungfräulichen Kopf Einstiche wie durch eine Dornenkrone, rötliche Tropfen Blut, die Dornenkrone des Herrn abbildend.“ [V]iderunt et assistentibus ostenderunt in circumferentia capitis virginalis ad modum coronae quasi spinarum puncturas, guttis sanguineis rubricatas, spineam coronam Domini figurantes (ebd., Z. 8–10). 752  Vgl. dazu ebd., Z. 10–18. 753  Vgl. dazu insgesamt ebd., Z. 19–34, bes. Z. 27 f.: „Sie fügte auch hinzu, mit Blick auf jene

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25, in dem beschrie­ben wird, wie sie die Exkommunikation eines ihr fremden Edelmannes ahnt (in spiritu sta­tim cognovit excommunicationis flagitium) und diesen daraufhin der Tür verweist.754 Zeigt diese Episode die unerbittliche Strenge der jungen Begine, so zeichnet die Vita sie gleich darauf als Leidende für andere, deren Gebete die Macht hätten, Seelen aus dem Fege­feuer loszukaufen. Darin gleicht sie für Philipp den Heiligen, die aus ihrem über­rei­chen Schatz für andere zu schöpfen vermögen: Auch haben wir durch eine gewisse sehr würdige Person des Vertrauens erfahren, welche wir nicht wagen wegen der Empfehlung des Geheimen preiszugeben, dass die Gebete, Leiden und Fürbitten der oft genannten un­schuldigen Jungfrau viele Tausende von Seelen von den Stricken der Sünden und den Stra­fen des Fegefeuers befreit haben.755

In Abschnitt 27 wird der Gedanke ihres stell­ver­tre­ten­den Leidens fortgeführt,756 sowie ihr Eifer geschildert, auch den Verfasser der Vita zum Dienst der Verkündigung und der Seelsorge zu ermun­ tern.757 Einen kleinen Einblick in Elisabeths besondere Marienfrömmigkeit gewährt die nach­fol­gen­de Passage: Dort erscheint sie als Diskurspartnerin, die den anwesenden Männern in deren Gespräch über die Demut die Gottesmutter als Lehrmeisterin anempfiehlt.758 Im vorletzten Passus der Vita Elisabeth, die in solcher Ausführlichkeit über die soma­ti­schen Praktiken der Begine gehandelt hatte, wird der Körper nun noch einmal ins Zent­rum gerückt. Philipp nennt diverse körperliche Merkmale, Maria, dass sie sich oft in ihren gleichzeitigen Entrückungen gegenseitig sähen.“ Adjecit etiam de illa Maria quod frequenter concurrentibus earum raptibus mutuo se videbant. 754  Die Darstellung Elisabeths als treue Tochter der Kirche ist sicher nicht absichtslos; vgl. dazu die ge­sam­te Episode (ebd., Z. 35–377, Z. 6), bes. jedoch ebd., 377, Z. 4 f.: „Durch welche Tat sie die Leistung und Schlüsselgewalt der Kirche durch ein treues Zeugnis und auf treuem kürzestem Weg anempfohlen hat.“ In quo facto virtutem et auctoritatem clavium Ecclesiae fideli testimonio et fideli compendio commendavit. 755  Intelleximus etiam per quadam fide dignissimam personam, quam propter secreti commendationem prodere non audemus, quod saepedictae virginis innocentis orationes, passiones, supererogationes multa millia animarum a vinculis peccatorum et poenis purgatorii liberarunt (ebd., Z. 13–17). 756  „Aber für alle wird sie [innerlich] erregt und allen wünscht sie Heil. Alle ermuntert sie zur Beichte und Buße. Gegenüber den Undankbaren wird vorgegangen und zu den Lobpreisungen des Retters und zu Taten des Dankes lädt sie ein.“ Pro omnibus autem afficitur et omnibus vult salutem. Omnes ad con­fessionem et poenitentiam exhortatur. Contra ingratos invehitur, et ad laudes Salvatoris et gratiarum actiones invitat (ebd., Z. 21–23). 757  Diese Szene ereignet sich während eines schweren Fieberanfalls der Begine; vgl. dazu ebd., Z. 23–30. 758 Der Eindruck ihrer Autorität wird jedoch durch die Schilderung der Reaktion des Benediktinerabtes von St.  Truden konterkariert, der ihr amüsiert eine Neigung zum Exzess hinsichtlich ihrer Aus­füh­run­gen über die Gottesmutter bescheinigt: „[E]r beginnt zu lachen und uns zu sagen, dass selbiges Mäd­chen, wann immer sie anfängt, von der glorreichen Jungfrau zu sprechen, sie manchmal dazu neige, in gewisse Ekstasen auszubrechen.“ [C]oepit ridere et dicere nobis quod ipsa puella, quando incipit loqui de gloriosa Virgine, nonnumquam in quosdam prorumpere consuevit excessus (ebd., Z. 40 f.).



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die sich auch in zahlreichen an­deren Texten über Beginen und Mystikerinnen finden.759 Der Abt von Clairvaux findet dafür eine äußerst griffige Formulierung, die erneut den engen Zusammenhang zwischen Innen und Außen betont: „[D]ie Reinheit der äußeren Sauberkeit bezeugt die innere Rein­heit dieser Jungfrau.“760 Diese äußere Reinheit zeigt sich überdies durch das Fehlen natür­li­cher Körperflüssigkeiten in Mund und Nase sowie durch Elisabeths Unabhängigkeit von Nah­rung.761 Dass Elisabeth dennoch nicht zu jenen mulieres religiosae zählt, bei welchen exzessives Fasten als Teil einer gesteigerten Eucharistiefrömmigkeit auftrat, scheint sich dem Umstand zu verdanken, dass sie ihrem Umfeld zuliebe auf diese Form der Askese verzichtet.762 Im letzten Abschnitt der Vita Elisabeth beschreibt Philipp das Phänomen Elisabeth unter der Kategorie des Wunders763 in seiner Vieldeutigkeit: Der gekreuzigte Leib Christi sei in ihr ebenso abgebildet und dargestellt wie der mystische Leib des Herrn, die Kirche.764 Elisa­beths an den Horen ausgerichtete imitatio passionis entspräche dabei dem ritum universalis Ecclesiae, der seinerseits ein Abbild des Psalmwortes aus Ps 118,164 (Vg.) sei: „Siebenmal am Tage sage ich Dir Lob“.765 In augenfälliger Analogie dienen sowohl ihre Stigmata als auch ihre in den Horen erlitte­nen Qualen ein und demselben Zweck: der Auferbauung des Glaubens an die Passion (in stigma­tibus et poenis fidem astruit passionis).766 Aber auch ihr Jubel, ihre Fröhlichkeit und schließlich ihre immer wieder erlebten Ent­rückungs­zustände symbolisierten letztlich Wegmarken der Heilsgeschichte, nämlich die Auf­erstehung und die Himmelfahrt Christi; ihr heiliger und durch Offenbarungen gekrön­ter Lebenswandel sei Zeichen für die Sendung des Geistes.767 759  Zum Topos besonderer körperlicher Phänomene religiöser Frauen siehe nur Thurston, Be­gleiterscheinungen, passim sowie Bynum, Fragmentierung, 150–156. Beinahe gewinnt man den Ein­druck, dass Philipp sich genötigt fühlt, gewisse Erwartungshaltungen zu befriedigen: „Den Wis­sen­wollenden [Wissbegierigen] werde bekannt.“ Scire volentibus innotescat (Philipp von Clair­vaux, Vita, 378, Z. 3 f.). 760  interiori puritati ejusdem virginis exterioris munditiae puritas attestatur (ebd., Z. 4 f.). 761  Siehe ebd., Z. 5–15. 762  So ebd., Z. 15–17. Dennoch zeigt sie typische Verhaltensweisen wie etwa den Ekel vor Speisen, der zumin­dest im Hinblick auf edlere Nahrungsmittel erhalten bleibt, derer sie sich enthält; vgl. dazu ebd., Z. 11–14.17–19. An dieser Stelle betont Philipp überdies den Unwillen Elisabeths, Geschenke oder Gaben anzunehmen; siehe dazu ebd., Z. 19–24. 763  „deren ganzes Leben ein Wunder, ja vielmehr welche selbst voll­ständig ein Wunder war.“ cujus tota viva miraculum, immo quae ipsa tota miraculum (ebd., Z. 25 f.). 764  non solum Christum et ipsum crucifixum in suo corpore, sed etiam Christi corpus mysticum, id est Ecclesiam, effigiat et exponit (ebd., Z. 26–28). 765  Vgl. dazu ebd., Z. 28–30. 766  Ebd., Z. 30. 767  [I]n jubilo et jocunditate post poenam, ressurectionis; in raptibus, ascensionis; in rubore et revelationibus et spirituali vita, Spiritus sancti missionis (ebd., Z. 30 f.). Auch an die ab Abschnitt 18 verhandelten Themenkomplexe der Sakramente und Elisabeths Ringen um das Seelenheil anderer wird nochmals erinnert; vgl. dazu ebd., Z. 32–34.

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Es ist ein glühender Appell an den Leser, der den Endpunkt der Vita bildet und den missio­na­rischen Impetus ihres Autors verrät: „Wie unentschuldbar bist Du, o Mensch, wenn dich solch lebendige und offenkundige Argumente nicht ermuntern zur Stärke des Glau­bens und zur Leidenschaft der Liebe und zum Eifern nach Frömmigkeit.“768 2.2.2  Die Repräsentation der Seitenwunde in der „Frankfurter Dirigierrolle“ (FD) und dem „Frankfurter Passionsspiel“ (FP)769 2.2.2.1 Texte im Kontext – Anmerkungen zu Entstehungszeit, Gestalt, Autorenschaft und soziologischer Verortung der „Frankfurter Dirigierrolle“ sowie des „Frankfurter Passionsspiels“ Ach, du vil dorichte Iudischeit, mit der lantzen hastu eyn himelschen durchstochen. das werde ich nit lassen vngerochen.770

Wenn im Folgenden sowohl die sogenannte „Frankfurter Dirigierrolle“ als auch das „Frank­f urter Passionsspiel“ aus den bereits genannten Gründen in Hinblick auf ihre Re­prä­sen­tation der Seitenwunde untersucht werden sollen, so verbindet beide Texte ihre Zuge­hörigkeit zu jener breit ausgefächerten hessischen Passionsspielgruppe,771 die sich durch ihre lange Spieltradition vom 13. bis zum 16. Jahrhundert ebenso auszeichnet wie durch ihre Fülle der Texte und Spielorte.772 Hin­sichtlich ihrer Entstehungszeit, ihrer Form und ihres Kontextes di768  Quam inexcusabilis es, o homo, si te ad rubor fidei et caritatis affectum et devotionis studium tam viva et tam manifesta non excitant argumenta! (Ebd., Z. 34–36). Als apologetischer Nachsatz er­scheint der Verweis auf die Unzulänglichkeit und Unvollständigkeit seiner Aufzeichnungen – andere Pflichten und letztlich die eigene körperliche Schwäche nähmen ihm den Griffel aus der Hand: „Bis heute ist über die vorher erwähnte Materie viel zu schreiben übriggeblieben; aber die Notwendigkeit der Beschäftigungen und die Schwäche des eigenen Körpers beschließt notwendigerweise die Schreib­arbeit. Ende.“ Adhuc supra praelibata materia multa scribenda supersunt; sed necessitas occupationum et propria corporis imbecillitas necessario claudit stilum. Explicit (ebd., Z. 36–38). 769  Die Zitation wird im Folgenden nach der Edition im Paralleldruck von Johannes Janota vorgenommen und verwendet die in der Literatur durchgängig übliche Abkürzungsform FD für die Frankfurter Dirigierrolle sowie FP für das Frankfurter Passionsspiel. Die Sprechtexte werden mit den ent­spre­chen­den Verszeilen angegeben, hinsichtlich der Zitation von Regieanweisungen, die nicht in die Vers­zählung der Edition integriert sind, kann leider nur die Angabe der Seitenzahl erfolgen. 770  FP  3672–3674. Zum Lexem ungerochen vgl. Lexer, Mittelhochdeutsches Handbuch, 1861. 771  Zum weiten Feld der „geistlichen Spiele“ insgesamt, die neben dem Themenfeld der Passion eine große Bandbreite weiterer biblischer, aber auch legendarischer oder kirchengeschichtlicher Motive zur Aufführung brachten, liefert Volker Honemann mit dem Fokus auf Mitteldeutschland einen her­vor­ragenden Überblick; vgl. dazu Honemann, Geistliche Schauspiele. 772  Michael, Das deutsche Drama, 145–157 bietet eine knappe, anschauliche Übersicht über die dem Frank­f urter Kreis zugerechneten Spiele; vgl. dazu auch Wolf, Kommentar, 1–4.



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vergieren FD und FP jedoch stark voneinander.773 Beide Passionsspiele sollen im Folgenden kurz kon­textu­ali­siert werden.774 Wendet man sich dem älteren der beiden Texte zu, der sogenannten „Frankfurter Dirigier­rolle“, so verweist diese ihre in der Forschung gängige Bezeichnung bereits auf ihre zwei wich­ti­gen Charakteristika: zum einen auf ihren Inhalt  – es handelt sich um ein Regiebuch  –, zum anderen auf ihre äußere Form, den Rotulus. Über diese Rolle, die beinahe unversehrt erhalten geblieben ist und aus acht Pergament­stücken à 18,5–20 cm besteht, die zusammengeklebt und über dünne Drehstäbe genäht wa­ren, „mit deren Hilfe die in einer hölzernen Kapsel aufbewahrte Rolle so zu bewegen war, daß immer nur das Textstück der gerade ablaufenden Bühnenhandlung im Blickfeld des Spielleiters lag“,775 schreibt Klaus Wolf: Die Frankfurter Dirigierrolle aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stellt unter den zahlreichen Passionsspielen des deutschen Sprach­raums literaturhistorisch einen markanten und frühen Höhepunkt dar: Die Dirigier­rolle ist das älteste mehrtägige Passionsspiel sowie der älteste bekannte Über­lieferungs­trä­ger eines Regieexemplars; hinzu kommt die ungewöhnliche Aufzeichnungsart in Form einer (über vier Meter Vgl. auch Wen­z el, Judden, 31 sowie mit besonderer Berücksichtigung der Kreuzigungsszene in der hessischen Passions­spieltradition Hennig, Jesus am Kreuz, 167–176. Den Endpunkt der Passionsspiele sieht Moser in der Agitation der Gegenreformation um 1600, „die der noch lange lebendigen spät­mittel­alter­lichen Passionsspielpraxis gegen 1600 ein Ende setzte. Als entscheidend für den Wandel der Auf­führungsformen erwies sich das Jesuitentheater, das im bewussten Rückgriff auf die antike Poetik das Bühnen­drama aufgriff und in den Dienst der religiösen Erneuerung stellte. Dieses Bühnendrama ver­zichtete auf das gleichsam liturgische Miteinander von Spieler und Zuschauer in einem gemeinsam be­völ­kerten Spiel-Raum, wie ihn die Marktplätze geboten hatten, und setzte an seine Stelle die Dar­bietung eines (zunächst meist lateinischen) Bühnenspiels vor einem gebildeten Publikum“ (Moser, Bühnen­formen, 99 f.). 773  Erschien im Bereich der schriftlichen Zeugnisse (A.2.1.1–A.2.1.3) eine Verortung der fraglichen Texte durch das Voranstellen biographischer Daten und Charakterisierungen der Autorinnen und Autoren angebracht, so soll an dieser Stelle eine kurze Beschreibung der „Spieltexte“ hinsichtlich ihres Auf­baus, ihres Publikums sowie ihrer Abfassungsumstände erfolgen, die eine Einordnung der Quellen­texte erleichtern möge. 774  Zu diesem Unterfangen zählte eigentlich auch eine Darstellung der impulsgebenden Faktoren für die Entstehung von Passionsspielen im Allgemeinen. An dieser Stelle sei nur knapp auf den weit­ver­zweigten Wurzelgrund verwiesen, der dem Phänomen zugrunde liegen mag: Etwa auf die Ent­wicklung aus der Liturgie (so Henker, Bühne und Kostüm, 297: „Geistliche sangen und sprachen die Rollen in Latein, mimische Darstellungsweise und Kostümierungen erleichterten den Kirchen­besuchern bald das Verstehen.“ Ähnlich urteilt auch Viktor Turner, der die Messe, die Eucharistie als „Drama mit biblischem Text“ bezeichnet, aus der sich mit der Zeit die Passionsspiele entwickelten; vgl. dazu Turner, Ritual, 163). Andere unterstreichen den Zusammenhang mit der Einführung des Cor­pus-Christi-Festes durch Urban IV. im Jahre 1264; so etwa Grünberg, Das religiöse Drama (Bd. 3), 154: „Der Wunsch, das gesamte Leiden und Streben Christi darzustellen, lag nahe […]. Ein nach­helfender Grund mag aber die Einführung des Fronleichnamsfestes gewesen sein, das den Opfertod Christi in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellte.“ 775  Lomnitzer, Textfund, 590 f.

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langen) Pergamentrolle, die sich als solche nur noch beim Oster­spiel von Muri findet.776

Jenes „vielleicht spektakulärste Manuskript der mittelalterlichen deutschen Spiel­ge­schich­te“777 wurde ohne Zweifel in der Praxis benutzt, was sich aus diversen Zusätzen, so­genannten Notula, und vorgenommenen Rasuren ablesen lässt.778 Das Spezifikum von FD besteht darin, dass sie – abgesehen von insgesamt 375 Rede- und Ge­sangs­anfängen, sogenannter Incipits  – als Regieexemplar naturgemäß überwiegend aus Bühnenanweisungen besteht, die in roter Schrift vermerkt sind.779 Aus dieser Tatsache ergibt sich notgedrungen die Fragestellung nach der Möglichkeit, beziehungsweise der Un­mög­lich­keit einer Textrekonstruktion des Spieltextes. Während Richard Froning vor allem ein St. Galler Passionsspiel sowie das geistliche Epos „die Erlösung“ als Primärquellen annahm, äußert sich die neuere Forschung zurück­hal­ten­der780 und verweist auf den grundsätzlich spekulativen Charakter jedweden Versuches einer an den Texten der hessischen Passionsspiele orientierten Textrekonstruktion.781 Während 776  Wolf, Kommentar, 1. Zur These der eigenständigen Erfindung des Rotulus im Bartholomäusstift zu Frankfurt vgl. Wolf, Kommentar, 13. Zum Bartholomäusstift allgemein vgl. Kellner, Reichsstift. 777  Lomnitzer, Textfund, 590. 778 Vgl. Wenzel, Judden, 33. 779  Die ausführliche Beschreibung der Handschrift liefert Bergmann, Katalog, 113 f. Um einen lebendigeren Eindruck dieses ungewöhnlichen Textes zu ermöglichen, sei die dortige Beschreibung in Gänze zitiert: „Rolle; Pergament; 8 aneinandergeklebte Stücke von insgesamt 436 cm Länge und 18,5–20 cm Breite, an den Enden über Holzstäbe genäht; aufbewahrt in dunkelbrauner runder Holz­kapsel; gut erhalten, am rechten unteren Ende abgerissen mit geringem Textverlust; Besitzvermerk des 15. Jh. auf der Kapsel pertinet ecclesie Sancti Bartholomei. – Schrift: Haupthand gotische Textura in verschiedenen Größen, daneben Zusätze in Notula, Beteiligung anderer Hände unsicher, eventuell ver­schiedene zeitlich getrennte Schreibstufen einer Hand. – Einrichtung: Schriftspiegel 13–14 cm breit, an den Seiten durch Linien begrenzt, Zeilen liniert, Beschriftung quer zur Längsrichtung der Rol­le, einspaltig, fortlaufend, Bühnenanweisungen in roter Schrift, Anfänge der lateinischen Gesänge und der deutschen Texte in kleinerer schwarzer Schrift; Sprecherbezeichnungen z. T. auf dem Rand in roter, seltener in schwarzer Schrift; gelegentlich Bühnenanweisungen auf dem Rand; an drei Stellen No­ten übergeschrieben; zahlreiche Rasuren, auf denen neue Textstellen eingetragen sind“ (ebd.). Vgl. auch Wenzel, Judden, 31. 780  Vgl. dazu Froning, Drama des Mittelalters (Bd. 2), 331. Einen ausführlichen Überblick über die Forschungslage hinsichtlich der Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen FD und „der Erlö­sung“ liefert Wolf, Kommentar, 3 f. Zwischen Optimismus und Zurückhaltung schwankt Michael, Das Deutsche Drama, 147: „Freilich läßt sich der Text zum Teil aus den anderen Spielen rekon­struieren, die weitgehende Übereinstimmungen mit den Anfangszeilen der Dirigierrolle auf­weisen. Aber natürlich bleibt auch hier vieles zweifelhaft.“ Bergmann, Studien, passim unterstreicht de­zidiert die Eigenständigkeit von FD. Eine graphische Übersicht der Abhängigkeitsverhältnisse der deutsch­sprachigen Passionsspiele (auf dem Forschungsstand des 19. Jahrhunderts) liefert etwa Wirth, Oster- und Passionsspiele, 142 f. 781  So etwa Wenzel, Judden, 31. Da jedoch FD in der vorliegenden Arbeit gerade auf Grund ihres Cha­rak­ters als ordo sive registrum gewählt wurde, also das Augenmerk vor allem auf der tatsächlichen Dar­stellung, der faktischen Inszenierung der Seitenwunde gerichtet ist,



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diese Frage weiterhin kontrovers beantwortet wird, besteht in der Diskussion eines weiteren Problemkreises, der Datierung von FD, mittlerweile ein neuer Konsens: Ein­hellig grenzt sich die jüngere Forschung angesichts paläologischer Untersuchungen von Dietrich Andernacht782 von der maßgeblich von Froning, Petersen und anderen For­schen­den vertretenen Datierung in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts ab.783 Die mittlerweile etablierte temporäre Verortung in den Jahren 1315–1345 löst die FD aus dem von Petersen und Froning konstatierten Konnex mit dem Judenpogrom des Jahres 1349.784 Damit fällt auch Fronings These der Verfasserschaft: Der Kanoniker des Bar­tholo­mäusstiftes Baldemar von Peterweil, der ab 1350 nachweisbar ist, kommt als Ab­schrei­ber oder Verfasser somit nicht mehr in Frage.785 Nach wie vor spricht jedoch einiges für ihre Lokalisierung in Frankfurt, näherhin im dorti­gen Batholomäusstift.786 Der Versuch einer genauen Zuweisung der Verfasserschaft ge­stal­tet sich allerdings als schwierig. Wolf bemerkt dazu: An FD waren mindestens zwei Schreiber (Textualis versus Notula) beteiligt […]. Belastet man den mittelalterlichen Autorenbegriff nicht mit unbilligen, neuzeitlichen Autorenvorstellungen, dann darf man in der Tat von einem, wenn auch zeitlich sukzessive agierenden Autorenteam sprechen. Für einen Autor oder ein Autorenteam außerhalb des Bartholomäusstifts gibt es keine Anhalts­punkte.787 muss das Fehlen des Spiel­textes an dieser Stelle nicht weiter betrüben, zumal FP als weiteres Textbeispiel für eine inhaltliche Analyse einer Longinus-Spielszene herangezogen werden soll. Gleichwohl wäre es – wie im Folgen­den zu zeigen sein wird – durchaus aufschlussreich und weiterführend, wenn – wie in FP – durch den Na­men des Knechtes des Longinus dessen Nähe oder Distanz zum Judentum nachgewiesen werden könnte. 782  Die These Andernachts findet sich bei Michael, Frühformen, 28. 783 Vgl. Wolf, Kommentar, 12 (Anm. 12). 784  Petersen hatte dafür votiert, das Spiel als „Versöhnungsgeste“ nach der sogenannten Judenschlacht von 1349 zu charakterisieren (vgl. dazu Petersen, Aufführungen, 93: „[B]ei der ersten Judenschlacht des Jahres 1240 hatte es sich um gewaltsame Taufe gehandelt, bei der zweiten des Jahres 1349 um un­barmherzige Ausrottung. Nachdem der Fanatismus seine Opfer gefordert hatte, soll nun eine fried­li­che Lösung mit geistigen Waffen gezeigt werden“). Zum Wandel der Forschungsmeinung vgl. auch Lomnitzer, Textfund, 592 sowie Wenzel, Judden, 32 (Anm. 5). Martin, Representations, 51 kon­statiert: „The difficulty of dating this play can be attributed in part to the desire of some scholars to see the Dirigierrolle as dependent on the St. Gall Passion play and the desire of others to place it chronologically in the time after the plague pogroms of 1349–1350.“ Wolf sieht die Spielintention vielmehr in dem Bemühen des Bartholomäusstiftes um die „Pastorierung der Pfarrei Frankfurt“; nicht das Pogrom sei als Hintergrundfolie zu denken, sondern die schwierige Lage der Stadt Frankfurt, die sich aus dem seit 1329 verhängten päpstlichen Interdikt ergeben hatte; vgl. dazu ausführlich Wolf, Kom­mentar, 63–65. Zur Situation der Juden in Frankfurt in den Jahren vor dem Pogrom und im Jahr 1349 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Karls IV. vgl. Graus, Pest, 194–200. 785 Vgl. dazu Froning, Drama des Mittelalters (Bd. 2), 326 f. sowie als Vertreter der neueren For­schung Wolf, Kommentar, 7. 786  So ebd., 12 im Hinblick auf den rheinfränkischen Dialekt und des Besitzverweises aus dem 15. Jahrhundert; eben­so Bergmann, Studien, 37 f. Vgl. ausführlich zur Geschichte des Bartholomäusstiftes und Balde­mar von Petterweil Kellner, Reichsstift, 54–58. 787  Wolf, Kommentar, 19.

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Als Spielleiter sowie als Träger der Hauptrollen hat man sich nach Klaus Wolf wohl die Vikare des Stiftes vorzustellen; Scholaster und Kantor sowie die Latein­ schüler der Stadt Frankfurt werden ebenfalls die Aufführungen mitgestaltet haben.788 Die insgesamt 65 Szenen der Dirigierrolle789 verteilen sich, wie bereits erwähnt, auf zwei Spiel­tage: Der erste Spieltag endet mit der Grablegung (FD 250a), der zweite Spieltag setzt mit der Höllenfahrt Christi ein (FD 251a).790 Besonderes Augenmerk soll an dieser Stelle auf die szenische Rahmung der Dirigierrolle durch Prolog und Epilog gerichtet werden, ist doch damit die wichtige Frage nach der anti­jüdischen Ausrichtung des Spieles verknüpft, eine Frage, die auch für die Einordnung der Longinusszene von Relevanz ist. Den Auftakt der Dirigierrolle (FD  1a–22) bildet ein Disput zwischen zwei Parteiungen, deren eine aus dem Kirchenvater Augustinus sowie den sieben Propheten David, Salo­mon, Daniel, Zacharias, Hosea, Jeremia und Jesaja besteht, deren andere sich aus einer Grup­pe von Juden – mit eigentümlich zeitgenössischen Namen791  – rekrutiert.792 Das An­sin­nen des Kirchenvaters und der Propheten, von Jesus zu berichten, lehnen die Juden mit spöttischen Worten 788 

Vgl. dazu ebd., 16–19. übersichtliche Auflistung sämtlicher Szenen findet sich bei Bergmann, Katalog, 114 f. Eben­falls hilfreich für eine knappe Übersicht der Szenen ist Michael, Das deutsche Drama, 150. 790  Vgl. dazu Froning, Drama des Mittelalters (Bd. 2), 330. Den provisorischen Charakter der Zwei­teilung könne man aus der Regieangabe (FD 251) ablesen; vgl. dazu Michael, Das deutsche Drama, 147. Allgemein ist darauf zu verweisen, dass es „[e]in weiteres grundsätzliches Merkmal des inhaltlichen Aufbaus von mittelalterlichen Passionsspielen ist, daß sie ‚zu einem breiten Strom jener nicht erst von Brecht erfundenen weltliterarischen Erscheinung des epischen Theaters nicht­aristo­telischer Dramatik‘ gehören. Es gibt demnach keinen ‚klassischen‘ Aufbau, etwa mit Exposition, retar­dierendem Moment, Katastrophe oder Peripetie. In diesem Sinne haben die mittelalterlichen Passions­spiele also keinen Höhepunkt.“ (Treutwein, Inhalt, 31). 791  Die auftretenden Juden tragen Namen wie Kalman, Isac, Bandir, Iacob, Lieberman oder Moshe. Vgl. dazu Martin, Representations, 53 f., der in der Verwendung zeitgenössischer jüdischer Namen eine Ver­stärkung des antijüdischen Tenors sieht. Zur tatsächlichen Existenz dieser Namen in Steuer- und Rechnungs­büchern der Stadt Frankfurt vgl. Wenzel, Judden, 48 (mit Anm. 87–90). 792  Fragt man nach den Vorlagen dieser Gegenüberstellung so ist etwa auf die sogenannten Propheten­spie­le im Kontext der Weihnachtsliturgie, auf das „Benediktbeurer Weihnachtsspiel“ (13. Jahrhundert) als auch, wenngleich eher als indirekte Vorlage, auf den pseudo-augustinischen Traktat Altercatione Eccle­siae et Synagogae (5. Jahrhundert) zu verweisen; die Verwendung dieses Motivs als Prolog zu einem Passions­spiel begegnet jedoch erstmals bei FD; vgl. dazu Martin, Representations, 52; Wenzel, Judden, 36–40 (mit breiter Diskussion zur Verwendung der Prophetenszene in weiteren Passions­spie­len) und 296 (Abb. 3) sowie Michael, Das deutsche Drama, 149. An dieser Stelle sei auf die interessante Darstellung von Cohen hinsichtlich der Verschiebungen in der bildlichen Dar­stellungs­weise des Themas Ecclesia contra Synagogam verwiesen: „Yet as time wore on, concord and parity in the portrayal of Synagoga and Ecclesia gave way to discord and disparagement. Syna­goga becomes visibly older, less attractive, and more poorly dressed than Ecclesia. In an early thirteenth-century German altarpiece from Soest […] the force with which the angel removes Synogoga borders upon violence. Synagoga’s 789  Eine



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rundweg ab.793 Ihr Desinteresse an jedwedem Austausch mit den Ver­tretern des Christentums794 und ihr Verharren in unflätiger Verstocktheit ist nur zu offen­ kundig.795 Dessen ungeachtet setzt nach diesem Prolog nun die Erzählung der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu ein. Am Schluss kehrt das Stück an seinen Ausgangspunkt, zur Auseinandersetzung zwischen Juden­tum und Christentum, zurück: Die vorletzte Szene der Dirigierrolle zeigt die „Dispu­tation zwischen Ecclesia und Synagoga“ (FD 359–367); das Stück endet mit der „Taufe der Juden“ (FD  368–375), genauer gesagt mit der Taufe von Iudei octo uel de­cem,796 die Augustinus um den Empfang des Taufsakramentes bitten. Für die Mehrheit der Juden jedoch bleibt das Himmelreich verschlossen, was nicht zuletzt plakativ dadurch in­sze­niert wird, dass der Synagoge die Krone vom Haupt gleitet.797 Diese Rahmung der Dirigierrolle hat in der Forschung hinsichtlich der Frage, wie die Dar­stellung der Juden in FD zu bewerten sei, ganz unterschiedliche Stellungnahmen aus­gelöst. Während Wolfgang Michael relativ wertneutral von einer durch die Rahmung ge­ge­benen missionarischen Ausrichtung der Dirigierrolle spricht,798 gibt Edith Wenzel zu bedenken, dass zumindest eine de facto crown has fallen from her head, and she wears a blindfold, whereas in other works of the period she carries a broken staff “ (Cohen, Christ Killers, 190). 793 Vgl. dazu etwa FD  17 f.: Ieremias propheta dicat:  / Diz wort kvnde ich uch shone/ Lieberman Iudeus respondeat: / Swiga, dumeclicher man. 794  Offenbar wurde die Enteignung der alttestamentlichen, jüdischen Propheten als völlig unproble­ma­tisch empfunden. Martin konstatiert in einem Vergleich mit dem Prolog des „St. Galler Passions­spiels“: „Whereas the opening scene of the St. Gall Passion play presented its audience with first-century Jews who struggled to learn the truth, the corresponding scene in the Frankfurter Dirigierrolle presented its audience with Jews who reject their own sacred texts“ (Martin, Representations, 54). Dass die völlige Herauslösung Jesu aus seinem jüdischen Kontext nicht zwangsläufig ein Merkmal aller mittelalterlicher Passionsspiele darstellt, konstatiert ebd. im Hinblick auf das „St. Galler Passions­spiel“. 795  Vgl. dazu Wenzel, Judden, 36. Die Beschimpfungen der Propheten als dor, dumeclicher man, dummer odil crage oder vnseleclichiz barn haben offenkundig die Intention, letztlich die „ver­stockten“ Juden selbst zu diskreditieren; vgl. FD 9; 12; 15; 18. Die Verworfenheit der Juden war den christ­lichen Zuschauern hinlänglich durch verschiedene Topoi über Jahrhunderte vermittelt worden, wie etwa in der bereits im Hochmittelalter kolportierten Tradition, eine jüdische Prostituierte als Mut­ter des Antichristen zu zeichnen; vgl. dazu ausführlich Emmerson, Antichrist, 6–19. 796 FD 368. 797  Hic Judei octo vel decem eant pariter ad Augustinum petentes baptizari et dicant / Augustinus, vil heyleger man / Augustinus aspergens aquam super Iudeos dicat: / Des hymelriches sit ir wert / Hec videns Synagoga tristi animo cantabit: / Israel, popule carissime / Israel, min zarte diet / Hic cadat Synagoga de humeris pallium et corona de capite. / Quo facto Ecclesia letabundo animo cantabit: / Congratulamini mihi omnes. „Hier gehen acht oder zehn Juden gleichzeitig zu Augustinus und bitten, getauft zu werden und sprechen / Augustinus, viel heiliger Mann / Augustinus, Wasser über die Juden träufelnd, spricht: / Des Himmelreiches seid ihr wert / Dieses Wasser sehend singt die Synagoge mit traurigem Sinn: / Israel, geliebtestes Volk / Israel, mein zartes Volk / Hier fällt der Synagoge der Man­tel von der Schulter und die Krone vom Haupt. / Nachdem dies geschehen ist, singt die Kirche mit freudigem Sinn: Mir mögen alle gratulieren.“ (FD 368–372). 798 Vgl. dazu Michael, Das deutsche Drama, 149. Michael diskutiert an dieser Stelle

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an die jüdische Bevölkerung gerichtete Auf­führung mit missionarischer Abzweckung als sehr unwahrscheinlich einzustufen ist.799 Darüber hinaus konstatiert sie jedoch, dass im Vergleich mit späteren Spielen noch keine durch­gängige Judenfeindlichkeit vorliege: Wenn wir die frühe Fassung des Frankfurter Spiels mit späteren Dramen vergleichen, müssen wir feststellen, daß die pointierte Cha­rak­teri­sierung der Juden als Gegner der christlichen Heilslehre hauptsächlich auf die Ein­gang- und Schlußszene beschränkt bleibt und die Inszenierung des Lebens Jesu und seines Lei­densweges noch nicht auf dem Kontrast zwischen dem duldenden Heiland und den grau­samen Juden aufbaut, der in späteren Spielen, auch jenen, die in direktem Zusam­men­hang mit der Frankfurter Dirigierrolle stehen, breit ausgeführt wird. Insgesamt kann in Bezug auf die Darstellung der Juden konstatiert werden, daß sich die Argumentation noch völlig auf den religiösen Bereich beschränkt.800 jedoch weniger die Frage nach antijüdischen Zügen, sondern vielmehr die Struktur des Stückes. Wolf, Kommentar, 20 (Anm. 42) gibt zu bedenken, dass die Frage nach dem antijüdischen Gehalt von FD angesichts des fehlenden Spieltextes kaum zu bestimmen sei. Im weiteren Verlauf seines Kommentars spricht Wolf schließlich doch von einer „antijüdischen Tendenz“ des Spiels (ebd., 38), die er nicht zuletzt in seiner inspirierenden symbolischen Deutung des Bühnenplans, den er zu rekonstruieren sucht, abge­bil­det sieht: „Der gesamte Bühnenplan ist in meinem Vorschlag parallel zur Längsachse des Domes von West (Hölle) nach Ost (Himmel) ausgerichtet. Südlich des Plans ist das Judenviertel mit Syna­go­ge und anderen Gebäuden anzusetzen. Der große, höhergelegene Dom im Norden und das bedeutende Juden­viertel im Süden nahmen also die Bühne in ihre Mitte. Damit ist aber schon ein entscheidendes Charak­ teristikum von FD genannt: die Darstellung des Gegensatzes zwischen Chri­sten und Juden, nicht nur im Spieltext selbst, beispielsweise in den Disputationen Propheten  – Juden und Ecclesia – Syna­goga […] sondern auch mit der spezifischen Situierung der Bühne in der Stadt und der Positio­nie­rung der einzelnen loca. […] Wie höher gelegener Dom und tiefer gelegenes Juden­vier­tel in Frank­f urt also in geographischer Sonderung (Nord – Süd) und in sozialer Bewertung (höher­wertig – verach­tet) die triumphierende Kirche gegenüber dem in mittelalterlich-christlicher Sicht ver­ach­teten Juden­tum städtebaulich symbolisieren, so gibt die Aufteilung Nord – Süd, Christen – Juden auf dem Spiel­plan eben diese städtebauliche Hierachie wieder“ (ebd., 43 f.). Zur Verdeutlichung der Schuld­haftig­keit der Juden vermittels des Bühnenplans vgl. auch ebd., 57 sowie im Blick auf die Schluss­sze­ne ebd., 62: „Das Schlußbild der Bühne zeigt dann mit Blick auf Dom und wirkliche Synago­ge in­szena­torisch und propagandistisch eindrucksvoll den ‚totalen‘ Sieg des Christentums über das Juden­tum: Die Hölle ist geleert und der Himmel im Osten mit animae gefüllt. […] Auch der Bühnen­ort der Juden im Süden ist leerer geworden zugunsten der Ecclesia im Norden, bei der sich vielleicht die getauf­ten Juden eingereiht haben.“ Zur Darlegung seiner These der Bühnenverortung in Frank­furt mit Dis­ kussion der älteren Forschung vgl. ebd., 20–27. Vgl. zur Frage nach der Auf­führungs­stätte auch Michael, Das deutsche Drama, 147, der allerdings wie Petersen den Samstags­berg als Spielstätte an­nimmt. 799  Trotz des Eindrucks, den die „Dirigierrolle“ erwecken mag, es handele sich bei ihr um eine an die jü­dische Bevölkerung Frankfurts gerichtete Missionierungsveranstaltung, muss man davon ausgehen, dass Juden den Aufführungen nicht beiwohnten; zumindest weisen darauf polizeiliche Verordnungen und Ratserlässe des 14. und 15. Jahrhunderts hin, die verstärkte Schutzmaßnahmen der Juden (Verbleib in den Häusern) während der Passionsspiele anrieten; vgl. dazu auch Wenzel, Judden, 46 f.; ebenso urteilt Wolf, Kommentar, 20. Vgl. zur Gefahr des Zirkelschlusses bei der Rekonstruktion des Publikums mittel­alterlicher Spiele allgemein Roeder, Gebärde, 154. 800 So Wenzel, Judden, 47.



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Wenzel geht vielmehr davon aus, dass gerade im Epilog versucht wird, die (auch vor dem Pogrom) existierenden Spannungen801 zwi­schen jüdischer und christlicher Bevölkerung aufzugreifen, ohne sich jedoch in zugespitzter Polemik zu ergehen; man sehe hier eher ein Beispiel apologetischen Be­mü­hens um den christlichen Glauben als volksverhetzende Judenfeindlichkeit am Werk.802 Ganz anders urteilt hingegen John D. Martin, der die „Frankfurter Dirigierrolle“ ein weit­ge­hend eindimensionales Bild der Juden zeichnen sieht: Abgesehen von der prinzipiellen Mög­lichkeit ihrer Rettung durch Taufe und Bekehrung erscheinen die Juden nach Martin als verstockte Gegner und Widersacher der christlichen Wahrheit.803 Wenngleich in der Tat eine solch durchgängige Polemik gegen die Juden, wie sie in den späte­ren Spielen begegnet, allein auf Grund des fehlenden Spieltextes nicht einschlägig nach­zuweisen ist, so erscheint mir doch weniger ein missionarisches Anliegen denn viel­mehr – vorsichtig formuliert – zumindest der Duktus unangefochtener Überlegenheit in eben jener Rahmung des Spieles Ausdruck zu finden.804 Der Weg der Synagoge scheint vorgezeichnet: Die Verstocktheit ihrer Kinder im Prolog mündet in scheinbar zwingender Logik in dem Verlust ihrer Krone als Symbol von Würde und Wertschätzung in der Schluss­szene von FD. Offen bleibt hingegen  – und diese für die vorliegende Untersuchung durchaus relevante Frage­stellung soll im weiteren Verlauf nochmals aufgegriffen werden  – welcher Parteiung nun Longinus als Verursacher der Seitenwunde zuzuordnen ist: Dem heidnisch-christen­ freundlichen oder dem jüdischen Block.805 Das wesentlich jüngere „Frankfurter Passionsspiel“ bietet, wie zu zeigen sein wird, in dieser Frage eine klare Antwort. Vor dem Hintergrund von FD als „Nukleus der Hessischen Passionsspielgruppe“806 sollen nun­mehr die Eigenheiten und Merkmale des „Frankfurter Passionsspieles“ kurz be­leuch­tet werden. Anders als FD bietet der Codex des FP807 den vollständigen Spieltext sowie zahlreiche (nach rechts eingerückte) Bühnenanweisungen. Die im Bartholomäusstift aufbewahrte Handschrift in rheinfränkischem Dialekt stammt aus dem Jahr 1493, ihr Entstehungsort ist mit großer Wahrscheinlichkeit Frankfurt.808 Angesichts ihrer geringen Differenzierung zwischen Spieltext und Regieanmerkungen hat eine Verwendung 801  Die Situation der Juden in Frankfurt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts schildert eindrücklich Wenzel, Judden, 49 f. 802  Vgl. dazu ebd., 52. 803  Vgl. dazu Martin, Representations, 54–58. 804  Geht man jedoch davon aus, dass der fehlende Text von FD im Prolog tatsächlich durch FP zu ergän­zen ist, dann kann man freilich nur von unverhohlen antijüdischer Polemik sprechen. 805  Vgl. dazu Wolf, Kommentar, 44.58. 806  Vgl. ebd., 856. 807  Eine genaue Beschreibung der Handschrift liefert Bergmann, Katalog, 110 f. 808  Vgl. ebd., 111.113.

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als Aufführungsexemplar eher als unwahrscheinlich zu gelten.809 Viel­mehr vermutet man, dass diese 1493 entstandene Handschrift810 als eine notwendig gewor­dene Neufassung anzusprechen ist, die das noch in der Aufführung von 1492 durch die Regisseure Johannes Kremer und Johann Kolmesser verwendete und zunehmend unbrauch­bare Exemplar ersetzen sollte.811 Möglicherweise könnte ein Gehilfe des Regens von 1492 diese neue Abschrift erstellt haben.812 Über die Autorenschaft lassen sich keine ein­deutigen Aussagen treffen, jedoch mögen wohl die diversen Spielleiter je ihren Beitrag zur Abfassung beziehungsweise Fortschreibung von FP geleistet haben.813 Im Gegensatz zur „Frank­f urter Dirigierrolle“ sind nicht mehr klerikale, sondern wohl laikale Kreise als Spiel­ träger­schaft zu vermuten.814 Der Umfang des aus insgesamt 52 Szenen bestehenden „Frankfurter Passionsspieles“815 hat in der Forschung für Irritationen gesorgt. FP, das ebenso wie FD nach dem Silete mit dem (sehr umfangreich gestalteten) Auftritt der Propheten einsetzt (FP 1–332) endet mit der Grablegung Christi (FP 4307–4408). Der Umstand, dass FD auch die Höllen- und Himmel­fahrt Christi bietet, hat zu einer etwa von Froning vertretenen „Fragment­hypo­these“816 geführt, welche die Unvollständigkeit von FP annimmt.817 Ein weiteres Indiz, das diese These stützen könnte, benennt Wenzel: „Der handschriftliche Text bezieht sich auf zwei Spieltage, die historischen Belege aber sprechen von vier Veranstaltungs­ta­ gen.“818 Für die Vollständigkeit des Textes kann jedoch Wenzel im Anschluss an 809 

Vgl. ebd., 113. Diese Datierung ist aus der Handschrift selbst abzulesen und hängt an der Person des Johannes Kremer; vgl. dazu Wolf, Kommentar, 334. 811  Vgl. dazu Wenzel, Judden, 54. Zu Johannes Kremer als Spielleiter vgl. ausführlich Wolf, Kommen­tar, 335. 812 Vgl. Wenzel, Judden, 54. Die Randnotizen stehen hingegen wohl im Zusammenhang mit der Auf­führung von 1498 und wurden eventuell von Peter Dolde vorgenommen; vgl. dazu ausführlicher Bergmann, Katalog, 112 f. sowie Wolf, Kommentar, 336. Den „amtlichen“, dokumentarischen Charakter der Handschrift, ihre Verortung in der laikalen Oberschicht Frankfurts wird eindrücklich beschrieben; siehe dazu ebd., 337–339. 813  Vgl. dazu ebd., 340–356. Die Spielleiter agierten auf der Bühne wohl in der Rolle des Augustinus; vgl. dazu Roeder, Gebärde, 153 sowie Grünberg, Das religiöse Drama, 179 und Michael, Das deutsche Drama, 153. 814  Vgl. dazu ausführlich Wolf, Kommentar, 452–501; bes. das Resümee ebd., 501: „Ver­ gleicht man die Umstände der Aufführungen nach FD […] im 14. Jahrhundert mit den Ver­ hältnissen bei den Aufführungen nach FP um 1500, so hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen: Kann man die Aufführungen des 14. Jahrhunderts – mit dem Bartholomäusstift als Nukleus – als klerikal-pastoral bezeichnen, so müssen die Aufführungen der Jahre 1492, 1498 und 1506 laikal-pastoral genannt werden. Die Gründe dafür sind in der zunehmenden aktiven und bewußten Laien­religiosität, in gehobener Laienbildung und in energisch ausgeübter, auch religiöse Belange regieren­der Ratsherrschaft zu sehen.“ 815  Zur knappen Übersicht der Spielszenen vgl. Bergmann, Katalog, 111 f. 816  Hierbei handelt es sich um einen Hilfsbegriff der Verfasserin. 817  Vgl. dazu Froning, Drama des Mittelalters (Bd. 2), 334. 818  Wenzel, Judden, 54 f. mit ausführlicher Zitation des Tagebucheintrages des Patriziers Job Rohrbach. 810 



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Steinbach geltend machen, dass auch andere Passionsspiele mit der Grablegung endeten.819 Konstatiert man die Vollständigkeit von FP, so ist es durchaus signifikant, dass das durch FD bekannte Konzept einer Rahmung durch die JudenAugustinus-Szenen nicht über­nom­men wurde. Dies wird üblicherweise durch zwei Umstände expliziert: Zum einen durch die im Verlauf des 14./15 Jahrhunderts stattgefundenen signifikanten Verschiebungen in der Darstellung der Juden sowie durch den Hinweis, dass sich das Frankfurter Passionsspiel gerade in seinem Judenbild maßgeblich durch andere Quellen  – dem Johannesevangelium ebenso wie dem sogenannten Evangelium Nicodemi und auch dem St. Galler Passionsspiel – inspi­rieren ließ.820 Diese Verschiebungen in der Darstellung der Juden sollen wenigstens kurz angedeutet werden,821 berühren sie doch die Deutung der Longinusszene und die Konnotationen, die der Seitenwunde Christi in der Repräsentation durch FP anhaften. Mit Wenzel muss man sich vergegenwärtigen, dass im Verlauf des 15. Jahrhunderts „ein reiches Arsenal an literarischen Judenbildern [zur Verfügung stand], die nicht länger auf die religiösen Vorbehalte gegen die Juden beschränkt waren, sondern immer stärker auch die sozialen und wirtschaftlichen Beschuldigungen mit einbezogen.“822 Die karikierende Dar­stellung des Juden (womöglich mit dem Pfennigsack) setzte das Bild des unver­besser­lichen Ausbeuters und Wucherers bühnenwirksam in Szene.823 Dabei gehen die An­ schuldigungen gegen die Juden als dem Diesseitig-Irdischen verhaftete Wucherer und als Gottes­verächter beziehungsweise Verächter des „wahren Glaubens“ meines Erachtens durchaus in eins.824 Die Wucherpolemik wurde im 15. Jahr819  Es handelt sich dabei u. a. um das „Heidelberger Passionsspiel“, das „Benediktbeurer Passionsspiel“ und die „Wiener Passion“. Vgl. dazu ebd., 56. Zum zweiten Argument vgl. ebd. sowie Wolf, Kom­mentar, 335 ohne Problematisierung der „Fragmenthypothese“. 820 Vgl. Wenzel, Judden, 57 f. 821  Für eine eingehende Darstellung dieser Fragestellung sei hier allgemein auf Martin, Represen­ta­tions, Wolf, Kommentar sowie Wenzel, Judden verwiesen. 822  Ebd., 57. Einen an den einzelnen Szenen von FP entlanggehenden Nachweis einer gesteigerten Juden­feindlichkeit von FP erbringt ebd., 81–98. 823 Vgl. dazu Wolf, Kommentar, 528, der zur Eingangsszene von FP anmerkt: „Zeitgenössisch-spät­mittel­alterliches Kolorit prägt die ganze Szene, besonders in jenen Passagen, in denen die Juden mit ihren Schmähreden und ihrem notorischen Geschäftsgebaren die erhabenen Prophetenreden ins Lächer­liche ziehen wollen. Für das christliche Publikum dürften solche die Juden karikierenden Auf­tritte, bei denen vielleicht überdimensionale Pfennigsäcke gezeigt wurden, durchaus lustig gewesen sein.“ Dass FP in dieser Darstellung der Juden keineswegs alleinsteht, sondern sich darin vielmehr als „Kind seiner Zeit“ erweist, betont Wenzel, Judden, 108 gegen Bremer, Bild der Juden, 128. 824  So etwa, wenn Ioseph Rabi dem Propheten Daniel rät, er solle sich lieber wie er aufs Pfandgeschäft verlegen: Damit sei mehr Gewinn zu machen als mit religiösen Gesängen; vgl. FP  152–160 sowie Wolf, Kommentar, 518 f. Dazu konstatiert auch Wenzel, Judden, 98: „Unermüdlich preisen sie die Vorzüge der Pfandleihe und des Geldgeschäftes und begegnen den zeitlos-gültigen Wahrheiten der Heiligen Schrift, die die Propheten immer wieder zitieren, mit profanen finanziellen Argumenten, die in diesem sakralen Kontext geradezu blasphemisch wirken müssen.“ Zur Funktion dieses Anti­juda­ismus als Signum einer „kollektiv-neurotischen

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hundert nicht zuletzt von kirchlicher Seite forciert – was inso­fern Bände spricht, als der Klerus zunehmend selbst auf der Seite der Angeklagten zu stehen kam.825 Das Frankfurter Passionsspiel enthält jedoch keinerlei Seitenhieb auf unlieb­same Machenschaften klerikaler Machtpolitik, sondern präsentiert seinen Zuschau­ ern vielmehr einen nach innen gerichteten identitätsstiftenden Schulterschluss der christlichen Bürger Frankfurts gegen die als Fremde empfundenen Juden.826 Die tatsäch­li­che soziale Stellung der Juden in Frankfurt zur Mitte des 15. Jahrhundert entsprach in keiner Wei­se dem durch FP suggerierten Bild des reichen und ränkespinnenden Judentums: Seit der Mitte des Jahrhunderts hatten die jüdischen Bürger der Stadt nicht nur große Einbußen des Vermögens hinnehmen müssen, sondern auch massive Ein­schrän­kungen ihrer Han­dels- und Bürgerrechte; die auf etwa 150 Mitglieder geschrumpfte Gemeinde sollte im Jahr 1500 von einer weitgehenden Ghettoisierungs­maß­nahme getroffen werden.827 Die starke Polarisierung zwischen den Glaubensfeinden und den Gläubigen wird gerade im Spielgeschehen des zweiten Tages, das sich vollständig auf das Leiden Christi bezieht, besonders deutlich: Die Gegenüberstellung zwischen dem schuldlosen Leiden des Retters und der Schuld der Juden zeichnet FP in scharfen Konturen.828 Das „Gegenspiel“ der Juden durchkreuzt das Spiel; die Darstellung des Heilsgeschehens wird unterbrochen von jüdischer Widerrede und jüdischer Denunziation, die Juden selbst erscheinen somit als „ge­f ährlichste Widersacher Christi“.829 So geschieht es etwa nach der Iudden mut,830 wenn Suche nach den Schuldigen“ vgl. auch Warning, Auf der Suche, 353.358. Siehe dazu auch mit Blick auf England Cohen, Christ Killers, 214, der die Repräsentation der Handwerkszünfte in den Einzelszenen des Passionsspiels in Chester be­schreibt und resümiert: „Self-definition on the part of a community asserting its integrity all too often celebrates the inclusion of insiders through the exlusion of an outsider, whom the insiders stereotype as malignant. The Jew typically played the role of that outsider in the Christian mentality. Especially when Christian society understood its integrity in terms of the body of Christ, the Christ-killing Jew proved a most appropriate villain.“ 825  Als Beispiel ist etwa der Konflikt zwischen dem Rat der Stadt Frankfurt und dem Klerus des Bartho­lo­mäusstifts zu nennen, wobei letzterer sich weigerte, durch die Einrichtung von Filialkirchen eine Min­derung seiner Einkünfte zuzulassen (vgl. dazu Wenzel, Judden, 101 f.). Graus, Pest, 372 weist darauf hin, dass der Hass der Volksmassen gegen die Privilegierten oft Juden und Geistlichkeit gleicher­maßen einschloss: „[M]an beschuldigte Pfaffen und Juden in einem Atemzug, die Leute aus­zu­beuten, wie dies etwa in den Dreißigerjahren des 14. Jahrhunderts Konrad von Megenberg bezeugt, oder man bezichtigte schlechthin die Reichen und die Juden gemeinsam, das Land schamlos aus­zu­beuten.“ 826  Vgl. dazu Wenzel, Judden, 103. 827  Vgl. dazu ausführlich ebd., 106 f. sowie ausführlich und umfassend zur Lage der Juden in Frankfurt im 14. und 15. Jahrhundert Graus, Pest, 193–200. 828 Vgl. Wenzel, Judden, 81. Welche Tragweite man annehmen muss, wenn etwa im „Alsfelder Spiel“ sogar die Gottesmutter Maria nach dem Lanzenstoß des Longinus klagt, mynen troist hon mer benommen der falschen Judden schar!, kann man nur erahnen; siehe dazu Hennig, Jesus am Kreuz, 171. 829 Vgl. Wenzel, Judden, 110. 830 FP 3445.

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in der überaus drastischen Szene der Geißelung (FP  3414–3439), die Geißler Schintekrae, Rackenbein, Ribenbart und Springen­dantz831 ihrem furchtbaren Geschäft nachgehen, das in allen grausamen Einzel­heiten geschildert wird.832 Die Schändlichkeit der Juden, die sich in ihrem Auftrag zur Schändung des Leibes Christi bereits in extenso gezeigt hatte, wird nun in ihren Schmä­hun­gen gegen Jesus am Kreuz noch einmal überdeutlich: Hangeste nu wol, du zauberer, / ist dir nu lichte oder swere?“ spottet Rabbi Isaac und Rabbi Liebermann erkundigt sich iro­nisch nach dem Ergehen des „lesterler“ und „lasterbalck.833 Die Faktizität der extremen Judenfeindlichkeit von FP soll im Folgenden, bei der Unter­suchung der Longinusszene des „Frankfurter Passionsspieles“ noch einmal in ihren Konse­quenzen für die Deutung der Szene überdacht werden. 2.2.2.2  Die Repräsentation der Seitenwunde im „Frankfurter Passions­spiel“ und der „Frankfurter Dirigierrolle“: Szene 62. Heilung des Longinus (FD 238–242) und Szene 80. Heilung des Longinus (FP 4180–4217) Sowohl in der „Frankfurter Dirigierrolle“ als auch im „Frankfurter Passionsspiel“, die im Vorangehenden kurz skizziert wurden, wird die Darstellung der „Heilung des Longinus“ als relevante Schlüsselszene für die vorliegende Fragestellung betrachtet werden.834 Dabei soll sowohl der Aspekt der Performativität  – wie wurde die Seitenwunde konkret auf der Bühne repräsentiert – als auch der jeweilige theologische Aussagegehalt in Augen­schein genommen werden. Bei diesem Unterfangen ist stets zu vergegenwärtigen, dass die Inten­tion der Passionsspiele darin bestand, das zentrale Geschehen der Heilsgeschichte so darzustellen, dass der Zuschauende in jener „wiederholenden Repräsentation“ in das Ge­schehen einbezogen wird, um ihn so zur compassio zu bewegen, wobei allen Be­tei­lig­ten bewusst ist, dass es nicht um eine tatsächliche Verkörperung, sondern um eine 831 

Zur Bedeutung der Namen vgl. Wolf, Kommentar, 777 f. (Anm. 722 f.). Geißelungsszene hat keine Vorlage in FD. An dieser Stelle muss jedoch m. E. mit Wenzel darauf hingewiesen werden, dass sich die breite und für den modernen Leser unerträgliche Auswalzung der körperlichen Martern Christi auch dem in der Passionsliteratur der Zeit entwickelten Phänomen der Ausgestaltung des Leidens Jesu verdanke: „Die Anhäufung grausiger Einzelheiten während der Vorbereitung zur Kreuzigung und der Kreuzigung selbst kann daher nicht primär der Juden­feindschaft des Spätmittelalters zugeschrieben werden. Sie ist ein sekundäres Phänomen, das in einer langen Tradition steht, die in die Darstellung der Juden eingeht, wenn diese direkt oder indirekt für die Grausamkeiten verantwortlich gemacht werden, wie wir es für das Frankfurter Passionsspiel haben feststellen können“ (Wenzel, Judden, 97). Wolf, Kommentar, 778 gibt angesichts der All­täg­lichkeit der Folter zu bedenken: „Die auf den ersten Blick schockierend, brutal wirkende Geißel­szene dürfte für das Publikum kaum schwere Kost gewesen sein.“ 833  Vgl. FP 3859 f.3875.3877. 834  Die FD bietet zwar die Szene des ungläubigen Thomas, in der die Seitenwunde noch einmal eine Rolle spielt, allerdings ist die Textbasis der Regieanweisung so außerordentlich gering, dass ich sie hier vernachlässige; vgl. dazu Janota, Hessische Passionsspielgruppe (Bd. 1), 342–344. 832  Die

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In­sze­nie­rung geht.835 Die Zufügung der Seitenwunde als „ebenso schlichte wie bühnenwirksame Szene“836 fußt auf Joh 19,34 sowie einer reichhaltigen legendarischen Tradition, die unter ande­rem die Legenda Aurea umfasst.837 In FD ebenso wie in FP folgt die Szene auf das Zeugnis des Centurio, in dem dieser die Gottes­sohnschaft Jesu bekennt;838 ihre Fortführung divergiert jedoch: Mündet die Szene in eine Marienklage in FD (2: 242–242a), folgt in FP die Szene „Furcht und Freude der Juden“ (FP 4218–4229).839 Zunächst sollen die wenigen Verse Beachtung finden, welche die Longinus-Szene in FD umfasst. Die erste Regieanweisung lässt Longinus bereits mit der Lanze in der Hand, nach seinem Knecht rufend, auf den Plan treten: „Daraufhin spricht Longinus mit ergrif­fe­ ner Lanze zu seinem Knecht: Lieber Knecht, höre.“840 Nach der offenkundig be­stäti­gen­den Antwort des Knechtes („Das tu ich Herr, Gott helfe mir“)841 beschreibt FD nun­mehr die Hinführung des Longinus ans Kreuz durch seinen Knecht. Sowohl das Geführt­wer­den am Gewand842 als auch der Hinweis, der Knecht solle die Lanze seines Herrn an die rechte Seite Christi anlegen, setzt die Blindheit des Longinus publikumswirksam in Szene: „Dieses sprechend ergreift der Diener das Gewand und führt Longinus zum Kreuz und legt die Lanze an die rechte Seite Jesu an, dabei sagend: Meister, schau ganz gerade­aus.“843 Durchaus detailliert ist die Regieanweisung hinsichtlich der Zufügung der Seitenwunde. Das Vortäuschen des Zustoßens („sogleich tut Longinus so, als würde er eine Durch­boh­rung tun“) ist direkte, situationsbezogene Anweisung; darüber 835 So

Fichte, Darstellung, 280. Wolf, Kommentar, 221 f. 837  Zur Quellenlage vgl. ebd.: „Der Lanzenstich wird, so Joh 19,32–33, erst ausgeführt, nachdem milites die Beine der Schächer gebrochen und den Tod Jesu festgestellt haben. Weitere Einzelheiten sind aus legen­darischer Tradition geschöpft, ohne daß es möglich sein wird, eine bestimmte Legendenfassung als konkrete Quelle zu identifizieren. So ist in der Legenda aurea Longinus der Centurio, der mit weite­ren Soldaten unter dem Kreuz steht. Er durchsticht auf Befehl des Pilatus mit einer Lanze die Seite Christi. Die folgenden Wunder, Sonnenfinsternis und Erdbeben, machen ihn gläubig.“ 838  „Seht, dieser Herr wahrlich  / ist Gottes Sohn vom Himmelreich.  / ach, wie ist das unschuldig Leben / so jämmerlich in den Tod gegeben.“ Sehet, dieser her werlich / ist godes sone vom hymmelrich. / ach, wie ist das vnschuldig leben / so iemerlich in den dot geben (FP 4160– 4162); sowie FD  237. An dieser Stelle wie auch im Folgenden stammt die Übersetzung ins heutige Hochdeutsch von der Ver­fasserin. 839  Erst nach diesem Einschub folgt auch in FP die Marienklage. 840  Consequenter Longinus accepta lancea dicat seruo suo: Lieber kneht, hoyr (FD 238). 841  Respondeat seruus: Daz dun ich, meyster, symmir got (FD 239). Symmir ist wohl als „sam mir“ zu inter­pretieren und kann dann frei mit „Gott mit mir“ bzw. „Gott steht mir bei“ übersetzt werden; vgl. dazu Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (Bd. 2), 590. 842  peplum kann freilich auch „Schleier“ bedeuten. Was an dieser Stelle gemeint ist – ob sich der Blinden­f ührer lediglich des Gewandbausches des Kostümes oder eines Schleiers oder Tuches als zusätzlichem Requisit bedienen muss, ist m. E. unerheblich. Im „Heidelberger Passionsspiel“ ist expli­zit von einem Schleier die Rede; vgl. HP 5625 f. 843 FD  240: Hec dicens seruus accipiat peplum et ducat Longinum ad crucem et ponat lanceam ad dextrum latus Ihesu dicens: Meyster, nim uil rehte war. 836 So



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hinaus erwähnt FD aber auch die im Vorfeld zu bewerkstelligende Aufmalung der Seitenwunde sowie der übrigen Wunden, die eine möglichst lebensechte Wirkung haben solle: „Aber die Seitenwunde und ebenso die anderen Wunden sind vorher aufzumalen, damit sie wie Wunden er­schei­nen.“844 Aus diesem dramaturgischen Ratschlag lässt sich ablesen, dass man in der performativen Repräsentation der Seitenwunde nicht allein auf die – durch Passionsliteratur und Passions­bilder sicherlich reichlich ausgestattete – Imagination und Fantasie der Zu­schau­er setzte, sondern dazu riet, alle zu Gebote stehenden theatralen Mittel zu nutzen. Dass man jedoch davon ausgehen muss, dass sich alle Beteiligten der Fiktion bewusst waren, wird nicht zuletzt durch die folgende Regieanweisung angedeutet: „Auch berührt Longi­nus die Augen, wie wenn sie durch das Blut Christi benetzt wären und sieht und sagt auch Gott Dank, indem er spricht: Gedankt sei dir, Herre Christ.“845 Wie bereits in der voran­ste­hen­den Notiz begegnet auch hier die Kopula quasi – möglicherweise verweist sie darauf, dass man durchaus zwischen Darstellung (quasi/„als ob“) und Dargestelltem zu unter­scheiden wusste und sich dennoch um eine möglichst realistische Darbietung mühte. Das Bewusstsein der Performativität und die damit einhergehende Distanz zum Spiel­ge­schehen und das explizite Anliegen, im Sinne eines spät­mittel­alterlichen memoria passionis-Konzeptes die Vergegenwärtigung des Leidens Christi zu ermöglichen, bildeten womöglich gar keinen Widerspruch.846 Wenn Ludolf von Sachsen und ungezählte andere Verfasser devotionaler Lektüre ihrem Lesepublikum an­empfahlen, sich auch das noch so geringste Detail des Leidens Christi zu ver­gegen­wärtigen, so muss man zum einen annehmen, dass eine auf der Bühne inszenierte Passion davon ausgehen durfte, dass angesichts solch eines geschulten und kompetenten Publi­kums nicht alles machbar sein musste, sondern die Zuschauer vielmehr in der Lage waren, vor ihrem inneren Auge „dazu zu sehen“, was ihnen nicht repräsentiert werden konnte. Zum anderen dürfte jedoch aus demselben Grund eine gewisse Erwartungshaltung be­stan­den haben, das zu Bewerkstelligende auch zu bewerkstelligen und es nicht bei einer rein pantomimischen Darstellungsweise zu belassen.847 Der knappe 844 FD 241: Statim Longinus fingat se fixuram facere. Vulnus autem lateris et alia wlnera similiter sint prius depicta, ut quasi wlnera videantur. 845  Longinus etiam tangat oculos quasi sanguine Christi madidos et videat, grates quoque agat deo dicens: Gedankit si dir, herre Crist (FD 241). 846  Zum Verhältnis zwischen Illusion bzw. Fiktion und Bühnendarstellung erklärt Grünberg, Das religiöse Drama, 179 f. „Nach dem ‚Silete‘ und dem Prolog, den der Spielleiter meist selbst sprach, gab dieser das Zeichen zum Beginn. Er blieb während der ganzen Aufführung auf der Bühne und hielt einen langen Pergamentstreifen, auf welchem alle szenischen Veränderungen, Szenen­an­f änge und -schlüsse, Stichworte der Darsteller etc. etc. vermerkt waren in der Hand und gab den Spie­lern mit einem Stab das Zeichen zum Einsatz. Daß er während der Aufführung allen, auch den Zu­schauern sichtbar war und von einem Ende der Bühne zum anderen ging, ist für heutige Begriffe als absolut illusionsstörend unverständlich, war aber bei der Konstruktion der Bühne, die für den einzelnen Spieler gänzlich unübersichtlich war, erforderlich.“ 847  An dieser Stelle sei auf Reiner Warning verwiesen, der an die kirchliche Kritik an der

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Verweis, Longinus habe seinen Standort848 einzunehmen („Nachdem Longi­nus dies gesagt hat, kehrt er an seinen Platz zurück.“),849 beschließt die Szene. Wo aber ist der Platz des Longinus? Wo steht er? Man kann annehmen, dass auch in FD Mitleid ihn zu seiner Tat drängt850 und auch seine Blindheit, die seine Tat in gewisser Weise entschuldet, ist aus den Regieangaben ablesbar.851 Seine Zugehörigkeit zu einer der beiden Antipoden – Juden oder christenfreundliche Heiden – bleibt jedoch Hypothese. Stellte man sich Longinus als Juden vor, so würde er der sich wenige Szenen später be­kehren­den kleinen Schar von Juden zuzurechnen sein, ja er würde deren Bekehrung und Emp­fang des Taufsakramentes in ganz außergewöhnlicher Weise antizipieren: Benetzt mit dem Blut der Seitenwunde erlangt er das Augenlicht wieder und bekennt sich zu Jesus als dem herre Crist,852 er wird also in doppelter Hinsicht sehend. Empfängt die kleine Gruppe der Juden, angerührt von der Darstellung des Lebens und Leidens Christi, im Schluss­teil der Rahmung das Sakrament der Taufe – gespendet durch Augustinus, der wohl hier als Personifikation der Kirche anzusprechen ist, so ist Longinus in unmittel­ba­rer Weise durch das Blut des Heilandes angerührt und wird durch die ursprüngliche Quelle der heilbringenden Sakramente von körperlicher und geistiger Blindheit erlöst. Die Zufügung der Wunde und das daraus hervorströmende Blut Christi erschiene hier dann weniger als Fluch denn als Segen, der auch – wie der Epilog unterstreicht – (ein­zel­ne) Juden zu umfangen vermag. Ist Longinus jedoch durch seine Platzierung auf der Bühne als Heide einzuordnen, so entfiele diese Konnotation. Welches Szenario von FD angedacht war und welche konkreten Umsetzungen auf der Bühne stattgefunden haben, muss an dieser Stelle offenbleiben. körperlichen Darstellung der Passion Christi erinnert, die in der Sorge um die Bedeutung der Messe wurzele: „Das Spiel hat in vivo, was die Messe nur heilsgeschichtlich kommemoriert, es hat das blutige Opfer, und hier wiederholt sich nun jene Aktivierung des Imaginären, zu der die Passionstraktate anleiten, nur nicht mehr individualpsychologisch, sondern kollektiv. Und da das Publikum den Körper nicht mehr imaginieren muss, weil das Spiel ihn bereits […] darbietet, muß sich die von den Kritikern der Me­di­ta­tionspraxis gefürchtete Verwechslung von Realpräsenz und bloß phantasmatischer Präsenz ver­schärfen“ (Warning, Auf der Suche, 351). Zur Gegenständlichkeit der Inszenierungen konstatiert Cohen, Christ Killers, 213: „[D]ramatizing Jesus’ suffering became a highly effective tool for represen­ting the pain and tortures inflicted upon him. Texts of late medieval Passion plays refer to elaborate props and complicated dramatic techniques that show the religious imagination enthusiastically at work: from sponges, caps and wigs for dramatizing Jesus’ crowning with thorns, to liquids that would appear to flow from his wounds, to ingenious devices for securing him to the cross.“ 848  Zur Problematik der loca vgl. etwa Wolf, Kommentar, 43–46. 849  Cum hec dixerit Longinus, ad locum suum reuertatur (FD 242). 850  Zumindest insinuieren das die Incipits, die mit denen von FP mehr oder minder übereinstimmen; vgl. FD 405 mit FP 4180.4192.4198. Abweichend jedoch von FP beklagt Longinus nicht seine frevelhafte Tat (so FP  4202), sondern die Verszeile nach erfolgter Heilung lautet schlicht: Gedankt si dir, herre Crist (FD 407). 851  Vgl. FD 241. 852  Vgl. FD 407.



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Nunmehr soll der Text des „Frankfurter Passionsspieles“ in Augenschein genommen werden. Ebenso wie in FD folgt die Heilung des Longinus auf das Bekenntnis des Centurio (FP  4160–4179). Nach Beendigung des CenturioMonologes, der seinerseits durch ein die Zuschauer sicherlich aufrüttelndes Bühnenerdbeben wie durch einen Pau­ken­schlag eröffnet wurde,853 setzt die Longinus-Szene ein. Betritt der Protagonist an dieser Stelle zum ersten Mal die Bühne, so wurde der Zuschauer mit dem Gegenstand der Szene – der Zufügung der Seitenwunde – bereits in der Kreuzigungsszene (Nr. 69) konfrontiert: In einer Art prophetischer Vorwegnahme (wenngleich im Tempus der Vergangen­heit)854 hatte Christus dort, unmittelbar bevor ihn die Soldaten ans Kreuz schlagen, von der Durchbohrung seiner Seite gesprochen: „[A]ch, du so törichte Juden­ heit, mit der Lanze hast du einen Himmlischen durchstochen. / das werde ich nicht lassen ungerächt.“855 Man muss davon ausgehen, dass die Zuschauer diese drohenden Fluchworte noch im Ohr haben, wenn sie nun der tatsächlichen szenischen Darstellung der Durchbohrung der Seite Christi beiwohnen. Zunächst findet sich im Text eine kurze Regieangabe, die den Aufritt des Longinus sowie seines Knechtes Barey markiert.856 In den ersten Worten der Szene, die Longinus spricht, wird implizit sein Gebrechen, seine Blindheit, dargestellt: Er muss seinen Knecht bitten, ihn mit Hilfe seiner Lanze (glan)857 zum Gekreuzigten zu führen. „Wo bist du, Barey, lieber Knecht? / Vernimm mich eben und recht. / Nun gib mir die Lanze in die Hand / und tue mir dabei bekannt / wo doch hängt Jesus, der Herr.“858 Die nächsten Verse zeichnen die Tat des Longinus, die Durchbohrung der Seite Christi, als mitleidvolle Tat des Erbarmens, eine Deutung des Geschehens, die sich deutlich von etli­chen anderen mittelalterlichen Passionsspielen abhebt:859 „Mich er853  Wolf, Kommentar, 835 f. merkt zur Regieanweisung Quasi facto terre motu im FP an: „Bühnentechnisch waren um 1500 an Erdbeben gemahnende Effekte – Quasi facto terre moto – leicht zu erzeugen, besaß doch die Stadt Frankfurt sowohl entsprechende Fachliteratur (Feuerwerksbücher) als auch die dazu nötigen Fachleute. […] Wichtigstes bühnentechnisches Mittel zum Erweis der wahren Natur des scheinbar machtlosen Gekreuzigten war das Erdbeben mit anschließender Finster­nis, was städtische Kriegs-Ingenieure oder Büchsenmeister – die Büchsenschützen partizipierten an der Spielträgerschaft […] – mittels Böllerschüssen und Rauchbomben unschwer erzeugen konnten. Schuld an dem Tohuwabohu – so die Botschaft – tragen (wieder einmal) allein die Juden […]. Dies ent­spricht auch gut mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorstellungen, wonach Juden oder Hexen Schuld an Naturkatastrophen hätten.“ 854  Zum Umgang mit Tempora in mittelalterlichen Texten vgl. Fleischman, Tense, die auf den Sinn des scheinbar widersinnigen Gebrauchs von Verbformen verweist. 855  [A]ch, du vil dorichte Iudischeit, mit der lantzen hastu eyn himelschen durchstochen. / das werde ich nit lassen vngerochen (FP 3672–3674). 856  „Nachdem dies gesprochen wurde, kommt Longinus und sagt zu seinem Knecht.“ Hoc dicto uenit Longinus et dicit seruo suo (FP, S. 405). 857 Vgl. Wolf, Kommentar, 836. 858  Wo bistu, Barey, lieber knecht? / vernym mich eben vnd recht. / nu ib mir dyn glan in die hant / vnd du mir da by bekant, / wo doch hang Ihesus, der her (FP 4180–4184). 859  Von einer empathischen Tat spricht auch das „Heidelberger Passionsspiel“ (HP); vgl.

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barmte seine Marter sehr; / ich will ihn durch die Seite / mit der scharfen Lanzenseite / [und] sein Herz durch­stechen / und sein Leben damit schwächen. / wenn der Herr dann sterben tät,  / so wird beendet seine Not.“860 Hier wird deutlich gezeigt: Dem Longinus des FP geht es einzig um die Abkürzung und Beendi­gung der Agonie Christi. Die Inszenierung der Blindheit des Longinus erweist sich als theatralischer Kunstgriff par excellence, vermittels dessen man eine dogmatische Grat­wanderung zu bestehen vermochte: Seit dem Konzil von Vienne im Jahre 1312 durfte der durch die Matthäus-Interpolation861 Vorschub geleisteten Deutung der Seitenwunde als Todeswunde nicht mehr propagiert werden, sondern es musste klar dargestellt werden, dass Christus diese Wunde nach seinem Tode empfangen habe.862 Der Widerspruch, der sich aus der Darstellung des Longinus als mitleidvollem Menschen, dem an der Abkürzung der Leiden Christi gelegen war und dem dogmatisch gewichtigen Faktum des bereits eingetretenen Todes Jesu zwangsläufig ergeben musste, konnte durch die Blindheit des Longinus somit elegant und schlüssig aufgehoben werden.863 Die Einwilligung des Knechtes Barey („Das tu ich, Herr, ohne allen Spott / und will dazu Janota, Hessische Passionsspielgruppe (Bd. 1), HP 5630–5635. Das „St. Galler Passionsspiel“ (GP) aus dem 14. Jahrhundert. nennt dagegen ein gänzlich anderes Motiv: Longinus nimmt dort Rache am Zauberer Jesus; vgl. GP 1180 f. Rache für die bislang durch Jesus verweigerte Heilung ist auch im „Donau­eschinger Passionsspiel“ (DP) das entscheidende Movens zur Durchbohrung der Seite und es ist wohl kaum ein Zufall, dass hier der Name des Knechtes (Sadoch) den rachsüchtigen Longinus eindeutig als Juden ausweist: „Ich will mich rächen auch an dir / du wolltest auf Erden nicht helfen mir / und hast mich lassen blind bleiben / mein Speer muss dir den Leib aufschneiden / und dir deine Seiten noch auftun / wärest noch einziger Gottessohn / Sadoch, setz mir mein Lanzen an, / dass ich treffe den falschen Mann.“ Ich wil mich rächen ouch an dir / du woltest vff erd nie helffen mir / vnd hest mich laussen blind beliben / min sper müß dir din lib vffschniden / vnd dir din sitten noch vff tün / wärist noch einist gottes sün / Sadoch setz mir min lantzen an / da mit ich treff den falschen man (DP 3520–3527). 860  Mich erbarmbte sin martir sere; / ich wil ene durch die sijten / mit der scharpfen glansijten / vnd sin hertz durchstechen / vnd sin leben da mit swechen. / wan der her dan sterbet dot, / so wirt volendet sin not (FP 4185–4191). 861  Vgl. dazu ausführlich Burdach, Gral, 4 f., der die einzelnen Textzeugen aufführt, deren Lesart insinu­iert, der Speerstoß selbst sei die Ursache des Todes Christi gewesen. 862  Siehe dazu ausführlich Wolf, Kommentar, 222. 863 „Neben der offensichtlichen Bühnenwirksamkeit einer Blindenheilung ist auch ein mittelbarer Zusam­menhang mit dem theologischen Disput um den Zeitpunkt des Lanzenstichs gegeben: Ent­weder diente der Lanzenstich nämlich der Tötung oder nur zur Bestätigung des Todes Jesu. Das Konzil von Vienne 1312 legte hierzu in einem Dogma fest, daß der Lanzenstich nach dem Tode Jesu erfolgt sei. Mit Hilfe der Blindheit Longini können die Spiele beide Lesarten miteinander verbinden, ohne mit dem Dogma in Konflikt zu kommen“ (ebd.). Im „Alsfelder Passionsspiel“ (AP) wird das Motiv der Blindheit in der Longinusszene noch weiter ausgereizt und ins Geistliche gewendet, nicht ohne eine harsche Judenschelte anzufügen, die Longinus als Gegenfigur zu den Juden zeichnet, die sich als wahrhaft Blinde erweisen, die nicht zur Erkenntnis der Wahrheit geführt werden; vgl. dazu AP 6382f: „Aber wahrlich, dies ist Gottes Kind. / Ich war auf beiden Augen blind.“ Edde werlich, dit ist goddes kynt. / ich was an beyden augen blynt. Die im Vergleich zu FP wesentlich schärfere Abgrenzung des Longinus vom jüdischen Kontext (vgl. AP 6388 f.) spiegelt sich allein im Namen seines Knechts und Blindenführers in AP wider: Er lautet Heynrich (!); vgl. AP 6372 u. ö.



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halten dein Gebot / und führe dich dar gerne dorthin / dass du werdest dabei gewahr / welch Pein der gute Mann hat / da ihm das sich mehrende Geschrei zu Herzen geht“).864 ist gleichsam das retardierende Moment, dem schließlich die Hinführung des blinden Longinus ans Kreuz folgt („Als dies gesagt war, wird Longinus zum Kreuz geführt. Und der Knecht legt die Lanze an die Seite Jesu und spricht“),865 unter welchem Barey seinem Herrn zu verstehen gibt, dass nun alles zum Todesstoß vorbereitet sei: „Lieber Herr, nun nimm wahr / diese Lanze setz ich offenbar  / an des Herren Seiten hierher  / nun stich und erfülle dein Begehr.“866 Die nun folgende Regieanweisung enthält drei Elemente, von welchen vor allem die beiden letzteren für diese Untersuchung bedeutsam sind: Nach dem erstmals explizit gefassten Hinweis auf die Blindheit des Longinus („Longinus tut, als wenn er blind wäre“ Longinus facit ac sy esset cecus) verrät dieser Absatz zwei aufschlussreiche Details über die theatralische Inszenierung der Seitenwunde selbst: Dass dieselbe wohl – wie es gängige Praxis zu sein schien (soleat) im Vorfeld (antequam) auf dem Leib des Jesus­darstellers vorgeformt werden solle (antequam soleat formare wolnus) – sowie die ledig­lich andeutende Notiz, dass die Hände des Longinus, mit denen er seine Augen berührt, wie (quasi) von Blut benetzt seien („Danach berührt er seine Augen mit den Händen, die wie vom Blut Christi triefen“).867 Wie dies – sowohl die Vorformung der Wunde als auch das Herablaufen von Blut  – im einzel­nen bühnentechnisch, szenisch und real umgesetzt werden solle, lässt FP offen.868 Auf­schlussreich mag hier ein vergleichender Blick auf das „Luzerner Osterspiel“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts869 sein, das Marshall Blakemore Evans bei seiner Untersuchung des „Donaueschinger Passions­spieles“ berücksichtigt: Regarding Longinus’ spear we read (Donaueschingen, 3495): „Sadoch setzt Loynus das sper an, das denn dar zů gemacht sol sin, und den sticht Loynus, das daz blůt uss her spruczt und im uber die stangen ab uff die hend louft.“ How this was accomplished 864  Das thun ich, her, an allen spot / vnd wil halden din gebot / vnd fure dich gar gern dar / das du werdest da by gewar, / was phin der gude man hat; / wan isz viln luden zu hertzen gat (FP 4192–4197). Vgl. die sprachlichen Erläuterungen bei Wolf, Kommentar, 836. 865  Hoc dicto Longinus ducatur ad crucem. Et seruus ponit lanciam ad latus Ihesus dicens (FP, S. 405). 866  Lieber her, nu nym war, / disz glan setz ich offenbare / an des herren sijten her. / nu stich vnd erfulle din beger (FP 4198–4201). 867  Quo facto tangat oculos suos manibus quasi sangwine Christi madidis (FP, S. 405). Da jedoch schon FP  4074 f. im Rahmen der Marienklage (Nr. 74) die unverbundenen Wunden angesprochen werden, ist anzunehmen, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die Wundmale an Händen und Füßen „geformt“ gewesen sein sollten. Im „Benediktbeurer Passionsspiel“ taucht die Seitenwunde sogar bereits in der Aufzählung der Verwundungen in der Marienklage auf; vgl. Hartl, Benediktbeurer Passions­spiel/St. Galler Passionsspiel, BP 423. 868 Zur Problematik der Rekonstruktion mittelalterlicher Bühnenwirklichkeit vgl. allgemein Wolf, Für eine neue Form. 869  Zur Datierung siehe Touber, Donaueschinger Passionsspiel, 14.

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is shown by the Luzern description (Germania, xxx, 340): „Longi­nus hatt ein Spär darnach gerüst zum Stechen jn Sfaluatoris Brust, jst hol vnd glych einer Sprützen, sol vornen Blut farb jm Ysen beschloszen haben.“870

Ob diese Regieanweisung in Frankfurt bereits auf eben jene Weise gelöst wurde, ist natür­lich nicht zu beantworten. Es zeigt jedoch, dass dem Erfindungsreichtum wenig Grenzen gesetzt waren, wenn man versuchte, dem Publikum eine möglichst lebensechte Per­formance zu bieten. Möglicherweise wurde auch die (auf welche Weise auch immer) vor­ge­formte Wunde als Quelle des Bühnenblutes präpariert. Es ist meines Erachtens in jedem Fall davon auszugehen, dass auch im „Frankfurter Passionsspiel“ dafür Sorge getragen wurde, dieses zentrale Geschehen der Bühnenhandlung entsprechend anschaulich zu gestal­ten.871 Wie bereits in der Analyse zu FD konstatiert, ist nicht zu vermuten, dass angesichts des virulenten Bestrebens nach einer möglichst intensiven Versenkung in das Leiden Christi nicht auch auf der Bühne versucht wurde, dieses Anliegen bestmöglich zu unter­stützen. Die unmittelbar erfolgende Heilung seiner Blindheit (et videat et dicit) artikuliert Longi­nus nun nicht wie in FD in einer schlichten Danksagung. Vielmehr folgt ein Monolog, der drei unterschiedliche Elemente beinhaltet: Dabei handelt es sich zum einen um den (hier freilich reuevollen) Wiederhall des Bekenntnisses des Zenturio („Ach, was hab ich Armer getan,  / dass ich so frevlerisch erstochen habe / den Mann, der sicherlich ist / des wahren Gottes Sohn vom Himmel, Christ“), sowie um die verbale Erläuterung des be­reits szenisch Dargestellten („sein Blut rann mir auf meine Hand, / da streich ich es sofort / über die blinden Augen mein; / zur Stund’ sah ich des Tages Schein, / und kam doch als ein armer Blinder her“) und schließlich um das Anflehen der Barmherzigkeit Christi und Ver­gebung seiner – eigentlich ja in guter Absicht vollbrachter – aber eben doch frebelichen Tat („des bitte ich dich, Herr Jesus Christ,  / weil du so barmherzig bist, / dass du die Sünde vergebest mir, / die ich begangen hab an dir, / und nicht rächst sie, durch die Güte dein, / an der armen sündigen Seele mein“).872 Dieser dritte und letzte Aspekt – die Furcht vor Rache – erscheint wie 870 

Evans, Staging, 289. Nicht allein die Durchbohrung der Seite Christi stellte die Spielleiter vor Herausforderungen. Die teil­weise eher vagen („Donaueschinger Passionsspiel“) sowie die recht expliziten Regieanweisungen („Luzerner Osterspiel“) etwa zur Malchus-Szene geben darüber Aufschluss: „The stage-direction of the Donaueschingen text (2091) where Peter cuts off Malchus’ ear is very curious: ‚Petrus […] zuckt sin schwert und schlecht Malchus zum kopf, der falt denn nider, als ob im ein or ab sy.‘ The Luzern note is more definite (Germania, xxx, p. 349): ‚Malchus sol haben jn der einen Hand ein Latern vnd jn der andern ein Schwümlin mitt Blůtt, mit wöllchem er ans or gryfft, so Petrus zuckt, jm Fallen‘“ (Evans, Staging, 289). Man kann davon ausgehen, dass die Aufführenden an allen Orten entsprechend kreativ mit den biblischen Vorgaben umzugehen wussten. 872  Ach, was han ich armer gethan, / das ich so frebelichen erstochen han / den man, der sicherlich ist / des woren gottes sone von hymmel, Crist. / Sin blut ran mir uff myn hant, / da streich ich isz alzuhant / vber die blinden augen myn; / zu stunt sage ich des tages schin, / vnd kame doch 871 



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eine Resonanz auf die in der Kreuzigungsszene durch Christus selbst angedrohte Rache gegenüber jener dorichten iudischheit.873 Ebenso knapp wie FD formuliert auch FP den Abgang des Longinus von der Szene (Longi­nus reuertatur ad locum suum);874 ebenso wie FD gibt auch das jüngere Spiel in dieser Regieanweisung keinen Anhaltspunkt, wo Longinus zu verorten sei. Schlechterdings drei Indizien können – bei aller gebotenen Unsicherheit – meines Erachtens für dessen unter Umständen denkbare Identifizierung als Juden ins Feld geführt werden, beziehungsweise als Hinweise darauf gefasst werden, dass die Szene in FP als Subtext die Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum enthält. Zu nennen ist hier zunächst der Name seines Knechtes, sodann das Motiv der Rache, das als Nachklang auf FP 3673 f. zu deuten ist sowie schließlich die gegenüber FD selbst­ständige Anschlussszene „Furcht und Freude der Juden“. Bedenkt man die bereits in A.2.2.1.1 dargelegte, ins Extrem gezeichnete Negativdarstellung der Juden im „Frankfurter Passions­ spiel“, so muss diese Zuordnung des Longinus als Juden freilich auch die Wahr­ nehmung der Szene und die Konnotation der Seitenwunde als solcher beeinflusst haben. Mit Klaus Wolf gehe ich davon aus, dass der hebraisierende Name des Knechtes Barey nicht zufällig gewählt sein kann,875 sondern durchaus absichtsvoll Longinus in ein jüdi­sches Umfeld einzeichnen soll. Ein vergleichender ein armer blinder her. / Des bidden ich dich, her Ihesu Crist, / sit du so barmhertzig bist, / das du die sunde vergebest mir, / die ich begangen han an dir, / vnd nit reche isz, durch die gude dyn, / an der armen sundigen sele myn (FP 4202–4217). Zur sprachlichen Erläuterung vgl. Wolf, Kommentar, 837, der das Lexem frebelichen in „frevelhaft“, alzuhant in „sofort“ und sage in „sah“ auflöst. Zum Motiv der Reue merkt er an: „Darüber hinaus führt FP quellenunabhängig das Motiv der Reue über den Lanzenstich ein: V. 4202–4203 und V. 4212–4217“ (ebd.). Im Anschluss an Dauven-van Knippenbergs einschlägiges Werk über die Longinuslegende im geistlichen Spiel fährt er fort: „Mit der sunde in V. 4214 könnte nicht nur der Lanzenstich gemeint sein, ‚sondern auch die Tatsache, daß Longinus erst jetzt, nachdem er von seiner Blindheit geheilt ist, erkennt, daß es der wahre Sohn Gottes ist, der gekreuzigt wurde.‘“ 873  So auch Wolf, der diese Worte der „inneren Logik des Spiels“ geschuldet sieht; vgl. ebd., 837. 874  Vgl. FP, S. 407. Befremdlich ist der zweite Halbsatz der Regieanweisung, der insinuiert, den Schä­chern seien – in Abweichung zur biblischen Vorgabe – die Beine aufzurichten (surgant). Es ist zu ver­muten, dass dies aus pragmatischen Gründen notwendig war. 875 Vgl. Wolf, Kommentar, 837: „Der wohl hebräische Name Barey des Dieners Longini macht auch den (körperlich) Blinden zu einem (am Ende auch religiös hellsichtigen) Juden.“ Mit Wolf erscheint mir die Ansicht Dauven-van-Knippenbergs, FP gebe keinen Anhaltspunkt für die jüdische Identität des Longinus, nicht besonders einsichtig; vgl. dazu ebd., 839 (Anm. 919). Ihre Aussage, das Begleitetsein des Longinus von einem Knecht lasse ihn als einen Wohlhabenden erscheinen (so Dauven-van Knippen­berg, Longinuslegende, 96), mag richtig sein. Dennoch gebe ich zu bedenken, dass dies wohl doch eher als eine dramaturgische Notwendigkeit angesichts seiner Blindheit zu verstehen ist; offen bliebe darüber hinaus, warum der oder die Verfasser leichthin oder absichtslos einen so hebrä­isch anmutenden Namen für den Knecht gewählt haben.

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Blick auf das „Alsfelder Passions­spiel“ zeigt, dass man andernorts keinerlei Hemmungen hatte, bei der Namens­gebung des Knechtes auch auf einen einschlägig germanischen Namen (Heynrich!) zurückzu­grei­fen.876 Fasst man, wie bereits expliziert, die Reueklage des Longinus877 als Echo auf die ange­kündig­te Rache in FP 3673–3674 auf, so legt sich der Schluss nahe, dass Longinus sich als Ausführender dieser Tat von diesem Fluche gemeint weiß und deswegen als Mitglied des jüdischen Volkes aufzufassen sein könnte.878 Das dritte Argument – der Verweis auf die Einfügung der Folgeszene („Furcht und Freude der Juden“) – gibt keinen weiteren Aufschluss über die Einordnung des Longinus; sie ver­stärkt jedoch den Eindruck, dass in der Seitenwundenszene die Motivik der Rache und des Fluches eine große Rolle spielt. Der Unterton des Unheils und der Rache, der in den Worten Jesu am Kreuz bereits angeschlagen, in der Reueklage des Longinus expli­zit thematisiert wurde, klingt auch in der nachfolgenden Szene noch einmal an: Spricht Annas zunächst von der in der Durchbohrung der Seite vollzogenen Rache der Juden an Jesus („Ihr Juden, wir haben uns wohl gerächt, / Jesus ist zu Tode gestochen.“) – die zu rächende Tat erscheint somit selbst als Tat der Rache – so kehren sich die Rollen schon im folgenden Vers ins Gegenteil: „darum so gehen wir in dieser Stund’,  / dass es dem Volk nicht werde kund. / ich fürcht’, würd’ es das Volk gewahr, / sie töteten uns alle gar.“879 Die auf der Textebene geäußerte Furcht vor dem eigenen Volk musste auf der Rezeptions­ebene als Furcht der Juden vor der christlichen Bevölkerung aufgefasst werden. Auch wenn das sogenannte „Große Judenschlagen“ in Frankfurt beinahe 150 Jahre zurücklag, so war sicherlich die immer wieder aufflammende Verfolgung von Juden doch als Grund­konstante im Bewusstsein der Zuschauer verankert.880 Die durch die Synagoge geäußerte Freude über den Tod des lesterer und trogner und ihre Aufforderung, guten Mutes zu sein („wohl auf, ihr Herren, wir wollen heim gehen / und guten Mutes sein“),881 erscheint vor diesem Hintergrund geradezu sarkastisch, ja womöglich als bewusst eingesetzte Provo­kation von Unmut und Gewalt gegenüber den Juden. Was aber folgt nunmehr aus den angestellten Beobachtungen für die Deutung der durch FP vorgenommenen Repräsentation der Seitenwundenszene, gerade angesichts ihrer Rah­mung durch die Worte Jesu am Kreuz sowie der unmittel876 

Vgl. AP 6372. Des bidden ich dich, her Ihesu Crist,  / sit du so barmhertzig bist,  / das du die sunde vergebest mir, / die ich begangen han an dir, / vnd nit reche isz, durch die gude dyn, / an der armen sundigen sele myn (FP 4212–4217). 878  Wolf parallelisiert an dieser Stelle die Reue des Longinus mit der Reueklage der Magdalena in FP 1076–1089; vgl. Wolf, Kommentar, 837. 879  Ir Iudden, wir han vns wol gerochen, / Ihesus ist zu dode gestochen. / dar vmb so gen wir in dieser stunt, / das isz dem folgk icht werde kunt. / ich fuchten, wurde isz das folgk gewar, / si doten vns alle gar (FP 4218 f.). 880  Vgl. zum periodischen Auftreten von Judenverfolgungen auch Graus, Pest, 156–158. 881  Wol uff, ir herren, wir wullen heym gan / vnd vns machen ein guden mut (FP 4227 f.). 877 

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baren Anschlussszene? Meines Erachtens wird die eigentliche Kernerzählung der Szene – dem Blinden geschieht durch die Berührung mit dem Blut Jesu wundersame Heilung, die zugleich zu „religiöser Hell­sichtigkeit“882 führt – überschattet und gleichsam verdunkelt von dem Motiv der Rache und des Fluches. Longinus als Protagonist scheint dabei gleichsam im Auge des Sturms zu stehen  – ihm widerfährt tatsächlich Heilung und Heil, das Blut, das der Seiten­wunde entströmt, macht ihn zu einem Sehenden. Man könnte vermuten, dass es sein eigenes Mitleid, seine für Christus empfundene compassio ist, die ihn, obgleich wohl Jude, aus den Unheilszusammenhängen herauslöst: Den mitleidvollen Juden umfängt das Mit­leiden Christi. Doch jenseits dieses Motives scheint die Repräsentation der Seiten­wun­de Christi in FP das Schwergewicht weniger auf die Darstellung der Wunde als Ge­burts­stätte der Kirche und Quelle des Heils zu legen: Vielmehr erscheint sie als Ort der Ver­werfung des jüdischen Volkes, als Sigel und Urkunde seines Verfluchtseins. Die Seiten­wunde, Signum seiner an Jesus geübten Rache, wird zugleich in den Worten Jesu zum Sym­bol der an ihm selbst zu vollstreckenden Rache. Das Blut, das Longinus heilt, scheint wie im Blutruf aus Mt 27,25 die dorichte iudischheit als Fluch heimzusuchen. Der Schluss liegt nahe, dass die Zuschauer dies durchaus in dem Sinne auffassen konnten, ihnen selbst stünde als Christen zu, sich die Vollstreckung dieser Rache zu eigen zu machen.883 Die in FP 4222 artikulierte Furcht der Juden, ihre Rache werde die Rache des Volkes nach sich ziehen, ist letztlich bestätigende Randnotiz erlebter Realität. Die Möglichkeit der Bekehrung und Annullierung des Fluches wird – anders als in FD – nicht durch eine Taufszene am Schluss des Stückes unterstrichen.884 Bedenkt man die besondere Popularität der Heiligen Lanze in Frankfurt, die etwa an der Insti­tu­tion eines Festes zu Ehren von Lanze und Nägeln Christi abzulesen ist,885 so muss man davon ausgehen, dass der theatralen Darstellung der zugehörigen Szene große Auf­merksamkeit zuteilwurde und die geweckten 882 

Vgl. die Formulierung bei Wolf, Kommentar, 837. Bedeutsamkeit der Bühnenwirklichkeit für die soziale Wirklichkeit vgl. Turner, Universals of Performance, 16–18. 884  Dennoch wird auch in FP durch die Figur des Longinus eines kolportiert: Der sich über Jesus erbar­mende Jude darf auf Barmherzigkeit hoffen, der sich der heilvollen Anerkenntnis der Gottessohn­schaft Christi nicht verschließt, dem bleibt der Himmel nicht verschlossen. Darin hebt sich Longinus ebenso wie der reuige Schächer und Magdalena aus der Menge der sonst als feindselig und verstockt gezeichneten Juden hervor. 885  Vgl. dazu Wolf, Kommentar, 838 f.: „Ein Bibliothekskatalog des Bartholomäusstifts (um 1463) nennt mehrfach und geradezu auffällig häufig Handschriften, die auf ein Fest von der Lanze und den Nägeln Christi Bezug nehmen. Auch Frankfurter Laien scheinen an der Verehrung der lancea domini Anteil genommen zu haben. […] Die breite Ausgestaltung des Lanzenstichs hängt auch mit der in Frank­f urt intensiven Verehrung und liturgischen Preisung der Arma Christi zusammen. Dem heiligen Speer wird – quasi wie in einer Predigt zum Fest der Lanze Christi – in dieser Szene eine für das Publi­kum belehrende ätiologische Darstellung gewidmet.“ 883  Zur

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Konnotationen als gewichtige Stimme im Chor der durch Passionslektüre und Passionsbildnisse geschulten Wahrnehmung der Seitenwunde eingeordnet werden kann. Die Ambiguität, die die Seitenwunde in FP kenn­zeichnet  – ihr Changieren zwischen Heil und Unheil, Segen und Fluch  – soll an gege­bener Stelle noch einmal aufgegriffen werden.

2.3  Glaubende Schau – schauender Glaube: Der Niederschlag der Seitenwundenfrömmigkeit in der bildenden Kunst Nicht nur die sprachlich verfassten Quellen bezeugen die Omnipräsenz der Seitenwunde im ausgehenden Mittelalter. Auch auf dem Feld der Kunst begegnet eine Auseinander­set­zung mit diesem so zentralen Motiv auf Schritt und Tritt. Dabei ist a priori die prominente Rolle der Kunst als gewichtiges, ja ebenbürtiges Medi­um der Frömmigkeit neben der Sprache zu gewärtigen:886 „Denn was für die Lesekundigen die Schrift leistet, das leistet das Bild für die schauenden Unge­bildeten, weil in demselben die Ungebildeten das sehen, was sie befolgen sollen, in demselben diejenigen lesen, die die Buchstaben nicht kennen.“887 Mit diesem oft zitier­ten888 Diktum des Papstes Gregor des Großen ist eine zentrale Funktion der christlichen Kunst benannt: Bilder sind imstande, den Verstand, das Herz und die Seele auch und gerade des Ungebildeten zu erreichen.889 Auch demjenigen, dem die Welt der Bücher ver­schlossen ist, eröffnen die Bilder im Akt der glaubenden Schau den Horizont des schau­en­den Glaubens.890 Aber auch der Gebildete – man denke nur an die komplexen Reflexionen Heinrich 886  Zum Stellenwert und zur Deutung theologischer Gehalte in der mittelalterlichen Kunst siehe auch allgemein Hamburger, Theology. 887  Gregor, Epistola XIII,1128: Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernen­tibus, quia in ipsa ignorantes vident quod sequi debeant, in ipsa legunt qui litteras nesciunt. 888  Zur oftmals irreführenden Rezeption bzw. Erweiterung des Papstwortes in den folgenden Jahr­hun­der­ten vgl. ausführlich Chazelle, Pictures, 138. Chazelle weist etwa darauf hin, dass eine Auffassung der Bilder als „Bibel der Armen“ keinesfalls auf Gregor zurückzuführen sei; vgl. ebd. 889  So formuliert es Cohen, Christ Killers, 185. Die Äußerungen des Papstes stehen im Zusammen­hang mit der von Gregor getadelten Zerstörung von Bildnissen im Kirchenraum durch den Bischof Serenus von Marseille; der Briefwechsel, in dessen Kontext sie zu finden sind, datiert in die Jahre 599/600; vgl. dazu Chazelle, Pictures, 139. 890  Nur am Rande sei hier auf die erhellenden Überlegungen zum Verständnis des Sehens im Mittelalter bei Tachau, Seeing as Action and Passion, bes. 337 verwiesen. Von einem seit 1300 einsetzenden Prozess einer Materialisierung der Frömmigkeit spricht Jeffrey Hamburger etwa im Hinblick auf Gertrud von Helfta: „A mystical progress that one expects to move away from the material in fact leads to the opposite direction: from soul to body […]. In the writings associated with Gertrud […] works of art are themselves considered instruments capable of elevating the mind to the contemplation of essential truth; they play an instrumental role in precipitating and guiding devotional response“ (Hamburger, Seeing, 59 f.). Zur Diskussion der Legitimität der Bilder im Mittelalter vgl. auch Schnitzler, Illusion, 230–236.



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Seuses (gest. 1366) über Bild und Bildlichkeit als „Leitkategorie“891 – war an das Bild als probates Medium des Glaubens verwiesen, als ein Medium, das sogar ermöglichte, daz man bild mit bilden us tribe.892 Zugleich ist an Michael Camilles „radikale Einsicht“ zu erinnern, dass unsere Dichotomien von ‚Text und Bild‘ sowie ‚Wort und Bild‘ […] auf einem Denken fußen, das dem 14. Jahrhundert fremd war, denn in jener Zeit galten Sehen und Lesen als Teil derselben körperlichen Tätigkeit, zu der auch Wahrnehmen und Erken­nen im Dienste des Wissens gehörten.893

Man kann mit Fug und Recht von einer wahren Bilderflut sprechen, die demjenigen entgegenstürzt, der sich auf die Suche nach bildlichen Zeugnissen einer spätmittel­alter­lichen Seitenwundenfrömmigkeit begibt. Die Bilder, die sich für die vorliegende Unter­suchung anböten, sind Legion,894 was nicht nur durch die einschlägigen Publikationen offenbart wird, die ihrerseits ja auch nur besonders prominente Bildzeugnisse bieten und nicht die tatsächliche Fülle des Bildmaterials, das in Kapellen, Kirchen oder spätmittelalterlichen Handschriften erhalten ist, darbieten können. Dazu kommt, dass man sich auch im Hinblick auf die potentiellen Bildmotive, die der Seitenwunde Raum geben, gleichsam in einem Panoptikum zu befinden scheint: Neben den Darstellungen der Kreuzigungsszene,895 der Inter­zession,896 der Pietà,897 der Gregors891  Vgl. dazu die detaillierte Beschäftigung mit dem äußerst komplexen Verständnis des Bildes in der Frömmigkeit des Heinrich Seuse bei Lentes, Der mediale Status, 15. 892  Heinrich Seuse, zit. nach ebd. Zur Bedeutsamkeit der Bilder bei Seuse heißt es dort: „Ferner vertritt er in der Vita ein Frömmigkeitsmodell, das zutiefst visuellen und körperlichen Praktiken folgt: Er lässt sich Bilder in seine Kapelle malen, betet und meditiert vor Bildern und benutzt sie als Orte der Präsenz des Heiligen. […] Letztlich zeigt sich, daß er noch den Körper als Bildort versteht: nicht nur, daß der innere Mensch bei ihm als imago Dei erscheint – auch der äußere Körper wird in dem von ihm ent­wor­fenen geistlichen Bildungsprozess im Sinne einer configuratio mit dem Christuskörper überformt. Innere und äußere Bilder, Imagination und die Betrachtung materieller Bildwerke kommen dabei stetig zusammen und werden von Seuse wechselseitig gebraucht.“ 893  Michael Camille, zit. nach Toussaint, Passional, 144. Eine sehr differenzierte Untersuchung jener „visual piety“ bietet Lentes, Rituals of Gazing, 361–364. Dabei verweist er nicht zuletzt auf die Gefahr, den Sehsinn isoliert zu betrachten und damit dem mittelalterlichen Konzept der Synästhesie nicht gerecht zu werden. 894 Eine höchst anregende Kompilation spätmittelalterlicher und moderner bildlicher Umsetzungen des Seiten­ wundenmotivs findet sich bei Hoeps/Hoppe-Sailer, Deine Wunden. Zur religiösen Bilderflut und ihrem Konnex mit der Passion vgl. auch Oberhuber, Bilderflut. 895  Beispiele etwa bei Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 509 f. oder bei Geissmar-Brandi/ Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 179–191 und van Welie-Vink, Body Language, 67.86 f. 896  Dieser Bildertypus zeigt meist Christus und Maria, die sich mit Verweis auf die Seitenwunde bzw. die Mutterbrust vor Gottvater für den einzelnen Sünder fürbittend einsetzen; vgl. etwa exemplarisch bei Bynum, Fragmentierung, 91 (Abb. 2.13) oder Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 663 (Abb. 802) sowie van Welie-Vink, Body Language, 126 f.129–131. 897 Vgl. Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 582–584 sowie van Welie-Vink, Body Language, 88 f.

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messe,898 der Adam-Christus-Topologie,899 der Speerbildchen,900 der Stigmatisierung von Heiligen,901 des Schmerzensmannes,902 der arma Christi,903 des Herzen Jesu könnten auch das Jesuskind im heiligen Herzen,904 die Umarmung des Gekreuzigten durch die Caritas905 sowie die vulneratio Christi durch die sponsa/ecclesia,906 die Passionswappen,907 die Not Gottes,908 Christus in der Kelter909, die Fons vitae-Darstellungen910 und die Thomas-Szene911 herangezogen werden – um nur einige zu nennen.912 All jene Motive gewähren dem Gläubigen eine je eigene Perspektive, leuchten je eigene Aspekte aus und werfen je eigene Schlaglichter auf das Objekt der Betrachtung. Einige, nicht alle Motivfelder, sollen im Folgenden Berücksichtigung finden. Über­dies ist auch die Diversität 898  Vgl. etwa Hamm, Ars moriendi; Bynum, Fragmentierung, 173 (Abb. 4.7.); Göttler, Gnaden-Cocktail, 285–287 und Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 665 f.; sowie van WelieVink, Body Language, 12.28–30 oder diverse Abbildungen in Geissmar-Brandi/Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 279–289. 899 Vgl. Bynum, Fragmentierung, 78 oder van Welie-Vink, Body Language, 147. 900 Vgl. Lentes, Nur der geöffnete Körper, 153; ders., Blick, 55. 901 Vgl. ders., Gedächtnis, 77; Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 617 (Abb. 709) sowie van Welie-Vink, Body Language, 141–143; Geissmar-Brandi/Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 77. 902 Vgl. Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 606–608; Geissmar-Brandi/Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 99.123; van Welie-Vink, Body Language, 34–37.41. Zur Bedeutung des Schmer­zens­mann-Motivs vgl. auch Ridderbos, Man of Sorrows, 145–181. 903 Vgl. Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 596–598 sowie van Welie-Vink, Body Language, 146. 904 Vgl dazu Sachs/Badstübner/Neumann, Ikonographie, 84; Darstellungen beider eng verwandter Motive finden sich im Ausstellungskatalog von Geismar-Brandi/Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 149.151. 905 Vgl. Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 493 (Abb. 447); 495 (Abb. 453). 906  Vgl. ebd., 493 (Abb. 450). 907 Vgl. Lentes, Vermessung, 145. Das Wappen ziert eine lebensgroße Seitenwunde, die von der Schrift Di war weit der wunden christi gerahmt ist. Vgl. auch Geissmar-Brandi/ Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 138 f. 908 Vgl. Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 646–648. 909  Etwa bei Suntrup, Christus, 259 oder van Welie-Vink, Body Language, 40 f. 910  Beispiele etwa bei ebd., 126. 911  Vgl. hier etwa die frappierende Darstellung des Motives „Christus und der ungläubige Thomas“, geschaf­fen vom Meister des Bartholomäus-Altars um 1495–1500; eine Abbildung findet sich bei Möhle, Wandlungen, 146. Zur Deutung des sogenannten Thomas-Zweifels in mittelalterlicher Literatur und Kunst vgl. auch Büttner, Imitatio Pietatis, 181–184 (mit Abbildungen). In Berufung auf Bonaventuras Schrift De perfectio vitae ad sorores betont Büttner den Zusammenhang zwischen der Herz-Jesu-Verehrung der deutschen Frauenmystik und der Thomasdarstellung; vgl. dazu ebd., Anm. 171. 912  Diese Aufzählung beansprucht weder mit Blick auf die genannten Motive und noch viel weniger mit Blick auf die angeführten Beispiele eine Art von Vollständigkeit; neben jenen weitverbreiteten Motiven gab es freilich noch eine Vielzahl anderer; so findet sich etwa bei Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 613 (Abb.  701) die Abbildung eines Stuttgarter Steinreliefs aus dem frühen 16. Jahrhundert, welches einen Schutzmantelchristus (sic!) zeigt, der auf seine Seitenwunde weist. Es soll lediglich auf das weite Spektrum der verschiedenen Motivfelder verwiesen werden, bei denen die Seitenwunde relevant wurde und durch die Nennung der wenigen Beispiele Eindrücke konkreter Umsetzung ermöglicht werden.



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der Darstellungsformen und ihrer Kontexte zu gewärti­gen: Die Seitenwunde findet sich auf Einblattdrucken, in bebilderten Bibeln, Stunden­bü­chern und Psalterillustrationen ebenso wie auf Tafelbildern, bei Holz- und Steinplastiken, Altar­bildern oder Epitaphen. Bisweilen steht die bildliche Darstellung in einem Zwie­gespräch mit dem deutenden Wort, meist spricht das Bild für sich. Die Darstellung der Seitenwunde begegnete dem spätmittelalterlichen Frommen sowohl in privaten als auch in öffentlichen Vollzügen gelebter Frömmigkeit, sie berührte ihn in Momenten religiöser Intimität ebenso wie in gemeinschaftsbezogenen, überindividuellen Lebens­zusammenhängen. Die Vielschichtigkeit der Kontexte und Motive aufzuzeigen, den über die Jahrhunderte sich vollziehenden Verschiebungen nachzugehen, sowie auch regionale Eigenheiten im Blick zu behalten, könnte wohl nur eine umfangreiche eigenständige Untersuchung leisten, die sich ausschließlich auf die künstlerischen Darstellungen der Seitenwunde Christi im ausgehenden Mittelalter konzentrierte.913 Die vorliegende Arbeit freilich muss sich – nicht zuletzt aus fachlicher Unzulänglichkeit  – auch an dieser Stelle dem Diktat der Selbstbeschränkung unterwerfen.914 Zugleich sieht sich die Notwendigkeit einer Auswahl darin gerechtfertigt, dass die dargebotenen bildlichen Zeugnisse durchaus als typische Beispiele ihrer jeweiligen Motivik gelten können. Wie bereits in A.2.1 und A.2.2 soll der Versuch unternommen werden, mit der vorgenom­me­nen Auswahl wenigstens in Ansätzen die Bandbreite und Fülle der Quellenlage anzu­deuten. Auch an dieser Stelle liegt als Ordnungsschema die zeitliche Chronologie zu Grunde. 2.3.1  Die „Geburt der Kirche aus der Seitwunde Christi“ (Detail aus einer Bible moralisée, MS 270b, fol. 6r, Bodleian Library Oxford, um 1240) Als ältestes, den eigentlich vorgegebenen zeitlichen Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengendes Bildzeugnis, ist mit der Abbildung der „Geburt der Kirche aus der Seitenwunde Christi“ das bereits erwähnte Motivfeld der „Adam-Christus-Typologie“ angesprochen.915 Diese Abbildung (Abb. 2, Ab913  Verwiesen sei an dieser Stelle auf den bereits 1957 im Journal of the Warburg and Courtauld Institutes von Vladimir Gurewich veröffentlichten Aufsatz, der sich der ikonographischen Darstellung der Seitenwunde vor allem unter dem Aspekt ihrer Lokalisierung widmet. Dabei bietet Gurewich einen eindrucksvollen Ausschnitt, der sowohl früheste Bildzeugnisse aus dem 5. Jahrhundert bis hin zu Beispielen aus Mittelalter, Renaissance und Moderne umfasst. Eindrücklich belegt und begründet er dabei die beiden konkurrierenden Traditionsstränge, die die Seitenwunde entweder auf der rechten oder aber auf der linken Seite verorten, wobei er für erstere die mittelalterliche Rechts-Links-Symbolik, für zweitere die immer stärkere Verbindung mit der Herz-Jesu-Verehrung ins Feld führt; siehe Gurewich, Observations, passim, bes. 359–361. 914  Unabdingbar wäre an dieser Stelle eine Zusammenarbeit zwischen kunstgeschichtlicher und frömmigkeitsgeschichtlicher Expertise. 915  Gerade die Gattung der Bibles moralisées nahm sich dieses Motivs häufig an; vgl. dazu u. a. van Welie-Vink, Body Language, 147.

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bildungsteil) findet sich auf einem Folioblatt einer in der Oxforder Bodleian Library aufbewahrten Handschrift Ms. Bodl. 270B, die zu dem Bibeltypus der Bible moralisée zu rechnen ist, einer im frühen 13. Jahrhundert (1220/30) für den französischen Hof erstellten, reich bebilderten Bibelhandschrift. In dieser Handschrift werden ausgewählte Bibeltexte dem Betrachter stets als Gegen­ über­stellungen alttestamentlicher und neutestamentlicher Szenen vor Augen geführt, wobei der Grundgedanke von Typus und Antitypus beziehungsweise von Prophezeiung und Erfüllung leitend ist. Die nur auf den Vorderseiten beschrieben und bemalten Pergamentblätter zei­gen je vier Bildpaare, insgesamt also acht paarweise angeordnete Medaillons. Die Grundstruktur der Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament ist auch hier maßgebend, wenn Christus am Kreuz und der im Paradies schlafende Adam in dieser Paarung einander zugeordnet werden. Das Motiv des am Kreuz schlafenden „zweiten Adams“, der in Analogie zum „ersten Adam“ der Paradiesgeschichte nun in der Passionsgeschichte aus seiner Seite die ecclesia ge­biert wie einst Adam Eva, findet sich bereits im frühen 5. Jahrhundert in den Enarra­tio­nes in psalmos des Kirchenvaters Augustinus.916 Angesichts der wirkungs­geschicht­lichen Bedeutsamkeit Augustins seien dessen Überlegungen hier kurz skizziert. In seinen Ausführungen zu Psalm 126,2 – „den seinen gibt’s der Herr im Schlaf “ – lässt Augustinus seine fiktiven Leser die Frage nach dem Zeitpunkt der Auferstehung stellen.917 Augustinus antwortet mit einer Gegenfrage: „Wann geschah es dem Herrn?“918 Die Antwort lautet zunächst: Als er gestorben war („Wann wurde er selbst auferweckt? Als er gestorben war.“)919 – um gleich darauf im Hinblick auf das Psalmwort den Begriff des Schlafes einzuführen, indem er den Tod Christi als Schlaf am Kreuz deutet: „Aber wo hat er geschlafen? Am Kreuz.“920 Dieser Schlaf am Kreuz erscheint nun als die heilsgeschichtliche Weiterführung der in der Paradiesgeschichte berichteten Schöpfung der Frau aus dem Mann, die nun ihre Ana­lo­gie und Überbietung in der Geburt der Kirche aus Christus erfährt: Als er am Kreuz schlief, bedeutete dies ein Zeichen, ja wahrhaftig wurde erfüllt, was [bereits] bei Adam gezeigt wurde: Denn als Adam schlief, wurde dessen Rippe herausgenommen und daraus Eva geformt; so wurde auch dem Herrn, als er am Kreuz schlief, dessen Seite durch die Lanze durchstoßen, und die Sakramente flossen heraus, 916  Schiller, Ikonographie (Bd. 4,1), 90 nennt etwa Tertullian als frühen Zeugen dieses Vorstellungskomplexes, allerdings ohne Angabe von Quellen; als Belegstellen für Augustin nennt sie konkret Passagen aus De Civitate XV und XXII. 917  „Wann werden wir auferstehen? […] Wann wird unsere Auferstehung sein?“ Quando surgimus? […] Quando erit nostra surrectio? (Augustin, Enarrationes, ps. CXXVI, 7). 918  Quando fuit domini? (Ebd.). 919  Ipse quando exaltatus est? Cum mortuus est (ebd.). 920  Sed ubi dormivit? In cruce (ebd.).

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aus denen die Kirche gemacht wurde. Die Kirche ist nämlich ebenso aus der Seite zur Gemahlin des Herrn gemacht worden, wie jene [Eva] aus der Seite gemacht wurde.921

Um einen Bezug des Motivs zur Genesiserzählung herzustellen, war der Betrachter des Bildes in der Bible moralisée jedoch nicht zwingend auf eine fundierte Kenntnis der Tra­di­tion angewiesen: Die Bildquelle selbst ist mit erläuternden Texten gleichsam wie mit Unter­titeln versehen. Beide Medaillons werden gemeinsam von ornamentalem Rankwerk gerahmt. Verbunden durch eine rosenartige Blume an der Schnittlinie ihrer kreisförmigen Rahmung ist beiden in einer Kolumne je eine kurze Textpassage beigefügt, die durch zwei Initialen von­einan­der deutlich abgehoben sind. Handelt es sich bei dem ersten Text, der die Illustration aus der Paradieserzählung akkompagniert, um eine abbreviierte Fassung von Gen 2,21 f. („Also versetzte Gott der Herr Adam in tiefen Schlaf und als er eingeschlafen war, nahm er eine seiner Rippen und ersetzte sie durch Fleisch und Gott der Herr schuf aus der Rippe die Frau“),922 so kann der zweite Text, der die Darstellung der Geburt der Kirche aus der Seitenwunde umschreibt, freilich auf keine biblische Passage zurückgreifen: Der Schlaf Adams ist der Tod Christi, den, wie man sagt, der Herr ihm geschickt hat, weil es dem Vater gefiel, dass Christus für uns sterbe. Und aus der Seite[nwunde] des am Kreuz ent­schlafenen Christus erbaute der Vater die Kirche, die Braut Christi. Es flossen nämlich aus der Seite[nwunde] Christi Blut und Wasser, d. h. die Sakramente der Eucharistie und der Taufe.923

Doch auch ohne diese Textbeigaben transportieren die Medaillons eine klare Botschaft: Die Genesiserzählung von der Geburt der Eva aus der Rippe Adams findet eine heils­geschichtliche Fortschreibung in der Geburt der Kirche aus der Seitenwunde Christi: In beiden Fällen agiert Gottvater als Geburtshelferin, umgeben von einer Gloriole und an­ge­tan mit einem wallenden Mantel. Beides mal hilft er, jeweils an der rechten Körperseite Adams beziehungsweise Christi stehend, Eva beziehungsweise der ecclesia, das Licht der Welt zu erblicken. 921 

Quando dormivit in cruce, signum gestabat, immo implebat quod significatum est in Adam, quia cum dormiret Adam, costa illi detracta est, et Eva facta est; sic et domino, cum dormiret in cruce, latus eius lancea percussum est, et sacramenta profluxerunt, unde facta est ecclesia. Ecclesia enim coniux domini facta est de latere, quomodo illa facta est de latere (ebd.). 922  Immisit ergo dominus deus soporem in adam cumque obdormisset: tulit una de costis eius et replevit carne pro ea et edificavit costam in mulierem (ebd.) Die einzige nennenswerte Änderung, die sicher aus Platzgründen vorgenommen wurde, stellt die Auslassung quam tulerat de Adam im zweiten Haupt­satz dar. Abgesehen davon kann die Textpassage als direktes Zitat von Gen 2,21 (Vg.) auf­gefasst werden. 923  Sompnus [= somnus] Ade mors Christi, quam Dominus dicitur immisisse, quia patri placuit Christum mori pro nobis. Et de latere Christi dormientis in cruce edificavit pater ecclesiam, Christi sponsam. Fluxerunt enim de lat[ere Christi sanguis et aqua, id est sacramenta eucharistiae et baptismi]. Die Transkribierung, die Übersetzung sowie die wohl wahrscheinliche Fortsetzung der Textpassage verdanke ich meinem Doktorvater Berndt Hamm.

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A Einleitung

Blickt man noch einmal gesondert auf die erste Miniatur, so fällt ins Auge, wie das enge Be­ziehungs­geflecht zwischen Gott und seinen beiden Geschöpfen künstlerisch aus­ge­drückt wird: Gottes bloße Füße kreuzen sich mit denen des schlafenden Adam, der auf dem deutlich gezeichneten Erdboden ruht.924 In seiner Linken hält Gott offenbar dessen Rippe, mit seiner Rechten umgreift er das Handgelenk Evas, die gleichsam hinter dem schla­fenden Adam aus dessen Leib zu erstehen scheint. Evas Blick ist auf Gott gerichtet, der seinerseits ganz auf sein schlafendes Geschöpf konzentriert scheint. Wendet man sich der zweiten Miniatur zu, so fallen zunächst die Unterschiede gegenüber der ersten ins Auge: Befindet sich Adam, der biblischen Erzählung entsprechend, in tie­fem Schlaf, so hat der Christus am Kreuz die Augen weit geöffnet925 und beobachtet mit ruhiger, gesammelter Miene den Ausgang der Kirche aus seiner Seite. Das Kreuz teilt das kreisförmige Bild in vier Segmente. Vom Betrachter aus rechts, bild­im­ma­nent jedoch links über dem Querbalken ist der Mond, rechts die Sonne abgebildet. Auf der Sonnenseite, direkt unter dem Querbalken, steht Gott, wie in der obigen Abbil­dung kenntlich durch das dunkle Gewand und den über Hüfte und Schulter diagonal dra­pier­ten Mantel sowie durch die Gloriole. Mit beiden Händen zieht Gott gleich einer Hebamme aus der rechten Seite Christi eine kleine Frauengestalt, die eine Krone auf dem Haupt trägt. Der nebenstehende Text lässt keine Zweifel offen: Hier ereignet sich die Heilsgeschichte – die Geburt der Kirche aus der Seitenwunde.926 Während in der Paradiesgartenszenerie die drei Figuren Gott, Adam und Eva das gesamte Bild füllen, sind in der zweiten Abbildung die dargestellten Figuren etwas kleiner ge­zeich­net, da das Geschehen von zwei weiteren Personen auf der linken Bildhälfte be­trachtet wird: Maria und (mutmaßlich) Johannes sind neben dem Bildbetrachter auf der Bildebene immanente Zeugen. Während die Gesichter Gottes, Christi und der ecclesia heiter und gelöst sind – wodurch wohl die Freude über die Geburt unterstrichen wer­den soll – blicken Maria und Johannes mit betrübtem Gesichtsausdruck nach unten. Beide haben die rechte Wange in die Hand gestützt, ihre Körper sind gebeugt. Es scheint mithin, als würden sie der Geburt der Kirche gar nicht gewahr, als wären sie vielmehr einzig Zeu­gen des Leidens und Sterbens Christi. Dieser kompositorischen Zweiteilung des Bildes in Freude und Leid entspricht womög­lich, dass das Geburtsgeschehen sich unter dem Zeichen der 924  Ebenso wie das umrahmende Blattwerk dient auch der Erdboden zur Verdeutlichung der Szenerie: Der Betrachter befindet sich im Garten Eden. 925  Somit widersprechen sich an dieser Stelle Bild und Text. 926  Fortgeführt wird dieses Bilderpaar der Geburt von Eva und Ekklesia durch ein weiteres, welches die Zusam­menführung von Adam und Eva durch Gottvater und das Verlöbnis zwischen Christus und Ekklesia zeigt, die gemeinsam einen Abendmahlskelch als Zeichen ihrer Verbindung in Händen halten; vgl. dazu Schiller, Ikonographie (Bd. 4,1), 91.279 (Abb. 217).

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Sonne vollzieht, die über dem rechten Kreuzesbalken steht, während die trauernden Figuren aus der Passions­ge­schichte sich unter dem Zeichen des Mondes befinden.927 Die Darstellung setzt somit ins Bild, was bereits Tertullian (gest. nach 220) und Augusti­nus (gest. 430), Alcuin (gest. 804), Hrabanus Maurus (gest. 856) und Anselm von Laon (gest. 1117) in ihrer typologischen Exegese ausgeführt hatten: Der Lanzenstich wird zur Geburts­stunde der Kirche, die Seitenwunde zur Geburtswunde des zweiten Adam am Kreuz.928 Jenes Bildmotiv, das hier in der Abbildung der Bible moralisée vor Augen steht, rückte die Seitenwunde Christi, die im biblischen Zeugnis keine gewichtige Rolle spielte, gleichsam ins Zentrum der Ekklesiologie. Als Geburtsort der Kirche und somit als Ursprungsort des Heils, in analoger Darstellung zum schöpferischen Handeln Gottes in der Paradieserzählung, musste sie dem frommen Betrachter zum zentralen Haftpunkt seiner christlichen Existenz als Glied der Kirche vor Augen stehen. Christus als gebärende, mütterliche Figur, ist hier nicht als der leidende Schmerzensmann, als der bereits verstorbene Gekreuzigte, sondern als das Geschehen bewusst erlebend dargestellt. Auch Gottvater erhält hier als Hebamme der Kirche weibliche Konnotationen. Die untrennbare Verbindung von Christus als zweitem Adam und der Kirche als der aus ihm geborenen zweiten Eva, die hier ins Bild gesetzt ist, und die sich Jesu Verwundung am Kreuz verdankt, unterstreicht die Zentralität der Seitenwunde als Gegenstand der Devotion. 2.3.2  „Die verwundende Braut“929 im Rothschild Canticum ( fol. 19r, um 1320, Westflandern/Rheinland) Die zweite Bildquelle, das Rothschild Canticum,930 etwa 80 Jahre jünger als die franzö­sische Bible moralisée, wird im westlichen Flandern lokalisiert. Es handelt sich hierbei nach Bernd Mohnhaupt um „eine sehr ungewöhnlich illustrierte Handschrift […] die […] für eine Nonne gefertigt wurde, die sich mit der ‚sponsa Christi‘ des Hoheliedes identi­fizierte.“931 Auf fol. 18v oben betreten die beiden 927 Ob

dem tatsächlich eine inhaltliche Bedeutung beizumessen ist oder dies einfach der damals üblichen Abbildung von Sonne (rechtsseitig) und Mond (linksseitig) auf mittelalterlichen Kreuzigungsbildern ent­spricht, vermag ich nicht zu sagen; vgl. dazu allgemein Engemann, Sonne, 2049 f. Schiller, Ikono­graphie (Bd. 4,1), 90 erklärt die Darstellung von Sonne und Mond sowie die Anwesenheit Mariens und des Jüngers Johannes als typische Kreuzigungsmotive. 928  Vgl. dazu ebd., 90. Zum oftmals inhärenten antijudaistischen Tenor dieses Motivs vgl. Lipton, Intolerance, passim. 929  Diese Titulierung ist ein Hilfsbegriff der Autorin, da in der einschlägigen Sekundärliteratur keine ein­deu­tige Benennung des Motivs angeboten wird. 930  Die wohl ausführlichste Analyse des Rothschild Canticum bietet Hamburger, Canticles. Zu seiner Deu­tung der hier aufgeführten Miniatur fol. 18v sowie zu deren Rezeption etwa in den Frauen­klöstern Flanderns oder in Kloster Helfta siehe ebd., 76 f. 931  Mit Blick auf die Adressatin siehe ebd., 3: „That the Rothschild Canticles was intended for a woman is virtually certain; that this woman was a nun or a canoness is likely.“

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Liebenden – Christus und seine Braut – den Garten und umarmen sich. Bereits hier ist die Frau der aktive, drängende Partner. Noch extraordinärer die szenische Interaktion, die auf fol. 19r (Abb. 3, Abbildungsteil) übergreift: Die Braut hält die Lanze in der Hand, die genau auf die Seitenwunde Christi zielt. Christus wendet sich nicht nur der Frau zu und beantwortet ihren Blick, indem er auf seine blutende Seiten­wunde deutet, er ist ungewöhnlicherweise auch völlig nackt dargestellt. […] In der Tat: Hier haben wir wirklich eine metaphorische Darstellung von Geschlechtsverkehr vor uns, meta­phorisch gerade auch darin, dass die Geschlechterrollen paradoxerweise vertauscht sind: Die Frau ist der Mann, der Mann  – nicht irgendein Mann, sondern Christus – ist die Frau.932

Freilich muss gefragt werden, inwiefern die abgebildete Frauengestalt als Identifikationsmöglichkeit für die Seele begriffen werden kann, oder ob diese weibliche Figur eher als überpersönliche Personifikation der Minne betrachtet werden müsste, die Christus verwundet. Auffällig ist in jedem Fall der stark feminisierte Christus, dessen Körper in einer diagonalen Drehung ausgespannt ist zwischen Martersäule (der linke Fuß ist an dieser festgebunden, die rechte Hand ist locker um die Säule gelegt) und Kreuz933 (die linke Hand und der rechte Fuß sind mit Nägeln daran fixiert). Das eindeutige Zentrum jenes Christuskörpers ist die in Schwarz und Rot gezeichnete Seiten­wun­de, die den Zielpunkt des bräutlichen Speeres bildet und auf die Christus selbst mit seiner Hand verweist. Während die Braut die verwun­den­de Waffe mit der Rechten hält, hat sie die Linke an ihr Auge erhoben, so als wolle sie sagen: ‚Ich sehe dich.‘934 Die durch den Speer des Longinus zugefügte Seitenwunde wird in dieser Darstellung noch einmal in den Blick genommen und damit noch einmal im Wortsinn „präsentiert“, präsentisch gemacht – diesmal durch die verwundende Liebe der Braut, sei diese nun die minnende Seele oder die Minne selbst. Ihr Blick, der Blick des Bildbetrachtenden wird auf die Seitenwunde fokussiert, die damit zugleich als Wunde der Passion am Kreuz und als Liebeswunde des Hoheliedes (vulnera­sti cor meum soror mea sponsa) dargestellt wird.935 Zöge man eine direkte Linie zwischen dem Blick der Frau und der Christusgestalt, so ließe sich feststellen, dass es nicht der Augenkontakt ist, der hier gesucht wird, sondern die Seitenwunde als ausschließliches Objekt der Betrachtung ge932  Mohnhaupt, Das Ähnliche sehen, 210 f. Auf das Ungewöhnliche der vollständigen Nacktheit Christi, der somit der vollständig verhüllten Figur der sponsa preisgegeben scheint, verweist auch van Welie-Vink, Body Language, 149. 933  Die Vermischung jener beiden biblischen Szenen  – Christus an der Martersäule und Christus am Kreuz – führt zu einer Vereinigung der jeweiligen Attribute: Die Dornenkrone, die Geißel und Stricke der Marterszene des Lebendigen stehen neben den Kreuzesnägeln und der Seitenwunde des am Kreuz Gestorbenen. 934  Vgl. die Einordnung jener Abbildung bei Camille, Kunst der Liebe, unter der Überschrift „Blicke der Liebe“. 935 So Keller, Gott im Visier, 213. Den Bezug zu Hl 4,9 betont auch van Welie-Vink, Body Language, 149.

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Lucas Cranach d. J., Altarbild der Stadtkirche St. Peter und Paul, Weimar, 1555. Stadtkirche St. Peter und Paul (Herderkirche) Weimar; © Evang.-Luth. Kirchengemeinde Weimar, Fotograf: Constantin Beyer. Abb. 2: Die Geburt der Kirche aus der Seitenwunde Christi, Oxford, Bodleian Library MS. Bodl. 270b. Abb. 3: „Die verwundende Braut“, Rothschild Canticum fol.  18v–19r, Rothschild ­Canticles. General Collection, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University. Shailor, B. Catalogue of Medieval and Renaissance Manuscripts in the Beinecke Rare Book and Manuscript Library, MS 404. Abb. 4: Arma Christi, Kunigundenpassional, Národní knihouna České republiky, MS XIV.A.17, fol. 10r. Abb. 5: Arma Christi, English Bohun Psalter and Hours, Bodleian Lib. MS Auct. D.4.4, fol. 236v. Abb. 6: Schmerzensmann, Hans Multscher, Ulmer Münster, Aufnahme ca. 1964, Stadtarchiv Ulm, G 7/2.2 Nr. 03031. Abb. 7: Speerbildchen aus einem Gebetbuch des Hartmann Schedel, Clm 692, fol. 73r. Abb. 8: Speerbildchen aus einem Gebetbuch des Hartmann Schedel, Clm 692, fol. 73v. Abb. 9: Christus und Caritas, Köln, Wallraf-Richartz-Museum und Fondation Corboud, Gemäldesamlung, Inv.Nr. ERM 0152 (Foto: © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba-c006840. Abb. 10: Gregorsmesse, Master of the Holy Kinship, Utrecht, Museum Catharijneconvent, ABM s33. Abb. 11: Christus in der Kelter, Albertina Wien, Inv.DG1930/85. Abb. 12: Hans Holbein der Ältere, Votivbild des Ulrich Schwartz: Christus und Maria als Fürbitter vor Gottvater, Bayerische Staatsgemäldesamlungen – Staatsgalerie in der Katharinenkirche Augsburg, Inv.Nr. L1057, Jochen Remmer/Artothek.

Abb. 1: Lucas Cranach d. J., Altarbild der Stadtkirche St. Peter und Paul, Weimar, 1555.

Abb. 2: Anonym, Die Geburt der Kirche aus der Seitenwunde Christi, Oxford, Bodleian Library (Gesamtansicht).

Abb. 2: Anonym, Die Geburt der Kirche aus der Seitenwunde Christi, Oxford, Bodleian Library (Detailansicht).

Abb. 3: Anonym, „Die verwundende Braut“, Rothschild Canticum, Yale University.

Abb. 4: Anonym, Arma Christi, Kunigundenpassional, Národní knihouna České republiky.

Abb. 5: Anonym, Arma Christi, Bodleian Library.

Abb. 6: Hans Multscher, Schmerzensmann, Ulmer Münster.

Abb. 7: Anonym, Speerbildchen aus einem Gebetbuch des Hartmann Schedel, Vorderseite.

Abb. 8: Anonym, Speerbildchen aus einem Gebetbuch des Hartmann Schedel, Rückseite.

Abb. 9: Anonym, Christus und Caritas, Köln.

Abb. 10: Master of the Holy Kinship, Gregorsmesse, Museum Catharijneconvent Utrecht.

Abb. 11: Anonym, Christus in der Kelter, Albertina Wien.

Abb. 12: Hans Holbein der Ältere, Votivbild des Ulrich Schwartz: Christus und Maria als Fürbitter vor Gottvater, Staatsgalerie in der Katharinenkirche Augsburg.



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riert.936 Gerade indem die Frauengestalt, die Seele beziehungsweise Frau Minne in die Rolle der Aggressorin schlüpft, wird die Passivität des Passions­christus als Objekt der Liebe und Begierde umso deutlicher gezeichnet. Die Abzweckung dieser Darstellung konstatiert Keller dabei wie folgt: „In den Fußstapfen der allegorischen Verwunderinnen sollte die Leserin demnach zu einer eindringlichen Liebeshaltung gelangen.“937 Die Ambivalenz des hier gezeigten Motivs in inniger Umarmung ( fol. 18v) und leidenschaftlicher Verwundung ( fol. 19r) spiegelte die Polarität der spätmittelalterlichen unio-Sehnsucht, die, wie zu zeigen sein wird, ebenfalls das Moment von Nähe und Ferne, Intimität und Gewalterfahrung, in sich barg. 2.3.3 Die arma Christi im Passional der Kunigunde von Böhmen um 1320 ( fol. 10r der MS XIV.A.17, Národní knihovna, Prag) Die Seitenwunde Christi begegnet auch auf dem sich im ausgehenden Mittelalter herausbildenden Bildtypus der arma Christi-Darstellung. Bevor das hier ausgewählte konkrete Exempel in den Blick genom­men werden soll, scheint es geraten, zunächst grundsätzlich das Bildprogramm der arma Christi-Dar­ stellungen kurz zu skizzieren. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass man unter den arma alle Leiden Christi verstand, mit welchen er Tod und Teufel zu besiegen vermochte. Jene „steno­gramm­artige“ Vergegenwärtigung der Leiden Christi durch eine Zusammenschau jener arma, meist Gegen­stände oder Szenen im Kontext der Passion, entstand im Zusammenhang mit der zunehmenden Verehrung der Passionsreliquien, die wiederum durch die Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts befeuert wurde. Die fromme Hinwendung zu einer stetig anwachsenden Zahl von Passionsreliquien wie etwa dem Schwamm, der Dornenkrone, dem Grabtuch, der Longinuslanze, der Zange, dem Hammer oder der Leiter fand in der spätmittelalterlichen Waffendarstellung ihren künstlerischen Niederschlag. Das immense Anwachsen der Anzahl der arma im 14. Jahrhundert führen manche Forscher auf die weithin bekannten Passionsbetrachtungen innerhalb der Vita Christi des Ludolf von Sachsen zurück, die auch die Augenbinde Jesu, ausgerissene Haarbüschel, das Lendentuch, die Geißelungsruten, die Silber­linge, den Strick der Fesselung, die Säule, an der Petrus nach der Verleumdung weinte, den Tempel­vor­hang, die Laternen bei der Gefangennahme oder das Schwert des Petrus et cetera meditieren. Dabei sollte die Vergegenwärtigung der Leiden Christi bis ins letzte, scheinbar äußerliche Detail zu einer vertieften, völlig verinnerlichten Heilsvergewisserung führen, wie eine arma Christi-Darstellung aus einer Handschrift aus dem 936  „Her gaze is pointed directly at the wound in Christ’s side. If we were to draw a line extending straight outward from the tip of her lance, that line would end precisely in Christ’s wound“ (ebd.). 937  Ebd., 215.

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15. Jahrhundert eindeutig vor Augen führt: Im Kontext einer Partikulargerichtsszene ruhen die Leidens­werk­zeu­ge in einer Waagschale und tragen dafür Sorge, dass nicht die Sünden des Sterbenden, die in der gegenüberliegenden Waagschale angehäuft sind, den Ausschlag geben; nicht einmal der sich an die andere Waagschale klammernde Teufel vermag an der Gewichtigkeit der arma Christi und ihrer rettenden Verdienst­lich­keit etwas zu ändern!938 Die Tatsache, dass sich bei jener isolierenden und entkontextualisierenden Darstellungsform der Leiden Christi neben den erwähnten Gegenständen wie Würfelbecher, Hahn, Haarbüschel, Marterwerkzeugen oder dem Kreuz auch die Kreuzeswunden, mithin die Seitenwunde als zentrales Objekt der Betrachtung findet, macht dieses Motiv für die vorliegende Arbeit besonders relevant. Eine ganze Reihe von arma Christi-Darstellungen939 rücken dabei die Seitenwunde in den Fokus des Betrachters. Eine solch nahansichtige, das Passionsgeschehen vergegenwärtigende Darstellung940 der Sei­ten­wunde Christi findet sich etwa auf der arma Christi-Darstellung (Abb. 4, Abbildungsteil) des sogenann­ten Kuni­gunden-Passional, einem in der Prager Nationalbibliothek befindlichen Codex, der als einer der herausragendsten Zeugnisse des zweiten Dezennium des 14. Jahr­hun­derts, in den Jahren 1312–1314, angefertigt wurde.941 Als prominente Auftraggeberin und Empfängerin des Codex gilt die Äbtissin des Georgs­kloster zu Prag, Kunigunde (1265–1321), Tochter des böhmischen Königs Ottokar II.942 Die ersten drei der insgesamt fünf Traktate943 der Handschrift werden nach heutigem Stand der Forschung jenem Frater Colda Lector de san(c)to Clemente Ordinis Fratrum Predicatorum egregius dictator hujus libri zugewiesen, der auf der Dedikationsseite 938 

Sieh dazu bei Augustyn, Passio Christi, 214–217. großartige Zusammenschau verschiedener Beispiele bietet etwa der Katalog des Museum Catharijneconvent; vgl. dazu van Welie-Vink, Body Language, 144–146. 940  Zur Funktion solcher Darstellungen als Anstoß des inneren Prozesses von memoria (Erinnnerung), compassio (Mitleiden), imitatio (Nachahmung) und imaginatio (Vorstellung) vgl. Toussaint, Passio­nal, 143. Vlek-Schurr, Passional, 62 merkt mit Blick auf die Funktion des Passional an: „The Passional was not a liturgical book but fulfilled the function of providing a stimulus to thoughtful study and prayer; a paramount requisite of the Rule of Benedict. It is truly remarkable that this set of life rules has, almost unaltered, served Benedictine monks and nuns for almost fifteen centuries and continues so to do. When Cunegund took orders in 1302 there had already been an established pattern for monastic life for almost eight centuries.“ 941 Vgl. Toussaint, Passional, 13. Die geläufige Gattungszuschreibung des Andachtsbuches wird von Toussaint kritisch disku­tiert, letztlich jedoch modifizierend übernommen; siehe ebd., 37–39. 942  Zur bewegten Biographie Kunigundes, die durch Vater und Bruder in mehrere Verlobungen und in eine Ehe gedrängt wurde, aus eigenem Antrieb jedoch den geistlichen Stand wählte vgl. ausführlich ebd., 48–51. 943  Eine genaue Übersicht über jene fünf Traktate findet sich ebd., 15. Die für die vorliegende Arbeit relevante arma Christi-Darstellung bildet das Bindeglied zwischen dem ersten und zweiten Traktat. Der erste Traktat untergliedert sich in drei Unterabschnitte: fol. 2r–2v Dedikationsbrief, fol. 3v: Parabel De strenuo milite, fol. 4r–9v: Expositio parabolae; der zweite Traktat ( fol. 11r–17v) enthält Planctus und collaetatio Mariae. 939  Eine



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fol. 1v als Verfasser genannt wird. Als Schreiber der Handschrift wird an gleicher Stelle auf einem Spruchband ein gewisser Benessius Canonicus Sancti Georgii scriptor eiusdem libri erwähnt.944 27 der insgesamt 37 mit gotischen Minuskeln beschriebenen Pergamentseiten sind, zum Teil ganzseitig, mit Illustrationen versehen.945 Befinden sich die meisten jener teils mit Blatt­gold belegten, farbig lavierten Federzeichnungen in einem sehr guten Erhaltungs­zu­stand, so weist ausgerechnet die arma Christi-Darstellung auf fol. 10r – bei der es sich wohl um eine der frühesten Darstellungen dieser Art in einem privaten Andachtsbuch handelt946  – Schäden auf. Diese betreffen gerade die Figur des Schmerzensmannes, näherhin dessen Seitenwunde. Verursacht wurden diese Schäden wohl durch „oft­mali­ge(s) Küssen“.947 Auch wenn das Bild zunächst durch seinen Detailreichtum, durch die Fülle der abge­bil­de­ten arma besticht, so hat es doch ein klares Zentrum: Die Seitenwunde, die nicht nur den Schmerzensmann zeichnet, sondern rechts neben ihm noch einmal eigens dargestellt ist. Während die anderen arma lediglich mit einer lakonischen Unterschrift bezeichnet sind – etwa der Kelch (calix), das Schweißtuch (veronica), die Lanze (lancea), Hammer und Nägel (malleus/clavi), die Geißeln ( flagella), der Schwamm (spongia) und viele weitere, nimmt die in der Bildmitte platzierte Seitenwunde eine Sonderstellung ein: Die Seiten­wunde Christi ‚spricht‘.948 944  Vgl. ebd., 14. Eine ausführliche Diskussion zur Identität des Colda (und seines Selbst­ ver­ständ­nisses als Kompilator der Tradition) und des Benessius sowie der genauen Funktion des letzteren findet sich ebd., 15.26–34.54–62. 945  Vgl. ebd., 13. 946  Vgl. ebd., 22. 947  Dazu ausführlicher Stejskal, Die wundertätigen Bilder, 271 f. fol. 10r ist jedoch nicht die einzige Dar­stellung der Seitenwunde; nicht allein auf den Kreuzigungsdarstellungen des Passional erscheint sie als selbstverständliches Detail. Besonders eindrücklich wird sie überdies als blutige Kerbe im Kreuz (jedoch nicht als einzeln aufgeführte arma) auf dem Wappenschild, dem clipeus Christi ( fol. 3r) gezeichnet; zentral erscheint sie auch in der der Thomasszene analog gestalteten Begegnung zwischen Kunigunde und dem Schmerzensmann ( fol. 7v) sowie in der Darstellung der Thomasszene ( fol. 15v) selbst. 948  An dieser Stelle mag die äußerst detailreiche Beschreibung der Abbildung bei Tammen, Blick und Wunde, 95 die hervorgehobene Stellung der Seitenwunde verdeutlichen, die deshalb hier in Gänze zitiert werden soll: „Das extrem zur Brust geneigte Haupt erinnert an das körperliche Erschlaffen im Kreuzes­tod, wirkt hier aber eher so, als müßte Christus verschiedene Dinge im Blick behalten: seine Hand- und Seitenwunde und das dicht neben ihm schwebende tropfenförmige Objekt, das den Kreuz­nimbus berührt. Der äußere Rand der aus dem Körper wie herauspräparierten und vergrößerten Seiten­wunde ist mit roten kleinen Blutstropfen, Leitmotiv des gesamten Passionszyklus, besprenkelt; offenbar monumentalisiert die stilisierte Tropfenform dieses Motiv. Zwischen diesem Rand und einer rotschwarz-rot abgesetzten Binnenform läuft eine zweizeilige Inschrift um. Sie ist im rechten Bereich abgerieben und beschwört die Lebensgröße der Seitenwunde, die Erlösungstat Christi und sein Vorzeigen der Wunde: ‚Dies ist das Maß der Wunde, durch die uns Christus erlöst hat, als er am Kreuz hing und die heiligen Wunden allen zeigte, die vorübergingen.‘ Der Anfang des Satzes Hec est mensura steht noch außerhalb des blutenden Randes, während die folgenden Worte auf bildlicher Ebene schon zum Wundfleisch gehören. Blick und Handstellung des Schmerzensmannes ver­klam­mern die Seitenwunde und

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Ihre Worte erscheinen als unmittelbare Anrede an ihren Betrachter. Wie sprechende, geöffnete Lippen ist die Wunde Christi gezeichnet; wie ein geöffneter Mund richtet sie einen Appell an die gläubige Leserin: „Das ist die Größe der Wunde, durch die Christus uns erlöst hat, als er am Kreuz hing und die heiligen Wunden allen zeigte, die vorüber­gin­gen.“949 Die Kontur der Wunde nachzeichnend, wie eine weitere Einfassung, windet sich das Spruchband des Schmerzensmannes nach oben: „So stehe ich als Mensch für dich da. Wenn du sündigst, lass ab um meinetwillen.“950 Die erlösende Kraft von Sünde und Tod der Seitenwunde Christi wird im Passional somit im Wortsinn beschrieben. Die vergegenwärtigende Unmittelbarkeit jener besonderen arma wird noch durch einen weiteren Aspekt verstärkt: Die Betrachterin sieht sich mit der Seitenwunde Christi in ihrer Originalgröße konfrontiert! Hec est mensura vulneris – Thomas Lentes hat die Relevanz der lebensgroßen, authentischen Darstellung der Wun­den eindrücklich belegt.951 Auch Gia Toussaint betont: „Mittels der lebensgroß dar­ge­stell­ten Seitenwunde verlebendigen und aktualisieren sich nicht nur Sichtbares und Geschau­tes, die Wunde erlangt zudem einen Grad von Authentizität, der sich in vergleich­ba­rer Weise nur in der Reliquienverehrung findet.“952 die zwei Handwunden an seinem Körper mit der großen isolierten Seiten­wun­de. Dort ist sie eine unter mehreren Wunden, hier ist sie zu der Wunde erhöht, ‚durch die uns Christus erlöst‘ hat. Von der Hand des Schmerzensmannes, der textgemäß seine Wunde ‚zeigt‘, windet sich zusätzlich ein Spruchband nach oben und spricht speziell ein Gegenüber an: ‚So stehe ich als Mensch für dich da. Wenn du sündigst, lass um meinetwillen ab.‘ Der Tenor dieser Begegnung zwischen Christus und einem unsichtbaren Adressaten ist strenger als in der Szene der Begegnung zwi­ schen Kunigunde und dem Auferstandenen. Zwar geht es auch hier um das aktive Wundenzeigen Christi, aber nun unter den Vorzeichen von Sünde und Erlösung. Eine innerbildliche Betrachterin fehlt auf dem arma-Blatt, mag aber hinter der Maske eines Körperfragments implizit anwesend sein: Suggestiv recken sich die schlanken langen Finger einer großen Hand zur Hand Christi, die nun wie eine Barriere wirkt, wie ein Noli me tangere den Weg zur Seitenwunde unterbricht. Die mit alapa be­schriftete Hand ist ein mehrdeutiges Zeichen: sie meint im engeren Sinne eine der Ohrfeigen, die Chri­stus empfing, m. E. ist durch ihre Position auf dem Blatt aber der (sanftere) Wunsch der Betrach­terin nach taktilem Kontakt zur Wunde gemeint.“ 949  Hec est mensura vulneris [quo Christus] tus nos redemit, pendens in cruce sacra ostendens, vulnera omnibus transeuntibus. Toussaint, Passional, 179 ist es trotz der durch den unmittelbaren, haptischen Gebrauch des Blattes entstandenen Schäden gelungen, jene doppelte Umschrift um die Seiten­wunde zu rekonstruieren. 950  Sic homo sto pro te, cum peccas desine pro me (ebd.). Toussaint weist darauf hin, dass der unmittel­bare Appell Christi, um seines Leidens willen von den Sünden zu lassen, an eine in vielen Predigten der Zeit verwendete hexametrische Versfolge erinnert: In cruce sum pro te, qui peccas desine pro me; vgl. dazu ebd., 180. Siehe zum Passional und weiteren, vergleichbaren Quellen auch Lewis, Wound, 204–229. 951 So Lentes, Vermessung, 144–147. Eine große Bandbreite einschlägiger Beispiele mit vielen Abbil­dun­gen liefert auch Areford, Passion Measured, 211–238, der auch auf die Korrelierung des Christusleibes mit der Darstellung der Welt (vgl. ebd., pl.  7.10 f.) oder der Winde (ebd., pl. 8 f.) eingeht. Zu den spätmittelalterlichen Aussagen zur Weite der Wunde vgl. auch van Welie-Vink, Body Language, 146. 952  Toussaint, Passional, 181. In einer englischen Handschrift aus dem 15. Jahrhundert



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Aber nicht nur die Wunde selbst spricht. Als Ergänzung und Fortführung der Wundum­schrift schloss sich ein teils poetisch, teils in Prosa verfasster Dialogtext zwischen Chri­stus und dem Gläubigen an, der fol. 10r in einen Deutungshorizont einstellte, in dem der Fokus immer wieder auf die Seitenwunde gelenkt wurde. Die vergebende Gnade Christi („Dein Richter will ich nicht sein: Ich bin der Fried’. Das Zanken fliehe ich: Als du Feind warst, habe ich dich durch mich mit meinem Vater versöhnt“) wird in diesem Text auch und besonders durch seine Seitenwunde ansichtig: Andächtiger Seufzer zu der Seiten­wunde des Herrn. / Sei gegrüßet Du Seitenwunde unseres Heiland Jesu Christ. / Die wir waren festgebunden, unser du Erlöser bist, / Dein Blut, Wasser hast gegeben und zu heilen [von] unserer Wund’ / Deiner Hilf ’ wir uns ergeben, sei gegrüßt, spricht unser Mund.953

Jener Dialog ist im Passional leider nicht mehr im Original enthalten  – ausgerechnet an dieser entscheidenden Stelle fehlt eine Seite, wie eine nachträgliche Notiz auf fol. 9v verrät: Deest folia aut plura („es fehlen ein oder mehrere Blätter).954 Zum Glück existiert eine sehr zuverlässige deutsche Übersetzung des verlorengegangen fol. 10 aus dem 18. Jahr­hundert, die sich als MS VI.E.12 in der Prager Nationalbibliothek befindet. Nimmt man noch einmal die Aussagen jener arma Christi-Darstellung zusammen, so wird mit Blick auf die frömmigkeitstheologische Bedeutsamkeit der Seitenwunde vor allem eines deutlich: Die direkt adressierte Wunde, die im „andächtigen Seufzer“ als Gegenüber, gleichsam als Gesprächspartner in Anspruch genommen wird, die zum anderen auch selbst spricht und mit dem Betrachter unmittelbar kommuniziert, reflektiert das Potential von Heilung und Errettung, von Zunichtemachen der Schuld und Hilfe vor der Verdammnis. Die Wunde lässt die Passion Christi wie durch ein Brennglas lebensecht, greifbar, präsentisch erscheinen, sie weckt die passio des Betrachters im doppelten Sinne des Mitleidens und der liebenden Leidenschaft, die im Küssen der Wunde ihren Ausdruck findet.

findet sie einen expliziten Beleg für die Gleichsetzung der Schutzfunktion von geschauten arma und gegen­ständ­lichen Reliquien: „And thys ys the very lengh of Cristiz naylis which most be holdyn as relekys & worshipid deuoutly with saying of v Pater Noster & Auez & a Crede“ (ebd., 182). 953  Dein Richter will ich nicht sein: ich bin der Frid […] Das zancken fliehe ich: als du Feind warest, habe ich dich durch mich mit meinen Vattern versehnet. Andächtiger Seuftzer zu der Seiten wunden des Herrn. / Sey gegrießt Du Seiten wunden unsers Heilands Jesu Christ / Die wier waren festgebunden, unßer du Erlöser bist, / Dein Blut, wasser hast gegeben uns zu heilen unser wund / deiner hielf, wir uns ergeben, sey gegrüst spricht unser Mund (ebd., 193–196). 954  Vgl. ebd., 193.

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2.3.4  Arma Christi aus dem English Bohun Psalter and Hours (Oxford, Bodleian Lib. MS Auct. D.4.4, fol. 236v, ca. 1380) Die vierte bildliche Quelle, die für die Analyse der spätmittelalterlichen Seitenwunden­fröm­mig­keit herangezogen werden soll, entstammt den sogenannten English Bohun Psalter and Hours, einem für Mary de Bohun wohl im Kontext ihrer Vermählung mit Henry von Bolinbroke, dem späteren Heinrich IV., angefertigten Stundenbuch.955 Wenn als viertes Beispiel eine weitere arma Christi-Darstellung (Abb.  5, Abbildungsteil) ausgewählt wurde, die ebenfalls mit einer weib­li­chen Eigentümerin und einem ebenfalls für die private Andacht bestimmten Buch in Verbindung steht, so soll damit aufgezeigt werden, dass die Seitenwunde innerhalb eines Motivfeldes noch stärker in den Blick genommen werden konnte. Bereits der flüchtige Blick zeigt die markante Verschiebung, die im Vergleich zum „Kuni­gundenpassional“ zu verzeichnen ist: In der Fülle der auf insgesamt elf Bild­seg­men­ten verteilten arma956 ist die Seitenwunde nicht ein Detail unter vielen; sie „sticht viel­mehr gleichsam ins Auge“.957 Nicht allein der prozentuale Umfang, den ihre Dar­stellung inmitten der anderen arma einnimmt, auch ihre Positionierung sowie die inten­ sive, aus dem grün-bräunlichen Bild intensive Farbgebung und ihre detaillierte Dar­ stellung,958 die sie von den anderen abgebildeten Gegenständen klar abhebt, sind offensichtlich. Auch hier 955 Vgl. dazu eine ausführliche Beschreibung der Quelle bei Smith, Art, 81: „When a psalter-hours and psalter were executed c. 1380 for Mary de Bohun and Henry of Bolinbroke, the future Henry IV, probably on the occasion of their marriage, the two volumes were made identical in size and format but given distinct pictorial programs. The Hours of the Virgin in Mary de Bohun’s manuscript features miracles of the Virgin, a Christological cycle, and fully illustrated memoriae in Lauds; an illustrated Litany of the Saints and Gospel Sequences; two full page miniatures showing the Wound of Christ, Resurrection, Crucifixion and Arma Christi and an array of standing saints; and the Office of the Dead, illustrated with a Job cycle.“ 956  Streng aufgeteilt in elf Bildabschnitte unterschiedlicher Größe zeigt diese Darstellung der arma Chri­sti die drei Kreuzesnägel, die Zange, den Hammer, die Dornenkrone, den Tempelvorhang, das Schweißtuch der Veronika und das Kreuz (oben links), Johannes und Maria unter dem Kreuz (oben Mitte), die Lanze des Longinus, das Schwert des Petrus, das Ysoprohr samt Schwamm und weitere Stangen und Speere (oben rechts), die Grabkammer (Mitte links), den leeren Sarkophag mit Leichen­tuch (Mitte links), die 30 Silberlinge des Judas (Mitte rechts), Christus an der Martersäule, eigens abgeteilt und doch durch die bei der Kreuzabnahme verwendete Leiter verbunden, Hahn und Beschneidungsmesser (unten/ ganz unten links), die Seitenwunde, gerahmt von Laterne, Essigeimer, Ysopzweig  (?) und Kelch (unten Mitte), dem Ober- und Untergewand Jesu und den drei Würfeln (unten rechts), sowie nochmals eigens abgeteilt einer Tischszene, die auf Lk 24,42 Bezug nimmt (ganz unten rechts). 957  Ähnlich urteilt auch Sandler, Illuminators, 64: „[…] the enlarged wound of Christ, […] the most pro­minent component, and the one most closely parallel to the imago pietatis as an object of intense contem­plation – an Andachtsbild.“ 958  Die leuchtend orange Ausmalung der Wunde ist links von einer blauen, rechts von einer roten Borte eingerahmt sowie naturgetreu von roten Adern durchzogen.



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scheint eine lebensgroße Abbildung vorzuliegen  – durch die entspre­chen­de verkleinernde Darstellung der anderen arma ist die Seitenwunde ungleich hervor­ge­hoben.959 Warum der Künstler dennoch auf die Darstellung der anderen Leiden beziehungsweise der anderen Leidens­werkzeuge nicht verzichten möchte, mag einen Grund haben, der für das aus­ge­hen­de 14. Jahrhundert typisch zu sein scheint: „Jedes Leiden ist eine Waffe wider Sünde und Tod; je mehr Waffen, desto umfassender ist der Sieg Christi und dadurch die Erlö­sung.“960 Eine zunehmende Kulminierung der arma, die der Logik des „viel hilft viel“ ver­pflichtet scheint, liegt auch im vorliegenden Beispiel vor.961 Auch wenn die Seitenwunde in dieser Darstellung nicht mit Worten im Sinne eines Spruchbandes zur Betrachterin spricht, so ist ihre frömmigkeitstheologische Implikation dennoch klar und ihre nonverbale Aufforderung unmissverständlich: Sie als Zentrum der Passion zu betrachten, vermag der Betrachtenden jene Ruhe und Sicherheit zu schenken, nach der sie sich sehnt. Jene Darstellungsform, jenes „close-up“ der Seitenwunde kommt der Sehnsucht nach unüberbietbarer Nähe nach, die damals virulent war: The faithful desire extreme closeness to this wound, as evidenced by a late thirteenthcentury poem entitled Gott und die Seele. The soul of the believer implores Christ: „Affix me to your wounds with nails, teach me to study your wounds.“ Bonaventure (1221–1274), an influential Franciscan theologian, encouraged cloistered sisters to use the wound as a gateway to Christ’s heart: „Draw closer, o handmaid, with loving steps to Jesus who was wounded for your sake […] Do not be satisfied by putting your fingers in the holes in His hands, made by the nails; neither let it be enough to place your hand in the wound in His side […] but enter through the door in His side and proceed directly to the true heart of Jesus.“962

959  Eine ausführliche Beschreibung dieser Abbildung aus dem Bohun Psalter unter Verweis auf die lebensgroße Darstellung der Seitenwunde liefert auch van Welie-Vink, Body Language, 146: „The miniature is divided into compartments. At the top centre we see Christ on the cross, accompanied by Mary and John. The instruments of the Passion are displayed in the other sections. All the objects shown are more or less in proportion with the crucifixion scene. This is not true, however, of the wound in Christ’s side, which is depicted at the bottom of the miniature. The wound is impossible to miss: large, red and fleshy, it unmistakably evokes a vagina. This could be a coincidence. Or maybe not.“ 960  Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 205. Der Zusammenhang zwischen der andächtigen Betrachtung und der Vergebung der Sündenstrafen wurde bisweilen explizit hergestellt; so etwa auf einer arma Christi-Darstellung in Omne bonum (London, British Lib. MS Royal 6 E VI, fol. 15), die dem Betrachter des Bildes den Ablass mehrerer Päpste verheißt; vgl. dazu Sandler, Illuminators, 88 (Anm. 37). 961  Eine ausführliche Darstellung der komplexen Fülle der Manuskripte der Bohun Familie findet sich ebd., 3–5. 962  Van Welie-Vink, Body Language, 149.

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Vor diesem Hintergrund wird die überproportionale Darstellung der Seitenwunde als künstlerische Ausdrucksform und frömmigkeitstheologisches Angebot einer Nahvergegenwärtigung der Gnade963 einsichtig.964 2.3.5  „Schmerzensmann“ (Hans Multscher, Ulmer Münster 1429) Nicht allein zweidimensionale Kunstwerke rückten die Seitenwunde Christi in den Fokus. Auch Skulpturen aus Holz und Stein965 vermochten es, einen besonders lebensechten Eindruck des verwundeten Passionschristus zu vermitteln. Die vom Bildhauer Hans Multscher, einem Vertreter der frühen Ulmer Schule, 1429 für das Münster vollendete Steinskulptur des Schmerzensmannes966 (Abb. 6, Abbildungsteil) empfängt den Besucher des Kirchengebäudes unmittelbar am Eingang des Münsters.967 Durch den demonstrativen Verweis auf ihre Seitenwunde erschließt die Skulptur dem Betrachter den Weg zum Heil ebenso wie die Bedeutung des Kirchenraums: Der Gläubige wird durch den Zeigegestus, durch die unmissverständliche Fokussierung auf die Seitenwunde des Schmerzensmannes auf das Zentrum seines Glaubens verwiesen:968 963  Dieses Konzept der „Nahvergegenwärtigung der Gnade“ zeichnete nach Berndt Hamm die Frömmigkeit bis zum Vorabend der Reformation aus: „So ist insbesondere die Frömmigkeit in den Jahrzehnten vor der Reformation von intensivierten Erfahrungsweisen der ‚nahen Gnade‘ bestimmt, einer Nahvergegenwärtigung der heilenden und rettenden Gnade Gottes. Man muss nicht in die Ferne schweifen, nicht nach Rom, Santiago di Compostela oder Jerusalem wallfahren, um die gnadenreiche Präsenz des Heiligen zu erlangen. Sie ist in größter Fülle unmittelbar vor der Haustüre abrufbar: durch die lokale Präsenz der Jubiläumsablässe und des Bußsakraments, der Gnadenbilder und Heiltümer, der täglichen Messen und zahlreichen Predigten; oder die Gnade wird für die Menschen sogar innerhalb ihres persönlichen Wohnbereichs selbst gegenwärtig, z. B. in Form von Hausaltärchen oder gemalten und gedruckten Frömmigkeitsbildern, die ein Mustergebet mit Ablasszusage enthalten können. Volker Leppin bezeichnet diese Devotionsformen spätmittelalterlicher Katholizität als ‚Repräsentationsfrömmigkeit‘. Sie beruhe auf der Vorstellung von der ‚Gegenwart des Heiligen im Irdischen‘ und ‚dem Gedanken, dass in Personen oder Gegenständen das Heilige präsent werden könne‘. Da der Begriff der ‚Repräsentation‘ vieldeutig ist und auch auf die Abwesenheit des Repräsentierten zielen kann, bevorzuge ich den einfacheren Begriff der ‚Vergegenwärtigung‘. Katholischsein bedeutet um 1500: die Vergegenwärtigung der Gnade im Nahbereich des Alltagslebens zu erfahren und zu propagieren“ (Hamm, Katholischsein, 14). 964  Lakonisch summiert van Welie-Vink, Body Language, 149: „So, there are plenty of reasons to emphasize the wound in Christ’s side in images and depict it in oversized fashion.“ 965  Weitere Beispiele, u. a. auch eine aus Silber gefertigte Schmerzensmannskulptur, finden sich ebd., 34–36. 966  Hamm, Katholischsein, 19 weist darauf hin, dass das Original am Westportal durch eine Kopie ersetzt wurde und selbst ins Innere des Münsters verbracht wurde; vgl. auch zur Skulptur den Ausstellungskatalog Söding, Bildwerke, 35–39. 967  Zur Positionierung der Skulptur am Mittelpfeiler des Hauptportals sowie zur dabei zugrundeliegenden Funktion und Intention siehe Hamm, Katholischsein, 19. Berndt Hamm verdanke ich den Hinweis auf die Skulptur Multschers. Zu Multschers Schmerzensmann vgl. auch Ringshausen, Archivoltenfiguren. 968  So auch ebd.: „Sie ‚repräsentiert‘ sehr realistisch und voller Symbolkraft die Nähe der



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Am Eingang zum Münster steht also der leibhaftig-seelische Eingang in das Heilsgeschehen der Passion; und das gesamte Münster wird durch den Zeigegestus des Schmerzensmanns zusammen mit dem Segensgestus seiner linken Hand als Raum der Nahvergegenwärtigung der Heilswirkungen des Leidens und Sterbens Christi gedeutet.969

Bei der durch ihre Schönheit und zurückgenommenen Ästhetisierung gekennzeichneten Figur – jener Schmerzensmann erscheint auf den ersten Blick nicht von den erlittenen Martern gezeichnet, ja selbst die Dornenkrone ist mehr als eine stilisierte, schmückende Kopfbedeckung gearbeitet – ist es sicherlich kein Zufall, dass es die Seitenwunde ist, die die glatte Oberfläche des Leibes Christi durch eine recht realistische Darstellung gleichsam „aufbricht“. Es ist die Seitenwunde, die den Gläubigen, der sich nach der Konfrontation mit der Skulptur in das Innere des Kirchenraums begibt, dazu auffordert, sich die Tiefendimension des Leidens und Sterbens Christi, derer er in der Herzenswunde Christi ansichtig wird, im eigenen Herzen zu vergegenwärtigen und jene passio Christi durch eigene, heilsame compassio nachzuempfinden. 2.3.6  Speerbildchen in einem Gebetbuch aus dem Besitz des Hartmann Schedel (um 1465) Eine eigenständige Form der bildlichen Darstellung, mithin der Reproduktion oder „Real­prä­sen­tation“ der Seitenwunde, stellten die sogenannten Speerbildchen dar. Als ein pro­minentes Beispiel für diese Bildgattung gilt ein Einblattholzschnitt (Abb. 7, Abbildungsteil) aus einem Gebet- und Notizbuch aus dem Besitz des Hartmann Schedel. Diese Holzschnitte entstanden wohl im Kon­text des Nürnberger Festes der Heiligen Lanze, das von 1424 bis 1523 begangen wurde. Die Kontinuität der Abläufe wurde durch ein sogenanntes Heiltumsbüchlein garantiert, das detailreich über die verschiedenen „Umgänge“ berichtet, in denen dem Volk die ver­schie­denen Heiltümer öffentlich gezeigt wurden. Mit Blick auf die heilige Lanze ist dort festgehalten: Darnach Das heylig eisen des spers Das geoffnet hat dy seiten und verwundt hat das sueß herz unnseres herren ihesu christi Und so tieff verwundt als ir sehet Von der spitz byß an den guͤlden Erlösungswirkung des Sterbens Christi für die Andacht der Gläubigen. Aber noch mehr: Christus weist die Hinzutretenden demonstrativ auf seine geöffnete Seitenwunde hin. Sie galt als das Allerheiligste am heiligen Körper des Gekreuzigten: als die Herzwunde, die der römische Soldat dem bereits gestorbenen Jesus zugefügt hat (Joh. 19,34). Viele mittelalterliche Theologen interpretierten diese Körperöffnung als den Zugang zum Heil. Der Mensch soll sie leiblich und seelisch betrachten und so meditativ Eingang in das verborgene Geheimnis der Passion, die sich selbst aufopfernde Liebe des Gekreuzigten, finden. – Das nach Joh. 19,34 aus der Seitenwunde fließende Blut und Wasser wurde allgemein als Hinweis auf die sakramentale Vermittlung der Heilswirkung der Passion durch Eucharistie und Taufe gedeutet.“ 969 Ebd.

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rayff. Der des zu zeichen darum gelegt ist. Auß derselbigē heiligē wundē das heilig pad pluetz uň wassers uns miltiglich gegossen ist.970 Zu den Verbindungslinien zwischen dem allgemeingesellschaftlichen Großereignis des Lanzen­festes und den dem Bereich der persönlichen Frömmigkeit zuzuordnenden Ein­blatt­drucken hält Heike Schlie fest: Die sogenannten Speerbilder stehen im Zusammen­hang mit dem Fest der Heiligen Lanze in Nürnberg, das zwischen 1424 und 1523 am zwei­ten Freitag nach Ostern mit einer Heiltumsweisung auf dem zentralen Marktplatz began­gen wurde. Mit der Verehrung der Heiligen Lanze, die während der Kreuzigung die Seite Christi geöffnet hatte, entsteht eine Frömmigkeitspraxis, die mit der Herz-Jesu-Fröm­mig­keit gekoppelt wird. In der Stadt wurden kleine Herz-Jesu-Bildchen unterschied­lich­ster ikonographischer Komplexität vertrieben, die entweder von der Heiligen Lanze selbst durchstoßen oder an einem gemalten oder vorbereiteten Schnitt von ihr berührt worden waren.971

Das hier untersuchte Exemplar ist nun jedoch nicht separat aufbewahrt worden, sondern ist Bestandteil einer im Duodezformat vorliegende Handschrift (BSB München, Clm  692), die insgesamt 240 Folien umfasst und verschiedene Exzerpte lateinischer Texte, Bibelauszüge sowie ein Marienleben enthält. Man vermutet, dass der Humanist, Histo­riker und Nürnberger Arzt Hartmann Schedel (1440–1514) diese in den Jahren 1463 bis 1467 in Padua und Nürnberg angelegt habe.972 Das in leuchtendem Rot ausgeführte, sehr einfach gezeichnete Herz973 ist von einer dunk­len Schnittlinie, die der Lebensgröße der Seitenwunde entsprechen könnte, nicht nur gezeich­net, sondern real durchstoßen, verwundet. Wie eine Überschrift steht über dem das Herz umgebenden Schmuckrahmen aus Blüten und Blättern zu lesen: „Jenes Herz ist durchstoßen mit der Lanze unseres Herren Jesu Christi.“974 Ohne direkten Zusammenhang dazu findet sich am rechten Bild­rand jenseits der Schmuckborte eine Marginalie, bei welcher es 970 

Anonym, hochwirdigist heiligthum, Zu dem dritten Umbgang.

971 Schlie, Abdruck und Einschnitt, 89. Zur Einführung eines kirchlichen Festes zu Ehren

der Passion­snägel und der heiligen Lanze durch Papst Innozenz VI. auf Begehren des Kaisers Karl IV. im Jahr 1335 siehe Gnädinger, Tauler, 94. 972  Als Verfasser ist jedoch der Dominikaner Johannes Schedel anzuführen, der das Gebetbuch in den Jahren 1458–1462 eigentlich für Georg Schedel, den Bruder Hartmanns, schrieb; vgl. dazu Brunner, Reichsstadt, 228. Eine ausführliche Beschreibung des Gebetbuches findet sich bei Schneider, Die deutschen Handschriften (Bd. 3), 423–425. Das einzige Exemplar befindet sich in München, BSB, eingebunden in Clm 692, f. 73v. Vgl. dazu auch Griese, TextBilder, 278 (Anm. 511). Neben dem hier ausgewählten Speerbildchen befand sich noch ein weiteres im Gebetbuch des Hartmann Schedel; weitere Herz-Jesu-Bilder und ein Herz-JesuHolzschnitt belegen die Popularität des Motives in Nürnberg; siehe dazu ebd., 279 (Anm. 517). Griese nimmt an, dass Schedel bei mindestens einer Heiltumsweisung anwesend war und die entsprechenden Bilder dort erworben habe. 973  An dieser Stelle sei lediglich kurz auf ein weiteres Motiv verwiesen, auf die Darstellung des „Jesus­kindes im heiligen Herzen“, wobei das Herz in diesem Fall nicht das Herz Christi, sondern das Herz Gott­vaters darstellt; vgl. dazu Wirth, Jesuskind, 148 f. (mit Abbildung). 974  Illud cor transfixus est cum lancea domini nostri Iesu chri[sti].



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sich um den Beginn des Pro­ömiums zu den Satiren des Aulus Persius Flaccus (gest. 62 n. Chr.) handelt.975 Die Frage, ob exakt jenes Bildchen aus dem Besitz des Hartmann Schedel mit der „tat­säch­lichen“976 Lanze Christi durchstochen wurden, die seit 1424 im Heilig-Geist-Spital zu Nürnberg aufbewahrt und einmal jährlich ausgestellt wurde,977 ist zwar nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten, dennoch spricht einiges dafür, wie etwa Griese festhält: Die „Realpräsenz“ des Christuskörpers wurde in dieser Gattung der Speerbildchen besonders greifbar und verwandelte sie selbst in eine „machtvolle Kontaktreliquie“:978 Der Körper Christi manifestiert sich […] in berührbarer Form an den Schnitträndern, als Folge einer Doppelung oder gar Verdreifachung der Berührung, von Körper und Lanze zu Lanze und Herz zur Berührung des Schnittes durch den Rezipienten. Die (einst mit Blut befleckte) Lanze ist damit als „Bildwerkzeug“ der bessere Pinsel oder Stichel des Bild­mediums, weil sie ein wahres Bild der Wunde bzw. des Herzens Jesu zu schaffen ver­mag.979

Der somit durch die wahre Lanze verursachten, „realpräsenten“ Seitenwunde beziehungsweise deren Re­prä­sentation in den Speerbildchen wurden reale Wirkungen im medizinischen Bereich zugeschrieben: Gegenstände, die mit jenen Bildchen in Berührung gebracht wurden, gal­ten als Heilmittel gegen Schmerzen oder Stechen in der Seite.980 975 Der Text der Marginalie lautet: Necque fonte p(ro)lui labra caballino, nec bicipiti somniasse (per)na­so memi(n)i, [unleserlich] ut sic repente poeta prodirem [Schnörkel]. Die Entschlüsselung des Textes sowie alle weiteren Hinweise zu seinem Hintergrund verdanke ich Dr. Henning Jürgens vom Institut für Europäische Geschichte, Mainz. Leider will es mir nicht gelingen, einen Zusammenhang zwischen diesen Zeilen des Aulus Persius Flaccus, welcher durch die Begründung des Begriffs des „habitare secum“ die christliche Philosophie geprägt hat, und dem Einblattdruck herzustellen. In der Ausgabe der Satiren durch Otto Seel lesen sich jene Textzeilen des Persius wie folgt: Nec fonte labra prolui caballino, nec in bicipiti somniasse parnaso memini, ut repente sic poeta prodirem („Am Gaulsquell durft’ ich niemals mir den Mund schwenken, noch eines Traumbilds an Parnasses Zwiegipfel, gedenk ich, daß ich als Poet dürft’ auftreten!“); vgl. dazu Persius, Satiren, 6, Z. 1–3. 976  Zur Herkunft der Lanze aus karolingischer Zeit und ihrer Anerkennung als „originale“ Lanze vgl. Schnelbögl, Reichskleinodien, 84. 977  Die m. E. umfassendste Darstellung der sogenannten Heiltumsweisung, einbezüglich der Quellen findet sich ebd., 78–159. 978 So Hamm, Frömmigkeit, 99. Griese, Text-Bilder, 283 verweist auf die Möglichkeit, „daß diese Bilder […] für eine größere Menge an Pilgern und Besucher Medium dieses Be­ rührungs­aktes und damit Träger des Heils und der zugeordneten Schutzfunktion wurden. Als Be­stä­tigung der Berührung und damit der Übertragung der Heilsfunktion fungiert der Text auf den Drucken, der besagt, daß dieses Herz mit der wahren Lanze durchstochen oder von der Lanze berührt wurde.“ 979  Schlie, Abdruck und Einschnitt, 90. 980  Vgl. dazu Griese, Text-Bilder, 279 sowie dort ausführlich Anm. 519. Nicht unwichtig ist die Mono­pol­stellung, die der Nürnberger Rat mit Blick auf die Erstellung „echter“ Speerbildchen für sich zu wahren wusste. Um den unautorisierten Gebrauch der heiligen Lanze auszuschließen, wurde dieselbe nachts von zwei Chorjungen bewacht: „As an additional security measure two choirboys were posted to guard the Heiltum at night (Leitbuch, fol. 32v). In one

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Betrachtet man die Rückseite des Einblattdruckes (Abb. 8, Abbildungsteil), so sind dort schwach durchscheinend die Konturen des Herzens und an einer Stelle dessen Rotfärbung sowie als feine Linie dessen Durchbohrung zu erkennen. Unterhalb des durchscheinenden Herzens findet sich ein Gebet, das einen Zusammenhang mit dem Motiv des Schweißtuches der Veronika981 herstellt. Nach Griese ist diese Vagantenzeile in der unteren Hälfte des Blattes wohl der Hand des Hartmann Schedel zuzuweisen: „Sei gegrüßt o ehrwürdiges und ergötzendes Schweiß­tuch, du bist unser Trost und Erinnerungszeichen, sei für uns, die wir deinen Bei­stand erbitten, eine süße Labsal und Trost.“982 Bei den in größeren Minuskeln abgefassten zehn Zeilen am oberen Bildrand der Rück­sei­te handelt es sich wohl um ein Papst Innozenz III. zugeschriebenes Ablassgebet, das bei Belting wie folgt übersetzt wird: Herr, Du hast uns, die wir mit dem Licht Deines Antlitzes gezeichnet sind (signatis), als Dein Andenken (memoriale) das dem Schweiß­tuch der Veronica eingedrückte Bild (sudario impressam imaginem) hinterlassen. Ge­wäh­re uns um Deiner Passion und des Kreuzes willen, daß, so wie wir nun auf Erden dieses im Spiegel und im Gleichnis (per speculum et in enigmate) anbeten und verehren dürfen, wir Dich als Richter dereinst auf der guten Seite (securi) von Angesicht zu Angesicht ( facie ad faciem) erblicken werden.983

In gattungstypischer Weise verkörpert jenes Speerbildchen aus dem Besitz des Hartmann Schedel das Bedürfnis nach Trost, Heil und Heilung  – hier im irdischen Leben ebenso wie mit Blick auf das letzte Gericht. Das Bedürfnis nach Heilsvergewisserung und Gna­den­suche, unter deren Vorzeichen nach Volker Schier und Corine Schleif auch das Fest der Heiltumsweisung in Nürnberg verstanden werden müsse,984 wird hier besonders an­sichtig und greifbar. Die Speerrecord it is stated that care should be taken that no one use the lance to pierce paper or anything else, indicating that no one should dare to produce unauthorized contact relics und thus affect the City Council’s monopoly of these objects (Ord­nungs­buch, fol. 23v)“ (Schier/Schleif, Seeing and Singing, 421). 981  Zur Geschichte des Schweißtuches mit zahlreichen Abbildungen vgl. etwa Wolf, Urbilder, 100–102. 982  Salue o sudarium nobile iocale / es nostrum solacium et memoriale / esto nobis quesumus tuum adiuuamen / dulce refrigerium et solamen. Diese Transkription der Vagantenzeile übernehme ich von Griese, Text-Bilder, 282. Zur Verbindung der beiden Motive des Schweißtuches der Veronika als vera icon und des Motivs des Herzbildes siehe ausführlich ebd., 283. 983  Auch hier übernehme ich die Transkription Grieses: Deus qui nobis signatis lumine uul/ tus tui memo­riale tuum ad instan/ciam veronice ymaginem tuum su/dario impressam relinquere uoluisti / per cruce et passionem tuam tribue ut / ita marie matris per speculum et in / enigmate uenerari adorare ho/ norare ipsam ualeamus ut te / tunc facie ad faciem uenientem super / nos iudicem securi uideamus (ebd., Anm. 580). 984  „In many respects the feast was both a continuation and the culmination of the Easter cycle, in that it synthesized the narrative of the Passion with the theology of redemption. The lance and the nails, instru­ments of torture and martyrdom, are redirected through recontextualization as weapons of Christ and thus instruments of salvation.“ (Schier/Schleif, Seeing



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bildchen fungierten gleichsam als Repräsentanten der un­greif­baren Leerstelle der Seitenwunde Christi. 2.3.7  „Eucharistischer Schmerzensmann mit Caritas“ (Nordwestdeutscher Meister, Köln, Tafelmalerei um 1470) Auf dem aus dem späten 15. Jahrhundert stammenden Tafelbild (Abb. 9, Abbildungsteil) tritt dem Betrachter ein durch die Seitenwunde gezeichneter Passionschristus entgegen, der vom eigentlichen Passi­ons­geschehen vollkommen losgelöst ist. Nicht als der am Kreuz Verstorbene, son­dern als Lebendiger begegnet Christus auf einem verschlungenen Weg einer weiblichen Gestalt. Diese, durch ein Schriftband als „Caritas“ identifiziert, angetan mit einem prachtvollen, königlichen Mantel, bekrönt und mit einer Lanze in der Linken, hält in kniender Haltung einen Kelch, in den Christus aus seiner Seitenwunde sein Blut ergießt. Dabei hat er die Linke, deren Innenfläche das Nagelmal zeigt, wie zu einem Segensgruß erhoben; mit der Rech­ten fasst er unter die Seitenwunde, als wolle er den Ausfluss des Blutes verstärken – gleich einer stillenden Frau, die ihrem Kind die Brust reicht.985 Die Blicke von Christus und Caritas treffen sich, keine weitere Person stört diese intime Be­geg­nung. Die im Bildhintergrund gezeichnete Stadt, vom Geschehen durch einen brei­ten Strom getrennt, ist weit entfernt. Bisweilen wurde vermutet, dieses Motiv verdanke sich einer Vision der Gertrud von Helfta beziehungsweise man konstatierte, die Frau stelle gar Gertrud selbst dar; die Identifikation mit der allegorischen Figur der Caritas ist jedoch nicht allein wegen der Inschrift, sondern auch wegen der beigefügten königlichen Attribute schwerlich zu bestreiten.986 Der enge Konnex zwischen Kelch und Seitenwunde findet sich auch auf anderen Motivfeldern, vor allem im Kontext der „Gregorsmesse“ oder auf Abbildungen, auf denen Engel einen überlebensgroßen Abendmahlskelch in ihren Händen halten, dessen von Blut überbordende Oberfläche zugleich die Seitenwunde Christi darstellt.987 Die Besonderheit dieser Darstellung ist jedoch, dass nicht ein Repräsentant der Kirche, sondern die königlich gewandete Caritas als das empfangende Gegenüber dargestellt wird. Das Vergießen des Blutes aus der Seitenwunde wird somit aus einem rein sakramentalen oder ekklesiologischen Zusammenhang gelöst und vielmehr als and Singing, 403). Schier und Schleif liefern auch eine prägnante und eindrückliche Schilderung der einzelnen Abläufe des Festes der heiligen Lanze; vgl. ebd., 402–404. 985  Die Analogie zu zahlreichen Darstellungen der stillenden Gottesmutter, die ebenfalls den Fluss (der Milch) zu verstärken scheint, in der sie dem Jesusknaben aktiv ihre Brust reicht, ist offenkundig. 986 So Bynum, Fragmentierung, 88 sowie Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 219 (Anm. 35). 987  Ein besonders eindrückliches Beispiel in einem Stundenbuch aus dem 15. Jahrhundert findet sich etwa bei van Welie-Vink, Body Language, 151.

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Liebestat gezeichnet, aus der die Liebe selbst zu schöpfen und zu empfangen vermag. 2.3.8  „Gregorsmesse“ (Master of the Holy Kinship, 1486, Utrecht, Museum Catharijneconvent, ABM s33) Ein Detail aus der ursprünglich aus dem 8. Jahrhundert stammenden Biographie Gregors des Großen (gest. 604) aus der Feder des Paulus Diakonus (gest. 799/800), das durch die Aufnahme in die Legenda aurea des Jakobus de Varagine (gest. 1298) einen eklatanten Popularisierungsschub erfahren hatte, beschäftigte nunmehr als sogenannte „Gregorsmesse“ zahlreiche Künstler.988 Jenes Motiv kann im 15. Jahrhundert989 als „das einflussreichste Modellbild für Offenbarung und Gnadengewähr [betrachtet werden] und bedient einen gewaltigen Komplex an Bedürfnissen nach Bildern, die mit eben diesen Grundthemen zusammenhängen.“990 Ausgangspunkt für jene Flut der Darstellungen ist dabei stets die Erzählung, Gregor sei während einer Messfeier in der Basilika Santa Croce in Gerusalemme Christus selbst in Gestalt des Schmerzensmannes erschienen; das in der Folge angefertigte Abbild jener Vision habe der Papst mit einem Ablass für all jene verknüpft, die vor diesem Bild ein Paternoster und ein Ave Maria beteten.991 Gregor selbst solle durch jene Erscheinung des Schmerzensmannes aller Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Verwandlung der Altarsakramente in Leib und Blut Christi enthoben worden sein.992 Das hier ausgewählte Beispiel (Abb. 10, Abbildungsteil) des sogenannten Master of the holy kinship, bei dem es sich wohl um einen aus Deutschland stammenden, nicht näher zu identifizierenden Maler handelt, dessen Schaffens988 Vgl. dazu Browe, Eucharistie, 155 (bes. Anm. 392) sowie van Welie-Vink, Body Language, 28 und zur komplexen Entstehungsgeschichte der Gregorsmesse einschlägig Meier, Ikonographische Probleme, 39–43. 989 Zahlreiche Beispiele für Darstellungen der Gregorsmesse bieten van Welie-Vink, Body Language, 12.28–30; sowie ebenfalls Geissmar-Brandi/Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 279–289. 990  Schlie, Erscheinung, 59. Die überaus komplexen Fragestellungen nach der Entstehungsgeschichte des Bildmotivs, der Verschiebungen der theologischen Schwerpunktsetzungen zwischen Beleg für die Transsubstantiationslehre und Erscheinung des Schmerzensmannes sollen hier nicht im Einzelnen entfaltet werden; vgl. dazu die Beiträge in Gormans/Lentes, Bild der Erscheinung. 991 So Hamm, Ars moriendi, 315. Zur tatsächlichen Entstehungsgeschichte dieses römischen Kult- und Gnadenbildes um 1300 und seine Verortung in Byzanz vgl. ebd. 992  „[…] even this influential pope harboured doubts regarding the Church’s teaching on the change of bread and wine into body and blood. According to the biographer, Gregory once asked for proof while offering a Mass. Shortly before transubstantiation, Gregory was once again seized by doubt. He prayed for a sign. And he received one: Christ Himself suddenly appeared on the altar and showed Gregory His wounds. In an instant, Gregory was cured of his doubts“ (van Welie-Vink, Body Language, 28). Zum Zusammenhang mit der Erzählung der zweifelnden Hostienbäckerin vgl. Meier, Ikonographische Probleme, 39–41.

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periode zwischen 1475 und 1505 angesetzt wird993 und das heute im Catharijneconvent ausgestellt ist, hatte seinen Platz ursprünglich über dem Altar der St. Andreaskirche in Steinfeld in der Eifel. Vor einem beinahe verwirrend dicht bevölkerten Hintergrund – es scheint als habe der Maler beabsichtigt, sämtliche Beteiligte der Passion bis zum letzten Nebendarsteller abzubilden –, steht jener solchermaßen bedrängte Christus beinah unbeteiligt mitten auf dem Altartisch. Der Betrachter wird detailreich ins Bild gesetzt, indem er mitansehen muss, wie Christus bespuckt, an den Haaren gezogen wird, von Judas mit dem Geldsack in der Hand bedrängt und von einer weiteren Person geschlagen wird, während ein Gehilfe schon mit dem aufgespießten Ysopschwamm im Hintergrund wartet. Ein Hahn auf einer Säule zeugt vom Verrat des Petrus, während rechterhand Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht. Die riesenhafte Gloriole Gregors, der die Messe zelebriert, verdeckt zwar den unteren Teil des Christuskörpers, doch das wesentliche Moment ist im Schein der Altarkerzen durchaus sichtbar: Während Gregor den Blick auf das aufgeschlagene Messbuch gerichtet hat, verströmt Christus, indem er mit seiner Rechten seine geöffnete Seite presst, sein Blut in einem zielgerichteten Strahl in den Abendmahlskelch. Der Blick aus den halb geschlossenen Augen Christi scheint auf Gregor gerichtet, so als wolle er sich dessen Aufmerksamkeit für das Geschehen vergewissern. Jenes auffällig aktive „Blutspenden“ Christi ist auf zahlreichen Abbildungen aus dem Motivfeld der Gregorsmesse zu finden. Es scheint fast, als würde Christus selbst vehement die auf dem 4. Laterankonzil bestätigte Transsubstantiationslehre zu unterstreichen suchen.994 Zeugen dieses erstaunlichen Geschehens sind neben Gregor zahlreiche Figuren im Bildvordergrund, zu denen unter anderem der Schutzpatron des Klosters Steinfeld, St. Potentinus sowie St. Andreas als Schutzheiliger der Pfarrkirche von Steinfeld als auch der Prämonstratenserabt von Steinfeld, Reinier van Euskercken, dem Stifter des Bildes zählen. Aus dem Mund des letzeren geht ein Spruchband mit folgenden Worten hervor: ora pro fr[atr]e r[ei]­n[er]o euskerche[n] q[ui] co[n]q[ui]s[iv]it de bo[n]is p[a]rochi[ali]b[us].995 Über dem Haupt des um das Gebet für sein Seelenheil bittenden Stifters findet sich die Jahreszahl 1486. 993 

Vgl. dazu Zehnder, Gotische Malerei. So auch van Welie-Vink, Body Language, 13: „The transformation of bread and wine into the body and blood of Christ during the sacrament of the Eucharist increasingly occupied the thoughts of the faithful during the Middle Ages. After the ideas surrounding this transsubstantiation were formalized during the Forth Council of the Lataran in 1215, depictions of the body of Christ proved to be an exemplary tool for helping people to understand this transformation. In more than a few images, Christ himself causes his blood to gush into the Eucharist chalice.“ 995  Zur Identifizierung der abgebildeten Personen und der Transkribierung des Spruchbandes vgl. http://art-in-space.blogspot.com/2015/11/master-of-holy-kinship-mass-of-saint. html (letzter Zugriff: 19.5.2022). 994 

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Nah und unmittelbar, in überwältigender physischer Präsenz konfrontiert der Passionschristus nicht allein Gregor und die bildimmanent versammelte Zeugenschaft, sondern auch den Betrachter des Bildes mit der Präsenz der Gnade996, die er dem Empfänger der Sakramente durch und aus seiner Seitenwunde unmittelbar kommuniziert. 2.3.9  „Christus in der Kelter“ (Anonym, Kalkar oder Xanten um 1500) Der Einblattdruck aus dem Niederrheinischen um die Jahrhundertwende zwischen den 15. und 16. Jahrhundert zeigt den leidenden „Christus in der Kelter“ (Abb. 11, Abbildungsteil) – ein Bildmotiv, das sich der typologisch-allegorischen Ausdeutung von Jesaja 63,3 („Ich allein trat die Kelter; von den Völkern war kein Mann dabei“) verdankt.997 Die niederländische Fassung jenes Bibelwortes sticht dem Betrachter als Tafelinschrift über dem Geschehen ins Auge: Ic hebbe die perse al-leen ghetreden en va-den volcke en was chenn man met my. Wesentlich kleiner erscheint im linken oberen Eck eine hand­schrift­liche lateinische Paraphrase des Bibelwortes und schließlich auf dem Kelterbalken ein lateinisches Gebet, das Rudolf Suntrup wie folgt übersetzt: „Der Herr [sei] mir ein Bei­stand; und ich werde meine Feinde verachten. Ich hoffe auf Gott.“998 Unter diesen Überschriften, unter diesem Titel und Untertitel, ist nun die Figur des in der Kelter eingeschlossenen Schmerzensmannes dem Betrachtenden einzuordnen. Angetan mit der Dornenkrone, gezeichnet von den Wundmalen an Händen und Füßen, zeigt der Ein­blattdruck den durch das Gewicht des gesenkten Balkens eingezwängten Christus­körper.999 Trotz der offenkundigen Qualen verrät das Gesicht des Schmerzensmannes nichts von seinem Leiden – im Gegenteil erscheint dessen Ausdruck geduldig und beinahe heiter. Die rechte Hand ruht unterhalb der Seitenwunde, aus welcher ein Schwall von Blut quillt, der bereits das gesamte Auffangbecken der Kelter gefüllt hat.1000 Die Knie und 996  In

seiner Analyse des sogenannten Schürstab-Epitaphs, ursprünglich im Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina beheimatet, fächert Berndt Hamm die unterschiedlichen Dimensionen der „nahen Gnade“, die sich mit dem Motiv der Gregorsmesse verknüpfen, aus; vgl. dazu Hamm, Ars moriendi, 317–328. 997  Auch dieses Motiv erfreute sich solch großer Beliebtheit, dass man zahlreiche weitere Beispiele auswählen könnte; vgl. etwa bei van Welie-Vink, Body Language, 40 f. 998  Suntrup, Christus, 258. Suntrup deutet dieses Gebet als Auslegung von Jes 63,7–19; vgl. ebd. 999  Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 242 f. weist darauf hin, dass auf Darstellungen des Keltermotivs aus dem 12. und 13. Jahrhundert Christus meist aufrechtstehend abgebildet ist (spätere Beispiele des stehenden Christus finden sich jedoch ebenso; vgl. ebd., Abb. 808.810 f.), ab dem 14. Jahrhundert schließlich immer häufiger als von der kreuzförmigen Kelter gepresste Figur gezeigt wird. 1000  Die Verbindung des Passionschristus mit dem alttestamentlichen Prophetenwort hat eine lange Tradition, die von Tertullian, Cyprian und Origines über Ambrosius und Hierony-



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die Unterschenkel des Gekreuzigten sind von jenem „Blutbad“ benetzt, das in einem kräftigen Rot gezeichnet ist. Diese den Betrachter überwältigende Fülle des Blu­tes wird schließlich kanalisiert: Durch einen schmalen Abfluss in der Bildmitte fließt das in der Kelter aufgefangene Blut in einen Abendmahlskelch, der auf dem Boden steht. Auf einer horizontalen Linie befinden sich die Seitenwunde und der darunter befindliche Kelch als Quelle und Zielpunkt des lebensspendenden Blutes Christi. Jene Überfülle des Blutes, die hier durch die Klarheit des Holzschnittes gleichsam gebändigt scheint, obgleich sie die Weinkelter vollständig ausfüllt, hat ihren Ursprung in der Seitenwunde, die wie ein Emblem für jene Hoffnung erscheint, die im lateinischen Gebet ihren Ausdruck findet: Die Hoffnung des Beters, der Beistand Gottes, der Triumph über die Feinde ruht auf jenem Geschehen des stellvertretenden Blutvergießens Christi. Zugleich scheint die durch das Bibelwort beschworene Einsamkeit Jesu den Bildbetrachter geradezu aufzurufen, Christi Passion zu vergegenwärtigen, sich selbst als gegenwärtig und mitleidend zu erweisen. 2.3.10  „Schmerzensmann und Maria vor Gott Fürbitte leistend“ (Hans Holbein der Ältere, Epitaph Augsburg 1508) Auf dem von Hans Holbein des Älteren 1508 für den Epitaph des dreißig Jahre zuvor enthaup­te­ten Bürgermeisters Ulrich Schwartz angefertigten Interzessionsbild (Abb. 12, Abbildungsteil) wird der Betrachter durch Schriftbänder bei der Interpretation des Geschauten eindeutig an die Hand genom­men. Das Bildmotiv, welches zeigt, wie Maria und Christus für den einzelnen Menschen vor Gottvater als Weltenrichter fürbittend eintreten1001 und dabei auf die mütterliche Fürsorge und ihre Bereitschaft zum stellvertretenden Leiden verweisen, entwickelte sich im Kontext einer sich immer stärker ausdifferenzierenden Gerichtserwartung. Seit dem 12. Jahrhundert hatte sich die Vorstellung eines Partikulargerichtes unmittelbar nach dem Tod herausgebildet, in der sich die Seele vor Gottvater als gestrengem Richter zu verantworten hat.1002 Dabei ist mus reicht, sich auch bei Gregor dem Großen und schließlich bei Rupert von Deutz findet; vgl. dazu Suntrup, Christus, 258 sowie Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 242 f. 1001  Beispiele aus dem 14. und 15. Jahrhundert finden sich etwa bei van Welie-Vink, Body Language, 126 f.130. 1002  „Das individuelle Partikulargericht Gottes über die einzelne menschliche Person sofort nach der Scheidung der Seele vom Leib gewann seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert zusammen mit dem Strafort des Fegefeuers einen festen Platz in der religiösen Vorstellungswelt und theologischen Reflexion der abendländischen Christenheit. Die ältere eschatologische Auffassung vom Seelenschlaf der Verstorbenen bis zum Universalgericht des Jüngsten Tages war nicht mehr zu halten, wenn ein Teil der Seelen unmittelbar nach dem Tod die Fegefeuerqualen zu erleiden hat. In einem vorgezogenen Gericht muss dann bereits über die einzelne Seele entschieden werden, ob und wie lange sie – bevor sie der Seligkeit teilhaftig wird – im Fegefeuer noch Sündenstrafen abzubüßen hat oder ob sie sofort in den Himmel oder in die

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jedoch der Glaubende nicht alleingelassen, vielmehr stehen ihm gleichsam als „kombinierte Interzession eines Instanzenweges“ die „brustweisende Maria und der wundenweisende Christus“ zur Seite, deren Fürsprache scheinbar zwingend „zum Barmherzigkeitsurteil Gottes führt“.1003 Auf zahlreichen Miniaturen, Tafelbildern, Fresken, aber auch in literarischen Textmedien1004, die als eigentlicher Ursprung der dann bildlich gefassten Vorstellung der Heilstreppe zu gelten haben,1005 suchte man nach Antworten auf die Frage, wie der sündige Mensch zu Lebzeiten die Vergebung und Gnade Gottes erlangen und sein Heil sichern kann, oder auf die Frage, wie die armen Menschen Schutz vor den strafenden Heimsuchungen des göttlichen Zorns, vor Hungersnoten, Seuchen und Kriegen, erlangen können.1006

Auf dem vorliegenden Exempel aus dem frühen 16. Jahrhundert fungieren Christus und die Gottesmutter nunmehr im Kontext einer gesteigerten Ars moriendi-Frömmigkeit im Horizont des Partikulargerichts, das man in der Todesstunde des Menschen ansetzte. Über einer Schar von Frauen auf der (bildinhärent) linken Seite steht Maria, den Blick zu Gott­vater erhoben, ihre Rechte hält die entblößte rechte Brust umfasst; ihre Intention macht das Schriftband über ihrem Kopf deutlich: „Herr, steck ein dein Schwert / das du hast gezogen / und sieh an die Brust / an der dein Sohn gesogen.“1007 Ihr gegenüber auf der rechten Bildhälfte1008 steht Christus, mit einem Lendenschurz und Königs­mantel als der verspottete Gekreuzigte Hölle kommt und welche Intensitätsgrade dort die Bestrafung bzw. Belohnung hat. Schon jetzt also fällt die endgültige Entscheidung über das Jenseitsschicksal des Verstorbenen, und das Jüngste Gericht wird nach der Wiedervereinigung der Seelen mit ihren Körpern die vielen Partikulargerichtsurteile nur noch ratifizieren können; zwar hat es eine universale, totale und kollektive Dimension, doch richtet es keine Gruppen, sondern jede Person individuell – in der Fortführung und Besiegelung des Partikulargerichts. So wurde das meist in unbestimmte Ferne geruckte Universalgericht am Ende der Zeit im 13. und 14. Jahrhundert zunehmend durch die Naheschatologie des eigenen Gerichts im Moment des Todes überblendet. Die Gerichtsstrenge Gottes und die Aussicht schrecklicher Jenseitsqualen rückte in eine angstvoll bedrängende Erlebnisnähe – und dies umso mehr, je stärker durch kollektive Todeserfahrungen wie das „grosse Sterben“ des 14. Jahrhunderts und die nachfolgenden Pestwellen die Naherwartung der Todesstunde forciert wurde und eine Finalisierung des gesamten Lebens auf diese Entscheidungsstunde hin geschah“ (Hamm, Frömmigkeitsbilder, 136). 1003  Ebd., 138. 1004 Ebd. 1005 So hält Berndt Hamm fest: „Am Anfang standen offensichtlich wenige Sätze aus einem Marientraktat, der um 1150 im unmittelbaren zisterziensischen Umfeld Bernhards von Clairvaux entstand und als Text Bernhards galt“ (ebd.). 1006 Ebd. 1007  Her thun ein dein schwert / des du hast erzogen / und sich an die brust / die dein sun hat gesogen. 1008  Man darf annehmen, dass die Positionierung Christi auf der rechten (und damit „höherwertigen“ Seite) dessen Primat mit Blick auf seine Fürsprachepotenz unterstreicht; vgl. zu Christus als macht­voll­stem Fürsprecher Miedema, Following, 74: „Because of his unity with the Father, Christ was thought to be the most powerful intercessor between man and the Father;



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gekennzeichnet. Ihm zu Füßen eine Schar von Männern in der typischen Gebetsstellung, der Stifter wohl im Vordergrund. Wie seine Mutter hat auch Christus den Blick zu Gottvater erhoben, seine mit dem Nagelmal versehene Rechte scheint seine Seitenwunde öffnen zu wollen. Auch sein Spruchband lenkt den Fokus auf die Seitenwunde: „Vater, sieh an mein / Wunden rot / hilf den Men­schen / aus aller Not / durch meinen bitter’n Tod.“1009 Freilich lässt die Formulierung offen, ob mit „mein Wunden rot“ die Einzahl oder die Mehrzahl gemeint ist; meines Erachtens unterstreicht in jedem Fall die Gestik Christi die Zentralität der Seitenwunde. Dass der über einem Wolkenband thronende Weltenrichter gerade im Begriff zu sein scheint, den Bitten stattzugeben und das gezogene Schwert wieder in die Scheide zu stecken, insinuiert das ihn umgebende Spruchband: „Barmherzigkeit will ich all denen erzei­gen  / die da mit wahrer Reue von hinnen scheiden.“1010 In jener Holbeinschen Fassung des Inter­zessions­motivs agieren Maria und Christus gleichsam auf Augenhöhe – beide appellieren mit ihren heils­bringenden Verdiensten an die Barmherzigkeit Gottes  – um der Menschen willen. Viele andere Bild­bei­spiele dieses Typus zeigen jedoch wesentlich stärkere Abstufung zwischen Maria und Christus, bei der Maria sich zunächst an Christus wendet und nur dieser legitimiert scheint, zu Gott selbst zu spre­chen. Als prominentes Beispiel des Interzessionsbildes, das eine solche Abstufung zeigt, sei das so­ge­ nann­te „Mengot-Epitaph“ angeführt, das Berndt Hamm wie folgt analysiert: Ein frühes Beispiel einer solche Darstellung der Individualgerichtsszene findet man in der mittelfränkischen Zister­zienser­kirche Heilsbronn. Es ist ein Epitaphbild zum Gedächtnis an den Arzt Friedrich Mengot (gest. am 21. Januar 1370), das er wohl als Stifter zu Lebzeiten selbst in Auftrag gegeben hat […]. Er vertraut sich Maria mit den Worten an: „Ich bitte dich, gütige Jungfrau, jetzt verteidige mich!“ […] Der Ausdruck „verteidige mich“ (me defende), der aus der Gerichtssprache stammt, rückt Maria in die Rolle der Advokatin vor dem göttlichen Tribunal. Sie spricht zu Christus: „Weil du an diesen [Brüsten] gesogen hast, mein Sohn, erbitte ich Gnade für jenen“, d. h. für den Verstorbenen […]. Christus seinerseits wendet sich an Gottvater […] und bittet ihn: „Schau die Wunden an, Vater“, d. h. nimm mein Sühnewerk wahr, „und gewähre, um was dich meine Mutter inständig bittet.“1011

Die Seitenwunde Christi fungiert in dieser Darstellung in Wort und Bild als Signifikant und Garant der göttlichen Barmherzigkeit, auf welche sich der Einzelne im Partikulargericht verlassen darf, auch wenn er sonst keine weiteren Argumente zu einem günstigen Urteil vorbringen kann. Dem Bewusstsein der he was more influential than even his mother Mary (traditionally the ‚Mother of Mercy‘) and the other saints.“ 1009  Vatter sich an mein / wunden rot / helf den menschen / aus aller not / durch meinen bittern tod. 1010  Barmherzigkait will ich allen den erzaigent / die da mit warer reu von hinnen schaiden. Vgl. dazu auch Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 239 f. 1011  Hamm, Religiosität, 432.

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eigenen Sündenlast stand das Bewusstsein des Gnadengewichtes gegenüber, das sich nicht auf eigener Verdienstlichkeit und guten Werken, sondern allein auf Christus gründete.

3  Der verwundete Leib Christi im Fokus des ausgehenden Mittelalters – Verschiebungen, Voraussetzungen und Verbindungslinien In welchem Maße der verwundete Leib Christi, zumal seine Seitenwunde, ins Zentrum der religiösen Aufmerksamkeit des ausgehenden Mittelalters geraten ist, vermag bereits der flüchtige Blick auf die unter A.2 angeführten Textquellen, performativen und bild­lichen Zeugnisse aus dem 13. bis 15. Jahrhundert offenbart haben. Dass diese Schwerpunktsetzung ein besonderes Charakteristikum jener Epoche darstellt, dass an dieser Stelle einschneidende Verschiebungen stattgefunden haben und elementar ver­änderte theologische Voraussetzungen vergegenwärtigt werden müssen, soll an dieser Stelle noch einmal kurz memoriert werden. Dabei soll als Vergleichsmoment ein ein­schlä­gi­ger Text des Hochmittelalters, ein altenglisches Gedicht mit dem Titel The Dream of the Rood aus dem 10. Jahrhundert herangezogen werden, in welchem die Seitenwunde Christi im Zentrum steht. Eine freie deutsche Übersetzung der hier relevanten Passage könnte etwa lauten: Ich war ver­klebt mit Sünde, krank gemacht / vom Abschaum der Schuld, verderbt mit meinen Fehlern; / doch ich sah dieses wundersame Werk, glücklich und glorreich / mit glitzerndem Gold, freudig geschmückt,  / im Glanze schimmern: das Kreuz Christi.  / Noch durch das Gold hindurch / meine Augen nahmen wahr / eine uralte Verwundung, der Welt erste Wunde, / Purpur auf Gold, die Passion und die Glorie, / als Blut hervorbrach aus der rechten Seite des Kreuzesstammes.1012

Bereits in jenem hochmittelalterlichen Text begegnet die zentrale Wunde des Kreuzes­chri­stus: „Eine uralte Verwundung, der Welt erste Wunde“ (an ancient injury, the world’s first wound) – so lauten dort die Epitheta der Seitenwunde Christi. In jener poetischen Vision,1013 in welcher ein elender, unter der Sünde 1012  I was smeared with sin, diseased / With gangrene of guilt, foul with my faults; / Yet I saw this wondrous work, gay and glorious / With glimmering gold, joyfully jewelled, / Shimmer in splendour: the cross of Christ. / Still through the gold my eyes descried / An ancient injury, the world’s first wound, / Purple on gold, the passion and the glory, / As blood broke forth from the rood’s right side (Holder ­n ess, Anglo-Saxon Verse, 61, Z. 17–25). Das unter dem Titel The Dream of the Rood bzw. The Vision of the Cross bekannte angelsächsische Gedicht, das sich im Vercelli Book findet und damit in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts datiert wird, hat seine Wurzeln womöglich bereits im 7. Jahrhundert. Zur Geschichte des Gedichts sowie zu seinen literarischen Charakteristika vgl. ebd., 65–67. 1013  Im Hinblick auf den Charakter dieses Gedichts hält Graham Holderness fest: „Despite



3  Der verwundete Leib Christi im Fokus des ausgehenden Mittelalters

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leidende Mensch vom Kreuzesstamm selbst belehrt und getröstet wird, ist die Seitenwunde im Gegensatz zu den untersuchten Quellen des ausgehenden Mittelalters gerade nicht das verdichtete Signum des leidenden, gemarterten Gottessohnes. Sie ist vielmehr das Erkennungszeichen eines Hero­en. Die Rede von jener „uralten Verwundung“ weckt eher die Assoziation an einen ritter­lichen Helden denn an den leidenden Schmerzensmann. Der von der Sünde korrumpierte Betrachter, krank vor Schuld (smeared with sin, disaesed with gangrene of guilt, foul with my faults) schaut zwar eine Verwundung; doch er muss sich mühen, die Wunde erblicken (discern) zu können, so sehr ist sie eingebettet in schim­mern­des Gold und leuchtende Glorie, so sehr ist sie im Hegelschen Sinne aufgehoben in jenes purple on gold. Christus, der im Fortgang des Gedichtes durch den Kreuzesstamm (the rood) als Krieger (warrior) und Held (hero) bezeichnet wird, scheint selbst im Kreuzestod jenseits der Schrecken. Er wird als der unerschütterliche Herrscher gezeichnet, ebenso unbesiegbar, ja unbesiegbarer als der Held Beowulf aus dem gleichnamigen Epos, einem der Referenz­ texte des Gedichtes.1014 Welten liegen zwischen dieser hochmittelalterlichen Beschreibung des Christus am Kreuz und dem Christusbild, das im ausgehenden Mittelalter begegnet, aus jener Epoche also, auf deren Quellen sich die vorliegende Arbeit fokussiert.1015 Es ist ein tiefgreifender Perspektivwechsel, der den verwundeten Leib Christi am Kreuz aller heroischen Implikationen entkleidet und den Gläubigen die Möglichkeit eröffnet, Christus mit anderen Augen zu sehen. Unter jenem neuen Vorzeichen, in diesem neuen Licht erscheint die Seitenwunde nicht länger als Verwundung eines Helden, sondern wird als Spiegelbild wahrgenommen, in der der leidende, verwundete Mensch sich wieder­findet.1016 Die Verschiebung der Charakterisierung Christi vom Pantokrator zum berührbaren, „nahen Passionschristus“,1017 wie ihn Berndt Hamm in seinen its acknow­ledged poetic unity  – Richard Hamer aptly calls it ‚the finest, most imaginatively conceived and most original of the Old English religious poems‘ – the poem is in some ways a hybrid synthesis of diverse cultural, religious, and poetic discourses. Its formal organization echoes most of the different kinds of Anglo-Saxon poetry: the heroic (such as Beowulf ), the biblical paraphrase (Christ, Judith), the saint’s life (Elene), the elegy (The Wanderer, The Seafarer), the riddle (Swordrack, Beam), and the specimens of the so-called ‚gnomic‘ poetry“ (ebd., 66). 1014  Zu den Parallelen und den signifikanten Unterschieden zur paganen Dichtung vgl. ebd., 68–71. An­ders als Beowulf besiegt Christus schließlich auch den eigenen Tod. 1015 Jenen fundamentalen Paradigmenwechsel, der im Verlaufe des 12. Jahrhunderts zu einem so grund­legend veränderten Christusbild geführt hat, kann die kurze Anführung des angelsächsischen Gedichtes nur exemplarisch illustrieren – freilich könnte man etwa auf bildlicher Ebene eine Flut von hoch­mittel­alterlichen Darstellungen anführen, die Christus am Kreuz als den lebendigen, souveränen Weltherrscher zeigen. 1016  Das zunehmende Interesse an der Seitenwunde Christi mit Blick auf die benediktinische Traditions­linie hat in chronologischer Reihenfolge Jean Leclercq instruktiv dargestellt, wobei er konstatiert: „la dévotion envers la poitrine du Seigneur s’exprime en des textes plus nombreux et plus explicites“ (Leclercq, Sacre-coeur, 4). 1017  In seinen Ausführungen für die Entwicklung einer Theologie der „nahen Gnade“ führt

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Publikationen bezeichnet, ist meines Erachtens die wichtigste Voraussetzung für die so intensive und exten­sive Beschäftigung des ausgehenden Mittelalters mit der Seitenwunde. In der „Nahpräsenz des Schmerzensmannes“1018 kann der Fromme in neuer, fokussierter Per­spek­tive der Seitenwunde als Inbegriff des für ihn leidenden Passionschristus an­sich­tig werden. Es ist eine Entwicklung, deren Genese sicherlich bereits bei Bernhard von Clairvaux zu finden ist, der in seinen Sermones super Cantica Canticorum festhält, dass „die Erlösung nur möglich ist, wenn Gott Körperlichkeit annimmt“,1019 wenn der „unbegreifliche“ und „unzu­ länglich[e]“ Gott „begriffen werden“ will.1020 Das „Naherlebnis der Gnade“ wird, wie Berndt Hamm darlegt, vor allem durch „de[n] nackt­e[n] Körper des kindlichen Erlösers als auch – in noch weit höherem Maße – de[n] ent­blößte[n] gemarterte[n] Christuskörper der Passion“1021 greifbar und erlebbar. Aus dem fernen Gott des Verbotes „rühr mich nicht an“1022 wird jener Gott der nahbaren Umarmung: „Lege deine Hand in die Wunde meiner Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“1023 Während im Johannesevangelium nur wenige Verse diese beiden so gegensätzlichen Formen der Gottesbegegnung trennen, so liegen Jahrhunderte und ein tiefgreifender men­ta­litätsgeschichtlicher Wandel zwischen dem Hochmittelalter und dem ausgehenden Mittel­alter und ihren so unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Erlöser. Nicht nur der ungläubige Thomas wandelt sich durch die Berührung mit der Seitenwunde in einen fidelis, nein eine ganze Generation spätmittelalterlicher Glaubender findet in der Betrachtung, in der Versenkung in die Seitenwunde ihren genuinen Ausdruck von Reli­gi­osi­tät und Frömmigkeit. Die Verehrung der Seitenwunde, zentrales Merkmal jener Epoche, erscheint zum einen als eine Art Brennglas, in der sich die vielfältigsten Implikationen dieses veränderten Got­tes­bildes bündeln. Gleichzeitig ist es das Anliegen der vorliegenden Arbeit, auf bewusst thetisch und spielerische Weise der Frage nachzugehen, ob man die Seiten­wun­den­fröm­mig­keit zugleich als Fluchtpunkt betrachten könnte, von der aus verschiedene Ver­bin­dungs­linien zu weiteren Hamm an: „An erster Stelle ist die christologische Wende zu nennen, der oft beschriebene Wandel des Christusbildes vom triumphalen göttlichen Weltenherrscher hin zum menschgewordenen Erlöser, der dem armen, elenden Menschen als Kind in der Krippe und Passionsheiland gleich wird und ihn als minnevoller Bräu­tigam liebevoll umfängt“ (Hamm, Die „nahe Gnade“, 542). 1018  Ebd., 542. 1019  Bernhard von Clairvaux, zit. nach McGinn, Mystik, 257. 1020  „Unbegreiflich und unzugänglich war Gott, unsichtbar und unerdenklich. Jetzt aber wollte er begrif­fen werden, wollte er gesehen werden, wollte er gedacht werden. Wie? fragst du. Wie er in der Krippe liegt, auf dem Schoß der Jungfrau ruht […] oder wie er am Kreuz hängt, […] wie er dann am dritten Tage wieder aufersteht, den Aposteln die Male der Nägel als Siegeszeichen weist […]“ (Bernhard von Clairvaux, zit. nach ebd., 269). 1021  Hamm, Die „nahe Gnade“, 551. 1022  Vgl. Joh 20,17. 1023  Vgl. ebd.

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typischen Phänomenen der damaligen Religiosität und Fröm­migkeit1024 ausgezogen werden können. Wie bereits mit Blick auf die Auswahl der Quellen sieht sich auch an dieser Stelle ein Ansatz, der sich bewusst nicht auf ein Themenfeld spezialisiert, mit zwei Gefährdungen oder grundsätzlichen Anfragen konfrontiert: Zum einen mit der Tatsache, dass angesichts der Bandbreite der angesprochenen Themenfelder jeder Bereich lediglich angerissen werden kann – zum anderen mit der nicht abzuweisenden Frage, warum jener Kanon von Fragestellungen gewählt wurde und andere, ebenfalls relevante Facetten spätmittelalterlicher Religiosität keine Berücksichtigung finden.1025 Wenn man, der Denkbewegung eines spätmittelalterlichen Frommen folgend, von „außen nach innen“, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vorgeht, so sind es meines Erachtens folgende acht Themenfelder, die aufs engste mit der Devotion zur Seitenwunde korreliert werden können und auf welche sich die vorliegende Arbeit konzentriert: Zunächst soll die erstaunliche Heilsrelevanz des Körpers, die jene Epoche kennzeichnet, analysiert und mit der Seitenwunde als Inbegriff eines nahbaren, berührbaren, inkarnierten Gottes korreliert werden (B.1). Jene gesteigerte Aufmerksamkeit für den Körper erfuhr eine besondere Ausprägung und Zuspitzung in der Wahrnehmung des verwundeten Christuskörpers und einer Blut- und Wundenreligiosität (B.2), in welcher die Seitenwunde als Hauptwunde Christi freilich eine besondere Rolle spielte. Nicht allein der Christuskörper wurde als verwundet beschrieben, auch der Körper des Frommen konnte in respondierender Weise die Wundmale empfangen: Auch die virulenten Stigmatisierungsphänomene (B.3) sollen auf ihre Wechselwirkungen mit der Verehrung der Seitenwunde hin befragt werden. Auch für die fluiden Auffassungen und Darstellungen des Männlichen und Weiblichen (B.4) erscheint es weiterführend, die Bedeutsamkeit der Seitenwunde auf dem weiten Feld spätmittelalterlicher Geschlechterkonzepte zu untersuchen, auf welchem neben scheinbaren Sicherheiten auch Auflösung und Infragestellungen der Geschlechtergrenzen und -rollen begegnen. Es wird weiterhin zu fragen sein, wie das Verhältnis zwischen der seit dem 4. Laterankonzil gestärkten Eucharistiefrömmigkeit (B.5) und der Verehrung der Seitenwunde als Ursprungsort der Sakramente beschrieben werden könnte. Die vielfach beschriebene „Entdeckung der Liebe“ im 12. Jahrhundert und das 1024  Zum

stand.

Begriff der „Frömmigkeit“ siehe ausführlich und grundlegend Hamm, Gegen-

1025  In der Tat werden manche zentralen Themenbereiche wie etwa das spätmittelalterliche Bußverständnis bzw. das mittelalterliche Regelwerk der Buße nicht als eigenes Themenfeld betrachtet. Dies ist jedoch dadurch zu rechtfertigen, dass m. E. und wie zu zeigen sein wird, es vornehmlich der Vorstellungskomplex der Gnade ist, mit welcher die Seitenwundenfrömmigkeit in genuiner, unauflöslicher Verbindung steht. Zugleich wäre es ein lohnender Gegenstand einer eigenen Untersuchung, die Seitenwundenfrömmigkeit in ihrer Relation zum Bußwesen zu untersuchen. Auch die Wechselwirkungen zwischen einer intensivierten spätmittelalterlichen Marienfrömmigkeit und der Seitenwunde wären eine Analyse wert.

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A Einleitung

in den folgenden Jahrhunderten sich ausbildende unio-Streben der minnenden Seele (B.6) sowie die immer intensivere Fokussierung auf den liebenden und leidenden Christus der Passion (B.7) werden ebenfalls kurz skizziert und nach der Relevanz der Seitenwundenfrömmigkeit für die Thematik der Liebe und der Passion gefragt. Als letzter, gleichsam innerster, zentraler Themenschwerpunkt wird das Konzept der nahen Gnade (B.8) auf seinen inneren Zusammenhang zur gesteigerten Hinwendung zur Seitenwunde Christi hin analysiert. Jene Anordnung der Themenfelder von einem vermeintlichen „Außen“ zu einem ver­meint­lich „Inneren“ hat allerdings seine Tücken; eine durchgängige Logik oder gar eine ver­bind­liche „Richtigkeit“ der von mir gewählten Anordnung soll nicht behauptet werden und müsste vielmehr an einigen Punkten hinterfragt werden! Darüber hinaus wurde bereits darauf verwiesen, dass in der Wahrnehmung des ausgehenden Mittelalters gerade kei­ne scharfen Trennlinien zwischen Außen und Innen bestehen. Angesichts der Not­wendigkeit einer Einschränkung und Systematisierung der zu untersuchenden Themen­fel­der gilt auch hier, dass der vorliegende Ansatz, der an mittelalterliche Mnemotechniken erin­nern möchte, mir besonders geeignet zu sein scheint, die tastenden Suchbewegungen der vorliegenden Arbeit abzubilden. Meine Untersuchung möchte bewusst als konstruiert verstanden werden, beziehungsweise als spielerischer Versuch, nach den unterschiedlichen Konnotationen und Zuschreibungen der Seitenwunde Christi zu fragen, nach den Wechselwirkungen mit anderen Themen und Gegenständen einer Religiosität des ausgehenden Mittelalters. Als Leitmotiv steht dabei die Frage im Raum, ob die Seitenwundenfrömmigkeit eventuell gleichsam als Zuspitzung, Vertiefung oder Fortführung der so unterschiedlichen Facetten der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Frömmigkeitstheologie begriffen werden könnte. Diese Fragestellung soll im zweiten Hauptteil der Arbeit jeweils im Einzelnen entfaltet werden. Die unter A.2 breiter dargebotenen Quellen mögen, an vielen Stellen teilweise ergänzt und flankiert durch wei­tere Quellenbelege1026, bei diesem Unterfangen als Grundlage dienen.

1026 Die Gefahr einer Engführung der Ergebnisse durch die unausweichliche Quellenreduktion kann auf diese Weise nicht gebannt werden, aber so soll die überwältigende Vielstimmigkeit immerhin angedeutet werden, mit der sich derjenige konfrontiert sieht, der nach der Bedeutung der Seitenwunde Christi fragt.

B Die Devotion zur Seitenwunde Christi als Schnittfläche spätmittelalterlicher Frömmigkeitsströmungen 1  Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter 1.1  Der Körper des Frommen und der Leib Christi – Akteure auf der Bühne des Glaubens Le mystique reçoit de son corps propre la loi, le lieu et la limite de son expérience.1

Vertieft man sich in die Zeugnisse mittelalterlicher Frömmigkeit, kommt man nicht umhin, eine Allgegenwärtigkeit des Körpers zu konstatieren. Dabei treten dem Betrach­tenden zwei Akteure entgegen: Sowohl der Leib Christi als auch der Körper des Frommen. Beide spielten in der spätmittelalterlichen Religiosität eine zentrale Rolle. Auf vielfältige Weise begegneten jene beiden Protagonisten einander auf der „Bühne des Glaubens“, spiegelten sich gegenseitig und interagierten miteinander auf oft frappierende Weise. Folgt man dem französischen Jesuiten und Historiker Michel de Certeau in seiner Ein­schätzung des Christentums als einer „religion des corps manquant“,2 in welcher dem existenti­ellen Verlust des Leibes durch ständig neue „inventions“ des Körpers begegnet wird, so könnte man konstatieren, dass das ausgehende Mittelalter in besonderer Weise ver­sucht habe, jene „Abwesenheit des Leibes“, den „corps manquant“, den „fehlenden Kör­per“ durch „Praktiken einer ganz leibhaften und oft überraschend buchstäblichen Mime­sis zu rekonstruieren“.3 In besonderer Weise widmete man sich gerade im Kontext mystischer Texte dem Körper als Ort und Grenzort der Heilserfahrung, als „Medium der Be1 

De Certeau, Mystique, 877. De Certeau, zit. nach Teuber, Wundmale, 161. 3  Teuber, Wundmale, 162 sowie zum Umgang mit dem Abwesenden de Certeau, Mystic Fable, 81: „In the Christian tradition, an initial privation of body goes on producing institutions and dis­courses that are the effects of and substitutes for that absence […]. How can a body be made from the word? This question raises the other haunting question of an impossible mourning: ‚Where art thou?‘ These questions stir the mystics.“ 2 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

gegnung mit Gott“ und „Schnitt­fläche, auf der sich Jenseitiges und Diesseitiges begegnen“.4 Entgegen dem bisweilen immer noch begegnenden Vorurteil eines grundsätzlich leib­feind­lichen Christentums5 wurde trotz aller durchaus differenzierten und auch ambi­valen­ten Einschätzungen des Körpers6 als Ort der mystischen Begegnung7 und gleichzeitig An­griffspunkt der Versuchung, als Quelle der Qual8 ebenso wie als geliebter Gefährte und Hel­fer9 immer dezidierter die Auffassung der Zusammengehörigkeit von Leib und Seele ver­treten.10 Freilich ist jene Bedeutsamkeit des Körpers nur im Medium der Sprache übermittelt, der Körper nur im Kontext der Textkorpora greifbar. Angesichts dieser Tatsache kann und soll es nicht darum gehen, nach „dem Körper“ im ausgehenden Mittelalter zu fragen, sondern eine in meinen Augen wesentlich maßgeblichere Spur zu verfolgen: Welches Gewicht11 maßen Theologinnen und Theologen, Laien und Gebildete, Leserinnen und Bildbetrachter dem Körper im Kontext 4 So

Schreiner, Dimensionen, 16 in Anschluss an Ingrid Kasten. dazu Hentschel, Genese, 85–88; die von Hentschel entfaltete Vorstellung einer mittel­alter­lichen Verbannung des Körpers und seiner Verdammnis als fleischlich-böse und feindlich ist m. E. ebenso zu hinterfragen wie die These, erst in der Renaissance sei der Bruch mit der bis dato vor­herrschenden allgemeinen Körperfeindlichkeit erfolgt. Es ist wohl bereits das Mittelalter, an das Martin Luthers Wertschätzung der „Fleischlichkeit“ anknüpfen konnte; siehe dazu auch Frettlöh, Inkarnation, 187. Vgl. dazu auch das Lutherzitat, auf das sie rekurriert: WA 10/I, 1, 68,6f: Wyr kunden Christum nit ßo tieff ynn die natur und fleysch tziehen, es ist unß noch troestlicher. 6  Gerade der weibliche Körper stand durchaus im Generalverdacht, was sich etwa daran ablesen lässt, mit welcher Sorgfalt männliche Autoren die Unschuld und Reinheit ihrer weiblichen Schützlinge zu bele­gen versuchten. Die Beschreibung Elisabeths von Spaalbeeck durch Philipp von Clairvaux, die das wun­derhafte Ausbleiben normaler körperlicher Vorgänge beinhaltet und die Züchtigkeit ihrer gesamten Erscheinung beteuert, ist nur eines von zahlreichen Beispielen; vgl. dazu die einschlägigen Quellentexte unter A.2.2.1.2, bes. Philipp von Clairvaux, Vita, 378, Z. 6–8: „[…] so floss weder aus ihrem Mund Speichel und Spucke, noch aus ihren Nasenlöchern […] irgendeine Flüssig­keit.“ […] ita de ore ipsius nec saliva nec sputum, nec de naribus […] humor aliquis emanavit. Auf den Topos des Fehlens körperlicher Flüssigkeiten als Beleg der Heiligkeit hat Bynum in zahlreichen Publika­tionen immer wieder hingewiesen. Die Ambivalenz des Körpers als Agent innerhalb der Reli­gio­sität wurde vor allem dann deutlich, wenn Grenzlinien überschritten wurden, wie etwa im Falle des in jeder Hinsicht verstörenden und schamlosen Verhaltens der Angela von Foligno in der Öffent­lichkeit (vgl. dazu A.2.1.2). Der These Beate Hentschels, „das Mittelalter [habe] den menschlichen Körper in die Welt des Bösen und Teuflischen [verbannt]“, ist m. E. entschieden zu wider­sprechen; vgl. dazu Hentschel, Genese, 85. 7  Die mystische Begegnung mit Gott spornte den Glaubenden oftmals zu neuen körperlichen Buß­lei­stun­gen an; der Fall der Angela von Foligno zeigt jedoch exemplarisch, dass jene körperlichen Prak­tiken wie exzessives Fasten sich auch als Versuchung des Teufels erweisen konnten, die zurück­ge­wiesen werden musste; vgl. dazu A.2.1.2. 8  Zum Umgang mit Schmerz und Krankheitserfahrung vgl. etwa Signori, Körpersprachen, 555. 9  Vgl. dazu Bynum, Female Body, 188. 10  Ebd., 196 verweist auf die mittelalterliche Einsicht: „[P]erson is body as well as soul, body inte­grally bound with soul.“ 11  Vgl. nur die deutsche Übersetzung der englischen Publikation „Bodies that matter“ von Judith Butler mit „Körper von Gewicht“. 5  Vgl.



1  Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter

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des Heils bei? Und welche theologiegeschichtlichen Entwicklungen führten zu jener unbestreitbar erstaunlichen Gewichtung des Leiblichen? Eine Ursache der Omnipräsenz und Bejahung des Körpers, sei es in den religiösen Praktiken der unio mystica,12 in welcher der Körper gleichermaßen als Schauplatz und „Protagonist[…] des Dramas“ fungierte,13 oder in den Diskursen über körper­liche Askese, Eschatologie und Soteriologie,14 mag wohl in einem kirchen­poli­ti­schen Umstand zu suchen sein. Die Hochschätzung des Körpers, die bei zahlreichen Theo­lo­gen des Mittelalters evident ist, scheint in engem Zusammenhang mit der im 12. und 13. Jahrhundert virulenten Auseinandersetzung zwischen der Orthodoxie und den sogenannten Ketzern, vor allem den Katharern, zu stehen.15 Dem Dualismus dieser Gruppierungen, welcher die Materie unter das Gesetz des Bösen einordnete,16 galt es entschieden zu wider­sprechen, da eine Missachtung der Körperlichkeit folgerichtig auch eine Gering­schät­zung der Sakramente und die Infragestellung der leiblichen Auferstehung nach sich ziehen musste.17 Die Entscheidung des IV. Laterankonzils 1215, die 1274 in Lyon nochmals bestätigt wur­de, die leibliche Auferstehung als verbindliche Doktrin festzusetzen, wandte sich also de­zi­diert gegen eine Theologie, die das Heil ohne den Körper propagierte.18 Angela von Foligno etwa sprach von der Inkarnation Gottes in Christus als der Ursache der heilvollen Ge­mein­schaft des fleischlichen Menschen mit Gott: 12  Zur Bedeutsamkeit des Körpers in der unio mystica merkt Ingrid Kasten an: „Die unio mystica hat eine dynamische Struktur und steht in engem Zusammenhang mit religiösen Praktiken, an denen der Kör­per intensiv beteiligt ist. Der Weg zu Gott ist in der Regel als gestufter Weg konzipiert, er besteht aus der mystagogischen Vorbereitung durch Meditation und Gebet sowie im aktiven, körperlichen Nachvollzug der Passion Christi, in Werken der Barmherzigkeit, in der Askese, in Bußübungen, in körperlichen Qualen, in Selbstkasteiungen. […] Obwohl – oder gerade weil  – das zentrale Ereignis der Mystik die Vereinigung der Seele mit Gott ist, spielt der Körper dabei eine Hauptrolle. Denn um die unio zu realisieren, muß das mystische Subjekt den Körper gewissermaßen ‚aufheben‘, es muß ihn hinter sich lassen, aber um dies tun zu können muß es ein Bewußtsein von diesem Körper ent­wickeln, es muß ihn als solchen erst einmal konstruieren“ (K asten, Körperlichkeit, 99 f.). Auch bei Angela von Foligno ist, wie die Quellenanalyse des Memoriale gezeigt hat, der Körper selbst­ver­ständ­licher Agent der Buße; vgl. dazu Angela, Mem. I, Z. 116: „[…] habe ich mich bewegt, noch härtere Bußleistungen zu vollbringen.“ […] movi me ad faciendum magis aspere paenitentiam. 13 Vgl. K asten, Körperlichkeit, 102. 14 Vgl. Bynum, Fragmentierung, 186–188. 15 Vgl. Toellner, Körper des Menschen, 130: „Historiker halten neuerdings die eucharistische Frömmigkeit des 13. Jahrhunderts auch für einen Teil der allgemeinen theologischen Anstrengung, eine Alternative zum Dualismus der Katharer zu entwickeln.“ Zugleich gibt Toellner zu bedenken, dass bestimmte Erlasse des IV. Laterankonzils, welche etwa medizinische Behandlungen regle­men­tierten, durchaus den Vorrang der Seele vor dem Körper betonten; vgl. ebd., 136. 16 Vgl. Schulz, Mittelalterliche Vorstellungen, 60. 17  Noch im 16. Jahrhundert dringt Theresa von Avila (gest. 1582) auf die Hochschätzung der Menschheit Christi; anderenfalls sieht sie auch die Wertschätzung der Sakramente in Gefahr. Vgl. dazu Baier, Passions­betrachtungen (Bd. 1), 188. 18 Vgl. Bynum, Material Continuity, 52.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Und daraufhin verblieb die Seele in einzigartiger Freude, durch welche die Seele verstand, wie jener Mensch, nämlich Christus, im Himmel steht und auf welche Weise wir schauen, wie dieses vergängliche Fleisch in eine Gemeinschaft mit Gott gebracht wird.19

Der Körper hatte Konjunktur – was sich auch an den innovativen Körperdiskursen der Zeit, wie zum Beispiel der Embryologie, oder an Spekulationen über die Beschaffenheit der Auf­er­stehungsleiber ablesen lässt.20 Auch das innerliche Ringen der unterschiedlichen Orden um die rechte Umsetzung der asketischen Mönchsideale, um die cura corporis, welche ganz alltägliche Bereiche der Hygiene, der Schlafdauer, des Verhaltens im Krankheitsfall und andere, den Körper betreffende Fragestellungen tangieren konnte,21 ist diesem regen Dis­kurs über den Körper zuzurechnen. Eine weitere Erscheinung spätmittelalterlicher Frömmigkeit, die den Körper ins Zentrum rückte, war der Umgang mit „heiligen Körpern“, der Reliquienkult. Eine eingehende Be­schäftigung mit diesem Bereich würde an dieser Stelle zu weit führen;22 dennoch ist es auf­schlussreich, dass die Reliquien „weit mehr als Erinnerungshilfen für ein frommes An­ge­denken [darstellten]; sie waren die Heiligen selbst“.23 Der spätmittelalterliche Glaube erscheint somit als einer, „dessen Kern spirituell-soma­ti­sche Erfahrungen bildeten“.24 Beides  – innere compassio und äußere imitatio  – war nicht von­einander zu trennen.25 Philipp von Clairvaux 19  Angela, Mem. VI, Z. 239–241: Et ex tunc remansit anima in una laetitia, qua comprehendit anima, qualiter iste homo, scilicet Christus, stat in caelo, videlicet quomodo itam carnem nostram videmus unam societatem esse factam cum Deo. 20 Vgl. Bynum, Female Body, 189 f. Dabei konnten diese Themenbereiche auch miteinander ver­bun­den werden: „Viele der großen Theologen des 13. Jahrhunderts (z. B. Albertus Magnus, Giles von Rom, Richard von Middleton) beschäftigten sich sowohl mit der Embryologie als auch mit der Auf­erstehung des Leibes und stellten ausdrücklich eine Verbindung zwischen beiden Themen her, da beide aus der Frage nach Natur und Identität des menschlichen Individuums resultierten. Thomas von Aquin vertrat die Ansicht, daß Fragen der Psychologie, Embryologie und Eschatologie nur zusammen lösbar seien“. Vgl. auch dies., Material Continuity, 53–56. Angenendt spricht von einer über­wiegend physizistischen Auffassung der Auferstehung des Leibes im Mittelalter: vgl. Angenendt, Religio­sität, 724. Man ging im Allgemeinen davon aus, dass der Leib ebenso wie die Seele in der Ewig­keit Lohn oder Strafe empfängt; vgl. dazu Bynum, Fragmentierung, 194 sowie dies., Why all the Fuss, 14. 21 Vgl. Schulz, Mittelalterliche Vorstellungen, 56 f. 22  Vgl. etwa die Ausführungen zur Bedeutung der Heiligen und der den Menschen als Heilsmedium zur Ver­f ügung stehenden Reliquien als „sign of triumph“ und „sources of health under the greatest health-giving banner of all, the Cross“ bei Binski, Medieval Death, 18. 23  Siehe ebd. Binski führt weiter aus: „Der Reliquienkult war nur eine Form der mittelalterlichen Huldi­gung an den Körper als Ort des Heiligen; auch die Körper der Lebenden erfuhren Beachtung. Dabei ging es teilweise recht drastisch zu. So spuckten oder bliesen Heilige anderen in den Mund, um sie zu heilen oder der Gnade teilhaftig werden zu lassen. Kranke verlangten nach dem Badewasser von Men­schen, die im Ruf der Heiligkeit standen, um es zu trinken oder selbst darin zu baden“ (ebd., 150). 24  Ebd., 157. 25  Paradigmatisch für jene Haltung könnte Franz von Assisis äußere Nacktheit als Ausdruck seines inneren Armutsstrebens angeführt werden; vgl. Bynum, Holy Feast, 98 f.

1  Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter



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bringt dieses Faktum in seiner Vita über Elisa­beth von Spaalbeeck auf eine griffige Formel: „Ebenso mit dem Herzen wie mit dem Körper“ (tam corde quam corpore).26 Selbstverständlich hegten zahlreiche Theologen des ausgehenden Mittelalters auch Miss­trau­en gegenüber dem Körper, zumal wenn er im Zusammenhang mit weiblichen Visio­nen und weiblichem Erleben stand.27 Trotz der durchaus ambivalenten28 Sichtweise auf den Körper wurde dessen Bedeut­sam­ keit nicht in Abrede gestellt, wie etwa Aussagen des Ludolf von Sachsen belegen. Zwar ging dieser davon aus, dass die Sinne und Glieder des Menschen durch die Sünde ver­wun­det und so letztlich der gesamte Leib des Menschen auf Grund seines verderblichen Lebens­wandels erkrankt sei29 – zugleich jedoch bedurfte der Mensch als sinnliches Wesen des Sakraments als „sinnlichem Heilmittel“.30 Nachgerade in den Texten der sogenannten Erlebnismystik, konnten die Sinne des Menschen als Rezep­toren des Göttlichen angesehen werden: „[…] auch die Sinne – Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken – und Bewegungen – Springen, Tanzen, Fliegen, Schweben, Auf­steigen, Sinken  – haben in der Versprachlichung der unio eine konstitutive Bedeu­tung.“31 Stell­vertretend für die zahlreichen Beschreibungen von Sinneseindrücken im Kontext von re­ligiö­ser Schau und Ekstase mag eine Vision aus dem späten 13. Jahrhundert genannt werden, in welcher die französische Nonne Margarete von Oingt sich als vertrockneten Baum sieht, der Blüten treibt, als er von einem Fluss, der Christus darstellt, umspült wird; auf den Ästen des Baumes erblickt Margarete die Namen der fünf Sinne des Menschen: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Berühren.32 Die Begegnung mit Christus, so will es scheinen, ergreift den Glaubenden 26 

Philipp von Clairvaux, Vita, 371, Z. 3. von Augsburg beispielsweise bezeichnete somatische Visionen von Frauen spöttisch als „erotischen Kitzel“; vgl. Bynum, Fragmentierung, 157. 28  Das Stichwort Ambiguität verhandelt auch Simons, Reading, 23. 29  „Er [sc. der Mensch] war erkrankt am ganzen Körper, weil er ein weltliches Leben führte und einen nichtigen Lebenswandel.“ Erat infirmus in toto corpore, quia habebat vitam mundanam et conversationem vanam (Ludolf, zit. nach Baier, Passionsbetrachtungen [Bd. 3], 524). 30 „Der Mensch ist krank, seine Krankheit aber ist die Erbsünde. Der Ursprung jener Schuld aber, wenn­gleich sie aus der Zustimmung des Verstandes ihren Anfang nahm, ergriff die Gelegenheit aus den Sinnen des Fleisches. Aus diesem Grund also, damit das Heilmittel der Krankheit entspreche, ist es günstig, daß dieses nicht vollständig geistig ist, sondern vielmehr auch etwas von sinnlichen Spuren habe, so daß, ebenso wie das Sinnliche Anlaß war für den Fall der Seele, ebenso den Anlaß zu deren Er­hebung darstelle.“ Aegrotus homo est, morbus autem orginalis culpa est. Origo vero illius culpae, licet principaliter fuerit ex consensu rationis, occasionem tamen sumpsit ex sensibus carnis. Ad hoc ergo quod medicam respondeat morbo, opportuit quod non tantum esset spiritualis, verum etiam aliquid haberet de sensibilibus signis; ut sicut sensibilia fuerunt animae occasio la­bendi, ita essent ei occasio resurgendi (Ludolf, zit. nach Conway, Vita, 8). 31  K asten, Körperlichkeit, 97. Bynum, Holy Feast, 151 merkt dazu an: „The mystical writer Ru­dolph Biberach (d. ca. 1350) pointed out that sapientia (wisdom, good taste) and sapere (to taste or savor) are related etymologically: ‚to taste‘ is to know. As William of St. Thierry put it in the twelfth century: ‚[…] gustare, hoc est intelligere‘.“ 32 Vgl. dies., Fragmentierung, 159. Die Vision der Margarete von Oingt wird auch bei Kurt 27  David

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auch in seinem sinnlichen Sein, ja sie bewirkt mithin die Intensivie­rung und Vervollkommnung der menschlichen Sinne. Die Liebe zu Gott konnte somit auch den Körper des Liebenden ergreifen, wobei der Leib jedoch nicht, wie in den Visionen, ausschließlich als passiver Empfänger, gleichsam als Ein­gangstor fungierte. Im Kontext der conformatio kam dem menschlichen Körper viel­mehr die Rolle des aktiven Protagonisten zu; er diente als Ausdrucksmittel der inneren Re­gungen.33 Das Leiden Christi, welches in der representatio als ein präsentisches ver­standen wurde, vergegenwärtigte sich der Fromme in der imitatio mittels seines Körpers: Nicht nur der psychologische Aspekt in der recordatio, der „Beherzigung“, war von Be­lang; auch durch somatische Mimesis galt es, sich Christus „konform“, gleichförmig zu machen.34 Dem realen, körperlichen Schmerz des Passionschristus galt es nicht nur durch den Seelenschmerz der compassio zu antworten. Auch der eigene Körper wurde in die Marter Christi mit hineingenommen und gleichsam transformiert, wie es bei Angela von Foligno deutlich wird: „Bei jenem verflüssigenden Anblick wurden ihre Eingeweide durch ein so großes Mitleiden durchbohrt, dass es so scheint, als wäre ihr ganzer Sinn und ihr ganzer Körper wahrhaft in die Schmerzen des Kreuzes verwandelt.“35 Selbst Ludolf von Sachsen stellte – trotz seiner bereits beschriebenen Skepsis gegenüber dem Leib als sündenbehaftet – die Forderung, dass die compassio nicht nur eine spiri­tu­elle, sondern auch eine körperliche Dimension aufweisen solle.36 Der Körper des Frommen spielte eine Rolle! Dabei konnte die somatische Eigen­wahr­neh­mung völlig gegensätzliche Pole umfassen: Das Erleben absoluter Leichtigkeit, Agili­tät und Beweglichkeit findet sich in den einschlägigen Texten ebenso wie die Schilderung voll­ständiger Hilflosigkeit und Lähmung. Bisweilen erscheint dabei der Körper als voll­stän­dig deckungsgleich, als Spiegelbild der inneren Empfindungen. Die innere Erleuch­tung und die Erhebung ihrer Seele (anima levata et illuminata) erlebt etwa Angela von Foligno so, als stünde sie Ruh erwähnt; leider war es mir nicht möglich, des Quellentextes selbst habhaft zu werden; vgl. immerhin Ruh, Mystik (Bd. 3), 175–177. Die Relevanz sinnlicher Wahrnehmung findet sich sehr häufig: In einer ihrer nächtlichen Versenkungen in die Wunden Christi beschreibt etwa Gertrud von Helfta den Austausch der Kreuzesnägel durch duftende Gewürznelken (garioflos redolentes) – wenn auch offen blei­ben muss, ob damit eine tatsächliche Sinneswahrnehmung ihres Geruchssinnes verbunden war. 33  Siehe dazu Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 3), 492 f. 34 Vgl. Angenendt, Religiosität, 138. 35  Ad cuius liquefactivum conspectum tanta compassione transfixa sunt sua viscera, quod vere in crucis dolores videbatur tota mente et corpore transformata (Angela, Ins. IV, Z. 51–53). 36  „[…] aber nicht allein im Herzen, sondern vielmehr auch durch den Körper ist mit Christus mitzuleiden.“ […] sed non solum corde verum etiam corpore compatiendum est Christo (Ludolf, zit. nach Elze, Ver­ständnis der Passion, 130 f.). Riehle, Studien, 148 macht (in seiner Besprechung der englischen Mystik) zugleich darauf aufmerksam, dass bei der Lektüre jener von sinnlichen Metaphern durch­drungenen Texte auch an die seit Origines bestehende Vorstellung geistiger Sinnesorgane gedacht werden muss.



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hoch aufgerichtet auf der Spitze ihrer großen Zehe,37 Freude (laetitia), Beweglichkeit (agilitate corporis) und Gesundheit (sanitate corporis) erfüllen ihren Körper.38 Dass sich jene Erfahrungen allein der Gottesbegegnung und nicht dem eige­nen Vermögen oder irgendeiner Form von Leistungsfähigkeit verdanken, ist den mittel­alterlichen Autorinnen besonders wichtig.39 Selbst in Texten, in denen es nicht vorrangig um eigene somatische Erfahrungen geht, findet man doch ein Vokabular, das sich des Körpers als Mittel der Veranschaulichung bedient. Der Gebrauch körperlicher Metaphern war keineswegs weiblichen Autorinnen vor­be­halten oder ein Randgruppenphänomen. Zahlreiche namhafte männliche Autoren und Autoritäten, wie Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153), Aelred von Rievaulx (1110–1167) oder Johannes Tauler (um 1300–1361) benutzten eine „Sprache des Körpers“, um ihre religiösen Erfahrungen in Worte zu fassen.40 Der in der vorliegenden Arbeit bereits näher in den Blick genommene Kartäuser Ludolf von Sachsen wählt für seine zentrale Erlösungsvorstellung im Rekurs auf Bernhard von Clairvaux die soma­tische Metapher der „Eingeweide des Herrn“.41 Die sieben Körperhaltungen im Gebet, welche Petrus Cantor (gest. 1197) im 12. Jahr­hun­dert sieben Hauptgebeten zuordnete,42 das Beispiel des Heinrich Seuse, welcher nicht nur asketische Übun37  „[…] aber in dieser größten Erleuchtung stand ich […] auf der Fußspitze der großen Zehen.“ […] sed in ista maxima illuminatione steti […] in summitate digitorum grossorum pedum (Angela, Mem. VI, Z. 305–307). 38  Auffällig ist die wiederholte Anführung des Genitivs corporis; vgl. ebd. 39 Man denke nur an die eigens eingefügte Anekdote, die Elisabeth von Spaalbeecks Schwäche von Kin­des­beinen an dramatisch in Szene setzt; vgl. dazu bereits A.2.2.1. 40  Dass auch männliche Autoren sich einer durch und durch somatischen Sprache bedienten, um von der Begegnung mit Gott zu sprechen, zeigen allein schon die Predigten über das Hohelied des Bernhard von Clairvaux, aber auch die Fronleichnamspredigten des Johannes Tauler. Auch Guerric von Igny (gest. ca. 1157) benutzt Bilder von Schwangerschaft und Geburt, um das Passionsgeschehen zu um­schrei­ben. Aelred von Rievaulx spricht von den entblößten Brüsten Christi am Kreuz, aus welchen süße Milch strömt; vgl. dazu etwa Bynum, Jesus as Mother, 120–123. 41  Vgl. dazu Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 25 f.: „Aber ich nehme vertrauensvoll das, was mir aus mir selbst gebricht, mir aus den Eingeweiden des Herrn, weil sie überfließen von Barm­herzig­keit.“ Ego vero fidenter quod ex me deest, usurpo mihi ex visceribus Domini; quoniam misericordiae affluunt. 42 Vgl. Angenendt, Religiosität, 543 f.: „Zu beten war mit Mund, Haltung, Körper und Herz. Für die Gebets­praxis kennt Petrus sieben Körperhaltungen, die auch bildhaft mitgeteilt werden: 1. Stehen mit hoch­gereckten Armen und zusammengelegten Händen als Zeichen für das erhobene Herz; 2. Stehen mit in Kreuzform ausgebreiteten Armen; 3. wiederum Stehen mit vorgereckten Armen und zusam­men­gefalteten Händen; 4. Niederknien auf die Erde; 5. SichNiederwerfen auf die Erde, so daß das Ge­sicht die Erde berührt; 6.  Stehen mit gesenktem Haupt bzw. Oberkörper, so wie es sich vor Altären ge­bührt; 7. Knien und Vorbeugen, wobei die Ellbogen den Boden berühren. Inhaltlich empfiehlt Petrus sieben Hauptgebete: das Vaterunser, Gebete zur Trinität, Gebete zu Jesus Christus (zur Mensch­werdung, Erscheinung, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt), zum Heiligen Geist, zu Maria und besonders das ‚Magnifikat‘, zuletzt den Engelsgesang des ‚Gloria‘ und das Glaubens­be­kenntnis. Bemerkenswert ist die strikte ‚Formgerechtigkeit‘, sowohl in der Körperhaltung wie im Geistes­vollzug.“

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gen des Fastens, Wachens und Schweigens praktizierte, sondern während eines Zeitraumes von acht Jahren ein Holzkreuz mit spitzen Nägeln auf dem Rücken trug43 und sogar das Jesus-Monogramm in seinen Körper einschrieb,44 belegt, dass der Kör­per nicht nur in den religiösen Texten thematisiert wurde, sondern auch Schauplatz „leib­haftiger“ religiöser Erfahrungen sein konnte.45 In jenem Akt der compassio, der als Antwort auf die passio Christi zu verstehen ist, ant­wor­tet der Fromme einem körperlichen Geschehen in der Sprache des Körpers, seines eige­nen Körpers.46 Nicht die Seele allein, sondern die Seele vereint mit dem Körper, wurde durch das Heilsgeschehen angesprochen. Bereits Thomas von Aquin (1225–1274) erachtete den Körper als unverzichtbar für das Personsein des Menschen: „The soul is not the full man“;47 die Theologin Mechthild von Hackeborn (1241–1299) konnte sich in ihrer Vision von der göttlichen Bejahung des Fleisches nicht zuletzt auf das erste Kapitel des Johannesevangeliums berufen.48 Körper und Seele wurden bereits seit Hugo von St.  Viktor (um 1097–1141) als Spiegelbilder verstanden: Nur weil Leib und Seele eine Einheit bilden, besteht nach Auffassung mittelalterlicher Theologen und Literaten die Mög­lichkeit, an Bewegungen des Körpers (motus corporis) Bewegungen der Seele (motus animae) abzulesen, aus dem Gesicht ( facies) einen Spiegel des Herzens (speculum cordis) zu machen und die Haltung des Körpers (gestus corporis) als Zeichen innerer Gesinnung (signum mentis) zu betrachten.49 Von der Gebetshaltung in Kreuzform spricht auch Ludolf von Sachsen; vgl. dazu bei Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 1), 114. Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit, 55 ver­weist auch auf die kreuzesförmige Gebetshaltung der irischen Mönche oder auf die Einnahme einer kreuz­förmigen Körperhaltung der Lukardis von Oberweimar. 43 Vgl. Himmelmann, Leidensverständnis, 285. Die Passionsmimesis konnte freilich auch den Alltag durch­dringen und alltägliche Verrichtungen und Arbeitsgänge unter das Vorzeichen der passio bzw. der compassio stellen. 44  Vgl. dazu Göttler, Vom süßen Namen, 295: „Er gravierte die Buchstaben IHS in seine Brust ein, um den heiligsten Namen über seine Körperhaut, die ihm als Schreibfläche diente, in die Seele eindringen zu lassen.“ 45  Auf die Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Haltung hat etwa Bourdieu, Sozialer Sinn, 135 f.: eindrücklich hingewiesen: „Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er Traurigkeit mimt […], wie schon Platon feststellte.“ Die innere Freude der Gottesbegegnung konnte auch den Leib ergrei­fen, wie etwa das Memoriale der Angela von Foligno belegt: „[…] sofort wurde die Seele durch eine Liebe entzündet und alle Glieder des Körpers empfanden [mit] die größte Freude.“ […] subito accensa fuit anima uno amore, et omnia membra corporis sentiebant cum maxima laetitita (Angela, Mem. VI, Z. 234). 46  Vgl. dazu Lentes, Inneres Auge, 207. Extreme Formen des Mimesisstrebens finden sich bei Ange­la von Foligno, welche in ihrem Wunsch nach einer möglichst schändlichen Todesart nach Über­bie­tung der Passion Christi strebt: „[…] möge er mich sterben lassen durch einen viel schändlicheren und längeren Tod.“ […] faceret me mori magis viliter et cum longa mortem. Angela, Mem. I, Z. 160. 47  Bynum, Female Body, 192. 48 So Hentschel, Genese, 85–87. Auch eine weitere Theologin dieses Konvents, Gertrud von Helfta, propa­gierte ungeachtet ihrer eigenen asketischen Praktiken keine generelle Leibfeindlichkeit; vgl. dazu Bynum, Jesus as Mother, 194. 49  Schreiner, Metaphorik, 89.

1  Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter



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Wenn Elisabeth von Spaalbeecks Leib die Kreuzform einnimmt, so handelt es sich um eine Form des verkörperten Passions­gebetes.50 All dies lässt den Schluss zu, dass der Körper im Glauben nicht gleichgültig sein konnte – sondern gleich gültig!51 Die im Verlauf des 13. und 14. Jahrhunderts immer enger gedachte Synthese von Seele und Leib,52 die These „gustare est intellegere“53, räumte dem Körper und einer durch und durch somatisch geprägten Frömmigkeit eine Zentralstellung ein. Dabei waren alle äußeren, somatischen Übungen jedoch nie isoliert und um ihrer selbst willen durch­zu­f ühren – sie waren vielmehr genuiner Ausdruck und Ausfluss des Inneren.54 Mehr noch: Wo die innere Regung sich nicht einstellen wollte, konnte sogar der Leib stell­vertretend für die Seele agieren und mit „körperlichen Gebärden der Frömmigkeit, im Ausstrecken der Hände und 50 

Vgl. dazu die ausführliche Darlegung des Quellentextes unter A.2.2.1. Allerdings gab es auch harsche Zurückweisungen des Körpers. Er konnte auf dem Wege der unio von Gott und Seele auch als beklagenswertes Hindernis und Ballast wahrgenommen werden, ja sogar als Feind (vient) und Mörder (morder) wie etwa in einer Passage des „Fließenden Lichts der Gottheit“ von Mechthild von Magdeburg deutlich wird: „Dann führt er sie weiter an einen abgeschiedenen Ort […] denn er will allein mit ihr ein Spiel spielen, das weder der Leib kennt noch der Bauer hinter dem Pflug […]. Wenn der unendliche Gott die grundlose Seele in die Höhe emporhebt, so fällt durch dieses Wunder das Irdische von ihr ab […]. Wenn das Spiel am allerschönsten ist, dann muss man es lassen. Dann sagt der blühende Gott: ‚Jungfrau, ihr müsst euch verabschieden.‘ Da erschrickt sie: ‚Herr, nun hast du mich hierher so sehr entrückt, dass ich dich in meinem Leib auf keine Weise loben kann – es sei denn so, dass ich meine Verbannung durchleide und gegen meinen Leib ankämpfe.‘ […] Da sagt der Leib: ‚Ach Herrin, wo bist du denn gewesen? Du kommst so liebenswert zurück, schön und kraft­voll, frei und geisterfüllt! Dein Fernsein hat mir meinen Genuss, meine Ruhe, meine Schönheit und all meine Kraft geraubt!‘ Da sagt sie: ‚Schweig, Mörder, lass dein Jammern! Ich will immer vor dir auf der Hut sein! Mag mein Feind auch verwundet sein – das stört uns nicht; ich freue mich darüber!‘“ (So zúhet er si fúrbas an ein heimliche stat […] wan er wil alleine mit ir spilen ein spil, das der lichame nút weis noch die doerper bi dem […] wenne der endelose got die grundelosen sele bringet in die hoehin, so verlúret sú das ertrich von dem wunder […] Wenne das spil allerbest ist, so muos man es lassen. So sprichet der bluejende got: Juncfrov, ir muessent úch neigen. So erschrikket si und beweinet ir ellende. So sprichet si: „Herre, nu hast du mich hie so sere verzogen, das ich dich in minem lichamen mit keinem orden mag geloben, sunder das ich ellende lide und gegen dem lichamen strite.“ […] So sprichet der licham: „Eya frovwe, wa bist du nu gewesen? Du kumest so minnenklich wider, schoene und creftig, fri und sinnenrich. Din wandelen hat mir benomen minen smak, rúchen, varwe und alle min maht.“ So sprichet si: „Swig, morder, la din klagen sin! Ich wil mich iemer huetten vor dir. Das min vient verwundet si, das wirret uns nút, ich froewe mich sin.“ Mechthild, Das fließende Licht, Buch I, Kapitel 2, 23, Z. 9–11). Vgl. dazu auch Hollywood, Soul, 62. 52 Vgl. Bynum, Female Body, 188. 53  Dies., Holy Feast, 151. 54  Dies unterstreicht etwa Lentes, Andacht, 30: „Außen und Innen gehörten zusammen, und das äußere Verhalten war dadurch in seiner Bedeutung nicht hoch genug zu veranschlagen. Ent­sprechend stand die asketische Übung nicht isoliert, sondern in engem Wechselverhältnis zum inneren Menschen.“ Auf die in im ausgehenden Mittelalter immer stärker werdende Betonung des Innerlichen ver­weist Lentes im Folgenden; vgl. dazu ebd., 31 f. An dieser Stelle sei auch noch einmal an die Praxis des Küssens der Seitenwundendarstellung auf den arma Christi-Darstellungen (A.2.3.3) erinnert. 51 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

im Erheben der Augen zum Gekreuzigten, im Schlagen der Brust, im Beugen der Knie“55 in die Bresche springe. So tröstete etwa Heinrich Seuse in seiner Schrift Horologium Sapientiae jene, denen es an der „Süßigkeit des Affekts“ man­gelte, nicht zu verzweifeln, sondern das „Sich-Ausstrecken bis in den Körpergestus hinein“ zu praktizieren,56 um so durch das Agieren des Körpers die fehlende contritio zu ersetzen. Doch auch dort, wo die Seele, das Innere des Menschen, Gott im Affekt Antwort zu geben ver­mochte, wurde dem Leib Beachtung zuteil, galt es doch, dem inkarnierten Gott in der als Seele und Körper geschaffenen Kreatürlichkeit zu begegnen.57 Der Körper des Men­schen konnte somit ganz selbstverständlich als Ort der Einschreibung der erlösenden Botschaft, als Ort der „Vergegenwärtigung“ des Heils und Erinnerung des fleisch­ gewor­ denen Wortes (Joh 1,14) in die Pflicht genommen werden.58 Das Beispiel der Elisabeth von Spaalbeeck, deren Körper als Zeugnis des Passions­chri­stus, als Transparent, als „Lektionar“59 der Heilsbotschaft gelesen 55 Vgl. dazu die Zitation Seuses sowie die deutsche Übersetzung der Passage aus dem Horologium Sapi­en­tiae (Buch 1, Kapitel 14) bei Hamm, Wollen und Nicht-Können, 209 (mit Anm. 59). 56  Ebd., 129 f. 57  Freilich begegnen in zahlreichen Texten auch Körper, die sich den „normalen“ Gesetzmäßigkeiten zu ent­ziehen scheinen und atypisch agieren: Etwa dann, wenn körperliche Vorgänge wie Schlucken, Ver­dau­en, Schwitzen etc. im Kontext frommer Praktiken ausbleiben; vgl. nur die einschlägigen Beispiele bei Bynum, Holy Feast. 58  Largier, Lob der Peitsche, 45 f. hält mit Blick auf die Bedeutsamkeit des Körpers fest: „Durch die Übungen, durch die Ritualisierung der Existenz – streng geregelter Zeitablauf, Gebete, körperliche Praktiken der Askese – wird schließlich auch der versprochene, in der Zeit noch nicht vollständig ein­gelöste Sinn des Evangeliums in den Körper und ins zeitliche Sein des Menschen eingeschrieben. Der Körper ist, insbesondere in dem seit dem hohen Mittelalter verbreiteten Konzept der Nachfolge Christi und der Imitation seines Leidens, Träger dieses Versprechens, auf dessen Erfüllung der Mensch wartet. […] Die geleistete Übung – jede spirituelle und asketische Übung – ist als Erin­nerungs­arbeit zu verstehen, als Memorialgeste, in der die Botschaft der Schrift und das Leiden Christi ver­gegenwärtigt werden. Dabei meint Vergegenwärtigung nicht eine darstellende Wissensform, sondern eine subjektive und objektive Transformation, in der die Schrift dem Leben des Gläubigen durch spirituelle Praktiken – Lektüre, Gebet, Gesang, Liturgie, Askese, ja durch den Ablauf des Tages und des Kirchenjahres eingeschrieben wird. Der geheime Sinn der Schrift, der das rettende Moment des Lebens Christi und des göttlichen Heilsversprechens beinhaltet, wird so im Körper des Gläubigen gegenwärtig.“ 59  „[…] wie anstelle der Lesungen erzählt sie durch ihre Gesten den Beginn der göttlichen Passion.“ […] quasi pro lectionibus, in suis gestis texit exordium Dominicae passionis (Philipp von Clairvaux, Vita, 364, Z. 30 f.). Auf Elisabeths besondere Funktion des Lehrens für die Ungelehrten wurde bereits hingewiesen, hier sei noch einmal auf die einschlägige Textpassage verwiesen: „[…] weil nicht auf Tierhäuten oder Papieren, sondern in den Gliedern und dem Körper unseres berühmten Mädchens, gleichsam wie [auf ] einem lebendigen und geöffneten Veronikatuch, vermag der unwis­sen­de Mensch ebenso wie der des Lesens Kundige ein lebendiges Bild und eine belebte Geschichte der Errettung lesen.“ […] cum non in membranis aut chartis, sed in membris et corpore memoratae nostrae puellae, scilicet vivae et apartae Veronicae, suae salvationis vivam igaminem et redemptionis animatam historiam sicut litteratus ita valeat legere idiota (ebd., 373, Z. 11–14). Allerdings ist mit Blick auf Elisabeths Passionsperformanz darauf hinzuweisen, dass ihr gezielter Gebrauch von Gesten noch einmal als eigenständiges



1  Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter

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wurde, mag ein Spezial­fall absoluter Mimesis dargestellt haben – und doch bestand diese Möglichkeit in abge­stufter Weise für alle Glaubenden. Indem man den Körper als autonomen Agenten auf der Bühne des Glaubens ernst nahm, indem man anerkannte, dass nicht alles sagbar sein muss, ermangelt es dem ausgehenden Mittel­alter an jenem Logozentrismus, der in späteren Jahrhunderten immer wieder die Frömmigkeit beherrschte. Oftmals erscheinen dabei jene beiden Körper – der Leib Christi und der Leib des From­men  – als reziprok, als Spiegelbilder, welche unter dem Vorzeichen eines entscheidenden Para­ doxons stehen: Der menschlichen Verwundung durch die Sünde korrespondiert die heil­same und heilbringende Verwundung des menschgewordenen Gottes. Die weit­ver­brei­teten „Gliedergebete“, die sich bereits bei Ludolf von Sachsen, aber auch noch bei Johannes von Paltz (um 1445–1511) im 15. und frühen 16. Jahrhundert finden lassen, legen von dieser entscheidenden Grundannahme Zeugnis ab. Es ist gerade das ambivalente Feld des Somatischen, das prädestiniert scheint, die Ambi­va­lenz, das scheinbar widersprüchliche Glaubensaxiom abzubilden: Verwundung schafft Heil. Die medizinische Anwendung der Speerbildchen (vgl. A.2.3.6) bei körperlichen Gebrechen ist nur eine der zahlreichen praktischen Umsetzungen jenes Axioms. In Anbetracht der herausragenden Relevanz des Körpers in Fröm­mig­keit und Theologie des ausgehenden Mittelalters möchte ich abschließend zwei Beob­ach­ tungen noch einmal hervorheben: Zum einen die positive Bewertung des Körpers, die zugleich angesichts der Viel­stimmigkeit der Körperkonzeptionen jedes monolithische, ein-deutige Körperbild aus­schloss,60 zum anderen die jedem verherrlichenden oder den Körper überhöhenden „Körper-Kult“ widerstehende Tatsache, dass alle Denkbewegungen jener Zeit auf den versehrten Körper, den Körper des Schmerzensmannes und Passionschristus bezogen waren.61 Nicht Phänomen betrachtet und von der allgemeinen Inanspruchnahme des Körpers als Ausdrucksmedium des Heils differenziert werden muss. 60  Maren Lorenz stellt in ihrer Einführung in die Körpergeschichte folgende Prämisse auf: „Der physi­sche Körper wird nicht als monolithische anthropologische Konstante verstanden, die nur durch die Brille (und schon da fragt sich welche?) der modernen Biowissenschaften erkannt werden kann. Körper – und dies bestätigt seine in vielen Sprachen multiple Bedeutung und Benennung  – kann nur im Spektrum seiner sich wandelnden und teilweise gleichzeitig miteinander konkurrierenden Defi­ni­tio­nen beschrieben und interpretiert werden. Körperlichkeit ist nur über Sprache – gedachte oder geschrie­bene – erfahrbar und vermittelbar. Die physische Materialität, die doch selbst ständigem Wandel unterworfen ist, wird dabei nicht verleugnet. Vorausgesetzt wird nur, daß es nie möglich sein wird, allgemein und dauerhaft gültige Definitionen über die Physis abzugeben, die über die Gemein­sam­keiten wie die Notwendigkeit von Atemluft, Wasser und einer Form von Nahrung zum Erhalt der ‚leib­lichen Hülle‘ hinausgehen“ (Lorenz, Vergangenheit, 10 f.). Einen breiten Überblick auf das Themen­feld „Mensch, Körper, Seele“ aus kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Sicht (jedoch ohne die bei Lorenz eingeforderte Hinterfragung der Grundbegriffe) liefert etwa Grabmayer, Europa, 61–82. 61  Dem in diesem Zusammenhang immer virulenter werdenden Antijudaismus, den etwa Cohen, Christ Killers im Kontext der Betonung der Menschlichkeit Christi im Zeitalter der Kreuzzüge beschreibt, wird später eingehend nachzugehen sein; vgl. dazu v. a. B.2.1.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

von einem unverwundbaren Heroen wie dem Christus des Kreuzesstammes (The dream of the rood) sondern von einem verwundeten, zerschlagenen Leib62 erwartete man Hei­lung und Heil, im Bewusstsein, „daß das Leben vom Tod kommt“, im Wissen um die „Be­deutung des Körpers, von Leiden und Schmerz als Möglichkeit, ja Grund der Erlö­sung“.63 Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Arbeit die Frage aufwerfen, ob die Auf­merk­samkeit für den Körper in der Seitenwundenfrömmigkeit zum einen ihren Anker- und Kulminationspunkt finden konnte und zugleich die Devotion zur Seitenwunde in dieser Form nicht denkbar gewesen wäre ohne jene umfassende leibhaftige Frömmigkeit.

1.2  Die Seitenwunde Christi als Fluchtpunkt einer somatischen Frömmigkeit Die Allgegenwärtigkeit des Körper-Diskurses und dessen spezifische Ausrichtung auf den Passionsleib Christi ist die Hintergrundfolie, vor welcher die Sonderstellung der Sei­ten­wunde als hervorragendem Gegenstand der Devotion unmittelbar einleuchtet. Im Zentrum einer somatischen Frömmigkeit findet sich der inkarnierte, nahe und berühr­bare Gott. Auf dem weiten Feld der spätmittelalterlichen Fokussierung auf den Körper muss der durchbohrte Leib des Passionschristus, näher hin seine Seitenwunde, als Flucht­punkt aufgefasst werden. Dabei kann – anders als mit Blick auf moderne „Körperkult“-Phänomene – die spät­mittel­alter­liche Aufmerksamkeit für den Körper in keiner Weise als „oberflächlich“ oder „äußer­lich“ bezeichnet werden. Denn „außen“ und „innen“, Körper und Seele, waren kei­ne getrennten Entitäten, sondern vielfältig aufeinander bezogen und verbunden. Die Allgegenwärtigkeit der Seitenwunde im Bereich der individuellen wie auch der kirch­lichen Frömmigkeit, ihre Präsenz in den verschiedensten Textgattungen und Kunstformen erscheint somit als Emblem für die mittelalterliche Synthese von Seele und Körper. Als Schnitt­stelle zwischen außen und innen fungierte sie als Chiffre des gemarterten Christus­körpers. Besonders augenfällig wird dies dort, wo die Darstellung der Seitenwunde, los­ge­löst vom Körper Christi, diesen vollständig zu repräsentieren vermochte, wie etwa in der arma Christi-Darstellung des English Bohun Psalter (A.2.3.4) oder im Kontext der 62  Vgl. dazu Scarry, Körper im Schmerz, 307: „Einen Körper zu haben bedeutet, daß man beschrie­ben, geschaffen, verändert und verwundet werden kann.“ Zur Diskussion Scarrys vgl. etwa Tanner, Körpererfahrung, 495–498. Auf die Groteskheit des Körpers in der spätmittelalterlichen, mystisch geprägten Frömmigkeit verweist etwa Finke, Mystical Bodies, 37 f. in Rekurs auf Mikhail Bakhtins Unterscheidung zwischen dem klassischen und dem grotesken Körper. 63 Vgl. Bynum, Fragmentierung, 95. Den Mentalitätswandel vom frühen zum späten Mittelalter beschreibt sehr pointiert etwa auch Ross, She wept, 45 f. Das moderne Leser und Leserinnen bei der Lektüre mancher somatischen Praktiken beschleichende Unbehagen benennt Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit, 24.



1  Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter

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Speerbildchen (A.2.3.6). Man verstand sie zugleich als liminale Passage: Die Seitenwunde vermochte, das Verbor­ge­ne, das „Geheimnis des Herzens“ zugänglich zu machen.64 Ebenso formuliert es auch Ludolf von Sachsen in direkter Aufnahme von Bernhard von Clairvaux für seine Leser­schaft im 14. Jahrhundert: „Offen liegt das Geheimnis des Herzens durch die Höhlungen des Körpers, offen liegt jenes große Sakrament der Frömmigkeit, offen liegen die Einge­weide der Barmherzigkeit unseres Gottes“.65 Die Öffnung des Christuskörpers erscheint an dieser Stelle wie das Zerreißen des Tempelvorhangs und die Offenbarung des Aller­heiligsten. Auch die Demarkationslinien zwischen Christuskörper und menschlichem Körper konn­ten an dieser Stelle durchlässig werden. Die Fokussierung auf die Seiten­wunde ist nachvollziehbar, da sie dem Menschen in seiner leiblich-seelischen Verfasstheit ermög­lichte, mit dem inkarnierten, Mensch gewordenen Gott zu verschmelzen. Sie lädt dazu ein, nicht an der Oberfläche des Körpers zu verharren, sondern in Christus einzu­gehen und mit ihm eins zu werden. Gleich einer „Leerstelle“ bot sie jenen Freiraum, in den der Fromme sich Christus inkorporieren konnte. Isaak von Stella (um 1100–1178) stellte sogar die kühne These in den Raum, der mystische Leib Christi wäre erst durch unser Inkorporiertwerden vollständig.66 In einer Sprache des Körpers redet die spätmittelalterliche Frömmigkeit von der Seiten­wunde als Inbegriff der Inkarnation. Sie erscheint als nahbares, greifbares Unterpfand des nahbaren, sich selbst erniedrigenden Gottes. Dies wird auch in Angela von Folignos Vision der liebevollen Aufnahme der Bettel­mönche in die Seitenwunde Christi deutlich. In dieser Vision schaut Angela die Seitenwunde als Zugang zur sich hingebenden, der das innerste nach außen wendenden Liebe (amor evisceratus), als Tor zu den Eingeweiden67 (praecordia) Christi, in denen man selbst einverleibt werden soll. Worte geraten hier in die Aporie: Auch sagte sie, dass es ihr unmöglich sei, die sich hingebende Liebe zu beschreiben, die im Blick seiner Au­gen und seines gesegneten Angesichtes des Gottes und Menschen Jesu Christi über diesen Söhnen geleuchtet habe, sowohl in der Umarmung als auch im Anlegen an die heilige Wunde.68 64  Vgl. dazu Leclercq, Sacre-Coeur, 15, der Bernhard von Clairvaux’s Diktum über die Offenbarung des Geheimnisses Gottes durch die Wunden in dessen Hoheliedkommentar analysiert. 65  Patet arcanum cordis per foramina corporis; patet magnum illud pietatis sacramentum; patent viscera misericordiae Die nostri […] (Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 34–38). 66  Vgl. dazu Bynum, Jesus as Mother, 150. 67  Auf die mannigfachen Bedeutungsnuancen des Lexems praecordia (Brustkorb, Herz, Eingeweide, Magen, Zwerchfell) wurde bereits in der Quellenanalyse des Memoriale hingewiesen. 68  ei esse impossibile exprimere evisceratum amorem, qui relucebat in aspectu oculorum illius bene­dic­tae faciei Dei et hominis Jesu Christi super istos filios, et in amplexu et applicatione ad sacrum vulnus (Angela, Instructio IV, Z. 98–101).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Dabei fällt auf, dass die Vision von einer unterschiedlichen Intensität des Ein­ tau­chens beziehungsweise des Inkorporiertwerdens der Mönche in die Seitenwunde spricht. Der Grad der inneren Nähe und Verbundenheit des Einzelnen mit Christus wird in dieser somatischen Metapher abge­bildet: „[…] weil er diese mehr, jene weniger anheftete, diese auch mehrmals anleg­te, jene tatsächlich körperlich in sich aufnahm“.69 Im Inneren des Christuskörpers konnte man sich somit der sich selbst zerfleischenden Lie­be Christi versichern. Die Seitenwunde als Zugang zu jenem Innersten nahm dabei eine hervorragende Stellung ein in einer Frömmigkeit, in der Körper als Garant der Gnade ver­standen wurde. Zugleich verband sich mit der Anschauung der Christuswunde eine innere, heilsame Schau der eigenen Sündenwunden, wie Thomas Lentes betont: Die Inspektion der Wunden Christi wird so zur Introspektion des Betrachters überführt, bei der die Be­trach­tung der Wunden Christi zum Spiegel der Sündenwunden des Betrachters werden. Be­grün­det ist dies in einer Bildlogik der Wunde, die Christuskörper und Betrachterkörper wechselseitig aufeinander bezieht, sich gegenseitig verwunden wie auch vernarben und heilen lässt. Wird der Christuskörper durch die Sünden der Menschen verwundet, so wird sein Schmerz jedoch wiederum durch deren Compassio gelindert.70

Das unabweisbare Verhaftetsein im Körperlichen, das durchaus auch als unüberwindliche Schranke für das Einswerden mit Gott aufgefasst werden konnte, verliert durch die Seiten­wunde seine Bedrohlichkeit. Dies wird etwa in Caput IV De sancto Joanne apostolo et evangelista des Legatus der Gertrud von Helfta71 deutlich: Während Johannes für sich selbst die unversehrte Seite Christi wählt, um an dieser zu ruhen, weist er Gertrud, die „im Körper lebt“ (vivens in corpore) die verwundete Seite Christi als Ruheplatz zu, die gerade durch die Durchlässigkeit und Offenheit des Fleisches ihr den Zugang zum Trank der Süße und des Trostes ermöglicht: „[D]eshalb habe ich dich an die Öffnung des gött­li­chen Herzens gestellt, so dass du dort dann um so freier den Trunk der Süße und des Trostes herausschöpfen kannst.“72 Gertrud muss sich also nicht vergeblich daran 69 

[…] quia quosdam plus, quosdam minus infigebat, quosdam etiam saepius applicabat, quosdam vero intus corporaliter absorbeat (ebd., Z. 84 f.). 70  Lentes, Blick, 56. 71  Vgl. bereits ausführlich unter A.2.1.1.2. 72  Vgl. dazu noch einmal die gesamte einschlägige Passage: „Daraufhin fragte sie den seligen Johannes, warum er selbst die linke Seite der Brust des Herrn gewählt, sie [jedoch] auf die rechte gestellt habe? Jener antwortete ihr: ‚Deshalb, weil ich schon alles besiegt habe und ein Geist mit Gott geworden bin, kann ich genau dort eindringen, wohin das Fleisch sich nicht erstreckt […]. Du jedoch, solange du immer noch im Körper lebst, kannst nicht auf meine Weise das Undurchdringliche durchdringend erforschen. Deshalb habe ich dich an die Öffnung des göttlichen Herzens gestellt, so dass du dort dann um so freier den Trunk der Süße und des Trostes herausziehen kannst.“ Tunc ista requisivit a beato Joanne cur ipse laevam partem pectoris Domini praeligens, eam ad dextram colocasset. Cui ille respondit: ‚Ideo, inquam, quoniam ego jam decivi omnia, et unus spiritus cum Deo effectus, penetrare possum subtiliter quo caro non pertingit […] tu vero cum adhuc vivens in corpore non possis pari mihi modo solidiora penetrando



1  Leibhaftige Frömmigkeit – die Heilsrelevanz des Körpers im Spätmittelalter

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abarbeiten, ihre somatische Verfasstheit und ihren irdischen Leib abzustreifen, bevor sie untrennbar mit Christus verbunden sein kann. Ausgerechnet Johannes,73 der Lieblingsjünger Jesu, der in den Evangelien als der­je­nige gezeichnet wird, der eine intime, körperliche Nähe zu Jesus genießt, lädt Gertrud dazu ein, diese ebenfalls zu erleben. Der Ermöglichungsgrund dafür ist nicht Gertruds Frei­heit vom Körper oder dessen Negierung, sondern allein die Öffnung des Herzens Jesu durch die Seitenwunde, die bereits bei Bernhard von Clairvaux als Symbol der compassio Christi mit unserer Schwachheit gepriesen wird.74 Die conditio humana in ihrer Sinnenhaftigkeit muss somit weder verleugnet noch aus­ge­blendet werden. Zahlreiche Texte der Seitenwundenfrömmmigkeit nehmen vielmehr den menschlichen Körper und seine Handlungsspielräume in die Pflicht, wenn sie dazu auf­ru­fen, die Seitenwunde zu berühren, zu küssen, an ihr zu saugen!75 Auch wenn man die fünf Sinne des Menschen in der Gefangenschaft des Teufels wähnte, boten etwa nach Ludolf von Sachsen eben die fünf Kreuzeswunden Errettung aus jener Knecht­schaft: „Aber die fünf Wunden erlaubte er sich zufügen zu lassen, damit er die fünf Sinne des Menschengeschlechtes vom Teufel gefangen erlöse.“76 Die drohende Verneinung des menschlichen Körpers wird in der Seitenwunde des inkar­nier­ten Gottes aufgehoben in eine unüberbietbare Bejahung. Die Gegenständlichkeit, die Sinn­lichkeit jener Frömmigkeitsform wusste sich auch biblisch legitimiert: Es galt wie der ungläubige Thomas den Verwundeten zu berühren und sich so vom Verwundeten berüh­ren zu lassen.77 Im Evangelium ebenso wie in der Frömmig­keit des späten Mittel­alters wurden Zweifel und Unglaube nicht bestraft, sondern durch die Begegnung mit dem leibhaftigen Christus geheilt. Die fokussierte Aufmerksamkeit des Gläubigen für die Seitenwunde Christi stärkte den Konnex zwischen der Leidenserfahrung des eigenen Körpers mit dem Leib Christi – sei es in Krankheit und Schwäche oder durch eine bewusst gewählte somatische compassio-Praxis im Kontext des Glaubens.78 Als einschlägiges Beispiel einer explizit somatischen Passions-Mimesis und compassio hat sicherlich Elisabeth von Spaalbeecks körperlicher Nachvollzug des Leidens Christi zu gelten. Auch wenn erst unter B.3.2 ausführlich auf die investigare: ergo te ad aperturam divini Cordis locavi, ut eo liberius exinde haustus dulcedinis et consolationis extrahere possis (Gertrud, Legatus IV, C. IV, Z. 6–10). 73  Zur herausragenden Rolle des Johannes bei Gertrud vgl. auch Vagaggini, La dévotion, 35. 74 So Leclercq, Sacre-Coeur, 15. 75  Vgl. dazu Lochrie, Mystical Acts, 190. 76  Ludolf, Vita Christi II, 139, 1.  Sp., Z. 17–20. Leider habe ich in den einschlägigen Quellen keinen Hinweis darauf gefunden, welcher Sinn welcher Wunde zugeordnet wurde. 77  Bynum, Blood of Christ, 690.714 (mit Anm. 16). 78  Der eigene Körper als Erfahrungsmedium für Christi Leiden, die Möglichkeit der Einschreibung von Gottes­erfahrung im eigenen Körper findet sich auch bei Jakob von Vitry; vgl. dazu dies., Holy Feast, 5.13.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Stigmatisierung Elisabeths durch die Seitenwunde eingegangen werden soll, muss doch bereits hier darauf verwiesen werden, dass es schlüssig und folgerichtig erscheint, wenn Elisabeths Körper, der in so ein­drück­licher Weise auf der Bühne des Glaubens agierte und der nach größtmöglicher Analo­gie mit Christus strebte, sich durch die Zeichnung mit der Seitenwunde auf letzt­gültige Weise dem Leib des Passionschristus annäherte. Das vermeintlich Abstoßende  – die Seitenwunde als Inbegriff des Leidens und Sterbens – wurde zum unendlich Anziehenden. Sie wurde zum zentralen Sehnsuchtsort einer somatischen Frömmigkeit, die davon sprach, sich in die Seite Gottes zu schmiegen, dort wie ein Säugling zu trinken oder die „Honigwabe Gottes“ zu verzehren.79 Auch wenn eine allzu plakative Darstellung des verwundeten Leibes etwa im Kontext der Passions­spiele durchaus auch (kirchliche) Kritik auf den Plan rufen konnte,80 ist die Zentral­stellung der Seitenwunde dennoch unübersehbar. Das große Bedürfnis, des verwun­deten Leibes Christi habhaft zu werden, schlug sich etwa in der Gattung der weit verbreiteten Speerbildchen nieder. Angefertigt und vertrieben im Kontext der Nürnberger Heiltumsweisung belegt jenes Massenmedium die Relevanz des Haptischen ebenso wie die Zentralstellung der Seitenwunde. Diese vor Augen zu haben, bedeutete, sich die gesam­te Leidensgeschichte 79 

Besonders die zisterziensische Frömmigkeit findet Bilder der körperlichen Nähe als Ausdruck der Gottes­liebe; so dies., Jesus as Mother, 166. 80  Warning, Auf der Suche, 349 f. verweist auf die Problematisierung einer allzu gegenständlichen Dar­stellung des Körperlichen im Kontext der Traktatliteratur und der Passionsspiele: „Bei den Grau­sam­keiten der Passionsspiele hingegen fand man eine weniger kontroverse Deutungsmöglichkeit in jener auch volkssprachlich verbreiteten Traktatliteratur, die Anleitung geben wollte zu meditativer Ver­senkung in die Leiden Christi am Kreuz. Diese meditative Imitatio Christi wird in den Traktaten beschrieben als imaginäre Identifikation mit dem Leidensmann, als Einbildung in den blutenden Körper. Im Dreischritt von memoratio, compassio und conformatio ist also die imaginatio immer aus­drücklich mit vorgesehen bzw. vorausgesetzt: considera omnes gestos suos, maxime contemplans faciem eius, si potes imaginari. Der Meditierende wird aufgefordert, die Leiden Christi in sua ymagine ante oculos ponere, tamquam Christum corporaliter videat. Man könnte also in Bezug auf die Meditationsliteratur explizit von einer imaginatio corporis sprechen. Dem muß dann aber sogleich hinzugefügt werden, daß dieser imaginatio allein offenbar nicht getraut, daß vielmehr ihre Aktivität von theologischen Kommentaren ständig kontrolliert wird. Kritiker der Meditationsübungen suchen ausdrücklich diese imaginäre ‚Realisation‘ des Körpers Christi als eine bloß phantasmatische abzu­werten gegenüber der sakramentalen Realpräsenz. Diese Kritik ist höchst aufschlußreich. Man scheint zu spüren, daß das einmal freigegebene Imaginäre vom Symbolischen nicht mehr eingeholt werden kann. […] Wer also immer die Drastik der Kreuzigungsszenen aus der Tradition der Passionstraktate herleiten und mit ihr legitimiert sehen will, wird diese schon in den Meditationsübungen gesehene Ambi­valenz mitbedenken müssen, steht doch zu vermuten, daß sie in den Spielen unter verschärften Bedin­gungen wiederkehrt. Denn erstens ist durch die Darstellung in vivo jenes Bild vorgegeben, das in asketischer Versenkung zu erreichen dem Meditierenden aufgegeben ist. Zweitens werden in dieser Darstellung die Folterungen in einer quantitativen Fülle und qualitativen Intensität ausagiert, die in den Passionstraktaten nichts Vergleichbares kennt, und drittens ist dieses Leiden nicht der inneren Schau des einzelnen anheimgegeben, sondern als Kollek­tiv­spektakel institutionell gerahmt.“

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zu vergegenwärtigen. Auch an dieser Stelle offenbart sich die spät­mittelalterliche Synthese von Innen und Außen: Der Fromme verband mit jenen real durch­ bohrten „Kontaktreliquien“81 die Sehnsucht nach Seelenheil ebenso wie nach körperlicher Heilung. Noch einmal wird an dieser Stelle deutlich, in welcher Weise die Seiten­wunde als Fluchtpunkt einer somatischen Frömmigkeit fungierte, die stets die Seele und ihre Erlösung durch den inkarnierten Gott mit im Blick hatte. Im Hegelschen Sinne leistete die Fokussierung auf die Seitenwunde die Aufhebung der Grenzlinien zwischen Außen und Innen, Körper und Seele. Womöglich ist es deshalb auch unerheblich, darüber zu diskutieren, ob es in manchen der durch ein zutiefst somatisches Vokabular geprägten Seitenwundenvisionen bisweilen doch um rein seelische, innere Vorgänge gehe. Es ist vielmehr zu vermuten, dass es ein rein modernes Bedürfnis darstellt, hier eine Trennschärfe herstellen zu wollen, die für mittel­alterliche Fromme wie etwa Angela von Foligno irrelevant gewesen sein mag: „Und einmal schien es der Seele, dass sie mit solch großer Freude und Lust eintrete, hinein in jene Seite Christi, und mit solch großer Freude in der Seite Christi umherging, dass es auf keine Weise möglich ist, dass davon gesagt oder erzählt werden kann.“82

2  Essenz des Lebens und Symbol der Destruktion – Blut und Wunden als Objekte der Devotion 2.1  Ambivalenz, Ausgrenzung und Multiplikation – Ausformungen und Implikationen der Blut- und Wundenfrömmigkeit des ausgehenden Mittelalters Er war ausgestreckt an einem Baum – wie Pergament es sein soll; die Tinte floss von seinem Antlitz – Blut von den Dornen, die es stachen; die Schreibwerkzeuge, mit denen die Buchstaben geschrieben wurden – waren die Geißeln, die sie schlugen; die Buchstaben aber waren – wie alle sehen können: 5460; das Wachs, das das Dokument versiegelte – das Blut, das aus ihnen floss.83

Hatte sich der voranstehende Abschnitt mit der Aufmerksamkeit für den Körper (B.1.1), und durch die Fokussierung auf die Seitenwunde (B.1.2) bereits mit 81 

Vgl. dazu ausführlich A.2.3.6. Et aliquando videtur animae quod cum tanta laetitia et delectatione intret intus in illud latus Christi, et cum tanta laetitia vadit intus in latus Christi, quod nullo modo posset dici vel narrari (Angela, Mem. VI, Z. 255–257). 83  He was stretched on a tree / as parchment ought to be; the ink flowed from his face / – blood from the thorns piercing it; / the pens with which the letters were written / – were the scourges beating it; the letters there  /  – as all can see 5460  –;  / the wax sealing the document  /  – the 82 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

dem verwundeten Kör­per befasst, soll nun in einem zweiten Schritt – unter dem Vorzeichen der bereits dar­ge­legten spielerischen Annäherung von „Außen nach Innen“84 – explizit die einschlägige Blut- und Wundenfrömmigkeit als weiterer Bezugspunkt in den Blick genommen werden. Auf dem weiten Feld der vielfältigen Ausformungen und Implikationen jener Religiosität, die sich mit dem Blut und den Wunden Christi befasste, begegnet man verschiedenen, je sehr eigenwilligen Phänomen. Eine Konzentration auf das Blut und die Wunden Christi zeich­neten die Eucharistiefrömmigkeit ebenso aus wie die Passionsfrömmigkeit, sie findet sich in der Verehrung von Blutreliquien, ebenso wie im Kontext der Hostienwunder und des „Hostienfrevels“ und schließlich auch im Dunstkreis der Passionsspiele. Die Schlagworte „Ambivalenz“, „Multiplikation“ und „aggressive Ausgrenzung“85 sollen bei den folgenden Ausführungen wie unterschiedliche Objektive eines Mikroskops fun­gie­ren, um die vielfältigen Facetten des Phänomens einzufangen. Meines Erachtens sind Caroline Bynums Beobachtungen aufschlussreich, die vor allem im Hinblick auf das nördliche Europa die provokante Formulierung eines regelrechten „Blut­rausches“ wählt („frenzy for blood“)86 und schließlich feststellt: „[B]y the later Middle Ages northern European devotional art and poetry seem awash in blood.“87 Dass diese Fokussierung auf das Blutvergießen und die Verwundungen Christi eigentlich durch­aus erstaunlich ist, macht die amerikanische Forscherin gleich zu Beginn ihrer Mo­no­graphie „Wonderful Blood“ auf lakonische Weise deutlich: „Crucifixion is not a bloody death. As inhabitants of the ancient world knew well, the crucified die by suffocation.“88 Zu­dem ließe sich ergänzen, dass die einschlägigen Passagen des Neuen Testaments auch mit Blick auf die Wunden Christi keine allzu beredte Textbasis liefern.89 Darüber hinaus trat das berühmte Diktum des Tertullian (ca. blood flowing from them“ (The Middle English Charters of Christ, Ms. CUL, zit. nach Rubin, Eucharistie, 33 f.). Mor­g an, Longinus, 515 merkt an, dass auf Illustrationen jener Charter of Christ das Siegel oft­mals in Form der Seitenwunde gestaltet wurde. 84  Vgl. die Ausführungen in A.3. 85  Im Folgenden werden diese drei Schlagwörter in Anführungszeichen gesetzt sein, um die einzelnen Blickrichtungen deutlicher zu machen. 86  So der Titel des Eingangskapitels bei Bynum, Wonderful Blood, 1–4. 87  Ebd., 1 f. 88 Ebd. 89  Die Abschnitte der jeweiligen Passionsschilderungen in den vier Evangelien enthalten keine beson­ders detaillierten Beschreibungen der Kreuzeswunden oder des Blutvergießens bei der Geißelung. Im Gegen­teil fällt die zurückhaltende Schilderung der Geißelungsszene und der Kreuzigung ins Auge. Sogar in der Perikope über den ungläubigen Thomas fehlt jede illustrierende Darstellung der Nägel­male oder der Seitenwunde; vgl. dazu etwa Mk 15,16–20; Mt 26,67; 27,25 f.; Lk 24,25; 25,40; Joh 19,1; 20,20.24–27. Dennoch ist davon auszugehen, dass insbesondere die Longinus-Szene des Johannesevangeliums wie auch Röm 6,7 und Hebr 9,22 für die Ausbildung der christlichen Blut­fröm­migkeit entscheidend war; vgl. dazu Angenendt, Religiosität, 365. Gerade angesichts der zurück­haltenden biblischen Diktion fallen der Metaphernreichtum etwa eines Richard Rolle (um 1300–1349) ins Auge, der den verwundeten Leib



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150–220), das Blut sei der Sa­me des Glaubens, immer mehr in den Hintergrund: Das Ideal des Märtyrertums wurde durch das Mönchtum als martyrium sine cruore abgelöst.90 Dessen ungeachtet begegnet man im ausgehenden Mittelalter einer ausgeprägten Blut- und Wundenfrömmigkeit, die sich in unterschiedlichsten Kontexten und Ausprägungen, in verschiedenen Medien und Trägerkreisen niederschlug.91 Im Kontext der eucharistischen Praxis, in welcher den Laien der Kelch entzogen war, entwickelte sich gerade bei weiblichen Mystikerinnen eine eucharistische Frömmigkeit, die ein unmittelbares Erleben und Verzehren des Blutes Christi ins Zentrum stellte.92 Die Frommen schmeckten das Blut Christi;93 es durchströmte ihren ganzen Körper.94 Die unwiderstehliche Unmittelbarkeit dieses Kontaktes mit dem Blut Christi erscheint oft­mals als Überbietung des Kelchempfangs. Die kirchliche Versicherung, die Frommen würden durch die Konkomitanz allein durch den Verzehr der Hostie auch das Christi mit einem Sternenhimmel, einer Blumenwiese oder einer mit roter Tinte beschriebenen Buchseite vergleicht; vgl. dazu Barratt, Stabant matres, 58. 90  Vgl. dazu Bynum, Wonderful Blood, 1. 91  Zur Bedeutung des Blutes im Mittelalter siehe allgemein Nagai/Dobrotka/Prokop, Blut­mysti­zis­mus. An dieser Stelle soll zu bedenken gegeben werden, dass das Blut in der damaligen medizi­nischen Vor­stellungswelt als die entscheidende Körperflüssigkeit betrachtet wurde: In der mittelalterlichen Körper­lehre stellten letztlich alle Körperflüssigkeiten  – sei es nun Speichel, Milch oder Sperma – nur verschiedene Spielarten des Blutes dar; vgl. dazu Bynum, Female Body, 186 f. Dies bildete die Grundlage dafür, etwa der Milch Mariens ähnliche Heilswirksamkeit wie dem Blut Christi zuzu­spre­chen; vgl. dazu Marti/Mondini, Der zielen troost, 322 sowie dies., Das ewige Stillen, 323. Ein­drück­liche Exempel des Topos „Milchwunder“ finden sich bei Schreiner, Die ihr Kind stillende Maria, 348 f. 92  Exemplarisch nennt Bynum, Wonderful Blood, 4–6 verschiedene Mystikerinnen und Mystiker wie Beatrice von Nazareth (gest. 1268), Catharina von Siena (gest. 1380), Johannes von Alverna (gest. 1322) sowie einen Text aus dem Kloster Unterlinden, die von einem besonderen Erleben, dem Schmecken und Empfinden des Blutes Christi während des Hostienempfangs berichten. Bereits 2002 hatte Bynum konstatiert, dass dieses steigende Interesse am Blut Christi als Gegenbewegung zu einer kirch­lich verordneten Konzentration auf den Leib Christi, die Hostie, verstanden werden könnte: „Work done over the past fifty years has revealed to us the complicated process by which university theologians and preachers attempted to focus the attention of the faithful on the host. As the cup was withdrawn from the laity, ostensibly for disciplinary reasons (the fear of spillage), the doctrine of concomitance was employed to explain that the whole Christ (totus Christus) was present in each of the two elements and in every fragment. Moreover, despite the legal requirement of at least yearly communion (actual partaking of the eucharistic elements), reception with the eyes at the moment of consecration or elevation (so-called ocular or spiritual communion) became for many the focal point of eucharistic devotion. The liturgy increasingly emphasized host or body over blood: the feast of Corpus Christi developed much earlier than that of the Holy Blood and was much more popular; eleva­tion of the cup at mass never attained the ritual importance of the elevation of the host; miracles of the chalice were far less frequent than host miracles. Nonetheless, blood frenzy continuosly threatened to break out“ (dies., Blood of Christ, 688 f.). 93  Vgl. etwa dies., Holy Feast, 233. 94  Vgl. dazu ebd., 164.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Blut Christi verzehren, wurde offenbar von vielen bezweifelt.95 Doch neben der direkten Forderung nach dem Laienkelch, etwa in der Hussitenbewegung, bot die visionäre Erlebnismystik einen anderen, „direkten Umweg“ zum Blut Christi.96 So schildert etwa Gertrud von Helfta, gepeinigt von Zweifeln und dem Gefühl der Unwürdigkeit, das Sakrament zu empfan­gen, eine Vision, in der sie die eigene Seele als Baum schaut, der durch das „beleben­de Blut Christi aus dessen Herzen“ benetzt werde.97 Das Trinken beziehungsweise Getränkt­ werden durch das Blut Jesu verband sich dabei oftmals mit Vorstellungen der imitatio Christi und dem unio-Streben, die sich besonders prominent in der Passionsfrömmigkeit der Zeit finden lassen. Dieser Konnex wird etwa bei Katharina von Genua (1447–1510) besonders deutlich, die in einem Atemzug von der Trunkenheit durch das Blut Christi und der sich verzehrenden Leidenschaft nach der imitatio passionis zu reden weiß: „And then the soul becomes like a drunken man; the more he drinks, the more he wants to drink; the more it bears the cross the more it wants to bear it.“98 Auch Bildmotive wie die Gregorsmesse, der Heilsbrunnen oder Christus in der Kelter legen in besonderem Maße Zeugnis ab von der Intensivierung der Blut- und Wunden­ fröm­mig­keit jener Epoche, die besonders die Passionsfrömmigkeit durchdrang. Die im Quellen­teil der vorliegenden Arbeit angeführten unterschiedlichen Darstellungen des Schmerzens­mannes (A.2.3.7, A.2.3.9 f.) belegen diese Tendenz. Das Leiden Christi, in das es sich zu versenken galt, wurde oftmals durch die explizite Dar­stellung der vielfachen Verwundung oder des Blutüberströmtseins illustriert. Erscheint das Ausmaß der Verwundung, die völlige Auflösung der Christusfigur in Blut und Wunden dem modernen Betrachter womöglich als verstörend, so spiegeln sich solche Empfin­dungen nicht im jeweils bildinternen menschlichen Gegenüber des Gottessohnes: Ruhig und innerlich gesammelt, ja heiter, umfassen diese jeweils in liebevoller Umar­mung, im amplexus, den blutüberströmten Christus. Es gab freilich auch andere Regungen, die durch die Anschauung jener Blutfülle ausgelöst werden konnten. Im Gegensatz zu der friedvollen Darstellung der Frommen auf den Bild­wer­ken spricht der mittelenglische Text A Talkyng of pe Loue of God aus dem 14. Jahr­hun­dert von einem Angestacheltwerden der Leidenschaft durch das Blut Christi und wählt (für den modernen Leser wo95  Zur gesteigerten Sehnsucht nach dem Blut Christi vgl. auch das Bildmotiv „Christus als Pelikan“; vgl. dazu dies., Jesus as Mother, 132. 96  Vgl. zur Unzufriedenheit der Gläubigen dies., Wonderful Blood, 5: „[T]hese particular eucharistic visions were not so much revelations of doubters, or rewards for those who never doubted, as sub­stitutions of the withheld blood for the proffered bred. The arguments of theologians and canonists that by concomitance both body and blood are present in each species often failed to convince the faith­f ul.“ 97  […] deinde irrigare ipsam in sanguine vivificante sui Cordis (Gertrud, Legatus III, C. CXVIII/5, Z. 17). 98  Katharina, zit. nach Bynum, Holy Feast, 176.



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möglich noch verstörender als die Darstellung des blutenden Christus) dafür die Metapher des außer sich geratenden Jagdhundes: Dann beginnt die Liebe in meinem Herzen aufzuwallen. […] Ich springe ihn an, leichtfüßig wie ein Wind­hund den Hirsch, ganz außer mir, in liebender Manier, und schlinge meine Arme um das Kreuz. […] Ich sauge das Blut von seinen Füßen. […] Ich umfange und küsse, als sei ich ver­rückt. Ich wälze mich und sauge, ich weiß nicht wie lang. Und wenn ich satt bin, möchte ich immer noch mehr.99

Von einem wahrhaften „Blutregen“, vergossen aus Liebe, spricht auch Katharina von Genua (1447–1510) in einer Vision: „Eines Tages […] erschien ihr in einem inneren Gesicht unser Herr Jesus Christus, von Kopf bis zu den Füßen von Blut überströmt; und es schien, daß von diesem Leib Blut über die ganze Erde regnete, wohin er ging.“100 Zu­gleich ist für den Zeitraum zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert nicht allein die stetig zu­neh­men­de101 Quantität des Blutes102 zu beobachten, sondern auch ein steigendes Inter­esse an dessen Qualität beziehungsweise an der präzisen Art und Weise des Blutvergießens. Dies lässt sich exemplarisch bei Ludolf von Sachsen nachweisen, der in seiner Vita Christi zum einen den Aspekt der Quantität betont und ausführt, Christus habe sein Blut, wie beim Pro­pheten Jesaja (Jes 53,2) bereits präfiguriert,103 vollständig vergossen: „Er hat es auf das voll­ständigste vergossen, wenn das Maß bedacht wird, weil er das ganze Blut vergoss, so dass kein einziger Tropfen mehr in ihm verblieb.“104 Zugleich beschreibt er die Qualität des Blutvergießens und spricht von jenem zärtlichsten Beweg­grund (piissime causa), der in der Liebe Christi für den Menschen zu finden sei.105 Aber auch die präzise Art und Weise des Blutverlustes wird in sämtlichen Stufen bis ins De­tail ausgeführt. Der Kartäuser konfrontiert seine 99  Then the love begins to well up in my heart […] I leap at Him swiftly as a greyhound at a hart, quite beside myself, in loving manner, and fold in my arms the cross. […] I suck the blood from his feet […] I embrace and kiss, as if I was mad. I roll and suck I do not know how long. And when I am sated, I want yet more (zit. nach dies., Wonderful Blood, 2). Einen guten Überblick zur Metaphorik der englischen Mystik des Mittelalters liefert etwa Riehle, Studien. 100  Sertorius, Katharina von Genua, 185. Einen äußerst instruktiven und knappen Überblick zur Theologie Katharinas bietet Bederna, Ich bin du, 130–134. 101 Vgl. Bynum, Wonderful Blood, 3 f. 102  Ludolf von Sachen etwa verwendet das Lexem copiose, um die Fülle, das Überbordende zu be­schreiben, das der Fülle der Erlösung korrespondiere; vgl. dazu Ludolf, Vita Christi, II 138, r. Sp., Z. 39–46. 103  Vgl. Jes 53,2 sowie Ludolf, Vita Christi II, 139, l. Sp. Z. 55 – r. Sp., Z. 1. 104  Plenissime fudit, si consideretur mensura, quia totum sanguinem effudit, ita ut unica gutta in eo non remaneret (ebd., l. Sp., Z. 41–44). 105  Ludolf von Sachsen verweist ausgehend von der mittelalterlichen Embryologie gleichsam auf den „Sonder­fall Jesus Christus“: Da bei Christus der Heilige Geist als Baumeister, eine Jungfrau jedoch als Spenderin des Blutes angenommen wird, und deshalb von einer besonders edlen und zarten Natur Christi auszugehen ist, muss somit folgerichtig die besondere Bitterkeit seines Leidens attestiert werden. Vgl. dazu bereits A.2.1.3.2 sowie zur dabei zu Grunde liegenden aristotelischen Empfängnis­theorie Bynum, Female Body, 182.

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Leser mit einer anatomischen Ge­nau­ig­keit, die zwischen dem Blut unter der Haut, dem sich in Kopf, Venen und Nerven sowie in Händen und Füßen befindlichen Blutes sowie schließlich dem Blut in Herz und unteren Extremitäten unterscheidet und den Verlust jeweils unterschiedlichen Stationen von Marter und Kreuzigung zuordnet!106 Nicht nur das Blut, auch dessen Ursprungsorte, die Wunden, rückten immer stärker in den Fokus der frommen Aufmerksamkeit. Ihre Anzahl potenzierte und steigerte sich. Im aus­ge­hen­den Mittelalter beschränkte sich die Verehrung der Wunden nicht allein auf die Seitenwunde oder die fünf Kreuzeswunden. Auch die Wunden der Geißelung, ja bereits die Wunde der Beschneidung, konnten detailliert geschaut und beschrieben werden.107 Unter dem Stichwort der „Multiplikation“ ist nunmehr ein Phänomen näher zu beleuch­ten, das sich durchaus zeittypisch auch bei Ludolf von Sachsen beobachten lässt: Gleich zu Beginn seiner Vita Christi, im Proömium der Passionsbetrachtung, findet sich eine Hoch­rechnung aller Wunden, die Christus in der Passion zugefügt wurden. In der Summe beträgt das erstaunliche Ergebnis über 5000.108 Dass dieses Phänomen der Arithmetik, der gezähl­ten Frömmigkeit109 und damit einhergehend auch der Vervielfältigung der Wunden wie auch der Zählung jedes einzelnen Blutstropfens weitverbreitet war und vom 13. bis ins 15. Jahrhundert zu beobachten ist, zeigen ähnliche Aussagen unter anderem bei Mechthild von Hacke­born (1241–1299), Gertrud von Helfta (1256–1301/2), Gabriel Biel (1410–1495) oder Thomas von Kempen (um 1380–1471).110 Die fromme Versenkung in die Wunden und das Blut Christi verband sich in der Passions­frömmigkeit mit der Sehnsucht nach Heilserfahrung im himmlischen 106 

Diese Passage findet sich ausführlich bereits unter A.2.1.3.2. Zur Verehrung der Beschneidungswunde Christi vgl. nur Göttler, Betrachtung, 306 f. sowie dies., Blutvergießung, 308 f. Mit Blick auf die Beschneidungswunde hält Katharina von Genua fest, dass durch sie vergossene Blut habe noch nicht ausgereicht, „to cover man“; vgl. dazu Bynum, Holy Feast, 176. 108 „Die größte Verbreitung fanden Zahlengebete zu den Wunden Christi. Maßgeblich waren dabei die visio­när mitgeteilten Zahlenangaben von 5460 bzw. 5490 Wunden. Ludolph von Sachsen erzählt im Pro­ömium des Passionspassus seiner ‚Vita Christi‘ von einer Rekluse, der eine himmlische Stimme ‚die Menge und Zahl aller Wunden Christi‘ und die entsprechenden Gebetsübungen offenbart hatte: ‚5490 Wunden fanden sich an meinem Körper; wenn du sie verehren willst, dann wiederhole täglich 15mal das Herrengebet mit dem englischen Gruß in der Erinnerung an mein Leiden; wenn das Jahr um ist, wirst du eine jede Wunde ehrwürdig gegrüßt haben.‘ Die Rechnung stimmt genau; für die Schaltjahre sind es 366 mal 15, also 5490; in den übrigen Jahren würden lediglich 5475 Gebete gesprochen“ (Angenendt, Religiosität, 582). Die Verehrung jeder einzelnen Wunde konnte sich auf die eigenen Sünden beziehen oder auch zur Erlösung von Seelen aus dem Fegefeuer verwandt werden; vgl. dazu Bynum, Wonderful Blood, 3. 109  Dazu bemerkt etwa Lentes, Vermessung, 144: „[Z]udem wurde im späten Mittelalter jedes Detail der Heilsgeschichte gemessen und geradezu buchhalterisch erfaßt: Die Körperglieder Christi ebenso wie seine Fußstapfen bei der Passion, die Zahlen seiner Wunden wie seiner Blutstropfen.“ 110  Siehe dazu Angenendt, Religiosität, 583 sowie auch Angenendt/Braucks/Busch/ Len­t es/Lutterbach, Gezählte Frömmigkeit, 45. 107 

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wie im irdischen Leben: Versprach man sich durch die Verehrung der 1.200.000 Blutstropfen Christi „eben­so viele unaussprechliche Freuden im Himmel“,111 so empfand etwa Angela von Foligno die heilsame und Gnaden zusagende Erlösung der Sünden durch die Berührung seiner verwundeten Hand schon im Hier und Jetzt: „Deine Sünden sind dir vergeben; ich segne euch mit jenem Fleisch jener Hand, die am Kreuz gekreuzigt wurde.“112 Die Sehnsucht nach Heil verband sich auch mit der dritten Ausformung der Verehrung des Blutes Christi, dem Phänomen der Blutreliquien. Ein erster Beleg für die Verehrung des Blutes Christi in Form einer Reliquie findet sich bereits im 7. Jahrhundert; in den folgen­den Jahrhunderten nahm diese Form der Präsenz des Blutes Christi einen immer größeren Stellenwert ein. Zu nennen sind hier exemplarisch die Reliquie von Kloster Wein­garten (Mitte des 11. Jahrhunderts), die Befeuerung des Phänomens durch den ersten Kreuzzug Ende des 11. Jahrhunderts, die Heilig-Blut-Reliquie von Brügge aus dem Kontext des zweiten Kreuzzuges oder die Verehrung des Blutes Christi in Fécamp.113 Blutreliquien aus unterschiedlicher Provenienz114 wurden in ganz Europa verehrt und aufge­ sucht, jedoch erscheint der nordeuropäische, zumal deutschsprachige Raum als besonderes Zentrum der Blutfrömmigkeit jener Epoche. Gerade mit Blick auf das 13. und 14. Jahrhundert lässt sich (etwa im Fall der Blutreliquie von Westminster, dem Kloster Weissenau oder der höchst umstrittenen blutenden Hostie von Wilsnack) ein durchaus kompetitives Verhalten der verschiedenen Standorte wahr­nehmen, die sich gegenseitig zu diskreditieren beziehungsweise zu überbieten suchten.115 Die zahlreichen Kontroversen im Kontext dieser Frömmigkeit116 sind nicht zu übersehen und sie sind  – folgt man den kulturanthropologischen Über111 

So etwa in einem Kölner Gebetsbuch; vgl. dazu ebd., 42 mit Anm. 247. Peccata sunt tibi ablata; benedictionem facio vobis cum illa carne illius manus, quae fuit crucifixa in cruce (Angela, Mem. VI, Z. 136 f.). 113  Vgl. dazu Bynum, Blood of Christ, 692 f. 114  So kann grob zwischen Blutreliquien unterschieden werden, deren Ursprung man aus dem heiligen Land annahm (Brügge, Schwerin, Weingarten) und meist jüngeren Pilgerstätten, wie etwa Wilsnac, in denen blutende Hostien verehrt wurden; vgl. dazu dies., Wonderful Blood, 5. Brückner, Blut­wunder, 292 f. differenziert zwischen „reliquiarem Blut“, d. h. „wiederentdecktem“ und nach Euro­pa transferiertem Blut Christi, „eucharistischem Blut Christi“, das sowohl die Phänomene wunder­sam konsekrierten Weines als auch blutende Hostien umfasste, als auch „Blutreliquien von Märty­rern und Heiligen“. 115 Dabei ging es offenbar bisweilen um die Akklamation „nationaler“ oder regionaler Überlegenheit: „In 1247, Henry III of England acquired holy blood for Westminster – blood that the bishop of Norwich praised as elevating the claims of the English king above those of the French […]. In 1283 […] Rudolf of Habsburg acquired for the Premonstratensian cloister of Weissenau a relic of the holy blood that allegedly went back to Mary Magdalene and was clearly intended to compete with the relic of its close neighbor Weingarten supposedly collected by Longinus“ (Bynum, Blood of Christ, 693). Zur Geschichte von Wilsnack vgl. ebd. 116  Man denke nur an die jahrzehntelangen Streitigkeiten im Falle von Wilsnack, die nicht nur verschie­denste Universitäten wie Prag oder Erfurt, kirchliche Würdenträger wie die Bi112 

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legungen von Mary Douglas, wie sie etwa von Caroline Bynum aufgenommen werden – vielleicht angesichts der „Ambi­va­lenz“ des Gegenstandes der Devotion auch nicht allzu erstaunlich.117 Im Gegensatz zum Leib Christi, der mit Ganzheit und Gemeinschaft in Verbindung gebracht wurde,1181 eignete dem Blut, das in vielen Texten in sanguis und cruor unterschieden119 und damit in seinen Konnotationen noch weiter ausdifferenziert wurde, der Charakter des Gewalt­ samen, Ausfließenden, wie Bynum es zusammenfasst: „[T]he profound asymmetry, between, on the one hand, body as nourishment and container, unity and community, and on the other, blood as liquid and outflow, inebriation and washing, violation and reproach.“120 Der Aspekt der „Ambivalenz“ spielt vor allem in den sich ab dem 13. Jahrhundert ent­wickeln­den Praktiken der Selbstverwundung und des Blutvergießens in der Nachfolge Christi eine Rolle. Dieses begegnet zum einen als individuelles, „privates“ Phänomen, das besonders in der dominikanischen Frömmigkeit nachweisbar ist.121 Dabei handelte es sich keineswegs um ein von Frauen dominiertes Feld;122 auch Männer praktizierten jene blutige Selbstkasteiung, wie das prominente Beispiel des Heinrich Seuse zeigt. Dieser berichtet nicht nur von schöfe von Branden­burg, Havelberg oder Magdeburg beschäftigten, sondern schließlich sogar die Intervention des Papstes Eugen  IV. verlangte, sowie schließlich den päpstlichen Legaten Nicolaus Cusanus zu einer grund­sätzlichen Verurteilung der Verehrung wundersamer Bluthostien provozierte: „We have heared from many reliable men and also have ourselves seen how the faithful stream to many places in the area […] to adore the precious blood of Christ […] that they believe is present in several transformed red hosts […] and it is clearly attested […] that they thus believe and adore it, and the clergy in their greed for money […] even encourage it […] it is pernicious […] and we cannot permit it without damage to God“ (zit. nach dies., Wonderful Blood, 27 f.). Schließlich kam es durch Papst Nikolaus V. 1453 zu einer vollständigen Rehabilitierung von Wilsnack und im Erfurter Gebiet zwischen ca. 1450–1480 zu veritablen Kinderkreuzzügen nach Wilsnack. Zur komplexen Geschichte der Streitig­keiten vgl. ebd., 25–29. 117  Der äußerst komplexe Diskurs über die ambivalenten Bedeutungsaspekte des Blutes kann hier nicht im Detail ausgeführt werden; vgl. dazu ausführlich ebd., 9–21. 118  „Body tends to signify community, inclusion, gathering in. Indeed even wound imagery in some sense evokes body more than blood; […] wounds are access to home, community, refuge, safety. Meditating on the crucifix, the twelfth-century devotional writer Aelred von Rievaulx stressed body as food and enclosure, but blood as that which excited, drop by drop by bloody drop“ (ebd., 10). 119  Vgl. zu den unterschiedlichen Konnotationen von sanguis (suavis) und cruor (crudelitas) ebd., 17 f. 120  Ebd., 10. 121  „Among the Dominicians, self-beating or ‚taking the discipline‘ was a regular ascetic practice, and holy women in the later Middle Ages were admired for pious bleeding in imitatio Christi, both miraculous and self-induced“ (ebd., 4). Zur vollständig anders gelagerten Auffassung der imitatio Christi beim Dominikaner Meister Eckhart vgl. etwa Steer, Passion Christi, 65–69. 122 Exemplarisch nennt Angenendt die Zürcher Dominikanerin Elsbeth Oye (gest. ca. 1350), deren blutige Selbst­geißelung die imitatio des Blutvergießens Jesu erstrebte; vgl. dazu Angenendt, Religiosität, 367.



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der blutigen Einschreibung Gottes in sein eigenes Herz, sondern nahm zudem exzessive Geißelungen zur Buße auf sich, die auf dem Gedanken jener Blut­ mystik aufruhten.123 Als kollektives Phänomen traten ab dem 13. Jahrhundert die Geißlerzüge in Erschei­nung,124 die in der Folge der Pestwelle des Jahres 1349 als „einer der schwersten Kata­stro­phen in der europäischen Geschichte“125 regen Zulauf erhielten und deren vordringlichstes Merkmal die Zuschaustellung des eigenen Blutes war.126 Ihre öffentlichen Buß­geißelun­gen, denen ein performativer Charakter127 eignete, gingen jedoch nicht in ihrem Charakter als publikumswirksames Spektakel auf. Gerade ihr theologischer Hintersinn, die Insze­nierung des Blutes als Sühneleistung, galt vielen kirchlichen Autoritäten als illegi­ti­mer Über­bietungsversuch der eigenen Heilsangebote.128 Ihre blutige Inszenierung empfand man als faszinierend129 und abschreckend zugleich, wobei die Irritation durch die inhä­rente Abwertung des kirchlichen Absolutionsmonopols schließlich die Oberhand gewann: Die besonders spektakuläre Geißelung wurde als vollwertige Buße angesehen – ja als effektivere und machtvollere, als sie der Priester oder die Kirche aussprechen konnte. Dem vergossenen Blut der Geißler sprach man wunderbare Eigenschaften zu, die Büßer rühmte man wegen vermeintlich vollbrachter Wunder.130 123  Vgl. dazu ebd., 366 f.: Unter „Blutmystik“ sei die Vorstellung zu fassen, dass das Blut auch in der Fröm­mig­keitspraxis als notwendiges Sühnemittel verstanden wurde. 124  „From the thirteenth century on, bands of flagellants roamed Europe, tearing out of their own flesh the suffering and joy of union with Christ. In the fifteenth century they were particularly feared in Thuringia“ (Bynum, Wonderful Blood, 4 sowie Anm. 26: „Appearing in Italy around 1260, the movement became very popular in Germany and Belgium immidiately after the Black Death in the midforteenth century.“). Zur Genese und den Anfängen der Flagellantenbewegung vor der Pest vgl. auch Bergdolt, Der Schwarze Tod, 107 f. 125  Dirlmeier/Fouquet/Fuhrmann, Europa, 18. Die Autoren konstatieren nach einer gründlichen Auflistung der Quellen, dass man bei aller Vorsicht von einer Dezimierung der europäischen Bevölkerung um ein Drittel ausgehen muss; vgl. dazu sowie für einen kurzen Abriss der Ausbreitungs­geschichte, der Erklärungsmuster und Behandlungsmethoden der Pest ebd., 19–21 sowie Berg­d olt, Der Schwarze Tod, 21–26 und Keil, Pest, 104. 126  „Als im Frühjahr des Jahres 1349 Nachrichten über die ersten Opfer der Pest in Mitteleuropa eintrafen, tauchten Gruppen eigenartiger Männer auf, die durch ihr Treiben Aufmerksamkeit er­weckten: mit besonderen Hüten, darauf ein rotes Kreuz, zogen sie unter eigenen Fahnen, mit Kerzen und Glockengeläute, paarweise geordnet und sich halbnackt nach strengem Ritual geißelnd, durch die Gegend. Sie wurden nach dem Kreuzzeichen benannt (cruce signati) oder nach der spektakulären Buß­übung als Geißler (flagellatores) bezeichnet“ (Graus, Pest, 38). 127  Bergdolt, Der Schwarze Tod, 113 merkt an: „Die Beschreibung ihrer Tänze und Prozessionen er­innert gelegentlich an Theaterinszenierungen“. 128  Zur Missbilligung der Geißler, ihrer Einschätzung als Gefährdung für Ruhe und Ordnung bis hin zu ihrer Verketzerung und Bekämpfung durch Bischöfe und Papst vgl. ausführlich Graus, Pest, 46–48.52–59 sowie Bergdolt, Der Schwarze Tod, 115 f. 129  Zur anfänglichen Begeisterung und Empathie der Bevölkerung und deren Parteinahme für die Geißler vgl. Graus, Pest, 46. 130  Ebd., 56 f. Das Auftreten der Geißler beschrieb Heinrich von Herford in seiner Weltchronik aus dem Jahr 1355 wie folgt: „Jede Geißel war eine Art Stock, von welchem drei Stränge

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Die Reaktion der Erfurter Stadtväter, den Geißlern 1349 schlicht den Zutritt in die Stadt zu untersagen, belegt exemplarisch die zunehmend bedrohlich erscheinende Autorität jener Gruppierung, die das Blut ins Zentrum stellte und das eigene Blutvergießen gleich­sam als apotropäischen Ritus inszenierte, wobei sie in Anspruch nahm, auf die Kata­stro­phe der Gegenwart eine wirkmächtigere Antwort zu besitzen als die Kirche.131 Der Geißlerbewegung, die im Gegensatz zum Phänomen der Tanzwut132 einem festen Regel­werk unterworfen war, die also gleichsam „Methode hatte“,133 eignete in beson­de­rem Maße das Moment der „Ausgrenzung“ und „Aggression“. Gegen wen jedoch richtete sich diese? Die in der älteren Literatur vertretene These, die Geißler hätten einen maß­geb­lichen Anteil an den damaligen Judenpogromen gehabt, hat Frantisek Graus in seiner ein­schlägigen Monographie jedoch nach sorgfältiger Prüfung der Quellen in Frage gestellt.134 Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass ihre Zeitgenossen, allen voran der Klerus,135 sie als eine in sich abgeschlossene und dadurch zugleich andere ausgrenzende136 mit großen Kno­ten vorne herabhingen. Mitten durch die Knoten liefen von beiden Seiten sich kreuzende, eiserne, nadel­scharfe Stacheln, die in der Länge eines Weizenkorns oder etwas mehr aus den Knoten ragten. Mit solchen Geißeln schlugen sie sich auf den entblößten Oberkörper, so daß dieser blau verfärbt und entstellt anschwoll und das Blut nach unten lief und die benachbarten Wände der Kirche, worin sie sich geißelten, bespritzte“ (zit. nach Bergdolt, Der Schwarze Tod, 111). 131 Zum zunehmenden allgemeinen Verlust der Glaubwürdigkeit der Bewegung, verschiedenen Verboten sowie speziell zur Lage in Erfurt vgl. ebd., 116: „Die Chronik von St. Peter in Erfurt berichtet, daß die Flagellanten 1349 in Scharen Thüringen heimsuchten. Viele Städte quollen von Fremden über, mit Ausnahme von Erfurt selbst, ‚weil die Stadtväter sie vorsorgend und weise nicht hereinließen. Die Geißler brachten nämlich den Geistlichen durch ihre Predigten und ihren Ungehorsam viel Verdruß […]. Und hätte diesen [sic!] nicht das Mitleid Gottes bewahrt, wäre der Klerus nach ihrem Willen gesteinigt oder gefoltert worden. Endlich wurde klar, welch ein Betrug das ganze war […]‘.“ Wie prekär das Verhalten der Geißler erscheinen musste, bringt Graus, Pest, 59 auf den Punkt, indem er feststellt, „[…] daß die Geißler ein zentrales Gebiet des religiösen Lebens dieser Zeit berührten: die Buße und die Vergebung der Sünden. Eine ‚Neutralität‘ auf diesem Gebiet war unmöglich.“ Die Diskreditierung der Geißler als Rotte von Ungebildeten etwa in Spottgedichten beschreibt ausführlich Schreiner, Laienfrömmigkeit, 33. 132  Zu den Parallelen, vor allem aber zu den Unterschieden zwischen den Tanzwütigen und den Geißlern vgl. Graus, Pest, 49–52. 133  Sowohl die Kleidung als auch das Verhalten sowie die zeitliche Dauer folgte festen Regeln, die durch die sogenannten Meister überwacht und sanktioniert wurden; vgl. dazu ebd., 38–43. 134  Zu der sehr ausführlichen Diskussion über die historische Probabilität der Beteiligung der Geißler an den Pogromen vgl. ebd., 220–222. Graus hält abschließend fest: „Die Beschuldigung gegen die Geißler, sie drängten zum Judenmorden, gehört wohl zu den Anklagen, die die Büßer als verdächtige Un­ruhe­stifter hinstellen sollten. Die Judenmorde der Jahre 1348–1350 waren kein Ergebnis der ‚religiösen Erregung‘, die durch exaltierte Geißler geschürt wurde“ (ebd., 222). 135  Vgl. dazu ebd., 46. 136  Diese Ausgrenzung, die etwa durch die einheitliche Tracht in Szene gesetzt wurde, betraf nicht zuletzt Frauen; so ebd., 42. Allerdings belegen niederländische Quellen die Zu-



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Einheit wahrnahmen. Ihre blutige Geißelungspraxis war nicht nur ein Akt der „Autoaggression“, sondern die Zur­schaustellung des eigenen Blutes als Sühnemittel wurde von den Geistlichen, die das Blut Christi als Sühnemittel in seiner sakramentalen Form verwalteten, zunehmend als Akt der „Aggression“ gegen die Kirche aufgefasst. Der Klerus nahm sich selbst als potentielles Opfer dieser „Aggression“ wahr und legitimierte so die eigene kirchliche Gewalt gegenüber den zunehmend als ketzerisch wahrgenommenen Geißlern. Kann mit Blick auf die Geißlerbewegung und ihrer Inszenierung des Blutes nicht von einer „Aggression“ gegenüber der jüdischen Bevölkerung gesprochen werden,137 muss an dieser Stelle auf weitere gleichsam öffentliche Bühnen verwiesen werden, auf der das Blut als Movens der latent stets vorhandenen Judenfeindlichkeit außer Frage steht: Der Vor­wurf des Ritualmordes sowie des Hostienfrevels auf der einen und die Passionsspiele beziehungsweise Heiltumsweisung und die damit zusammenhängenden Angriffe auf jüdische Mit­bür­ger auf der anderen Seite. Obgleich der Irrwitz der Annahme, Juden würden zu rituellen Zwecken Morde an Chri­sten begehen, auf der Hand lag  – wusste man doch um deren Einschätzung des Blutes als verun­reinigend  – florierten dessen ungeachtet die Ritualmordfabeln,138 die an vielen Orten des Reiches zu Pogromen gegenüber Juden führten.139 Besonders zynisch erscheint an dieser Stelle das lassung der Ehefrau (vgl. dazu Bulst, Flagellanten, 511); der dort angeführte Hinweis, dass die Bewegung in den Nieder­landen am längsten und konsequentesten von der Bevölkerung und dem Klerus unterstützt und akzep­tiert wurde, könnte womöglich auf die dort geringer ausgeprägten Abgrenzungstendenzen der Fla­gellan­ten zurückgeführt werden. 137  So auch den Stand der Forschung zusammenfassend ebd., 511. 138  Graus, Pest, 283–285 hält mit Blick auf die Ritualmordfabel fest: „[…] sie diente dazu, Juden kollektiv als Mörder abzustempeln, den Haß gegen sie zu schüren, manchmal auch dazu, einen lokalen Heiligen-Märtyrer zu fabrizieren. Da die Opfer von Ritualmorden als Märtyrer des wahren Glaubens galten, hatten sie Anspruch auf Verehrung: Es war daher verlockend, bei Morden, die man Juden in die Schuhe schieben konnte […], sich gleichfalls einen lokalen Heiligen zu verschaffen, zum Nutzen und zu Ehren der betreffenden Kirche. Allerdings wussten die Leute, die auch nur einigermaßen mit dem Judentum vertraut waren, daß die Anschuldigungen absolut nicht stimmen konnten: Zweifellos haben auch Juden Morde begangen ‒ aber nie zu irgendwelchen rituellen Zwecken, denn nach den Ritualvorschriften des Judentums wirkt jedes (selbst tierisches) Blut verunreinigend, und die Vor­stellung, Juden könnten Blut, welcher Art auch immer, zur Zubereitung ritueller Speisen verwenden, war eine Absurdität. […] Auch die Hochkirche verhielt sich Ritualmordbeschuldigungen gegenüber meist unverhohlen ablehnend […]. Die gezielte propagandistische Verbreitung der Fabel, vor allem durch Prediger der Bettelorden, hatte jedoch letztlich deshalb Erfolg, weil sie instinktiv den Haß gegen den Andersartigen mit der Mystik des Blutes, die im Volksaberglauben weit verbreitet war, verband. Daß diese Vorstellung wirklich Glauben fand, sieht man daran, daß zuweilen sogar Eltern versuchten, ihre Kinder an Juden für einen Ritualmord zu verkaufen […]. Die Juden haben diese ‚Verkäufer‘ den städti­schen Gerichten gemeldet; eine Beschuldigung wurde in der Folge nicht gegen sie, sondern gegen die Eltern erhoben.“ 139 Der erste nachantike aktenkundige Fall aus dem Jahr 1144 in Norwich fand viele Nachahmungen. In der Folge des IV. Laterankonzils und der dort verkündeten Transsubstantiationslehre steigerte sich das Interesse am Blut Christi und stützte die seit 1235 belegte These, die Juden würden das Blut eines ermordeten christlichen Kindes zur Herstellung ihrer

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Interesse der Gemeinden an der Entstehung eines lokalen Heiligen­kultes, von dem man in der Folge auch finanziell profitierte.140 In ihrer Wirksamkeit noch weitreichender und fataler als die Ritual­mord­beschul­digun­gen141 waren jedoch die Erzählungen über vermeintliche Hostienschändungen durch Juden.142 Wie ein Zerrbild zu den bereits erwähnten blutenden Hostien, deren wundersame Wirk­mäch­tigkeit im Zusammenhang der Transsubstantiationslehre zu begreifen ist (die Hostie ist Christus), die man in gemeinschaftsstiftenden Wallfahrten aufsuchte, von denen man sich Heilung und Heil erwartete, konnte die Hostie, der Leib Christi, auch zum blutenden Opfer einer als satanisch, schändlich und heimtückisch gezeichneten „Judenschaft“ erho­ben werden.143 Den in der Hostie gegenwärtigen Christus sah man ebenso wie seine An­hän­ger als latent und akut bedrohte Objekte jüdischer Gewalt,144 eine Behauptung, die man als willkommenen Vorwand und Legitimierung der eigenen exzessiven Gewaltausübung gegen­über Juden nutzte. Gleichsam in einer Endlosschleife drängte man die jüdische Bevölkerung in die Rolle derjenigen, die die Folterung und Ermordung Christi bis in die eigene Gegenwart fortsetzten.145 Betrachtete man das Blut im Mazzot verwenden; vgl. dazu Erb, Ritual­mord­be­schuldigung, 879 f. Eine genaue Auflistung der prominentesten Fälle des ausgehenden Mittel­alters liefert auch Graus, Pest, 285 f. Besonders frappierend ist die Tatsache, dass diese Annahmen bis ins 20. Jahrhundert hindurch kolportiert wurden, wie etwa eine mutige Gegenschrift des Berliner Theolo­gie­professors Hermann Strack belegt, der die These einer „Anwendung von Christenblut für irgendeinen Ritus der jüdi­schen Religion“ als absurd verwirft (vgl. Strack, Blut im Glauben, 104–109). 140  Vgl. zum Profit der christlichen Gemeinden ausführlich Signori, Wunder, 155–159, die etwa im Zusam­menhang mit dem angeblichen Ritualmord am „Guten Werner“ von Oberwesel 1287 von 90 Wundern berichtet. 141  Dirlmeier/Fouquet/Fuhrmann, Europa, 75 bemerken zu der unhinterfragten These der Juden als potentieller Kindermörder: „Das Heterostereotyp erwies sich als so bestimmend, dass schon das Ver­schwinden eines Kindes genügte, um ein Pogrom, zumindest eine gerichtliche Verfolgung auszu­lösen.“ 142 So Graus, Pest, 286. Grundsätzliche Erwägungen zur Anklage der Hostienschändung sowie eine chronologische Auflistung der konkreten Beschuldigungen und ihrer Auswirkungen auf die jüdischen Gemeinschaften vor Ort bietet Browe, Eucharistie, 361–379. 143  Die zunehmende Dämonisierung der Juden gerade in der Kunst beschreibt Cohen, Christ Killers, 202: „[T]he deliberate Jewish Christ killer of medieval art appaers ever more inhuman  – grotesque, animal-like, and demonic.“ Die vermeintlich fundamentale Alterität der Juden schlug sich etwa auch in der Vorstellung nieder, jüdische Männer menstruierten: „Popular Christian piety linked Jews with blood­shed, whether through stories about ritual murder or through myths about male Jews menstrua­ting. Like women, Jews were frequently defined as „body“, and, again like women, their bodies were often seen as dangerously porous and open, threatening contamination of those (Christian males) who came into contact with them“ (Clark/Sponsler, Othered Bodies, 72). 144  „Christian society […] soon included Christ himself among the victims of the contemporary Jewish peril, as it accused Jews of desecrating the Eucharist after its consecration (and miraculous trans­formation into the body of Christ) by a priest during mass“ (Cohen, Christ Killers, 203). 145  Graus, Pest, 288 erläutert diesen Mechanismus wie folgt: „Da nun ‚allgemein bekannt‘ war, daß die Juden ‚Feinde des Christengottes‘ seien, konnte es nicht ausbleiben, sie mit Hostien in Verbindung zu bringen. Ihre Feindschaft übertrug sich, diesen Vorstellungen nach, zwangs-



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Kontext der Hostienwunder als Signum des Lebens und der heilsamen Gegenwart Gottes für die Gläubigen, wurde es nun zum Symbol des unvorstellbaren Frevels der verstockten und verworfenen Juden und diente als Legitimierung der gegen sie gerichteten „Aggression“. Die Relation zwischen vermeintlicher Hostienschändung und dem Ausmaß antijüdischer „Aggression“ ist eklatant. Bis ins kleinste Detail konnte der immense Blutverlust der gemarterten Hostie beschrieben werden146 – wie etwa im Falle der in jeder Hinsicht beson­ders bemerkenswerten Pogromwelle, die 1298 in Röttingen an der Tauber durch den zwie­lich­tigen „König Rindfleisch“ angeführt wurde. Dieser Welle der Mordlust, die weite Teile von Franken erfasste und von den jeweiligen Gemeinden bereitwillig mitgetragen wurde, fielen Tausende fränkischer Juden zum Opfer.147 Die Liste der durch angebliche Ho­stien­frevel legitimierten Gewaltexzesse gegenüber Juden ließe sich beliebig fort­setzen.148 Die immer wieder erneute Vergegenwärtigung der Passion, die auch im Hintergrund der Hostien­frevelvorwürfe stand und das Motiv des gewaltsamen Blutvergießens immer neu in Szene setzte, spielte sich ebenfalls – wenngleich theatral und gleichsam unter christli­cher Regie – auf der Bühne der Liturgie und der Passionsspiele ab. Nicht immer,149 aber offen­bar in vielen Fällen, stellten die Requisiteure ihren Einfallsreichtum unter Beweis, um den Zuschauern eine läufig auf den in den Hostien wirklich existenten Christus. Die Martern, die die Juden einst Christus zugefügt hatten, wurden magisch an der Hostie immer neu wiederholt.“ Die logische Schwierigkeit, dass bei jenen Hostien schändenden Juden der Glaube an die Transsubstantiation vorausgesetzt werden müsste, wurde meist ignoriert oder durch andere Denkbewegungen gelöst (vgl. ebd., 288 f.). 146  „In dem selben Jahr ist auch das Gerücht entstanden von gewissen Juden, dass sie den Herrenleib in einem Mörser zerstoßen hätten und Blut in einer solchen Menge herausgeströmt sei, dass es später von den Juden nicht verborgen werden konnte. Und auf Grund dessen wurden alle Juden in Würzburg, Nürnberg, Rothenburg und auch in ganz Franken durch das Hineinspringen / Verhöhnen des Volkes und durch welche, die sich in großer Menge versammelten und durch jemand, der Rintflaisch genannt wurde, den sie als Anführer gewählt hatten, mit Feuer verbrannt, diese so neuerliche Verletzung des Retters strafen wollend.“ Eodem eciam anno exorta est fama quedam de Iudeis, quod corpus domini­cum in mortario contuderint, et sanguis in multa quantitate emanaverit, qui postea a Iudeis non poterat occultari. Et ob hoc omnes Iudei in Herbipoli, Nuͤrnberch, Rotenburch et eciam per totam Franconiam per insultum populi et quosdam, qui se in magna multitudine collegerant, et quendam qui Rintflaisch dicebatur, quem pro principe elegerant, volencium vindicare tam recentem iniuriam Salvatoris, incendio sunt cremati (Continuatio R atisbonensis, 419). 147 Vgl. Erb, Rintfleisch-Verfolgung, 858. 148  Weitere Beispiele aus dem 14. und 15. Jahrhundert finden sich u. a. bei Graus, Pest, 292–298. 149  In der in der vorliegenden Arbeit untersuchten Quelle des „Frankfurter Passionsspiels“ ist zwar die Rede von einer vorgeformten Seitenwunde auf dem Körper des Jesus-Darstellers; im Hinblick auf das aus ihr fließende Blut, das die Hände des Longinus und schließlich seine blinden Augen benetzt, ist jedoch das wichtige Wort „quasi“ eingefügt, das die Vermutung nahelegt, dass das Blut nicht real ein­gesetzt wurde, sondern von den Zuschauern zu imaginieren war; vgl. dazu A.2.2.2.2.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

möglichst lebensechte, blutige Darbietung zu liefern.150 So präparierte man etwa Christusfiguren, die in der Liturgie der Passionswoche eingesetzt wurden, mit blutgefüllten Tierblasen.151 Die entsprechenden Regieanweisungen des „Donau­ eschinger Passionsspiels“ und  – hier besonders einschlägig und präzise  – des „Luzer­ner Osterspiels“ belegen, dass die Inszenierung auf eine „realpräsentische“ Dar­stel­lung durch die Verwendung von (Kunst-) Blut setzte.152 Doch selbst dann, wenn, wie im Falle der Nürnberger Heiltumsweisung, zumindest für die Zuhörer und Zuschauer kein „reales“ Blut im Spiel war,153 sondern das Blut und die Wun­den Christi lediglich verbal evoziert wurden,154 wurde der dadurch ausgelöste Me­cha­nismus antijüdischer Gewaltexzesse beinah lakonisch als reale Möglichkeit voraus­gesetzt.155 150  Daxelmüller, Süße Nägel, 174 weist auf die gegenseitige Beeinflussung von Visionsliteratur, etwa der Margary Kempe von Lynn (gest. nach 1438) und geistlichen Spielen hin und auf die damit ver­bundene Steigerung einer immer brutaleren Darstellungsweise der Passion. Zu Kempe vgl. auch Beckwith, Christ’s Body, 25. 151 Vgl. dazu Bynum, Wonderful Blood, 4; sowie Scribner, Popular Piety, 456: „The realism of such dramatizations of the Passion was often heightened by having the figure fitted out with human hair and with a hollow in its side through which a bag of animal blood could be pierced with a spear to simulate the piercing of Christ’s side as he hung on the cross.“ Auch Daxelmüller, Süße Nägel, 174 merkt an: „Wenn aber schon aus der Figur des ‚Mirakelmannes‘ nach dem Lanzenstoß echtes Blut floß, dann darf die Realitätsnähe der Passionsspiele keinesfalls unterschätzt werden.“ 152 Das „Donaueschinger Passionsspiel“ setzt Blut bereits vor der Longinus-Szene ein, beim Zerbrechen von Jesus Gliedmaßen: […] und mit irgen kölben tund sy als ob / Sy innen die bein vnd arm zer/brechent das es blüttet item (Touber, Donaueschinger Passionsspiel, 220, Regie­an­wei­sung nach Z. 3509). In der Longinus-Szene ist offenbar ein besonders präparierter Speer vonnöten: Sadoch setzt loynus das sper an / das denn dar zu gemacht sol sin / vnd den sticht loynus das daz blut / yss her sprützt vnd im vber die / Stangen ab vff die hend loufft (ebd., 221, Regieanweisung nach Z. 3527). Die Anweisungen im „Luzerner Osterspiel“ sind noch detaillierter: Die Kolben der Peiniger sollen vornen mit Blutschwümmen versehen sein; der Speer des Longinus in einem eigens dafür ange­fertigten Hohlraum mit Blut sein; vgl. dazu Evans, Staging, 289. Auch wenn im „Heidelberger“ sowie im „Alsfelder Passionsspiel“, in der „Frankfurter Dirigierrolle“ und dem „Frankfurter Passions­spiel“ genaue Regieanweisungen fehlen und deswegen offenbleiben muss, ob die Zuschauer das Blut imaginieren mussten oder zu Gesicht bekamen, ist nicht auszuschließen, dass man auch dort auf die reale Inszenierung des Blutes setzte. 153  Die Abbildung des Kreuzes im Heiltumsbüchlein zeigt freilich einen Blutfleck etwa auf Höhe der zu denkenden Seitenwunde und den völlig in Blut getauchten Speerschaft; vgl. http://daten.digitale-sammlungen.de/0001/bsb00011304/images/index.html?id=00011304&g roesser=&fip=eayayztsewqeayaxswxdsydensdasyztsfsdr&no=30&seite=14 (letzter Zugriff am 4. Januar 2021). 154  Im Text des sogenannten „Schreizettels“, der zwischen 1438 und 1459 in Gebrauch war, taucht im dritten und wichtigsten Umgang, der die mit der Passion verbundenen Reliquien zeigt, in wenigen Zeilen viermal das Lexem „Blut“ auf; vgl. dazu den Abdruck des Textes bei Schnelbögl, Reichs­kleinodien, 156 sowie Anonym, hochwirdigist heiligthum. 155 Immerhin schien man in Nürnberg zumindest vorbeugende Gegenmaßnahmen zu ergreifen: „Wie bei allen christlichen Hochfesten des Mittelalters drohte auch am Tag der Heiltumsweisung der religiöse Fana­tismus den Juden gefährlich zu werden. Deshalb genehmigte der Rat dem Judenviertel beim Laufertor militärischen Schutz“ (ebd., 113).



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Betrachtet man die Spielarten der spätmittelalterlichen Blut- und Wundenfrömmigkeit in ihren je unterschiedlichen Zusammenhängen und Ausformungen unter den genannten Ob­jek­tiven der „Multiplikation“, der „Ambivalenz“ und der „aggressiven Ausgrenzung“, so wird eines überdeutlich: Das rettende, heilsame pro nobis des Blutvergießens156 konnte im Handumdrehen zu einem verdammenden contra eos funktionalisiert und missbraucht werden.157 An keiner anderen Stelle tritt die „Ambivalenz“158 des Blutes im ausgehenden Mittelalter so deutlich zu Tage wie in der Verquickung von Blutfrömmigkeit und Antijudaismus. Sein ambivalentes Changieren zwischen Lebenselixier und Todessymbol, seine Verortung in der Passion Christi als Signum von Leiden und Liebe (im Sinne der Doppelbedeutung der passio), seine integrierende Macht für die christliche communio wie auch sein massives „Aus­grenzungs- und Gewaltpotential“ sollten bedacht werden, wenn nun in einem zweiten Schritt die Seitenwunde als zentrale Wunde der Passion und als wichtigste Quelle des heiligen Blutes betrachtet werden soll.

2.2  Konzentration versus Multiplikation: Die Seitenwunde Christi als zentrale Quelle des heiligen Blutes In welchem Konnex stehen nunmehr die im Vorangegangenen beschriebene Aufmerksamkeit für das Blut und die Wunden Christi zu jener spezifischen Ver­ ehrung der Seitenwunde Christi? Der vermeintlich naheliegenden Vermutung einer engen Ver­bindung zwischen Seitenwundenfrömmigkeit und Blutfrömmigkeit widerspricht Caroline Bynum: Devotion to Christ’s wounds, side and heart is not, as is sometimes said, the source of blood devotion or closely related to it. The origin of devotion to Christ’s side, to nursing from and achieving access through it, lies in the thirteenth century and is a sweeter, sunnier piety than the forteenth- and fifteenth-century appeal to blood.

Im Kon­text der Seitenwundenfrömmigkeit, so führt Bynum aus, gehe es oft nicht primär um das Blut Christi, sondern meist um nährende Milch und süßen 156  In seiner Verteidigungsrede der Wilsnacker Blutreliquie, dem Tractatus de sacratissimo sanguine domi­ni aus dem Jahr 1280 nennt der Dominikaner Gerhard von Köln das Wiedererwecken der Liebe als wichtigsten Aspekt; vgl. dazu Bynum, Blood of Christ, 700. 157  Vgl. dazu ebd., 707: „However horrifying it is, it is (alas!) not surprising that blood relics  – and hosts (bodies) breached by blood  – were associated not only with relatively innocent competition among religious houses, cities, and monachies but also with pogroms and crusades, the slaughtering of Jews, and the persecution of heretics.“ 158 Ebd., 687 f. beschreibt diese Ambivalenz des Blutes wie folgt: „[…] a complex image of violence and division as well as of cleansing, fertility, and spiritual arousal, even ecstasy.“ Vgl. auch ebd., 705: „Blood is, both physiolocally and symbolically, more complex and labile because finally contra­dictory. Blood is life and death.“

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Honig!159 Diese in meinen Augen gewichtige These soll in der vorliegenden Arbeit an anderer Stelle (beson­ders unter B.4.2 und B.6.2) aufgegriffen werden. Ein allzu enger Konnex der Seitenwundenfrömmigkeit mit der Blut- und Wundenfrömmigkeit oder die Annahme einer direkten Genese wäre also irreführend. Dennoch stellt sich freilich die Frage, in wel­chem Verhältnis, vielleicht auch in welchem Spannungsfeld die Verehrung der Seiten­wunde zu der divergierenden und vielgestaltigen Blut- und Wundenfrömmigkeit gestan­den haben mag. Zunächst lässt sich wohl mit Hoeps konstatieren, dass die Hinwendung zur Seitenwunde als „bedeutsamster Wunde“160 ebenso wie die allgemeine Wundenfrömmigkeit als „Weg der recht verstandenen Nachfolge“ zu betrachten ist, der durchaus im wörtlichen Sinne – durch die Wunden am Körper Jesu [führt]. Dessen Wunden sind deshalb […] Öffnung in weiterer, aber auch grundsätzlicherer Bedeutung: Sie sind Ort der Versenkung, Über­gang, Tor, Schwelle vom Irdischen zum Himmlischen, vom Menschlichen zum Gött­li­chen, vom Materiellen zum Immateriellen, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren.161

Hatte das unter B.2.1 angewandte Objektiv der „Multiplikation“ die Tendenz zu einer immer weiteren Vervielfachung der Wunden Christi gezeigt, den Trend zu einer nume­risch weit über das biblische Zeugnis hinausgehende Wundenanzahl, so lässt sich zu­gleich feststellen, dass die Seitenwunde stellvertretend, gleichsam pars pro toto für alle Verwundungen Christi, ja, für sein Verwundetsein schlechthin und letztlich sogar als Sym­bol für den ganzen Passionschristus dargestellt werden konnte.162 Zugleich wird sie als die ursprüngliche und zugleich präsentische Quelle des Blutes Christi verehrt – jenseits der vielfältigen Erscheinungsformen des Blutes Christi, die unter B.2.1 angesprochen wurden. An dieser Stelle sei an den von Berndt Hamm geprägten Terminus der „normativen Zentrie­rung“ erinnert. Blickt man auf die ausgewählten Quellen als exemplarische Zeug­nisse des ausgehenden Mittelalters, die im Kontext der generellen Blut- und Wunden­ fröm­migkeit einzuordnen sind, ist doch zugleich eine unabweisbare Sonderstellung der Seiten­wunde zu beobachten. Das direkte Trinken aus der Seitenwunde, wie es die Visionstexte der Angela von Foligno be­schreiben, zeichnet diese als Quelle des von allen Sünden reinigenden Blutes, das Angela direkt, ohne sakramentale Vermittlung zuteilwird. 159  „Scholars have perhaps been too quick to lump together themes of wound, heart, and blood, seeing in all such devotions a rather morbid fascination with violation and suffering. If we read carefully, however, we find that what flows from Christ’s side in mystical visions, prayers, and hymns is often the sweetness of milk and honey, not blood“ (Bynum, Wonderful Blood, 14). 160  Vgl. dazu Hoeps/Hoppe-Sailer, Deine Wunden, 158. 161 Ebd. 162  Didi-Hubermann, Das hl. Herz, 140 f. spricht im Anschluss an Ringbom (Anm. 3) von einer „dra­ma­tischen Großaufnahme“ und einer „paradoxalen Endoskopie“ des Christuskörpers.

2  Essenz des Lebens und Symbol der Destruktion



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Christus selbst ruft sie dazu auf (vocavit me), ihren Mund an seine Seitenwunde zu legen (quod ego ponerem os meum in plagam lateris sui). Ohne dass den anderen Wunden Beachtung geschenkt würde, gilt Angelas Konzentration allein der Seitenwunde, aus der es ihr scheint (et videbatur mihi), als sähe und tränke sie das ganz frisch (recenter) aus ihr fließende Blut (ego viderem et biberem sanguinem eius fluentem recenter ex latere suo). In diesem Blut geschieht Ange­las Reinigung (et dabatur mihi intelligere quod in isto mundaret me).163 Das Moment des gegenwärtigen, unmittelbaren Zugangs zum Blut Christi, das unver­mittelt aus dessen Seitenwunde strömt und mit der Erfahrung der Reinigung, der Erlösung ver­bunden ist, ist besonders gewichtig. Angela beschreibt ein Erlebnis, das schwer übertroffen werden kann. Ganz offenkundig überbietet diese Erfahrung sogar den Empfang des Sakramentes in der Eucharistie. Gertrud von Helfta, die in ihrem Legatus über ihre Zweifel berichtet, ob sie würdig genug sei, das Sakrament aus den Händen des Priesters zu empfangen, schildert ebenfalls den direkten Empfang des Blutes aus der Seitenwunde. Das ver­wundete Herz Christi wäscht sie mit seinem Wasser rein und tränkt sie mit seinem Blut; es wird zum Wurzelgrund ihrer Seele, die Gertrud in einer sich anschließenden Vision als Baum schaut. Alle Selbstzweifel, alle Scheu vor dem Empfang des Blutes werden durch den unmittelbaren Zugang zu Christi Seitenwunde zerstreut: […] der liebens­werteste Jesus schien sie an die Verwundung des Herzens zu ziehen, die ihm zugefügt worden war durch die Glut seiner Liebe. In dem dort ausfließenden Wasser wusch er sie und tränkte sie mit dem lebendig machenden Blut seines Herzens […] und sie sah ihre Seele in der Gestalt eines Baumes, der eine Wurzel in der Seiten­ wunde Christi angeheftet hatte.164

Obgleich Angela und Gertrud auch von den anderen Kreuzeswunden sprechen  – Angela von Foligno etwa nennt in einer Vision die Schau der durchbohrten Hand Christi165 und all seiner geöffneten Wunden (in aspectu vulnerum apertorum) – steht die Seiten­wunde als zentrale Quelle des Blutes ohne Zweifel im Zentrum ihrer Auf­merk­samkeit. Dies wird noch einmal besonders in jener Vision Angelas deutlich, in der ihre geistlichen „Söhne“ von Christus an seine Seitenwunde angelegt werden: „[…] der selige Jesus selbst legte diese, die er mit so großer Liebe einzeln umfing und deren Köpfe er beim Küssen streichelte, an 163 

Angela, Mem. I, Z. 146–149. […] ipse amantissimus Jesus per vaporem amoris sui vulnerati Cordis eam sibi attrahere videbatur et abluere in aqua inde profluenti, deinde irrigare ipsam in sanguine vivificante sui Cordis […] animam suam, in similitudine arboris, conspiceret radicem habere fixam in vulnere lateris Jesu (Gertrud, Legatus III, C. XVIII/5, Z. 14–17). 165  Vgl. dazu Angela, Mem. VI, Z. 250 f.: „Und ich freute mich so darüber, jene Hand zu schauen, welche er mit jenen Zeichen der Nägel zeigte, und dabei sagte: Siehe jene [Male], die ich für euch ertragen habe.“ Et delector ita videre illam manum, quam ostendet cum illis signis clavorum, quando dicet: Ecce illa quae sustinui pro vobis. 164 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

die Seitenwunde an.“166 In unter­schied­lichen Graden werden sie in diesem Akt von seinem Blut benetzt: Auch schien es ihr eine große Abstufung [zu geben] bei der Umarmung der Söhne und der Anheftung an die Seite: Denn einige stieß er mehr, andere weniger hinein; einige heftete er öfter an, einige nahm er wahrhaftig innerlich, körperlich auf. Bei manchen erschien auf den Lippen die Rötung durch das rote Blut, das bei anderen das ganze Gesicht färbte – gemäß der oben beschriebenen Abstufungen.167

Blickt man noch einmal auf die in B.2.1 angewendeten Objektive, wird eines deutlich: Hatte sich neben dem Moment der „Multiplikation“ der Wunden und der Erschei­nungs­formen des Blutes bei Gertrud und Angela im Gegenteil die Tendenz zur Konzentration auf die eine zentrale Wunde, die eine zentrale Quelle des Blutes gezeigt, so fällt als wei­terer Gegensatz ebenso auf, dass die dort beobachtete „Ambivalenz“ des Blutes in den Texten Angelas keine Rolle zu spielen scheint. Auch wenn von Abstufungen der Intensität die Rede ist, ist das Moment der Verdammung oder Verwerfung nicht im Spiel. Das Blut erscheint eindeutig als rettendes Symbol der Erwählung und Erlösung. Allen geistlichen Söhnen wird in der (graduellen) Benetzung durch das Blut der Weg in die Nachfolge eröffnet. Auch in der Vita Christi finden sich zahlreiche Belege, die die Seitenwunde als bedeut­sam­ste Quelle des Blutes Christi, als zentrale Wunde, thematisieren. Jedoch ist im Haupt­werk des Kartäusers etwas von jener „Ambivalenz“ spürbar, die bereits in B.2.1 deutlich wurde. Wenn das aus der Seitenwunde strömende Blut einerseits als Heilmittel der Blind­heit des Longinus und in Rekurs auf alt­ testamentliche Perikopen in komplexer soterio­logischer Abgrenzung zum Wasser als Reinigung von den Makeln schließlich als Löse­geld und vollständiges Mittel unserer Errettung gezeichnet wird, andererseits jedoch das Vergießen des Blutes selbst als vordringlichste Offenbarung der Grausamkeit und Schänd­lichkeit der Juden beschrieben wird, die als Akt der Totenschändung sogar die Kreuzi­gung selbst überboten habe,168 so manifestiert sich an dieser Stelle auch im Kontext der Seitenwundenfrömmigkeit jene Zweideutigkeit des „pro nobis“ und „contra 166  […] quos ipse benedictus Jesus cum tanto amore singulos amplexans, ad vulnus lateris osculandum cum manibus eorum stringens capita applicabat (dies., Ins. IV, Z. 77–79). 167  Videbatur etiam magnus gradus in filiorum amplexu et applicatione ad latus, quia quosdam plus, quosdam minus infigebat, quosdam etiam saepius applicabat, quosdam vere intus corporaliter absorbebat; apparebatque in labiis rubricatio rubentis sanguinis, quae in aliquibus totam faciem colorabat secundum gradus supra expressos (ebd., Z. 83–87). 168  Ludolf, Vita Christi II, 136, 1. Sp. Z. 50 f.: „[…] denn, dass der Soldat auch den toten Körper schän­dete, war um vieles schlimmer, als ihn zu kreuzigen.“ […] nam et in mortuum convitiari corpus militem, multo deterius fuit, quam crucifigi. Zugleich ist Longinus, der als Empfänger von Gnade und Barmherzigkeit gezeichnet wird, wenige Zeilen zuvor als handelndes Subjekt bereits exkulpiert: Er habe nicht aus eigener Motivation, sondern auf Betreiben der Juden gehandelt: „Und merke, dass dieser Soldat dies den Juden zu Gefallen tat […].“ Et nota quod iste liles fecit hoc ad complacentiam Judaeorum […] (ebd., Z. 32).



2  Essenz des Lebens und Symbol der Destruktion

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eos“. Untrennbar werden Heilsgeschehen  – der bis heute andauernde Ausfluss der Sakramente, die Kon­stitution der Kirche – und Unheilsdrohung gegen die Juden als vermeintliche Verur­sacher dieser Schmach (contumelia) miteinander verwoben. Das für Longinus heil­same Blut169 kann zugleich als Symbol des Fluches erscheinen, wie Ludolf von Sachsen in den Passionsbetrachtungen in Abschnitt 13 (Miraculum et significatio sanguinis et aqua de latere Christi fluentes) ausführt. In einem komplexen soteriologischen Diskurs beleuch­tet er dort die Seitenwunde Christi als Ursprungsort unserer Erlösung, versinnbildlicht durch das aus ihr fließende Wasser und Blut.170 Jenen detailliert ausge­führten Heilsplan entwirft er jedoch vor der dunklen Hintergrundfolie „der von den Juden zuge­f ügten Schmach“ (contumelia a Judaeis illata) – eine Formulierung, die er allen folgen­den Überlegungen voranstellt.171 Detailliert führt er die verschiedenen, sich aus­differen­zierenden Wirkungsweisen aus, die Wasser und Blut eignen. Dabei rekurriert er auf ein­schlägi­ge Bibelstellen (Ex 12; 1 Petr 1,18), um das Blut als Lösegeld und Mittel unseres Loskaufs (redemptio) zu beschreiben. Die Verunglimpfung der Juden behält dabei nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort, so dass die Schilderung ihrer Schänd­lich­keit und schließlich ihrer Boshaftigkeit (malitia) jenen soteriologischen Passus des Abschnitts 13 rahmt.172 Es ist auffällig, dass besonders an den Stellen jener so populären und breit rezipierten Leben-Jesu-Darstellung immer dann explizit antijudaistische Propaganda im Kontext der Sei­ten­wunden­betrachtung ins Spiel kommt, wenn diese als Quelle des heiligen Blutes reflek­tiert wird. Obschon Ludolf auch an den anderen Kreuzeswunden Interesse zeigt173 und bereits im Pro­ömium seiner Vita Christi auf die über 5.000 Passionswunden verweist, steht doch die geöffnete Seitenwunde als Hauptquelle des Blutes im Zentrum seines Interesses. Dass hier für ihn nicht nur ein rein „historischer“ Zusammenhang besteht, sondern es ihm um die Präsenz des Seitenwundenblutes geht, macht er immer wieder deutlich: […] weil von dort die Sakramente der Kirche ausgeflossen sind, ohne welche man nicht zum wahren Leben eintreten kann. Und bedenke, dass was gesagt wird vom Ausfließen der Sakra­mente von der Seite Christi, besonders zu verstehen ist mit Blick auf die beiden Haupt­sakramente, ohne welche man nicht zum Leben eingehen kann, 169  Die Benetzung seiner Augen durch das Blut Christi, welches ‒ wie detailliert beschrieben wird ‒ an der Lanze herabrann, heilt seine Blindheit. Es verwandelt ihn in der Folge in einen Bekehrten und andere Bekehrenden; schließlich ist sogar noch von bischöflicher Ehre und der Krone des Martyriums die Rede. 170  Ausführlicher geht Ludolf auf den Aspekt des erlösenden Blutes auch in Abschnitt 14 ein, in dem er das Blut als „unsere reiche Erlösung“ bezeichnet: sanguis tuus, copiosa redemptio nostra; vgl. dazu Ludolf, Vita Christi II, 140, r. Sp., Z. 17. 171  Siehe ebd., 136, r. Sp., 41 f. 172  Ludolf fordert seine Leser dezidiert auf, die Bosheit der Juden zu bedenken: Considera nunc quanta fuit malitia Judaeorum […] (ebd., 137, l. Sp., Z. 38 f.). 173  So etwa in seiner breiten Ausführung zur Parallelisierung von Kreuzeswunden und menschlichen Sün­den und Begierden (ebd., 138, l. Sp., Z. 32–43).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

nämlich vom Sakra­ment der Erlösung und vom Sakrament der Reinwaschung. Das erste davon besteht im Sakrament der Eucharistie und wird durch das Blut angezeigt, welches freilich selbst das gleiche Blut ist, das wir täglich trinken und das von der Seite Christi geflossen ist.174

In seiner detaillierten Beschreibung und der theologischen Ausdeutung der Voll­ständig­keit des Blutverlustes Christi kommt sicherlich nicht nur aus chronologischen Gründen (ergießt sich doch aus ihr unter anderem das Blut des Herzens) die Seitenwunde Christi als letzte und wichtigste Wunde ins Spiel.175 Zusammenfassend kann man mit Blick auf die Vita Christi feststellen, dass der Seiten­wunde als Quelle des heiligen Blutes im Kontext einer allgemeinen Blut- und Wunden­fröm­migkeit des Kartäusers ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. So kann man mit Ludolf alle Wunden einzeln anbeten, man kann die eigenen fünf Sinne durch die fünf Kreuzes­wunden erlösen lassen – doch zugleich begreift man das Moment des heilsamen Loskaufes durch das Blut Christi gerade in der Konzentration auf die Seitenwunde. Im Gegen­satz zu Angela von Foligno und Gertrud von Helfta bilden dabei in jenem Diskurs der Errettung die „Ambivalenz“ des Blutes und sein Potential der aggressiven „Aus­gren­zung“ einen stets hörbaren bedrohlichen Kontrapunkt. Lassen sich ähnliche Beobachtungen auch für die performativen Quellen der vorliegen­den Arbeit anstellen? Und in welchem Verhältnis stehen dort die Seitenwunde und das Blut beziehungsweise wie stellt sich die Seitenwunde in ihrer Relation zu den anderen Wunden dar? Hier ergibt sich nun meines Erachtens ein durchaus differenziertes Bild. Betrachtet man zunächst die Vita Elisabeth, so begegnet dort ein besonderes Phänomen: Nicht die Seiten­wunde Christi ist Gegenstand der Betrachtung, sondern deren reziprokes Spiegelbild, die Ver­wundung der Seite der jungen Elisabeth. Dabei fällt zunächst auf, dass sie, auch wenn sie in ihrer Formung (oblungum) von den anderen Kreuzeswunden (vulnera membrorum rotun­da sunt) durchaus abgehoben wird,176 mit Blick auf die periodischen Blutungen nicht eigens hervorgehoben oder ihre Relevanz betont wird. Diese auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache wird jedoch, wie bereits unter A.2.2.1.2 kon­statiert, durch den Duktus des Textes rasch einsichtig und nachvollziehbar: Während Philipp relativ detailliert den Blutverlust Elisabeths aus den Wunden an Händen 174  Ebd., 137, r. Sp., Z. 39–53: […] quia inde sacramenta Ecclesiae manaverunt, sine quibus ad veram vitam non intratur. Et nota quod hoc, quod dicitur sacramenta manasse de latere Christi, specialiter intelligendum est de duobus praecipuis sacramentis, sine quibus non intratur ad vitam, videlicet: de sacramento redemtionis, et de sacramento ablutionis. Quorum primum pertinet ad sacramentum Eucharistiae, et significatur per sanguinem, imo est ipse idem sanguis quem quotidie sumimus, et qui fluxit de latere Christi. 175  Vgl. dazu ebd., 139, l.  Sp., Z. 51–54: „[…] das Blut, das im Herzen verblieben ist […] hat er in der Öffnung der Seite vergossen.“ […] sanguinem qui remansit in corde […] effudit in lateris apertione. 176 Auch der Grund für die unterschiedlichen Erscheinungsformen (länglich/rundlich) wird genannt: […] ut illa clavorum, hoc lancea significent impressuras (Philipp von Clairvaux, Vita, 363, Z. 32 f.).



2  Essenz des Lebens und Symbol der Destruktion

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und Füßen sowie zusätzlich auch aus den Fingernägeln und den Augen beschreiben kann,177 hindert ihn der Primat der Schicklichkeit und Züchtigkeit an einer näheren Beschäftigung mit einer Wunde auf Brusthöhe. Dies führt zu einer bemerkenswerten Umkehrung: Er­scheint sonst die Seitenwunde als das primäre Objekt der Frömmigkeit, das Blut, insofern es aus ihr hervorquillt, als sekundärer Gegenstand der Verehrung, so dient bei Elisabeth von Spaalbeeck nunmehr das Blut – und zwar in seiner schriftgetreuen (Joh 19,34) Gestalt als „wie mit Wasser vermischt“ – gerade als Beweis für die Existenz der „unsichtbaren“ Seiten­wunde der Elisabeth. Das aus ihr hervorquellende, mit Wasser vermischte Blut, das ihr Gewand tränkt, scheint für Philipp und seine Begleiter der ausschlaggebende Hinweis auf die tatsächliche Existenz der Seitenwunde: „[…] durch eine Öffnung des Kleides, etwa auf Brusthöhe ange­bracht, sahen wir Blut, nicht gänzlich rot, sondern wie mit Wasser vermischt, aus­fließen.“178 Nicht nur das Johannesevangelium (Joh 19,34) klingt an dieser Stelle an; die Nennung ihres enganliegenden, vom Blut getränkten wollenen Kleides (vestimentum laneum quod ad­haeret carni, vidimus eodem sanguine inquinatum)179 evoziert eine weitere Bibelstelle: Jes 63,3. Auch wenn die periodischen Blutungen nicht allein aus Elisabeths Seitenwunde doku­men­tiert werden, sondern auch ihre Hände, Füße, Augen und Fingernägel betreffen,180 ist das Blut aus der Seitenwunde, insofern es dem biblischen Bericht aus dem Johannes­evan­ge­lium gemäß beschrieben wird, dennoch etwas Besonderes. Das aus ihr fließende Blut be­ zeugt in diesem besonderen Fall der Passions-Performanz den vollständigen, „original­ge­treuen“ Nachvollzug des Leidens Christi. Wie bei Angela und Gertrud und im Gegen­satz zu Ludolf von Sachsen eignet diesem Blut keine Dimension der „Ausgrenzung“ oder „Aggression“. Besonders eindrücklich ist die harmonische Synthese zwischen Elisabeths ausgeprägter Eu­charistiefrömmigkeit und ihrer somatischen Mimesis des blutenden, verwundeten Christus­körpers: Auf die Elevation der Hostie, die sie durch das Fensterchen in ihrer Kammer in der angrenzenden Kapelle schaut, antwortet sie mit dem Zeigen ihrer Wun­den, die nichts anderes zu verkünden scheinen als Freude und Heil. Ist die Seitenwunde im Fall Elisabeths verhüllt und nur indirekt durch das aus ihr quellen­de Blut zu erschließen, so vermag die „Frankfurter Dirigierrolle“ die Seitenwunde Christi als Quelle seines Blutes bühnenwirksam, geradezu osten177  Vgl. dazu ebd., 369, Z. 20: „Auch sahen wir die Wangen durch das aus den Augen herausfließende Blut nicht wenig befleckt. Ebenso oftmals, durch die Fingernägel und das Fleisch, vor uns als Zuschauern, floss der Fluss des Blutes von den Fingerspitzen […].“ Maxillas etiam sanguine ab oculis decurrente vidimus non modicum maculatas. Item aliquotiens per interungues et carnem, nobis intuentibus, fluxum sanguinis evomit extremitas digitorum […]. 178  […] sanguinem non omnino rubeum, sed quasi admixtum aquae, vidimus defluentem (ebd., 371, Z. 13 f.). 179  Vgl. ebd., Z. 10 f. 180 Ihre Angehörigen entdecken sogar weitere Blutstropfen an ihrer Stirn, die von den Malen einer Dornen­krone herzurühren scheinen; vgl. dazu ebd., 376, Z. 6–10.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

tativ in Szene zu setzen. Die einschlägige Regieanweisung macht dies deutlich: „Aber die Wunde der Seite und des­gleichen die anderen Wunden sollen vorher aufgemalt werden, so dass sie wie Wunden erscheinen.“181 Dabei ist es nicht eindeutig, ob das aus ihr strömende Blut lediglich ge­stisch evoziert („Longinus rührte auch die Augen an, wie wenn sie voller Blut wä­ren“)182 oder real eingesetzt wurde. Eindeutig beziehungsweise eben vielmehr mehrdeutig ist die mit der Szene verbundene wider­sprüch­li­che Botschaft: Zwar ist der Kontakt mit jenem Blut aus der Seitenwunde für Longinus heil­bringend, da er, wie er im Text des „Frankfurter Passionsspiel“ explizit sagt, durch das Blut der Seitenwunde sein Augenlicht wieder erlangt,183 doch zugleich steht der As­pekt der Rache und des drohenden Fluches ebenso unübersehbar im Raum. Der Text des „Frankfurter Passionsspiels“ legt Christus selbst in einer prophetischen Vor­weg­nahme des Geschehens jene Drohung in den Mund, die die Durchbohrung seiner Seite als Tat einer vil dorichte(n) Iudischeit beschreibt, die nach Vergeltung ruft und jed­we­de Gewalt gegen Juden zu legitimieren scheint: […] mit der lantzen hastu eyn himel­schen durchstochen. / das werde ich nit lassen vngerochen.184 Heil und Unheil liegen hier bühnenwirksam dicht nebeneinander  ‒ und doch tritt der heil­same Aspekt gegenüber der unübersehbaren Drohkulisse, die mit der Seitenwundenszene verbunden ist, weit zurück. Die Seitenwunde ist im Kontext von FD und FP ganz offen­sicht­lich Quelle jenes Blutes, von dem es im Matthäusevangelium (Mt 27,25) in fataler Weise heißt, es möge „über uns und unsere Kinder“ kommen. Die Seitenwunde als gewichtigste Quelle des Blutes scheint gerade im Kontext der Passi­ons­spiele all jene judenfeindlichen Aspekte auf sich zu ziehen, all jene Momente der „Aus­grenzung“ und „Aggression“, die auch im breiten Strom der spätmittelalterlichen Blut­frömmigkeit aufgezeigt wurden. Durchaus andere Konnotationen treten in den Vordergrund, wenn man die einschlägigen bild­lichen Zeugnisse der vorliegenden Arbeit betrachtet, in denen die Seitenwunde als Quel­le des Blutes gezeichnet wird. Es ist nicht gerade eine überbordende Fülle des Blutes, die dem Bildbetrachter der ein­schlä­gigen Abbildung aus dem Rothschild Canticum (siehe A.2.3.2) gezeigt wird. Das um die Seitenwunde und die Fuß- sowie eine Handwunde gemalte Blut erscheint bewusst „wie gemalt“, wie fein ziseliert. Jedem biologischen Realismus zum Trotz bildet gerade das Blut aus der Seitenwunde die Form eines Sterns oder einer Blüte. Es ist, als bildete die Darstellungsweise des Blutes das inhärente theologische Grund­axiom ab: Das Blut, das der Seitenwunde als Zielpunkt des 181  „Aber die Wunde der Seite und die anderen Wunden ebenso seien vorher aufgemalt, so dass sie wie Wunden erscheinen/aussehen.“ Vulnus autem lateris et alia wlnera similiter sint prius depicta, ut quasi wlnera videantur (FD 241). 182  Quo facto tangat oculos suos manibus quasi sangwine Christi madidis (FP, S. 405). 183  […] sin blut ran mir uff myn hant, / da streich ich isz alzuhant / vber die blinden augen myn; / zu stunt sage ich des tages schin, / vnd kame doch ein armer blinder her (FP 4206–4210). 184 FP 3672–3674.



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verwundenden Liebesspeeres der minnenden Seele, als Objekt der Liebe, entspringt, soll selbst vor allem als Symbol der Leidenschaft und der Liebe und nicht des Todes begriffen werden.185 Schließlich ist es nicht der tote Christus am Kreuz, sondern der lebendige Liebhaber der Seele, der auf diese Weise mit den blutenden Malen gezeichnet ist, dessen „Herzblut“ Zeichen seiner passio ist, die im Kontext der Brautmystik vor allem als Leidenschaft verstanden wird. Von einer „Ambivalenz“ des Blutes ist hier nichts zu spüren. Auffallend ist jedoch, dass, ob­gleich das Blut auch die anderen Kreuzeswunden zeichnet, die Darstellung des Seiten­wunden­blutes mit besonderer Sorgfalt ausgeführt wurde. Dies nimmt nicht wunder – öffnet doch die Seitenwunde den Zugang zum Herzen Christi als Liebessymbol par excellence. Wäre ein über und über verwundeter Christus ebenfalls denkbar gewesen, kon­zentriert sich der Künstler doch auf die Seitenwunde und das sie umgebende Blut, nur sie ist die Zielscheibe, das passive Objekt des aktiven Subjektes, der die Lanze führenden Seele. Auch an dieser Stelle lässt sich mit aller Vorsicht von einer gewissen Konzentration auf das Blut der Seitenwunde sprechen. Fol. 10r im „Passional“ der Kunigunde (siehe A.2.3.3) ist in der Darstellung des Blutes über­aus zurückhaltend: Auch wenn der Körper Christi über und über mit Wunden über­säht ist, auch wenn die dargestellte Seitenwunde rot-bräunlich gefärbt ist, be­geg­net man auch hier keiner demonstrativen Zurschaustellung des Blutes. In welcher Weise dieses durch den Betrachtenden gedeutet werden soll, gibt der beigefügte Dialog­text vor. Unter der Überschrift der vergebenden Gnade Christi spricht dieser von der erlö­sen­den und heilsamen Kraft des Blutes – sicher nicht zufällig in einem Atemzug mit der An­betung der Seitenwunde: Andächtiger Seufzer zur Seitenwunde des Herrn.  / Sei ge­grüßet, Du Seitenwunde unseres Heilands Jesu Christ. / Die wir waren festgebunden, unser Erlöser du bist, / Dein Blut, Wasser, hast gegeben, uns zu heilen unser’ Wund’ / Dei­ner Hilf ’ wir uns ergeben, sei gegrüßt spricht unser Mund.186

Auf dem Speerbildchen des Gebetbuches des Hartmann Schedel (siehe A.2.3.6) schließ­lich ist das Blut Christi in eindrücklicher Weise durch die rote Farbgebung des Herzens präsent, das durch den realen Schnitt des Einblattholzschnittes durchstoßen ist. Auf der Wort­ebene der beigefügten Gebete wird das Blut Christi zwar nicht mehr eigens genannt – aber dies ist vielleicht gar nicht notwendig. Schließlich ist davon auszugehen, dass der from­me Nutzer des Gebetbuches die einst mit Blut befleckte Heilige Lanze mitdenkt, der sich der Riss des Speerbildchens angeblich verdankt. Auch hier geht es in der Verehrung 185  Zum Vermögen des Blutes, Liebe und Ekstase zu symbolisieren vgl. Bynum, Blood of Christ, 688. 186  Andächtiger Seuftzer zu der Seiten wunden des Herrn. / Sey gegrießt Du Seiten wunden unsers Heilands Jesu Christ / Die wier waren festgebunden, unßer du Erlöser bist, / Dein Blut, wasser hast gegeben uns zu heilen unser wund / deiner hielf, wir uns ergeben, sey gegrüst spricht unser Mund. Der sehr um­fang­reiche Text findet sich bei Toussaint, Passional, 193–196.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

der Seitenwunde um die Vergewisserung der heilsamen187 Wirkung des Blutes Christi als Essenz des Lebens. Dieser ungebrochene Aspekt des Heils und der Symbolkraft des Blutes als freiwillige Gabe und Garant der göttlichen Liebe findet sich auch bei der Tafelmalerei „Eucha­ri­sti­scher Schmerzensmann mit Caritas“ (siehe A.2.3.7). Nicht als hilfloses, passives Opfer einer dorichten iudischhait188 begegnet Christus der weiblichen, bildimmanenten Gestalt und den Betrachtenden, sondern als autonomer, aktiver Spender seines Blutes. In Ana­lo­gie zu den zahlreichen Abbildungen der stillenden Maria bietet Christus seine Brust da. Anstelle der Milch ist es das Blut, anstelle des Säuglings ist es der Kelch, der das Blut in sich aufnimmt und somit der individuelle Glaubende selbst, den Christus mit seinem Blut stillt. Auch hier verbindet sich das Blut aus der Seitenwunde189 mit dem Motiv der Liebe, der unge­teilten und unvermittelten Zuwendung Christi zum glaubenden Menschen. Das Mo­ment der „Ausgrenzung“ spielt hier ebenso wenig eine Rolle wie die Tendenz der „Multi­pli­kation“ der Wunden. Mit Blick auf die Gregorsmesse (A.2.3.8) fällt die Fokussierung auf den Blutstrom auf, der der Seitenwunde entspringt, – die anderen Wunden als Quellen des Blutes Christi treten völlig hinter die Seitenwunde als primärer Quelle des heilsamen, „wahren Blutes“ zurück, das Gregor als Zelebrant der Messe zuteilwird. Auch bei der Darstellung „Christus in der Kelter“ aus Kalkar/Xanten (A.2.3.9) fällt die überwältigende Fülle des Blutes ins Auge, das, einzig aus der Seitenwunde quellend, das gesamte Becken der Kelter füllt und schließlich in einen Abendmahlskelch mündet. In eindrücklicher Weise scheint der lebendige Passi­ons­christus in seinem Blut „aufzugehen“. In der Darstellung Christi als des in der jesa­ja­nischen Prophetie präfigurierten Keltertreters verwandelt sich das alttestament­li­che Bild des Weines zunächst in Blut und schließlich wiederum in den Wein des Sakra­mentes. Auch wenn durch die Darstellungsweise der Aspekt des Gewaltsamen wesentlich stärker mit­schwingt als in der Begegnung zwischen Caritas und Schmerzensmann, legt der Gebets­text190 auf dem Querbalken doch nahe, dass der auf den Beistand Gottes hoffende Beter das vergossene Blut als bestätigendes Signum seiner Errettung begreifen solle und nicht als Zeichen seiner Verdammnis oder des Fluches für andere. Der Opfercharakter des Blutes Christi bildet dabei die Hintergrundfolie, die sowohl durch den Jesajatext als auch durch die eindeutige Verbindung zum Abendmahl gegeben ist. Die Kon187  An dieser Stelle geht es, wie bereits ausgeführt wurde, auch um die konkrete, medizinische Heil­wir­kung der blutenden Seitenwunde. 188 FP 3672. 189  Die blutigen Male an Händen und Füßen scheinen vergleichsweise unwichtig und fallen kaum ins Auge. 190  „Der Herr [sei] mir ein Beistand; und ich werde meine Feinde verachten. Ich hoffe auf Gott.“ Deus mihi adiut […] et ego despicam inimicos meos; spero i(n) deum.



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zentration auf die Seitenwunde als entscheidende Quelle dieses Opferblutes ist beim Künstler dieses Ein­blatt­druckes mehr als offenkundig.191 Auf dem aus dem frühen 16. Jahrhundert stammenden Epitaph, das den Schmerzensmann und die Gottesmutter in der Fürbitte zeigt (siehe A.2.3.10), ist das Blut Christi kaum sicht­bar. Es wird jedoch im Interzessionsspruch Christi an Gottvater durch das Adjektiv „rot“ verba­ lisiert: „Vater, sieh an mein  / Wunden rot  / hilf den Menschen  / aus aller Not  / durch meinen bitteren Tod.“192 Das Wort „Blut“ muss nicht genannt werden – es wird schlicht durch das Wörtchen rot eindrücklich evoziert. Das drohende Verderben der Menschen, das im Wort not mitschwingt, der Zorn Gottes, der im gezogenen Schwert in der Hand Gottvaters sichtbar gemacht wird, soll gerade durch das rettende Blut und den stellvertretenden Tod Christi abgewendet werden. Es ist gram­ma­tikalisch nicht ganz eindeutig, ob „Wunden“ hier als Singular oder Plural auf­ge­fasst werden muss. Die bildliche Darstellung jedoch konzentriert sich vornehmlich auf die Seitenwunde, die Christus analog zur Brustweisung Mariens mit seiner (mit dem Nä­gel­mal gezeichneten) Rechten darbietet und zu öffnen scheint.193 Ein­deu­tigkeit herrscht allerdings mit Blick auf die Deutung des Blutes Christi, das aus­schließ­lich als heilsam, rettend, pro nobis dargestellt wird; ambivalent erscheint vielmehr Gottvater, dessen Zorn als bedrohliche Option gedacht wird, gegen die der Glaubende sich keine geringeren Fürsprecher suchen muss als Maria und Christus selbst. Als mensch­liche Leistung, als conditio sine qua non erscheint in der Antwort Gottes die vera contritio am Lebensende, die ware reu. Wie könnte man angesichts der begrenzten Quellenbeispiele nunmehr das Verhältnis der allgemein erstarkenden Blutfrömmigkeit jener Zeit und der Verehrung der Seitenwunde als wichtigster Quelle des Blutes besonders mit Blick auf die Momente der „Ambi­va­lenz“, „Ausgrenzung“ und „Multiplikation“ beschreiben? In aller Kürze lassen sich meines Erachtens folgende Beobachtungen thetisch festhalten: Auch wenn im Kontext der Seitenwundenfrömmigkeit das Blut Christi ebenso wie in der Blut­frömmigkeit der Zeit ein ambivalentes Bedeutungsspektrum aufweisen konnte – wie etwa die einschlägigen Texte aus der Vita Christi des Ludolf von Sachsen oder der Frankfurter Dirigierrolle und des Frankfurter Passionsspiels deutlich machen – so lässt sich zugleich festhalten, dass immer dort, wo die Seitenwunde in eindeutig positiver Weise als Heilsort dargestellt wurde, das aus ihr quel­len­de Blut ebenfalls eindeutig als Symbol des Lebens und des Heils beschrieben wurde. Die Quellen der Gertrud von Helfta, 191  Natürlich existieren auch gegenteilige Bildkonzeptionen, in denen der gesamte Leib Christi als Quelle des Blutes gezeichnet wird; vgl. dazu das sogenannte Blutkruzifixus aus dem 14. Jahrhundert bei Hoeps/Hoppe-Sailer, Deine Wunden, Kat. Nr. 67. 192  Vatter sich an mein  / wunden rot  / helf den menschen  / aus aller not  / durch meinen bittern tod. 193  Zur Charakterisierung Jesu als fürsorgende Mutter siehe ausführlich unter B.4.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Angela von Foligno, der Performanztext über Elisa­beth von Spaalbeeck sowie die bildlichen Quellen der vorliegenden Arbeit stützen diese These. Zugleich lässt sich konstatieren, dass immer dort, wo das Blut der Seitenwunde ambi­ valent wahrgenommen wird, das Moment der „Ausgrenzung“ und „Aggression“ gegen­über „den Juden“ eine Rolle spielt. Das vergossene Blut symbolisiert in diesen Fällen ihre Ver­dammnis; parallel dazu stellt man die Seitenwunde nicht vordringlich als Liebes­wunde, sondern als Beleg der ruchlosen Totenschändung dar. Dieses Phänomen, das sich ebenfalls für die Vita Christi des Ludolf von Sachsen sowie für die „Frankfurter Dirigier­rolle“ und das „Frankfurter Passionsspiel“ konstatieren lässt, lässt sich in den anderen hier untersuchten Quellen jedoch nicht nachweisen. Neben der zeittypischen Tendenz der „Multiplikation“ der Wunden und einer beinah un­über­sehbaren Fülle des Blutes Christi in den verschiedensten Zusammenhängen von Blut­re­liquien, Hostienwundern et cetera drängt sich dennoch der Eindruck auf, dass sich zugleich eine spätmittelalterliche Seitenwundenfrömmigkeit ausbilden konnte, die den Primat der Todes­wunde Christi als gewichtigster und ursprünglichster Quelle des Blutes Christi bean­spruchte. Etwas lapidar ließe sich vielleicht sagen, dass an dieser Stelle absoluter Konsens herrsch­te. Mochte man über die ein oder andere Ausprägung der Blutfrömmigkeit streiten wie im Falle der Geißler, mochte man die Legitimität mancher Blutreliquien anzweifeln – die Ver­ehrung der Seitenwunde Christi als Quelle des Blutes war offenbar unstrittig. Dennoch schloss dieser Konsens nicht aus, dass verschiedene theologische Deutungsfacetten dieses Seiten­wundenblutes nebeneinanderstehen konnten. So leitete etwa Ludolf von Sachsen die immerwährende und immer wieder sich erneuernde sakramentale Konstituierung der Kirche aus ihr ab,194 während Angela von Foligno und Gertrud von Helfta das Blut der Seiten­wunde von aller priesterlicher Vermittlung lösten: Sie erlebten in ihren Visionen den Empfang des Blutes Christi aus dessen Seitenwunde jenseits des sakramentalen Voll­zuges. Diesem Aspekt muss unter B.5 weiter nachgegangen werden.

194  Der Zugang zum Leben erfolgt nach Ludolf von Sachsen nur durch jene „Sakramente der Kirche“, die aus der Seitenwunde hervorgebracht werden und ohne die es keinen Zugang zum Leben gibt: „[…] weil daraufhin die Sakramente der Kirche herausflossen, ohne welche man zum wahren Leben nicht eingehen kann.“ […] quia inde sacramenta Ecclesiae manaverunt, sine quibus ad veram vitam non intratur (Ludolf, Vita Christi II, 137, r. Sp., Z. 39–41). Die Verbindung zwischen Sakra­men­ten und Kirche ist für Ludolf offenkundig eine Selbstverständlichkeit.



3  Eindrückliche Wunden – das Phänomen der Stigmatisierung

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3  Eindrückliche Wunden – das Phänomen der Stigmatisierung 3.1  Auf den Leib geschrieben – der Empfang der Stigmata als somatische imitatio des Passionschristus Dass das Blut Christi und seine Wunden als dessen Ursprungsorte im Fokus des frommen Inter­esses standen, wurde im voranstehenden Kapitel dargelegt; ebenso die These, dass dabei der Seitenwunde als Hauptquelle des heilsamen Erlöserblutes eine besondere Rolle zukam. Die Frömmigkeit des ausgehenden Mittelalters ging jedoch noch einen Schritt weiter: Man verehrte jene Verwundungen Christi nicht allein als extrinsische Objekte, sondern  ‒ obs­chon dies freilich den Ausnahmefall und nicht die Regel darstellte ‒ man eignete sie sich auch intrinsisch an. Wenngleich das Phänomen der Stigmatisierung oftmals als Beleg einer vermeintlichen Veräußerlichung des Glaubens verstanden wurde, ist der Vorgang als solcher zunächst als ein typisches, spätmittelalterliches Verinnerlichungsphänomen zu begreifen. Es ist die Zentrierung auf den Passionschristus, die sowohl beim passiven, wunderhaften Emp­fang als auch im Fall des aktiven Zufügens der Stigmata Christi die theologische Basis bildet, die bis hin zur Einschreibung der Wunden Jesu am eigenen Leib ausgezogen werden konnte. Das Phänomen der Stigmatisierung habe, so Peter Dinzelbacher, seinen „histo­rischen Ort“ in jener dem 12. Jahrhundert virulenten „jesuzentrische[n] Frömmig­ keit“ und seinem vertieften Interesse an dem irdischen Leben und Leiden Christi, das unter anderem auch in den Kreuzzügen Ausdruck fand.195 Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, wenn das Schlagwort der „Stigmati­sie­rung“ meist in einem Atemzug mit Franz von Assisi genannt wird. Allerdings existieren jen­seits dieses prominenten Beispiels weitere, zeitlich frühere Fälle von Menschen, die man bereits mit dem Gezeichnetsein durch die Wundmale Christi in Verbindung brachte. Zwei davon sollen hier kurz erwähnt werden, nicht zuletzt deswegen, weil in beiden Fällen die Ambivalenz der zeitgenössischen Wahrnehmung196 ebenso deutlich wird wie die kom­plexe Gemengelage im Hinblick auf Passivität und Aktivität, Innerlichkeit und Außen­wirkung. Das erste der beiden Fallbeispiele findet sich im Kontext der Beginenbewegung. In der in den Jahren 1213 bis 1215 verfassten Vita der Begine197 Maria von Oignies, aus der Feder des Kartäusers Jakob von 195 Vgl. Dinzelbacher, Körper und Frömmigkeit, 57. Ausführlich dazu auch Daxelmüller, Süße Nägel, 64–70. 196  Diese Ambivalenz, das Neben- und Ineinander von Glauben und Misstrauen, spielt auch im Quellen­materi­al der vorliegenden Arbeit eine große Rolle; siehe ausführlich dazu auch B.3.2. 197 Die Vita der Maria von Oignies gilt zugleich als eines der wichtigsten und frühesten Zeugnisse über die Beginenbewegung: Vidisti enim, et gavisus es, in ortis liliorum domini multas sanctarum virginum in diversis locis catervas, que spretis pro Christo carnalibus illecebris, contemptis etiam amore regni celestis huius mundi divitiis, in paupertate et humilitate sponso celesti

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Vitry,198 die „als erste spirituelle Biographie des Mittelalters einer Frau“ und als „Vorbild für weitere dreizehn Biographien frommer Frauen im 13. Jahrhun­ dert“ sowie als „Prototyp für spätere Darstellungen […] neuer Heiligkeit“199 gilt, beschreibt der seiner Protagonistin nahestehende Autor nicht nur deren Geist­ be­ gna­ dungen, ihre ge­ steiger­ te Frömmigkeitspraxis oder ihr caritatives Engagement und ihre Tugenden,200 sondern schildert gleichsam als Höhepunkt ihres Strebens nach Christus­förmigkeit Mari­as Selbststigmatisierung. Die Analogien zu Franziskus sind dabei mit Blick auf ihre gesamte Biographie frappie­ rend: So sieht sich ihr Freund und Biograph Jakob von Vitry mit ihrem Eifer für die Armut Christi konfrontiert, der sie dazu drängt, in Lumpen betteln zu gehen; auch ihre Ambition, sich am Kreuzzugsgeschehen gegen die Albigenser zu beteiligen, erinnert an Parallelen in der Biographie des Franziskus.201 Jakob von Vitry, der Maria nicht so sehr als Schützling, sondern vielmehr als Gesprächs­part­nerin auf Augenhöhe, ja sogar als seine „geistliche Mutter“202 betrachtet, beschreibt sie als „belebt aus den Wunden des Herrn“203. Jenes „Belebtsein“ aus den Wunden muss wohl als Prämisse, als innere Haltung für ihr äußerliches Agieren verstanden werden. Denn Marias Sehnsucht nach dem Nachvollzug des Leidens Christi äußert sich schließlich nicht allein in ihren körperlichen Praktiken des Nahrungsverzichts oder im Aushalten selbst­zuge­fügter Schmerzen, sondern gipfelt – wenngleich im Zusammenhang mit ihrem Fasten und unter dem Vorzeichen der Bußleistung204 – schließlich in der Selbstzufügung der Stigmata: adherentes labore manuum tenuem victum querebant. „Du hast nämlich gesehen, und du hast dich darüber gefreut, wie in den Lilien­gärten des Herrn an verschiedenen Orten eine Vielzahl von Scharen heiliger Jungfrauen für Christus die Lockungen des Fleisches verschmähten, und wie sie sogar aus Liebe zum himmlischen Reich die Reichtümer dieser Welt verachteten, in Armut und Demut ihrem himmlischen Bräutigam anhin­gen und durch ihrer Hände Arbeit einen kargen Lebensunterhalt verdienten“ (Iacobus de Vi­t ri ­a­c o, Vita Marie, Prologus 3, 45, Z. 56–61; Jakob von Vitry, Leben der Maria, Prolog 3, 67). 198  Geboren um 1160 studierte Jakob von Vitry in Paris, womöglich bei Petrus Cantor. Bald wurde er als einer der bedeutendsten Prediger angesehen, dessen Fähigkeiten in den Dienst der Werbung für den Albigen­serkreuzzug genommen wurden; zugleich trat er bei Papst Honorius für die Lebensweise der Begi­nen ein und erwirkte für das deutsche und französische Reich für sie die Erlaubnis, in Gemein­schaft zu leben; vgl. dazu ebd., 14–16. Das durch Thomas von Cantimpré um 1230/31 verfasste so­genannte Supplementum der Vita spielt für die hier angestellten Überlegungen keine Rolle. 199  Ebd., 15. 200  Jakob von Vitry entwirft in seiner Vita das Tableau einer weiblichen Heiligen, die durch das Führen einer sogenannten Josephsehe sich vollständig der Pflege von Leprakranken hinzugeben vermag und durch ihre extremen somatischen Frömmigkeitspraktiken wie Selbstkasteiungen, Schlafentzug und Fasten bald schon weit über ihre Heimatregion hinaus Beachtung findet; vgl. dazu ebd., 21 f. 201  Vgl. ebd., 31. 202  Ebd., 33. 203  […] ex Christi vulneribus vegetata (Jakob von Vitry, Vita. Acta Sanctorum, zit. nach Dinzel­b acher, Körper und Frömmigkeit, 57). 204  Die Schilderung der Selbststigmatisierung ist bezeichnenderweise im siebten Kapitel



3  Eindrückliche Wunden – das Phänomen der Stigmatisierung

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Indem sie aber am Geist so sehr Geschmack gefunden hatte, wurde ihr aller fleischlicher Genuss so zuwider, dass sie, als sie sich in Erinnerung rief, wie sie früher einmal nach einer sehr schweren Erkrankung für kurze Zeit gezwungen war, Fleisch­speisen und Wein gewissermaßen aus Notwendigkeit zu sich zu nehmen, sich aus Ab­scheu vor dem vergangenen Genuss quälte und keine innere Ruhe mehr fand, bis sie durch Züchtigung ihres Fleisches auf wunderbare Weise Wiedergutmachung geleistet hatte. Von der Glut des Geistes gleichsam trunken, schnitt sie, um des süßen Fleisches des Oster­lammes willen, aus Ekel vor ihrem eigenen Fleisch mit einem Messer ziemlich große Stücke ihres Fleisches heraus. Diese verbarg sie aus Scham in der Erde. Und weil sie, von allzu großer Liebesglut entflammt, den Schmerz des Fleisches überwand, er­ blickte sie in dieser geistigen Ekstase einen der Seraphim, der ihr beistand. Die Stellen ihrer Wunden fanden die Frauen, als sie ihren toten Körper wuschen und wunderten sich. Die­jenigen aber, die durch ihre oben erwähnte Beichte davon wussten, konnten es sich nicht erklären. Warum sollten diejenigen, die […] das Feuer des heiligen Antonius, mit dem er seine Füße anzündete, in Verehrung bewundern, nicht auch beim schwachen Ge­schlecht über die so große Kraft einer Frau in Erstaunen geraten, die, von Liebe ver­wun­det, von den Wunden Christi gestärkt, die Wunden des eigenen Körpers für nichts ach­tete?205

Für die Beurteilung durch die Zeitgenossen war es offenbar nicht relevant, dass sie sich diese Male zweifelsfrei und explizit selbst zugefügt hatte.206 Ausschlaggebend erschien viel­mehr ihre innere Motivation, ihr „Entflammtsein von Liebesglut“, ihr inneres Verwundet­sein durch die Liebe. Dennoch spricht dieser 7. Abschnitt der Vita nicht allein von Marias Liebe, sondern im selben Atemzug auch von ihrem offenbar quälenden Schamgefühl. Zum einen erfolgte die Zufügung der Wundmale aus Scham (über den als Exzess empfun­de­nen Genuss von Fleisch während einer Krankheit), zum anderen erfüllt die Tat selbst die Begine mit Scham und sie fühlt sich genötigt, die Selbstverwundung zu verbergen. Dass das Moment der Scham letztlich nicht die Oberhand gewinnt, wird durch ein ein­drück­liches Bild gewährleistet: Der himmlische Beistand, verkörpert durch einen Sera­phen,207 garantiert die Wahrnehmung des Geschehens als legitimes Verhalten. unter der Über­schrift De penitentia et satisfactione eius / „Ihre Buße und ihre Wiedergutmachung“ zu finden. 205  Jakob von Vitry, Leben der Maria, 86 f. Fervore enim spiritus quasi inebriate, pre dulcedine cranium agni paschalis carnes suas fastidiens frustra non modica cum cultello resecavit, que pre verecundia in terram abscondit, et quia nimio amoris incendio inflammata carnis dolorem superavit, unum de seraphim in hoc mentis excess sibi assistentem aspexit. Loca vero vulnerum, cum corpus eius in morte lavarent, mulieres invenerunt et ammirate sunt, qui autem ex eius confessione predicta cognoverant, quid esset intellexerunt. Qui […] beati Antonii ignem, quo pedes incendit, venerando ammirantur, cur non etiam in sexu fragili tantam mulieris fortitudinem obstupescant, que caritate vulnerate et Christi vulneribus vegetate propria corporis contempsit vulnera? (Iacobus de Vitriaco, Vita Marie, 66, Z. 241–67, Z. 254). 206  Zur Selbstzufügung der Wundmale sowie zur Tatsache, dass offenbleibt, ob es sich um Selbstverwundungen in Analogie zu Christi Kreuzeswunden handelte oder nicht vgl. nur Muessig, Stigmata, 54. 207  An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, Thomas von Celano habe offenbar Jakob von Vitry gelesen.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Neben dem entscheidenden Moment der Liebe und der eindeutigen Bezugnahme auf die Wun­den Christi, aus denen Maria Stärkung erfährt, ist für die Beurteilung dieser Episode wohl nicht zuletzt auch ihre Kontextualisierung in den Gesamtzusammenhang ihres Lebens­wandels entscheidend, den ihre Biographen Jakob von Vitry und Thomas von Cantim­pré insgesamt als gottgefällig und vorbildhaft zeichnen. Womög­lich liegt in eben diesem letzten Punkt der entscheidende Unterschied zu dem zwei­ ten Fallbeispiel begründet, das an dieser Stelle herausgegriffen werden soll. Dieser in diversen Quellen im Detail durchaus widersprüchlich208 dokumentierte Fall eines Man­nes in der Diözese von Canterbury stammt aus dem Jahr 1222 und ist somit ebenfalls zeit­lich vor der einschlägigen Stigmatisierungserzählung des Franz von Assisi einzu­ord­ nen. Auch wenn die Quellen mit Blick auf die beteiligten Personen sowie auf die Bestra­fungs­methoden recht unterschiedlich von dem Vorgang berichten – einmal handelt es sich um „einen jungen Mann“, einmal um einen Bauern beziehungsweise „Laien vom Lande“, einmal spre­chen die Quellen von seiner Einmauerung, einmal von lebenslänglicher Gefängnis­strafe  –, so ist doch der geschilderte „Tatbestand“ stets identisch: Jener namenlose Mann habe sich die Wundmale Christi selbst zugefügt.209 Seine Stigmatisierung wird einschlägig und präzise beschrieben: Man habe einen Mann aufgefunden, „der an Körper und Glie­dern, d. h. an Händen, Füßen und der Seite, die fünf Kreuzeswunden aufwies.“210 In dem ausführlichsten und durchaus zeitnahen Bericht der Ereignisse, der sich in einer Chronik des Abtes Rudolph von Coggeshall findet, wird die eindeutige Verurteilung des Falles offensichtlich, indem der Chronist die schändliche Motivation und Urheberschaft, nämlich Blasphemie und Hexerei, in die Schilderung der Umstände einstreut: Ferner wurde ein irrgläubiger junger Mann zusammen mit zwei Frauen vor das Konzil gebracht, die alle vom Erzdiakon des Distrikts des schrecklichen Verbrechens des Unglaubens ge­ziehen wurden. Der junge Mann wurde angeklagt, weil er sich geweigert hatte, die Kirche zu besuchen, den heiligen Handlungen beizuwohnen und die Ermahnungen des katho­li­schen Vaters zu beachten. Auch hatte er sich selbst gekreuzigt, so daß die fünf Wunden, die er auf dem Körper trug, immer noch deutlich zu sehen waren. Auch hatte er die Frau veran­laßt, ihn Jesus zu nennen. Eine der beiden Frauen, eine ältliche Person, war verklagt, durch lange Zeit üble Beschwörungen betrieben und den genannten jungen Mann durch ihre magischen Künste zu diesem gräßlichen Gipfel an Wahnsinn verleitet zu haben. Die beiden wurden daher dieser 208  Dieser in der Literatur meist unter dem Stichwort „Kreuzigung von Oxford“ geführte Fall wird in den zeit­genössischen und späteren Quellen in divergierenden Varianten bezeugt; die einschlägigen Berichte aus der Feder des Matthaeus Paris, des Priors Richard de Morins, in den Annalen von Waver­ley sowie bei Thomas Wykes, Rudolph Coggeshall und weiteren finden sich ausführlich bei Daxel­m üller, Süße Nägel, 90–93. 209  Vgl. ebd., 90 f. 210  […] habens in corpore et membris, scilicet in latere, manibus et pedibus, quinque vulnera crucifixionis (ebd., 278, Anm. 1). Die Übersetzung erfolgt nach ebd., 90, wenngleich die Reihen­ folge der Aufzählung dort vertauscht ist.

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schweren Vergehen für schuldig befunden und verurteilt, bis zu ihrem Tode zwischen zwei Mauern eingesperrt zu sein. Die andere Frau, die Schwester des jungen Mannes, wurde freigelassen, weil sie die gottlosen Taten der beiden angezeigt hatte.211

Die Tatsache, dass Maria von Oignies Selbststigmatisierung als lobenswert und als Nach­weis ihrer Heiligkeit gedeutet wurde, der „irrgläubige[…] junge[…] Mann“ hingegen als ver­lo­rener Verbrecher und seine Selbstkreuzigung und die damit einhergehende Stigma­ti­sie­rung als „gräßliche[r] Gipfel an Wahnsinn“212 wahrgenommen wurde, zeigt überdeutlich das bestehende Dilemma. Erwies sich Maria von Oignies in der Selbstzufügung der Kreu­zes­wunden als Vorbild der Nachfolge Christi, so bot der junge Mann, der sich zugleich jeder kirchlichen Autorität zu widersetzen schien, ein Zerrbild der Christusnachfolge. Ungeachtet aller Affinität und Offenheit gegenüber einer somatisch durchdrungenen Fröm­ mig­keitspraxis bestand zugleich eine tiefgreifende Skepsis der Zeitgenossen, die dort auf den Plan trat, wo auf dem Weg der Nachahmung Christi zum äußersten – oder sollte man angemessener sagen – zum innersten Mittel gegriffen wurde: zur Selbst­zu­f ü­gung der Kreuzeswunden. Wie schmal dabei die Gratwanderung zwischen frommer Selbst­verleugnung in der imitatio Christi und der gotteslästerlichen Selbstüberhebung sein konnte, mögen jene kurz angerissenen Beispiele angedeutet haben. Noch verstörender oder wundersamer musste es jedoch anmuten, wenn  ‒ wie im wohl be­rühm­testen Stigmatisierungsfall des Franz von Assisi ‒ der Mensch nicht als autonom agieren­des Subjekt, sondern als rein passives Objekt einer Einschreibung der Passions­wun­den Christi in Erscheinung trat, einer Einschreibung, die nicht rational erklärt, son­dern nur geglaubt werden konnte. Jeder Verdacht der Blasphemie musste dabei vermieden werden. Und so ist es ein bemerkenswertes Detail, das auf dem von der italienischen Äbtissin Bene­dicta (gest. 1260) für St. Chiara in Assisi gestifteten Kreuz zu entdecken ist: Der zu Jesu riesenhaft gezeichneten Füßen kauernde, stigmatisierte Franziskus ist eingehüllt von den Blutströmen, die von der Christusgestalt herabrinnen. Das Bildprogramm trans­por­tiert eine eindeutige Botschaft: Die Stigmatisierung muss als analoges Geschehen zur Ver­wundung Christi am Kreuz begriffen werden.213 Franziskus Gezeichnetsein durch die Wunden der Passion ist somit kein losgelöstes mirakelhaftes Geschehen an sich, vor allem kein Überbietungsversuch, sondern vielmehr letztgültige Mimesis und somatische imita­tio des armen und erniedrigten Christus.214 211 

Zit. nach ebd., 91 f. Vgl. dazu die entsprechenden Quellen ebd. 213  Vgl. dazu Büttner, Imitatio Pietatis, 145 sowie dort Abb.  159. Zur Stigmatisierung des Franz von Assisi und dessen Passionsfrömmigkeit vgl. auch Roest, Meditative Spectacle, 31–34. 214  „In den Wundmalen nimmt der gezeichnete Körper die imitatio christi auf sich; die geistige Erfahrung der imitatio christi überträgt sich in ein leibhaftiges Zeichen, in dem diese Evidenz gewinnt. Ist in den Wunden als ‚wunderbare und schöne Zeichen dieser neuen göttlichen Kundgebung‘ die Passion figür­lich gegenwärtig, so wird zum einen die imitatio als innere 212 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Aus religionsphilosophischer Perspektive macht etwa Bettine Menke darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Phänomen der Stigmatisierung seit Franziskus von Assisi im 13. Jahr­hundert,215 um ein „hochsignifikantes Paradigma der religiösen Zeichenordnung des Chri­stentums“216 handele. In durchaus umstrittener Weise gehe es dort um „Gegenwart und Bild [Gottes] als Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Figuration und Korporalität“.217 Dabei muss an den bis dahin praktizierten, bewussten Verzicht des Christentums auf äußere Kennzeichnung des Körpers als Signum der Religionszugehörigkeit gedacht wer­den: Was hier neu ist, erhellt sich aus dem anfänglichen Gegensatz zur antiken und vor allem auch zur jüdischen Praxis. Die antiken Kulturen kennzeichneten durch Brand­ mar­ kung oder Tätowierung, durch Stigmatisierungen und Körperinschriften im buchstäb­li­chen Sinne bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Sklaven, Schauspieler, Soldaten, Gla­dia­toren und Prostituierte. In der jüdischen Religion wird der Bund zwischen Gott und Men­schen durch einen Einschnitt, ein Zeichen im Fleisch markiert: durch die Be­schneidung, mit der sich das Judentum von orientalischen Kulten absetzte, die die Zuge­hörig­keit zu ihren Göttern durch Tätowierung ins Fleisch einprägten. Das spätantike Christen­tum dagegen zeichnete sich dadurch aus, daß es keine äußerliche Prägung, sondern allein einen innerlichen, geistlichen Charakter hatte. Die ‚Sklaven Gottes‘ trugen anders als die Sklaven eines weltlichen Herrn keinen äußeren Stempel, sondern waren durch den character crucis der Taufe unsichtbar verbunden. An die Stelle der äußeren Mar­kierung trat die unauslöschliche innere, die alle äußeren Prägungen überschrieb.218

Vor diesem mentalitäts- und religionsgeschichtlichen Hintergrund stellte die Stigmatisie­ rung des Franziskus und alle nachfolgenden Stigmatisierungs­ erfahrungen die christliche Gemein­schaft vor die Herausforderung, dieses neuartige „Nach-außen-Treten“ einer inneren Wirklichkeit „erträglich“, „plausibel“ und der „Nachahmung zugänglich“ darzu­stellen und zu integrieren.219 Thomas Lentes stellt dabei mit Blick auf die franziskanische Tradierungs­linie folgende Beobachtung an: Schon für die frühesten Biographen der Drei-Gefährten-Legende stand fest, daß die Stigmatisierung ein Akt der Erinnerung und Ver­ge­genwärtigung war. Was Franz in seinem Innern betrachtend erinnerte, wurde durch die Einprägung der Wunden nun an seinem Körper äußerlich sichtbar.220 ‚Teilhabe‘ des Leidens Christi ‚ohne äußere Verfolgung‘ im Martyrium mit den Stigmata außen beglaubigt, und zum anderen wird die imitatio christi als Mimesis an den Leib Christi in den empfangenen Stigmata vorgestellt. Der stigmatisierte Fran­ziskus verwandelt sich ‚in ein Bild des Gekreuzigten‘, das besiegelt ist durch die Stigmata als Kenn­zeichen göttlicher Manifestation“ (Menke, Nachträglichkeiten, 29). 215  Zu Franziskus als erstem Stigmatisierten vgl. Vinken, Via crucis, 13. 216  Menke, Nachträglichkeiten, 28. 217 Ebd. 218  Vinken, Via crucis, 15 verweist auf den hier vorliegenden Bruch mit der christlichen Tradition. 219  So ebd., 16. 220  Lentes, Ort des Gedächtnisses, 76.

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Womöglich bot die in vielerlei Hinsicht theatrale Frömmigkeitspraxis des Franziskus die grundsätz­liche Möglichkeit und die Offenheit, dieses Extrem zu integrieren und zum „Memo­topos der Passion“221 werden zu lassen. Und doch meint man, das inhärente Unbehagen spüren zu können, mit welchem etwa Bona­ventura (1221–1274) in seiner Legenda jenes singuläre Ereignis eindeutig als ein höchst intimes, verborgenes schilderte und den „theatralischen Charakter eines öffent­li­chen Spektakels“ sorgsam zu vermeiden suchte.222 Dass letzteres jedoch nicht ausbleiben konnte, macht Volker Leppin deutlich, der auf einen Bericht des englischen Benediktiners Roger von Wendover verweist, der im Jahre 1230 beschreibt, dass viele Menschen kurz vor dem Tode des heiligen Franziskus zu ihm geströmt seien, um die Wundmale zu sehen, welche in einem Brief des Elias von Cortona, der die Todesnachricht übermittelt, be­schrie­ben werden: Ich verkünde euch eine große Freude und eine wundersame Neuheit! Von der Welt wurde ein solches Zeichen noch nicht gehört, außer am Sohn Gottes, welcher ist Christus der Herr. Nicht lange vor seinem Tod erschien der Bruder und Vater gekreuzigt und trug fünf Wunden, die wahrhaft die Wundmale Christi sind, an seinem Körper. Denn seine Hände und Füße hatten so etwas wie Stiche von Nägeln, von beiden Seiten durchbohrt, die noch die Narben aufwiesen und die Schwärze der Nägel zeigten. Seine Seite aber wirkte wie von einer Lanze durchbohrt und oft dampfte Blut heraus.223

Der Text offenbart die unabweisbare Spannung zwischen bewusst geschaffener Analogie zum Christusgeschehen und der Betonung der wundersamen und damit auch verdächtigen Neologie des Geschehens. Dabei stellte sich das Moment der Analogie durch wörtliche An­leihen aus den Evangelien ein: Der Text rekurriert dabei sowohl auf die Geburts­ge­schich­te Jesu („ich verkündige Euch große Freude“) als auch auf die Passionsgeschichte („fünf Wunden“, „Nägel“, „Blut“, „Seite“). Die durchaus problematische „wundersame Neu­heit“ bestand jedoch darin, dass sie außer Christus selbst keine weiteren Referenz­punk­te, wie etwa menschliche Vorbilder in Märtyrerbiographien, aufweisen konnte. 221 Ebd.

222  Vgl. dazu Vinken, Via crucis, 18. Zur komplexen Geschichte der Anerkennung der Stigmatisierung inner­halb des Franziskanerordens und seiner damit einhergehenden Etablierung und „Domesti­zierung“ vgl. auch Teuber, Wundmale, 165 sowie Frugoni, L’invenzione, 26 f. Die verworrene Datierungs­frage und die Unsicherheit, wann genau und für wie lange Franziskus die Wundmale erhalten habe, ist für die vorliegende Arbeit nicht relevant; vgl. ausführlich und instruktiv Leppin, Franzis­kus, 280–287. 223  Zit. nach ebd., 281. Das lateinische Original aus den Fontes Franciscani 254 findet sich ebd., 351: Annuntio vobis gaudium magnum et miraculi novitatem. A saeculo non est auditum tale signum, praeterquam in Filio Dei, qui est Christus Dominus. Non diu ante mortem frater et pater noster apparuit crucifixus, quinque plagas, quae vere sunt stigmata Christi, portans in corpore suo. Nam manus eius et pedes quasi puncturas clavorum habuerunt, et utraque parte confixas, reservantes cicatrices et clavorum negredinem ostendentes. Latus vero eius lanceatum apparuit et saepe sanguinem evaporavit.

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Das Beispiel des Franz von Assisi zeigt noch einmal besonders eindrücklich, dass der Emp­fang der Stigmata stets als faszinosum tremendum, in jedem Fall jedoch als Grat­wan­de­rung wahrgenommen wurde. Daran änderte im Grundsatz auch die Reputation, das Ansehen der jeweiligen Person nichts, auch wenn freilich die skeptischen Stimmen bei der Begine Maria von Oignies auf mehr Gehör stießen oder im Fall von Oxford gar zu einer eindeutigen Betrugs­bezich­ ti­gung führten. Im folgenden Abschnitt wird zu zeigen sein, inwiefern die Stigmatisierungserfahrung, die sich auf den Empfang der Seitenwunde konzentrierte, jene geschilderte Spannung und Ambi­valenz in besonderer Weise aufzuheben vermochte.

3.2  Ins Herz getroffen – die Stigmatisierung durch die Seitenwunde als letztgültiges Siegel der conformatio Christi Sieht man für einen Moment noch vom Sonderphänomen der Stigmatisierung durch die Seiten- beziehungsweise Herzenswunde ab, so lässt sich zunächst allgemein festhalten, dass zahl­reiche Theologen, unter ihnen Bonaventura, darum bemüht waren, das eigentliche Movens der Stigmatisierungserfahrung klar herauszustellen: die Liebe zu Christus. Den Referenzrahmen dieser Interpretation bildete dabei vor allem die allegorische Aus­le­gung des Hoheliedes: Den in der Stigmatisierung empfangenen Wunden liegt die Vor­stellung von der Durchdringung der Geliebten durch den himmlischen Bräutigam im Liebes­akt zugrunde. Diese visionäre Liebesbegegnung hatte nicht den theatralischen Charak­ter eines öffentlichen Spektakels. Sie ist intim, schuf Intimität.224

Dabei handelte es sich um einen dezidierten Gegenentwurf zum Konzept des Martyriums.225 Das einschlä­gi­ge „role model“ ist nicht der dem Schmerz trotzende Held, sondern die verletzliche und verletz­bare weibliche Figur der Minne.226 In dieser Lesart waren die Stigmata somit „keine Wieder­holung der 224 

Vinken, Via crucis, 18. Inwiefern die Stigmatisierung des Franziskus als eine Art Gegenentwurf zu seinem versuchten Mar­ty­ri­um im Kontext der Kreuzzüge angesehen werden kann, legt Vinken eindrücklich dar; siehe ebd., 17 f. 226  Dabei sind nicht zuletzt die Verbindungslinien zurück in die Antike aufschlussreich: „Interessant […] ist die Tatsache, daß das Insistieren auf christlicher Liebe eine antike Tradition mobilisiert, die der patristi­schen Apologie fremd und feindlich, nämlich askese-unfähig erschienen war. Pro­gram­ma­tisch im Briefwechsel von Abaelard und Heloise […] steigert sich geistliche Askese mit den Mitteln anti­ker Liebeskunst zur himmlischen Liebe“ (ebd., 18). Gerade mit Blick auf die Vorüberlegungen der vorliegenden Arbeit (A.1) erscheinen mir auch Vinkens weitere Ausführungen bedenkenswert: „Die erotisch-sinnliche Metaphorik Bonaventuras, die Teresa (von Avila) und Johannes (vom Kreuz) aus­f ühr­lich entwickeln, ist nicht das kompensatorische Vergnügen von Leuten, die sich durch Wahn­gebilde trösten müßten – so beliebt diese traurige Erklärung bei nach­refor­ma­to­rischen Lesern auch geblieben sein mag und besonders für weibliche Heilige in unermüdlicher Ein­tönigkeit ins Feld geführt wird“ (ebd., 18 f.). 225 

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Passion. Sie sind keine Wunden zum Tod, sondern Zeichen einer Liebe, die stärker ist als der Tod.“227 So beschrieb etwa der Theologe und Regularkanoniker Gero von Reichersberg (gest. 1196) das Kreuz als Zeichen der Passion im Sinne der zärtlichen und barmherzigen Liebe Christi: „Das Kreuz ist Barmherzigkeit. So wie das Kreuz aus zwei Hölzern zusammen­ge­fügt ist, fügt sich die wahre Barmherzigkeit zur Zärtlichkeit.“228 Be­greift man also die Stigmata in diesem Sinne als „Zeichen der Liebe“, bedenkt man das zentrale Moment der Intimität, das jeder jahrmarktartigen Zurschaustellung der Wunden als Mirakel entgegensteht, so nimmt es nicht wunder, warum der Zeichnung durch die Seitenwunde ein besonderer Stellenwert zukam: Nirgends sonst erschloss sich der Sinn der Stigmatisierungserfahrung offenkundiger als in der Verwundung des Herzens als Liebessymbol par excellence. Gerade in der Verborgenheit dieser Herzenswunde verwirklichte sich das Anliegen der From­men: Von Christi Liebe ins Herz getroffen zu sein, versinnbildlichte die unio mit dem Gekreuzig­ten, die keiner Zuschauer, keiner Bestätigung von außen bedurfte.229 Man darf annehmen, dass durch diese Akzentverschiebung das Verdachtsmoment des Betruges sowie der blasphemischen Überbietung vermieden werden konnte. Wendet man sich den einschlägigen Quellentexten der vorliegenden Arbeit zu, so lässt sich feststellen, dass vom Empfang der Seitenwunde zwar meist im Kontext der Zeich­nung durch alle Stigmata Christi die Rede ist, der Seitenwunde jedoch oftmals eine Sonder­stellung zukam. Dass diese Tendenz zur Zentrierung oder Fokussierung auf die Seitenwunde ein prozess­haftes Geschehen sein konnte, macht der Legatus der Gertrud von Helfta deutlich, der meines Erachtens beides nebeneinanderstellen konnte: Die Erfahrung des reziproken Emp­fangs der Stigmata ebenso wie eine zunehmende Konzentration auf die Verwundung des Herzens in Analogie zur Seitenwunde Christi als Symbol der verwundeten und ver­wun­denden Liebe. Eine Analyse des Kapitel IV des zweiten Buches des Legatus, De sanctissimorum vulne­rum Domini impressione, fördert entsprechende, aufschlussreiche Beobachtungen zu Tage. Gertrud berichtet in diesem Passus von der Einprägung der Wundmale Christi. Die­ses Geschehen verdankt sich nicht etwa einer spektakulären Vision oder einer bio­gra­phi­schen Ausnahmesituation, sondern hat einen beinah alltäglichen „literarischen“ Auslöser: In einem Buch findet sie ein kleines Gebet (inveniens in quodam libro oratiunculam),230 das sie in der Folge immer wieder betet: 227 Ebd.,

19. Porro illa crux est charitas. Sicut crux duobus lignis compaginatur, sic charitas genuina dilectatione copulatur (zit. nach Frugoni, Ad imaginem, 87). 229  Dass dieses Primat der Intimität freilich in einer Spannung zu dem Interesse von außen und dem eigenen Drang der Mitteilung stand, liegt auf der Hand. Im Falle der Elisabeth von Spaalbeeck etwa lässt sich die Verunsicherung angesichts dieser Spannung deutlich aus dem Text ihres Biographen Philipp von Clairvaux ablesen. 230  Gertud, Legatus II, C. IV, 242, Z. 2. 228 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Got­tes, verleihe mir, nach Dir zu seufzen aus ganzem Herzen, aus ganzer Sehnsucht, mit dür­sten­der Seele und in dir den sanftesten und süßesten Atem zu schöpfen, und mit mei­nem ganzem Geist und all meinem Inneren beständig nach Dir zu keuchen, der du das wahre Glück bist. Schreibe, barmherzigster Herr, Deine Wunden in mein Herz durch dein kost­bares Blut, so dass ich in ihnen lese deinen Schmerz gleichermaßen wie deine Liebe und möge die Erinnerung an deine Wunden beständig in der Abgeschiedenheit meines Herzens verweilen, damit der Schmerz Deines Mitleidens in mir geweckt und der Brand deiner Liebe in mir entzündet werde.231

Die präzise Formulierung des Gebetes, das Gertrud aus dem nicht näher beschriebenen Buch wiedergibt, ist dabei beachtenswert: Im Sinne eines vollständig innerlichen Vor­gangs bittet das betende Ich um die Einschreibung der (Passions-) Wunden durch das Blut Christi (sic!). Zielort jener Einschreibung sind nun (wie es an dieser Stelle zunächst scheint) nicht die Gliedmaßen der Hände und Füße sowie der Seite, sondern ausschließ­lich und einzig das Herz des Frommen. Dieser Gebetstext, der von der Aneignung der Wun­den Christi in vollkommen verinnerlichender Weise spricht, bewirkt nun offenbar ein somatisches Erleben. Gertrud nimmt die Einprägung der Wundmale, anders als der Gebets­text insinuiert, nicht ausschließlich als innerliches, sondern dezidiert auch als äußer­liches Geschehen wahr: In der genannten Stunde nämlich […] habe ich durch den Geist erkannt, wie […] nämlich innen in meinem Herzen und gleichsam an körperlichen Stellen jene verehrungswürdigen und anbetungswürdigen Stigmata deiner allerheiligsten Wun­den eingedrückt wurden.232

Es ist anzumerken, dass Gertrud hinsichtlich der Einordnung dieses Erlebens nach einer ihr übergeordneten Autorität sucht, um dessen Ursprung richtig einordnen zu können.233 Doch wie soll man mit der Widersprüchlichkeit der Schilderungen umgehen? Hatte Ger­trud wörtlich jenen Gebetstext in ihren Legatus aufgenommen, der eindeutig um die Ein­prä­gung der Wunden Christi durch sein Blut allein im Herz des Frommen bittet, scheint Ger­trud zwar zum einen diese Konzentration auf die Verwundung ihres Herzens aufzu­neh­men, zum anderen jedoch legt die Pluralformulierung quasi corporalibus locis nahe, 231  Domine Jesu Christe, Fili Dei vivi, da mihi toto corde, pleno desiderio, sitienti anima ad te aspirare, et in te dulcissimo atque suavissimo respirare, ac totum spiritum meum et omnia interiora mea ad te qui es vera beatitudo jugiter anhelare. Scribe, misericordissime Domine, vulnera tua in corde meo pretio­so sanguine tuo, ut in eis legam tuum dolorem pariter et amorem et vulnerum tuorum memoria jugiter in secreto cordis mei permaneat, ut dolor compassionis tuae in me excitetur et ardor dilectionis tuae in me accendatur (ebd., Z. 3–12). 232  In preadicta enim hora […] scilicet intus in corde meo quasi corporalibus locis per spiritum cognovi […] impressa colenda illa et adoranda sanctissimorum vulnerum tuorum stigmata (ebd., 244, 3., Z. 1.4–6). 233  So schildert sie bereits kurz vorher, wie sie sich einer nicht namentlich genannten Person anvertraut, die ihr nicht nur in Liebe verbunden ist, sondern auch im Rang über ihr steht; vgl. dazu ebd., Z. 12–14.

3  Eindrückliche Wunden – das Phänomen der Stigmatisierung



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dass sie die Wundmale Christi reziprok auch an ihren eigenen Gliedmaßen empfängt. Dieser zweite Aspekt wird noch einmal unterstrichen, wenn Gertrud in der Tradition der sogenann­ten Gliedergebete von der nun folgenden Gebetspraxis spricht, in der sie fünf Psalm­verse des Psalms 102 betet, um „die fünf eingedrückten Liebeszeichen zu be­grüßen“.234 Auch wenn sie dabei nicht starr dem üblichen Schema folgt, finden sich doch manche der bekannten Topoi dieser Gattung, etwa in der Verwendung einschlägiger Termini wie pedes, peccatum, voluptas, oder in der Unterscheidung von rechts und links.235 Das Nebeneinander von Innen und Außen, von Empfindung des Herzens und sichtbarem Zeichen wird am Schluss des Kapitels noch einmal virulent: Dort beklagt Gertrud, ihre eigene Nachlässigkeit und Sündhaftigkeit habe es verschuldet, die Gnadengabe, in den Wun­den „deinen Schmerz und deine Liebe zu lesen“, nach kurzer Zeit verloren zu haben ‒ eine Tatsache, welche die andere und größere (sic!) Gabe, die Eindrückung der Stigma­ta, jedoch nicht zu tilgen vermochte!236 Literarisch im unmittelbaren Anschluss, wenn auch zeitlich durch die Angabe „sieben Jahre nach diesem (Ereignis)“237 klar abgegrenzt, folgt nun Caput V „De vulnere amoris“. Hier vollzieht sich nunmehr die vollständige Konzentration auf den Empfang der Her­zens­wunde. Wie bereits im Kapitel VI nennt Gertrud erneut ein Gebet als Auslöser der dann geschilderten Gnadengabe. Das Subjekt der Fürbitte ist jedoch nicht Gertrud selbst, sondern eine andere, nicht näher genannte Person, die Gertrud bittet, „diese Worte einzu­f ügen: Um deines verwundeten Herzens willen, durchbohre, liebreichster Herr, deren Herz mit den Wurfgeschossen deiner Liebe“.238 Jene stellvertretende Fürbitte, so schreibt Gertrud weiter, habe sie in der Eucharistiefeier am dritten Adventssonntag zu einem eigenen, unwillkürlich gesprochenen Gebet ge­drängt, in welchem sie um die Durchbohrung ihres Herzens durch den Pfeil der Liebe bittet.239 Nach dem Empfang des Sakramentes an ihren Gebetsort zurückgekehrt, wird ihr nunmehr eine Vision zuteil. Aus einem ihr vertrauten Bildnis des Gekreuzigten, das in der Kapelle auf­ge­hängt ist, wird sie nun tatsächlich einer Art spitzen Pfeiles (in modum sagittae acuatus) gewahr, den sie zugleich als einen Sonnenstrahl (radis solis) wahrnimmt. Aus­gangs­punkt dieses scheinbar oszillierenden Pfeiles beziehungsweise Sonnenstrahles, der sich aus­zu­deh­nen und zusammenzuziehen 234 

[…] amatoriae signacula impressionis visitare (ebd., 246, Z. 2 f.). Vgl. dazu ebd., 246, 4., Z. 1–17. 236  […] ut in eis legam dolorem tuum pariter at amorem. Sed heu! Parvo tempore, cum tamen non causer te mihi hoc abtulisse, sed propria ingratitudine et negligentia me querulor perdidisse. Quod tamen dissimulans immensa misericordia et copiosa pietas tua primum et majis donum, scilicet vulnerum im­pressionem sine meritis meis mihi nimis indebite usque in preasens conservat (ebd., Z. 2–248, Z. 8). 237  Post heac anno septimo, ante Adventum […] (ebd., 248, Z. 1). 238  […] intersereret haec verba: Per tuum transvulneratum Cor, transfige, amantissime Domine, cor ejus jaculis amoris tui (ebd., Z. 4 f.). 239  ut transfigas cor meum tui amoris sagitta (ebd., Z. 15 f.). 235 

256

B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

vermag, ist die Seitenwunde Christi.240 Gertrud fühlt, wie ihre Seele von jenem lockenden Pfeil freundlich angelockt wird – und doch erscheint dies nurmehr als ein Vorspiel zum eigentlichen, ersehnten Geschehen, das sie zeitlich präzise offenbar einige Tage später, an einem Mittwoch, dem Gedenktag der Inkar­ nation Christi, verortet.241 Der Schau der Seitenwunde und dem aus ihr hervor­ gehen­den Liebespfeil korrespondiert nunmehr die erbetene Verwundung ihres eigenen Herzens durch Christus selbst: Und siehe, du tratest wie plötzlich herzu und fügtest meinem Herzen eine Wunde zu mit folgenden Worten: „Hier fließe zusammen die Aufwallung all dei­ner Gefühle. All Dein Entzücken, Hoffnung, Freude, Schmerz, Furcht und die übrigen Emp­fin­dungen sollen gefestigt werden in meiner Liebe.“242

Unüber­sehbar belegt dieser Passus die dezidierte Fokussierung auf die Liebe als Aus­gangs- und Ankerpunkt der gläubigen Seele. Es geht um nichts weniger als um die Auf­h ebung aller scheinbarer Gegensätze: Freude und Schmerz, Hoffnung und Furcht finden zu­einan­der und zugleich einen festen Halt im verwundeten Herz als Symbol der heil­samen Liebe. In deutlichem Gegensatz zum vorangegangenen Kapitel scheint sich Gertruds Interesse sieben Jahre später nurmehr auf die Seitenwunde, auf die Verwundung des Herzens Chri­sti zu richten; die anderen Wunden spielen keine Rolle. Weder werden sie als Objekte der Be­ trachtung berücksichtigt, noch deren Empfang am eigenen Leib beschrieben. In der Meta­phorik des Hoheliedes ist allein das verwundete Herz243 Christi der Ausgangspunkt der verwundenden Liebe, deren Zielpunkt wiederum allein das Herz des Frommen ist, das verwundet werden muss, um alle Empfindungen des Menschen in der Liebe Christi zu festigen. Auch die sich nun anschließenden Überlegungen Gertruds, wie sie mit der ihr zuge­fügten Herzenswunde verfahren soll, zielen einzig und allein auf jene im Herzen Jesu zu findende Liebe, die sie als „glühend“, „süß“ und „stark“ beschreibt; in medizini­schen Termini beschreibt sie sie schließlich als „Abwaschung“ (lavacrum), „Salbe“ (un­guen­ tum) und „Binde“ (ligamentum).244 Freilich mag an dieser Stelle die grundsätzliche Frage aufgeworfen werden, ob jener Ab­schnitt des Legatus angesichts dieser dezidierten Verinnerlichung überhaupt als Bericht einer Stigmatisierung 240  […] videbatur mihi quasi de dextro latere crucifixi depicti in folio, scilicet de vulnere lateris, prodiret tamquam radius solis, in modum sagittae acuatus, qui per ostentum extensus contrahebatur, deinde extendebatur, et sic per moram durans, affectum meum blande allexit (ebd., Z. 2–250, Z. 6). 241  […] in feriam quartam dum post Missam a fidelibus recolitur tuae adorandae Incarnationis et Annuntiationis dignatio (ebd., 250, 2., Z. 7–9). 242  […] et ecce tu aderas velut ex improviso infigens vulnus cordi meo cum his verbis: ‚Hic confluat tumor omnium affectionum tuarum verbi gratia: summa delectationis, spei, gaudii, doloris, timoris, caeterarumque affectionum tuarum stabiliantur in amore meo‘ (ebd., Z. 10–15). 243  Vgl. die Formulierung in der Vulgata-Fassung von Hl 4,9: […] vulnerasti cor meum soror mea sponsa vulnerasti cor meum. 244  Vgl. dazu Gertrud, Legatus II, V. 5, 3, Z. 2 f.

3  Eindrückliche Wunden – das Phänomen der Stigmatisierung



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im eigentlichen Sinne angesehen werden kann. Diese Anfrage liegt nahe, wenn man die somatische, sichtbare oder etwas plakativ gesprochen, „blutige“ Di­men­ sion als unabdingbares Element mitdenkt. Zwei Einwände gegenüber dieser Anfrage möchte ich hier geltend machen: Zum einen wurde bereits im Fall der Stigmatisierung des Franz von Assisi deutlich, dass die problematischen Aspekte der somatisch greifbaren Stig­ma­tisierung durchaus erkannt wurden, Aspekte, die durch jenen Prozess der Zentrierung und Fokussierung auf die Wunde des Herzens, so könnte man mutmaßen, ab­ge­schwächt, wenn nicht gar vermieden werden konnten. Zum anderen ist für das ausgehende Mittelalter angesichts seiner engen Synthese zwi­schen Innen und Außen – im Gegensatz zu späteren Jahrhunderten  – das Primat der Inner­lichkeit und Verinnerlichung nicht in Konkurrenz mit somatischem Erleben und soma­ti­schen Praktiken zu betrachten, sondern als deren unabdingbarer Gegenpart, als andere Seite derselben Medaille. Ähnliches lässt sich auch für die einschlägigen Passagen aus der Biographie der Elisabeth von Spaalbeeck festhalten. Wie ein programmatisches Grundaxiom stellt Philipp von Clair­vaux seinem Bericht von der Stigmatisierung der jungen Frau die Wendung tam corde quam corpore245 voraus. Dieser prägnante und pointierte Nachweis des engen Konnex von Innen und Außen kann wie ein hermeneutischer Schlüssel verstanden wer­den, der dem Leser bei der durchaus sehr gegenständlichen Schilderung der Wundmale Elisa­beths, zumal ihrer Seitenwunde, an die Hand gegeben wird, um den Aspekt des inneren Geschehens im Gedächtnis zu halten. Hierbei ist zu vergegenwärtigen, dass die ur­sprüng­liche Intention der Visitation – die Überprüfung der Stigmatisierung Elisabeths246 – im Verlauf des Besuches in gewisser Weise zurücktritt. Vielmehr werden die Stigmata der Elisabeth schließlich nicht als losgelöstes Mirakel geschildert, sondern als ein Ele­ment ihres Konzeptes der radikalen Christus-Mimesis und ihrer umfassenden Passions­per­formanz kontextualisiert. Erst nach der ausführlichen Schilderung ihres somatischen Nachvollzugs der Passion, in Passus 13, kommt Philipp beinah beiläufig („Auch jenes scheint mir hier einzufügen zu sein […]“)247 auf die Stigmata Elisabeths zu sprechen. Zunächst erwähnt er die Verwundungen an Händen und Füßen zusammen mit einem regelmäßigen Blutfluss aus den Augen des Mädchens: 245 

Philipp von Clairvaux,Vita, 371, Z. 3. Hauptgrund seiner Visitation benennt Philipp gleich zu Beginn sein Ansinnen, den im Raum stehen­den Betrugsverdacht zu verifizieren oder zu widerlegen: „Man hat also Gewissheit, dass das bereits erwähnte Mädchen ganz offenkundig die Wundmale unseres Herrn Jesus Christus an seinem Körper trägt: An den Händen und Füßen und auch an der Seite [des Mädchens] stehen nämlich ohne den Verdacht einer Täuschung […] Wunden offen.“ Sciendum igitur est quod praefata puella manifestissime stigmata Domini nostri Jesu Christi in corpore suo portat: in cujus scilicet manibus et pedibus necnon et latere absque simulationis […] patent plagae (ebd., 363, Z. 28–31). 247  Illud etiam hic arbitror inserendum […] (ebd., 371, Z. 7). 246 Als

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Wir sahen in den Nächten und zu anderen gewissen Stunden Blut aus ihren Augen rinnen und das Leinengewand, das übergezogen worden war, durch die daraus fließenden Tropfen benetzt sein. Ebenso sprudelte, wie es uns schien, aus den Wunden der Hände und Füße das Blut reichlich.

Nun kommt er eigens auf die Seiten­wun­de zu sprechen. Hatte sich der Blutfluss aus Augen, Händen und Füßen häufig, jedoch nicht zu fest­ge­leg­ten Zeiten ereignet, ist die periodische Blutung der Seitenwunde an einen sehr bedeu­tungs­ vollen Zeitpunkt geknüpft: an die Todesstunde Jesu (sexta feria, hora nona). Dieser intensive Rückbezug zum biblisch bezeugten Passionsgeschehen wird im Folgenden weiter unterstrichen, wenn die aus der auf Brusthöhe aus einer Gewandöffnung aus­tre­ten­de Flüssigkeit als „mit Wasser vermischtes Blut“ beschrieben wird: Auch sahen wir aus ihrer Seite am sechsten Tag zur neunten Stunde durch eine etwa auf Brusthöhe ge­mach­te Öffnung ihres Gewandes, nicht gänzlich rötliches, sondern wie mit Wasser ver­misch­tes Blut herausfließen. Und das Wollkleid, das [eng] an ihrem Fleisch anlag, sahen wir von demselben Blut getränkt.248

Das durchbohrte, blutende Herz, der Empfang der Seitenwunde als Stigma, wird zum Sym­bol der vollkommenen Hingabe an Christus, den Elisabeth in allen Elementen ihrer Passions­mimesis und conformatio Christi zu verkörpern sucht. Dabei ist es nicht allein der gekreuzigte Leib Christi (non solum Christum et ipsum crucifixum), sondern auch der mystische Leib Christi, die Kirche (sed etiam Christi Corpus mysticum, id est ecclesia), die somit in und durch Elisabeth repräsentiert und darstellt wird (effigiat et exponit).249 Dabei ist der Empfang der Stigmata kein Selbstzweck, sondern einzig darauf gerichtet, den Glauben (der Anderen) an die Passion Christi aufzubauen und zu stärken.250 Meines Erachtens zeigen sowohl die einschlägigen Quellentexte der Gertrud von Helfta als auch die Vita der Elisabeth von Spaalbeeck, dass jene Konzentration auf das Stigma der Seitenwunde eine Tendenz unterstützt, die bereits bei Franz von Assisi spürbar ist: Das Bestreben, die Stigmata nicht als losgelöstes Spektakel, sondern vielmehr als Aus­weis einer völlig der Passionsmimesis hingegebenen Existenz zu begreifen. Dass jenes „ins Herz getroffen sein“, jene Verwundung des Herzens durch Liebe als letzt­gültiges Siegel der conformatio Christi durchaus breitenwirksam auch für den „gewöhn­li­chen“ Frommen zum Zielpunkt werden konnte, belegt 248  De latere etiam ipsius quadam sexta feria, hora nona, per aperturam vestimenti sui, factam circa mamillam, sanguinem non omnino rubeum, sed quasi admixtum aquae, vidimus defluentem (ebd., 371, Z. 11–13) Den impliziten Bezug auf das Johannesevangelium macht Philipp im nächsten Satz explizit, ebenso wie die Verbindung zum Motiv des Keltertreters aus dem Jesajabuch. 249  Vgl. ebd., 378, Z. 26–28. 250  „Durch die Stigmata und Martern baut sie den Glauben an die Passion auf “. In stigmatibus et poenis fidem astruit passionis (ebd., Z. 30).



4  „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft

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schließlich eine Passage aus der weit­verbreiteten Vita Christi des Ludolf von Sachsen, in der die Verwundung des mensch­li­chen Herzens als spiegelbildliches Abbild des verwundeten Herzens Christi beschrieben wird: Aus dieser Zerreißung des Herzens Christi, aus der im Verborgenen, wie aus einer Quelle, der Preis unseres Heils reichlich ausgegossen wurde, wird verdientermaßen auch unser Herz verwundet, um mitzuleiden und um zu lieben, weil so am meisten offenkundig wird, wie groß das Erbarmen bei ihm sein wird.251

Schon wenige Zeilen vorher leitet Ludolf seinen Leser zu einem Gebet an, in welchem dieser sich in einem Atemzug an die Seitenwunde Christi erinnern und um die Ver­wun­dung des eigenen Herzens durch den Speer der Liebe bitten soll: „Jesus, der Du gewollt hast, dass die Seite deines toten Leibes durch die Lanze geöffnet werde, […] verwunde, so bitte ich, mein Herz durch die Lanze der Liebe“.252 Abschließend bleibt zu konstatieren, dass ganz offenkundig gerade der Empfang der Her­zens­wunde als inneres und zugleich existenzielles Geschehen in Analogie zur Seiten­wun­de Christi begriffen werden konnte. Auch ohne körperlichen oder sichtbaren Nachweis wurde der Empfang der Seitenwunde als Verwundung des Herzens zum Zielpunkt der frommen conformatio Christi.

4  „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft im Spiel der Geschlechteridentitäten 4.1  Frauenrollen, Männerbilder: Die Frage nach „sex“ und „gender“ im ausgehenden Mittelalter Waren die Verbindungslinien und inneren Zusammenhänge zwischen den bislang disku­tier­ten Themenfelder und der Seitenwundenfrömmigkeit sehr augenfälllig, mag deren Korrelie­rung mit spätmittelalterlichen Konzepten männlicher und weiblicher Ge­schlechts­identität auf den ersten Blick womöglich erstaunen. Es wird zu zeigen sein, in welcher Weise gerade die Seitenwunde Christi und ihre Verehrung die für den modernen Leser oftmals frappierende spätmittelalterliche Durchlässigkeit zwischen den Ge­schlech­tern abbildete und womöglich sogar forcierte. Bevor diese These unter B.4.2 entfaltet werden soll, erscheint 251  Ex hac cordis Christi scissione, a cujus arcano, tamquam a fonte, pretium nostrae salutis copiose est effusum, merito etiam ad compatiendum et amandum vulneratur cor nostrum, quia hic maxime apparuit, quam copiosa apud eum redemptio fuerit (Ludolf, Vita Christi II, 138, r. Sp., Z. 39–46). 252  Jesu, qui latus corporis tui mortui, lancea aperiri […] voluisti, vulnera, quaeso, cor meum lancea caritatis (ebd., Z. 9–13). In welcher Weise das Motiv des Eros, der leidenschaftlichen Gottesliebe, auch hier eine elementare Rolle spielt, wird unter B.6 noch einmal untersucht werden.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

es ratsam, zumindest auf eini­ge Aspekte und Überlegungen der sogenannten gender-Debatte aufmerksam zu ma­chen, die mit Blick auf den vorliegenden Gegenstand, die Beschäftigung mit mittel­alter­li­chen Quellen, besonders relevant erscheinen.253 Dabei sind meines Erachtens vor allem zwei Grundaxiome zu berücksichtigen: Dies ist zum einen die Beobachtung, dass – folgt man an dieser Stelle der These Thomas Lacquers einschlägiger Veröffentlichung „Auf den Leib geschrieben“254  – durch die weitverbreitete mittel­alterliche Rezeption des anti253  An dieser Stelle sei in aller Kürze eine Klärung der modernen Diskurslage eingefügt. Maren Lorenz beschreibt diese u. a. als eine Auseinandersetzung zwischen Essentialismus und sozialem Kon­struk­ti­vis­mus als „idealtypische Etiketten“ und „Extreme eines Spektrums“ (vgl. Lorenz, Ver­gan­genheit, 22). Die Essentialisten gehen vom menschlichen Körper und dessen zwei­ge­schlecht­li­cher Verfasstheit als fester Größe aus und stützen sich dabei auf die Humanbiologie, einen psycho­ana­ly­tischen Zugang sowie auf die Verhaltensforschung. Angeregt von den „cultural studies“ erwägen Ver­treter des sozialen Konstruktivismus die Einschreibung kultureller Werte in den Körper. Während Essentia­listen die Konstanten in der Körpererfahrung als Beweis ihres Axioms in Anspruch nehmen, ver­weisen die Konstruktivisten auf die große Bandbreite von Körper­wahrnehmungen, um ihre These zu stützen. Einer der zahlreichen Mittelwege ist der linguistisch-philosophische Ansatz von George Lakoff und Mark Johnson, die eine reinen Biologismus ebenso ablehnen wie das Verständnis des Körpers als reine Abbildung kultureller Werte (vgl. ebd., 23–26). Lorenz ersetzt schließlich die Be­griff­lichkeiten der Essentialisten und Konstruktivisten durch Realisten und Nominalisten: „‚Realisten‘ nehmen (historisch) beobachtbare Verhaltensweisen und vielfach dokumentierte und gelebte Normen als Ausdruck objektiver Wahrheit, vor allem dann, wenn sie der alltäglichen Empirie ent­ sprechen. Dies trifft in besonderem Maße für die Zwei­geschlecht­lichkeit und vielfach noch für die sexuelle Orientierung, Rassentheorien und andere gesellschafts­politisch brisante Bereiche zu. ‚Nomi­na­listen‘ betonen die Vielfalt und Widersprüchlichkeit solcher Kategorisierungen, die nur Begriff­lich­keiten darstellten, deren Bedeutungsinhalte sich durch Raum und Zeit jedoch veränderten“ (ebd., 31). Zur grundsätzlichen Problematik der Termini „Natur“ und „Kultur“ gerade mit Blick auf vergan­ge­ne Epochen merken Daston und Park an: „Epitomized by the sex/ gender distinction, the aim of many studies has been to sift sexual identities from the category of the natural to that of the cultural, and to challenge thereby the inevitability of our own commonplaces on such matters. This project has been pursued with great éclat, and has contributed to a far-reaching rethinking of the assumptions and values that structure our own sexual arrangements. We wish to suggest, however, that the categories of the ‚cultural‘ and, especially, the ‚natural‘ also have a history. The oppposition nature versus culture, so illuminating for us in our attempts to sort out the humanly universal from the culturally local, can be deeply misleading when imposed upon earlier periods. In the early modern period, nature was regulated by ‚customs‘ rather than ironclad laws, encompassed much of the psyche as well as the body, and bristled with moral directives“ (Daston/Park, Hermaphrodite, 130). 254  Laqueur, Leib, 16: „Galen, der im 2. nachchristlichen Jahrhundert das einflußreichste und an­passungs­f ähigste Modell von der strukturellen, wenngleich nicht räumlichen Identität der männliche und weiblichen Reproduktionsorgane entwickelte, zeigte des langen und breiten, daß Frauen im Grun­de genommen Männer sind, bei denen ein Mangel an vitaler Hitze – an Perfektion – zu Zurück­be­halten von Strukturen im Inneren des Leibes geführt hat, die bei Männern äußerlich sichtbar sind.“ Der entscheidende Paradigmenwechsel, so Laqueur, habe erst im 18. Jahrhundert stattgefunden: „Dann jedoch […] änderte sich die sexuelle Natur des Menschen […] Statt des – der modernen Vor­stellung zufolge – nahezu perversen Insistierens darauf, geschlechtsspezifische Differenz als eine Sache gradueller Abweichungen und Abstufungen von einem männlichen Grundtypus zu verstehen, erhob sich nun ein durchdringender Ruf nach



4  „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft

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ken Galenschen „Ein-Geschlechts-Modells“255 bis zum 18. Jahrhundert keine scharfen biologischen Trennlinien zwischen den Ge­schlech­tern angenommen wurden.256 Gleichsam als Gegengewicht zu jenen fließenden Grenzen mag das zweite Axiom gelten: Das ausgehende Mittelalter kannte sehr präzise und nachdrückliche Kodierungen männli­chen und weiblichen Verhaltens,257 wenngleich die Parodie oder das Unterlaufen jener Ver­hal­tenscodices, das subversive „Umschreiben“ jener gesellschaftlich norma­tiven Ein­schrei­bungen ein vielbeachtetes Sujet der Mediävistik darstellt.258 Beide Axiome sind nebeneinander zu denken: Jenes fließende und doch hierarchische Galen­sche „Ein-Geschlechtsmodells“, das in Frauen nichts anderes als lediglich „zu kalte“, d. h. der vitalen Hitze der Männer ermangelnde, nach innen gekehrten Männer sah,259 sowie jener eng umgrenzte Spielraum des Schicklichen und Erlaubten, in welchem jeder Schritt, jede Form des Sprechens dem Ausformulieren eindeutiger körperlicher Ver­schie­den­heiten […]. So wurde das alte Modell, in dem Männer und Frauen entsprechend ihrem Ausmaß an metaphysischer Perfektion und ihrer vitalen Hitze entlang einer Achse angeordnet waren, deren Telos das Männliche war, im späten 18. Jahrhundert von einem neuen Modell eines radikalen Dimor­phis­mus und der biologischen Verschiedenheit verdrängt. In der Auffassung von der Frau trat eine Anatomie und Physiologie der Unvergleichlichkeit an die Stelle einer Metaphysik der Hierarchie“ (ebd., 17 f.). Zum männlichen Körper als einzig paradig­matischen Körper führt Laqueur weiter aus: „Noch im 16. Jahrhundert gab es also, nicht anders als in der klassischen Antike, nur einen einzigen kano­nischen Körper, und dieser Körper war männlich. Mit ihren neuen Stimmen bildeten die unter­schied­lichen Landessprachen auch das im Lateinischen und Griechischen bestehende sprachliche Beziehungsgefüge zwischen Organen nach, denen wir in unseren medizinischen Texten präzise und je eigene Namen geben würden. Bourse, Bouchets Wort für Scrotum, bezog sich beispielsweise nicht nur auf eine Geldbörse oder einen Beutel, sondern auch auf einen Ort, an dem Kauf- und Bankleute zusammen­kamen. Mühelos überbrückte es als Beutel, Börse oder Sack männliche und weibliche Körper. Auf Renaissance-Englisch konnte ‚purse‘ Scrotum und ebenso Uterus bedeuten“ (ebd., 80 f.). 255 So befragt etwa Kochskämper, Schärfen und Unschärfen, 15–33 unter etymologischer Perspektive die Begrifflichkeiten für Männer und Frauen nach ihren Werturteilen; Schlechtweg-Jahn, Ge­schlechts­identität, 85–109 führt mit Blick auf die höfische Kultur die Brüchigkeit des männ­lichen Über­legenheitsaxioms aus. 256  Auch wenn diese These Laqueurs durchaus nicht ohne Widerspruch geblieben ist, auch wenn die gleich­zeitige Existenz binärer Geschlechtsmodelle jenseits des medizinischen Diskurses konstatiert wird, erscheint Laqueurs Entdeckung dennoch relevant und weiterführend, wie auch Bennewitz, Körper der Dame, 235 konstatiert: „Auch wenn man den zum Teil aufs äußerste zugespitzten Positionen […] nicht in jedem Fall folgen mag, kommt Laqueur doch das Verdienst zu, den Blick einmal mehr auf die historische und kulturelle Bedingtheit wissenschaftlicher Wahrnehmung gerichtet zu haben.“ 257  Zur Codierung männlicher und weiblicher „Techniken“ des Körpers auch im 20. Jahrhundert vgl. nur Mauss, Soziologie, 207. 258 Hierbei denke man exemplarisch etwa an das Phänomen des cross-dressing; eine Zusammenstellung der einschlägigen, literarisch bezeugten Fälle bietet Weichselbaumer, Er wart gemerket, 326–341 sowie mit besonderer Konzentration auf Ulrich von Liechtenstein auch Moshövel, Ulrich von Liechtenstein, 342–369. 259  Es ist mehr als aufschlussreich, dass Frauen diese minderwertige Kategorisierung mit jüdischen Männern teilten!

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

und der Nutzung der Stimme, jeder Schwung des Schrei­tens oder der Arme, jeder Blick durch das Diktat des Männlichen oder Weiblichen nor­miert war. Zugleich ist zu vergegenwärtigen, dass trotz dieses vermeintlich engen Ver­hal­ tens­korsetts andere, uns scheinbar selbstverständliche Kategorien der Hetero­ sexuali­tät oder Homosexualität nicht in gleicher Weise kolportiert wurden.260 Wie sehr die Vorstellungen von männlich und weiblich tatsächlich gesellschaftlich und sozial konnotiert und konstruiert waren, zeigt die „noch von Johannes Hartlieb in seiner Bearbeitung der ‚Secreta mulierum‘ kolportierten Ansicht, dass nicht nur Frauen, sondern auch Männer menstruierten.“261 Um die Alterität des mittelalterlichen Denkens zu begrei­fen, soll hier angemerkt werden, dass die Demarkationslinie nicht etwa zwischen Män­nern und Frauen verlief, sondern vielmehr zwischen dem vermeintlich intakten männ­li­chen Körper und seinen Abweichungen, unter die nicht nur weibliche Körper, sondern auch jüdische Männern subsummiert werden konnten, von denen man annahm, dass sie monat­lich menstruierten, was man wiederum auf ihren verderblichen Charakter und ihre kaltew vnd vnraine speysß zurückführte sowie ihrer kalte[n] vnd fewchte[n] natur zuschrieb.262 Eingedenk jener fundamentalen Andersartigkeit des mittelalterlichen Diskurses, dessen medizinisch-anthropologische Konzepte in großer Mehrheit das Galensche „Ein-Ge­ schlechts-Modell“ propagierten, während zugleich prominente Formen der weltlichen Dich­tung und ihre oft stark didaktisch ausgerichteten Texte die Unterschiedenheit zwi­schen männlich und weiblich betonten, ja im Sinne von „Sprache schafft Wirklichkeit“ aktiv 260  Zur Unterscheidung zwischen Sodomieverdacht und der Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Zunei­gung und Zärtlichkeit hält Klaus van Eikels in seinem instruktiven Artikel über körperliche Gesten als Ausdruck und Zeichen personaler Bindung fest: „Wie Gesten physischer Intimität und räumlich-kör­perlicher Nähe im Mittelalter personale Bindungen strukturierten, gehört ebenso zur Alterität wie zur Aktualität des Mittelalters. Gesten der Liebe und Freundschaft sind adäquat nur zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß das Mittelalter die moderne Dichotomie homosexuell/heterosexuell wie überhaupt den modernen Begriff des Sexuellen nicht kannte. Freundschaftsgesten sind in weit größerem Umfang in den Quellen belegt, als bislang wahrgenommen wurde. Ihre Ausblendung aus histo­rischen Darstellungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fällt kaum zufällig zusammen mit dem Auf­kommen des Homosexualitätsbegriffs, d. h. eines Wahrnehmungs- und Deutungsmusters, das mann-männliche Liebe und Freundschaft als sublimierten Ausdruck desselben Triebes verstand, aus dem gleichgeschlechtliche Handlungen erwachsen. Im Mittelalter dagegen und bis weit in die Neuzeit standen Liebesdiskurs personaler Bindung und der Sodomiediskurs für unzüchtige Handlungen weit­gehend unverbunden nebeneinander. Gesten physischer Intimität zwischen Partnern des gleichen Geschlechts […] standen vielmehr uneingeschränkt zur Verfügung, um soziale, rechtliche und politi­sche Beziehungen durch Verweis auf personale Bindungen […] aufzuladen und zu überhöhen. Als Ausdruck politischer Freundschaft fanden daher Kuss, Umarmung und verschränkte Hände, ja sogar die Gemeinschaft von Tisch und Bett, weite Anwendung im öffentlichen Raum.“ (van Eikels, Kuss und Kinngriff, 156 f.). 261  Bennewitz, Körper der Dame, 235. 262 Vgl. Bosselmann-Cyran, Secreta Mulierum, 135 sowie Bennewitz, Körper der Dame, 236. Zur negativen Konnotation des weiblichen Körpers in medizinischen und theologischen Abhand­lungen des Mittelalters vgl. auch Feistner, Körper, 134 f.



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produzierten,263 stellt sich nunmehr die Frage nach dem genuinen Beitrag des Reli­giö­sen. Welche Aussagen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit können in jenem komplexen Stimmengewirr, das sowohl von der immanenten Einheit der Geschlechter als auch von ihrer radikalen Unterschiedenheit spricht, ausgemacht werden? Eine grundsätzliche Beobachtung halte ich an dieser Stelle mit Blick auf frömmigkeits-theologische Quellen für besonders wichtig: Autorinnen und Autoren vermochten die ihnen vorgegebenen Selbstverständlichkeiten in ihren Texten/ Performanzen oder Bildern zum einen aufzunehmen und ihre eigenen Aussagen diskurskonform zu formulieren. Zugleich begegnet gerade auf dem weiten Feld der Frömmigkeitstheologie ein durchaus frappierendes Konterkarieren der Werte und (Seh- / Sprech-) Gewohnheiten. Für diese These können an dieser Stelle nur eklektisch Beispiele angeführt werden, die in den letzten Jahrzehnten in der Forschung bereits intensiv wahrgenommen wurden: So konnten etwa weibliche Autorinnen in geradezu notorischer Weise ihre eigene Weib­lichkeit als Ausweis ihrer Schwäche und Unzulänglichkeit in den Vordergrund stellen – nur um auf eben diese Weise, durch jene Form einer „subersive[n] Praxis des Spre­chens“264 eine nicht gekannte Autonomie für sich in Anspruch zu nehmen. Diese speiste sich zum einen aus ihrer Reklamation der direkten göttlichen Autorisierung ihres Sprechens, das verbunden war mit einem Selbstverständ263 Die didaktische Abzweckung der deutschen Literatur des Mittelalters beschreibt Bennewitz, Körper der Dame, 222: „Als wesentliches Charakteristikum der deutschen Literatur des Mittelalters gilt ihre grundsätzliche Nähe zur Didaxe. Dazu tritt die nicht zuletzt durch die hohe Zahl der erhaltenen Hand­schriften (und Drucke) nachhaltig demonstrierte Beliebtheit von Werken, die sich eindeutig als didaktische verstehen, mithin als jene Form des ‚Lehrgedichts‘ repräsentieren […]. An der mittel­alter­li­chen […] Didaxe läßt sich deutlich ein bewußtes ‚gendering‘ von Literatur erkennen“. Im Weiteren führt Bennewitz aus, dass sich dies u. a. an der „geschlechtsspezifischen Adressierung an ein männ­li­ches oder weibliches Publikum“ ablesen lasse (vgl. ebd.). 264  Stadler, Körper und Subjekt, 240 f. führt dazu aus: „In Ansätzen ist eine subversive Praxis des Sprechens auch bei mystischen Schriftstellerinnen des Spätmittelalters genauer zu verfolgen. Diese […] begründet sich aus der Notwendigkeit, den gängigen theologischen Diskurs zu unterlaufen, ohne ihm explizit zu widersprechen. Diese taktisch schwierige Situation meistern die Mystikerinnen dadurch, daß sie das misogyne Moment des männlichen Diskurses aufnehmen und den – seit der Antike tradierten – Konnex von Frau und Leiblichkeit vertiefen, indem sie ihren eigenen Unwert zum produktiven narrativen Kern ihrer Mystik machen. […] Die Selbstabwertung, die in körperlicher Meta­phorik dargebracht, ja geradezu zelebriert wurde, konnte so positiv, forsch und enthusiastisch gelingen, weil das Moment der vollkommenen Selbstpreisgabe darüber hinwegtäuschte, daß etwas ver­geben wurde, das den Frauen gar nie zugestanden hatte. Rechtlich standen die Frauen unter der Vor­mundschaft der Männer, hatten damit keine Verfügungsgewalt über sich und ihr Leben. Die Mystikerinnen, die wortreich und ausdrucksstark ihr Leben für Christus hingeben wollten, nahmen sich auch das Recht heraus, selbst über sich zu verfügen, allerdings nur, um es dem wertesten aller Partner selbst zu überreichen. Die Selbstverdemütigung, die […] geradezu exzessiv als Selbst­ver­schwen­ dung inszeniert wurde, vermittelte nur noch gebrochen eine weibliche Inferiorität, denn die hin­gebungs­volle und radikale Abtötung des Eigenwillens setzte paradoxerweise einen starken Willen und damit auch Subjektivität voraus.“

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nis als rein passives Sprachrohr,265 zum anderen aus einer vollständigen Identifizierung mit dem an sich zwar männlichen, aber in seiner Zerbrochenheit und Verwundbarkeit zugleich weiblichen Christuskörper.266 Meines Erachtens sind die verschiedenen Diskursverschiebungen jener Epoche  – die Fokus­ sierung auf den nahen Passionschristus, die Aufwertung des Körpers sowie die In­frage­stellung einer überkommenen Misogynie267 gerade durch die explizite Betonung der Weib­ lichkeit keine isolierten Phänomene, sondern vielmehr verschiedene Aspekte, die sich untereinander bedingten und ins Werk setzten, wie etwa Stadler konstatiert: „Die christo­logische Aufwertung des Körperlichen durch den kenotischen Fall Christi ermög­lichte eine Unterminierung der tradierten Geschlechterhierarchie, ohne daß diese direkt in Frage gestellt werden mußte.“268 Es ist aufschlussreich, dass diese Impulse einer Umwertung der Werte nicht aus­schließ­lich von Frauen ausgingen. Auch prominente männliche Autoren schlüpften zum einen selbst in weibliche Rollenmuster wie die der Mutter oder Jungfrau, zum anderen beschrie­ben sie in ihren Texten und Bildern auch Gott und Christus als mütterlich und weiblich.269 Parodistische Züge wie in der zeitgenössisch weltlichen Literatur fehlen hier völlig – die Identifikations­ muster und Zuschreibungen der Theologen sind durchweg positiv konno­tiert. So konnte nicht nur Maria von Oignies (gest. 1213) von den Geburtswehen Christi am Kreuz sprechen, oder Juliane von Norwich (um 1342–ca. 1413) die Mutterschaft Jesu als Ausdrucksform seiner Liebe begreifen;270 bereits Guerric 265  Vgl. dazu auch Finke, Mystical Bodies, 44: „The female mystic of the Middle Ages did not claim to speak in her own voice. Because women could serve no ministerial or sacerdotal functions within the church, they could claim no spiritual authority in and of themselves“. 266 Vgl. Stadler, Körper und Subjekt, 241. Unter der Überschrift „Die Allianz von Gott und Frau in der Passion“ führt sie aus: „Durch die Betonung des eigenen Unwerts erreichten die Mystikerinnen eine Ebene, die ihnen den Zugang zum männlichen Diskurs erst ermöglichte. Durch die Selbst­ab­wer­tung, die kein passives Moment mehr hat, sondern aktiv angestrebt und mystagogische Grundlage wird, läßt sich eine Identität entwerfen, nicht mit dem Gottessohn, sondern mit dessen Leiden“ (ebd., 244). Ähnlich urteilt auch Bynum in ihrer Analyse der Mystikerinnen von Helfta: „The disqualification of gender becomes itself a qualification. Exactly because she lacks masculine and clerical authority, Mechthild sees herself as denuded, base, suffering in union with the suffering Christ, and yet also as a purged channel by which God may speak to others“ (Bynum, Jesus as Mother, 242). Zur Theologie eines mütterlichen Christus bei Juliane von Norwich vgl. auch Palliser, Mother of Mercy, 123–133. 267  Inwiefern jene Misogynie womöglich primär Produkt der zeitgenössischen Erwartungshaltung sein könnte, geben Pomata/Burg, Wieso menstruieren Männer, 276 zu bedenken: „HistorikerInnen er­war­teten, Misogynie zu finden, die negative Darstellung des weiblichen Körpers, allein dieser Aspekt hatte Konjunktur, und natürlich wurden sie fündig. Das ist aber nur ein Teil der Geschichte und nicht einmal der interessanteste.“ Gerade im Horizont der spätmittelalterlichen Mariologie konnte sich wohl keine rein negative Sichtweise des weiblichen Körpers etablieren; zu den Momenten des Ge­f ährdetseins, der Gefährdung und des Heils in Verbindung mit dem weiblichen Körper siehe auch Bezzel, Der gesegnete Leib. 268  Stadler, Körper und Subjekt, 241. 269  Ein sehr praktisches Beispiel ist etwa Richard Rolles Anfertigung seines Habits aus den Kleidern seiner Schwester; vgl. Fite, Feminine Dynamic, 16. 270  „‚But our true Mother Jesus, he [sic!] alone bears us for joy and for endless life, blessed



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von Igny (gest. 1157) pries Jesus als stillende und schützende Mutter, in deren Gebärmutter der Sünder Zuflucht fin­ den konnte. Das Inkorporiertsein in Christus, wie es Guerric von Igny beschrieben hat, ist meines Erachtens deutlich durch Vorstellungen von Schwangerschaft geprägt: […] for in his loving kind­ness and his compassion he opened his side in order that the blood of the wound might give you life, the warmth of his body revive you, the breath of his heart flow into you […] there you will lie hidden in safety. […] There you will certainly not freeze, since in the bowles of Christ charity does not grow cold.271

Es waren sicherlich männliche Zeichner, die in ihren Bildkompositionen der Bibles mora­lisés die Geburt der Kirche aus Jesu Seite oder das Vorweisen der Seitenwunde in enger Parallele zum Brustweisen Mariens darstellten.272 Aber auch in zahlreichen anderen Bild­kom­po­sitionen findet man die Parallelisierung zwischen den Brüsten Mariens und der Seiten­wunde Christi, die auch in einer Formulierung der Mechthild von Magdeburg (gest. 1282/1294) im „Fließenden Licht der Gottheit“ zum Ausdruck kommt: „Da stunden offen beide, seine Wunden und ihre Brüste. Die Wunden gossen, die Brüste flossen also, dass lebendig ward die Seele und ganz gesund.“273 Auch Angela von Foligno, Margarethe Eb­ner (um 1291–1351), Adelheid Langmann (1306–1375) und Heinrich Seuse (1295/7–1366) kannten die Vorstellung des Trinkens aus Jesu Seitenwunde.274 Be­reits Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) sprach von den mütterlichen Brüsten Jesu, aus denen für die Sünder Langmut und Verzeihen fließe.275 Das Motiv der nährenden Brüste Jesu kennt auch der Zisterzienser Aelred von Rievaulx (1110–1167).276 Bedenkt man, dass sämtliche Körper­flüssig­keiten, und somit auch die Muttermilch, im Mittelalter auf das Blut zurückgeführt wurden,277 so erstaunt es nicht, dass die Seitenwunde Christi zu­gleich als nähren­de Brust empfunden werden konnte, an welcher, in den Worten der Ka­tha­rina von Siena, die Seele „einem Betrunkenen gleich“ ihren Durst stillt.278 may he be!‘ Die sprachliche Unstimmigkeit, die uns in diesem Text auffällt, daß die Mutter mit dem masku­li­ni­schen Pronomen bezeichnet wird, sei im Mittelalter […] allgemein üblich gewesen“ (Lewis, Christus als Frau, 71). 271  Guerric von Igny, zit. nach Bynum, Jesus as Mother, 121 f. 272  Vgl. dazu ausführlich dies., Female Body, 176–178 sowie Lewis, Christus als Frau, 71. 273  Do stuonden offen beide, sine wunden und ir bruste. Die wunden gussen, die bruste vlussen also, das lebendig wart die sele und gar gesunt (Mechthild von Magdeburg, zit. nach Ohly, Gesetz, 66; vgl. dazu dort Abb. 10 f.). 274  Vgl. ebd., 67. 275  Vgl. ebd., 142 f. 276 Vgl. Bynum, Jesus as Mother, 123. 277 Vgl. dies., Fragmentierung, 68. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der immer wieder auf­tretende Vergleich Jesu mit dem Pelikan, der, so glaubte man, seine Jungen mit seinem eigenen Blut nähre. Vgl. dazu Ohly, Gesetz, 49; siehe dort auch Abb. 9. 278  „Und dann wird die Seele einem Betrunkenen gleich; je mehr er trinkt, desto mehr will er trinken“ (Katha­rina von Siena, zit. nach Bynum, Fragmentierung, 68).

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Auch wenn die vielleicht berühmteste Vision von Christus als junger Frau aus der Feder einer Frau, Elisabeth von Schönau (1129–1164), stammt, und die Radikalität dieser Aus­sa­ge bereits textimmanent abgeschwächt wurde,279 so konnte man sich doch auf keine geringere Autorität als die des Anselm von Canterbury (um 1033–1109) berufen, um die Mutter­schaft Jesu anzubeten. In Oratio LXV Ad sanctum Paulum Apostolum formuliert Anselm zunächst eine ausführliche Passage, in welcher er den Apostel Paulus als „Mutter unter Müttern“ anspricht! Durch seinen besonderen Eifer hervorgehoben aus der Zahl der anderen Aposteln („Denn auch wenn dieser gebenedeite Glaube uns auch durch irgend­welche anderen Aposteln geboren und genährt sein mag, so doch besonders vielmehr von dir, weil du mehr als alle in dieser Sache gearbeitet und erreicht hast“),280 die Anselm auf Grund ihrer Fürsorge ebenfalls als Mütter tituliert („Auch wenn jene also unsere Mütter sind …“), adressiert ihn Anselm als magis nostra mater.281 Das Unbehagen oder die Irrita­tion, die dies hervorgerufen haben mag, lässt sich an einigen Textvarianten ablesen, die mater geflissentlich durch pater ersetzen,282 nicht ohne dabei alle weiblich und mütterlich konnotierten Attribute ignorieren zu müssen, die der Text in großer Fülle anbietet.283 Als eigentliche Pointe erscheint freilich das Ende jener Passage, in der Anselm seine Aus­führun­gen in der rhetorischen Frage gipfeln lässt: „Aber auch du, Jesus, guter Herr, bist nicht auch du Mutter?“284 – um schließlich fortzufahren: „Freilich bist du Mutter, der wie eine Henne (ist), die unter den Flügeln ihre Küken sammelt? Wahrhaftig, Herr, Du bist auch Mutter.“285 Jesu Sterben am Kreuz fasst Anselm als Geburtsvorgang, Jesu Sehnsucht, seine Söhne zum Leben zu bringen und das Schmecken des Todes sind dabei unauflöslich mit­einander verbunden: „Denn durch das Verlangen, die Söhne zum Leben zu gebären, hast du den Tod geschmeckt und sterbend hast Du geboren […] Also bist du, Herr Gott, viel­mehr Mutter.“286 Und mit Blick auf die Apostel als von Jesus beauftragte und unter­stützte Autoritäten und mit Blick auf Jesus selbst bekräftigt Anselm noch einmal: „Also sind beide Mütter. Denn auch wenn sie Väter sind, sind sie 279 

Vgl. dazu Lewis, Christus als Frau, 73. Nam etsi benedicta fides ista ab aliis quoque apostolis nobis sit nata et nutrita, utique magis a te, quia plus omnibus in hoc laborasti et effecisti? (Anselm, Oratio LXV 158, 981). 281  Cum ergo illi sint nobis matres, ta magis nostra mater (ebd.). 282  Vgl. dazu ebd. den Apparat Variae Lectiones, der belegt, dass bisweilen „mater“ durch „pater“ ersetzt oder zumindest ergänzt wurde. 283  Exemplarisch seien hier genannt: Amme, (nutrix), wärmend ( fovens), liebend (affectuosa), kreißen (parturire), süß (dulcis), nähren (nutrire), gebären (gignere), erziehen (erudire), die Eingeweide mütter­licher Liebe (viscera maternae pietatis) (ebd.). 284  Sed et tu, Jesu, bonne Dominus, nonne es tu mater? (Ebd.). 285  Annon es mater; qui tanquam gallina quae congregat sub alas pullos suos? Vere, Domine, et tu mater (ebd.). 286  Desiderio enim gignendi filios ad vitam, mortem gustasti, et moriens genuisti […]. Ergo tu, Domine Deus, magis mater (ebd.). Vgl. dazu auch Angenendt, Religiosität, 142. 280 

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dennoch auch Mütter.“287 Auch wenn Anselm die männlichen Autoritätsattribute benennt, hält er diese offenbar für ergänzungs­bedürftig: durch als weiblich konnotierte Eigenschaften:288 „Also seid ihr Väter durch die Wirksamkeit, Mütter durch die Leidenschaft; Väter durch die Macht, Mütter durch das Erbarmen.“289 Das Beispiel des Anselm von Canterbury290 zeigt deutlich, dass auch männliche Autoren (unter strikter Beibehaltung der vorgegebenen Geschlechterrollen und Geschlechter­kli­schees) dennoch bewusst weibliche Rollenzuschreibungen als besonderen Ausweis der Autorität hervorheben konnten, um schließlich sogar Christus selbst als Mutter anzu­beten.291 Die Todesstunde am Kreuz wurde in vielen spätmittelalterlichen Texten als Geburtsstunde dar­gestellt und der Sohn Gottes somit zur gebärenden Mutter des Glaubenden: Lieber Gott, […] bist du nicht meine Mutter und mehr als meine Mutter? […] Denn als die Stunde deiner Entbindung kam, wardst du ans harte Bett des Kreuzes geschlagen […] und all deine Nerven und Venen zersprangen. Und wahrlich, es ist nicht verwunderlich, daß all deine Venen barsten, als du in einem Tag die ganze Welt gebarst.292

Jener bewusste Rollentausch wurde anders als im Kontext der weltlich-höfischen Litera­tur (wie im Falle des cross-dressing des Ulrich von Liechtenstein)293 nicht als parodistisch auf­gefasst.294 Vielmehr öffneten sich auf dem weiten Feld der Frömmigkeit ganz offenbar erstaun­liche Spielräume, in denen neue Sprachspiele möglich und sagbar wurden.295 287 

Anselm, Oratio LXV, 982. Sprachspiel des Anselm erschließt sich in seiner ganzen Schönheit nur im lateinischen Original: Patres igitur estis per effectum, matres per affectum; patres per auctoritatem, matres per benignita­tem; patres per tuitionem, matres per miserationem (ebd.). 289  Patres igitur estis per auctoritatem, matres per benignitatem; patres per auctoritatem, matres per misera­tio­nem (ebd.). 290  An dieser Stelle sei auf den höchst bemerkenswerten intensiven Austausch von Anselm mit weibli­ chen Gesprächspartnerinnen verwiesen: Vgl. dazu umfassend und instruktiv Schenk, Ama et habe. 291  An dieser Stelle ließe sich anmerken, dass die ausgeprägte Marienverehrung der Zeit eigentlich das Bedürfnis nach mütterlicher Fürsorge hätte stillen können – doch offenbar trifft dies im Falle An­selms nicht zu. 292  Bynum, Fragmentierung, 77. 293 Vgl. zu cross-dressing-Geschichten des Mittelalters auch Peters, Gender Trouble, 284–304. 294  Als Beispiel einer klassischen Parodie sei etwa die Geschichte des Mönches angeführt, der vor der Gefahr einer Schwangerschaft gewarnt werden muss; siehe dazu Bynum, Female Body, 187. 295  Bynum und Lavezzo verweisen auf die erstaunlichen Parallelen zwischen religiösen Texten des Mittel­alters und Diskursen der Gegenwart: „If we look to late medieval devotional practices, we find that […] imbedded within medieval religious practices is a tendency for medieval ‚writers and artists to fuse or interchange […] genders‘ that lends itself remarkably well to recent theories of sexuality […].The medieval Christian perception of gender as not an essential and fixed category but an ever-changing and contingent role appropriable through 288  Das

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Die vorgegebenen Körperkonzepte jener Zeit, die anstelle klarer Abgrenzungen fließende Vor­stellungen zwischen männlich und weiblich propagierten, mögen dazu beigetragen haben, dass die religiösen Quellen den Leib Christi in weiblichen Bildern beschreiben konnten, ohne mit grundsätzlichem Unverständnis oder Unbehagen ihrer Leser und Leserinnen rech­nen zu müssen. Wie bereits angeführt, trug die antike Säftelehre, in der alle Körper­flüssig­keiten letztlich als verschiedene Ausformungen des Blutes begriffen wurden, dazu bei, die Grenzen zwischen dem Blut Christi mit der nährenden Milch zu verwischen, so dass die Seitenwunde mit der stillenden Brust ebenso wie mit einer Gebärmutter ver­gli­ chen werden. Und doch ist die Alterität, das Außergewöhnliche jener Grenz­über­ schrei­tun­gen nicht zu verleugnen, wenn man die festgelegten sozialen Strukturen, die Rollen­bilder und Erwartungshaltungen an Männer und Frauen bedenkt. Zeigt gerade das Beispiel des Anselm von Canterbury, dass Autoren die vorgegebenen „Klischees“ beibehalten und dennoch vermeintlich weibliche Qualitäten als elementaren Aus­weis von Autorität und Göttlichkeit darstellen und damit das Gottesbild ebenso verändern konnten wie den Blick auf die Frau, betonten etwa Gertrud von Helfta oder Philipp von Clairvaux die fehlende Autorität, die Schwäche und Verwundbarkeit von Frau­en als genuinen Ausweis ihrer göttlichen Beauftragung und als Ermöglichungsgrund ihrer vollständigen Identifikation mit dem zerbrochenen, blutenden und ausgelieferten Leib des Passionschristus. Die Passion wird somit zum Topos, ja, vielleicht zum „Utopos“, an dem scheinbar selbst­ver­ständliche Hierarchien in Frage gestellt werden.296 Die rückhaltlose Übernahme der Nied­rigkeit Christi ist es, die Frauen eine Autorität zu verleihen vermag, die ihnen weder von „Amts wegen“ noch auf Grund ihres Geschlechtes zukommen würde.297 Dennoch wird auch in den der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten Quellen spür­bar, dass diese Aufwertung des Weiblichen, die bewusst auf ihrer Niedrigkeit aufruht, immer wieder verhandelt, verteidigt und legitimiert werden muss. So bemüht etwa Philipp von Clairvaux ausführlich die Heilige Schrift um dort stichhaltige Nachweise zu finden, dass und inwiefern Frauen gerade in ihrer Schwachheit als Werkzeuge im göttli­chen Heilsplan vorgesehen sein können, ja, warum sogar von einer besonderen Würde der Frau gesprochen werden kann.298 Und dennoch kämpft identitficatory performance […] bears considerable similarities to contemporary revisionary gender analyses“ (Lavezzo, Sobs, 178 f.). 296  Vgl. dazu Stadler, Körper und Subjekt, 241: „Eine über den Körper und das Leiden gestiftete Allianz von Frau und Christus ermöglichte deshalb – auf der Basis der traditionellen Beurteilung der Geschlechter – einen neuen Diskurs, der von der Kirche vorerst nicht abgelehnt werden konnte“. 297 Zugleich muss auf Amy Hollywoods Anfrage verwiesen werden, ob tatsächlich alle Mystikerinnen und Theologinnen diese besondere Verbindung mit der Niedrigkeit und menschlichen Natur Christi für sich beanspruchten; vgl. dazu ihre Ausführungen zu Margarete von Porete in Hollywood, Suffering, 96 f. 298  Vgl. dazu ausführlich A.2.2.1.2.

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der Biograph der Elisabeth von Spaal­beeck unübersehbar mit der Kluft, die sich auftut zwischen Elisabeths extro­ver­tierter, expressiver Passionsperformanz und der Forderung nach weiblicher Züchtigkeit und Selbstkontrolle. Als besonders herausragendes und radikales Beispiel für diese Umkehrung der Ver­hält­nisse ist die erstaunliche Autorität der Angela von Foligno zu nennen, die sie gegenüber den Bettelmönchen mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit zu beanspruchen scheint.299 In Analogie zur Gottesmutter Maria spricht ihr Beichtvater Angela eine entscheidende Inter­zessionsgewalt zu. Die angeführten Beispiele können nur stichprobenartig und exemplarisch nahelegen, dass im Bereich der Frömmigkeit eine erstaunliche Bandbreite von Geschlechterkonzeptionen ent­ stehen konnte. Beide Aspekte, die begrenzte Bühne, die streng vorgegeben Schrittfolgen, denen die Cho­reo­graphie des Mannund Frauseins im ausgehenden Mittelalter unterworfen war,300 ebenso wie die Annahme der prinzipiellen Durchlässigkeit der Geschlechter, stehen somit im Hintergrund der religiösen Texte, die ihre Leserinnen und Leser mit provokanten Spitzen­aussagen zu Männerbildern und Frauenrollen konfrontierten.

4.2  Mann und Frau, Mutter und Geliebter – die Seitenwunde Christi als Ort der Aufhebung geschlechtlicher Demarkationslinien Und weil zumindest ein Mann sie so weit verstanden hat, daß er dafür in den grausamsten Leiden starb. Er, der weiblichste aller Männer, der Sohn.301

Verhandelte B.4.1 die grundsätzliche Frage nach den Aussagen religiöser Texte, Bilder oder Performanzen im Stimmengewirr des spätmittelalterlichen Geschlechterdiskurses, soll nun dargelegt werden, inwiefern gerade die Seitenwunde Christi als verdichtetes Sym­bol des „grotesken“ Leibes302 dafür prädestiniert 299 

Schließlich ist es Angela, die in ihren Visionen über die Grade der Intimität der Mönche mit Christus Kennt­nis erhält; immer wieder wird sie als Vorbild geschildert, als „lebende Heilige“, deren Macht der Fürbitte anerkannt wird; vgl. dazu ausführlich A.2.1.2.2. 300  Zu den spezifisch weiblichen Verhaltensanweisungen zum Beispiel in den mittelenglischen Courtesy-Books vgl. Müller-Oberhäuser, Gender, 27–51, bes. 47 f. 301 Irigaray, Speculum, 249. 302  Der Terminus des „grotesken Leibes“ ist hier im Anschluss an Michail Bachtin verwendet. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, dessen komplexe Ausführungen zum „grotesken Leib“ zu entfalten, die er im Kontext seiner Studien zur Lachkultur der Renaissance entwickelte. Die Bezeichnung des Lei­bes Christi als grotesk im Bachtinschen Sinne erscheint mit Blick auf die Seitenwunde als inspirie­rend und provokativ im besten Sinne. Ähnlich dem grotesken Leib ist der Leib Christi am Kreuz eben­falls „unabgeschlossen“, die Seitenwunde „ignoriert die glatte Oberfläche, die den Körper ab­schließt“; sie zeigt „nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere des Körpers“, sie erscheint als „die Stelle […] wo das Leben des einen Körpers aus dem Tod des anderen geboren wird“ (Bachtin, Rabe­lais, 359 f.).

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war, eine radikale Infragestellung aller vermeintlichen Selbstverständlichkeiten ins Werk zu setzen, durch die nicht nur Innen und Außen, Tod und Leben, Gott und Mensch, sondern auch männlich und weiblich in eins zu fallen vermochten.303 Bevor diese These mit Hilfe der konkreten Quellenbelege im Einzelnen entfaltet werden soll, muss an dieser Stelle eines grundsätzlich vorausgeschickt werden: In dem Maße, in dem Christus durch die verschiedenen Ausdeutungen der Seitenwunde sich nicht nur als „wahrer Gott und wahrer Mensch“ sondern auch als „wahrhaft männlich und wahrhaft weiblich“ offenbarte, eröffnete sich für Frauen die Möglichkeit der umfassenden Identi­fi­ka­tion mit Christus und ein absolut gleichrangiger Zugang zur vollständigen Mimesis des Passionschristus. Gerade in seiner radikalen Verwundbarkeit erwies sich der leidende Gottes­sohn am Kreuz als Verkörperung der Niedrigkeit und damit womöglich in beson­derer Weise anschlussfähig für das Selbstbild von Frauen.304 Nur so ist es zu erklären, dass Gertrud von Helfta, Angela von Foligno und nicht zuletzt Elisa­beth von Spaalbeeck ihre weibliche Identität (zum Teil explizit und bewusst) betonen und sich zugleich dem leidenden Christus gleichgestalten konnten. An keiner Stelle in der Vita Elisabeth wird – jenseits der Sorgen um ihre Schicklichkeit – grundsätzlich die Tat­sache hinterfragt, ob oder inwiefern ein weiblicher Körper den männlichen Leib Christi im frommen performativen Nachvollzug der Passion adäquat abbilden dürfte. Vielmehr führt ihr Biograph Philipp von Clairvaux mit großer Selbstverständlichkeit aus, wie die junge Frau ihm und den anderen Betrachtern als Abbild des gekreuzigten Christus er­scheint: „Also zeigt und stellt unsere Jungfrau […] Christus und denselben als Ge­kreu­zig­ten in ihrem Körper dar“.305 Für das Verschmelzen der jungen Begine mit dem Ge­kreu­zig­ten findet der Abt immer wieder eindrucksvolle Formulierungen: Man könne die Jung­frau im Kreuz und das Kreuz in der Jungfrau betrachten.306 Ihre tatsächliche physische Weiblichkeit erscheint dabei nicht als Hinderungsgrund, wo­mög­lich weil der verwundete Christus selbst, seine Seitenwunde, weiblich konnotiert wurde. Dort, wo die Verwundung Christi in 303  „Der durchlässige Leib Christi, so wie die Mystiker ihn sehen, und der groteske Körper des Karnevals, drücken ähnliche kollektive Bedürfnisse aus.“ (Guldin, Körpermetaphern, 145). 304  Bynum, Female Body, 166 hält mit Blick auf die Häufigkeit somatischer Passions­ praktiken fest: „In short, women’s bodies were more apt than men’s to display unusual changes, closures, openings or exudings […] religious significance was attached to such changes when they seemed to parallel either events in Christ’s life or the mass.“ 305  Nostra igitur virgo […] Christum et ipsum crucifixum in suo corpore (Philipp von Clairvaux, Vita, 378, Z. 25–28.30–32). 306  „Wen also würde es nicht erfreuen […] die Darstellung einer so reichlichen Tugend, eines so glor­reichen Heils zu sehen: nämlich die Junfrau im Kreuz und das Kreuz in der Jungfrau zu bedenken?“ Quem igitur non delectet videre […] repraesentationem tam copiosae virtutis, tam gloriosae salutis: virginem scilicet in cruce et crucem in virgine contemplando? (Ebd., 372, Z. 10–13).



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den Vordergrund gestellt wurde, öffnete sich die Möglichkeit der vollständigen Identifikation auch und besonders für den weiblichen Körper. Indem Elisabeth in ihrer Passionsperformanz in die Rolle des leidenden Christus schlüpft und sogar durch die Wunde seiner Seite gezeichnet wird, übernimmt sie auch jenseits die­ser Performanz männliche Rollenmuster. So kommt ihr im weiteren Kontext ihrer voll­ständigen Christus-Mimesis eine geistliche Autorität zu, die man sonst bei einem Priester und Beichtvater erwartete.307 Doch auch abgesehen von einzelnen Anekdoten hebt der Abt von Clairvaux hervor, dass es ihr verwundeter Leib und ihre Leiblichkeit (und nicht etwa ihre hervorragende Bil­dung) sei, die sie in die männliche Rolle versetzt, Lehrende der Ungebildeten zu sein: […] weil nicht auf Häuten oder Blättern, sondern in den Gliedern und dem Körper unse­ res erwähnten Mädchens, gleichwie durch ein lebendiges und offenes Veronika[tuch], der unge­bildete Mensch ein lebendiges Bild seiner Errettung und eine belebte Geschichte des Loskaufs zu lesen vermag wie ein des Lesens und Schreibens kundiger Mensch (litteratus).308

Philipp mag bewusst sein, dass Elisabeth mit diesem Anspruch, an dessen Proklamation er selbst ja beteiligt ist, durchaus eine Demarkationslinie überschreitet. Wohl aus diesem Grund legt er Wert darauf, Elisabeth einzuzeichnen in eine Traditionslinie weiblicher Auto­ritäten der Bibel. „Männliche“ Tugenden ließen sich auch bei Deborah, Ester, Judith oder Mirjam entdecken.309 Doch den eigentlichen Ermöglichungsgrund der weiblichen Identi­fi­kation mit Christus sieht er in dessen fleischlicher unio mit der Gottesmutter be­grün­det: Daher ist es wahrhaftig möglich, zu derselben Jungfrau Mutter zu sagen: Dieses Fleisch ist von deinem Fleisch. Diese Eingeweide der Barmherzigkeit unseres Gottes, in denen uns besucht hat der Ausgang aus der Höhe, sind aus deinen Eingeweiden hervor­ge­ gangen.310

Die vollständige Annahme des Schmerzes Christi, der performative Nachvollzug seiner Kreu­zes­wunde überwindet alle Unterscheidung der Geschlechter. So stellt auch im Falle der Angela von Foligno ihre Geschlechtszugehörigkeit kein Hindernis dar für ihre voll­ständige Transformation in den gekreuzigten Christus: „Bei jenem verflüssigenden Anblick wurden ihre Eingeweide durch ein so 307  Vgl. dazu ebd., 375, Z. 9–42; zur Episode mit dem Theutonicus seu Brabantinus, Elisabeths Wei­sungs­befugnis und geistlichen Autorität siehe bereits ausführlich unter A.2.2.1.2. 308  […] cum non in membranis aut chartis, sed in membris et corpore memoratae nostrae puellae, scilicet vivae et apartae Veronicae, suae salvationis vivam imaginem et redemptionis animatam historiam sicut litteratus ita valeat legere idiota (Philipp von Clairvaux, Vita, 373, Z. 11–14). 309  Vgl. dazu ebd., 372, Z. 17–19. 310  Unde ipsi Virgini Matri veraciter dici potest: ‚Haec caro de carne tua. Haec viscera misericordiae Dei nostri, in quibus visitavit nos oriens ex alto, de tuis dulcissimis visceribus processerunt‘ (ebd., Z. 23–26).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

großes Mitleiden durchbohrt, dass es so scheint, als wäre ihr ganzer Verstand und ihr ganzer Körper wahrhaft in die Schmerzen des Kreuzes verwandelt.“311 Auch der Körper Gertruds wird ganz selbst­verständlich zum Spie­gelbild des verwundeten Christus, indem sie in einer Vision aus der Seitenwunde Christi selbst jene rosenfarbene Narbe an ihrer linken Seite empfängt: „[S]ie erkannte wie aus der liebreichen Wunde der allerheiligsten Seite des Herrn sich an ihrer linken Seite etwas wie eine rosenfarbene Narbe zusammenzog.“312 Eben diese Verwundung Christi wurde in unterschiedlichster Weise zum Symbol weiblich konno­ tierter Leiblichkeit und zum Ausweis weiblicher Erfahrungswelten. Offenbarte Christus am Kreuz sein wahres Menschsein, so offenbarte er es in der Tat in radikaler und um­fassen­der Weise: als Mann und Frau.313 Bis in die heutige Forschung hinein hat die Beobachtung der „polymorphousness of Christ’s body“,314 jene Aufhebung und Fusion der schein­baren Widersprüche ganz unterschiedliche Resonanzen erzeugt, mit der man ver­sucht, mit jener basalen Verwirrung umzugehen.315 Drei Facetten, die in den behandelten Quellentexte einschlägig entfaltet werden, sollen hier aufgeführt werden, die die Aufhebung der Geschlechtergrenzen in Christus ver­deut­lichen. Zum einen wurde die Seitenwunde Christi als Gebärmutter oder Mutterschoß an­ge­sprochen,316 diese mütterliche Wahrnehmung Christi wurde weiterhin durch die Dar­stellung der Seitenwunde als nährende, stillende Brust verstärkt;317 neben diesen beiden mütter­lichen Zu311  Angela, Ins. IV, Z. 51–53: Ad cuius liquefactivum conspectum tanta compassione transfixa sunt sua viscera, quod vere in crucis dolores videbatur tota mente et corpore transformata. 312  Gertrud, Legatus III, C.  XVIII/27, Z. 10–12: […] se cognovit ex amatorio vulnere sanctissimi lateris Domini, se in sinistrum quasi roseam cicatricem contraxisse. 313 Die Durchlässigkeit und Ambiguität des Christuskörpers lassen sich auch an Darstellungen ablesen, die Christus am Kreuz mit deutlich weiblichen Zügen zeigen; vgl. dazu bes. einschlägig Wirth, Kreu­zigung mit Engeln, 263. 314  Lochrie, Mystical Acts, 194. 315  Karma Lochrie kritisiert Caroline Bynum für deren Anliegen, den Aspekt der (verstörenden) Sexualität in mystischen Texten auszublenden und vorschnell durch andere Perspektiven zu ersetzen, auch wenn Lochrie deren Motivation durchaus zu würdigen weiß: „[S]he steadfastly denies or ignores the sexual and erotic as categories of investigation […]. In her view the medieval body has ‚less to do with sexuality than with fertiliy and decay‘. It is only fair to recognize that this dismissal is part of an overall strategy in much of her work of rehabilitating the study of women’s mysticism from some admittedly reductive views of sex and sexual repression“ (ebd., 183). Karma Lochries eigene Stand­punkte sollen im vorliegenden Kapitel noch zur Sprache kommen. 316  Einschlägige Texte aus dem angelsächsischen Kontext, die die Seitenwunde als Mutterbrust, Mutter­schoß oder Gebärmutter besingen, finden sich etwa bei Beckwith, Christ’s Body, 58. Zum Motiv des Uterus in mittelalterlichen Diskursen vgl. Fritsch-Staar, Uterus, 184–186, wobei sie zum einen auf die Tendenz der Dämonisierung aber auch auf dessen Ästhetisierung im Kontext der Mariologie hin­weist und schließlich festhält: „Die Ästhetisierung […] ist vielleicht die charakteristischste Form des mittelalterlichen Sprechens über den Uterus“ (ebd., 191). 317  So konstatiert etwa auch Guldin, Körpermetaphern, 147: „Sie ist eine Mutterbrust, an der sich der Gläu­bige erquicken kann oder ein ständig gebärender und deswegen immer offener Uterus, indem sich die kindliche Seele des Gläubigen erneuern kann.“



4  „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft

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schreibungen konnte Christus durch seine Seitenwunde auch in der Rolle der weiblichen Geliebten wahrgenommen und seine Seitenwunde als erotische und passi­ve Liebeswunde dargestellt werden. Fragt man nach der Metapher des Mutterschoßes oder der Gebärmutter, so bietet etwa Ange­las Liber Lelle reichhaltige Belege. Auch wenn der Terminus Gebärmutter (uterus) nicht verwendet wird, sondern von den Eingeweiden (praecordia) Christi die Rede ist, zeichnet Angela hier in einer eindrücklichen Visionsschilderung das Bild einer Neu­ge­burt: Es sind ihre Bettelmönche, die in der Seitenwunde Christi neugeboren werden. Zu­nächst schildert sie die abgestufte Inkorporation der Mönche in die Seitenwunde als Gebär­mutter Christi („weil er manche mehr, manche weniger hineinstieß, manche auch öfters anlegte, manche wahrhaft in seinen Körper aufnahm/verschlang“).318 Movens dieser „Einver­leibung“ ist die sich hingebende Liebe Christi (evisceratum amor), in der das Inner­ste nach außen gekehrt, in der das Verborgene offenbart wird. Wie in einem Geburts­vor­gang werden Angelas „Söhne“ nun wieder nach außen entlassen und auf den Weg der Kreuzesnachfolge geschickt. Wie Neugeborene schaut Angela die Mönche vom Blut Christi benetzt319 aus dessen Seiten­wunde hervortreten. Ist jenes Geburtsgeschehen oder genauer jenes Geschehen des Neugeborenwerdens in Christi Eingeweiden in der Vision Angelas ein durch und durch individuelles, so schildert Ludolf von Sachsen in seiner Vita Christi ein Geburtsgeschehen, welches sich nicht auf Indivi­duen, sondern die Kirche in ihrer Gesamtheit bezieht. Dabei greift der Kartäuser auf eine breite, seit Augustin beförderte Traditionslinie zurück, welche in einer Adam-Christus-Typologie die Geburt Evas aus dem im Paradies schlafenden Adam mit der Ge­burt der Kirche aus dem am Kreuz entschlafenen Christus korreliert: Denn wie aus der Sei­te des am Kreuz entschlafenen Christus Blut und Wasser strömte, oder vielmehr heraus­floss, durch welche die Kirche geheiligt wurde, so wurde aus der Seite des im Paradies schlafenden Adam die Frau geformt, welche die nämliche Kirche darstellt.320

An dieser Stelle muss freilich hervorgehoben werden, dass durch die Analogisierung zur Para­ dies­ geschichte gerade keine Feminisierung Christi im eigentlichen Sinne vorge­nom­men wird: Schließlich dient Adam als Urbild jenes Geburtsgeschehens. Und dennoch ist es eine weibliche Metapher, die Metapher der Gebärmutter oder des Mutterschoßes, die auf Christus angewendet wird, um mit unüberbietbarer Emphase die Verbindung der Kirche aus Christus selbst zu artikulieren. In der bildlichen Umsetzung jener Typologie innerhalb der 318  […] quia quosdam plus, quosdam minus infigebat, quosdam etiam saepius applicabat, quosdam vere intus corporaliter absorbebat (Angela, Ins. IV, Z. 83–85). 319  […] rubricatio rubentis sanguinis (ebd., Z. 86). 320  […] quoniam sicut de latere Christi dormientis in cruce exivit, vel fluxit sanguis et aqua, quibus consecratur Ecclesia; ita de latere Adae dormientis in paradiso, mulier, quae ipsam Ecclesiam figurabat, est formata (Ludolf, Vita Christi II, 137, l. Sp., Z. 23–29).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Bible moralisée (A.2.3.1) wer­den die weiblichen Aspekte, die dem Leib Christi zugeschrieben werden, noch einmal deut­licher. Wenn der schriftliche Zusatz davon spricht, der Vater habe aus der Seiten­wun­de Christi die Kirche erbaut (Et de latere Christi dormientis in cruce edificavit pater ecclesiam) so evoziert dies die mittelalterliche Vorstellung, dass bei der Entstehung eines Kin­des die Mutter die Materie beisteuert, der Vater hingegen das formgebende Prinzip dar­stellt.321 Blut und Wasser erscheinen dabei als die materia, die Seitenwunde als Gebär­mutter, in der die Bildung der Kirche als sponsa Christi auf geheimnisvolle Weise durch das wirkende Prinzip Gottvaters sich vollzieht. Nur als Randbemerkung sei hier ange­merkt, dass Gottvater auf beiden Abbildungen – sowohl in der Darstellung des schla­fen­den Adams als auch des schlafenden Christus  – in eine weibliche Rolle, die der Hebamme, schlüpft. Konnte die Seitenwunde sowohl heilsgeschichtlich wie auch in der ganz individuellen Heils­geschichte des Frommen als Gebärmutter und Mutterschoß aufgefasst werden, so finden sich auch Quellenbelege, in denen die Seitenwunde noch auf andere Weise die Mütter­lich­keit Christi abzubilden vermag. Das Motiv der Seitenwunde als milch­spen­den­der Mutterbrust ist, wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird, freilich schwer von den eucharistischen Implikationen und Verbindungslinien zu trennen. Wie eng der Konnex zu diesem Themenbereich ist, zeigt etwa ein Passus des Legatus der Ger­trud von Helfta, die von Skrupeln über ihre Zugangsberechtigung zum Sakrament geplagt, von einem mütterlich zugewandten Christus selbst an seine Brust gelegt wird, um dort ihren Durst und ihre Zweifel gleichermaßen zu stillen: „[…] der liebens­werteste Jesus schien sie an die Verwundung des Herzens zu ziehen, die ihm zugefügt worden war durch die Glut seiner Liebe […] und tränkte sie mit dem lebendig machenden Blut seines Herzens.“322 Die Geborgenheit an Jesu Brust, die Gertrud wie ein schlafender Säugling an der Brust einer stillenden Mutter genießen darf, wird wenige Zeilen später in einem weiteren Passus des Legatus noch einmal beschworen. Erschöpft von ihrer intensiven meditatio passionis findet Gertrud erst in den frühen Morgenstunden in einen Schlaf und Jesus erschien ihr in eben jenem Schlaf und wärmte sie zärtlich an seinem Busen. Als bereitete er aus der honigfließenden Wunde seiner heiligen Seite ihr eine allerschmackhafteste Mahlzeit, so legte er mit wundersamem Liebreiz zur Stärkung die einzelnen Bissen mit seiner zarten Hand in ihren eigenen Mund.323 321  So propagierte etwa Aristoteles: „[D]as Weibchen liefert stets den Stoff, das Männchen dasjenige, was es formt, denn dies ist die Kraft, von der wir sagen, dass sie jeder von uns besitze, und dies ist es, was es bedeutet, Männchen oder Weibchen zu sein […] Während der Leib vom Weibchen herrührt, ist es die Seele, die vom Männchen stammt“ (Aristoteles, zit. nach Laqeur, Leib, 44). 322  ipse amantissimus Jesus per vaporem amoris sui vulnerati Cordis eam sibi attrahere videbatur et abluere in aqua inde profluenti, deinde irrigare ipsam in sanguine vivificante sui Cordis (Gertrud, Legatus III, C. XVIII/5, Z. 14–17). 323  apparuit ei per somnus ipsamque in sinu suo delicate confovens, quasi in vulnere suavifluo



4  „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft

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Christus als Wärme spendende, bergende und stillende Mutter  – all jene Erfahrungen ihrer Vision verbindet Gertrud mit dessen Seitenwunde. Auch die Mystikerin Angela von Foligno schaut, ja erlebt die Seitenwunde Christi wie eine mütterliche Brust, an der sie Christus selbst auffordert, zu trinken: Und dann rief er mich und sagte mir, dass ich meinen Mund an die Wunde seiner Seite legen solle und es schien mir, als sähe und tränke ich sein Blut, welches ganz frisch aus seiner Seite floss und es wurde mir zu verstehen gegeben, dass er mich durch dieses reinigte.324

Den Leib Christi als weiblich, als mütterlich zu begreifen, erschien gleichsam als Ver­ge­wisserung dessen Zugänglichkeit und Offenheit. In seinem programmatischen Aufsatz „Nur der geöffnete Körper schafft Heil“ konstatiert Thomas Lentes allgemein für mysti­sche Texte: [D]ie Seitenwunde [war] Ausgang und Eingang zugleich. Aus ihr flossen die Blut- und Wasserströme des Heils ebenso sehr, wie sie den Menschen den Zugang zum Heil öffnete. So jedenfalls faßten es die Gebete: „Ich erflehe durch die Wunde deiner Seite, o Jesu, den Zugang zu deinem allerheiligsten Herzen, um einzugehen in das Inner­ste deiner göttlichen Liebe.“ […] So sehr die Mystiker von der Erfahrung des Ausfließens der Wunde und des Trinkens aus ihr sprechen, so sehr konnte umgekehrt um das Eingehen in die Wunde gebetet werden. Eine mittelhochdeutsche Passionsklage brachte die Bitte um Aufnahme in Verse: „Sliuz dich uf, du rote wunde, / mach mich durstic alle stunde / nach dir, pirc mich in din hol (Höhle).“ Der geöffnete Körper war Mutterbrust und Mutter­schoß, Ort des Säugens wie des bergenden Schutzes zugleich.325

Diese zweite Dimension der Mütterlichkeit des Passionschristus, die in seiner Seiten­wun­de anschaulich wird, findet sich auch in der wichtigsten LebenJesu-Darstellung des Mittel­alters, der Vita Christi des Ludolf von Sachsen, der seine Leser dazu aufruft, sich an Jesu Brust säugen und sättigen zu lassen: „[D] ort hefte deinen Mund an, damit Du Wasser schöpfest aus den Quellen des Erlösers […]; das Wasser wird dir in Milch ver­wan­delt werden, damit es dich ernähre“.326 Bedenkt man die einschlägige Breitenwirksamkeit jener Leben-Jesu-Darstellung, so belegt dies, mit welcher Selbstverständlichkeit Ludolf diese Topoi der Mütterlichkeit Jesu ein­flechten kann.327 Weitschweifige Erläuterungen oder Rechtfertigungen sind an dieser Stelle offenbar unnötig, was gerade angesichts benedicti lateris sui coenaturam quamdam saporosissimam ipsi confecit et mira blanditate singulas offas manu sua delicata ori ipsius ad reficiendum imposuit (ebd., C. XLV/3, Z. 6–12). 324  Et tunc vocavit me et dixit mihi quod ego ponerem os meum in plagam lateris sui, et videbatur mihi quod ego viderem et biberem sanguinem eius fluentem recenter ex latere suo, et dabatur mihi intelligere quod in isto mundaret me (Angela, Mem. I, Z. 146–149). 325  Lentes, Nur der geöffnete Körper, 154. 326  […] ibi os appone, ut haurias aquas de fontibus Salvatoris […] in lac aqua mutatur, ut nutriaris (Ludolf, Vita Christi II, 139, r. Sp., Z. 22 f.38). 327  Zum Motiv des mütterlichen Christus vgl. nur Bynum, Female Body, 176; dies., Jesus as Mother; Palliser, Mother of Mercy, 132 f.; Lewis, Christus als Frau, 71.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

der Breitenwirkung und der weitgefassten Leser­schaft der Vita Christi Rückschlüsse darauf zulässt, wie etabliert die Vorstellung von Jesus als Mutter war. Auch die zahlreichen Kunstwerke, die Christus wie eine Mutter darstellen, konnten offen­bar mit einem Publikum rechnen, dem dieser Vorstellungskomplex durchaus geläufig war. Als ein Beispiel aus der Flut der künstlerischen Darstellungen, die Jesus weibliche Züge verleihen, sei hier an das unter A.2.3.10 aufgeführte Augsburger Epitaph erinnert, auf dem Holbein d. Ältere Christus als Schmerzensmann zeichnet, der gemeinsam mit Maria vor Gott Fürbitte leistet. In bewusster Analogie zur brustweisenden Maria, im sel­ben Gestus und derselben Haltung, tritt dort Christus dem Betrachter entgegen. So wie Maria auf ihre entblößte Brust weist und gegenüber Gott als Richterfigur auf ihren sich hin­gebenden, mütterlichen Leib verweist, auf die „Brüste, an denen dein Sohn geso­gen“,328 so weist auch Christus auf seinen sich für andere hingebenden Leib, auf die Wunde an seiner Seite als Quelle des sühnenden Blutes: „Vater, sieh an mein / Wunden rot / hilf den Menschen / aus aller Not / durch meinen bitteren Tod.“329 Bedenkt man die mittelalterliche Auffassung, alle Körperflüssigkeiten seien letztlich nur ver­schiedene Erscheinungsformen des Blutes,330 richtet man zudem sein Augenmerk auf die Art und Weise, wie Christus seine Wunde weit zu öffnen scheint, um den Blutfluss zu ver­stärken – in eben der gleichen Weise, wie Maria ihre Brust anhebt, als gelte es, Milch her­vorströmen zu lassen – so ist es nur ein weiteres Detail, dass der Künstler dem Antlitz und der Gestalt Christi sehr feminine Züge verliehen hat. Die Beobachtung, dass die Seitenwunde Christi mithin also als mütterliche Brust oder Gebär­mutter begriffen werden konnte, hat sich in der Forschung nicht zuletzt durch die Ar­beiten von Caroline Bynum als Selbstverständlichkeit etabliert. Weitaus verstörender und fremd wirken jene Quellen, in denen Christus nicht als Mutter, sondern als Frau, ja als Objekt des Begehrens gezeichnet wird und seine Seitenwunde als weibliche Scham.331 Karma Lochrie weist darauf hin, dass diese Form der Feminisierung Christi durchaus für Befremden sorgt, zumal wenn als Gegenüber jenes weiblichen, passiven Christus eine eben­ falls weibliche, aktiv agierende Mystikerin begegnet: The feminization of the body of Christ is usually considered to be one of the most distinctive features of late medieval piety and the devotion of female mystics in particular. This feminization is regarded as part of a cluster of shifts in devotional belief and practice emphasizing Christ’s humanity, physical access to the sacred, and the deployment of social roles to define Christ’s relationship to the mystic as mother, husband, lover 328  Her thun ein dein schwert / des du hast erzogen / und sich an die brust / die dein sun hat gesogen. 329  Vatter sich an mein  / wunden rot  / helf den menschen  / aus aller not  / durch meinen bittern tod. 330  Siehe dazu etwa Bynum, Female Body, 186 f. 331  An dieser Stelle sei noch einmal an die unter A.1 angestellten Überlegungen verwiesen.

4  „Weder Mann noch Frau“ – die Frömmigkeit als subversive Kraft



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and child. Yet scholars almost never explore the feminized body of Christ as lover to female mystics.332

Aus dem Kanon der in der vorliegenden Arbeit näher untersuchten Quellen findet sich ein solches Szenario in einer Illustration des Rothschild Canticum (A.2.3.2). Die Illustra­ti­on spielt mit vertrauten Symbolen und Inszenierungen der Geschlechter – um zugleich mit den Sehgewohnheiten zu brechen. In der Tat: Die vertrauten Rollen stehen Kopf, be­trach­tet man die weibliche Figur, die minnende Seele, die in aktiver, ja beinahe aggressi­ver Weise den verwundenden Speer gleich einem Phallussymbol in der Rechten führt, den sie auf die Seitenwunde Christi gerichtet hält. Auch wenn dieses Quellenzeugnis ohne Worte auskommt, spricht das Bild für sich bereits eine frappierende Sprache. In dem über hundert Jahre später entstandenen Textcorpus Stimulus amoris des Franziskaners Jakob von Mailand aus dem späten 13. Jahrhundert, welcher im franziskanischen Kontext zahl­reiche Fortschreibungen erfahren hat, wird nach Wolfgang Riehle die Verbindung zwischen vulnus und vulva schließlich eindeutig hergestellt.333 Bei aller gebotenen Vorsicht und der Anfrage, ob es sich nurmehr um Projektionen des moder­ nen Betrachters auf die mittelalterlichen Bildempfänger handelt, bei allem Bestre­ben, mittelalterliche Zeugnisse nicht unbesehen mit sexualisierenden Deutungen zu über­ziehen, ist dennoch festzuhalten, dass mystische Quellenzeugnisse in erstaunlicher Frei­heit mit Geschlechterrollen umgehen konnten. Es mag dahingestellt sein, ob der zeit­ge­nössi­sche Begriff des „queering“ weiterführend oder irreführend sein mag; es bleibt jedoch wahrzunehmen, dass weder der oder die Fromme noch Christus selbst auf ein mono­ lithisches, in sich geschlossenes Geschlechterkonzept festgelegt sein musste.334 Auch wenn meines Erachtens Zurückhaltung geboten ist bei der Analyse, welche 332 

Lochrie, Mystical Acts, 187. dazu ebd., 189: „The sexual nature of the mystic’s devotion to Christ’s wound is made explicit in one of the most important texts of Franciscan mysticism, the Stimulus Amoris by James of Milan. Mystical union between soul and God is figured as a joining of wounds in a mystical act of copulation. In fact, Wolfgang Riehle argues for a ‚typical and quite consciously intended analogy between this wound of Christ and the female pudenda.‘ Furthermore Rhiele suggests a kind of punning on words, vulva and vulnus. The ‚copulation‘ of mystical soul with Christ thus occurs at the side of his wound (vulnus), which is transformed into the female vulva when ‚vulnus vulneri copulatur‘ ‚wound is joined to wound‘. The key to the idea of the joining of wounds is that the lover’s soul becomes wounded with love, and this wounding in turn allows him to join in Christ’s suffering. In James of Milan’s text the speaker is enflamed with desire for entrance into the wound. Elsewhere in the Stimulus Amoris, the wound is an object of the speaker’s desire for union (copulo, copulari).“ Vgl. dazu auch Beckwith, Christ’s Body, 59, die dazu anmerkt: „In James of Milan’s Stimulus amoris, the original pun between vulnus and vulva makes the equation an even more grotesquely economical one. The image is one of a parturition that can never be finished, so that the wounds can stay open around the infant soul, and the regression to a foetus-like comfort can keep open the boundaries between inside and outside.“ 334  Noch einmal sei an dieser Stelle daran erinnert, dass die Identifizierung der menschlichen Natur Christi mit der Frau eine wichtige Rolle spielte; vgl. Lewis, Christus als Frau, 79. 333  Siehe

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Asso­ziatio­nen und Konnotationen etwa die isolierten, lebensgroßen Darstellungen der Seiten­wunde (vgl. A.2.3.3 und A.2.3.4) bei einem mittelalterlichen Betrachtenden geweckt haben mögen (oder auch nicht),335 so zeigt sich gerade mit Blick auf die Seiten­wun­den­fröm­migkeit des ausgehenden Mittelalters, dass mystische Frömmigkeit durchaus in der Lage war, einen eigenständigen und womöglich verstörenden Beitrag im Diskurs über die Ge­schlechter beizusteuern: Within the context of language, however, mystical discourse is able to queer, disrupt, and expose the normative surfaces of language and the conventions language sponsors. The polymorphousness of Christ’s body, with its femi­nine genital wound and its simultaneous masculine properties, introduces confusion at a very foundational level of religious language, and therefore, of religious devotion. The con­founding of courtly love tropes in configurations of mystical love by female mystics exposes those ‚abjecting strategies‘ of courtly love conventions and the fantasies of mascu­linity they support.336

In der Tat: Die Seitenwunde Christi konnte als Ort der Aufhebung geschlechtlicher De­mar­kations­linien fungieren.337 In diesem Sinne erschien der verwundete Passions­christus als Paradigma des ganzen Menschen, in welchem – wie es schon Isaak von Stella ge­for­dert hatte – die Balance zwischen Mann und Frau ihre Verwirklichung gefunden habe.338 Wenn Lavezzo recht gegeben werden kann, dass „gender reversal“ im Kern, im Innersten des Christentums angelegt sei339, so wäre meines Erachtens zu ergänzen: Das verwundete Herz Jesu ist dafür das Symbol par excellence. Jenes erstaunliche, subversive Potential,340 das der Verehrung der Seitenwunde mit Blick auf die Spielräume und Verschiebungen innerhalb der gegebenen Geschlechterrollen eig­nete,341 wird auch im folgenden Kapitel – wenngleich mit völlig anderen Implikationen – zu beobachten sein. 335  Vgl. dazu auch A.1 und die dort geführte Diskussion über angemessene Verstehensschlüssel mittel­alter­licher Texte unter besonderer Berücksichtigung der Blickrichtungen „eros“, „Sexualität“ und „Sinn­lich­keit“. Vgl. dazu Lochries detaillierte Analysen jener zahlreichen isolierten Seiten­wunden­dar­stellungen als weibliche Scham in Lochrie, Mystical Acts, 190, in der sie diese Dar­stellungs­weise als typisch für die Passionsfrömmigkeit beschreibt und zugleich festhält: „At the same time, the sexual connotation of this image is unmistakable. The visual conjunction of wound and vagina provides a visual pun of vulva and vulnus, such as Riehle finds in the Stimulus Amoris.“ 336  Ebd., 183. 337  Vgl. zur Begrifflichkeit des „cross-gendering“ Christi u. a. Bynum, Holy Feast, 265–272. 338  Vgl. dazu McGinn, Mystik, 450. 339 So Lavezzo, Sobs, 179: „[G]ender reversal is at the heart of Christianity“. 340  Vgl. zur Frage nach dem subversiven Potential religiöser Symbole und ihrer Infragestellung oder Bestätigung gegebener Rollen auch Bynum, Complexity of symbols, 2: „Genderrelated symbols, in their full complexity, may refer to gender in ways that affirm or reverse it, support or question it“. 341  Auch wenn die Aufwertung des weiblichen Körpers durch die Feminisierung Christi sicherlich ein unbestreitbares Faktum war, konnten manche männliche Mystiker die wahre Verwirklichung der Weib­lichkeit zu ihrer eigenen Aufgabe erklären: „When male writers took femaleness as an image to describe their renunciation of the world, they sometimes said explicitly that women were too weak to be women. They sometimes implied that their own role reversal – that is their appropriation of or choice for lowliness – was a superior „femaleness“



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5  Verzehren Gottes

5  Verzehren Gottes – die Eucharistiefrömmigkeit als sich Verzehren nach Gott 5.1  Die Sehnsucht nach der Einverleibung Gottes Crede et manducasti.342

Neben der grundsätzlichen Fokussierung auf den Körper (B.1), einer gesteigerten Blut- und Wundenfrömmigkeit (B.2), dem Phänomen der Stigmatisierungserfahrungen (B.3), sowie der vielschichtigen Geschlechterdiskurse (B.4) ist auch die ab dem 12. Jahrhundert sich stetig steigernde343 Eucharistiefrömmigkeit344 als eine der prominenten Facetten spät­mittel­alterlicher Religiosität zu berücksichtigen und auf ihre Verbindungslinien zur Seiten­wundenfrömmigkeit zu befragen.345 In einer Religiosität, die ihr Augenmerk auf den menschgewordenen, inkarnierten Gott rich­tete, spielte die Eucharistie als neuerliche Vergegenwärtigung des leibhaftigen Gottes eine wichtige Rolle.346 Gerade im 12. Jahrhundert wurde die Frage nach der Gegenwart Christi in der Eucharistie rege diskutiert und etwa von Petrus von Celle (um 1115–1183) als Herzstück des frommen Lebens bezeichnet.347 Vor diesem Hintergrund ist to the femaleness of women, which was not cho­sen. Suso, for example, occasionally suggested that the tears and sufferings of women were whining, whereas men’s austerities were imitation of Christ“ (Bynum, Women His Humanity, 269). An die Tat­sache, dass Geschlechterrollen im ausgehenden Mittelalter weniger biologisch determiniert, sondern vielmehr performativ verwirklicht wurden, sei hier nochmals erinnert; vgl. dazu Mazo/K ar­r as/Boyd, Ut cum muliere, 101.103.109 und die dort geäußerte Beobachtung des „medieval under­standing of gender as performative“ (ebd., 103); diese These wird nicht zuletzt durch die einschlägigen cross-dressing-Beispiele untermauert, vgl. dazu insgesamt Gaunt, Straight Minds. 342  Augustinus, zit. nach Grosse, Heilsungewissheit, 212. Nach Grosse verstand Augustinus diese Metapher allerdings losgelöst vom eucharistischen Essen; vgl. dazu ebd., 212–214. 343  Zur Entwicklung der sich intensivierenden Eucharistiefrömmigkeit ab dem 12. Jahrhundert vgl. die prä­ zise Darstellung der verschiedenen „Wachstumsringe“ (Elevation der Hostie, Reklusentum, Um­ritte, sowie schließlich die Einführung des Fronleichnamfestes ab 1264) bei Bynum, Holy Feast, 54 f. Hierbei ist mit Blick auf die Hostienverehrung aber auch mit Blick auf die Bedeutsamkeit des Kel­ches eine sich stetig steigernde Verehrung und Aufmerksamkeit zu beobachten, die im 13. bis 15. Jahr­hundert ihren Höhepunkt erreichte. Zur Genese des Fronleichnamsfestes und seiner unter­schied­lichen Aspekte vgl. etwa Rubin, Symbolwert, 311–318. 344  Manche Vertreterinnen und Vertreter des New Historicism gehen so weit, die Eucharistie als Verstehens­schlüssel für alle Diskurse der damaligen Zeit zu beschreiben; vgl. dazu Galla­ gher/Greenblatt, Practicing New Historicism. Zu sämtlichen Aspekten eucharistischer Frömmigkeit und der Praxis der Eucharistie vgl. nur Browe, Eucharistie. 345  So auch McGinn, Mystik, 276. 346  Zugleich konnte sie, etwa bei Mechthild von Magdeburg, als jenes Geschehen wahrgenommen werden, in welchem die Menschlichkeit und die Göttlichkeit Christi sich gleichermaßen offenbarte; vgl. dazu Bynum, Jesus as Mother, 214. 347  Petrus vergleicht die Stellung der Eucharistie innerhalb der Kirche mit der Wichtigkeit des Herzens im menschlichen Organismus: Eucharistia siquidem locum tenet in corpore

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

die sich stetig steigernde Wertschätzung der Priester nachvollziehbar, waren ihre Hände, die das heilige Sakrament berührten, doch der Gebärmutter Mariens vergleichbar!348 Aber nicht nur als Wiederholung des Inkarnationsgeschehens, der Menschwerdung Chri­sti wurde die Eucharistie begriffen: Auch der immerwährende Nachvollzug der Passion, gleich­sam deren mimetische Wiederholung, wurde durch sie gewährleistet.349 Als Ausfluss der Gnade aus dem Körper Christi aufs engste mit diesem verbunden, betrachtete man den Empfang der Sakramente als Möglichkeit der Einswerdung und der Einverleibung Gottes.350 Unter diesem Aspekt erwies sich die Eucharistiefrömmigkeit als anschlussfähig an eine mysti­ sche Religiosität, in der das unio-Streben im Zentrum stand.351 Der profane Vorgang des Essens, der im Alltag des ausgehenden Mittelalters als Quelle der Lust sowie als sozialer Statusmarker angesehen werden konnte, rückte so zugleich in eine zutiefst religiöse Sphäre, indem man es als Sinnbild für die Verschmelzung mit Gott begriff.352 In der Eucharistie ereignete sich die Selbsthingabe Gottes an den Menschen353 und die Ver­schmelzung des Menschen mit Gott; im Hintergrund stand dabei das mittelalterliche Axiom, dass nichts mehr mit dem Menschen verschmelze als die Speise, die er auf­nimmt.354 Dabei konnten Ecclesiae, quem huma­num cor in homine (Petrus von Celle, zit. nach McGinn, Mystik, 526, Anm. 87). 348  Bynum, Holy Feast, 57 zitiert einen im 12. Jahrhundert weit verbreiteten Text: „Oh revered dignity of priests, in whose hands the Son of God is incarnated as in the Virgins’s womb.“ 349 So Hsia, Sakralisierung, 58. Als besondere Synthese von Passionsfrömmigkeit und der Metapher des Verzehrens Gottes erscheint etwa die Aufforderung des Aelred von Riveaux, Christus am Kreuz zu verzehren! So Bynum, Blood of Christ, 685. 350  An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, in welcher Weise die verschiedenen Aspekte und „Mar­ker“ spätmittelalterlicher Frömmigkeit (die Wertschätzung des Körpers, die Sehnsucht nach unio, die ge­stei­gerte Passionsfrömmigkeit, die Verehrung der Sakramente etc.) ineinandergreifen, sich gegen­seitig verstärken und bedingen konnten. Interessant erscheint an dieser Stelle die These, die Lavezzo kon­sta­tiert: Die Messe sei der Ort gewesen, an den sich die meisten frommen Praktiken angelagert hätten; vgl. dazu Lavezzo, Sobs, 180. 351  Die instruktive Anwendung (und Infragestellung) der Theorie Victor Turners auf das Themenfeld der spätmittelalterlichen Eucharistiefrömmigkeit durch Caroline Bynum kann hier nicht breit entfaltet werden; vgl. dazu Bynum, Fragmentierung, 41–43. 352  „Eating in late medieval Europe was not simply an activity that marked off fine calibrations of social status and a source of pleasure so intense and sensual that the renunciation of it was at the core of religious world-denial. Eating was also an occasion for union […] with one’s God“ (dies., Holy Feast, 3). Kein geringerer als Thomas von Aquin unterstrich die Tatsache, dass diese Vereinigung mit Gott jedem Menschen offenstehe: „Oh wunderhaftes Ding: Es isst den Herrn der Arme, der Sklave und der Ge­ringe.“ O res mirabilis: Manducat Dominum Pauper, servus, et humilis (siehe ebd., 46). Ähn­li­ches konstatiert mit Blick auf die Frauenmystik und ihre Eucharistiefrömmigkeit Langer, Leibhafte Er­fahrung, 450; mit Blick auf die Eucharistiefrömmigkeit des Bernhard von Clairvaux ebd., 455. 353  Zum Themenbereich der Selbsthingabe vgl. auch Kristeva, Holbein’s Dead Christ, 260: „He who provides food is the one who sacrifices himself and disappears so that others may live.“ 354  Camporesi, Host, 227 zitiert eine Passage aus dem Werk eines Jesuiten, die belegt,



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bräutliche Vorstellungen und Vorstellungen von der Einverleibung Gottes sich gegenseitig überblenden: Die Sehnsucht nach völligem Einswerden mit Gott fand ihren Ausdruck in zahlreichen Texten, die gleichsam synonym vom „Verzehren Gottes“ und „sich verzehren nach Gott“ sprechen konnten. So ist es nicht erstaunlich, dass die Rede vom Verzehren Gottes einen locus classicus in eben jenem Textcorpus darstellt, der in glühenden, bräutlichen Worten die Liebe zu Gott besingt, den Sermones super Cantica Canti­corum des Bernhard von Clairvaux.355

dass diese Auffassung noch im 17. Jahrhundert virulent war: „Since nothing merges with us more intimately than food which, by means of natural heat, transforms itself into our own substance, and becomes one with us […]. ‚He who eats my flesh and drinks my blood shall remain in me and I in him‘ […]. But there is a difference between other food and this one: whereas the transformer transforms itself into us and becomes our own substance, the latter transforms us into itself.“ Zugleich war man sich der mit dieser Auffassung einhergehenden, tiefgreifenden Problematik bewusst: Wie konnte man sich die heilige Hostie im Verdauungsapparat des Menschen vorstellen? Zur komplexen Diskussionen siehe ebd., 228: „Most likely, the introduction of the Host into the worshipper’s mouth created a real trauma. As he swallowed it, all the terrifying images connected with this act – the body of the purest lamb entering the filth of the digestive apparatus, the divine flesh polluted by contact with mucous membranes, the juices with the corruptible flesh and the rot of the bowels – must have returned to his mind and seized him with vertiginous horror. The stomach occupies a crucial place in all theological meditations on the Eucharist. […] With concern and anxiety, theologians follow the descent of Christ’s body into the antrum, the damp and smelly bowels.“ Es mögen jene Be­denken gewesen sein, die manche dazu motivierten, keine andere Speise außer der Hostie zu sich zu nehmen; auch hier galt das Interesse der Zeitgenossen den wundersam veränderten Ver­dauungs­pro­zessen, wie etwa im Fall der Heiligen Alpais (1155–1211); vgl. dazu Bynum, Holy Feast, 84.91. Gerade die Tatsache, dass die meisten Gläubigen die Hostie sowie normale Speise zu sich nahmen, mag das Bedürfnis hervorgerufen haben, die Singularität des „heiligen“ Essvorgangs auf irgendeine Wei­se zu unterstreichen, etwa durch die Beschreibung besonderer Geschmacksempfindungen; vgl. dazu exemplarisch das Beispiel der Maria von Oignies, deren Biograf Jakob von Vitry in seinem Pro­log zu ihrer Vita zudem von weiteren, ihm bekannten Fällen berichtet: „Einige aber erfuhren beim Empfang jenes Brotes, das vom Himmel kommt, nicht nur Erquickung im Herzen, sondern sinnlich spür­baren Trost im Mund. Süßer als Honig und Honigwabe, wenn das Fleisch des wahren Lammes vom Mund des Herzens, den es erfüllte, bis zum Mund des Körpers sich mit wunderbarem Geschmack er­goss.“ Quedam vero, in perceptione illius panis qui de celo descendit, non solum refectionem in corde, sed dulciorum super mel et favum sensibilem consolationem perciebant in ore, dum carnes veri agni a faucibus cordis, quas replebant, usque ad fauces corporis mirabili sapore redundabant (Jakobus de Vitriaco, Vita Marie, Prologus, Z. 185–190; die deutsche Übersetzung nach Jakob von Vitry, Leben der Maria, 72 f.). Vgl. dazu auch Bynum, Holy Feast, 59. 355 Vgl. dies., Female Body, 168. Das Motiv des Verzehrens Christi wurzelte wohl unter anderem in der Sprache des Hoheliedes, wie dies., Fragmentierung, 85 festhält: „‚Kommt zu mir, innig geliebte Freun­de, und eßt mein Fleisch‘ und ‚Komm zu mir, Liebster, in den Weinkeller und berausche dich an meinem Blut‘.“ Mit Blick auf die Trägerkreise dieser Frömmigkeit konstatiert Bynum: „They [sc. the Cistercians and Carthusians] are […] inclined to pour out their love of God in images of bodily close­ness – eating God’s honeycomb, drinking from his breast“ (dies., Jesus as Mother, 165 f.). Neben den Zisterziensern und Kartäusern sei die Zen-

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Eingebettet in das Thema der erwiderten, gegenseitigen Liebe, erscheint im „Hohelied­kommentar“ des Bernhard von Clairvaux auch die Eucharistie als ein reziprokes Ge­sche­hen. Nicht nur der Mensch verleibe sich Gott ein, auch Gott selbst verzehre den Men­schen: „Er genießt uns und wird von uns genossen, damit wir umso inniger mit ihm ver­bunden würden.“356 In Sermo 71 formuliert Bernhard: Speise ist ihm meine Buße, Speise ist ihm meine Rettung, Speise bin ich ihm selbst. […] Ich aber, da ich Sünder bin (Lk 5,8), bin Asche (Gen 18,27), um von ihm verzehrt zu werden. Ich werde gekaut, wenn er mich anklagt, ich werde verschluckt, wenn er mich unterweist, ich werde verdaut, wenn er mich ver­wandelt, ich werde verteilt, wenn ich mich gleichgestalten lasse. Wundert euch nicht darüber (Joh 5,28): er isst uns und er wird von uns gegessen, damit wir umso inniger mit ihm verbunden werden. Denn anders werden wir nicht vollkommen eins sein mit ihm. […] So möge er mich denn essen, um mich in sich zu haben, und er möge sich von mir hin­wieder essen lassen, um in mir zu sein. Das wird dann eine feste Verknüpfung und eine unverletzliche Umarmung sein, wenn ich in ihm bin und er nicht weniger in mir sein wird.357

Man könnte gleichsam von einer consumptio-Erfahrung in beide Richtungen sprechen,358 wie es etwa auch in der Vita der Elisabeth von Spaalbeeck heißt: [U]nd in eben dem­sel­ben Augenblick, in welchem sie den Mund öffnet und die Hostie aufnimmt, [in dem Augenblick, in dem] der Geist jenes Mädchens den Geist Gottes [solchermaßen] aufnimmt, wird sie vom Auf­genom­me­nen aufgenommen und in einem Augenblick fortgerissen.359

Im Empfangen des Leibes Christi wird der Fromme selbst empfangen; in der Aufnahme der Hostie wird er selbst aufgenommen! Die Eucharistie war somit nicht allein der Ort, an dem sich die Wandlung von Brot und Wein in den wahren Leib Christi vollzog, sondern zu­gleich der Moment, in welchem sich die Verwandlung des Menschen in Christus durch die Einverleibung Christi tralstellung der Eucharistie vor allem in der Frauen­frömmigkeit zu beobachten: „Metaphern des Essens, Schmeckens, Trinkens, Nährens, die teilweise aus dem Hohelied und dem Johannesevangelium stammen, sind die wichtigsten Bilder für die Vereinigung mit Gott“ (dies., Fragmentierung, 113). 356  Bernhard, Opera II, 217. 357  Cibus eius paenitentia mea, cibus eius salus mea, cibus eius ego ipse. […] Ego autem quia peccator sum, cinis sum, ut manducer ab eo. Mandor cum arguor, glutior cum instituor, decoquor cum immutor, digeror cum transformor, unior cum conformor. Nolite mirari hoc: et manducat nos, et manducatur a nobis, quo arctius illi adstringamur. Non sane alias perfecte unimur illi. […] Sed enim manducet me, ut habeat me in se, et a me vicissim manducetur, ut sit in me, eritque perinde firma connexio et complexio integra, cum ego in eo, et in me nihilominus ille erit (ders., Werke VI, 449, Z. 12–17.20–23). 358  Vgl. dazu Bynum, Jesus as Mother, 258. 359  […] et in ipso momento quo os aperit et hostiam accipit, ejusdem puellae spiritus Spiritum Domini suscipiens, suscipitur a suscepto et rapitur in instanti (Philipp von Clairvaux, Vita, 374, Z. 25–27).



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vollziehen sollte!360 Das „Verspeisen und Schmecken der Gott­heit“361 zielte somit auf die transformatio des Menschen, auf sein Gleichgestaltet­werden, seine conformatio mit Christus selbst. Dieses erstaunliche Inkorporieren Gottes und Inkorporiertwerden in Gott362 hatte jedoch nicht nur Auswirkungen auf die Seele des Menschen und deren grundlegende Ver­wandlung. Der Empfang der Eucharistie bedeutete vielmehr Heil für den ganzen Men­schen, Heil für die Seele und den Körper, hatte doch bereits Ambrosius vom Sakrament als „Schutz und Heilmittel der Seele und des Körpers“ (tutamen et salus animae et corporis)363 gesprochen. So nimmt es nicht wunder, dass Hostien nicht allein als Heilsmittel, sondern buchstäblich und in großer Selbstverständlichkeit als Heilmittel betrachtet wurden und gleichsam ihren Platz in der Hausapotheke zugewiesen bekamen.364 Neben ihrem Potential, konkrete Abhilfe gegen körperliche Leiden zu verschaffen, ver­mochte das Sakrament zugleich etwas viel grundlegenderes: Befand sich der Leib Christi in der Eucharistie zwischen den gegensätzlichen Polen von „Verletzbarkeit und All­macht“,365 so verdankte sich die unantastbare Würde und Unkorrumpierbarkeit des mensch­li­chen Körpers nach Irenäus nicht etwa der Schöpfungsordnung, sondern eben jenem Akt des Verzehren Gottes in der Eucharistie.366 Dies allein könnte man durchaus als wunderhaftes Axiom beschreiben! Wunderhafte Ele­men­te lagerten sich zudem in immer stärkerem Ausmaß an die Eucharistiefrömmigkeit des ausgehenden Mittelalters an. Neben

360  So konnte etwa Wilhelm von St.  Thierry davon sprechen, dass „wir durch das Essen von Christi Leib und das Trinken seines Blutes umgestaltet werden in das, was wir essen und trinken“ (Wilhelm, zit. bei McGinn, Mystik, 378). 361  Riehle, Studien, 152. 362  Bynum, Female Body, 164. 363  Zit. nach Camporesi, Host, 221. 364  Siehe ebd., 221: „Christ was the great therapist. By touching the ‚pulse of the soul‘, he drew out of it all the ills that lay at the roots of the corporal diseases.“ Auch Franz von Sales rät zum Verzehr einer Hostie eine Stunde vor der Mahlzeit: „[T]he ‚cordial wafer […] composed of the rarest powder‘ had to be taken ‚at least an hour before the meal‘ […]. This exceptional tonic, malorum omnium antidotum […], the ‚sacred powder‘ had the inexplicable power of restoring energies“ (ebd.). 365  Rubin, Eucharistie, 34. In seiner Allmacht wählt Christus die Selbsthingabe, was zum Teil in drasti­schen Visionen Ausdruck fand, in welchen sich Christus selbst zerfleischte; vgl. dazu Bynum, Holy Feast, 77. 366  So entfaltet etwa Irenäus die Ansicht, dass der menschliche Leib durch die Teilhabe am Leib Christi be­f ähigt ist zum ewigen und unvergänglichen Leben: „Thus, to Irenaeus, the proof of our final in­corruption lies in our eating of God. The fact that we become Christ by consuming Christ, but Christ can never be consumed, guarantees that our consumption by beasts or fire or the grave is not destruction“ (dies., Images, 226). Zugleich war die Angst vor der eigenen Unwürdigkeit, das Sakra­ment empfangen zu dürfen, ein verbreitetes Phänomen: vgl. dazu etwa die Skrupel der Gertrud von Helfta oder die immer wiederkehrenden Bedenken der Angela von Foligno (A.2.1).

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zahlreichen Fällen von Hostien-367 und Blutwun­dern368 erregten etwa (überwiegend weibliche) Mystikerinnen die Aufmerksam­keit ihrer Zeit­genossen dadurch, dass sie keine andere Speise als die Hostie zu sich nahmen369 oder den Entzug der Hostie als lebensbedrohlich erlebten. Dass die Eucharistie als vitale Vor­aus­setzung des Überlebens begriffen werden konnte, zeigt etwa die Biographie der Begi­ne Maria von Oignies: Das heilige Brot stärkte ihr Herz; der heilige Wein berauschte sie und erfreute ihren Geist; der heilige Leib mästete sie; das belebende Blut reinigte und wusch sie. Und sie konnte die Entbehrung solchen Trostes nicht lange ertragen. Denn leben bedeutete für sie, den Leib Christi zu essen, und sterben, vom Sakrament getrennt zu sein.370

Andere, wie etwa Elisabeth von Spaalbeeck, führten ihre gesamte Existenz gleich­sam in ständigem Sichtkontakt zu den Sakramenten.371 Diese gesteigerte, 367 Zum Phänomen des „Hostienzaubers“ auf dem weiten Feld des Liebeszaubers vgl. Snoek, Medieval Piety, 49 f. Eine damit verwandte Praxis war die Verwendung sogenannter Essbildchen; zahlreiche Abbildun­gen finden sich bei Gärtner, Andachtsbildchen. 368  Vgl. dazu B.2. 369  Bynum, Holy Feast, 33 verweist auf die neuplatonischen Ideale des Fastens als einen geistesgeschichtlichen Hintergrund christlicher Fastenkonzepte und auf den Zusammenhang zwischen Fasten und Eucharistie, besonders im 4. Jahrhundert: „[F]east and fast defined the church.“ Aufschlussreich erscheint die Beobachtung Bynums, dass das Phänomen des Fastens im ausgehenden Mittel­alter von den zeitgenössischen Beobachtern wichtiger genommen wurde als von den fastenden Prota­go­nistinnen selbst: „To holy people themselves, fasting, meditation, and eucharistic devotion were often merely steps towards God, part of the preparation for contemplation. To their adherents […] abstinence or trances were signs and sources of supernatural power. Thus we find that the further an account of a saint is from the saint herself, the more her food asceticism […] [is] emphasized“ (ebd., 84). Zugleich trafen exzessive Fastenpraktiken von Frauen oft auf männliche Kritik; vgl. dazu das Beispiel Heinrich Seuse und Elsbeth Stagel (ebd., 85); jedoch konnten sich männliche Beobachter dem Phänomen der alleinigen Ernährung durch das Sakrament mit großer Ernsthaftigkeit widmen; vgl. dazu ebd., 91. Caroline Bynum begreift exzessive Fasten-Praktiken gleichsam als ein Element von „food practices“, zu denen auch eine besondere Eucharistiefrömmigkeit zu rechnen ist und nennt als Initiatorinnen u. a. Maria von Oignies, Beatrice von Nazareth, Hadewijch, Margarete von Ypres, Ida von Nivelles, Ida von Louvain, Alice von Schaerbeke und schließlich Juliana von Mont-Cor­­nillon, welcher sich die Etablierung des Fronleichnamfestes verdankt (vgl. dazu ebd., 115). Siehe dazu auch allgemein Pulz, Nüchternes Kalkül. 370  Zit. in Bynum, Fragmentierung, 109. Häufig verband sich, gerade für Frauen, denen das Priester­amt versagt war, die Eucharistie mit besonderen Gnadenerweisen und Offenbarungs­ erlebnissen, die bis­weilen sogar mit Stigmatisierungserfahrungen einhergehen konnten; vgl. dazu auch dies., Jesus as Mother, 256–258. Zugleich berichten spätmittelalterliche Quellen auch von Gefühlen des Ekels beim Verzehr der Hostie, wenn damit die Empfindung einherging, sie würde sich in Fleisch und Blut verwandeln; vgl. dazu Rubin, Eucharistie, 34. 371 In der Schilderung des Philipp von Clairvaux wird die Eucharistiefrömmigkeit der Elisabeth von Spaal­beeck beinah beiläufig immer wieder eingeflochten: Aus ihrer Kammer, die neben der Kapelle gelegen ist, befindet sie sich sogar von ihrem Lager aus durch ein kleines Fensterchen in beständigem Sicht­kontakt zur Hostie. Der Elevation der Hostie in der Kapelle antwortet sie in ihrer Kammer durch das Vorweisen ihrer Wunden und indem sie ihren Körper die Kreuzform einnehmen lässt (siehe A.2.2.1).

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tatsäch­li­che, gelebte Nähe zu den Sakramenten372 korrespondierte dem bereits dargestellten Vor­stel­lungs­gehalt, in der Eucharistie die größtmögliche Intimität Gottes erleben zu kön­nen.373 Schließlich, so konnte es Wilhelm von St. Thierry in einer Erwiderung auf Rupert von Deutz 1127 ausführen, würden wir „durch das Essen von Christi Leib und das Trinken seines Blutes umgestaltet werden in das, was wir essen und trinken“.374 Zusammenfassend könnte man festhalten, dass die Eucharistiefrömmigkeit des ausgehen­den Mittelalters einen gewichtigen und genuinen Beitrag in einem größeren Gefüge reli­giö­ser Praktiken und Anschauungen beisteuerte, in dem die Liebe zu einem nahen Gott in Sprachbildern und Erfahrungen körperlicher Nähe („images of bodily closeness“)375 gefasst und ausgelebt wurde.376 Neben dieser sehr individuellen, frömmigkeitstheologischen Motivation des „Habhaft­wer­dens“ Gottes hatte auch die offizielle Kirche selbst durchaus Interesse daran, die Eu­cha­ristiefrömmigkeit der Laien gutzuheißen, ja zu befördern, wie es etwa für das Kloster Helfta belegt ist: Die Wertschätzung des Sakraments war nicht zuletzt eine klare Positio­nie­rung gegenüber der katharischen Abwertung des Abendmahls.377 Zugleich inszenierte man die Messe in immer stärkerem Maße als mysterium tremen­dum.378 Die daraus resultierende Scheu, sich die Hostie tatsächlich einzu­ver­lei­ben,379 führte zu dem Phänomen der sogenannten 372 

Hier ist an das Phänomen der spätmittelalterlichen (und in dieser Epoche überwiegend weiblichen) Reklusen­bewegung zu denken, als deren bekannteste Vertreterinnen wohl Dorothea von Montau oder Juliane von Norwich gelten. 373  Viele Termini des Essens und Trinkens wurden im 13. Jahrhundert benutzt, um die Sehnsucht nach Gott, der Sehnsucht nach physischem Kontakt mit Christus in Worte zu fassen: Bynum, Jesus as Mother, 8. 374  So Wilhelm von St. Thierry, zit. nach McGinn, Mystik, 378. 375  Bynum, Jesus as Mother, 165 f. 376  Mechthild von Magdeburg verstand die unio mystica als „Gott essen“, Anna Vorchtlin von Engelthal wünsch­te, das Jesuskind, welches ihr in einer Vision erschienen war, aus Liebe zu essen (vgl. dies., Fragmen­tierung, 118). Die Einverleibung des corpus Christi eröffnete den Zugang zum Göttlichen, ja bewirkte die Vereinigung mit Gott, ein Gedanke, der auch noch von Theologen des 18. Jahr­hun­derts, wie etwa Peter Segneri, ob seiner Kühnheit immer wieder reflektiert wurde: „‚Just as honey lends its own incorruptibility to the fruit that is dipped in it, so does the body of the Savior, in joining ours, lend us some of the seeds of immortality He deserved, and the special right to live forever.‘ […] The divine body must be absorbed by the ‚infamous body‘. ‚The pure must fuse with the impure‘ in order to nourish our souls and our bodies with immortal life“ (K asten, Körperlichkeit, 86). 377 Vgl. Bynum, Jesus as Mother, 256. Schon in früheren Epochen der Kirchengeschichte galt es, die Wert­schätzung des Körpers und der Leiblichkeit gegenüber Angriffen von außen differenziert zu belegen; vgl. zur Situation der Apologeten dies., Images, 227 f. Zu den fortlaufenden Kontroversen über die Realpräsenz Christi in den Sakramenten und die Entwicklung der Transsubstantiationslehre siehe auch Gärtner, Gregorsmesse, 126–131. 378  Snoek, Medieval Piety, 54 merkt dazu an: „The celebration of the Mass had become a mysterium depopulatum and the Eucharist itself a mysterium tremendum.“ Trotzdem oder womöglich deswegen hat das 13. und 14. Jahrhundert als Höhepunkt der Hostienfrömmigkeit zu gelten. 379  Vgl. ebd., 49.

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Hostienschau,380 in welcher die Frommen sich damit begnügten, die erhobene Hostie zu schauen, ein Vorgang, der in gleicher Weise wie der Ver­zehr der Hostie mit vielfältigem Nutzen für den menschlichen Leib und dessen Wohl­ergehen assoziiert wurde. So sollte das Anschauen der Hostie Schutz gegen Feuer, Blind­ heit, Ansteckung feien, ja sogar – die Parallele zu den Christophorusbildern ist unüber­seh­bar381 – gegen einen bösen jähen Tod.382 Parallel zu jener Tendenz, das Sakrament, und in diesem Fall die Hostie, nur noch zu schauen, anstatt sie zu konsumieren, scheute man auch zunehmend davor zurück, Laien das Blut Christi trinken zu lassen: Lange vor dem offiziellen päpstlichen Verbot der Kelch­kommunion für die Laien, das auf dem Konzil von Konstanz explizit formuliert wurde,383 war den Frommen in der Praxis der Zugang zum Kelch bereits entzogen.384 Wie, so könnte die berechtigte Anfrage lauten, lassen sich diese Beobachtungen mit dem Fak­tum einer gesteigerten Eucharistiefrömmigkeit auf einen Nenner bringen? Verstärkte der Entzug des realen, „äußeren“ Sakramentenempfanges vielleicht gerade eine verinner­lichte Eucharistiefrömmigkeit? Steigerte der Rückgang der realen Teilhabe das Ausmaß der Sehnsucht nach der communio, nach der Gemeinschaft mit Gott? Das allgegenwärtige Interesse an der Eucharistie, so lässt sich jedenfalls festhalten, ließ sich von jenen Restriktionen nicht eindämmen, es bahnte sich seinen Weg nicht zuletzt in der Kunst, wie die zahlreichen, ganz unterschiedlichen Bildmotiven belegen, die sich im aus­gehenden Mittelalter entwickelten und ausdifferenzierten, wie etwa die „Gregors­messe“385, 380  Zu Spielarten der sogenannten Schaufrömmigkeit vgl. u. a. Schreiner, Laienfrömmigkeit, 31. Vgl. dazu auch Scribner, Popular Piety, 458, der die Praktiken beschreibt, die zur Intensivierung der Hostien­schau beitrugen: das Klingeln von Glöckchen oder die Verwendung von Vorhängen als idea­lem Hintergrund, vor dem sich die Hostie besonders deutlich abzeichnete. Im Zusammenhang mit der Hostien­schau spricht Scribner von einer Art „sacramental gaze“ des Laienvolkes (ebd., 459). 381 Vgl. Szövérffy, Christopherus, 1940. 382 Vgl. Snoek, Medieval Piety, 59. 383  Die temporäre Ausnahmeregelung für die Hussiten konnte sich nicht lange halten; vgl. dazu allgemein Gerwing, Kelchkommunion, 1096 f. sowie auch Brandmüller, Konstanz, 1403. 384  Snoek, Medieval Piety, 39 konstatiert die zunehmende Scheu vor der Berührung der Sakramente bereits ab dem 9. Jahrhundert: „From Carolingian times, therefore, […] the Eucharist was increasingly regarded as belonging to the spiritual domain of the celebrant, who consecrated the bread and wine. Because of this unique relationship with God the priest was alone given the right to touch the Eucharist offerings. This was the reason for the changeover in the 9th century for communion received in the hand to communion received in the mouth, though the fear of desecration also played a part here. In addition to other 9th-century declarations issuing from Italy, Spain and France, a council held in Rouen made matters crystal clear: ‚Do not place the Eucharist in the hand of a lay person, neither man nor woman, but only in the mouth.‘ The laity was also gradually denied the right to handle the chalice.“ 385  Zu unterschiedlichen Aspekten des komplexen Bildmotivs der Gregorsmesse vgl. nur sämtliche Beiträge in Gormans/Lentes, Bild der Erscheinung.



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„Christus in der Kelter“, oder die „Hostienmühle“.386 Und es ist der Bereich der Kunst, der offenbart, in welcher Weise der Seitenwundenfrömmigkeit eine herausragende Funktion zukam. In der Verschmelzung von Schmerzensmann­dar­ stellungen mit eu­cha­ri­sti­schen Bildelementen387 lässt sich ablesen, wie eng und unauflöslich die Rückbindung des Sakramentes an die Wunden Christi, mithin an seine Seitenwunde vorgenommen wurde.388 Die darin implizierte Botschaft war durchaus eine Ausweich­bewegung beziehungsweise Gegen­bewegung gegen die kirchlichen Zugangsbeschränkungen zu Brot und Wein und damit zugleich und vor allem auch eine Provokation: Denn welche Notwendigkeit, welche Heilsnotwendigkeit eignete dem Kelch, wenn der fromme Mensch in unver­ mittel­ter Weise aus der Seitenwunde selbst das Blut Christi empfangen konnte? Der seine Sei­ten­wunde öffnende Christus, der den Glaubenden zu trinken gibt, musste den Priester und dessen Darreichung des Kelches überbieten. In der Fokussierung der Eucharistiefrömmigkeit auf die Verehrung der Seitenwunde erlan­gte diese von Laien getragene Religiosität eine meines Erachtens durch und durch sub­versive Unabhängigkeit389 von kirchlichen Strukturen und Hierarchien. Diese These soll im folgenden Abschnitt näher dargelegt werden.

386  „The theme of God as food was also a common iconographic motif. For example, a fifteenth-century Swabian altarpiece depicting the so-called „mystical mill“ shows Mary emptying sacks of wheat into a funnel, from which emerge both the Christ child and the host. In paintings of the mass of St. Gregory (based on an early medieval story that gained popularity in later medieval art), Christ appears at the moment of consecration, sometimes bleeding graphically into the chalice to provide food and drink for the Christians. An even more stunning depiction, from the studio of Friedrich Herlin in 1469, shows Christ as a bleeding man of sorrows with a grain shoot (representing bread) and a vine (representing wine) growing out of the wounds in his feet and hands“ (Bynum, Holy Feast, 67 f.). 387  Vgl. dazu dies., Jesus as Mother, 8: „I argue that images of food and drink, of brimming fountains and streams of blood, which are used with special intensity by thirteenth-century women, express desire for direct, almost physical contact with Christ in the eucharist and for power to handle this Christ as only the priest is authorized to do.“ 388  Vgl. dazu dies., Blood of Christ, 685. 389 Als kirchenkritisches Phänomen deutet Bynum allgemein die verschiedenen „food practices“ weib­li­cher Mystikerinnen: „[W]e can say that women’s food practices functioned as a way of critizing and controlling those in authority. They also provided a distinctive way for women to serve their fellows and meet their God. But they did more. By their very extravagance, audacity, and majesty, they rejected the success of the late medieval church, rejected  – for a wider, more soaring vision  – an institution that made a tidy, moderate, decent, second-rate place for women and for the laity“ (dies., Holy Feast, 243) Die Verknüpfung zwischen Sakrament und verwundetem Herzen Jesu findet sich ebenso bei Albertus Magnus und in der Folge auch bei Meister Eckhart sowie Johannes Tauler und Heinrich Seuse; vgl. dazu Walz, Dominikanische Herz-Jesu-Auffassung, 58.67.

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5.2  Die Seitenwunde als Quellgrund der Eucharistie Und vor dem Bett da fließt eine Flut, die Glocken vom Paradies hörte ich klingen zum halben Teil Wasser, zum halben Teil Blut, und ich lieb mein’ Herrn Jesum vor allen Dingen.390

Von den zahlreichen Deutungsschichten, die sich im ausgehenden Mittelalter an die Seiten­wunde Christi anlagerten, ist eine besonders dominierend: Die Hauptwunde Christi wurde als Quellgrund des Abendmahlssakraments391 angesprochen  – sei es in mystischen oder frömmigkeitstheologischen Texten oder auf dem weiten Feld der Kunst. Dieser enge Konnex konnte auf vielfältigste Weise erlebt, besungen, beschrieben und nach­gezeichnet werden. Schon Albertus Magnus (um 1193–1280) hatte auf „die innige Be­ziehung des göttlichen Herzens zur Eucharistie“ hingewiesen.392 Stets eignete dieser Ausprägung der Frömmigkeit eine besondere Intimität zwischen Mensch und Gott. Der Empfang des Sakraments unmittelbar aus der Seitenwunde wurde dabei als bewusste Grenz­über­schreitung inszeniert. Ohne jede institutionelle Vermittlung empfing der From­me das Blut Christi aus der ursprünglichen Quelle des Heils, der Seitenwunde. Vor diesem Hintergrund ist etwa die berühmte Episode aus der Legenda major der Katharina von Siena einzuordnen, in welcher der liminalen Erfahrung des Trinkens aus der Sei­ten­wunde noch weitere grenzüberschreitende Praktiken zu- beziehungsweise vorgeordnet werden. Wenn Katharina von Siena sich trotz innerer Widerstände dazu gedrängt fühlt, Eiter aus der Wunde eines Kranken zu saugen,393 ist dies kein in sich isoliertes Geschehen, sondern das Präludium 390 Aus

Corpus Christi Carol, zit. nach Fried, Stern, 44. das Stichwort der Taufe im Zusammenhang mit dem ausströmenden Wasser taucht häufig auf, soll aber hier nicht eigens berücksichtigt werden. 392 So Walz, Dominikanische Herz-Jesu-Auffassung, 58. 393  Diese Begebenheit wird in all ihren widerstreitenden psychologischen Facetten breit in der Legenda Major geschildert: „Eines Tages, als die Magd Christi den Verband abnahm, um die schreckliche Wunde auszuwaschen, entquoll ihr ein ekelhafter Gestank […]. Alles in Caterina drehte sich herum, und ein übergroßer Brechreiz stieg in ihr empor. Das verübelte sie sich umso mehr, als ihr die Gnade des Heiligen Geistes in diesen Tagen zu […] einem neuen Grad der Vollkommenheit verholfen hatte. Deshalb erhob sie sich in heiligem Zorn gegen ihren eigenen Körper und rief: ‚So wahr der Höchste, der liebste Bräutigam meiner Seele, lebt: was dich so ekelt, das wird in deinen Eingeweiden am besten aufgehoben sein.‘ Und unmittelbar darauf schüttete sie das ekelerregende Wundwasser mitsamt dem Eiter in ein Becken, trat beiseite und trank das Ganze. Im gleichen Augenblick verschwand die Ab­scheu […] völlig […]. Nach den Siegen, die die Braut Christi mit der gnädigen Hilfe ihres Bräutigams errun­gen hatte, erschien Caterina in der folgenden Nacht, während sie betete, der Herr Jesus Christus, der alle Menschen erlöst hat. Er ließ sie die heiligen fünf Wunden schauen […] und sagte: ‚[…] du hast deine eigene körperliche Natur mit Füßen getreten und aus großer Liebe zu mir den scheußlichen Trank fröhlich zu dir genommen. Deshalb sage ich dir: Weil du über deine eigene Natur hinaus­ge­ gangen bist, gebe ich dir jetzt einen Trank zu trinken, der über alle Natur und Gewohnheit hinaus­geht.‘“ Quadam igitur die, dum ancilla Christi ulcus illud horridum detexisset, ut ipsum lauando purgaret, mox tantus et tam horrendus fetor exalauit […] quod cuncta interiora virginis 391 Auch



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zu einer Vision, in der Christus ihr explizit als Lohn für die Überwindung ihrer Natur aus seiner Seitenwunde „einen Trank zu trinken [gibt], der über alle Natur und Gewohn­heit hinausgeht“. Als Lohn für ihre Selbstüberwindung darf Katharina aus dem „Brunn­quell des ewigen Lebens“ trinken:394 „Er schlang seinen rechten Arm um Katha­ri­nas Hals und zog sie an seine Seitenwunde und sagte: ‚Trink nur, meine Tochter, den Trank von meiner Seite, der nicht nur deine Seele, sondern auch deinen Leib, den du um meinet­willen verschmäht hast, mit einer wundersamen Süße erquicken wird.‘“395 Freilich kann man davon ausgehen, dass eine solche visionäre Erfahrung eher als singulär betrach­tet wurde. Dennoch lässt sich festhalten, dass der Vorstellungskomplex des unmit­tel­baren Empfangs des Abendmahlsakramentes aus der Seitenwunde Christi durchaus eine große Ausstrahlungskraft gehabt haben dürfte. Als vielleicht prominentester Beleg für diese These erscheint in diesem Zusammenhang die sogenannte Gregorsmesse (A.2.3.8). Ab dem 14. Jahrhundert, vor allem aber ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, hatte, wie bereits ausgeführt, die bildliche Darstellung einer Legende über Papst Gregor aus dem 6. Jahrhundert Hochkonjunktur.396 In beinah aufreizender Selbstnaturaliter sunt comota et nimia nausea in eius stomacho generata. Quod uirgo domini tanto grauius mente tulit, quanto illis diebus per […] spiritus sancti gracia nouas uirtutum perfecciones attigerat […]. Vnde aduersus proprium corpus per iracundiam sanctam insurgens, ‚viuit‘, inquit, ‚altissimus, sponsus dulcissimus anime mee, quia id, quod tantum abhominaris, infra tua uiscera recondetur.‘ Moxque illius fedi uulneris loturam cum sanie in scutella recoligens ac ad partem se retrahens totum bibit. Quo facto cuncta cessauit abhominacionis illius temptacio […] Hijs igitur victorijs sponse Christi a sponso suo tam graciose concessis post hanc ultimam sequenti nocte apparuit sacre virgini oranti saluator omnium, dominus Ihesus Christus, ostendens in corpore suo quinque illa sacratissima uulnera, […] et ait: ‚[…] quin ymo natura proprij corporis conculcata ex mee caritatis ardore sumpsisti potum abhominabilem tam letanter. Propter quod dico tibi, quod sicut in hoc actu tuam excessisti naturam, sic ego tibi dabo potum, qui omnem humanam excedet consuetudinem et naturam‘ (R aimund von Capua, Legenda Maior [Bd. 1], 230–232). 394  „Als sie begriff, daß sie aus dem Brunnquell des ewigen Lebens trinken sollte, setzte sie begierig ihren Mund an die hochheilige Wunde und trank lange Zeit den unaussprechlichen Trank, der aus sei­nem Körper sprudelte und ihr Geist und Sinne labte.“ At illa, cernens se positam ad fistulam fontis uite sacratissimo uulneri os applicans corporis, sed longe magis os mentis ineffabilem ac inexplicabilem potum hausit per non parue more spacium tam auide quam habunde (ebd., 232). 395 Ebd. Das Ineinander von geistiger und somatischer Dimension wird hier einmal mehr deutlich. Cam­poresi weist in seinem Aufsatz „The Consecrated Host. A wondrous excess“ immer wieder auf eben jene somatische Erfahrung hin, die den Empfang der Eucharistie begleiten konnte, gerade weil diese als einziges Sakrament in Gestalt von Brot und Wein die Oberfläche des Körpers durchdringt. Auch Bynum vermerkt, dass als körperlicher Vollzug des Essens und Trinkens die Eucharistie einen beson­deren Sinneseindruck hervorrufen konnte, wie etwa das Empfinden von Wohlgeruch oder Wohl­ge­schmack; vgl. dazu Bynum, Fragmentierung, 112. 396  Sowohl der Verbreitungsgrad als auch die Fülle der Darstellungsformen sind beeindruckend; einen guten Überblick verschafft eine von der Universität Münster angelegte digitale Datenbank, auf der man eine große Anzahl von Gregorsmessen einsehen kann; siehe dazu www.gregorsmesse.uni-muenster.de; vgl. ebenso Wolf, Papstmesse, 277–279; Göttler, Deus ex machina, 280–283; dies., Gnaden-Cocktail, 284–287; dies., Seelen-Imbiß, 288 f.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

verständlichkeit397 empfängt der Papst als Zele­brant das Blut direkt aus der Seitenwunde Christi. Die Verbindung von verwundetem Schmer­zens­mann und Altarsakrament erscheint in diesem Bildmotiv völlig fraglos. Der Leib Christi, näherhin seine Seitenwunde, verkörpert und veranschaulicht dabei die Trans­ substantiationslehre, in der der Betrachter gleich dem ungläubigen Thomas vom Zwei­fel zur Gewissheit geleitet werden soll. Das in der vorliegenden Arbeit angeführte Bildbeispiel (A.2.3.8) ist dabei nur ein Beleg von unzähligen künstlerischen Umsetzungen der sogenannten „Gregorsmesse“. Doch nicht allein das Abendmahlssakrament, auch das Sakrament der Taufe, verortete man in der Seitenwunde. Bereits im frühen 12. Jahrhundert beschrieb Rupert von Deutz die Seitenwunde als Zugang zu Gott, insofern sich in dem aus ihr ausfließenden Wasser und Blut das sakramentale Geschehen des in den Tod Getauftwerdens und des Neu­gebo­ren­werdens in der Taufe (Röm 6) ereigne.398 Die ekklesiologische Konsequenz, die Kirche als Ausfluss der Seitenwunde zu betrach­ten, als Vermittlerin des heilsamen Blutvergießens am Kreuz, beschreibt etwa auch Hilde­gard von Bingen, die in ihren Scivias das Bild der Kirche zeichnet, die das Blut Christi in einem goldenen Kelch auffängt, von ihm benetzt wird, und es schließlich Gottvater anbietet. Der doppelte Opfergabencharakter – durch Christus für die Kirche und durch die Kirche für Gottvater – wird hier besonders deutlich.399 Bernhard von Clairvaux spricht gar von der Kirche als Verursacherin der Seitenwunde!400 Albertus Magnus tituliert die Kirche als „Tochter“, welche aus der Seitenwunde geboren wurde, da die Sakramente des Taufwassers und des Blutes aus dieser geflossen seien.401 Ganz gleich bei welchem Autor, bei welcher Autorin das eucharistische Geschehen an die Seitenwunde rückgebunden wird – stets fällt eines auf: Der Verortung der Eucharistie als priesterlich vermitteltem, kontrolliertem und institutionalisierten Ge­sche­hen wurde durch die Verehrung der Seitenwunde als ursprünglicher und gegenwärtiger Quelle der Eucharistie das Moment des Unmittelbaren, der Offenheit, der freien göttli­chen Gnade zur Seite gestellt.402 Es wäre wohl eine eigene Untersuchung nötig, um der Fragestellung nachzugehen, ob neben der unbestreitbar subversiven und autonomen Dynamik, die der Vorstellung des un­mittel­baren Empfangs von Christi Blut aus der Seitenwunde Christi innewohnte, zugleich eine gegenteilige Tendenz beobachtet werden 397  Hecht, Erfurter Pfeilerbild, 45 konstatiert dazu: „Es geschieht hier zwar ein Wunder, aber es ist ein Wunder, das sich bei jeder Messe wiederholt und das in diesem Sinne im Grunde nicht außer­ge­wöhnlich ist. Vielleicht zeigen deshalb die den Altar umstehenden Kleriker und Laien kein Erstaunen über die Erscheinung des Schmerzensmanns […]. Gregor sieht mit geistlichen Augen, was die Messe immer ist, nämlich das Opfer Christi.“ 398 Vgl. Leclercq, Sacre-Coeur, 6 f. 399  Vgl. ebd., 8. 400 So McGinn, Mystik, 276. 401 Vgl. Walz, Dominikanische Herz-Jesu-Auffassung, 61. 402 Vgl. Bynum, Jesus as Mother, 184–186.



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könnte: Dass gerade durch dieses Axiom eine tatsächliche Forderung nach dem Laienkelch abgefangen und unterbunden werden konnte. Un­strittig erscheint mir jedoch die Beobachtung, dass die Vorstellung der Seitenwunde als allen Menschen zugängliche und unmittelbare Quelle des Blutes Christi gerade für weibli­che Fromme ein ungeheures Unabhängigkeitspotential offerierte. Irene Leicht kon­statiert mit Blick auf die Situation in Helfta: „Der herrschende Androzentrismus wird zwar nicht offensiv bekämpft, aber subversiv untergraben.“403 In diese allgemeinen Beobachtungen und Vorüberlegungen fügen sich auch die Quellen­zeug­nisse der vorliegenden Arbeit ein. So legt etwa der Legatus der Gertrud von Helfta von der Verbindung zwischen Seitenwunden- und Eucharistiefrömmigkeit vielfältig Zeug­nis ab. Dabei darf Gertruds Zugang zur Seitenwunde als Quellgrund der Sakramente in der Tat als wichtigster Pfeiler ihrer Autorität betrachtet werden, die ihr von Außen­stehen­den zuerkannt wird.404 Neben dieser „Außenwirkung“ spricht aus jenen Passagen des Legatus, die ihren unmit­tel­baren Zugang zur Seitenwunde beschreiben, zugleich ein hohes Maß an Innerlichkeit und Innigkeit. Gerade in Phasen, in denen das Gefühl der eigenen Unwürdigkeit Gertrud zu überwältigen droht, in der ihr auf Grund ihrer Skrupel der Zugang zum Sakrament ver­wehrt scheint, sucht sie Zuflucht bei Christus selbst. Und dieser heilt sie durch das reinigen­de Wasser seines verwundeten Herzens und durch dessen stärkendes Blut: [D]er aller­geliebteste Jesus selbst schien sie durch die Hitze seines durch die Liebe verwundeten Herzens an sich zu ziehen und sie im dort herausfließenden Wasser zu reinigen [und] sie daraufhin selbst mit dem lebens­spen­den­den Blut seines Herzens zu tränken.405

Es zeugt vom Bewusstsein größtmöglicher Intimität, wenn Gertrud schließlich in die Rolle des abhängigen Kleinkinds schlüpft, das Christus darum bittet, er möge an ihrer Stelle die allerheiligste Hostie empfangen und sie ihr häppchenweise nach ihrem Vermö­gen einverleiben: [S]ie fragte den Herrn, ob er nicht lieber an ihrer statt für sie jene allerheiligste Hostie aufnehmen könne und sich selbst einverleibe, um ihr daraufhin nach und nach so viel davon durch seinen edlen und allersüßesten Atem einzuhauchen, wie er dächte, dass es angesichts ihres Geringseins angemessen sei.406 403  Leicht, Schrift-Rezeption, 108. Zur Diskussion über das Ausmaß von Gertruds Priesterkritik vgl. auch ebd., Anm. 41. Vgl. zur Frage nach der Unabhängigkeit von priesterlicher Vermittlung auch Angen­e ndt, Religiosität, 269. 404 So Eliass, Quelle der Weisheit, 190 f. 405  ipse amantissimus Jesus per vaporem amoris sui vulnerati Cordis eam sibi attrahere videbatur et abluere in aqua inde profluenti, deinde irrigare ipsam in sanguine vivificante sui Cordis (Gertrud, Legatus III, C. XVIII/5, Z. 14–17). 406  exorabat Dominum, quatenus ipse pro se Hostiam illam sacrosanctam in persona sua susciperet et sibimet incorporaret, ac deinde ex nobili spiramine suavissimi affluatus sui singulis horis tantum sibi aspiraret, quantum exiguitati suae congruere cognosceret (ebd., C. XVIII/27, Z. 2–7).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Autonomie und Autorität ebenso wie Abhängigkeit und Intimität durchdringen diese einschlägigen Ab­schnitte des Legatus. Ebenfalls in Kapitel XVIII des Buches III des Legatus begegnet eine weitere Vision im Kon­text des realen Eucharistieempfangs, in der das Sakrament und die Seitenwunde un­trenn­bar und auf sehr eigenwillige Weise miteinander verwoben sind. Gertrud, durch die Liebes­ wunde Christi reziprok verwundet, wird nunmehr ihre Bitte, Christus möge an ihrer statt die Hostie empfangen, gewährt. Erstaunlich ist nun jedoch das, was Gertrud in der Folge schaut: Sie beobachtet, wie die von Christus selbst mit dem Mund verzehrte Hostie in die Seitenwunde hinein und aus dieser wieder heraustritt, um sie einem Pflaster gleich zu verschließen: Es schien ihr, als habe der Herr selbst mit seinem göttlichen Mund in sich jene allerheiligste Hostie aufgenommen, welche heraustretend aus dem Inner­sten jener Seitenwunde des heiligsten Christus hervortrat und wie ein Pflaster sich auf die nämliche lebensspendende Wunde auflegte.407

Hostie und Seitenwunde sind eben­so untrennbar miteinander verbunden, wie sie auch Gertrud und Christus beziehungsweise deren Wun­den miteinander verbindet: „Sieh’ diese Hostie, die dich und mich verbindet auf jene Weise, dass sie zu einem Teil aus deiner Narbe und zum anderen Teil aus meiner Wunde besteht, und aus beiden uns zum Pflaster gemacht ist.“408 Dieser Text Gertruds macht  – ebenso wie das spätmittelalterliche Bildmotiv der aus den Wun­den fallenden Hostien – deutlich, dass nicht nur das Blut, wie es in den unzähligen künstleri­schen Umsetzungen der Gregorsmesse abgebildet wurde, son­dern das ganze Sakrament, also auch die Hostie, aufs engste mit der Seitenwunde Christi in Verbindung gebracht werden konnte.409 Die Hostie als Sinnbild des hingegebenen Leibes Christi wird hier in der Seitenwunde als Sinn­bild des verwundeten Leibes Christi beheimatet. Begegnet bei Gertrud von Helfta eine höchst individuelle Rückbindung des Sakraments an die Seitenwunde, setzt die Vita Christi des Ludolf von Sachsen einen anderen Schwer­punkt. Man könnte diesen als „ekklesiologische Argumentationslinie“ bezeichnen. Die Sei­ten­wunde als Quell der Sakramente erfährt eine enge Rückbindung an die Kirche als Institu­tion. Dabei darf jedoch nicht unterschlagen werden, dass auch bei Ludolf keine Engführung festzustellen ist: Die Sehnsucht, Christus zu verzehren, in seinen Wunden Sättigung und darin die unio-Erfahrung zu finden, konnte auch losgelöst von einem ein­deu­tig kirchlich407  ipse Dominus videbatur ore suo deifico in se suscipere Hostiam illam sacrosanctam, quae per­trans­iens intima illius de vulnuere lateris Christi sanctissimi progrediebatur et quasi emplastrum super idem vivificum vulnus se coaptavit (ebd., C. XVIII/27, Z. 13–17). 408  Ecce Hostia haec te mihi conjunget eo modo, quod ex una parte contegat cicatricem tuam, et ex alia parte vulnus meum, utrisque nobis factum emplastrum (ebd., Z. 17–20). 409  Vgl. dazu Wadell, Fons Pietatis, 7–11. Als ein exemplarisches Beispiel dieses Bildmotivs der Fons pieta­tis sei auf die Abbildung Nr. 65 in Hoeps/Hoppe-Sailer, Deine Wunden, verwiesen.



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eucharistischen Kontext410 beschrieben werden, wie er mit Rekurs auf Bern­hard von Clairvaux und Augustinus deutlich macht: Deshalb sagt Bernhard, irgend­eines der Worte Augustinus aufnehmend, so: Und in der Tat, wo befindet sich denn für Schwache sichere und stärkende Ruhe, wenn nicht in den Wunden des Heilands? […] Ich aber nehme das, was mir aus mir selbst heraus gebricht, glaubend aus den Eingewei­den des Herrn in Anspruch; weil sie überfließen von Barmherzigkeit und es fehlen auch nicht die Löcher, aus welchen sie herausfließe. Sie haben die Hände und Füße durchbohrt und die Seite haben sie mit einer Lanze durchstochen; und durch diese Ritzen ist es mir erlaubt, Honig vom Felsen zu saugen und Öl vom härtesten Gestein, d. h. zu schmecken und zu sehen, wie freundlich der Herr ist.411

Doch häufig zieht der Kartäuser in seinen zahlreichen Passagen, in denen von der Seiten­wunde Christi die Rede ist, eine eindeutige Verbindungslinie zu den Sakramenten, wobei deren kirchenkonstituierender Charakter immer wieder neu hervorgehoben wird. Der in den Passionsbetrachtungen der Vita Christi immer wieder vorgebrachte Vorstellungs­kom­plex der Seitenwunde als Geburtsstätte der Kirche ruht auf der Tatsache auf, dass aus ihr Wasser und Blut hervorgegangen seien, „aus denen die Sakramente der Kirche ihre Wirk­samkeit besitzen“.412 In allegorischem Rekurs auf die Paradieserzählung führt er weiter aus: Auch diese Tat­sache fällt mit einem Bild zusammen: denn wie aus der Seite des am Kreuz entschlafenen Christus Blut und Wasser strömte oder vielmehr herausfloss, durch welche die Kirche geheiligt wurde, so wurde aus der Seite des im Paradies schlafenden Adam die Frau geformt, wel­che die nämliche Kirche darstellt.413

Dabei ist es signifikant, dass als dunkle Hintergrundfolie jenes wunderhaften Geschehens, gleich einem Ehre- und Schande-Diskurs, immer die Rede ist von der Schuld und Schande der Juden (contumelia a Judaeis illata).414 Die Großartigkeit der Geburt der Kirche geht bei Ludolf stets Hand in Hand mit der schändlichen Abgründigkeit der Bosheit (malitia)415 der Juden als ewige Gegenspieler des Christentums.416 410  Freilich ist es äußert elegant, wie Ludolf nach einem Exkurs in die Metaphorik und Sprachwelt des Hoheliedes am Ende doch die Rückbindung an die eucharistische Liturgie vornimmt: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Ps 34,9). 411  Unde Bernardus, quaedam de verbis Augustini assumens, sic ait: ‚Et revera, ubi tuta firmaque infirmis requies, nisi in vulneribus Salvatoris? […] Ego vero fidenter quod ex me deest, usurpo mihi ex visceribus Domini; quoniam misericordiae affluunt, nec desunt foramina per quae effluant. Foderunt manus et pedes, latusque lancea perforaverunt; et per has rimas licet mihi ex visceribus surgere mel de petra, oleumque de saxo durissimo, id est gustare et videre, quoniam suavis est Dominus (Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 7–19.25–34). 412  […] ex quibus habent efficaciam Ecclesiae sacramenta (ebd., 136, r. Sp., Z. 50 f.). 413 Ebd., 137, l. Sp., Z. 22–29: Hoc etiam factum competit figurae: quoniam sicut de latere Christi dormientis in cruce exivit, vel fluxit sanguis et aqua, quibus consecratur Ecclesia; ita de latere Adae dormientis in paradiso, mulier, quae ipsam Ecclesiam figurabat, est formata. 414 Ebd., 136, r. Sp., Z. 41. 415  Vgl. dazu den gesamten Passus ebd., 137, l. Sp., Z. 38–49. 416  Zu jenem Aspekt der „dunklen“ Seite vgl. auch Bynum, Blood of Christ, 714.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Die unüberbietbare „Ehre“ des Abendmahlsakramentes bis in die Gegenwart seiner Leser­schaft eignet diesem aufgrund seines Ursprungs, wie er mit Rekurs auf Chrysosto­mos festhalten kann: „[…] sodass wir die Sakramente der Kirche mit der[selben] Aufmerksamkeit und Andacht empfangen müssen, als wenn sie uns aus der Seite Christi zuflössen.“417 Dabei geht es um nichts weniger als um die präsentische Vergewisserung des Heilsge­sche­hens, mithin um die vollständige Tilgung von Sünden und Schuld durch das aus der Seiten­wunde vergossene Blut und Wasser: Die von den Juden zugefügte Schmach aber war in einem Zeichen hervorgegangen, weil auf wundersame Weise aus dem ausgelösch­ten Körper wahres Blut und klares Wasser herausflossen. Daraus folgt: Und unaufhörlich flossen Wasser und Blut heraus, aus denen die Sakramente der Kirche [ihre] Wirksamkeit be­sitzen. Dies aber ist geschehen, um zu zeigen, dass wir durch die Passion Christi die ganze Reinigung gewinnen, von den Sünden und von den Makeln: von den Sünden frei­lich durch das Blut, welches der Preis für unsere Erlösung ist, gemäß jenes [Wortes] des Petrus: Ihr seid nicht durch vergängliches Gold und Silber losgekauft, sondern durch das kost­bare Blut Christi; von den Makeln freilich durch das Wasser, welches ein Bad unserer Wieder­geburt ist, gemäß jenes [Wortes] des Ezechiel: Ausgegossen ist über euch reines Wasser, und ihr werdet gereinigt werden von all euren Befleckungen. Oder das Blut kann bezogen werden auf das Lösegeld und auf unsere Erlösung, damit wir von Strafen losge­kauft werden; das Wasser aber auf das Bad und auf die Reinwaschung der Sünder, damit wir von Fehltritten gereinigt werden. Durch das Blut des Lammes nämlich wird ein Haus be­schützt vor dem Schlag des Engels; und durch das Wasser des roten Meeres werden die Feinde ausgelöscht. Es wurde vergossen, ich wiederhole es, jenes zur Erlösung, dieses zur Reinwaschung der Erlösten; jenes, um den Gefangenen loszukaufen, dieses, um den Un­reinen reinzuwaschen. Aber diese zweite Bedeutung wird durch die erste ausreichend verstanden: weil dort, wo die vollkommene Reinwaschung der Sünden ist, dort die Erlö­sung von Strafen folgt; und wo eine Abwaschung der Makel ist, dort auch die Reinigung von Sünden bereits vorangegangen ist.418 417  […] quod nos percipere debemus sacramenta Ecclesiae ea intentione atque devotione, ac si nobis de latere profluerunt (Ludolf, Vita Christi II, 137, r. Sp., Z. 26–29). 418  Sed contumelia a Judaeis illata in signum prodiit, quia de corpore exstincto sanguis verus, et aqua pura miraculose manaverunt. Unde sequitur: Et continuo exivit sanguis et aqua, ex quibus habent efficaciam Ecclesiae sacramenta. Hoc autem factum est, ad ostendendum quod per Passionem Christi plenam consequimur ablutionem, scilicet a peccatis, et maculis: a peccatis quidem, per sanguinem, qui est pretium nostrae redemptionis, secundum illud Petri: Non corruptibilibus auro et argento redempti estis, sed pretioso sanguine Christi: a maculis vero, per aquam, quae lavacrum est nostrae regenerationis, secundum illud Ezechielis: Effundum super vos aquam mundam, et mundabimini ab omnibus inquinamentis vestris. Vel, potest referri sanguis ad pretium atque ad nostram redemptionem ut redimamur a poenis: aqua vero ad lavacrum et ad peccatorum ablutionem, ut purgemur a culpis. Sanguine enim agni domus servantur a percussione Angeli; et aqua maris rubri exstinguuntur inimici. Effusus est inquam, ille ad redemptionem, ista ad redempti ablutionem; ille ut redimeret captivum, ista ut ablueret immundum. Sed hic secundus sensus satis intelligitur in primo: quia ubi est plena a peccatis ablutio, ibi sequitur et a poenis redemptio; et ubi est a maculis ablutio, ibi praecedit et a peccatis purgatio (ebd., 136, r. Sp., Z. 41–137, l. Sp., Z. 22).



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Die Frage nach den Sakramenten und ihrem Ursprungsort ist aufs engste mit der Frage nach Sünde und Erlösung, mithin mit der Frage nach der Gnadengewissheit verknüpft, die unter B.8.2 noch ausführlich verhandelt werden muss. An dieser Stelle ist vor allem relevant, dass das wunderhafte Verströmen (miraculose manaverunt) des wahren Blutes und reinen Wassers419 aus der Seitenwunde Christi erfolgt und diese Tatsache nach Joh 19,34 (et continuo exivit sanguis et aqua) die Wirksamkeit (efficacia) der kirchlichen Sakra­mente gewährleiste.420 Christus selbst, seine Seitenwunde, werden somit zum Garant der gegenwärtigen „Effek­ti­vität“ der Sakramente! Diese Ausführungen passen freilich in das Gesamtprogramm des Kar­täusers, der eine intensive Vergegenwärtigung des historischen „Jesus-Geschehens“ einfordert. Unermüdlich macht Ludolf deutlich, dass das Sakrament des Abendmahls nicht losgelöst werden könne von der Seitenwunde Christi: [D]enn von daher fließen die Sakramente der Kirche aus, ohne die man nicht zum wahren Leben eingehen kann. Und bedenke, dass das […] besonders zu verstehen ist mit Blick auf die beiden Hauptsakramente […]. Deren erstes besteht im Sakrament der Eucharistie und wird durch das Blut bezeichnet, welches frei­lich selbst das nämliche Blut ist, welches wir täglich trinken, und das von der Seite Christi geflossen ist.421

Der enge Konnex zwischen der Seitenwunde als Quell der Sakramente und zugleich als Geburts­stätte, als Gebärmutter der Kirche, verweist wiederum zurück auf die Deutungs­dimension, die bereits unter B.4.2 untersucht wurde. Eine scharfe Trennung zwischen der Seitenwunde als ostium sacramentorum und Gebär­mutter der Kirche ist bei Ludolf schier nicht möglich, da für ihn theologisch das „Geburts­recht“ der Kirche aus Christus gerade in jenem Ausfluss der Sakramente aus der Seiten­wunde zu suchen ist. Dies wird auch in einer weiteren Passage der Vita Christi deutlich, in der Ludolf in einem Atem­ zug von der Seitenwunde als „Pforte der Sakramente“ spricht und dabei auf die alttesta­mentliche Paradieserzählung von der Geburt der Eva aus der Rippe des schlafen­den Adam beziehungsweise der Geburt der Kirche aus der Seite des zweiten Adam, Christus, re­kurriert: „Die Wunde der Seite Christi war nämlich die Pforte zu den Sakramenten: denn so wie von der Seite des ersten Adam Eva geformt wurde, so wurde von der Seite des zweiten Adam die Kirche geformt.“422 419  Ludolf weist an anderer Stelle noch einmal dezidiert darauf hin, dass es sich bei den bewussten Körperflüssigkeiten keinesfalls um „Phlegma“ oder um „irgendeine wässerige Flüssigkeit“ gehandelt habe; vgl. ebd., 137, l. Sp., Z. 34–37. 420  Vgl. ebd., 136, r. Sp., Z. 42–47. 421  […] quia inde sacramenta Ecclesiae manaverunt, sine quibus ad veram vitam non intratur. Et nota quod hoc […] specialiter intelligendum est de duobus praecipuis sacramentis […]. Quorum primum pertinet ad sacramentum Eucharistiae, et significatur per sanguinem, imo est ipse idem sanguis quem quotidie sumimus, et qui fluxit de latere Christi (ebd., 137, r.  Sp., Z. 39–45.48–53). 422  Vulnus etenim lateris Christi, fuit ostium sacramentorum: quia sicut de latere primi Adae formata est Eva; ita de latere secundi Adae, formata est Ecclesia (ebd., 137, r. Sp., Z. 29–33).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Die Adam-Christus-Typologie, die bereits im Neu­en Testament (Röm 5,12–21; 1 Kor 15,21 f.45–49) begegnet, wird hier explizit artikuliert: de latere primi Adae  – de latere secundi Adae. Diese Parallelisierung, die Ludolf zum einen durch den Satzbau, zum ande­ren durch die Konjunktion ita und durch die Stichwortwiederholungen (latus, Adam, for­ma­ta) vornimmt, konnte in vergleichbarer Form, freilich mit anderen Mitteln, auch im Be­reich der bildenden Kunst umgesetzt werden: Die aus der Bible moralisé (A.2.3.1) stammende Abbildung setzt diese Verbindung, dieses Verschmelzen von Seiten­wundenfrömmigkeit mit ekklesiologischen und eucharistischen Theologumena ein­drück­lich in Szene. Dem Betrachtenden wird, selbst wenn er nicht mit der Tradition423 vertraut sein sollte, das Medium des Bildes durch die die Bilder rahmenden Texte ausgedeutet. Es ist eine durch­aus originelle Metapher, die hier begegnet: Die Seitenwunde Christi (de latere Christi) erscheint wie das Baumaterial, der Rohstoff, aus welchem Gottvater (pater) die Kirche erbaut (edifivavit), die daraufhin als Braut Christi identifiziert wird (ecclesiam, Christi sponsam).424 Mit einem explizierenden enim wird diese Tatsache mit dem Ausfließen von Blut und Wasser ( fluxerunt […] de latere Christi sanguis et aqua) und damit den Sakra­ men­ten der Eucharistie und der Taufe (id est sacramenta eucharistia et baptismi) ver­knüpft.425 Dabei wird dieses Geschehen wie eine Wieder­holung und Überbietung der Para­dies­erzählung dargestellt: Wie Eva der Rippe des schlafenden Adams entsprang, so voll­zieht sich die Geburt der Kirche aus der Seite des am Kreuz entschlafenden zweiten Adam, Christus. Jenes als gegenwärtiges und bleibendes Geschehen gedachte Spenden der kirchlichen Sa­kra­mente durch Christus selbst aus seiner Seitenwunde, das dem spätmittelalterlichen From­men durch Texte wie Ludolfs Vita Christi geläufig war, wird auch auf einer weiteren, bild­lichen Quelle der vorliegenden Arbeit eindrücklich inszeniert. Die Tafelmalerei „Eu­cha­ristischer Schmerzensmann mit Caritas“ (A.2.3.7) setzt freilich einen anderen und eigen­willigen Akzent, indem die weibliche Gestalt, die das Blut Christi aus dessen Seiten­wunde in einem Kelch auffängt, gerade nicht als ecclesia-Figur gedeutet werden kann, sondern explizit als Caritas tituliert wird. Auch wenn dem Künstler der eindeutig ekklesio­logische Bezug offenbar nicht primär wichtig war, ist doch die Verbindung von Abendmahlskelch und Seitenwunde eindeutig. Das an dieser Stelle auftauchende Motiv der „Caritas“ schlägt die Brücke zum folgenden Kapitel. 423  Es ist allerdings davon auszugehen, dass der Subtext im kollektiven Bewusstsein bekannt gewesen sein sollte, zumindest bei der mit Sicherheit gebildeten Zielgruppe der Bible moralisée. So wie in der Para­dieserzählung Eva der Seite des Adam entstiegen ist, vollzieht sich die Geburt der Kirche aus der Seite Christi in der Passionsgeschichte, wie es etwa bei Augustinus, Enarrationes, ps. CXXVI, 7. heißt: „[…] denn als Adam schlief, wurde jenes Rippe herausgenommen und Eva erschaffen; so wurde auch dem Herrn, als er am Kreuz schlief, seine Seite mit der Lanze durchstoßen und die Sakramente flossen heraus, woher (unde) die Kirche erschaffen wurde.“ 424  Siehe dazu A.2.3.1. 425  Vgl. ebd.



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6  Die Entdeckung der Liebe 6.1  Geistliches und Weltliches – Hoheslied und Minnelied So spricht unser Herr: „Steh, Frau Seele!“ „Was gebietest du, Herr?“ „Ihr sollt euch ausziehen!“ „Herr, wie soll mir denn geschehen?“ „Frau Seele, ihr seid so sehr von meiner Natur dass zwischen Euch und mir nichts nicht mag sein.“426 Ich hab ihrer wohl genossen, die mein Herz hat durchschossen.427 Ich liebe, weil ich liebe; ich liebe, um zu lieben.428

Als Peter Dinzelbacher in seinem programmatischen Aufsatz aus dem Jahr 1981 von der „Ent­deckung der Liebe“ im 12. Jahrhundert sprach,429 so war dies, wie zwanzig Jahre später in der Einführung zum Ausstellungskatalog „Der Codex Manesse und die Entdeckung der Liebe“ hervorgehoben wird, nicht in dem Sinne gemeint, als handele es sich um die Ent­deckung eines völlig unbekannten Erdteils, sondern vielmehr um einen ersten systema­ti­schen „Kartierungsversuch“: Auch vor dem 12. Jahrhundert ist die Liebe […] kein Land, in dem noch niemand war. Als neu erscheint dem rückblickenden Betrachter jedoch die Art und Weise, in der man im 12. Jahrhundert über die Liebe nachzudenken, zu sprechen und zu schreiben begann: wie man sie erstmals zu kartieren versuchte, wie man sich dafür über­haupt erst einer Sprache bemächtigen musste.430

Auf jenem Schauplatz einer (Neu-)Entdeckung, ja einer Revolution der Liebe,431 begegnet man allerorten dem zentralen Begriff der „Minne“. Die programmatische Anfrage des Walther von der Vogelweide Saget mir ieman, waz ist minne?432 mag als Warnung dienen, diese nicht vorschnell zu vereindeutigen! 426  So sprichet únser herre: / ‚Stant, vrůwe sele!‘ / ‚Was gebútest du, herre?‘ / ‚Ir soent úch usziehen!‘ / Herre, wie sol mir denne geschehen?‘ / ‚Froʷ sele, ir sint so sere genatúrt in mich, das zwúschent úch und mir nihtes nit mag sin (Mechthild von Magdeburg, zit. nach Haug, Gotteserfahrungen, 201). 427  Ich hab ir wol genossen. Die mein hercz hat durchschossen (Meister Caspar von Regensburg, Frau Venus und der Verliebte, zit. nach Wolf, Mausefalle, 136). 428  Amo, quia amo; amo, ut amem (Bernhard, Opera II, 300, Z. 25 f.). 429 Vgl. Dinzelbacher, Entdeckung der Liebe. 430  Meyer/Schneider, Codex Manesse, 9. 431 Auch Schulze, Minne, 640 spricht von einer „Novität der im 12./13. Jahrhundert entfalteten Liebesthematik […]. Minne wird seit etwa 1170 in Deutschland zu einem zentralen Thema in der Lyrik und Epik, und zwar in dem eigenständig und unter romanischem Einfluß entstandenen Minne­sang wie in allen aufkommenden Formen erzählender Literatur.“ 432  Walter von der Vogelweide, zit. nach Classen, Wordly Love, 168.

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Vorsichtig gesprochen könnte man wohl fest­stellen, dass dieser Terminus sehr breitgefächert als Ausdruck einer „positiven mentalen und emotionalen Zuwendung“ verwendet wurde und dabei sowohl die Beziehung zwi­schen Mensch und Gott als auch den zwischenmenschlichen Bereich in all seinen Facetten von Freundschaft, Fürsorge, Eros und Sexualität umfassen konnte.433 Es ist jene Doppelhelixstruktur der Minne, ihre zweifache Präsenz im weltlichen und geistli­chen Diskurs, die das 12. Jahrhundert und das ausgehende Mittelalter prägte.434 Will man dem Phänomen in seiner Gesamtheit gerecht werden, muss diese Doppelhelix­struk­tur im Blick behalten werden.435 Mit Fug und Recht kann man somit von einer Omnipräsenz der Minne sprechen: Zum einen setzte sich der mittelalterliche Mensch mit der Minne im Minnesang436 sowie auch in der erzählenden weltlichen Literatur, etwa in den Artus-, Tristan- und Gralsromanen seiner Zeit, im Nibelungenlied und dem auf französischen Vorlagen aufruhenden Willehalm437 der deutschsprachigen Heldenepik und nicht zuletzt in Legenden und Traktaten mit der Thematik der Minne zwi­schen Mann und Frau auseinander; zugleich durchdrang ab dem 12. Jahrhundert das Thema der Minne die religiösen, mithin die frömmigkeitstheologischen und mystischen Texte, Bilder und Performanzen, die nach der Beziehung zwischen Gott und der Seele fragten.438 Wenngleich man eigentlich beide Helixstränge gesondert betrachten müsste, so erschei­nen mir mit Blick auf die vorliegende Arbeit die augenfälligen Parallelen zwischen bei­den Diskursen besonders relevant. Bevor man sich den konkreten Beispielen ähnlicher Motiv­entwicklungen zuwendet oder die Frage stellt, welche wechselseitigen Einfluss­nahmen angenommen werden können, sei eines grundsätzlich vorausgeschickt: Sowohl im Kontext der weltlichen als auch 433  Vgl. dazu Schulze, Minne, 640. Zur Wahrnehmung der Minne (verstanden als allegorische Frauen­gestalt) als „Liebesaggressorin“ konstatiert Keller, Gott im Visier, 206: „Sie wirft attackieren­de Liebe unter die Lebenden, was sie nicht nur zu einer machtvollen und gewalttätigen Frau macht, sondern auch zu einer der seltenen Frauen, die in Liebesangelegenheiten aktiv sind. Ferner verwandelt sie die mittelalterliche Dichtung in ein eigentliches Lazarett. Waidwunde Minne­sänger klagen dort neben liebeskranken Gottesminnerinnen. Ein breiter Mahlstrom rund um Liebe und Tod, Verletzung, Aggression und Krankheit fließt also im Werk der Frau Minne zusammen“. 434  Siehe dazu auch allgemein Wenzel, Frauendienst und Gottesdienst. 435  So hält Classen, Wordly Love, 185 fest: „[C]ourtly love was in no way simply a form of play […], instead, courtly love represents one side of the coin of which religious love is the other. There could be no coin, of course, if either side was missing.“ 436  Eine ausführliche Charakterisierung der verschiedenen Phasen des Minnesangs und eine detaillierte Auf­zählung der wichtigsten Vertreter im deutschen Sprachraum sowie nicht zuletzt der breit­ge­fächerten modernen Deutungsansätze erscheint an dieser Stelle nicht angebracht; vgl. dazu jedoch aus­f ührlich Mertens, Minnesang, 647–650. 437  Vgl. dazu Geith, Wilhelmsepen, 200 f. 438 So Schulze, Minne, 640. Die ungeheure Bandbreite der Minnevorstellungen belegen etwa die Texte der Hadewijch; die Mystikerin vermochte die Minne Gottes in Naturerscheinungen wie Gewit­ter, Sturm oder Feuer zu erkennen; vgl. dazu Classen, Hadewijch, 29.

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der geistlichen Literatur bildeten sich tiefgreifende men­talitäts­geschichtliche Neuerungen ab. Weltliche und geistliche Minneliteratur zeich­nete sich durch ein neu ausgeprägtes Ich-Bewusstsein, ein neues Bewusstsein für das Du als nicht austauschbare Größe, eine gesteigerte Reflexion und Analyse des eigenen Selbst aus.439 Während es manchen müßig oder zumindest spekulativ erscheint, über direkte Abhängig­kei­ten und Wechselwirkungen zwischen Mystik und weltlicher Minne zu reflektieren,440 gehen andere Forschende davon aus, dass es ein tiefgreifender Paradigmenwechsel im geist­lichen Milieu des Denkens und Schreibens war, der für jene Neuentdeckung der Lie­be in der weltlichen Literatur in hohem Maße verantwortlich zeichnete.441 Folgt man jener These des „geistlichen Diskurses als Motor oder Initialzündung“, so könnte man auf folgende Beobachtung verweisen: Das neuartige und genuine Konzept der geistlichen Minne im 12. Jahrhundert profilierte sich vor allem dadurch, dass man sich zunehmend von einem durch platonische Eros-Vorstellungen geprägten christlichen Aga­pe-Konzept abgrenzte, in welchem die Bewegungslinie des Aufstiegs und des Be­gehrens vorgeherrscht hatte.442 Jener entscheidende Paradigmenwechsel vollzog sich wohl durch die (Frömmigkeits-) Theo­logie und deren bahnbrechende Zentrierung auf die Passion (vgl. auch B.7).443 Das Gewahrwerden der barmherzigen „Zu-Neigung“ Christi zum Menschen in seiner keno­sis sollte auch die Eigenwahrnehmung des Menschen fundamental verändern. Indem man sich dem nahbaren, sich nahenden, leibhaftigen Gott in seinem Leiden zuwandte, seine leidensbereite Leidenschaft für den sündigen Menschen wahrnahm, wurde die herr­schen­de Dichotomie zwischen Leib und Seele aufgebrochen; um nichts weniger ging es als um das Erleben, die Erfahrung Gottes durch den Menschen in seiner Verfasstheit als seeli­sches und leibhaftiges Geschöpf mit allen Sinnen. Die Aufwertung der körperlichen Liebe zwischen den Geschlechtern als elementare Neuerkenntnis in den weltlichen Minne­ 439 

Vgl. dazu Schulze, Minne, 640. etwa Haug, Gotteserfahrungen, 203. Zur Verschmelzung weltlicher und religiöser Motive etwa in den Mengeldichten der Hadewijch vgl. Classen, Hadewijch, 31. 441  Freilich trifft man auch in den Quellen des 6.–11. Jahrhunderts auf die meist mit dem lateinischen Ter­minus amor bezeichnete Liebe; doch benennt jener amor entweder eine rein sexuelle, triebhafte, ja oftmals gewaltsame Regung oder wird synonym zur caritas, der Nächstenliebe und freund­schaft­li­chen Neigung verwandt. Vgl. dazu Meyer/Schneider, Codex Manesse, 11. 442  „Das Ascensuskonzept, eingebunden in die immer vorlaufende Gnade Gottes, war für die Väter und das sich ihnen anschließende Mittelalter zunächst das bestimmende Muster, nach dem im philoso­phisch-theologischen Diskurs die Begegnung des Menschen mit Gott gedacht wurde“ (Haug, Gottes­er­fahrungen, 198). Jene Abkehr von der platonistischen Dicho­ to­misierung von Leib und Seele und die dadurch sich etablierende Bejahung des Körpers als Grundlage für eine neue Gotteserfahrung er­mög­lichte in der Folge auch neue Erfahrungen der Mann-Frau-Beziehung; vgl. dazu ebd., 212. 443  Vgl. dazu ebd. Damit einher ging eine wesentliche Neubewertung und positive Inte­ gration des Körpers. 440  So

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texten verdankte sich somit wohl ausgerechnet dem religiösen Diskurs.444 Gerade die in der Frauenfrömmigkeit verbreitete „passionierte Spiritualität“ einer Brautmystik, in der Innen und Außen verschmelzen, Körper und Geist in eins fallen, die „christlichen Wahr­heiten […] nicht nur geistig, sondern auch leiblich-gesamtmenschlich erfahren [werden]“445 wirkte offenbar als entscheidende Impulsgeberin für den weltlichen Minne­diskurs. Um das Bild der Doppelhelix noch einmal zu bemühen: Das Ineinander und nicht zuletzt die Wechselwirkungen zwischen „Geistlichem“ und „Weltlichem“ in diesem Geflecht der Minne­diskurse des Mittelalters müssen dabei als komplex gedacht werden. Eine nähere Untersuchung der Abhängigkeiten kann die vorliegende Arbeit nicht leisten. Doch noch einmal sei hervorgehoben, dass das 12. Jahrhundert die Liebe auf seine Agen­da erhoben hatte und sich die weltliche und die geistliche Sphäre dabei untereinander in nichts nachstanden: Affekte, Emotionen und Gefühle spielen nicht nur in der Theologie eine bedeutende Rolle, in der im 12. Jahrhundert Mönche eine differenzierte hoch­affek­ti­ve Braut- und Passionsmystik entwickeln. Die Idee der Liebe und Freundschaft beherr­schen […] das 12. Jahrhundert insgesamt. Sie bestimmen die Diskurse der führenden theo­logischen Schulen der Zeit und die Ausrichtung der höfischen Literatur. Die Kar­täu­ser, Benediktiner und Zisterzienser446 und schließlich die Viktoriner diskutieren intensiv Pro­bleme von caritas, amor und amicitia. In Dichtung und Traktatliteratur werden Liebe und Freundschaft als Formen höchstpersönlicher, affektiv-emotionaler Personen­be­ziehun­ gen entdeckt. Der Tristanroman kennt die Liebe als Passion.447 444  Vgl. ebd. Schneider/Meyer, Codex Manesse, 12 f. halten dafür, dass den geistlicherotischen Texten eine bahnbrechende Funktion für die weltliche Minne zuzuschreiben ist. Auch Langer, Leib­haftige Erfahrung, 442 führt aus, dass der Rezipientenkreis für erotische Minne durch eine affektiv-erfahrungsausgerichtete monastische Frömmigkeit gegeben war, in der der fides und experientia so­wie der sapientia eine größere Bedeutung beigemessen wurde als der scientia. 445  Ebd., 449. Gleichsam als paradigmatisch hat auch das Erleben des Küssens Christi zu gelten, dass Rupert von Deutz (gest. ca. 1129) schildert; vgl. dazu McGinn, Mystik, 535.601 sowie etwa Dinzel­b acher, Handbuch, 208: „Er sah sich selbst vor dem Altar stehen, auf dem ein Kruzifix stand. Mit dem Heiland Blicke wechselnd, wünschte er dem Herrn näherzukommen und ihn zu küssen. Auf Christi Geheiß trat er zum Altar, der geöffnet war, damit er den Herrn empfange. Rupert fährt fort: ‚Als ich so eilends eingetreten war, ergriff ich den, den meine Seele liebt (Hld 1,7), hielt ihn, umarmte ihn und küsste ihn lange. Ich fühlte, wie gerne er dieses Zeichen der Liebe zuließ, da er unter den Küssen seinen Mund öffnete, damit ich maßloser küsse.‘“ Zur Bedeutsamkeit Ruperts auch Meyer/Schneider, Codex Manesse, 13. 446 In ihrer revolutionären, „antianselmischen“ Hermeneutik der Menschwerdung und der Passion als Aus­weis der Liebe Gottes (und nicht seiner Gerechtigkeit oder Ehre) stellte die Zisterzienserschule sowie Abaelard und Bernhard von Clairvaux im 12. Jahrhundert alles unter das Panier der Liebe. So argu­men­tiert Dinzelbacher, Handbuch, 136 und führt dann weiter aus, die Menschwerdung des Sohnes sei dabei zugleich der Ermöglichungsgrund für die Gottesliebe des Menschen: „Erst damit ist der Weg geöffnet zu einem Christusbild, in dem der liebende, der liebe Gott, im Zentrum steht. An diesen ‚Bruder des Menschen‘ kann man sich wenden, mit ihm ist man ‚verwandtschaftlich‘ und ‚onto­logisch‘ verbunden.“ 447  Langer, Leibhafte Erfahrung, 460 f. Weiterhin führt er aus: „Daß bei der Versprachlichung von Emo­ tio­ nen und Leidenschaften religiöse, mystische Modelle und Verfahren



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Die sich in der Brautmystik bahnbrechende Vorstellung des minnenden Gottes ähnelt auf ver­blüffende Weise der weltlichen Minneliteratur; ja, beide Formen scheinen einander zu durch­dringen. Bei Reinmar von Zweter (geb. um 1200), einem bedeutenden Vertreter der welt­lichen Sangesspruchdichtung, liest man zugleich von der Verjüngung des alten Got­tes, welchen die Liebe zum Sprung auf die Erde zwingt.448 Christus konnte mit einer Nach­ti­gall verglichen werden, die am Maibaum des Kreuzes stirbt – aus Liebe zur schönen Jung­frau, der Seele beziehungsweise der Kirche, oder mit einem Ritter, der für seine Dame  – die Seele  – den Tod nicht scheut.449 Der entscheidende Ermöglichungsgrund jener „Einstimmigkeit“ mag die Tatsache gewe­sen sein, dass mystische Minnetexte und weltliche Liebesdichtung eine Sprache sprachen: Beide Gattungen bewegten sich im semantischen Milieu der Volkssprache.450 Der Volkssprache und ihrer Metaphern der Minne bediente sich etwa auch Mechthild von Mag­ de­burg in ihrem Werk „Das fließende Licht der Gottheit“: Die Seele wird dort als Kopf­kissen Gottes (legerkússin), als sein Liebeslager (minneklichest bette) ange­sprochen.451 Doch der eigentliche Ursprung unzähliger Minnemetaphern liegt weder in der romani­schen, noch in der germanischen Sprachfamilie, sondern in einem Stück Dichtung, verfasst in semi­ti­scher Sprache, dem Hohelied der Liebe. Jenes biblische Textcorpus, freilich in seiner lateinischen Vulgata-Fassung, muss als einer der prägendsten Impulsgeber für die Feier der Minne im 12. Jahrhundert verstanden werden.452 Dabei besteht zweifellos eine gewisse Pointe darin, dass bedeutsam werden, hat neuer­dings T. Tomasek mit seinem Nachweis gezeigt, daß im ‚Tristan‘ Gottfried von Straßburg sich die Liebe Riwalins zu Blanscheflur und in variierter Form auch Tristans zu Isolde nach dem Schema ent­faltet, das Übereinstimmungen mit dem ‚quatuor gradus violentae charitatis‘ des Richards von St. Viktor aufweist“ (ebd.). 448 Vgl. Dinzelbacher, Handbuch, 136. 449  Vgl. dazu auch ebd., 108 f. 450  Siehe dazu auch Bynum, Female Body, 172: „The major literary genres available in these languages were various kinds of love poetry and romantic stories: the vocabulary provided by such genres was there­fore a vocabulary of feelings.“ Allerdings finden sich ebenso auch lateinische Texte, die bereits ab dem späten 11. Jahrhundert die Begegnung zwischen Gott und Mensch in eine Semantik des Eros fassten. McGinn liefert dafür in seinem mehrbändigen Werk über die Mystik mit der sog. „Sequenz über die Jungfrauen“ ein eindrückliches Beispiel: „In diesen Betten / schläft Christus mit ihnen: / Glück­lich der Schlaf, / Süß die Ruhe, / in der, wenn sie erwählt ist, / die treue Jungfrau / in der Umar­mung / des himmlischen Bräutigams, / mit seiner Rechten / die Braut umfangend, / den Kopf in seiner Linken / gesenkt, schläft: / Wachsamen Herzens / der Körper ruht, / und an des Bräutgams anmutigem / Busen sie schlummert“ (zit. nach McGinn, Mystik, 228; das lateinische Original nach Dronke findet sich ebd.: Dormitis in istis / Christus cum illis: / felix hic somnus, / requies dulcis, / quo, cum fovetur / virgo fidelis / inter amplexus / sponsi celestis, / Dextera sponsi – / sponsa – complexa / capiti leva / dormit submissa: / pervigil corde, / corpore dormit / et sponsi grato / sinu quiescit). 451  Mechthild von Magdeburg, zit. nach Meyer/Schneider, Codex Manesse, 13. Eine Analyse zu diesem Text Mechthilds bietet auch Theben, Lyrik, 313. 452  Zur besonderen Bedeutung des Hoheliedes für das 12. Jahrhundert – und vice versa – merkt Keller, Wort, 24 an: „Innerhalb der Geschichte des Interesses am Hohelied ist das

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ein Text, der ursprünglich dem „welt­lichen“ Diskurs über die Liebe zwischen Mann und Frau zuzuordnen ist, zur ent­schei­denden Inspirationsquelle für Theologen und Theologinnen des Mittelalters wurde, um die Begegnung zwischen Gott und Mensch neu zu fassen, das religiöse Denken zu revo­lutionieren, um schließlich wie in einem gewaltigen Zirkelschluss letztlich auch den welt­lichen Minnediskurs nachhaltig zu prägen. Somit fungierte das Hohelied als litera­ri­ scher Dreh- und Angelpunkt, als hermeneutischer Schlüssel zu einer Geschichte der Liebe im 12. Jahrhundert.453 Entscheidender Ausgangspunkt hierfür war ein neuer Interpretationsansatz bei der Aus­deu­tung des biblischen Textes. Hatte man bis zum 11. Jahrhundert die Braut des Canticum Canti­corum zumeist allegorisch mit der Kirche sowie den Bräutigam mit Christus gleich­gesetzt, kam es nun im 12. Jahrhundert zu einem entscheidenden Paradigmenwechsel. Indem man die Braut mit der Seele des einzelnen Frommen identifizierte,454 konnte völlig neu­ artig die Komplexität der Gott-Mensch-Beziehung in Worte gefasst werden:455 [Ü]ber dieses Muster konnte sich der Einzelne unmittelbar mit Christus in Beziehung setzen, wo­bei die Begegnung jenem Wechsel zwischen Sich-Finden und Sich-Verlieren unter­worfen wurde […]. [D]ie Erfahrung eines Einsseins, bei dem man doch zwei bleibt, die Er­fahrung der liebenden Verschmelzung verbunden mit dem Bewußtsein der Un­er­reich­bar­keit des Anderen. Dies wird nun zum Bild für die augenblickshafte Unio mystica mit Gott im Wissen darum, daß er doch der radikal Andere bleibt.456

Als maßgeblicher Impulsgeber ist hier Bernhard von Clairvaux zu nennen, der jene Wende in der Hohelied-Interpretation eingeleitet hatte.457 Die Texte des Wilhelm von St. Thierry (um 1080–ca. 1148) führten schließlich jenen neuen Zugang weiter aus und be­ton­ten dabei vor allem das Ineinander von Glück und Schmerz im Spiel zwischen der Braut Seele und Christus, dem Bräutigam, die auch im 13. Jahrhundert in Mechthild von Magdeburgs „Fließendem Licht der 12. Jahrhundert heraus­ragend.“ In Anschluss an Friedrich Ohly führt sie weiter aus, über die Hälfte der zwischen 200 und 1200 entstandenen Kommentare zum Hohelied und damit mehr als dreißig, datierten in die Zeit zwischen 1100 und 1200. 453  „Das alttestamentliche Hohelied lieferte Motive sowohl für die weltliche Liebesdichtung als auch für die geistliche; der Text mancher darauf basierenden Poeme konnte mit minimalen Änderungen so­wohl im religiösen wie im profanen Bereich verwendet werden“ (Dinzel­ bacher, Handbuch, 108). 454  Allerdings handelte es sich dabei nicht um ein Novum; bereits Origenes hatte dies als eine Deu­tungs­möglichkeit proklamiert und man konnte sich auf seine Autorität berufen; mit Verweis auf Origenes’ Hohe­liedkommentar etwa auch Riedlinger, Hohelied, 80. 455  Vgl. dazu Haug, Gotteserfahrungen, 200. In beiden Bereichen entdeckt der Mensch des 12. Jahr­hun­derts die Dialektik der Liebe: In der Wonne der Minne selbst ist bereits die Angst vor dem Verlust bzw. die Erfahrung des Verlusts eingeschlossen (vgl. dazu ebd., 211) – so wie in der Mystik „mit ihrem Sprechen aus dem Verlust heraus“ (ebd., 212). 456  Ebd., 200. 457 Die Bedeutsamkeit Bernhards für diesen Paradigmenwechsel lässt sich auch daran ablesen, dass die zärt­liche Umarmung zwischen Christus und Bernhard sogar als Motiv in der Kunst verarbeitet wurde; vgl. dazu die Darstellung eines anonymen Künstlers aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts bei Wirth, Vision, 267.



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Gottheit“ eine ganz besondere Dynamik entfalten sollte.458 Gerade mit Blick auf Mechthild von Magdeburg kann man wohl mit Fug und Recht von einer direkten Anlehnung und zugleich einer kühnen Überbietung des Hohe­liedes sprechen.459 So leidenschaftlich und damit grenzüberschreitend und dynamisch viele der mystischen Minne­texte anmuten,460 so sehr weist Bernhard McGinn darauf hin, dass der Primat der Liebe mit dem zeitgleich waltenden fundamentalen Streben nach Reform,461 nach einem Ord­nen der Verhältnisse, einer ordo caritatis462 Hand in Hand ging: Die Mystiker des 12. Jahr­hunderts wollten die Liebe nicht nur erfahren, sondern sie auch in die ihr ange­messene Ordnung bringen. Diese Liebesordnung stellte nicht den Versuch dar, die Liebe zu unterdrücken oder zu kontrollieren. Vielmehr ist sie die Kunst, deren Leidenschaften zur vollen Reife zu führen.463

Auch in dieser Hinsicht, in dem Bestreben nach Ordnung und Vollendung, erscheint der weltliche Liebesdiskurs wie ein Spiegelbild des religiösen Nachdenkens über die Liebe.464 In der sogenannten „höfischen Liebe“,465 die sich durch 458  Vgl. dazu Haug, Gotteserfahrungen, 200 f. Vgl. dazu auch Riedlinger, Hohelied, 80 f. und die dort genannten Vertreter jener neuartigen Hoheliedfrömmigkeit  / -exegese wie u. a. Petrus Johannes Olivi, Richard Rolle und Johannes Gerson. 459  Vgl. dazu das Eingangszitat des vorliegenden Kapitels. 460  Exem­plarisch sei hier auf ein Textbeispiel des Egbert von Schönau (gest. 1184) verwiesen, das Dinzel­b acher, Handbuch, 208 folgendermaßen übersetzt: „Ersehnter meines Herzens! Wie lange soll ich Dein Fernbleiben noch ertragen? Liebenswerter Herr, in welchem Bett ruhst Du unter Deinen Geliebten? Der Duft deiner Süße kam aus der Ferne zu mir“. 461  Neben dem Reformbegriff, den McGinn als den weiterführendsten erachtet, werden noch andere Termini diskutiert wie etwa „Renaissance“, „Humanismus“ oder „Individualität“; vgl. dazu aus­f ühr­lich McGinn, Mystik, 233.235. 462  Prägend für diesen Vorstellungskomplex war hierbei die einschlägige Bibelstelle Hl 2,4 in der Vul­gata­fassung: […] ordinavit in me caritatem. 463  McGinn, Mystik, 240 f. Weiter führt er aus: „Die rechte Einordnung der Liebe und Barmherzigkeit wur­de als ‚Hauptanliegen‘ der Denker des zwölften Jahrhunderts beschrieben. Die heilige oder pro­fane Liebe, geordnet oder ungeordnet, vernünftig oder nicht vernünftig, füllt Bände, sei es der latei­ni­schen oder der volkssprachlichen Literatur der Zeit […]. Die Mystik des zwölften Jahrhunderts ist unüber­troffen im Ausloten der Erfahrung der Brautliebe Christi. Die Brautmystik war jedoch Teil einer umfassenden ordinatio caritatis, die alle Anstrengungen und Kräfte […] auf die Liebe zu Gott und deren Freuden als letztem und wahrem Ziel ausrichtete“ (ebd.). 464  Einen engen Konnex zwischen der zunächst im romanischen, dann auch im deutschen Sprachraum sich entfaltenden Liebeslyrik und dem theologischen Kosmos der Brautminne konstatieren auch Meyer/Schneider, Codex Manesse, 13. 465  Dieser erst im 19. Jahrhundert geprägte Terminus verweist auf den „sozialen Ort, dem sich die Pro­duk­tion, Rezeption und thematische Ausrichtung zuallererst verdankt“ (ebd., 14). Er erscheint mir besonders geeignet, um eine möglichst deutliche Abgrenzung zu unserem modernen, oft sexuali­sier­ten Liebesbegriff zu markieren; Camille, Seductions, 256, unterstreicht die Wichtigkeit dieser Abgrenzung „[S]exuality as we think of it today, was not in play here. Eroticism, sensuality and desire yes, but genital sexuality no.“

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die Öffnung zum westlich-romani­schen Kulturraum466 im 12. Jahrhundert im deutschen Sprachraum verbreitete, lassen sich trotz der beträchtlichen Vielstimmigkeit dieser Gattung467 nach Rüdiger Schnell fünf feste Topoi ausmachen: Die Forderungen nach der Exklusivität der Liebes­be­ziehung, nach deren Stetigkeit, deren Ernsthaftigkeit und Selbstlosigkeit sowie der Bereit­schaft, um der Liebe willen zu leiden.468 Auch auf dem Diskursfeld der weltlichen Minne zeigt sich somit deutlich, dass man eben­so wie in den geistlichen Texten nach einer ordo caritatis, einer Ordnung der Liebe, strebte. Ein weiteres zentrales Thema eignet beiden Helixstrukturen: Das Ineinander von liebe und leit als den zwei unabweisbaren Spannungspolen der Minne; das Wechselspiel zwi­schen Nähe und Distanz469 erscheint auch in der weltlichen Minneliteratur als eines der ein­drücklichsten Charakteristika.470 Auf der Grundlage jener fundamentalen verbindenden Marker sind es zudem konkrete Motiv­wanderungen, die den Eindruck des engen Konnex zwischen weltlicher und geist­licher Minnereflexion noch einmal verstärken. Fünf dieser Motivwanderungen sollen im An­schluss exemplarisch aufgeführt werden. Hinzuweisen ist hier zunächst auf die zeitgleiche Blütezeit des Frauenlobes und des Marien­lobes. Den Leser, die Leserin scheint es nicht irritiert zu haben, etwa im Werk des Kon­rad von Würzburg aus dem 13. Jahrhundert dieselben Wendungen zu finden, mit wel­chen er hier seine Minnedame, dort die Gottesmutter preist.471 Auch die weltlichen Min­ne- und geistlichen Mariendichtungen 466  Eine wichtige Wegmarke war hier die Vermählung Kaiser Barbarossas mit Beatrix von Burgund im Jahr 1156; doch bereits das Mainzer Hoffest 1148 wurde zur Bühne der romanischen und deutsch­spra­chigen Dichtung; vgl. dazu Meyer/Schneider, Codex Manesse, 14. 467  Unter diesem Begriff subsummieren sich etwa der deutsche Minnesang, die Trobadourlyrik, die deut­sche und französische Artusepik sowie provenzalische Minnetraktate. 468 Vgl. dazu Rüdiger Schnells These bei Meyer/Schneider, Codex Manesse, 15–17. Unter funktio­ na­ lem Gesichtspunkt betrachtet geht es bei der höfischen Liebe nicht um eine reale Erfüllung, sondern im Gegenteil: Die Unerfüllbarkeit ist Teil des Konzepts! (so Jacquart/Thomasset, Sexuality, 94) Dennoch ist eine Engführung der Minne auf eine bloße Entsagungsminne irreführend und wird der Varianz der Texte und Konzepte nicht gerecht. Auf die Vielfalt der höfischen Minnedichtung weist auch Classen hin, der in Anschluss an W. T. H. Jackson betont: „[…] ‚courtly love‘ meant something different for every courtly love poet“ (Classen, Wordly Love, 166). 469 Siehe Schulz, Minne, 641. 470 Dabei galt die Maßgabe, dass Liebe unter Zwang keine Option sein konnte  – eine damals schlechter­dings revolutionäre Forderung. So konstatieren es Meyer/Schneider, Codex Manesse, 17: „,Erzwungene Liebe ist ganz und gar nichtig, denn sie bringt keine Freude‘. Mag diese Forderung auch selbstverständlich klingen, so war sie in einer Welt, in der Männer nach Belieben über die Körper ihrer Ehefrauen verfügten, alles andere als banal.“ Freilich gab es auch Texte, wie etwa den Roman de la Rose, in welchen in zynischer und misogyner Weise über die geschlechtliche Liebe gesprochen wurde, was jedoch auch vehemente Kritik (etwa durch Christine Pizan) provozierte; vgl. dazu Jacquart/Thomasset, Sexuality, 112: „In the ‚Roman de la Rose‘, the sexual act is violence, sleep and death, and awakening.“ 471 So Meyer/Schneider, Codex Manesse, 12. Jene neue Wertschätzung der Frau verdankte sich wohl auch der kirchlichen Forderung nach Konsens beider Partner bei der Eheschließung. Bei allen durch­aus auch vorhandenen misogynen Aussagegehalten der Minnelite-



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aus der Feder des Heinrich von Meißen472 (ge­nannt Frauenlob) weisen frappierende Ähnlichkeiten auf.473 Die Flut der Metaphern, mit denen die Gottesmutter etwa im Melker Marienlied (um 1130/40) überschüttet – mersterne, morgenrot, bloume, lilium – oder der Sonne ver­gli­chen wird (du bist gliche dem sunnen) erinnern an Lobpreisungen, mit denen auch in der höfischen Liebe die hohe Frau besungen wird.474 Wenn Reinmar der Alte in seinem Preis­lied aus dem 12. Jahrhundert ausruft: „Gepriesen seist du, ‚Frau‘, was für ein makelloses Wort!“,475 so könnte man diesen Vers wohl ebenso gut in einem Marienlob verorten. Während in jenem erstgenannten Fall eine Flut von ähnlichen oder identischen Zuschrei­bun­gen und Umschreibungen von hoher und himmlischer Frau begegnen, so ist es im zwei­ten Exempel der Motivwanderungen ein Modell, das des „lover-knight“, das aus der welt­lichen Minneliteratur in den Kontext der geistlichen Minnemystik übertragen wird: auf Christus selbst. Entscheidend war an diese Stelle die eklatante Anschlussfähigkeit für die Idee des aus und für die Liebe leidenden Ritters, sah man doch ab dem 12. Jahrhundert die Passion Christi als Ausweis seiner leidensbereiten Liebe, durch welche er die Liebe des Menschen zu gewinnen sucht.476 Christus, der aus Liebe zum Menschen am Kreuz sein Leben dahin­gibt, erschien wie ein Spiegelbild des liebenden weltlichen Ritters, der seine Dame, wie etwa in der Artusliteratur, aus Todesgefahren rettet und dabei den eigenen Tod nicht scheut.477 Es wäre an dieser Stelle reizvoll, ratur lässt sich festhalten, dass der (idealisierten, wenn möglich auch nicht der realen) Frau in der höfischen Liebesliteratur eine neu­artige Machtposition eingeräumt wurde (so Jacquart/ Thomasset, Sexuality, 96). Es wäre m. E. ein lohnendes Unterfangen, präziser danach zu fragen, ob im geistlichen Diskurs die sich nach Gott ver­zehrende Seele dem werbenden Mann gleichgesetzt wird oder ob Christus der machtlose Ritter ist, der um uns als „hohe Frau“ wirbt? 472  Dessen Bei- oder Künstlername „Frauenlob“ geht auf einen seiner berühmtesten Texte zurück, Unser frouwen leich, der „Marienleich“, der sich stark am Hohelied orientiert; in seinem weltlichen „Minne­leich“ vermochte Heinrich in Rekurs auf Alanus ab Insulis „die Frau als wirkende und heilende Natur­kraft“ zu besingen; vgl. bei Bertau, Heinrich von Meißen, 2098 f. 473 So Köbele, Umbesetzungen, 217. Auch Dinzelbacher, Handbuch, 108 hält fest: „[Es] wurden Formen der höfischen Dichtung so weitgehend auch bei religiösen Themen eingesetzt, daß heute in manchen Fällen nicht mehr zu unterscheiden ist, ob etwa ein Liebhaber zu seiner Dame oder Christus zur Seele spricht, oder ob eine adelige Dame gepriesen wird oder Maria.“ 474  Zum Melker Marienlied vgl. Haufe, Deutsche Mariendichtung, 13 f. 475  So wol dir, wip, wie rein ein nam! (Reinmar der Alte, zit. in: Meyer/Schneider, Codex Manesse, 40). 476  „The popularity of the theme undoubtedly arose from its exceptional fitness to express the dominant idea of medieval piety, that Christ endured the torments of the Passion in order to win man’s love. This stress upon a personal and emotional relationship between God and man in the work of Redemption was new in the twelfth century“ (Woolf, Christ the Lover-Knight, 1). 477 Vgl. ebd., 1: „From the end of the twelfth century onwards there developed a perfect parallelism between the theological stress upon Christ’s display of love on the Cross and the conception of chivalric conduct in the Arthurian romances, wherein a knight by brave endurance and heroic encoun­ters would save the lady whom he loved from treacherous capture, thereby hoping to gain her favour, or might joust brilliantly in front of her, hoping by his prowess to win her love.“

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darüber nachzudenken, ob durch dieses Motiv des aus Liebe leidenden „Ritters Christi“, bei aller Betonung des Leidens und der Ver­wund­barkeit, in gewisser Weise das Moment des heroischen Pantokrators am Kreuz, wenn­gleich transformiert, weitergeführt wurde. In Rekurs auf die Antike, der man sich im 12. Jahrhundert, das bisweilen als „staufische Re­naissance“ bezeichnet wird, wieder verstärkt zuwandte, entwickelte sich ein weiteres (drittes) Motiv, das zwischen beiden Sphären hin- und herwanderte: Das des Bogen­schützen Amor in der weltlichen Minne und Christus als Cupido in der geistlichen Litera­tur. Die bei Ovid tradierte Vorstellung des Liebesgottes Amor als männlichem Bogen­schüt­zen, der seine Opfer mit den Pfeilen der Liebe durchbohre, fand in der Kunst und Lyrik des Mittelalters weite Verbreitung;478 die ebenfalls florierende Darstellung Christi als Cupido muss nach Barbara Newman als „intentional borrowing and adaptation of courtly themes in devotional art and vice versa“479 begriffen werden. Jenes vice versa wird etwa durch die Tatsache verdeutlicht, dass in der weltlichen Dichtung der Liebesgott als Se­raph nach alttestamentlichem Vorbild (also mit sechs Flügeln) und nicht nach dem anti­ken Modell des einfach geflügelten Amors dargestellt werden konnte; bisweilen begeg­nete sogar ein Liebesgott mit drei Gesichtern, der Assoziationen an die Trinität wecken konnte.480 Bei dem im Mittelalter weitverbreiteten Motiv des Christus als Cupido muss betont werden, dass hier keine vermeintliche „Verniedlichung“ Christi vorgenommen wurde. Im Gegen­teil: Das gewaltsame, verletzende Potential der Liebe, die jener Gott verkörperte, spielte eine immense Rolle. Ebenso wie in der höfischen Literatur begriff man auch im Kon­text der Frömmigkeit die Liebe als verwundende Macht, als erschreckende Leiden­schaft.481 Bei aller Durchlässigkeit, bei aller Parallelität ist doch auf einen gravierenden Unter­schied zu verweisen: Ist in der weltlichen Minneliteratur 478 Vgl. dazu ausführlich Meyer/Schneider, Codex Manesse, 10 f. Auch die antiken Propria der Liebe wurden dabei ins Mittelalter transportiert: die Gegenseitigkeit (mutuus), ihr Bündnischarakter ( foedus) sowie das vertraute Miteinander der Liebenden (consuetudo). 479  Newman, Love’s Arrows, 263 f. „From the mid-thirteenth century onward, transfixed lovers might be found languishing for the love of God as often as for a lady, and the divine archer was as likely to be the celestial Caritas as the carnal Amor“ (ebd., 264). 480  Vgl. dazu ebd., 276 f. Nach 1224 rief dieses Motiv bei den Leserinnen freilich auch „franzis­ka­nische“ Konnotationen auf: Franziskus’ Verwundung durch die Liebe, ins Werk gesetzt durch eine sechs­flügligen Seraphen! 481  Vgl. dazu ebd., 264. Interessanterweise ist es bereits Augustinus, welcher in manchen seiner Werke eine klare Trennlinie zwischen der christlichen caritas und der weltlichen cupido unterstreichen konn­te, der sich in anderen Texten, vor allem in seinen Confessiones, an die heidnische Bildsprache an­näher­te und Gott mit dem Bogen des Liebesgottes ausstattete, dessen Pfeile sein eigenes Herz durch­bohrten: „Du hast Pfeile auf unser Herz geschossen durch deine Liebe, und wir tragen deine Worte hineingebohrt in den Eingeweiden.“ Sagittaueras tu cor nostrum caritate tua, et gestabamus uerba tua transfixa uisceribus (Augustinus, Confessiones, zit. ebd., 269, Anm. 36). Diese augustinische Metho­de der Überblendung von Christus und Cupido wurde durch zahlreiche mittelalterliche Autoren wieder­holt.

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Amor/Cupido stets der autonome Agent der Minne, so ist Christus Subjekt und zugleich Objekt der verwundenden Liebe: He is both heavenly bowman and lovesick victim, and in his role as victim he inspires that tender-hearted pity which, in courtly lyric and romance, is often the first sign of a woman’s love. It required no great stretch of medieval imagination to interpret Christ’s bleeding wounds as vulnera amoris and to discern Love’s arrow in the centurion’s lance that pierced his heart, opening the salvific fount of blood and water […] In other words, God is Amor: the divine archer is his own victim, now begged to puncture his lover’s heart with his quill (or arrow) just as his own was pierced by the centurion’s spear.482

Der mittelalterliche Fromme konnte somit Christus als Liebesgott imaginieren, als akti­ven, verwundenden Part auf der Bühne des Glaubens. Doch zugleich betrachtete er Chri­stus als im doppelten Wortsinn passives Opfer und die Liebe als Himmelsmacht, die Gott selbst aus dem Himmel auf die Erde zwingen konnte. Gottes Verwundbarkeit, offenbart in der Passion, solle den Menschen zum Einwilligen in diese Liebe bewegen: „Du hast den Unverwundbaren verwundet, den Unüberwindbaren gebunden, den Unverrückbaren herab­gezerrt, den Ewigen sterblich gemacht.“483 Auch in einem Gedicht des John of Howden (gest. ca. 1272) wird Christus als Zielscheibe einer Liebe beschrieben, die die Macht besitzt, durch ihre sanfte Regentschaft den König aller Könige zu zähmen und ihn dadurch zu befähigen, solchermaßen überwunden den Feind zu überwinden.484 Als viertes Beispiel, das in engem Konnex zu jener Motivwanderung des Amor/Cupido zwi­schen weltlicher Minne und geistlicher Liebesmystik steht, soll das Motiv des arbor amoris genannt werden. Zum einen konnte damit jener Baum gemeint sein, auf denen sich (auf Bebilderungen weltlicher Minnetexte) der Gott der Liebe gleich einem Hecken­schüt­zen verborgen hält, um von dort ungesehen und aus dem Hinterhalt seine Opfer zu treffen; doch zugleich konnte der Terminus arbor amoris auch das Kreuz oder einen das Kreuz umrankenden Rosenbaum bezeichnen, der in der Liebe wurzelnd reiche Früchte trägt.485 In den folgenden Jahrhunderten bis zur Reformation wurde dieses Motiv kunstvoll ausge­f ührt, wie etwa das berühmte Beispiel der Zellenausmalung im Kloster des Heinrich Seuse im 14. Jahrhundert belegt.486 Auf einer zeitgenössischen Illustration, die das Motiv des arbor amoris ins Bild setzt, steht Heinrich Seuse als exemplarischer Frommer unter einem von einem vollerblühten Rosenstrauch 482 

Ebd., 264–266. Vulnerasti impassibilem, ligasti insuperabilem, traxisti incommutabilem, eternum fecisti mortalem (Hugo von St. Victor, De laude caritatis, 10 f., zit. ebd., 265, Anm. 41). 484  Tuum, Amor, dulce dominium  / Sic, domat Regem regnantium!  / A te vinci vult Rex vincentium, / Ut sic victus vim vinceat hostium! (John of Howland, zit. ebd., 265). 485  Vgl. ebd., 267 f. 486  Vgl. dazu sehr ausführlich und detailreich die Untersuchung Theben, Lyrik. 483 

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umrankten Kruzifix. Ein kleiner Knabe zu Jesu Linken reicht die Rosen als Symbol der Liebe zu Seuse herab. Unter Seuse, der seine Brust entblößt, und dem Betrachter die Einschreibung des Jesusmonogramms sichtbar macht,487 steht auf einem Spruchband zu lesen: „Du hast mein Herz verwundet.“488 Jene Verwundung des Herzens489 durch die Minne mag als letztes, zentrales Motiv ange­f ührt werden, das beiden Sphären, der weltlichen und der geistlichen Minne, eignete. Die sich nach Christus verzehrende Seele erflehte und beklagte die Verwundung des eigenen Her­zens im gleichen Atemzug wie der um seine Dame werbende Liebende.490 Dabei begegnen wiederum sehr ähnliche Topoi: Christus konnte im Gefolge des Hohe­liedes durchaus als begehrenswerter, schöner Geliebter besungen werden, die Vereini­gung mit ihm auf dem Brautbett als alles andere übersteigende Erfahrung der Lust geprie­sen werden. Doch zugleich sprachen viele mystische Minnetexte aus dem Kontext der Passi­ons­frömmigkeit auch von einer Verwundung des Herzens, die gerade nicht durch die Schau der Schönheit des Geliebten, sondern durch dessen Versehrtheit (wie bei Jes 53) hervor­gerufen wurde.491 An dieser Stelle erwies sich, wie zu zeigen sein wird, die Verehrung der Seitenwunde als Ver­wun­dung durch die passio, als Wunde des Leidens und der Leidenschaft Gottes, in ganz besonderer Weise als anschlussfähig und transformatorisch für die allgegenwärtige The­ma­tik der Minne.

6.2  Von der Liebe durchbohrt: Die Seitenwunde als Zugang zum Minnelager der unio mystica Hatte das 12. Jahrhundert die Minne zum zentralen Thema erhoben und das Herz als „Ans­prech­partner in Diskursen der Liebe“ als vielschichtiges Sym487  Die Einschreibung des Namens der Geliebten war auch im weltlichen Minnediskurs ein geläufiges Motiv; vgl. dazu etwa den Einzelblattholzschnitt des Meister Caspar von Regensburg, Frau Venus und der Verliebte, auf dem u. a. ein mit einem großen „M“ (für „Minne“?) beschriebenes Herz abge­bildet ist, über welchem zu lesen ist: Sy sol mich billich liben Sy ist in mein Hercz gescribe(n). Siehe dazu Wolf, Mausefalle, 136. 488  Vgl. dazu Theben, Lyrik. 489  Da die Verwundung des Herzens in B.6.2 ausführlich beleuchtet werden wird, mögen hier nur kurze Anmer­kungen genügen. 490  Wenn Meister Caspar den Liebenden, dessen Herz auf einem Rost brät (!) sprechen lässt: „Si gipt mir frewd und trost. Dy mein hercz hat uff ainem rost“ so zeigt dies exemplarisch, wie die Verwundung des Herzens als Privileg und süße Strafe zugleich wahrgenommen werden konnte; vgl. Wolf, Mause­falle, 136. 491  Dass die Liebe ihren Weg zumeist über die Augen, die Anschauung des Geliebten nahm, dessen war man sich gewiss; vgl. dazu Newman, Love’s arrows, 280–283. Ein eindrückliches Beispiel für jenen Blick der Liebe, für das Ineinander von Eros und Passion findet sich auf einer Darstellung Christi am Kreuz (niederländisch, um 1480) bei Wirth, Christus, 182 f.: Maria Magdalena als Inbe­griff der reuigen Sünderin und leidenschaftlich liebenden Seele kniet unter dem Kreuz und hält mit ihrem Blick Christus gefangen; Wirth merkt dazu an: „Das demütige Gebet des Gläubigen, der seinen Gott wirklich liebt, führt zu ihm ohne die Mittler­schaft einer ohnmächtigen Kirche.“



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bol492 entdeckt, so lässt sich feststellen, dass die Seitenwunde als Verwundung des Herzens Christi im 13. und 14. Jahr­hundert immer stärker493 in den Fokus der frommen Aufmerksamkeit rückte. Auch hier muss das Hohelied, mithin ein entscheidender Schlüsselvers (Hld 4,9) als eine wich­ tige Inspirationsquelle betrachtet werden: „Du hast mein Herz verwundet, meine Schwe­ster, meine Braut“ (vulnerasti cor meum, soror mea, sponsa). Hatten bereits Origenes und Augustinus494 als eine der ersten über die Verwundung Christi aus Liebe reflektiert, so wandten sich vor allem ab dem 13. Jahrhundert, dass sich intensiv der Hoheliedexegese widmete, immer mehr Theologinnen und Theologen der Seiten­wun­de als Liebeswunde zu. Das überwältigende Interesse an dieser Deutung bildet sich nicht zuletzt durch die Band­brei­te der Orden ab,495 welchen die einzelnen Autorinnen und Autoren angehörten, sowie durch die zahlreichen Spielarten unterschiedlicher Textgattungen und Kunstformen, in welcher die Seitenwunde als Liebeswunde interpretiert wurde. Durchaus unterschiedlich (auch innerhalb eines Text- oder Bildzusammenhanges) konn­ten jedoch auch die Konnotationen sein, die mit dieser Lesart der Seitenwunde verbunden wa­ren. Schließlich ließ sich auch die sich durch die Seitenwunde offenbarende Liebe unter­schiedlich begreifen. Je nachdem, ob man diese Liebe als sich verzehrende Brautminne,496 oder als väterliche, rettende Liebe497 verstand, versinnbildlichte die Seitenwunde als Liebeswunde einmal 492 Der Symbolbegriff ist hier im Sinne Paul Ricœurs verwendet: „Ricœur defines the symbol as a multiple-meaning expression characterized by a hidden logic of double reference. Symbols are like signs in that they intend something beyond themselves. But whereas the sign possesses a relatively obvious and conventional set of denotations, the symbol’s meanings are polysemic, difficult to discern, and virtually inexhaustible in depth“ (Wallace, Introduction, 5). 493  Inwiefern die Zentrierung auf die Passion bei dieser Entwicklung eine wesentliche Rolle spielte, wird in B.7 zu zeigen sein. 494  „Unser Herz hast Du durchpfeilt mit deiner Liebe.“ Sagittaveras tu cor nostrum caritate tua (Au­gusti­n us, Confessiones, 764). 495  Die Fokussierung auf die Seitenwunde als Liebeswunde begegnet über alle Ordensgrenzen hinweg – dies belegen entsprechende Aussagen etwa im Werk des Zisterziensers John von Ford, des Domini­ka­ners Albertus Magnus oder der Begine Mechthild von Magdeburg; vgl. dazu noch ausführlich Walz, Dominikanische Herz-Jesu-Auffassung, 70 sowie Langer, Leibhafte Erfahrung, 458; beide unter­streichen diese Beobachtung ebenso wie die in der vorliegenden Arbeit besonders untersuchten Quellen, die ebenfalls aus verschiedensten Kontexten stammen. 496 Siehe exemplarisch dafür ein Textbeispiel bei Winston, Maria im Rosenhag, 258: „geziert mit den schönen roten Rosen seiner heiligen Wunden, weit offen von der Hitze der Liebe.“ 497  Manche Autoren in der Nachfolge des Augustinus konnten um die vollständige Verwundung ihrer selbst durch die Liebe und damit um die Gleichgestaltung mit dem durch die Seitenwunde gezeich­ne­ten Christus bitten. Dies konnte auch in Abbildungen in Szene gesetzt werden. Augustinus und Bern­hard von Clairvaux als exemplarische Liebhaber Gottes rahmen den auf seine Seitenwunde weisen­den Schmerzensmann und sind selbst durch eine Seitenwunde gezeichnet, die jeweils durch einen Riss in ihrem Habit sichtbar gemacht ist! Vgl. dazu Newman, Love’s Arrows, 272 mit Abb. 4.

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den Zu­gang zum Brautbett der Christusminne, einmal galt sie als Schauplatz und Ausweis der erbar­menden Liebe Gottes.498 Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Quellen499 liefern für beide Varianten zahlreiche Belege. Im Legatus der Gertrud von Helfta wird an mehreren Stellen die Seitenwunde explizit als Liebes­wunde gedeutet. Dabei stellt Caput IV des Buches II (De sanctissimorum vulnerum Domini) einen Sonderfall dar, der hier dennoch angeführt werden soll.500 Denn dort spricht die Theologin nicht von Christi Verwundung aus Liebe sondern von einer Art „reflektie­ren­der“ Verwundung aus Liebe: Gertrud bittet um die Einschreibung der Wunden (Plu­ral!) in ihr eigenes Herz, um auf diese Weise den Schmerz und die Liebe Christi lesen zu können; letztlich sehnt sie sich danach, in gleichem Maße den Schmerz des Mitleidens und die Glut der Liebe in sich zu spüren: Schreibe, barmherzigster Herr, deine Wunden in mein Herz durch dein kostbares Blut, damit ich in ihnen lese deinen Schmerz ebenso wie [deine] Liebe […], damit der Schmerz deines Mitleids in mir erweckt wird und die Glut deiner Liebe in mir entzündet werde.501

Beachtenswert ist das Bild der Einschreibung der Wunden in das eigene Herz und die impli­zierte Metapher, in jenen Wunden wie in einem Buch von der Liebe und dem Schmerz Christi lesen zu können. Diese „Lektüre“ schließlich solle ihre eigenen, innersten Affekte beein­flussen. Auch mit Blick auf ihre eigenen Empfindungen erscheinen ihr die Paralleli­ tät von Schmerz (dolor compassionis) und Liebesglut (ardor dilectionis) besonders wich­ tig. Dieses Ineinander von Liebe und Leid, das Gertrud in der lectio, in der Lektüre der ihr eingeschriebenen Wunden nicht nur akzeptiert, sondern sogar einfordert, erinnert an die geistlichen und weltlichen Minnekonzepte, in denen die Liebe stets als doppelgesichtig, als Ineinander von liebe und leit begriffen wird (vgl. B.6.1).502 Doch neben den eindeutig brautmystischen Assoziationen, die dieser Passus nicht zuletzt durch seine einschlägige Terminologie weckt,503 ist auch 498  Wie

scharf an dieser Stelle die Trennlinien zwischen den verschiedenen Aspekten der Liebe gezogen werden, variiert bei den einzelnen Autorinnen und Autoren stark. 499  Diese sollen auch hier in gewohnter Weise chronologisch bzw. in der Reihenfolge des Quellenteils auf­ge­f ührt werden. 500  Vgl. dazu auch bereits die Ausführungen unter A.2.1.1.2. 501  Scribe, misericordissime Domine, vulnera tua in corde meo pretioso sanguine tuo, ut in eis legam tuum dolorem pariter et amorem […] ut dolor compassionis tuae in me excitetur et ardor dilectionis tuae in me accendatur (Gertrud, Legatus II, C. IV/1, Z. 7 f.). 502  Keller, Gott im Visier, 204 f. konstatiert zur Ambiguität der Minne: „Die beiden Begriffe amor und dolor stehen einander mehr als nur klanglich nahe. Als Bezeichnung für eine Passion bilden sie die Eckpfeiler eines kulturgeschichtlichen Archives. Weltliche und geistliche, lateinische wie volks­sprach­liche Literatur haben es bis zum Bersten gefüllt. Diese eine Passion und dieses eine Archiv haben eine Meisterin: Frau Minne.“ 503  Hinzuweisen sind hier auf Termini wie ardor, dilectio, accendare excitare oder poculum nectarei amoris.



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das Moment der Liebe als Ausdruck des göttlichen Erbarmens und des Mitleids gegenwärtig.504 Auch wenn die Helftaer Nonne an dieser Stelle, in Caput IV, noch nicht explizit die Ter­mi­no­logie der Liebeswunde verwendet, verdeutlicht sie doch die Verknüpfung von Ver­wundung und Liebe, wenn sie um die Einprägung der Wunden Christi ins eigene Herz bittet, um dort die Liebe in ihrer doppelten Bedeutung von Leid und Leidenschaft zu lesen und zu begreifen. Wie eng Gertrud den Konnex zwischen Liebe und Kreuzes- / Her­zens­wun­de denkt, zeigt das sich anschließende Kapitel Caput V (De vulnere amoris).505 In die­sem Passus ist nun tatsächlich von einer Fokussierung auf die Seitenwunde zu spre­chen und der Terminus der Liebeswunde begegnet bereits in der Überschrift. Auch hier fließen brautmystische Elemente und die Verbindung von Gottesliebe und Gottes Erbar­men ineinander. Dem Fürbittgebet einer nicht näher genannten Mitschwester, das von den „Geschossen deiner Liebe“506 spricht und damit in seiner Diktion eindeutig an den Vorstellungskomplex „Christus als Cupido“ erinnert, wobei Christus nicht als unberührbarer Gott, sondern als selbst im Herzen Verwundeter angesprochen wird, verdankt Gertrud sieben Jahre später (sic!) eine außergewöhnliche Vision. Unmittelbarer Kontext ist dabei der Kommunions­empfang, doch das auslösende, visuelle Moment ist eine aufgezeichnete Kreuzes­dar­stel­lung mit Seitenwunde.507 Jene gemalte Seitenwunde ist der Ausgangspunkt eines sonnenstrahlähnlichen, scharfen Pfei­les, der zu oszillieren und freundlich auf ihre Leidenschaft (affectum) zu zielen scheint: Als ich nämlich nach dem Empfang des lebendig machenden Sakramentes zum Ort des Gebetes zurückgekehrt war, schien es mir, als ginge von der rechten Seite des Kruzifixes, das auf ein Blatt gemalt war, gleichsam aus der Seitenwunde, ein Strahl der Sonne aus, der wie ein Pfeil angespitzt war; wie durch ein Wunder wurde dieser 504  Dies erreicht die Autorin durch die Verwendung der einschlägigen Begriffe misericordia und com­passio. 505  Vgl. zur Analyse dieses Abschnittes auch Bangert, Ersehnen, 141–144. 506  Per tuum transvulneratum Cor, transfige, amantissime Domine, cor ejus jaculis amoris tui. Die oben ange­f ührte deutsche Übersetzung folgt Bangert, Ersehen, 142. Bemerkenswert erscheint mir die Formu­lierung, die nahelegt, die Verwundung des Herzens Christi stelle den Ermöglichungsgrund dar, dass jener mit den Pfeilen der Liebe nunmehr Gertruds Herz durchbohre. 507 Vgl. dazu auch ebd., 143. An dieser Stelle lassen die Textzeugen des Legatus verschiedene Schluss­folgerungen zu. Nicht nur Bangerts deutsche Übersetzung (ebd., 142) folgt einer Traditionslinie, wel­che die Lesart in solio (Thronsessel) präferieren und übersetzen somit „ein Kruzifix auf einem Thron­sessel“; dies erscheint mir weniger schlüssig als die in den meisten Manuskripten belegte Form in folio; denn zum einen erscheint eine Darstellung des Gekreuzigten auf einem Thronsessel im Helfta­er Kontext wenig naheliegend, vor allem jedoch suggeriert die Lesart in folio den sehr nahe­liegen­den Gedanken, dass Gertrud ein persönliches Andachtsbuch benutzte und dort, in unmittelbarer und intimer Weise, eine Zeichnung des Kruzifixes mit deutlich hervorgehobener Seitenwunde be­trach­tete, welches letztlich als Impuls ihrer Vision fungierte.

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aus­gedehnt und zusammengezogen und wiederum ausgedehnt; und so ein Weilchen verharrend lockte er mein Empfinden liebkosend an.508

Wie eine unmittelbare Antwort, ja eine direkte Gebetserhörung erscheint diese Vision: Die Bitte um die Verwundung des Herzens durch die Wurfgeschosse der Liebe erfährt ihre Erfüllung! Es ist die Sprache des Hoheliedes und die Bildmetaphorik des Pfeile tra­gen­den Liebesgottes, es ist die Diktion der antiken Liebeslyrik,509 die jene Vision prägt, in der von jenem süßen, liebkosenden Spiel Christi mit der Seele, ja mit Gertruds affectum ge­spro­chen wird. Dieses Erleben stillt jedoch Gertruds Sehnsucht nicht, sondern stachelt sie vielmehr an. Doch erst einige Tage später, als man das Fest der Menschwerdung, der In­kar­nation begeht, findet Gertruds Verlangen sein Ziel: Christus, der unvermittelt an ihre Seite tritt, fügt ihrem eigenen Herzen eine Wunde zu. Der Legatus legt auf das „wie“ dieser Verwundung keinerlei Wert  – das Geschehen selbst wird ebenso wenig beschrieben wie das Resultat, die Wunde selbst.510 Wichtig ist das „warum“ und das „wozu“. Denn die Deu­tung dieses Erlebens gibt Christus selbst und Gertrud scheint das Gehörte wörtlich zu zitie­ren: „Hier fließe zusammen die Aufwallung all deiner Gefühlsregungen dank des Wor­tes: Die Gesamtheit des Vergnügens, der Hoffnung, der Freude, des Schmerzes, der Furcht und all deiner übrigen Gefühlsregungen mögen gefestigt werden in meiner Liebe.“511 Wäh­rend die spiegelbildliche Wunde Gertruds auf Geheiß Christi wie ein Sammelbecken all ihrer widerstreitenden Gefühle fungieren soll, scheint seine eigene Wunde wie ein stabilisierender Gegenpart zu agieren, wie ein haltgebender Wurzelgrund. Dort also die Auf­wallung und das Ineinander der unterschiedlichsten Affekte, hier allein ein affectum, eine Leidenschaft, die alles übersteigt und in sich aufhebt: Die festigende Liebe.512 Der sich nun an dieses visionäre Erleben anschließende Passus führt den Gedanken der Seiten­wunde Christi als Liebeswunde auf sehr besondere Weise weiter. Obgleich die durch Christus zugefügte Wunde ihres Herzens explizit wie eine Erfüllung ihrer Sehn­sucht geschildert wird, reflektiert Gertrud nunmehr 508 

Igitur cum post suscepta vivifica sacramenta, ad locum orationis reversa fuissem, videbatur mihi quasi de dextro latere crucifixi depicti in folio, scilicet de vulnere lateris, prodiret tamquam radius solis, in modum sagittae acuatus, qui per ostentum extensus contrahebatur, deinde extendebatur, et sic per moram durans, affectum meum blande allexit (Gertrud, Legatus II, C. V, 248, Z. 20–250, Z. 6). 509  Darauf verweist etwa das Adverb blande. 510  Beinah lakonisch heißt es dort: „und siehe du tratest wie plötzlich herzu und fügtest meinem Herzen eine Wunde zu mit folgenden Worten […]“ et ecce tu aderas velut ex improviso infigens vulnus cordi meo cum his verbis […] (ebd., 250, Z. 10 f.). 511  Hic confluat tumor omnium affectionum tuarum verbi gratia: summa delectationis, spei, gaudii, dolo­ris, timoris, careterumque affectionum tuarum stabiliantur in amore meo (ebd., Z. 11–15). Zitiert wird hier ein Schriftwort, Eph 3,17, auch wenn in der Vulgata dort andere Lexeme gebraucht werden: in caritate radicati, et fundati. 512  Auch hier scheint der Gedanke der „ordnenden“ Liebe bzw. der Ordnung der Liebe mitzuschwingen.



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potentielle Mittel der Wundheilung. Auch wenn sich Gertrud von Helfta im Folgenden einer Mischung aus volks­medi­zi­ni­scher Abhandlung513 und Liebeszauberratschlägen514 zu befleißigen scheint, verhandelt sie den­noch auf einer tieferen Ebene durch und durch theologische Fragestellungen. Wenn plötz­lich aus ihrem Unterbewusstsein die Erinnerung auftaucht, wie man mit Wunden zu verfah­ren habe und welche Behandlungsmethoden geboten seien – das Bad, die Salbung und der Verband515 – so bedient sie sich zwar unbestreitbar medizinischer Begriff­lich­keiten, doch letztlich verhandelt sie die Sehnsucht nach der umfassenden Hingabe an Gott und die Zielsetzung, alle Gedanken, Worte und Werke aus der Kraft der Liebe in Christus zu lenken.516 Es ist eine hochkomplexe, durchkomponierte Passage, in der leitmotivartig die Liebe des am Kreuz hängenden Herzens durchbuchstabiert wird.517 In einem Dreischritt, der der Trias von Bad, Salbung und Verband korrespondiert, spricht Gertrud von der Glut der un­aus­sprechlichen Liebe ( fervor tam ineffabilis amoris), der Süße der 513  Bangert, Ersehnen, 144 kommentiert diesen Passus folgendermaßen: „Wie sehr sie […] humor­voll die eigene Begrenztheit thematisieren kann, zeigt sich in der Bemerkung über ihre Gedanken zur Wun­den­versorgung. Geradezu selbstironisch spricht sie von der Verwirrung, die sie an eine Art mittel­alterliches Erste-Hilfe-Programm mit der entsprechenden Medizin denken läßt.“ 514 Diese These stützt sich allerdings auf einige wenige Marker im Text: Etwa, wenn Gertrud schreibt, die Ratschläge der nicht näher genannten Schwester, speisten sich aus dem „Liebes­geflü­ster/verliebten Surren“, das deren Ohren zu hören im Stande wären (mentales aures suas […] assuefecit venis amatorii susurri tui) oder wenn sie als Zielpunkt der (medizinischen) Praktiken das unauf­lösliche Anhängen an Christus beschreibt: „und so möge ich dir umso unauflöslicher an­hängen.“ et sic tibi indissolubiliter adhaerem (Gertrud, Legatus II, C. V, 250, Z. 6 f.; 252, Z. 16 f.). 515  „Und sofort fiel es meiner Erinnerung ein, dass ich irgendwann einmal gehört hatte, es sei nötig, Wunden mit einem Bad, einer Salbung und einer Binde zu versorgen.“ Et statim incidit memoriae meae quod quandoque audieram, vulneribus necessario adhibendum lavacrum, unguentum, et ligamentum (ebd., 250, Z. 1–3). 516 „um alle Gedanken, Worte und meine Werke durch die Kraft der Liebe lenken zu mögen.“ ut omnes cogitationes, verba et opera mea ex fortitudine amoris in te dirigerem (ebd., 252, Z. 15 f.). 517  „Denn diese riet, dass ich, indem ich mit beständiger Andacht die Liebe deines am Kreuz hängenden Her­zens erneut bedenke, aus / in der Feuchtigkeit der Liebe, welche die Gluthitze der so sehr unaus­sprech­lichen Liebe hervorgebracht hat, das (Bade-) Wasser der frommen Abwaschung der ganzen Schuld/Beleidigung begreife, und in der Flüssigkeit der Frömmigkeit, welche die Süße der so unschätz­baren Liebe hervorgebracht hat, solle ich die Gnade der Salbung haben, gegen alle Widrig­keit, und auch durch die Wirksamkeit der Liebe, welche die Stärke der so unbegreiflichen Liebe voll­endet, helfe das Band der Rechtfertigung, dass ich alle Gedanken, Worte und meine Werke durch die Kraft der Liebe in dir lenken solle und so dir umso unauflöslicher anhänge.“ Ista namque consuluit ut jugi devotione recolens amorem Cordis tui in cruce pedentis ex humore charitatis quem produxit fervor tam ineffabilis amoris, carperem aquam devotionis in ablutionem totius offensionis, et ex liquore pietatis quam effecit dulcedo tam inaestimabilis amoris, haberem gratitudinem unctionis, contra omnem adversitatem, atque ex efficacia charitatis quam fortitudo perfecit tam incom­pre­hen­sibilis amoris, adesset ligamen justificationis, ut omnes cogitationes, verba et opera mea ex fortitudine amoris in te dirigerem, et sic tibi indissolubiliter adhaerem (ebd., 250, Z. 7–252, Z. 17). Sicherlich mit Bedacht verwendet Gertrud sowohl das Lexem charitas (zweimal) als auch amor (fünfmal).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

unvergleichlich wert­vollen Liebe (dulcedo tam inaestimabilis amoris) sowie der Stärke der un­be­greif­li­chen Liebe ( fortitudo […] incomprehensibilis amoris). Das Bad, so Gertrud, sei in der Abwaschung der Sünde zu begreifen, und in der Flüssig­keit der Frömmigkeit fände sich die heilsame Salbe, wirksam gegen alle Widrigkeit, wäh­rend schließlich der Verband der Rechtfertigung dabei mithelfe, Gertruds ganzes Sein in Christus auszurichten. Auch wenn die Seitenwunde als Liebeswunde nicht immer wieder erneut genannt wird, so ist sie doch gleichsam als Überschrift zu begreifen, sie ist als Signum der Liebe Gegen­stand der theologischen Reflexion  – recolens amorem Cordis tui in cruce pedentis  – die den Deutungshorizont liefert, in dem man die Liebe als Verursacherin der eigenen Liebes­verwundung und zugleich als deren Heilmittel zu verstehen hat! Im vierten Kapitel des Buches IV des Legatus greift Gertrud die Deutung der Seiten­wunde als Liebeswunde noch einmal in besonders eindrucksvoller Weise auf. Eingebettet in eine Vision, in der sie gemeinsam mit dem Lieblingsjünger Johannes am Herzen Jesu ruht, deutet ihr dieser die Heilsnotwendigkeit der Seitenwunde für Gertrud als Repräsen­tan­tin der noch auf der Erde verhafteten Gläubigen. Während Johannes, der alles Irdische be­ reits überwunden hat, auch an der unversehrten, geschlossenen Körperseite die unio mit Christus zu genießen vermag, ist Gertrud auf die Öffnung des Leibes angewiesen, um der überwältigenden Liebe teilhaftig zu werden: Daraufhin fragte sie den seligen Johannes, warum er selbst die linke Seite der Brust des Herrn gewählt, sie (jedoch) auf die rechte gestellt habe? Jener antwortete ihr: „Deshalb, weil ich schon alles besiegt habe und ein Geist mit Gott geworden bin, kann ich genau dort eindringen, wohin das Fleisch sich nicht erstreckt […]. Du jedoch, solange du immer noch im Körper lebst, kannst nicht auf meine Weise das Undurchdringliche durchdringend erforschen. Deshalb habe ich dich an die Öffnung des göttlichen Herzens gestellt, so dass du dort dann um so freier den Trunk der Süße und des Trostes herausziehen kannst, welcher ohne Unterlass für alle sich Verzehrenden her­vor­sprudelnd die Gewalt der göttlichen Liebe im Überfluss ausgießt.“518

Die Seitenwunde erscheint in diesem Passus des Legatus wie ein Liebesquell, der mit un­widerstehlicher Macht die göttliche Leidenschaft den sich danach verzehrenden Men­schen offenbart. Diese Liebe  – auch darin liegt eine Parallele zu vielen weltlichen Minne­tex­ten  – beschreibt Gertrud als ambivalentes Phänomen: Süße und Trost und Gewalt (haustus dulcedinis et consolationis […] ebulliens impetus divini) charakterisieren den Lie­bes­trunk, der aus der Seitenwunde strömt. 518  Tunc ista requisivit a beato Joanne cur ipse laevam partem pectoris Domini praeligens, eam ad dextram colocasset. Cui ille respondit: ‚Ideo, inquam, quoniam ego jam decivi omnia, et unus spiritus cum Deo effectus, penetrare possum subtiliter quo caro non pertingit […] tu vero cum adhuc vivens in corpore non possis pari mihi modo solidiora penetrando investigare: ergo te ad aperturam divini Cordis locavi, ut eo liberius exinde haustus dulcedinis et consolationis extrahere possis, quos sine intermissione omnibus desiderantibus ebulliens impetus divini amoris large profundit (dies., Legatus IV, C. 4, 64, Z. 1–12).



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Die Unmittelbarkeit, die Erfahrbarkeit der göttlichen Liebe beschreibt der Legatus der Ger­trud von Helfta somit immer wieder, in dem er die Seitenwunde gleichsam als Sym­bol, als Anschauungsobjekt dieser Liebe ins Zentrum rückt. Dabei schwingen sowohl ero­ti­sche Formeln der Christus-Minne mit wie auch der Aspekt der sich erbarmenden Liebe. Beinahe zeitgleich zur Helftaer Nonne, wenn auch im südeuropäischen Kontext, besingt die Mystikerin Angela von Foligno die Seitenwunde Christi ebenfalls unter der Über­schrift der Liebe. Die Autorin, die in vielen Passagen des Liber Lelle in Analogie zur welt­lichen Minnelyrik ihre Seele als Spielball in einem süßen und quälenden Wechsel­spiel von Nähe und Distanz beschreibt, die zwischen unaussprechlicher Freude über die Ver­eini­gung mit dem Geliebten und tiefster Verzweiflung über dessen Verlust hin- und her­geworfen wird, findet in der Fokussierung auf die Seitenwunde ihren Ort der über­wäl­ti­genden, alle Zweifel tilgenden Liebeserfahrung. Nach­dem die Mystikerin zunächst zu Beginn der Instructio IV durch den Anblick des ver­wun­deten Passionsleibes mit Leib und Seele selbst „in die Schmerzen des Kreuzes“ ver­wandelt wurde, konzentriert sich nunmehr ihre Vision auf die Seitenwunde. Diese be­schreibt sie als Signum einer evisceratus amor, einer sich zerfleischenden Liebe, die das inner­ ste nach Außen kehrt und all ihren Schmerz in Freude verwandelt. Die Seitenwunde ist in Angelas Vision jedoch nicht nur das Subjekt, sondern auch das Objekt der Liebe. Ange­las „Söhne“, die Bettelmönche, werden von Christus in liebender Umarmung um­fan­gen und Angela ist Zeugin, wie Christus sie seine Seitenwunde küssen lässt: „Siehe, plötz­lich erscheint um jenen gepriesenen und so beklagten Jesus die Menge der Söhne jener heiligen Mutter; der selige Jesus selbst legte diese, die er mit so großer Liebe einzeln umfing und deren Köpfe er beim Küssen streichelte, an die Seitenwunde an.“519 Diese Intimität, dieser Eros der Liebe zwischen Christus und den Menschen findet im Kuss der Seitenwunde ihren Ausdruck. Wenn in der Folge die Mystikerin Zeugin eines graduellen Eintretens der Mönche in die Wunde wird, so setzt sich die Metapher der lie­ben­den unio fort, deren Schauplatz die Seitenwunde darstellt.520 Immer wieder verwendet Angela den Terminus der evisceratus amor, die etwa in Jesu Augen leuchte521 – doch der genuine Ort, an dem das Innerste Gottes 519  ecce subito circa illum benedictum Jesum sic doloratum multitudo fliorum huius sanctae matris apparu­it, quos ipse benedictus Jesus cum tanto amore singulos amplexans, ad vulnus lateris osculan­dum cum manibus eorum strungens capita applicabat (Angela, Ins. IV, Z. 77–79). 520  „Auch schien es ihr, als gäbe es eine große Abstufung in der Umarmung der Söhne und in der Anhef­tung an die Seite, weil er einige mehr, andere weniger hineinstieß, auch einige öfters anheftete, andere aber körperlich innen in sich aufnahm; und es erschien eine Rötung durch rotes Blut, durch welche bei einigen das ganze Gesicht gefärbt wurde je nach den oben beschriebenen Graden.“ Videbatur etiam magnus gradus in filiorum amplexu et applicatione ad latus, quia quosdam plus, quosdam minus infigebat, quosdam etiam saepius applicabat, quosdam vero intus corporaliter absorbebat; appare­batque in labiis rubricatio rubentis sanguinis, quae in aliquibus totam faciem colorabat secun­dum gradus supra expressos (ebd., Z. 83–87). 521  So etwa ebd., Z. 98–102.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

nach Außen tritt, ist die Seitenwunde als Inbegriff und Symbol jener Liebe. Ebenso wie bei Gertrud von Helfta schwingen in Angelas Ausführungen beide Aspekte mit: Die Seitenwunde ist als Liebes­wun­de zu begreifen, insofern sie als Zugang zum Minnelager der unio mystica dient und somit zugleich als Schauplatz der rettenden und erbarmenden Liebe Gottes begriffen werden kann. Auch Ludolf von Sachsen, der die Seitenwunde Christi in seiner Vita Christi unter ganz unter­schiedlichen theologischen Fragestellungen betrachtet, zeichnet in eindrücklicher Wei­se immer wieder die Seitenwunde als Liebeswunde. Dabei ist dieses Deutungs­kon­zept überaus differenziert und vielschichtig. Der Kartäuser greift in den einschlägigen Passa­gen vor allem auf biblische Motive zurück, wobei die intensive Rezeption der Hohe­lied­exegese des Bernhard von Clairvaux in seinen Passionsbetrachtungen der Vita Christi eine besondere Prägekraft zu entwickeln scheint. Anknüpfend an die Bildsprache des Hoheliedes wird die Seitenwunde in Anschluss an Bern­hard als „Höhle im Fels“, als Zufluchtsort für die Liebenden besungen, als Schau­platz der süßen unio. In Rekurs auf Hl 2,3 greift Ludolf das Motiv der Ordnung der Liebe heraus und verbindet es mit weiteren theologischen Diskussionen wie der Frage nach der rech­ten conformatio Christi. In Anklang an die Flutgeschichte des Alten Testaments und der Longinuspassage aus dem Neuen Testament benennt Ludolf die Seitenwunde in einem Atemzug als Pforte des Lebens und der Liebe. Aber auch den unter B.6.1 ange­führten nichtbiblischen Vorstellungskomplex „Christus als Cupido“ und die Verwundung des Herzens durch den Wurfspeer der Liebe variiert er immer wieder neu. Als Offen­ba­rung der göttlichen Liebe, als deren Ausweis und Siegel auf Erden wird die Seitenwunde zur Schnittfläche zwischen der Unsagbarkeit der Leidenschaft Gottes und der Erfahr­bar­keit dieser Liebe für den Glaubenden. Wenn an dieser Stelle noch einmal die einschlägigen Passagen der Passionsbetrachtungen ange­führt werden sollen, so muss betont werden, dass die soeben aufgeführten Aspekte nicht mit einzelnen Zitaten belegt werden können, da Ludolf selbst all jene Vorstellungen und Ausdifferenzierungen nicht voneinander separiert, sondern diese meist eng mit­einan­der verwoben sind. Immer wieder führt der Kartäuser aus, dass Christus die Seitenwunde aus Liebe zu uns empfan­gen habe, dass sie als Zugang und offenstehende Tür zum Herzen Christi diene. Jenes Herz Christi muss als Ort der unio begriffen werden, als Brautbett der Vereinigung von göttlicher und menschlicher Liebe: Die dritte Lehre ist, dass wir unseren ganzen Willen dem göttlichen Willen gleichförmig machen sollen, und dass der Wille Gottes uns in allen Dingen und über allen Dingen willkommen sei: Deshalb wurde das Herz Christi ver­wundet durch die Wunde der Liebe wegen uns, weil ja wir vermittels der erwidernden Lie­be durch die Pforte der Seite zu seinem Herzen hineingehen können und dort all unsere Liebe mit seiner göttlichen Liebe vereinen, so dass sie wie ein mit Feuer glühend heißes Eisen [wieder] zu einer einzigen Liebe gemacht wird. […] Der Mensch möge also eilen, zum Herz



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Christi einzugehen und all seine Liebe zusammenzunehmen und sie mit der gött­li­chen Liebe zu vereinen, indem er in seinem Sinn den voranstehenden Artikel über­denkt.522

Das Eintreten in die Liebeswunde als einem liminalen Grenzbereich ist ein trans­for­mieren­der Prozess: Die unzulängliche menschliche Liebe523 verschmilzt dort in der göttlichen Glut mit der Liebe Gottes in eins.524 Zugleich geht dieser Transformation durch die Liebe (amor) auch ein Transformationsprozess voran, welcher den Willen (voluntas) des Menschen betrifft: Das Gleichförmigmachen des menschlichen Willens an den Wil­len Gottes525 erinnert ebenfalls an die Dynamik einer (idealisierten) Liebes­beziehung, in der sich der Liebende vollständig auf sein Gegenüber einzulassen sucht. Den engen Konnex zwischen der Seitenwunde und der Angleichung des menschlichen Wil­lens an den Willen Gottes greift Ludolf auch an einer anderen Stelle auf und spitzt diesen Gedanken noch weiter zu: „Der Mensch muss aber sein ganzes Wollen dem göttli­chen Willen gleichförmig machen für jene 522  Tertium documentum est, quod nos omnem voluntatem nostram conformare debemus voluntati divi­nae, et quod voluntas Dei in omnibus, et super omnia sit nobis accepta: eo quod cor Christi vulnera­tum est amoris vulnere propter nos, quatenus nos per amorem reciprocum intrare possimus per ostium lateris ad cor ejus, et ibi omnem amorem nostrum ad suum divinum amorem counire, ut sicut ferrum candens cum igne, in unum redigatur amorem. […] Festinet ergo homo intrare ad cor Christi, ac recolli­gat omnem amorem suum, et couniat amori divino, revolvendo in mente sua documenta prae­missa (Ludolf, Vita Christi II, 138, l. Sp., Z. 17–29.50–55; r. Sp., Z. 1–4). Dass Ludolf die voll­ständige Hingabe an Gott, die conformatio an den göttlichen Willen, an einer Stelle (ebd., l.  Sp., Z. 28 f.) in die Metapher des im Feuer verschmelzenden Eisens fasst (ut sicut ferrum candens cum igne, in unum redigatur amorem), nimmt nicht wunder, konnte doch mit dem Symbol des Feuers bzw. mit der Metapher des Eisenschmelzens der Liebesbund zwischen Gott und Mensch beschrieben werden. „Die Feuermetaphorik, sofern als Bund der Liebe verstanden, diente auch zur Beschreibung der Christus-Beziehung, etwa in der Eisenschmelzmetapher. Bei Richard von St. Viktor kann es heißen: ‚Schau den Unterschied von Eisen und Eisen, von kaltem und heißem Eisen, das heißt von Seele und Seele, von der einen lauen Seele und von einer vom göttlichen Brand entflammten Seele. Wirft man ein Eisen in das Feuer, erscheint es anfangs zweifelsohne als schwarz und kalt. Befindet es sich aber eine Weile in der Glut des Feuers, wird es allmählich warm, legt es allmählich seine Schwärze ab und nimmt es, wie es langsam aufglüht, allmählich das Aussehen des Feuers an, bis es am Ende ganz schmilzt, damit es sich selber völlig aufgibt und gänzlich übergeht in eine neue Qualität. Durchaus ebenso wird die vom göttlichen Feuer des Holzstoßes und vom innersten Liebesbrand ergriffene und von der Lohe des Verlangens nach dem Ewigen umstellte Seele zunächst warm und danach glühend, ehe sie dann ganz zerfließt und ihr früheres Wesen völlig aufgibt‘“ (Richard von St. Victor, zit. nach Angen­e ndt, Religiosität, 248). 523  Dass die Liebe des Menschen nicht Voraussetzung der Liebe Gottes ist, sondern im Gegenteil sich dieser verdankt, ist für Ludolf völlig evident. Das potentiell Fragwürdige und Problematische der Gottes­liebe des Menschen, das knapp zwei Jahrhunderte später Martin Luther zu seinem Paradigmen­wechsel veranlasst haben mag, ist hier noch nicht im Blick. Vgl. dazu v. a. Hamm, Gottesliebe, 35–37. 524  ibi omnem amorem nostrum ad suum divinum amorem counire; ac recolligat omnem amorem suum, et couniat amori divino (Ludolf, Vita Christi II, 138, l.  Sp., Z. 26 f.; r.  Sp., Z. 1–3). 525  nos omnem voluntatem nostram conformare debemus voluntati divinae, et quod voluntas Dei in omnibus, et super omnia sit nobis accepta (ebd., l. Sp., Z. 18–21).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Wunde der Liebe, die er am Kreuz für den Menschen empfangen hat, als der Pfeil der unbesiegbaren Liebe sein honigfließendes Herz durchbohrt hat.“526 Die Zuordnung des menschlichen Willens zur Seitenwunde als Liebeswunde macht deut­lich, dass es nicht die Vorstellung eines fernen, richtenden Gottes ist, mit welcher Ludolf seine Leserschaft zur Hingabe an den göttlichen Willen ermuntern möchte, sondern das Bild eines liebenden, menschgewordenen Gottes, dessen Liebe greifbar und sichtbar ge­wor­den ist in seiner Seitenwunde und welcher dem Geliebten aus dem Hohelied der Bibel gleicht. Der ganze Leib Christi spricht dabei beredt von seiner Zuwendung, seiner Nah­bar­keit und doch wird immer und explizit vor allem die Seitenwunde mit dem Stichwort der Liebe verbunden.527 Wenn Ludolf diese Ausführungen unter die Überschrift „die Ordnung der Liebe“ (vgl. Hl 2) stellt und im gleichen Atemzug vom durchbohrenden Liebespfeil528 spricht, so wird einmal mehr deutlich, in welcher Freiheit Ludolf von 526  Ludolf greift hier die Gattung der sogenannten Gliedergebete auf und tastet sich von den Füßen und den Händen zur Seite Christi vor. Auch an dieser Stelle ist die Bedeutsamkeit des Körpers offen­kundig. Die bereits mehrfach angesprochene „Parallelisierung“ der heilungsbedürftigen menschli­chen Gliedmaßen mit dem verwundeten, heilbringenden Körper Christi, lässt sich auch bei Ludolf von Sachsen beobachten. Leidenschaften (affectus) und Werke (opera), gleichsam affectus und effectus, werden mit den verwundeten Füßen und Händen Christi assoziiert, als Klimax erscheint jedoch die conformatio des menschlichen Willens an den Willen Gottes (omnem vero voluntatem suam confor­mare voluntati divinae), welche durch die Seitenwunde, die „Wunde der Liebe“ (pro illo amoris vul­ne­re) ermöglicht und gefordert wird: „Der Mensch muss nämlich all sein Verlangen in Gott gründen und ordnen durch die Liebe Christi: Weil er durch die Füße, durch welche die Leidenschaften ver­standen werden, gekreuzigt wurde; und [er muss] in allen guten Werken sich üben und alle schlechten Werke meiden, durch die Liebe Christi, weil er durch die Hände, durch welche die Werke verstanden werden, gekreuzigt wurde; [er muss] aber sein ganzes Wollen dem göttlichen Willen gleichförmig machen für jene Wunde der Liebe, die er am Kreuz für den Menschen empfangen hat, als der Pfeil der unbesiegbaren Liebe sein honigfließendes Herz durchbohrt hat. Homo enim omnia desideria sua debet fundare et ordinare in Deum, amore Christi: quia pedibus, per quos affectus accipiuntur, est crucifixus; et in omnibus bonis operibus se exercere, ac cuncta mala opera devitare, amore Christi, quia manibus, per quas opera accipiuntur, crucifixus est; omnem vero voluntatem suam conformare voluntati divinae, pro illo amoris vulnere, quod in cruce pro homini accepit, cum invincibilis amoris sagitta cor suum mellifluum perforavit (ebd., Z. 29–43). Das Epitheton „honigfließend“ weckt die Assoziation an Hl 4,11 (Vg.). 527  Alle Gesten, jede Haltung des Christus am Kreuz bezeugt seine Liebe; der Kuss, die Umarmung, die blei­bende Nähe und Freigebigkeit, Zeichen und Beweise der Liebe, die die geöffnete Seite bezeugt: „,Sieh das zum Kuss sich neigende Haupt, die zur Umarmung ausgebreiteten Arme, die Hände durch­bohrt, um reichlich zu geben, die Seite eröffnet, um zu lieben, die Durchbohrung der Füße, um bei uns zu bleiben, die Ausstreckung des Körpers, um sich von oben ganz zu uns herabzuneigen.‘ Soweit Bernhard.“ ‚Vide caput inclinatum ad osculum, brachia extensa ad amplexum, manus perforatas ad largiendum, latus apertum ad diligendum, pedum affixionem ad nobiscum manendum, corporis extensionem ad se totum nobis impendum‘: haec Bernardus (ebd., 140, r. Sp., Z. 32–46). 528  Dieser Verwundung Christi durch den Pfeil der Liebe korrespondiert an anderer Stelle die Verwun­dung des menschlichen Herzens durch den Wurfspieß der Liebe; auch hier rekurriert Ludolf auf einen Vers des Hoheliedes, nämlich Hl 5,9 (Vg.) und zitiert zugleich Augustinus: „Durch diese Lanze der Liebe bittet auch Augustinus, dass sein Herz durchbohrt werde, wenn



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Sachsen ganz unterschiedliche Motive aus der geistlichen und weltlichen Minnelyrik verbindet und in den Dienst seiner theo­logischen Anliegen stellt. Für den Leser ergibt sich durch jene Vielzahl der Motive und Metaphern ein wahrhaft überwältigendes Konzept der Seitenwunde als Liebeswunde mit einer Vielzahl von Facetten und Konnotationen. Die Bezeichnung der Seitenwunde als ostium amoris, als Pforte oder Eingang der Liebe, öff­net einen Zugang zum Herzen Christi, in der die Versöhnung mit Christus, welche durch die Liebe ins Werk gesetzt wird, von den Marterwerkzeugen der Passion bezeugt wird: Durch diese Wunde wie durch eine Pforte der Liebe ist Augustinus eingetreten, als er sagte: „Longinus hat mir die Seite Christi geöffnet durch die Lanze; und ich trete ein – dort ruhe ich sicher. Die Nägel und die Lanze rufen mir zu, dass ich in Wahrheit ver­söhnt bin mit Christus, wenn ich ihn liebe.“529

Die Differenziertheit, mit welcher die Seitenwunde als Liebeswunde durchdekliniert wird, setzt sich in weiteren Passagen fort: So ist die Seitenwunde nicht nur Zugang zum ver­bor­genen Schauplatz der Liebe und Zielpunkt des verwundenden Liebespfeils, sie dient zugleich als sichtbarer Ausweis und damit als greifbares Unterpfand der Liebe Gottes: Um sich gemäß dieses Abschnitts zu formen, erinnere sich der Mensch daran, welch außerordentliche Liebe Christus durch die Öffnung seiner Seite uns gezeigt hat, in welcher er uns eine offenstehende Tür zu seinem Herzen gegeben hat. […] Der Mensch möge auch erwägen, mit welch großer Liebe Christus aus seiner Seite für uns die Sakra­men­te vergossen hat, durch welche wir zum ewigen Leben eingehen können.530 er sagt: ‚Ich bitte dich, Herr, um deiner heilsamen Wunden willen, welche du erlitten hast für unser Heil am Kreuz, aus welchen jenes kostbare Blut hervorströmte, durch welches wir erlöst sind, verwunde diese meine sündige Seele, für die du sogar bereit warst, zu sterben; verwunde sie durch den feurigen und aller­mächtigsten Speer deiner allermächtigsten Liebe. Durchbohre mein Herz mit dem Speer deiner Liebe, damit meine Seele dir sage: Durch deine Liebe bin ich verwundet, so dass aus derselben Wunde deiner Liebe überreichliche Tränen fließen bei Tag und Nacht. Durchstoße, flehe ich, Herr, meinen sehr harten Sinn durch die starke Lanze der frommen Liebe, dass sie tiefer zum Innersten eindringe mit gewaltiger Kraft.‘ Dies [sagt] Augustinus.“ Hac etiam amoris lancea, cor suum perforari Augustinus petiit, dicens: ‚Rogo te, Domine, per illa salutifera vulnera tua, quae Passus es pro salute nostra in cruce, ex quibus emanavit ille pretiosus sanguis, quo sumus redempti, vulnera hanc animam meam peccatricem, pro qua etiam mori dignatus es, vulnera eam igneo et potentissimo telo tuae potentissimae caritatis. Confige cor meum jaculo tui amoris, ut dicat tibi anima mea: Caritate tua vulnerata sum; ita ut ex ipso vulnere amoris tui uberrimae fluant lacrymae die ac nocte. Percute, obsecro, Domine, hanc durissimam mentem meam valida cuspide piae dilectionis, ut altius ad intima penetret virtute potenti.‘ haec Agustinus (ebd., 137, r. Sp., Z. 5–24). 529  Per istud vulnus quasi per ostium amoris Augustinus intraverat, cum dicebat: ‚Longinus aperuit mihi latus Christi lancea; et ego intravi, ibi requiesco sucurus. Clavi et lancea clamant mihi, quod vere reconciliatus sum Christo, si eum amavero (ebd., 138, l. Sp., Z. 43–49). 530  Ad conformandum se huic articulo, rememoretur homo, quam superexcellentissimum amorem Christus in apertione lateris sui nobis ostenderit, in quo nobis aditum patulum ad cor ejus dedit. […] Recogitet etiam homo, quanta caritate Christus ex latere suo nobis profunderit sacramenta, quibus intremus ad vitam aeternam (ebd., Z. 50–55; r. Sp., Z. 4–7). Hier verbindet sich die Rede von der Seiten­wunde als Liebeswunde und als Quellgrund der Sakramente auf

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Einen besonderen theologischen Akzent setzt Ludolf von Sachsen in seiner Rede von der Liebes­wunde, wenn er immer wieder eindrücklich die Gegenseitigkeit, die Spiegel­bild­lich­keit des Verwundetwerdens durch die Liebe beschwört. In der vom Eros durch­drunge­nen Sprache des Hoheliedes fordert Ludolf die gläubige Seele auf, sich wie die Taube des Canticum in die Höhle der Felswand zu flüchten und sich dort in der Liebeswunde von der Liebe verwunden und ermatten zu lassen.531 Auch hier ist es angezeigt, noch einmal an die Ambiguität zu erinnern, die Ludolf nicht müde wird, auszuspielen: Dieselbe Seitenwunde, die für den christlichen Frommen zum Ort der Liebesvereinigung wird, ist zugleich ein Beleg für die vermeintliche „Schänd­lich­keit“ der Juden, für ihren unversöhnlichen Hass auf Christus, den sie nicht nur ermordet, son­dern durch die Seitenwunde als Toten geschändet hätten. Die Seitenwunde als Inbe­griff der Liebe kann im selben Atemzug als Rechtfertigung für Hass und Ausgrenzung miss­braucht werden. Die angeführten Textzeugnisse aus den Passionsbetrachtungen der Vita Christi belegen ohne Frage die große Bandbreite der hermeneutischen Zugänge zur Seitenwunde als Liebes­wunde. Und doch erscheint ein Aspekt besonders wichtig: Wenn Ludolf dem Leser Christus als Geliebten vor Augen stellt, auf dessen geöffnete Seite als Ausweis seiner Liebe verweist und im selben Atemzug den Leser auffordert, sein eigenes Herz dem Schwert der Liebe darzubieten, so folgt der Kartäuser auch hier seinem grundlegenden Leit­prin­zip der conformatio Christi. Das Moment der Erwiderung der Liebe Christi, der Gedan­ke, seiner Liebe nachzueifern, ihn nachzuahmen, ist das wichtigste Movens für die Be­ trachtung der Seitenwunde als Liebeswunde. Noch einmal: Die Seitenwunde begreift Ludolf nicht nur als Ausweis der göttlichen Liebe, sondern stets auch als Einladung und Ansporn, diese Liebe zu erwidern und die doppelte Bedeutung der passio als Leidenschaft und Leiden dabei nicht zu scheuen.532 Das rettende kongeniale Weise: Schließlich habe Christus aus Liebe aus jener Liebeswunde die Sakramente vergossen. 531  „indem du mich in der Zwischenzeit in den Höhlungen des Felsens birgst und in der Höhle der Fels­wand und dadurch, dass du mich mit deiner Liebe verwundest, damit ich durch die Liebe matt werde.“ abscondendo me interim in foraminibus petrae, et in caverna macariae, et vulnerando me caritate tua, ut amore langueam (ebd., 140, r. Sp., Z. 22–25). 532  Die Verwundung des menschlichen Herzens durch Liebe erscheint zum einen als Akt der conformatio, über­dies als angemessene Disposition für den Sakramentenempfang sowie schließlich als Symbol der vera contritio, des wahren Reueschmerzes. Die Thematik der conformatio, der Mimesis Christi, ent­faltet Ludolf wie folgt: „Aus diesem Riss des Herzens Christi, aus welchem geheimnisvoll, wie aus einer Quelle, das Lösegeld unseres Heils reichlich vergossen wurde, wird mit Recht auch unser Herz ver­wundet zum Mitleiden und Lieben, weil hier am meisten sichtbar wird, wie reich bei ihm die Erlö­sung sein wird.“ Ex hac cordis Christi scissione, a cujus arcano, tamquam a fonte, pretium nostrae salutis copiose est effusum, merito etiam ad compatiendum et amandum vulneratur cor nostrum, quia hic maxime apparuit, quam copiosa apud eum redemptio fuerit (ebd., 138, r.  Sp., Z. 39–46). Die compassio Christi ist die einzig angemessene Antwort auf die passio Christi, wobei m. E. in beiden Ter­mini die Ambiguität von Leiden und Leidenschaft/Liebe bzw. von Mitleiden und erwidernder Liebe angelegt ist.

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Moment der göttlichen Liebe, so könnte man mit Blick auf Ludolf ab­schließend festhalten, findet die Seele auf dem Brautbett der unio – und dazu benötigt sie die Anschauung der Seitenwunde als Ausweis der Liebe und Ansporn zur erwidernden Liebe. Leidenschaftliche Liebe und deren stürmische Erwiderung sind auch die Charakteristika, die bei der Darstellung der Seitenwunde Christi im Kontext des fol. 18v des Rothschild Canti­cum (A.2.3.2) ins Auge fallen. Die Seitenwunde ist hier nicht der Aufweis des ein­ge­treten Kreuzestodes, sondern sie wird dem lebenden Christus, dem nackten Geliebten zu­ge­f ügt – nicht durch die Lanze des Longinus, sondern durch den Speer der Liebe, geführt von der Seele. Wenn die minnende Seele diesen Speer auf Christus richtet, ge­schieht dies sowohl im Referenzrahmen des Hoheliedes (Hl 4) als auch im her­meneu­tischen Horizont der einschlägigen antiken Vorstellungsgehalte, die den Betrachtern des Bil­des auch aus weltlichen Minnetexten wohlvertraut waren. Dass der aktive, ver­wun­den­de Part hier nicht Christus oder der personifizierten Liebe, sondern der Seele in der Dar­stellung einer weiblichen Figur zukommt, ist ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass das Zielobjekt nicht das menschliche Herz, sondern die Seitenwunde Christi ist, die ihm nicht im Kontext der Passion, sondern in der persönlichen Begegnung durch die drän­gen­de, verwundende „Passion“ des Menschen zugefügt wird.533 Die minnende Seele des Rothschild Canticum verfolgt Christus beharrlich; das süße Erleiden der Liebeswunde erscheint so unausweichlich wie sein Leiden am Kreuz. Das Moment des Eros, der unmittelbaren Intimität, ist bei der letzten Quelle, die für die Deu­tung der Seitenwunde als Liebeswunde betrachtet werden soll, im Vergleich zu der Dar­stellung im Rothschild Canticum deutlich zurückgenommen. Doch auch auf dem aus dem späten 15. Jahrhundert stammenden Tafelbild „Eucharistischer Schmerzensmann mit Caritas“ (A.2.3.7) begegnet dem Betrachter ein durch seine Seitenwunde gezeichneter Schmer­zens­mann und eine weibliche Figur, die eine Lanze in der Linken hält. Diese Figur jedoch ist nicht die liebende Seele, sondern die Liebe selbst: Caritas. Dies ist umso er­staun­ li­cher, als das Hauptaugenmerk bei dieser Darstellung auf den eucharistischen Deu­tungs­horizont gelenkt wird, da die kniende Frauengestalt einen Kelch in der Rechten hält, der direkt aus der Seitenwunde gespeist wird. Eine Identifikation der Frau mit der ecclesia wäre somit weitaus erwartbarer. Doch offenbar lag dem Künstler des Kölner Tafelbildes der Konnex zwischen Seiten­wun­de und Liebe so sehr am Herzen, dass er diese in Szene setzte und der Frauengestalt neben dem Kelch auch die verwundende Lanze in die Hand gab. Dabei konnte er wohl davon aus­gehen, dass seine Betrachter durchaus an wesentlich drastischere Darstellungen der Begeg­nung zwischen Christus und der Liebe gewöhnt waren, an 533 

Weitere bildliche Quellen für das Motiv des durch eine Frau bzw. Frau Seele verwundeten Christus bietet etwa Keller, Gott im Visier, 216–224 mit Abb. 4–6.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Darstellungen, in denen Chri­stus in beinahe bestürzender Weise von der Liebe buchstäblich erdolcht wird!534 Allein der Blick auf das begrenzte Quellenmaterial zeigt, in welcher Vielstimmigkeit spät­mittelalterliche Frömmigkeitstheologie in Text und Bild den Zusammenhang zwi­schen der Liebe und der Seitenwunde besingen und explizieren konnten! In der Sei­ten­wun­de Christi konnten die unterschiedlichsten Konnotationen von amor, caritas und eros auf­ge­hoben und verankert werden. Von der Liebe durchbohrt begriff man sie als sicht­bares, körperliches Zeichen einer von Christus erlittenen Liebe, die ihn sogar als passives Ob­jekt einer stürmisch minnenden Menschenseele zeichnen konnte! Im selben Atemzug je­doch konnte sie beredet Zeugnis ablegen von der alle menschliche Liebe über­steigenden Liebe Gottes, welcher der Mensch sich in die Arme werfen durfte. Und zuletzt musste der Fromme sie auch als Einladung und Aufforderung verstehen, sich im Stre­ben nach der conformatio Christi auf die Doppelbedeutung der passio535 einzulassen und sein eigenes Herz verwunden zu lassen als angemessene Antwort auf das Passions­ge­schehen in seiner doppelten Bedeutung von Leid und Leidenschaft.

7  Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi 7.1  Niedrigkeit und Nähe – die Passionsfrömmigkeit als Theologie der Erreichbarkeit Gottes Haec mea sublimior interim philosophia, scire Jesum Christum, et hunc crucifixum.536

Dass die Fokussierung, genauer die „normative Zentrierung“ auf die Passion537 Christi als wichtigstem Inhalt des christlichen Glaubens und prägendstem Ge534  Die unmittelbare Begegnung zwischen Christus und der Liebe, in welcher letztere als Verursacherin der Seitenwunde dargestellt wird, zeigt etwa eine Glasmalerei des Kloster Wienhausen um 1320. Eine mit einem Schriftbanner als caritas identifizierte weibliche Gestalt umhalst Christus mit ihrer Linken, mit ihrer Rechten führt sie einen Dolch, den sie Christus in die Seitenwunde sticht. Eine Abbildung die­ses Glasfensters findet sich bei Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 495 (Abb. 453). Die anderen Tugen­den neben caritas, die ebenfalls personifiziert dargestellt und jeweils durch ein Schrift­banner bezeichnet werden, sind iusticia, pax, misericordia und veritas. 535  Vgl. dazu Keller, Gott im Visier, 216 und Hamburger, Canticles, 72. 536  Ludolf, Vita Christi I, Prooemium, 4,6. 537  Der Abschluss dieses Passionskapitels versteht sich als genuine, ja zwingende Ergänzung des Kapitels B.6. über die Zentralstellung der Liebe, schwingt doch im Begriff der passio stets beides mit: Leiden und Leidenschaft, eros und thanatos. Zu der den heutigen Leser bisweilen irritierenden Ambivalenz vgl. nur Angela von Folignos Schilderung, sie habe sich selbst in der Passion eingeschlossen und dort – nicht jedoch in den Predigten der Priester! – habe sie die glühende Gottesliebe erfahren; vgl. dazu Angela, Mem. I, Z. 205–207.

7  Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi



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halt der Frömmig­keits­praxis für das ausgehende Mittelalter zu betrachten ist, ist nicht zuletzt dank Berndt Hamm mittlerweile Konsens. Die Versenkung in das Leiden Christi kann wohl ohne Zwei­fel als das „Herzstück der spätmittelalterlichen Frömmigkeit“538 bezeichnet werden. Durch zahlreiche fromme Praktiken, theologische Abhandlungen, mystisches Erleben, bild­liche und performative Darstellungen und Nachvollzüge versuchte man das zentrale Heils­ge­schehen der Vergangenheit zu vergegenwärtigen, es mit „den Augen des Herzens zu schauen“,539 zu memorieren (memoria passionis) und es im Miterleiden der Passion (com­passio) zu imitieren (imitatio). Berndt Hamm betont den zentralen Stellenwert der memo­ria passionis im Heilskonzept des spätmittelalterlichen Glaubensweges als Initial­zündung für eine Existenz, die auf Erbarmen und göttliche Gnade ausgerichtet ist: Passi­on meint Erbarmen Gottes, das aus Liebe kommt und Liebe hervorruft; die so geweckte Gottes­liebe des Menschen ist zugleich Demut, Hoffnung und wahre Buße; Buße bekundet sich in Reue und Tränen, Gebet und Beichte, Genugtuung und Verdienst; dieser durch die Sakramente getragene oder begleitete Bußweg ist Nachfolge Christi im Kampf gegen die Verlockun­gen des Satans; Nachfolge Christi beginnt mit der Passionsbetrachtung.540

Das Durchbuchstabieren der Passion im eigenen Leben sollte dem Frommen dazu dienen, in angemessener Weise Christus als nahbares Gegenüber zu umfangen und ihm in seiner Nied­rig­keit nachzufolgen.541 Es ist wohl als Proprium des ausgehenden Mittelalters zu verstehen, wenn dies als ganz­heit­liches Unterfangen des Menschen als Wesen mit Leib und Seele begriffen wurde. Somit bewegte sich die Antwort des Christen auf die Passion Christi sowohl auf der Ebene des affectus (im innerlich empfundenen Mitleiden der compassio und der inneren memo­ria) als auch auf der Ebene des äußeren effectus, da man zugleich nach tätiger Nach­ah­mung (imitatio) und Angleichung (conformatio) strebte, wie dies etwa Ludolf von Sach­sen in Zitation des Jordan von Quedlinburg von seinen Lesern pointiert einforderte: „Be­trach­te eingehend das Vorbild der Passion des Herrn, indem du es dir durch herzliches Mit­leid innerlich einverleibst und handle gemäß jenes Vorbilds, indem du das selbe 538 So

Elze, Züge spätmittelalterlicher Frömmigkeit, 396. Vgl. den programmatischen Titel des Artikels von Schuppisser: Schauen mit den Augen des Herzens (Schuppisser, Schauen). 540  Hamm, Zentrierung, 179. Lentes, Inneres Auge, 180 f. verweist darauf, dass die memoria passionis auf innere Bilder angewiesen sei; die Wundenbetrachtung sei dabei ein hervor­ra­ gen­des Mittel, das innere Sehvermögen zu schärfen (ebd., 182). Siehe auch insgesamt Hamm, Gottes­liebe; ders., Wollen und Nicht-Können; ders., Gottes gnädiges Gericht. 541  So ermahnt etwa Angela von Foligno ihren Schreiber, weniger nach Wissen als nach demütiger Nach­ahmung der Niedrigkeit Christi zu streben; vgl. dazu ausführlich A.2.1.2.2. Noch Martin Luther verband die Hinwendung zum Leiden im Kontext der Mystik mit der Sehnsucht nach dem Heil; vgl. dazu Kristeva, Holbein’s Dead Christ, 252: „a mystical call to suffering as a means of access to Heaven.“ 539 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

wirk­sam nachahmst.“542 Beherzigung, ja Einverleibung und wirksames Handeln nach außen konnten nicht voneinander getrennt werden! Dabei waren die Mittel und Wege, dieses Ziel zu erreichen, ganz unterschiedlich und wurden durch den jeweiligen Bildungshorizont, den soziokulturellen Kontext und die religi­öse Prägung beeinflusst. Was Johan Huizinga in seinem einflussreichen Buch „Herbst des Mittelalters“ in abschätzigem Tenor als „höchst sinnliche Darstellung der Got­tes­liebe“ brandmarkt,543 nämlich die Praktiken der einfachen Leute, die Passion in ihrem (Arbeits-) Alltag zu vergegenwärtigen, könnte ebenso gut wertfrei, ja meines Erachtens als eine gleichwertige religiöse Praxis der Christus-Mimesis neben anderen gewür­digt werden: Der Geist jener Zeit war so erfüllt von Christus, daß schon bei der gering­sten äußerlichen Ähnlichkeit irgendeiner Handlung oder eines Gedankens mit des Herrn Leben oder Leiden der Christuston unmittelbar zu erklingen begann. Eine arme Nonne, die Brenn­holz für die Küche herbeiträgt, meint, daß sie damit das Kreuz trägt: die bloße Vor­stellung des Kreuztragens genügt, um die Handlung in den Lichtglanz der höchsten Liebes­tat zu tauchen. Das blinde Weiblein, das wäscht, hält Zuber und Waschküche für Krippe und Stall.544

Mit Peter Dinzelbacher möchte ich von einer Durchdringung des All­tags durch das Einmalige sprechen,545 dem jedoch auch durch und durch spektakuläre Nach­vollzüge der Passion Jesu zur Seite standen, wie etwa die Passionsperformanz der Elisa­beth von Spaalbeeck belegt. Was hier im 13. bis 15. Jahrhundert zur Blüte kam, hatte frei­lich eine lange und weitverzweigte Entwicklungs- und Entstehungsgeschichte, die hier nur ganz knapp und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit skizziert werden soll. Die Anfänge der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit sind bereits im Hoch­mittel­al­ter zu finden. Nach einem Jahrtausend, das „vor einer konsequenten Vergegenwärtigung der vollen Menschlichkeit Christi zurückgeschreckt war“, entwickelte sich nunmehr eine „ver­än­derte […] Sensibilität für Menschlichkeit und Leiden Christi“.546 Hatte es zwar bereits in der Alten Kirche und im Frühmittelalter immer wieder vereinzelt „An­nä­herung[en] an die Passion“ gegeben, so lässt sich erst im 10. und 11. Jahrhundert, vor­rangig im Umfeld des Reformmönchtums bei Theologen wie Odo von Cluny, Anselm von Canter­bury, 542 Jordan von Quedlinburg, zit. nach Ludolf, Vita Christi II, 570: Inspice exemplar dominicae passio­nis, ipsam tibi per intimam compassionem visceraliter incorporando, et fac secundam illud exemplar, ipsum efficaciter imitando. Auf die einschlägige Wortwahl aus dem semantischen Feld körper­be­zo­ge­ner Termini muss sicher nicht eigens verwiesen werden. 543  Dass Huizinga das Adjektiv „sinnlich“ hier wohl schwerlich positiv, d. h. im eigentlichen Wortsinn ver­wendet, ist wohl keine Unterstellung. Auf die tendenzielle Abwertung und Geringschätzung dieser Prakti­ken durch Huizinga deutet bereits dessen Überschreibung durch den Titel des Kapitels hin: „Reli­giöse Erregung und religiöse Phantasie“; vgl. Huizinga, Herbst. 544  Ebd., 202. 545 Vgl. Dinzelbacher, Handbuch, 78. 546  Vgl. ähnlich Köpf, Passionsfrömmigkeit, 722.725.

7  Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi



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Johannes von Fécamp und Petrus Damiani eine Frömmigkeit entdecken, die die Passion Christi zum „wichtigsten Thema christlicher Frömmigkeit überhaupt“ erhob, und die sich „ausschließlich oder hauptsächlich auf das körperlich-seelische Leiden und den Tod Jesu Christi konzentrierte“.547 Auf der Grundlage eines fundamental veränderten Christusbildes begegnete der Gläubige nun­mehr einem „berührbaren“ Gott.548 Diese Entwicklung fasst Berndt Hamm pointiert zusammen: [Dies ist] der oft beschriebene Wandel des Christusbildes vom triumphalen gött­lichen Weltenherrscher hin zum menschgewordenen Erlöser, der dem armen, elenden Men­ schen als Kind in der Krippe und Passionsheiland gleich wird und ihn als minnevoller Bräu­ti­gam liebevoll umfängt […]. Gott erweist sich als der unendlich Liebende und Erbar­mensreiche, indem er sich in die größte Niedrigkeit seiner Kreatur herablässt und ihrer Not schützend nahe ist.549

Die Niedrigkeit und Nähe Gottes zu vermitteln und ihren Lesern ans Herz zu legen, galt nunmehr das Hauptaugenmerk zahlreicher Mystikerinnen, Theo­lo­ gen und Künstlern. Man könnte dabei von zwei Aspekten sprechen, die untrennbar miteinander verwoben waren. Die Passionsfrömmigkeit, in der der „Passionschristus als normative Zentral­ge­stalt“, als Repräsentant der Barmherzigkeit Gottes allgegenwärtig war,550 war somit eine „Hin­wendung zum Menschgewordenen“551 oder von der anderen Seite betrachtet: die „ver­brei­tete Zentrierung der spätmittelalterlichen Religiosität auf Passion, Barm­herzig­keit und Vertrauen hin“552 ist nicht ohne jene gewandelte Christologie zu denken. Als der womöglich wichtigs547 

Vgl. ebd. sowie ders., Passion Christi, 25–28. Vgl. dazu ders., Passionsfrömmigkeit, 727 f.; Hamm, Gottesliebe, 24 f. und Swanson, Passion, 1. In eindrücklichen Worten lässt Ludolf von Sachsen den verwundeten Passionschristus dessen Nähe zum Frommen beschreiben und darin dessen eigenes Nahesein zu ihm einfordern: „Oh Mensch, be­denke, wie viele und große [Dinge] ich für dich erlitten habe: Als du feindlich mit meinem Vater gewe­sen bist, habe ich dich versöhnt, als du wie ein verlorenes Schaf umhergeirrt bist, habe ich dich gesucht und auf meinen Schultern getragen und habe dich meinem Vater zurückgegeben. Mein Haupt habe ich den Dornen ausgesetzt, meine Hände den Nägeln entgegengestreckt, mein Blut für dich ver­gossen, meine Seele für dich hingegeben, um dich mit mir zu vereinen; und du trennst dich von mir? Kehre um zu mir, und ich werde dich aufnehmen.“ O homo, recogita qualia et quanta pro te Passus sum: cum esses inimicus Patri meo, reconciliavi te; cum tamquam ovis perdita oberrares, quaesivi te, et in humeris meis portavi te, et Patri meo te reddidi. Caput meum spinis opposui, manus meas clavis objeci, sanguinem meum pro te fudi, animam meam pro te posui, ut jungerem te mihi; et tu divideris a me? Convertere ad me, et ego suscipiam te (Ludolf, Vita Christi II, 139, l. Sp., Z. 29–41). 549  Hamm, Die „nahe Gnade“, 545. 550 Vgl. ders., Normative Zentrierung, 172. 551  Angenendt, Religiosität, 537 sowie auch Bynum, Jesus as Mother, 129. 552  Ebd., 197. Dass in dieser Theologie des für uns leidenden Christus oftmals als dunkler Unterton ein expliziter Antijudaismus mitschwang, begründet durch die vermeintliche Verantwortlichkeit „der Juden“ am Kreuzestod, wurde bereits mehrfach betont; vgl. dazu etwa Cohen, Christ Killers, 119–122. 548 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

te Impulsgeber dieses Paradigmenwechsels vom gestrengen Rich­ter (iudex) zum Tröster, der seine Wunden zeigt und die damit einhergehende Konzen­tration auf die Leidensgeschichte muss Bernhard von Clairvaux erachtet werden.553 Dieser tiefgreifende Wandel, die neuartige theologische Reflexion, die maß­geb­ lich durch Bernhard angestoßen wurde, wurde auch durch die bildende Kunst reflek­tiert: Die bis ins 12. Jahrhundert dominierende Form der Christusdarstellung, welche Jesus „in harmonischer Körperhaltung und mit ruhigem, zuweilen sogar lächelndem Ge­sichts­ausdruck, gleichsam als Überwinder von Schmerz und Tod“ darstellte, wich im 13. Jahr­hundert einer Bildform, die das Leiden Christi am Kreuz als zentrale Aussage begriff und dieses in vielen Details ausgestaltete.554 Jene Bilderflut des Lei­dens korrespondierte somit dem Anspruch Bernhards. Die Betrachtung der Passion, so der Zisterzienser in seiner Auslegung von Hl 1,12, solle jedem Frommen so unmittelbar am Herzen liegen wie das Myrrhenbündel am Busen, wie der Geliebte.555 Die intensive Verknüpfung zwischen Passionsreflexion und der Semantik des Hoheliedes ist alles andere als zufällig: Der Zisterzienser propagierte nicht nur ein gewandeltes Christusbild, sondern trug auch dazu bei, einen veränderten Diskurs über Grund und Ur­sa­che des Leidens Christi zu etablieren. Bernhard gilt als der „große Bahnbrecher für die Zentral­stellung der Liebe“556 der „[…] die ‚leidende und mitleidende Liebe‘ des Erlösers als Grund seiner Passion“557 betrachtete. In Übereinstimmung mit seinem „Gegenspieler“, dem prominenten Vertreter der scholastischen Theologie, Abaelard (1079–1142), sah Bern­hard den wesentlichen Grund für die Menschwerdung und die Passion Christi […] nicht mehr wie wenige Jahrzehnte vorher Anselm von Canterbury (1033–1109) in der ver­letzten Ehre Gottes, die Genugtuung (satisfactio) verlangt, sondern in der sich schen­kenden Liebe Gottes zum Menschen.558

Bernhard stellte dabei das ganze Leben Jesu unter den „Leitgedanken von Leiden und Kreu­zes­tod“.559 Ulrich Köpf merkt dazu an: Mit dieser Konzentration auf Schwäche und Lei­den des Menschen Christus ist Bernhard zum Begründer einer Passionsfrömmigkeit im eigentlichen Sinne geworden. Sein Umgang mit der Passion Christi ist in hohem Maße affek­tiv-emotional […]. Seinen Zugang zum Menschen Christus gewinnt Bernhard durch das Meditieren […] der 553 Vgl.

Angenendt, Religiosität, 138. Vgl. dazu Köpf, Passionsfrömmigkeit, 727 f. 555  Die wirkungsgeschichtlichen Verbindungslinien dieses Sermon 43 bis hin zu Martin Luther beschreibt Elze, Züge spätmittelalterlicher Frömmigkeit, 396. 556  Hamm, Gottesliebe, 23. 557  Mohr, Mitleid, 356. 558  Hamm, Gottesliebe, 24. Dieser erstaunliche Paradigmenwechsel steht wohl auch im Zusam­men­hang mit einer Tendenz der Verinnerlichung, die sich im 12. Jahrhundert abzeichnete; vgl. dazu ebd., 24 f. 559  Köpf, Passionsfrömmigkeit, 725. 554 

7  Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi



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einzelnen Leiden und Nöte und weist damit aller künftiger Passions­betrachtung den Weg.560

Dass bei Bernhard von Clairvaux eine wechsel­sei­tige Befruchtung zwischen dem Bemühen seiner Zeitgenossen, das Heilige Land wieder in Besitz zu neh­ men und dem wachsenden Interesse an der „realen Gestalt des menschlichen Lebens Jesu Chri­sti“561 stattgefunden haben mag, sei an dieser Stelle zumindest kurz erwähnt, da zahl­reiche Passionstraktate der Zeit wie eine Art Reiseführer oder eher „virtuelle Ersatzreise“ ins Heilige Land anmuten. Das Leiden Christi als Gegenstand der Frömmigkeit sollte auch bei anderen bedeutenden Theo­logen der kommenden Jahrzehnte seine Zentralstellung beibehalten: Aelred von Rievaulx, ein Schüler Bernhards, sah, der Tradition seines Lehrers folgend, die ent­schei­den­de Wegmarke im Kreuz und Leiden Christi.562 Er gilt zudem als der erste, der die memoria Vitae et passionis Christi weiter ausgeformt und systematisiert hat.563 Die Passionsfrömmigkeit des 13. Jahrhunderts erhielt durch Franziskus von Assisi einen ein­zig­artigen Impuls, der auch künftige Generationen nachhaltig beeinflusste.564 Die Stig­ma­tisierung, die Franziskus empfing, war gleichsam die somatische Inskription und letzter Ausdruck seiner aktiven Leidensnachfolge in der memoria passionis.565 Auch Bo­na­ventura stellte in seinen Schriften, wie etwa in seinem einflussreichen Werk Lignum Vitae die Passion Christi ins Zentrum seiner Theologie.566 In den seit dem 13. bis ins 16. Jahrhundert weit verbreiteten zahlreichen Passionsspielen fand die Leidensgeschichte Christi den Weg auf eine öffentliche Bühne und erreichte auf diese Weise auch all jene Menschen, die keinen Zugang zu Passionsliteratur oder bild­ li­ chen Darstellungen hatten und ermöglichte so ein kollektives Nachempfinden der Passi­on.567 Weitere entscheidende Impulse gingen von der dominikanische Frömmigkeit aus, zumal von Heinrich Seuse und der mit dem Dominikanerorden verbundenen religiösen Frauen­be­wegung.568 Der Individualität der einzelnen Autorinnen und Autoren entsprechend findet sich hier eine Flut unterschiedlichster Medien: Neben literarischen Formen wie etwa Passions­ ge­ dichten und -liedern, Traktaten 560 Ebd.,

726. Fraling, Passionsmystik, 395. 562  Vgl. dazu Köpf, Passionsfrömmigkeit, 726. 563 Vgl. Angenendt, Religiosität, 537. 564  Vgl. ebd. 565 Vgl. Köpf, Passionsfrömmigkeit, 726. 566  Vgl. ebd. 567  Vgl. dazu A.2.2.2. 568 Vgl. Angenendt, Religiosität, 537  f. sowie zur herausgehobenen Bedeutung der memoria passio­nis in der Frauenmystik Ruh, Mystik (Bd. 2), 523. Zu den besonderen Akzenten der Passionsmystik des Heinrich Seuse vgl. etwa Haas, Sinn, 94–112, der etwa festhält, Seuse habe Jesu Aufsichnehmen des Schmerzes als Reintegration desselben in „Angemessenheit und Schön­heit“ begriffen und daraus seine eigene Nachfolge Christi als Notwendigkeit erkannt (vgl. ebd., 111). 561 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

und Predigten nutzte man auch Bilder, Schau­spiel und körperliche Mimesis, um das Passionsgeschehen zu vergegenwärtigen.569 Neben dem „liturgischmeditative[n]“ Umgang mit der Passion bildete sich hier in beson­derer Weise ein „imitativer“ Zugang zum Leiden Christi aus.570 Die einschlägigen Texte von oder über Frauen, die für die vorliegende Arbeit besonders berücksichtigt wurden – das Liber Lelle der Angela von Foligno, der Legatus der Gertrud von Helfta und die Auf­zeich­nungen über Elisabeth von Spaalbeeck – sind auf ihre je eigentümliche Weise Belege für die imitative, oft unmittelbare und somatische Beschäftigung mit der Passion Christi sowie für die Tendenz der vollständigen Konzentration auf die Leidensgeschichte Jesu.571 Für das Kloster Helfta und insbesondere für Gertrud lässt sich eine dezidierte Fokussie­rung auf die Passionsmemoria konstatieren.572 Doch auch in Orden des älteren Mönchtums und in dem 1048 durch den heiligen Bruno ge­ grün­ deten Kartäuserorden spielte die memoria passionis eine zentrale Rolle. Dies zeigt sich nicht zuletzt bei Ludolf von Sachsen. Wenn der Kartäuser im Vorwort der ein­schlä­gi­gen Leben Jesu-Darstellung des ausgehenden Mittelalters die Erkenntnis Christi als Ge­kreuzigten als seine Form der alles andere übertreffenden Philosophie bekennt, so traf er damit zweifellos den Nerv seiner Zeit: „Dies ist unterdessen meine erhabenere Philo­so­phie: Christus kennen, und diesen als den Gekreuzigten.“573 Den Primat der Passion zu pro­klamieren, durfte in Ludolfs Gegenwart des 14. Jahrhunderts auf ein breites Echo hoffen; zugleich ist diese Proklamation als eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit und die Tradition zu verstehen: als direktes Zitat der paulinischen Kernaussagen aus Gal 6 und 1 Kor 2 sowie als Zitat des Bernhard von Clairvaux, der sich 200 Jahre zuvor zu diesem Axiom bekannt hatte.574 Ludolf, welchem die Inanspruchnahme der theologischen Autoritäten Anselm, Bernhard oder Augustinus äußerst wichtig war, leitete seine Zeitgenossen dazu an, sich dem leiden­den Christus zuzuwenden, um in dessen Niedrigkeit und 569 Vgl.

Dinzelbacher, Passionsmystik, 1771; ähnlich Köpf, Passionsfrömmigkeit, 733–735. 570  Vgl. ebd., 727. 571  Zu Angelas radikaler Hinwendung zum Kreuz Christi vgl. A.2.1.2.1. Angela besingt das Kreuz Christi als ihre Ruhestätte: „Ich lobe dich, geliebter Gott, in deinem Kreuz habe ich mir mein Bett gemacht.“ Laudo te Deum dilectum, in tua cruce habeo factum meum lectum (Angela, Mem. IX, Z. 104 f.). In ihrer Hinwendung zur Gottesmutter und dem Lieblingsjünger Johannes als innere Weggefährten auf den Etappen der eigenen Passionsvergegenwärtigung ist Angela ebenfalls ein typisches Kind ihrer Zeit. Gerade im Fall der Elisabeth von Spaalbeeck wird sichtbar, in welchem Ausmaß die kanonischen Schilderungen der Leidensgeschichte Jesu nicht nur gedanklich, sondern auch performativ durch zahlreiche individuelle Ausgestaltungen erweitert werden konnten. 572  Vgl. dazu ausführlich A.2.1.1.2 sowie Bangert, Demut, 305. 573  Ludolf, Vita Christi I, Prooemium, 4,6. 574  Angenendt, Religiosität, 537.



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erlittener Menschheit die Herr­lichkeit Gottes zu erkennen.575 Bei Ludolf lässt sich exemplarisch für das gesamte ausgehende Mittelalter aufzeigen, in wel­chem Ausmaß passio immer zugleich als Leiden und leidenschaftliche Liebe gedacht und verstanden wurde. So beschreibt er Christus etwa als „mit den Nägeln unbesiegbarer Liebe“576 ans Kreuz geschlagenen. Diese Liebe forderte, ja provozierte eine Erwiderung des Menschen. Es galt, diesen blutenden und leidenden Gott als ein „stimulus to human love“577 zu begreifen. Die Haltung der compassio war stets nicht nur die Einwilligung, das Leiden Christi nachzuempfinden, sondern sich verwunden zu lassen, durchlässig zu wer­den für Leidenschaft und Gegenliebe.578 Die Versenkung in die Passionsgeschichte führte zur Erkenntnis der vorauseilenden Liebe Gottes, auf die unsere Liebe und unser Mitleiden579 nurmehr eine Antwort sein kann, wie es etwa Ludolf von Sachsen formuliert: „Die Liebe Gottes ist also der Grund für unsere Lie­be und nicht umgekehrt: nämlich nicht, weil wir Gott lieben, liebt er uns, sondern weil er uns liebt, lieben wir ihn und auch den Nächsten.“580 Das Ineinander von Leiden und Liebe, von thanatos und eros zieht sich wie ein Cantus firmus durch zahlreiche Passionsbetrachtungen. Der Mensch, der sich in das Leiden Chri­sti versenkte, fand sich dort oft genug dem minnenden Bräutigam gegenüber und sich selbst in der Rolle der zum Leiden bereiten, liebenden Braut:581 575 Dies betrachtet Conway, Vita, 132 in seiner Analyse der Vita Christi als zentrales Grundaxiom der Theo­logie der Passionsbetrachtungen des Ludolf von Sachsen: „Unless one shares in the suffering of Christ’s manhood, one cannot hope to share in the joy of Christ’s divinity.“ 576  „[D]eswegen wollte unser Erretter, um jenen Schuldbrief zu tilgen, an Händen und Füßen an das Holz des heilbringenden Kreuzes geschlagen werden mit den Nägeln der unbesiegbarsten Liebe.“ ideo Salvator noster, ut chirographum illud deleret, manibus et pedibus ligno salutiferae crucis affigi voluit clavis invictissimae caritatis (Ludolf, zit. nach Baier, Passionsbetrachtungen [Bd. 3], 521, Anm. 32). 577 Vgl. Bynum, Jesus as Mother, 133. 578  Siehe dazu die bei Angenendt zitierten Texte der Mechthild von Magdeburg, in denen passio sowohl mit der Bedeutung „Leiden“ als auch „Leidenschaft“ konnotiert scheint. Vgl. Angenendt, Religiosität, 142.539 f. Zahlreiche Quellentexte, die diese Beobachtung belegen, finden sich auch bei Caroline Bynum, wie zum Beispiel die Vision der Dichterin Hadewijch, in welcher sie vollends mit dem Bräutigam Christus verschmilzt oder ein Textauszug aus der Vita der Alix von Schaerbeck, die als Braut Christi in der „Schlafkammer ihrer Seele mit [Gott] tändel[t] wie in einem bräutlichen Gemach“; beide Texte stammen aus dem 13. Jahrhundert. Vgl. Bynum, Fragmentierung, 109 f.121. Zum Phänomen der „Jesusminne“ vgl. auch Hamm, Gottesliebe, 22; sowie Dinzelbacher, Liebe, 1965–1968. 579 Zum compassio-Begriff vgl. auch Mohr, Mitleid, 356. 580  Dilectio ergo Dei causa est dilectionis nostrae, sed non e converso: non enim quia nos diligimus Deum, diligit nos; sed quia diligit nos, diligimus eum, et quia eum, et proximum (Ludolf, zit. nach Baier, Passionsbetrachtungen [Bd. 3], 542, Anm. 4). In der Erfahrung der göttlichen Liebe, die die mensch­li­che Gegenliebe nach sich zieht, wurzelte nicht zuletzt die wahre Reue, die vera contritio. Vgl. dazu Hamm, Gottesliebe, 24. 581  Das Mitleid und Mitleiden mit Christus begriff etwa Johannes Tauler als Brautgabe Christi an seine Braut; siehe dazu Kieckhefer, Convention, 47.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Vide mea sponsa: […] Komm und folge mir! Du sollst gemartert werden mit mir, […] an das Kreuz genagelt mit den heiligen Tugenden, verwundet durch die Liebe, den Kreuzestod sterben in heiliger Schand­haftigkeit, dein Herz wird durchbohrt durch stete Vereinigung.582

Die Intensität und Diversität, mit welcher sich das ausgehende Mittelalter dem Leiden Got­tes, seiner Nähe und Niedrigkeit öffnete, kann an dieser Stelle nicht umfassend be­schrie­ben werden. Lediglich zwei scheinbar gegenläufige Tendenzen sollen hier ab­schließend erwähnt werden: Die Verbreiterung der Passionsmotive sowie die Ver­viel­f ältigung der Devotionalien auf der einen Seite583 und die intensive Fokussierung und Zentrierung auf die Seitenwunde auf der anderen. Wendet man sich der ersten Tendenz zu, so fällt auf, dass neben die Ver­gegen­wär­ti­gung der kanonischen Szenen des Passionsgeschehens584 durch die Vorstellung der „geheimen Leiden Christi“ zusätzliche Motive traten, die den Stoff der Passions­betrach­tun­gen erweiterten.585 Die Vorstellung, Christus habe mehr erlitten als in den Evangelien berichtet wird, schlug sich sowohl in den Texten als auch in der bildenden Kunst nieder. Da­bei bildete sich oftmals ein komplexes Gedankenkonstrukt heraus, in welchem nume­rische Systematisierungen eine große Rolle spielten: [Z]unehmend wurde im späten Mittel­alter jedes Detail der Heilsgeschichte gemessen und geradezu buchhalterisch er­faßt: Die Körperglieder Christi ebenso wie seine Fußstapfen bei der Passion, die Zahlen seiner Wunden wie die seiner Blutstropfen. Diese vermessende und zahlenmäßige Fröm­mig­keit galt als durchaus biblisch begründet. Immerhin hatte der deus geometrix „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ (Sap 11,21).586

582  Mechthild von Magdeburg, zit. nach Angenendt, Religiosität, 540. Einen Vergleich zwischen Mecht­hild und Dante, zwischen erotischer Religiosität und religiöser Erotik liefert Müller, Mechthild. 583 Als eigenständiges Phänomen neben dem der Vervielfältigung der Passionsmotive und doch diesem in seiner Intention verwandt, soll hier an die Vervielfältigung des Passionschristus selbst erinnert wer­den: Sei es durch das Messopfer, die Fülle blutender Hostien, Stigmatisierungserfahrungen und der Verehrung einer Flut von Passionsreliquien; stets jedoch wurden diese materiellen und personalen Verviel­fältigungen rückbezogen auf das zentrale Heilsgeschehen. 584  „Als Gegenstand des Passionsgedenkens kann zwar grundsätzlich die ganze Geschichte Christi vom Ein­zug in Jerusalem bis zur Auferstehung gelten. Aber bei der Ausbildung einer Passionsfrömmigkeit spielen doch vor allem jene Vorgänge eine Rolle, die im Gläubigen die Affekte der compassio (in körper­lichem und seelischem Leiden, Schmerz und Trauer) hervorrufen“ (Köpf, Passions­be­trach­tun­gen, 742 f.). Bezüglich detaillierter Angaben zur Betrachtung der kanonischen Szenen siehe ebd., 743–745. 585  Zu den „geheimen Leiden Christi“ im Einzelnen vgl. ebd., 745 f. Zur Darstellung des an der Säule hängenden oder gestützten Christus, der Klei­der­suche nach der Geißelung oder zur Schulterwunde vgl. Kriss-Rettenbeck, Bilder, 64 f. Vgl. auch Bodenstedt, Vita, 50; ebenso Köpf, Passions­frömmigkeit, 747. 586  Lentes, Vermessung, 144.

7  Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi



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Das Anliegen der Autoren, jedes Detail eingehend auszugestalten, diente stets der Intensivierung der memoria und damit un­trenn­bar verbunden auch der Steigerung deren Sühneleistung.587 Während manche Texte und Bilder den Blick des frommen Betrachters auf einzelne außer­kano­nische Motive lenkten,588 boten andere Werke wie etwa die Meditationes Vitae Christi, um 1300 im toskanisch-franziskanischen Milieu entstanden, dem inneren Auge des Frommen eine überbordende Fülle von Bildern und Szenen, mit denen die in ihrer kano­ni­schen Form so knappe Passionsgeschichte ausgestaltet wurde: Das erneute Auf­reißen der Wunden durch das Entkleiden nach der Geißelung, die Scham Marias ange­sichts der Nacktheit ihres Sohnes, ihr Herzutreten und Verhüllen seiner Blöße durch ihren Schlei­er, das Anlegen der Leitern ans Kreuz, die Grausamkeit der Henkersknechte wird dem Leser ausführlich geschildert, um dessen memoria passionis, nicht zuletzt aber auch seine compassio zu vertiefen.589 Diese Tendenz, die man unter dem Stichwort „Verbreiterung“ beschreiben könnte, trifft auch bei der eklatanten Vermehrung der Wundmale zu, wie sie etwa prominent in Texten der Brigitta von Schweden zu finden ist. In deren Rezeption kannten in der Folge auch Ludolf von Sachsen sowie zahlreiche andere spätmittelalterliche Autoren schließlich 5490 Wunden, die Gegenstand der gläubigen Verehrung waren und die in einer systemati­sieren­den Gebetspraxis im Jahreslauf verehrt werden sollten.590 Folgerichtig dazu rückten auch die einzelnen Leidenswerkzeuge Christi ins Zentrum der Passions­vergegen­wärti­gung; ihnen widmete man sogar eine eigene Motivik: Unzählige Darstellungen der arma Christi beziehungsweise des „Schmerzensmanns mit Leidenswerkzeugen“ lenkten den Blick auf jedes De­tail des Kreuzweges.591 Stets ging es bei dieser Vergegenwärtigung des vergangenen Leidens um das Teil­haftig­wer­den des Menschen an der erlösenden Kraft der Passion.592 587 

Vgl. ebd. zu diesen und weiteren außerkanonischen Motiven etwa Kriss-Rettenbeck, Bilder, 64 f. 589  Vgl. dazu Angenendt, Religiosität, 538 f. 590  Vgl. zu Ludolf von Sachsen Bodenstedt, Vita, 50; zum Phänomen allgemein Köpf, Passions­fröm­migkeit, 747. 591  Vgl. exemplarisch die Abbildungen in Geissmar-Brandi/Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 91.94.99; auch Passionswappen zeigten die Leidenswerkzeuge; vgl. ebd., 145. Eine Sonderrolle kam oft­mals der heiligen Lanze zu; vgl. dazu Köpf, Passionsfrömmigkeit, 746 f. 592  Lentes, Vermessung, 147 merkt zu den arma-Darstellungen an: „Auf einem einzigen Blatt sind somit alle möglichen Arma Christi, die Leidenswerkzeuge und Verleumdungen, aufgelistet und es bleibt dem Betrachter anheimgestellt, sie einzeln zu meditieren. Biblisch begründet wurde die Ver­ehrung der Arma Christi mit dem ‚Zeichen des Menschensohns‘ (Mt 24,30), das das Ende der Tage einst ankündigen sollte. Doch blieb es bei dieser Motivation nicht. Sie hießen arma (Waffen), weil Chri­stus sie als Waffen im Kampf mit Teufeln und Dämonen eingesetzt hatte. Da sie als der eigent­liche Thesaurus passionis Domini nostri – Schatz des Leidens unseres Herrn – gelten konnten, wurden sie zudem als Zeichen der Entsühnung der Menschheit verstanden. Wer diese Leidensinstrumente be­trach­tete und so mit Christus mitlitt, der durfte gewiß sein, daß er auch in den Genuß der Verdienste dieses Schatzes gelangte. So 588 Vgl.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Neben jenem Phänomen der Erweiterung der Motive lässt sich eine zweite, scheinbar gegen­läufige Tendenz beobachten, die man innerhalb des Phänomens der „normativen Zentrie­rung“ auf die Passion als „Zentrierung innerhalb der Zentrierung“ beschreiben könnte: Die Fokussierung auf die Seitenwunde Christi als Inbegriff, als Brennpunkt, Sym­bol und Emblem der Leiden Christi. In welcher Weise diese Zuspitzung auf die Seitenwunde und deren Nutzung als allum­fas­sen­de Chiffre für eine Theologie der Niedrigkeit und Nähe an der Tagesordnung war, soll nun im nächsten Abschnitt ausgeführt werden.

7.2  Die Seitenwunde als verdichtetes Zeichen und Zentrum der memoria passionis Begreifen zahlreiche Forscherinnen und Forscher die Passionsfrömmigkeit als Herzstück der spätmittelalterlichen Frömmigkeit,593 so könnte man das blutende Herz als innerstes Zentrum dieses Herzstücks auffassen und die Seitenwundenverehrung als ihren Brennpunkt, wie bereits Berndt Hamm feststellt: Ihre [sc. der Passion Christi] normative Mittelpunktstellung gegen Ende des Mittelalters zeigt Möglichkeiten einer noch weitergehenden Verdichtung, sozusagen einer Zentrierung innerhalb der Zentrierung auf die Passion hin. So kann der Blick des Gläubigen vor allem auf die Seitenwunde und das Herz Christi gelenkt werden, bis auf manchen Bildern vom ganzen Passionsgeschehen und Passionsleib nur noch das verwundete und blutende Herz übrigbleibt.594

Diese Zuspitzung ging so weit, dass der ganze Leib Christi durch die Seitenwunde, die oft­mals in ihrer „wahren Länge und Weite“ abgebildet wurde, repräsentiert werden konn­te!595 jedenfalls verstand es Bernhard von Clairvaux, der wohl die grund­le­gen­de Formel für solche Verdienstlichkeit der Passionsbetrachtung prägte: compatere patienti, ut merearis redimi (Wer nur betrachtend mitlitt, der verdiente seine Erlösung). In diesem Sinne sind alle Arma ChristiDarstellungen von der Betrachtungstechnik her Lesebilder und Merkzeichen für die Passions­ betrachtung und die Einübung der compassio, des Mitleidens mit dem leidenden Christus (Suckale). Doch weit darüber hinaus sind sie Zeichen einer Erinnerungstechnik ganz eigener Art: Mit der Erinnerung an das vergangene Heil sollte dieses aktualisiert werden. Betrachtend und betend sich zu erinnern, bedeutete das vergangene Heil gegenwärtig zu setzen. […] Weil in der Betrachtung die Memo­ria passionis begangen wurde und das Sühneleiden gegenwärtig gesetzt wurde, kam der jewei­li­ge Betrachter auch in dessen Genuß. Die Betrachtung des leidenden Christuskörpers eröffnete somit dem Einzelnen seinen je individuellen Zugang zu diesem Gnadenschatz.“ 593  Noch mit dem Ausblick auf das 16. Jahrhundert und Luthers Theologie Elze, Züge spätmittelalterlicher Frömmigkeit, 396. 594  Hamm, Zentrierung, 179. 595  Ein besonders eindrückliches Beispiel für jene bildliche Zentrierung, ein süddeutscher Holzschnitt aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert, findet sich bei ders., Die „nahe Gnade“, 553. Vgl. allgemein auch Lentes, Vermessung, 144–146.



7  Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi

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Wie kein anderes Moment der Passion Christi vermochte die Seitenwunde gleich einem Em­blem596 die Gesamtheit der passio, deren Doppelbedeutung als Leiden und Liebe,597 zu um­greifen, zu beschreiben und ins Bild zu setzen:598 Gleich dem Symbol der Rose im Kontext der Rosenmystik vereinte die zentrale Wunde Christi die scheinbar599 so gegen­sätz­lichen Pole von Leiden und Schmerz auf der einen und Lust und Liebe auf der anderen Seite. In der Seitenwunde als Passionssymbol schlechthin fielen auch weitere Paradoxa zusam­men: Sterben und Geburt, Verwundung und Heilung, Trauer und Freude, Tod und Leben.600 Diese erstaunliche Fokussierung auf die Seitenwunde als Inbegriff der Passion findet sich dabei sowohl in mystischen Trägerkreisen, bei welchen die Herzenswunde mit kom­plexen theologischen Überlegungen zu passio und compassio verbunden wurde, als auch auf der Ebene einer eher pragmatisch ausgerichteten Volksfrömmigkeit, in der die Seiten­wun­de als Garant für Schutz und Errettung in Anspruch genommen wurde.601 Auch mit Blick auf die einschlägigen Quellen, 596  Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, möchte ich eine vielleicht provokative oder abseitige Analogie an­f ühren: Ebenso wie das „A“, das an jeder Hauswand in der Moderne unmittelbar als Zeichen und Sym­bol der Autonomen gelesen wird und alle entsprechenden Konnotationen evoziert, so diente die Nen­nung oder Abbildung der Seitenwunde als umfassendes Symbol der Passionsfrömmigkeit. Ebenso wie man heute seine politische Gesinnung entweder durch eine Fülle einschlägiger Parolen oder allein durch das lakonische Zeichen „A“ zum Ausdruck bringen kann, so konnten Texte oder Bilder die In­ten­ti­on der passio nicht nur wortreich und mit detailreichen Abbildungen, sondern auch kom­pri­miert und verdichtet durch die Seitenwunde transportieren. 597  „Mystische Herz-Jesu-Verehrung schaut das leibliche Herz, das Jesus hat, unlösbar zusammen mit dem Herzen, das er ganz und gar ist: das geöffnete Herz seines Leibes wird zur Epiphanie seiner Lie­be“ (Figura, Herz Jesu, 225). Das Herz, welches seit dem 12. Jahrhundert als „Liebes-Organ und Liebes-Symbol par excellence“ galt (so Wolf, Mausefalle, 137), stellte das geeignete Sinnbild für das Leiden Christi dar, dessen Urgrund ja die spätmittelalterlichen Theologen in der Liebe Gottes sahen: Motiv und Motivation der Passion stimmten somit überein. 598  Beispiele hierfür finden sich in Geismar-Brandi/Louis, Glaube, Hoffnung, Liebe, Tod, 140–155; vgl. auch Köpf, Passionsfrömmigkeit, Tf. 7, Abb. 11. Vgl. dazu ebd., Abb. 2–4. 599 Hier ist es freilich entscheidend, die durchaus eigenständige mittelalterliche Wahrnehmung jener schein­bar so gegensätzlichen Pole zu vergegenwärtigen: „Esther Cohen, in her useful study of pain in the later middle Ages points out what she calls ‚philopassianism‘ a cultural fascination with pain, is not to be confused with modern masochism. Pain was considered useful rather than pleasurable, as a form of knowledge“ (Camille, Seductions, 257). 600 Dieses Ineinander scheinbarer Gegensätze wird exemplarisch etwa bei Juliane von Norwich deutlich; Palliser, Mother of Mercy, 139, fasst diesen wesentlichen Aspekt ihrer „Shewings“ wie folgt zusam­men: „The joy Christ finds in his passion stems from his love of us […] Christ’s wounds are open and ‚enjoy‘ to heal us […]. Christ is the ‚cheerful giver‘ whose happiness rests in our hapiness.“ Zum englischen Kontext insgesamt siehe auch Ross, Grief of God; Rubin, Religiöse Symbole. 601  So differenziert Hamm, Die „nahe Gnade“, 551: „Die Seitenwunden- und Herz-JesuFrömmigkeit des Spät­mittelalters hat einerseits eine stark verinnerlichte, mystische Komponente, indem man aus­gehend von Bernhard von Clairvaux in der geöffneten Wunde die Möglichkeit zur liebevollen Ver­eini­gung mit dem Erlöser findet: Das durch die Liebe verwundete Herz Christi und das durch den Ein­druck dieses Leidens ebenfalls in Liebe verwundete Herz des mitleidenden Menschen finden zu innig­ster Vertrautheit. Andererseits gab es aber auch den breiten Strom einer eher unmystischen, stark popu­la­risierten Seitenwunden-Frömmigkeit, die

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

die in der vorliegenden Arbeit besondere Be­rück­sichtigung finden, lassen sich diese Zuspitzungen der Passionsfrömmigkeit auf die Seiten­wunde nachweisen – mit je eigenen Akzentuierungen und Konnotationen. Gertrud von Helfta, für welche das Leiden Christi unbestritten das thematische Zentrum und Herzstück ihrer Theologie und Frömmigkeit darstellt,602 beschäftigt sich mit keinem ande­ren Element der Passionsgeschichte so ausführlich wie mit der Seitenwunde, in wel­cher sie die Ambiguität der Passion Christi als Schmerz und Entzücken in besonderer Wei­se begreifen und anschaulich machen kann: Schreibe, mitleidigster Herr, deine Wunden603 in mein Herz durch dein kostbares Blut, damit ich in ihnen lesen möge deinen Schmerz ebenso wie die Liebe und damit die Erinnerung an deine Wunden in der Abge­schie­denheit meines Herzens stets bleiben, damit der Schmerz über Deine Passion in mir er­weckt und die Glut Deiner Liebe in mir entzündet werde.604

Die Wahrnehmung des verwundeten Herzens als Inbegriff der Passion ist bei Gertrud un­trenn­bar verbunden mit ihrer Sehnsucht nach der Verwundung des eigenen Herzens als Verwirk­lichung einer umfassenden compassio; durch die Verwundung des eigenen Her­zens vollzieht sich nach Gertrud von Helfta die wahre Nachfolge des Passionschristus. Nur das verwundete, geöffnete Herz ist im Stande, die Summe der menschlichen Affekte in ihrem weit gespannten Bogen von „himmelhochjauchzend“ bis „zu Tode betrübt“, derer sie in der Passion ansichtig wird, zu fassen. In der ihr durch Christus selbst zugefügten Wunde des Herzens erfährt Gertrud die Auf­wal­lung jener widersprüchlichen Gefühle der Lust, der Hoffnung, der Freude, des Schmer­zes, der Furcht, um diese überwältigende Summe schließlich in der Liebe Jesu ge­fe­stigt zu finden: Und siehe, du tratest wie plötzlich herzu und fügtest meinem Herzen eine Wunde zu mit folgenden Worten: „Hier fließe zusammen die Aufwallung all dei­ner Gefühle. All Dein Entzücken, Hoffnung, Freude, Schmerz, Furcht und die übrigen Emp­fin­dungen sollen gefestigt werden in meiner Liebe.“605 in der Seitenwunde vor allem die Manifestation der stellvertretenden Opfer-, Sühne-, Erlösungs- und Schutzkraft der Passion Christi verehrte.“ Zur prak­ti­schen Schutzfunktion und dem gleichsam medizinischen Gebrauch der Seitenwunde (als Garant gegen­über dem plötzlichen Schlaganfall) in der persönlichen Andacht vgl. auch Lentes, Vermessung, 146. Zur komplexen Theologie der compassio in Verbindung mit der Seitenwunde etwa bei Juliane von Norwich vgl. Palliser, Mother of Mercy, 192. 602  So überzeugend Bangert, Demut, 305. 603  Auch wenn Gertrud hier den Plural verwendet, nennt sie als Zielort der Einschreibung dennoch allein ihr Herz. 604  Scribe, misericordissime Domine, vulnera tua in corde meo pretioso sanguine tuo, ut in eis legam tuum dolorem pariter et amorem et vulnerum tuorum memoria jugiter in secreto cordis meoi per­maneat, ut dolor compassionis tuae in me excitetur et ardor dilectionis tuae in me accendatur (Gertrud, Legatus II, C. IV, 242, Z. 7–12). 605  et ecce tu aderas velut ex improviso infigens vulnus cordi meo cum his verbis: ‚Hic con-



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Das verwundete Herz Christi und die Verwundung ihres eigenen Herzens bildet bei Gertrud somit den Fluchtpunkt ihrer Passions­frömmigkeit, in der Gertrud die scheinbar widersprüchlichen Empfindungen von Schmerz und Lust aufzuheben vermag. Wie kein anderes Symbol verkörpert das verwun­de­te Herz Christi für Gertrud die Liebe, in der letztlich alle Emotionen zur Ruhe, zur sta­ bili­tas gelangen. Auch das Liber Lelle der Angela von Foligno kennt die vollständige Aufhebung der Passions­frömmigkeit in die Betrachtung der Seitenwunde. So bezeichnet sie im drei­zehn­ten Passus des Liber, der als Auftakt zur Passage über die Seitenwunde zu lesen ist, diese als das sichere Zeichen, das eine kontinuierliche Passionsmemoria ermögliche: „[E]in sicheres Zeichen, durch welches ich immerfort die Passion Christi in bleibender Erin­ne­rung haben könnte“.606 Die Passion in ihrer ambivalenten Bedeutung vermag Angela erst in ihrer Reflexion der Seiten­ wunde vollständig zu erfassen; nicht das Memorieren sämtlicher Stationen des Leidens­weges Christi, sondern die unmittelbare Konfrontation mit der Seitenwunde, aus der Christus sie trinken lässt, erschließt ihr die Passion Christi auf letztgültige Weise. Sie erkennt sie als Quelle unüberbietbarer Traurigkeit und zugleich unüberbietbarer Freude: Und dann rief er mich und sagte mir, dass ich meinen Mund an die Wunde seiner Seite legen solle und es schien mir so, als sähe und tränke ich sein Blut welches frisch aus seiner Seite floss […] und hier fand und hatte ich große Freude, obgleich ich im Nach­denken über die Passion Traurigkeit hatte.607

In der aufgeschlossenen Seitenwunde als zentra­lem Objekt ihrer memoria passionis, als ihrem Zugang zum Innersten des Passions­chri­stus, erschließt sich der Mystikerin immer wieder neu eine unaussprechliche Freude, die alle Worte übersteigt: „Und es schien mir, dass daraufhin die Seele in die Seite Christi ein­ trat. Und es herrschte dort nicht Traurigkeit, sondern vielmehr eine solch große Freude, dass es nicht möglich ist, davon zu erzählen.“608

fluat tumor om­ni­um affectionum tuarum verbi gratia: summa delectationis, spei, gaudii, doloris, timoris, caetera­rum­que affectionum tuarum stabiliantur in amore meo‘ (ebd., C. V/2, Z. 10–15). 606  signum certum quo semper possem habere in memoria passionem Christi continue (Angela, Mem. I, Z. 138–143). 607 Ebd., Z. 149 f. 608  Et videbatur mihi quod tunc anima intravit intus in latus Christi. Et erat non tristitia, immo tanta laetitia quod narrari non potest (dies., Mem. VI, Z. 257–265). Wenige Zeilen zuvor beschreibt Angela diesen Vorgang des Eingehens in die Seitenwunde bereits schon einmal, wobei sie die damit einher­gehen­de Freude mit dem Eintreten verknüpft: „Und ein anderes Mal schien es der Seele, dass sie mit so großer Freude und Entrücken in jene Seite Christi eintrete und mit solcher Freude in der Seite Christi umherginge, dass es auf keine Weise ausgesagt oder erzählt werden kann.“ Et aliquando videtur animae quod cum tanta laetitia et delectatione intret intus in illud latus Christi, et cum tanta laetitia vadit intus in latus Christi, quod nullo modo posset dici vel narrari (ebd., Z. 263–265).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Die Fokussierung Angelas auf die Seitenwunde ruht auf einem theologischen Axiom auf, das ihr durch ihre Visionen eingegeben wird. Weil sie die sich selbst zerfleischende Liebe Gottes als Urgrund und Movens der Leiden begreift, beschreibt sie in ihren Texten die Sei­ten­wunde, das zerrissene Herz, als Emblem jener exzessiven (aus sich heraus­treten­den) Liebe, die alle Grenzlinien zwischen Innen und Außen sprengt. Unbeschreiblich ist die evisceratus amor, die aus dem Innersten nach Außen drängende Liebe, die in den Augen Christi leuchtet, als er die „Söhne Angelas“, die Bettelmönche, in seiner Seiten­wunde birgt: In diesem Akt der Einverleibung der Frommen in sein Innerstes, die Seiten­wunde, das geöffnete Herz, wird das Wesen seiner Passion, die sich vollständig offen­ ba­ren­de Liebe, sichtbar. Die Bettelmönche, die dazu aufgefordert werden, den Weg der com­passio im Nachvollzug von Schmach und Armut, in der Umarmung des Kreuzes zu be­schrei­ten,609 finden in der Seitenwunde als Urbild der Passion zugleich den Gegenpol des Lei­dens: die alles umfangende Liebe Christi. In der Verschmelzung des Menschen mit der Seitenwunde Christi ereignet sich für Angela die Offen­barung der Ursache der Passion: Auch sagte sie, dass es ihr unmöglich sei, die sich hingebende Liebe zu beschreiben, die im Blick seiner Au­gen und seines gesegneten Angesichtes des Gottes und Menschen Jesu Christi über diesen Söhnen geleuchtet habe, sowohl in der Umarmung als auch im Anlegen an die heilige Wunde.610

Weil Angela die Passion Christi als die im Wortsinn herzzerreißende Liebe Gottes be­greift, fungiert für sie die Seitenwunde als Sinnbild dieser sich hingebenden Liebe. Während es sich bei den Texten der Gertrud von Helfta und der Angela von Foligno um höchst individuelle Zeugnisse einer auf die Seitenwunde zugespitzten Passions­fröm­mig­keit handelt, stellt sich die Sachlage mit Blick auf einen Text wie das „Frankfurter Passi­ons­spiel“ oder die „Frankfurter Dirigierrolle“ durchaus anders dar. Hier hatte schließlich die Erwartungshaltung des Publikums ein anderes Gewicht als bei den mutmaßlichen Leser­kreisen der beiden Theologinnen. Dem gesamtgesellschaftlichen, religiösen, aber auch gesellschaftspolitischen und sozialen Horizont muss hier ein ganz anderer Stellen­wert eingeräumt werden. Blickt man zunächst auf die ältere Dirigierrolle, so lässt sich feststellen, dass, auch wenn auf die gesamte Ausgestaltung der Passionsgeschichte große Sorgfalt angewandt wurde  – schließ­lich galt es, 609  „Jeder einzelne strebte danach, so sehr er es nur vermochte, jenem seligen Gekreuzigten anzuhaften und dessen Auftrag zu umfangen, den Weg der Schmach, der Armut und des Kreuzes mit allen Kräften zu folgen.“ unusquisque nitatur quantum plus potest isti benedicto Crucifixo configi et eius mandatum de sequenda via despectus, paupertatis et crucis totis conatibus amplexari (Angela, Ins. IV, Z. 96–98). 610  Dixit autem omnino ei esse impossibile exprimere evisceratum amorem, qui lucebat in aspectu oculorum et illius benedictae faciei Dei et hominis Jesu Christi super istos filios, et in amplexu et applicatione ad sacrum vulnus (ebd., Z. 98–101).



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durch eine detaillierte, weit über die kanonischen Quellen hinaus­ gehen­ de Darstellung der Leidensgeschichte, ein ganzes Theatererlebnis zu füllen! – die Sei­ten­wundenszene zweifelsohne als Schlüsselszene begriffen werden kann, in der sich die Passion verdichtet. Dies lässt sich an den dramaturgischen Anweisungen ablesen, die unter­ streichen, welche bedeutsamen theologischen Aussagegehalte hier kolportiert werden: So wird etwa peinlich darauf geachtet, dass die für den Aussagegehalt der Szene wich­tige Blindheit des Longinus explizit und eindeutig dargestellt wird;611 die Seiten­wun­de (wie freilich auch die anderen Wunden) werden nicht der Imagination des Publikums über­lassen, vielmehr sollen sie deutlich erkennbar im Vorfeld aufgemalt werden.612 Auch der dramatische Akt des Durchbohrens613 wird in FD eigens durch eine Regieanweisung vor­gegeben. Die Heilung der Blindheit durch die Seitenwunde und ihr Blut ist ein zentrales Motiv, das meines Erachtens nicht als ein Wundergeschehen unter vielen begriffen werden soll, son­dern wohl gleichsam in nuce die umfassende Heilsbedeutung der gesamten Passion büh­nen­wirksam inszeniert. Longinus erlangt durch die Seitenwunde sein leibliches Augen­licht wieder und zollt dem Gekreuzigten seinen Dank; das Leiden Christi, die Betrachtung der Passion, soll die Zuschauer zum geistlichen Sehen und Erkennen des wahren und einzi­gen Glaubens und zur Dankbarkeit für ihre Errettung führen. Die Bedeutung der Passion als blutiges Opfer des Gottessohnes wird nirgends bühnen­wirk­sam deutlicher, als in der Durchbohrung der Seite Christi und nirgends wird die ambigue Botschaft der Passion, wie sie in den Passionsspielen dargestellt wird – Heil für die Christen, Unheil für die Juden – deutlicher sichtbar als in der Longinusszene. Im Text der „Frankfurter Dirigierrolle“ ist es nicht ganz eindeutig, ob der blinde Longi­nus, dessen Tat explizit nicht als Frevel, sondern als Akt des Mitleids geschildert wird, ein Heide oder sogar ein Jude ist. Im zweiten Fall würde er somit zu der kleinen (an zwei Hän­den abzählbaren) Gruppe von Juden zu rechnen sein, die auf Errettung durch die Taufe hoffen können,614 wohingegen für die überwältigende Mehrzahl ihrer Glaubens­ge­nossen die Passion Christi, konzentriert in der Seitenwundenszene, schlechterdings deren schein­bar gerechtfertigte Verfluchung bedeutet. Die vorletzte Szene der „Frankfurter Diri­gier­rolle“ nimmt diese Botschaft noch einmal 611  Hec dicens seruus accipiat peplum et ducat Longinum ad crucem et ponat lanceam ad dextrum latus Ihesus dicens: ‚Meyster, nim uil rehte war‘ (FD 240). 612  Vulnus autem lateris et alia wlnera similiter sint prius depicta, ut quasi wlnera videantur (FD 241). 613  Siehe FD 241: Statim Longinus fingat se fixuram facere. 614 „Hier gehen acht oder auch zehn Juden zu Augustinus, bitten ihn, dass sie getauft würden und sagen:  / Augustinus, sehr heiliger Mann!  / Augustinus, Wasser über die Juden träufelnd, spricht: / ‚Des Himmel­reichs seid ihr wert!‘“ Hic Judei octo vel decem eant pariter ad Augustinum petentes baptizari et dicant / Augustinus, vil heyleger man / Augustinus aspergens aquam super Iudeos dicat: / ‚Des hymelriches sit ir wert‘ (FD 368).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

auf, wenn sie die Begegnung zwischen der Syna­goge und der Kirche nach der Taufe der wenigen, bekehrungswilligen Juden wie folgt schildert: Dieses [gemeint: die Taufe] sehend wird die Synagoge mit traurigem Herzen sin­gen: Israel, geliebtestes Volk, mein zartes Volk! Hier fällt der Synagoge der Mantel vom Arm und die Krone vom Haupt. Nach diesem Geschehen wird die Ekklesia fröhlich singen: Es werden mir alle gratulieren!615

Noch polemischer ist die Seitenwundenszene als Kernszene der Passion Christi beim deut­lich jüngeren „Frankfurter Passionsspiel“ ausgestaltet. Hier wird den Zuschauenden die kolportierte Botschaft des gesamten Stückes, die Passion als Frevel der Juden gegen den Gottessohn und zugleich als Grunddatum der eigenen Errettung zu verstehen, beson­ders plakativ vor Augen gehalten. Sowohl durch die intensivierte dramaturgische Aus­ge­stal­tung durch möglichst lebensecht gehaltene Requisiten (blutgefüllte Lanzen, blut­ge­tränk­te Schwämme) als auch durch den Bühnentext selbst, setzt die Seiten­wunden­szene die Ambivalenz der gesamten Passion verdichtet in Szene: Das Vergießen des Blutes des Ge­kreu­ zigten durch die Lanze des Longinus gereicht den einen zum Segen, den anderen je­doch zu Tod und Verderben. Die Passion Christi, verdichtet in der Zufügung der Seitenwunde – so die unmissverständliche Botschaft – teilt die Welt in die Gesegneten (Christen) und Verdammten (Juden). Nachdem Christus selbst in der Kreuzigungsszene (Nr. 69) prophetisch die Durchbohrung seiner Seite als rachewürdigen Akt der vil dorichte[n] Iudischheit ankündigt, den er selbst (sic!) zu rächen gedenke (das werde ich nit lassen vngerochen), nimmt die Seiten­ wunden­sze­ne selbst die Themenfelder der Rache und des Fluches, aber auch des Erbarmens auf. In den Dank des Longinus über die Heilung seiner Blindheit durch das Blut der Seitenwunde mischt sich sofort die Bitte um Barm­her­zig­keit und das Verschontwerden durch die Rache Christi: „Das bitte ich dich, Herr Jesus Christ, / weil du so barmherzig bist, / dass du die Sünde vergebest mir, / die ich be­gan­gen hab an dir, / und nicht rechnest sie, durch die Güte dein, / an der armen sündigen Seele mein.“616 Nicht nurmehr als dunkle Hintergrundfolie, sondern als ein gleichwertiger Aspekt neben dem Heil verknüpfen die Passionsspiele Unheil, Rache und Fluch mit der Passion Christi, zu­ge­spitzt in der Seitenwundenszene. Galt es im performativen Kontext, die Botschaft der Passion in der Flüchtigkeit des Au­gen­blicks darzustellen, und dabei vorwiegend auf das Wort als Botschafter zu setzen, so be­dien­te sich die bildende Kunst des Mediums von Form und Farbe, um die Seitenwunde, die das Passionsgeschehen abschließend 615  Hec videns Synagoga tristi animo cantabit: / Israel, popule carissime / Israel, min zarte diet / Hic cadat Synagoga de humeris pallium et corona de capite. Quo / facto Ecclesia letabundo animo cantabit: / Congratulamini mihi omnes (FD 368–372). 616  des bidden ich dich, her Ihesu Crist,  / sit du so barmhertzig bist,  / das du die sunde vergebest mir, / die ich begangen han an dir, / vnd nit reche isz, durch die gude dyn, / an der armen sundigen sele myn (FP 4202–4217).

7  Memoria passionis – die „normative Zentrierung“ auf die Passion Christi



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besiegelt,617 als das zentrale Symbol zu vermit­teln.618 Gerade an dieser Stelle ist die These einer nochmaligen „Zentrierung innerhalb der Zentrie­rung“ besonders augenfällig, stellt doch eine Fülle der überbordenden Passions­mo­tive619 die Seitenwunde Christi ins Zentrum, in den Fluchtpunkt des Bildes bis hin zur völligen Überblendung oder Aufhebung sämtlicher Passionsmotive durch und in das ver­wun­dete Herz. Dies lässt sich exemplarisch auch an den in der vorliegenden Arbeit be­rück­sichtigten Bildquellen nachvollziehen. Ein besonders einschlägiges Beispiel für die im ausgehenden Mittelalter weit verbreiteten arma Christi-Darstellungen und deren Zuspitzung und Fokussierung auf die Sei­ten­ wun­de liefert das „Kunigundenpassional“ (A.2.3.3). Zwar zeigt die Abbildung dem Be­trach­tenden die Fülle der Leidenswerkzeuge Christi, zugleich ist die Prominenz der Sei­ten­wunde als zentralem Objekt der Betrachtung allein dadurch bezeugt, dass sie gleich ei­nem „isolierte[n] Präparat“620 noch einmal in vermeintlicher Lebensgröße eigens ab­ge­bildet wird.621 Doch damit nicht genug: Die Seitenwunde spricht durch das sie umgebende Spruch­band direkt zum Betrachter: „Das ist die Größe der Wunde, durch die Christus uns erlöst hat als er am Kreuz hing und die heiligen Wunden allen zeigte, die vorübergingen“. Ihr obliegt die Deutungshoheit des Passionsgeschehens, welches sie zu besiegeln622 und für den gegenwärtigen Betrachter die heilsame Vergangenheit neu zu vergegenwärtigen und letztgültig zu repräsentieren vermag. So ist es nicht verwunderlich, dass es die Seiten­wunde ist, die in ihrer Stellvertretung für das Pas617 

Vgl. dazu Tammen, Blick und Wunde, 85. In vielen Fällen wurde dennoch nicht gänzlich auf das Wort verzichtet! Gerade im ausgehenden Mittel­alter war es ein häufiger Kunstgriff, das Auge des Betrachters durch verbale Elemente zu lenken und die Interpretation des Geschauten teilweise vorzugeben. 619  Zur Genese der Seitenwundendarstellung bemerkt Tammen, Blick und Wunde, 85 f.: „Sie wurden erst auf Weltgerichtsbildern deutlich hervorgehoben, wo Christus sie dem sündigen Menschen dro­hend, aber auch als Zeichen seines Opfertodes vorzeigt, dann auch bei Kruzifixen, im Zusammenhang mit Arma Christi-Darstellungen und bei Schmerzensmännern. So lassen in ihre Wunde greifende Schmer­zens­männer wie die eindrucksvolle Skulptur Multschers am Trumeaupfeiler des Westportals des Ulmer Münsters den Betrachter das Johanneswort Ego sum ostium auf intensive Weise erleben. Dem Andächtigen versprach die mitleidvolle Kontemplation der Wundmale, vor allem der Seiten­wunde, die pars pro toto den ganzen verwundeten Körper Christi vergegenwärtigte, Sündenablass […]. Seit dem 13. Jahrhundert steigerte sich der in Visionen und Meditationen bezeugte Wunsch, ne­ben den Hand- und Fußwunden die Seitenwunde ganz nah zu sehen, ihre Größe zu betrachten und sich im wahrsten Wortsinne in sie zu versenken.“ 620  Ebd., 88. 621 Diese Methode nimmt  – um einen ungewöhnlichen Vergleich zu bemühen  – das Erscheinungsbild moder­ner Graphic Novels vorweg, in denen ebenfalls besonders wichtige Bilddetails noch einmal „heran­gezoomt“ bzw. wie in einem „close up“ dargestellt werden. Vlek-Schurr, Passional, 41 (Anm. 130) spricht hier in Anschluss an J. Hamburger und R. Suckale vom Drang, sich auf die Wunden Christi zu fokussieren als einem Leitmotiv spätmittelalterlicher Kunst. 622  Auf die Ähnlichkeit zahlreicher Seitenwundendarstellungen mit Siegelabdrücken soll hier nur kurz hin­ge­wiesen werden. 618 

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

sionsgeschehen in herausgehobener Weise wahrgenommen und verehrt wurde, was nicht nur ihre lebensechte Darstellung in der Originalgröße, sondern auch die Spuren der Küsse belegt, die lediglich an der Sei­ten­wunde deutlich zu sehen sind.623 Auch das Spruchband, das der Schmerzensmann selbst bei sich trägt, folgt den Konturen der Wunde und verknüpft so noch einmal die Botschaft des rettenden Passionsgeschehens sowie den Appell an den Menschen, die Sünde zu unter­lassen, eindeutig mit der Seitenwunde. Wird die Fokussierung, die Zentrierung innerhalb der Zentrierung im „Kunigunden­passio­nal“ durch das „close-up“ der Wunde und die deutenden Umschriften bewerk­stelligt, so arbeitet die arma Christi-Darstellung im English Bohun Psalter (A.2.3.4) mit ande­ren Mitteln, um deutlich zu machen, dass die Seitenwunde als Inbegriff der gesamten Passion aufgefasst werden kann: Auch wenn die gattungstypische Anhäufung der Lei­dens­werkzeuge zunächst den Eindruck erwecken könnte, es handele sich bei der Seiten­wunde nur um ein Element von vielen, so betonen doch die Sorgfalt und Detailliertheit der Ausführung, die bildinterne Positionierung und ihre intensive Farbgebung, sowie die lebens­große Darstellung ihre unbestreitbare Zentralstellung.624 Auf dem Holbein-Epitaph (A.2.3.10) besticht die Seitenwunde des fürbittenden Schmer­zens­mannes weniger durch ihre optische Prominenz, jedoch wird ihr Stellenwert als Sig­ni­fi­kant der Passion durch das Spruchband deutlich, das den Dialogpart Christi in jenem Dreier­gespräch zwischen Gottvater, Maria und Christus ausmacht: „Vater, sieh an mein / wun­den rot / hilf den Menschen / aus aller Not / durch meinen bitteren Tod.“625 Der Ver­weis auf seine Seitenwunde, die Aufforderung an Gottvater, seine Wunde zu sehen, wahr­zu­nehmen, ist vollkommen ausreichend, um die gesamte Leidensgeschichte, den „bitteren Tod“ zu evozieren; wie ein Emblem der Passion ist ihre Vergegenwärtigung ausreichend, die Sühneleistung der gesamten Passion aufzurufen. Eine vollständige Engführung auf das verwundete Herz Christi als Repräsentant der Passi­on liegt im Fall des sogenannten „Speerbildchens“ (A.2.3.6) aus dem Besitz des Hart­mann Schedel vor. Der real durchstoßene Einblattdruck, auf dem nichts anderes ab­ge­bildet ist als die schlichten Konturen eines rot ausgemalten, durchbohrten Herzens, be­legt besonders eindrücklich, wie der Betrachtende 623  „Die Abriebspuren an der Wunde und die Dunkelfärbung von Kopf und Torso des Schmerzensmannes zei­gen, dass die Benutzerin der Handschrift sich nicht mit den visuellen Meditationsangeboten begnüg­te, sondern mit der Hand, vielleicht auch mit dem Mund das vollzog, was ihr und ihrer pro­mi­nen­ten Vorgängerin Maria im Bilde verwehrt blieb und was der zweifelnde Thomas auf fol. 15v vollzieht, nämlich den Leib des Herrn zu berühren.“ (Tammen, Blick und Wunde, 95). 624 Nur kurz kann hier auf eine weitere, eindrückliche Quelle verwiesen werden: Das Gebet­buch der Bonne von Luxembourg bietet eine besonders einschlägige Seitenwundendarstellung; vgl. dazu Deuchler, Prayer book. 625  Vatter sich an mein  / wunden rot  / helf den menschen  / aus aller not  / durch meinen bittern tod.



8  Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung

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mit wenigen Strichen das gesamte Tableau des Leidens Christi und dessen Heilsbedeutung vor Augen geführt bekommen kon­nte.626 Bis auf den beinah lakonisch wirkenden Text („Jenes Herz ist durchstoßen mit der Lanze unseres Herren Jesu Christi“)627 wird in den beigefügten Gebetstexten die Seiten­wunde gar nicht mehr eigens erwähnt! Vielmehr ist dort vom Schweißtuch der Vero­ni­ ka als bleibendem Zeichen der Gnadenvergewisserung zu lesen! Womöglich ist eine Deu­tung der Seitenwunde auf der Textebene auch nicht nötig, da sie ganz offenbar non­ver­bal für sich selbst zu sprechen vermag. Dass sie als die beredte Botschafterin und Zeu­gin der Passion Christi anzusehen ist, bedarf offenbar Anfang des 15. Jahrhunderts keines weiteren Kommentars. Die Thematik, die in den Gebeten auf der Vorder- und Rückseite des Blattes im Zentrum steht – die Hoffnung auf Heil und die errettende Gnade – soll im letzten Kapitel der vor­lie­ genden Untersuchung der Seitenwundenfrömmigkeit und ihrer theologischen Deu­tungs­facetten gleichsam als innerster Kern in den Blick genommen werden.

8  Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung 8.1  Scrupulositas versus Gnadengewissheit Es tobe die Welt, es schmerze der Leib, es lauere der Teufel; ich falle nicht, denn ich bin gegründet auf einem starken Felsen.628

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich, nicht zuletzt durch die Forschungsleistung Berndt Hamms, zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass Martin Luthers „Frage nach einem gnädigen Gott“ nicht als kontextfreie oder geschichtslose „Blitzeingebung“ der Reformation zu betrachten ist, sondern im Gegenteil auf einer der zentralen Frage­stel­lun­gen des ausgehenden Mittelalters aufruht. Dass es sich bei dieser wichtigen Einsicht um einen mühevollen Prozess handelt, stellt Hamm unmissverständlich klar, wenn er darauf verweist, wie hartnäckig sich das Bild eines ausgehenden Mittelalters eingeprägt habe, welches „ein hartes, schrecken­ein­flößen­des Gottesbild vom furchtbar heimsuchenden Rächer und ver­gel­ten­den Richter aller Sün­den vermittelt. Die protestantische Kirchen­ 626 Die Verursacherin jener Wunde, die Lanze selbst, von welcher anzunehmen ist, es handle sich bei ihr um die als eine der wichtigsten Reliquien begriffenen „Heiligen Lanze“, die in Nürnberg aufbewahrt wur­de, konnte freilich nicht Bestandteil des Bildes sein; dennoch war sie durch die von ihr hinter­lasse­ne Spur, den Schnitt, greifbar, bildinhärent und ein wichtiges Bindeglied zum „historischen“ Ge­schehen auf Golgatha.“ 627  Illud cor transfixus est cum lancea domini nostri Iesu chri[sti]. 628  Fremit mundus, premit corpus, diabolus insidiatur; non cado, fundatus enim sum supra firmam petram (Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 13–15).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

geschichtsschreibung kann sich und konnte sich schon immer mit einem derartigen Spätmittelalterbild anfreunden, bot es doch die Mög­lich­keit, vor dieser dunklen Droh- und Angstkulisse die befreiende Gnaden­bot­schaft auf­leuch­ten zu lassen.“629 Unter der Prämisse einer eigentümlichen, nach 1350 immer stärker zunehmenden „Ent­gren­zung, einer Durchlässigkeit und eines Transfers zwischen der akademischen Theo­lo­gie, der monastischen Spiritualität, der Seelsorgepraxis von Priestern und der Alltags­ fröm­ mig­ keit von Laien“630 beschreibt Berndt Hamm die Omnipräsenz der Gnadenthematik im ausgehenden Mittelalter, wobei er auf den komplexen Charakter dieses Terminus und der mit ihm verknüpften Konnotationen verweist: Wenn ich von „Gnade“ spreche, meine ich alle möglichen Vorstellungen, Erwartungen und Angebote von Güte, Huld und Erbar­men, Segen, Befreiung und Rettung, Heiligung und Stärkung, Hilfe und Schutz. Im Blick ist damit die Wesens- und Wirksphäre Gottes, Gottvaters, Jesu Christi und des Heiligen Geistes, einschließlich der Mitwirkung Marias und der Heiligen, eine Art von schützender Heilig­keit, die in barmherziger Zuwendung dem hilfs­bedürf­tigen Menschen nahe kommt, um ihn vor irdischem und jenseitigem Schaden zu bewahren, ihm zeitliches Wohlergehen und/ oder ewiges Heil zu schenken.631

Die Zentralstellung der Gnade als theologischem Diskussionsfeld par excellence ver­dank­te sich nach Hamm unterschiedlichen Voraussetzungen, wobei Entwicklungen im 12. und 13. Jahrhundert auf dem Gebiet einer veränderten Christologie, die neuartige Seel­sorge­bewegung der Bettelorden sowie die Zunahme vielfältiger Ängste und Angst­szenarien eine besondere Rolle spielten.632 Vor dem Hintergrund einer neuartigen Wahrnehmung Gottes als menschgewordenem Er­löser, der dem Frommen als Kind in der Krippe, als Heiland am Kreuz und liebender Bräu­ti­gam nahe kommt, eröffneten sich dem Frommen neue Perspektiven, sich der gnädi­gen Zuwendung jenes nahen, berührbaren Gottes anzuvertrauen.633 Zudem traf die Omnipräsenz der Bettelorden in den neuen Zentren des Lebens, der Städte, und ihr Sendungsbewusstsein, die Lehre von der Gnade Gottes in ihren Laienpredigten „unters Volk zu bringen“ auf die wachsende Bedürftigkeit nach Heilsvergewisserung in einer zunehmen unheilvollen Gegenwart, die von innerlichem und äußerlichem 629 

Hamm, Gottes gnädiges Gericht, 17. Ders., Die „nahe Gnade“, 541. K aufmann, Sinn- und Leiblichkeit, 14 verweist überdies auf die in mehreren Publikationen Berndt Hamms auftauchende „‚Polarität‘ von ‚sakralinstitutioneller‘ und ‚interiorisierender‘ Frömmigkeit.“ 631  Hamm, Die „nahe Gnade“, 541. Vgl. zu den verschiedenen, teils stark differierenden Lehrmeinungen und Definitionen von Gnade im ausgehenden Mittelalter Scheffczyk, Gnade, 1519–1521. 632  Vgl. dazu detailliert Hamm, Die „nahe Gnade“, 542–545; sowie insgesamt Dinzelbacher, Angst. 633 So Hamm, Die „nahe Gnade“, 542. 630 



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Krisen­bewusst­sein bestimmt war:634 „Die nahe Gnade ist eine Antwort auf die nahe Ungnade.“635 So lässt sich festhalten, dass das Moment der Angst und die Botschaft der Gnade im aus­gehen­den Mittelalter aufs engste miteinander verflochten waren und es geraten scheint, sie nicht gegeneinander auszuspielen sondern sie in ihrer bleibenden Ambiva­lenz636 zusam­menzu­denken, wie Berndt Hamm es fordert: „Das Drängen nach naher Gnade ist […] die spiegelbildliche Reaktion auf die Eskalation spätmittelalterlicher Ängste vor der nahen Ungnade.“637 Gerade die Vielfalt der frommen Praktiken, der Bildmotive und Texte, die sich den The­men­ feldern von gesteigertem Sündenbewusstsein, diesseitigen und jenseitigen Ängsten, Buß­werken, Gnadenvergewisserung und Heilssehnsucht widmen, belegt die zunehmende Inten­sität der Sehnsucht nach Gnade und Barmherzigkeit. Hierbei lässt sich sowohl eine „In­tensivierung der Formen der Gnaden-/Heilsaneignungen des Einzelnen“ als auch eine „Ver­stärkung der objektiven Quantifizierung des Gnaden- und Heilsgewinns“638 beob­ach­ten. Auf welche Weise die Vermittlung des Heils in einer Epoche stattfinden konnte, in der ein sich gegenseitig bedingendes und beeinflussendes Ineinander von „Nahvergegen­wär­ti­gung der Gnade“ und „Entwicklung einer neuartigen Medialität“639 herrschte, stellt Hamm in einem differenzierten Schema dar. So beschreibt er Christus als „Gnaden­me­di­ um erster Ordnung“,640 dem die Partizipationsmedialität sowie an dritter Stelle schließ­lich Hilfs- und Erleichterungsmedien untergeordnet waren.641 634  Vgl. dazu ebd., 542–544. Neben den offensichtlichen existentiellen Gefährdungen, die von den mehr­fachen Pestwellen ausgingen, führt Hamm auch die steigenden religiösen Maßstäbe und An­spruchs­haltungen an, die zu einer „Panik des Ungenügens“ führte, die noch dazu Hand in Hand einher­ging mit einer „Umzingelungsphobie“ vor dämonischen Mächten (so ebd., 544). Vgl. zum Thema der gesteigerten Ängste auch Grabmayer, Europa, 102. 635  Hamm, Die „nahe Gnade“, 544. 636  Mit Blick auf die Ambivalenz gibt auch Ohst, Gottes Nähe, 359 zu bedenken: „Im späten Mittel­alter wurde intensiver als zu anderen Zeiten ein wie auch immer vermitteltes Hineinwirken Gottes in menschliche Lebenswelten erwartet bzw. erfahren – richtend, strafend und vernichtend, aber vor allem doch helfend, begnadigend und heilend. Seine Tauglichkeit zu diesem Zweck hat der meta­pho­ri­sche Begriff der Nähe Gottes, der ja immer auch die Notwendigkeit in sich trägt, sein Gegen­teil, die Ferne Gottes, mitzudenken, eindrucksvoll erwiesen.“ 637  Hamm, Weg zum Himmel, 9. Mit Blick auf Tendenzen, einen der beiden Aspekte zu vernachlässigen vgl. ders., Die „nahe Gnade“, 547. 638  Litz, Depotenzierung, 88. 639  Hamm, Religiosität, 513 sowie ders., Gnadenmedialität, 43. 640  Litz, Depotenzierung, 89 fasst die Ausführungen Hamms wie folgt zusammen: „Gott tritt durch seine Inkarnation und Passion und damit als Medium der Leibhaftigkeit des Erlösers in die innigste leib­lich-seelische Kommunikation zum Menschen […]. Vor allem seit Bernhard von Clairvaux wird der nahpräsente Erlöser, das Christkind und der Schmerzensmann, zum Gnaden- und Heilsmedium schlecht­hin.“ Bei der Vergegenwärtigung der Nähe Christi spielen Abbildungen der Seitenwunde und des aus ihr strömenden Blutes ebenso eine Rolle wie Bilder, auf welchen Christus den Menschen um­armt oder küsst. Auch Maria und die Heiligen konnten an dieser Stelle integriert werden wie Leppin, Repräsentationsfrömmigkeit, 382–384 betont. 641  Dabei handelte es sich bei den Partizipationsmedien um Medien wie etwa die Bibel, Legenden über Heilige, Erbauungsschriften, Gebete, Predigten und auch die Sakramente

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Auf die Fülle der Texte, Kunstwerke und religiöser Praktiken kann hier nicht im Ein­zel­nen eingegangen werden. Doch bleibt festzuhalten, dass dem um Gnadenerwerb und Gna­ den­ vergewisserung bemühten Menschen gleichsam ein Überangebot zur Verfügung stand, aus dem er höchst individuell und doch oftmals eingebunden in kollektive Bezüge aus­wählen konnte. Ganz gleich, ob er im Stande war, komplexe Meditationstexte zu Chri­stus am Kreuz642 zu lesen oder sich anhand einprägsamer Schemata in seinem Alltag die Stationen der Passion zu vergegenwärtigen,643 ganz gleich, ob er es sich leisten konnte, eine Wallfahrt644 zu einer weit entfernten heiligen Stätte anzutreten oder auf das in einer nahe­gelegenen Kapelle ausgestellte Tabernakel angewiesen war,645 ganz gleich, ob er die Mög­lich­keit hatte, einem Passionsspiel im öffentlichen Raum beizuwohnen oder sich angeregt durch Bildmotive wie Christus als Pelikan, der Kirche, aber ebenso um Reli­quien, Ablässe oder Wallfahrten; unter Gnadenmedien der dritten Ordnung versteht Hamm Me­di­en, welche als Zugangserleichterungen zu den Partizipationsmedien geschaffen wurden, wie etwa die Vervielfältigung des vera icon in preislich erschwinglichen, leicht zugänglichen „Kopien“ oder die Einrichtung von Nahwallfahrten, die auch den weniger vermögenden Gesellschaftsschichten Zu­gang zum Heil eröffnen sollten; vgl. dazu Hamm, Religiosität, 513–543; ders., Gnadenmedialität, 59–71 sowie die pointierte Zusammen­fassung seiner Thesen bei Litz, Depotenzierung, 89 f. Mit Blick auf die Erfahrbarkeit der nahen Gnade spielten die menschlichen Sinne ebenso wie körperliche Voll­züge (wie Niederknien, Hingehen) eine große Rolle; zur „Körperlichkeit, Materialität und sinn­li­chen Wahrnehmbarkeit“ siehe auch Hamm, Gnadenmedialität, 70 f. 642  Zur Funktion geistlicher Passionsliteratur vgl. die sehr instruktiven Ausführungen bei Griese, Herz­mah­ner, 167. Griese führt dort aus: „[D]ie Texte stellen sich oft als Experimente, Übungsformen der Annäherung, als ein Handeln, auch als lebenslange rememoratio dar. Sie wollen letztlich eine Zwie­sprache des Einzelnen mit Gott formulieren und oft auch anleiten. Textualität unterstützt innere Formen der Andacht und Betrachtung, Formen der Hinwendung zu Christus und der Verinnerlichung, der Erzeugung innerer Bilder. Die Texte nennen sich selbst Zeitglöcklein, horologium devotionis, hortu­lus animae, Seelengärtlein, Schatzbehalter, Himmlische Fundgrube, Vita Christi, meditatio und oratio.“ 643  Vgl. dazu Angenendt, Religiosität, 584. 644  Als bleibendes Merkzeichen der unternommenen Wallfahrt und sichtbares „Medium des Heils“ etablier­ten sich an vielen Wallfahrtsorten die Herstellung und der Vertrieb metallener Pilgerzeichen; vgl. mit Blick auf Einsiedeln Schmidt, Vervielfältigung, 156 f. (mit Abbildungen). 645  „Auch Reliquien und Ablässe konnten alles andere sein als mühelos zu erreichende Medien der Gna­den­präsenz. Als eindrücklichstes Beispiel erwähne ich nur das berühmte Schweißtuch der Veronika, jene in der alten Peterskirche zu Rom aufbewahrte Tuchreliquie, die nach spätmittelalterlichem Glau­ben den realen Abdruck des Leidensantlitzes Christi, die ‚vera icon‘ darbot; wer zu ihr ‚von jenseits des großen Gebirges‘ nach Rom wallfahrte, erhielt dort, wie es in den meisten (differenzierenden) Zah­len­angaben hieß, einen päpstlichen Ablass von 12.000 Jahren und mehr – eine ferne Berührungs­reliquie Jesu und damit auch eine ferne Gnade, die nur strapaziös zu erreichen war. Durch die uner­mess­lich vielen Repliken dieses heiligsten Kult- und Gnadenbildes des Abendlandes, die es zusam­men mit seiner Ablasswirkung überall hintransferierten, wurde die ‚Vera icon‘ aber im ausgehenden Mittel­alter geradezu ein Massenmedium der nah-präsenten Gnade. Der Betrachter musste nicht mehr zum Bild kommen, sondern das Bild kam zu ihm“ (Hamm, Gnadenmedialität, 62). Als weiteres Bei­spiel nennt Hamm etwa das Schürstab-Epitaph in Nürnberg; vgl. ebd., 63 f. Zum Schweißtuch der Veronika siehe auch Wolf, Vera icon, 430–433 sowie ders., Veronika, 434.



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die Schutzmantelmadonna,646 den Schmer­zens­mann oder Interzessionsbilder entweder im häuslichen oder kirchlichen Kon­text in die heilsame Gnade Gottes zu versenken647 oder sich dieselbe im Krankenstand durch Gnadenbildchen einzuverleiben648  – in jenem ausdifferenzierten Kosmos der Heils­an­eignung konnte jeder und jede Zugang zur nahen Gnade erhalten. Dabei fällt auf, dass viele dieser Praktiken, zumindest im Moment ihres Gebrauchs, in kei­nem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Klerus standen. Dennoch lag nicht nur im Kon­text der heilsamen Buße eine große Verantwortung beim Priester beziehungsweise Prediger. Schließ­lich galten insbesondere die Messe649 wie auch die Predigt650 als Schauplatz und Mög­lichkeit des Heilserwerbs und als Zugangstor zur Gnade. Trotz der erstaunlichen quantitativen und qualitativen Fülle an Gnadenangeboten und trotz aller Verweise führender Theologen der Zeit auf die überwältigende Gnade Gottes, blieb das Bewusstsein der Notwendigkeit einer wahren Reue, einer vera contritio über die eigene 646  Das Potential Mariens, den über die Menschheit seit Adam und Eva verhängten Fluch aufzuheben, wird bei vielen spätmittelalterlichen Theologen betont, etwa bei Jean Gerson; vgl. dazu Burger, Marienpredigten, 120. Zur Relation Mariens und ihres Sohnes hält Burger dort fest: „Zusammenfassend kann man sagen, dass Maria von diesen hier bei­spiel­haft genannten Theologen, aber durchaus nicht nur von ihnen, als die neue Eva betrachtet worden ist, als Mittlerin des Heils in einem theologisch nicht wirklich durchreflektierten Verhältnis zu ihrem Sohn. Denn gewiß wollte keiner der genannten Theologen die Mittlerschaft Jesu Christi relativieren. Maria wurde ihrem Sohn beigeordnet, ohne dass diese Theologen in diesen Predigten darin ein Pro­blem gesehen hätten.“ 647  Die Betrachtung bestimmter Bildmotive wie etwa der Gregorsmesse oder sogenannter Lehrtafeln gal­ten als heilswirksam und wurden mit der Ablassgnade verbunden: „Das angeschaute und im Gebet aneig­nend bedachte Bild wirkte Gnaden“ (K aufmann, Sinn- und Leiblichkeit, 21). Zur Gregors­messe siehe etwa auch Gärtner, Gregorsmesse. 648  Zur Praxis der „Schluckbildchen“, bei denen es sich um etwa 5–30 mm große Repliken von Gnaden­bildern handelte, die im Krankheitsfall verzehrt werden konnten, vgl. etwa Hamm, Gnadenmedialität, 71 (Anm. 56): „Die ‚nahe Gnade‘ gewinnt hier also die Bedeutung einer einverleibbaren heilenden Gna­de.“ Oftmals waren auf jenen Bildchen Heilige abgebildet. Mit Blick auf die Heilsrelevanz der Heiligen ist stets deren direkte Anbindung an Christus zu vergegenwärtigen; vgl. dazu ebd., 59 (Anm. 29) sowie ausführlich Leppin, Repräsentationsfrömmigkeit, 376–391. 649  „Die Heilserwartungen in Bezug auf die Messe waren zweifellos gigantisch […]. Die Taxierung ihres Wer­tes orientierte sich freilich an den Tarifen für die Zeiten des Bußfastens, sodass sich in den Buß­bü­chern entsprechende Verrechnungen finden: eine Messe konnte mit zwölf Tagen, zwanzig mit sie­ben Monaten, dreißig mit einem Jahr verschärfter Bußzeit verrechnet werden“ (K aufmann, Sinn- und Leiblichkeit, 19). Aber auch die Errettung einer Seele aus dem Fegefeuer, die Bewahrung eines Ge­rechten vor einer Todsünde oder die Bekehrung eines Sünders wurde etwa in einer Handschrift aus St. Gallen aus dem frühen 15. Jahrhundert der Wirkung der Messe zugeschrieben (vgl. ebd., 19). 650 So ebd., 21 f.: „Die Überzeugung, dass das vor allem durch die Predigt vermittelte Wort auf dem zum Heil führenden Weg der Erkenntnis Gottes und der Tugend nicht nur nicht weniger nützlich sei als die Messe, sondern den Nutzen dieser sogar überwog, […] findet sich etwa auch programmatisch in dem verbreitetsten praktisch-theologischen Handbuch des späten Mittelalters, dem Manuale cura­to­rum des Ulrich Surgant, ausgeführt: ‚Die Predigt nütze für das Heil mehr als die Eucharistie‘ (‚Plus enim proficit [sic. Die Predigt] ad salutem quam eucharistia‘).“

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Sündenschuld bestehen, die ihrerseits jedoch kein eigenes Verdienst darstellte, son­dern – zumindest von den meisten Schulrichtungen651 – selbst als Gnadengeschenk Got­tes begriffen wurde. Die komplexe Gemengelage, die sich zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert immer wieder verschob, beschreibt Berndt Hamm wie folgt: Unter der Mehrzahl der früh­scho­lastischen Schultheologen des 12. und 13. Jahrhunderts bildete sich folgender Kon­sens heraus: Das Entscheidende an der Buße geschieht bereits durch die wahre Liebesreue, die der Heilige Geist im Herzen des Sünders wirkt. Sobald der sündige Mensch diesen bitter­li­chen Schmerz der Liebe empfindet […] empfängt er unmittelbar durch Gott die Ver­gebung seiner Sünden, das heißt ihrer Schuld und der ewigen, höllischen Sündenstrafe. Mit dem Liebesmotiv der Reue ist also bereits die vollgültige Rechtfertigung des Sünders gegeben. Wer einen derartigen Reueschmerz, eine solche ‚vera contritio‘ in seinem Ge­wissen empfindet, hat immer auch den demütigen Wunsch, das priesterliche Buß­sakra­ment der Beichte und Absolution zu empfangen und sich der kirchlichen Bußdisziplin zu unter­werfen. Insofern ist jede echte Reue auf die Schlüsselgewalt der Kirche bezogen. Stirbt der Sünder aber in diesem seelischen Zustand der contritio, ehe der Kontakt zum Priester zu Stande kommt, dann ist er dennoch aufgrund der bereits vollzogenen inneren Ver­ söhnung mit Gott gerettet. Das entscheidende Gewicht im Bußgeschehen liegt also nun, seit dem 12. Jahrhundert, nicht mehr auf der Tatebene der satisfactio, sondern auf der Empfindungsebene der verwundenden, trauernden Liebe. Hier entscheidet sich Selig­keit oder Verdammnis.652

Dass die wahre Reue sich vor allem durch ihre Motivation erkennen lasse  – nämlich der Lie­be zu Gott, nicht der Angst vor Strafe – machte etwa Abaelard deutlich: Und das ist in Wahrheit fruchtbringende Reue, wenn solcher Kummer und Seelenschmerz nicht aus Furcht vor Strafe, sondern vielmehr aus Liebe zu Gott entsteht, den wir als so gütig kennen­gelernt haben. Unter solchem Seufzen und innerem Kummer aber, den wir wahre Buße nennen, bleibt eine Sünde nicht bestehen.653

Zu einer Akzentverschiebung kam es im 13. und 14. Jahrhundert: Bei allem Gewicht, das auch im Spätmittelalter nach wie vor auf das entscheidende Kriterium der Liebesreue fällt, verlagert sich doch  – verglichen mit dem 12. Jahrhundert  – der Akzent wieder stärker auf die äußere Dimension der Buße, auf das Bußsakrament mit Beichte und Absolution durch den Priester und auf die satisfaktorischen Werke.654

651  Zu den immer stärker divergierenden Lehrmeinungen, etwa zwischen der durchaus positiven Ein­schät­zung der menschlichen Fähigkeit zum Reueschmerz seitens der Ockhamisten und der dies­bezüg­li­chen Skepsis etwa der Augustinereremiten vgl. Hamm, Der frühe Luther, 14. 652  Ebd., 7 f. 653  Hommel, Nosce teipsum, 118. 654  Hamm, Der frühe Luther, 11.

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Neben den intensiven Verinnerlichungstendenzen, die auf die Relevanz der inneren, wahr­haften Reue verweisen, wird die Notwendigkeit äußerer Bußpraktiken also nicht voll­kommen aufgegeben. In welch komplexen Denkgebäuden sich der mittelalterliche Fromme zurechtzufinden hatte, zeigen die leidenschaftlich diskutierten Unterscheidungen zwischen contritio und attritio655 oder die Ausdifferenzierung innerhalb der Sündenlehre in zeitliche und ewige Stra­fen. Besonders drängend erschien die Frage nach den Bußübungen, wenn diese stellvertretend für die Verstobenen und deren Errettung aus dem Fegefeuer geleistet wurden. Hier traten durch­aus arithmetisch anmutende Überlegungen auf den Plan, etwa wenn die konkrete Anzahl diverser Bußleistungen durch Lebende (wie Gebete und andere Frömmig­keits­prak­tiken) mit der Tilgung einer konkreten Summe der Verweildauer bereits Verstorbener im Fegefeuer gleichgesetzt und gegengerechnet werden konnten: Als sich die Vor­stel­lung einer jenseitigen Läuterung im Fegefeuer weiter entfaltete und dabei die Lebenden für die im jenseitigen Läuterungsfeuer Leidenden stellvertretende Bußwerke von Erden aus nachliefern konnten, steigerte sich dabei die Zahlenhaftigkeit. Die ‚Offenbarungen‘ der Adelheid Langmann […] bieten zahlreiche und genaue Angaben; auf ihre Frage an Christus, ob sie mit ihrer Frömmigkeit auch Arme Seelen erlöst habe, erhält sie die Antwort: „Wohl dreißigtausend Seelen wurden ledig ihrer Bande und gleich viel Sünder wur­den bekehrt und gleich viele frommer Leute befestiget.“ Derartige Zahlen lassen sich bei den deutschsprachigen Mystikerinnen vielfach nachweisen, am ausgiebigsten bei Chri­stine Ebner […], für deren Gebetsleistungen die Erlösung von 23.710.200 Seelen zu errechnen ist.656

Während man sich auf dem Gebiet der tatsächlichen satisfaktorischen Praxis relativ prag­ma­tisch auf ausgefeilte Regelwerke verlassen konnte,657 stellte die Frage nach der wahr­haft empfundenen Reue den Frommen vor weit größere Herausforderungen. Gerade aus der engen Koppelung der Hoffnung auf Heil und Gnade mit der Notwendigkeit eines wahr­haften Reueschmerzes über die eigene Schuld erwuchs die Frage, was den Menschen über­haupt dazu befähige, 655 

Selbst der Zustand der attritio konnte bei Seelsorgern wie Johannes von Paltz noch weiter aus­differen­ziert werden; vgl. dazu ausführlich Hamm, Reformation of Faith, 98. Zur spätmittelalterlichen Dis­kussion über das Bußsakrament als Möglichkeit der Verwandlung einer unzulänglichen attritio in die heilswirksame contritio vgl. ders., Gnadenmedialität, 61. Zu den möglichen Untiefen bleibender Verzweiflung trotz Ablassangeboten und Beichtmöglichkeit vgl. nur Ohst, Plichtbeichte, 288. 656  Angenendt, Religiosität, 582. 657  So gab es eine Fülle von Schriften, die den Einzelnen in seiner religiösen Praxis konkrete Anweisun­gen gaben und als lebenspraktische Handreichung zur Bewältigung der eigenen Sünden zu gebrau­chen war: Hierbei spielte das Phänomen der (durchaus auch kritisierten) „gezählten Frömmigkeit“ (vgl. dazu ebd., 581–584) eine entscheidende Rolle wie auch die Zuordnung von körperlichen Ver­ gehen und deren Sühne durch körperliche Askese wie Selbstzüchtigungen, Fasten oder selbst­ge­wähl­te Armut; vgl. dazu ausführlich ebd., 560–577. Pädagogisch besonders einprägsam waren Kop­pelun­gen von Lasterkatalogen mit der „Arznei der Vaterunser-Bitten“ oder den Werken der Barm­herzigkeit; vgl. dazu ebd., 584.

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diesen liebeserfüllten Schmerz, diese schmerzliche Liebe in sich zu entfachen. Beson­ders die Mystik, aber auch die Frömmigkeitstheologie der Zeit gab auf diese drängen­de, heilsrelevante Frage inmitten der überwältigenden Angebotsflut658 eine norma­tive, „zentrierende“ Antwort: Versetze Dich immer wieder neu in die Leidensgeschichte Christi! Übe Dich im Nachvollzug der Passion! Vergegenwärtige Dir den Schmerzens­mann als nahen, greifbaren und zugewandten Gott, der Dich seiner Gnade vergewissert. Erkenne seine Wunden als Ausweis seiner Liebe zu Dir und lass sie Dir zum stimulus dei­ner eigenen, erwidernden Liebe werden! Programmatisch erscheinen die Worte des Heinrich Seuse, welcher die innere und äußere com­passio des Menschen mit der passio Christi, die „meditierende wie auch praktizieren­de Anteilnahme am Leiden Christi“659 ins Zentrum jedes Strebens nach rettender Gnade stellte, indem er Christus die Worte in den Mund legt: [D]as kleinste Tröpflein meines kost­baren Blutes, das da unmäßiglich aus meinem minnereichen Leibe floß, das ver­möchte für tausend Welten Sünde genug zu tun; und doch zieht jeder Mensch nur so viel von der Genugtuung an sich, soviel er mir durch Mitleiden gleichkommt […]. Und daß ich es dir kurz sage, so wisse, daß alle Meister der Zahlen und Maße das unermeßliche Gut nicht berechnen können, das verborgen ist in emsiger Betrachtung meines Leidens.660

Man könnte vielleicht von einem „fröhlichen Wechsel“ sprechen, wenn der Fromme in der Betrachtung des Leidens, das ihn zur compassio führen soll, zugleich der über­wälti­gen­den Erfahrung der compassio Gottes mit dem Sünder teilhaftig wurde! Die zentrale Frage des ausgehenden Mittelalters, die Sehnsucht nach der nahen, greif­b a­ren Gnade, so lässt sich festhalten, verband sich unauflöslich mit der Zentrierung auf die Passion Christi. Das Mitleiden Christi mit dem sündigen Menschen konnte man nirgends greif­b arer und glaubhafter vermitteln als in der Fokussierung auf das Kreuz Christi. Diese Konzentration auf die Passion als Ort der Heilsvergewisserung und als Schauplatz der Vergegenwärtigung der Gnade findet sich auch bei den einschlägigen Quellentexten der vorliegenden Arbeit. Darüber hinaus belegen besonders die herausragenden kirchenhistorischen Persön­lich­kei­ten der Elisabeth von Spaalbeeck, Gertrud von Helfta und Angela von Foligno, dass ne­ben der bereits erwähnten, mathematisch anmutenden, 658  Hier könnte erneut ein modernes Vergleichsbild angeführt werden, das den Sachverhalt verdeutlicht: So wie heute die Möglichkeit besteht, sich durch viele kleine Versicherungspolicen gegen diverse Schadens­fälle abzusichern oder ein umfassendes „rundum-sorglos-Paket“ abzuschließen, so konnte der mittelalterliche Mensch sein Heil zum einen in vielen kleinen Praktiken der Heilsvergewisserung suchen oder aber der sich alles überbietenden Wirkmächtigkeit der Passion Jesu anvertrauen. 659  Angenendt, Religiosität, 648. Berndt Hamm führt zu dieser Doppelstruktur aus: „Through their devotions, sinners were to appropriate the Passion affectively and operatively, in their hearts and in their actions“ (Hamm, Reformation of Faith, 41). 660  Deutsche Übersetzung nach Angenendt, Religiosität, 648.



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stellvertretenden Gewähr­leistung der Gnade durch den exemplarischen Frommen und seiner Ableistung einer be­stimmten Anzahl von Gebeten (Quantität), auch die Qualität des Gebetes beziehungsweise die wirk­mächtige Lösegewalt der Beterin als Gnadenmedium und Heilmittel begriffen wurde. Im Falle der Elisabeth von Spaalbeeck hält Philipp von Clairvaux in seiner Rolle als zu­nächst skeptischer Überprüfer ihrer Orthodoxie voller Anerkennung fest: Auch wissen wir durch eine gewisse allerwürdigste Person der Glaubwürdigkeit, welche wir nicht wa­gen wegen einer Empfehlung des Geheimen preiszugeben, dass die Gebete, Lei­den, Fürbitten der oft genannten unschuldigen Jungfrau viele Tausende von Seelen aus den Fesseln der Süden und den Strafen des Fegefeuers befreit haben.661

Darüber hinaus erweist sich Elisabeth in ihrer Passions-Performanz als lesbares Buch der Gnade Gottes auch und gerade für die Ungebildeten. Elisabeths Körper entspricht gleichsam einem lebendigen Veronika-Tuch, welches allen Menschen die Gnade Gottes und das Heil zu vermitteln vermag.662 Im Falle der Angela von Foligno attestiert deren Beichtvater Frater Arnaldus ihr jene Löse­gewalt für andere, ohne dass Angela selbst der Erkenntnis ihres eigenen Ange­wiesen­seins auf die göttliche Gnade angesichts ihrer Unzulänglichkeit663 enthoben wäre. Dennoch ist es Angela gegeben, so erzählt es Passus  17 des Liber Lelle, eine bleibende Sicher­heit, Licht und glühende Gottesliebe zu finden, indem sie sich in die Passion Christi ein­schließt.664 Diese alles übertreffende Erfahrung des Heils vermag Angela nun auch anderen weiterzugeben. So stellt ihr Beichtvater ihre Interzessions­gewalt derjenigen Mariens an die Seite und beschreibt die Mystikerin als Gottes geliebte Dienerin, in deren Ver­dienste die Bettelmönche wie Zweiglein eingepfropft werden (cuius meritis nos ut ramusculos dignatus est inserere); Angela wird zur Leiter, auf welcher die Mönche bis zur Passion Christi hinaufsteigen (ut per ipsam, tamquam per scalam salutarium exem­plo­rum et radicalium meritorum), um vollständig in sein Leiden verwandelt zu werden.665 661  Intelleximus etiam per quadam fide dignissimam personam, quam propter secreti commendationem prodere non audemus, quod saepedictae virginis innocentis orationes, passiones, supererogationes multa millia animarum a vinculis peccatorum et poenis purgatorii liberarunt (Philipp von Clairvaux, Vita, 377, Z. 13–17). Zu Elisabeths Sorge um die Seelen anderer vgl. auch Zimdars-Swartz, Stigmata, 22. 662  Es gilt, auch dem Ungelehrten (idiota) zu ermöglichen, in den Gliedmaßen, im Körper dieses Mädchens, das einem lebendigen und offenliegenden Veronikatuch verglichen wird, ein lebendes Bild seines Heils und eine beseelte Geschichte seiner Errettung zu lesen: […] cum non in membranis aut chartis, sed in membris et corpore memoratae nostrae puellae, scilicet vivae et apartae Veronicae, suae salvationis vivam imaginem et redemptionis animatam historiam sicut litteratus ita valeat legere idiota (Philipp von Clairvaux, Vita, 373 Z. 11–14). 663  Vgl. dazu ausführlich A.2.1.2.2. 664  Et tunc reclusi me in passione Christi (Angela, Mem.  I, Z. 212). Zugleich ist Angela sogar bereit, die Gottesferne zu akzeptieren, wenn dies dem göttlichen Willen entspräche; darin ähnelt die italieni­sche Mystikerin Meister Eckhart. 665  Vgl. dazu Angela, Ins. IV, Z. 228–233.

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Ange­la eröffnet ihnen eine Perspektive der Gnade und des Heils; ihr Eintreten für die Mönche schenkt diesen bleibende Hoffnung: „eins mit dem seligen Jesus in den väter­li­chen Gewandbausch eintretend mit jenem Ruhe [zu] finden, wo alle Ruhe ist der Seligen für alle Ewigkeit.“666 Gertrud von Helfta schließlich beschreibt sich im Legatus als eine Fromme, die ohne eige­nen Verdienst die Früchte der Gnade, die ihr aus der Seitenwunde Christi zuwachsen, nicht für ihr eigenes Heilwerden zurückbehält, sondern dieses Heil weitergibt, wobei die Gesamt­heit der Christianitas berücksichtigt wird. Sowohl die sich im Paradies befind­lichen Menschen, als auch die Seelen im Fegefeuer und nicht zuletzt die noch auf der Erde wandelnden Menschen haben Teil an Gertruds Gnadenerfahrung: Vermehren sie dort Freude, lindern sie dort die Strafen, vertiefen sie hier die vera contritio, so bestärken sie dort die Gewissheit der Gnade!667 Es erscheint mir als theologisch bedeutsam, dass an dieser Stelle Gertruds Passivität eigens betont wird. Explizit sind es die Früchte der Sei­ten­wunde, nicht ihre eigenen Bußleistungen oder Gebete, die sie weiterzugeben vermag. Und noch ein weiteres Moment wird in allen drei Fällen deutlich: Gnadenvergewisserung ist ein kollektives, kein egozentrisches Geschehen; Gnade soll stets auch Gnade für andere sein, wenngleich sie auch zunächst „nur“ darin bestehen mag, die Bitterkeit der Buße bei den Sündern zu vertiefen, was freilich selbst als Gnadenerweis verstanden wer­den muss. Was bei Gertrud von Helfta bereits anklang, soll nun unter Anführung der übrigen Quellen­texte im Folgenden vertieft und ausgeführt werden: Die These, dass innerhalb jener lei­den­schaftlichen Suche nach Gnadenvergewisserung auf dem Feld der Passions­be­trach­tung der Seitenwunde eine Sonderrolle zukam. Im Angesicht und im Horizont der geöff­ ne­ten Seite Christi, so scheint es, bestand die Möglichkeit, aller Heilsungewissheit vehe­ment zu widersprechen und schon jetzt und für die Ewigkeit eine alles übersteigende Heils­vergewisserung zu finden.

8.2  Die Seitenwunde als Verkörperung der „nahen Gnade“668 Dass sich das ausgehende Mittelalter sowohl durch die Omnipräsenz der Gnaden­ sehn­ sucht als auch durch die bedrängende Präsenz zahlreicher Verunsicherungs­ fak­ to­ ren cha­ rak­ terisieren ließe  – daran besteht wohl kein Zweifel. Der Niederschlag jener überwältigenden Gnadensehnsucht in einer beinahe unüberseh­ ba­ ren Fülle von Gnadenmedien hinterlässt dabei einen 666  donec, una cum benedicto Jesu introeuntes in paternum sinum, requiescamus cum illo, ubi est omnis requies beatorum in saecula saeculorum (ebd., Z. 233–235). 667  cujus pars defluens in superos, ipsis gaudium cumulavit; pars vero defluens in Purgatorium, poenas eorum mitigavit; pars autem defluens in terras, justis dulcinem gratiae, et peccatoribus amaritudinem poenitentiae augmentavit (Gertrud, Legatus III, C. XVIII/6, Z. 21–25). 668  Die Begrifflichkeit der „nahen Gnade“ übernehme ich von Berndt Hamm. Siehe dazu ausführlich bereits unter B.8.1.



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doppelten Eindruck: Den einer zu­neh­mend lückenlosen Absicherung und den Eindruck einer zunehmenden Verun­si­cherung. Schließlich mochte sich der um sein Seelenheil besorgte Fromme gerade ange­sichts jenes überbordenden Angebots der Unmöglichkeit bewusstwerden, alle Angebote, alle Wege zum Heil wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang greift Berndt Hamms Beobachtung einer zunehmenden „nor­ma­tiven Zentrierung“ erneut und mag an dieser Stelle in besonderer Weise auf die Seiten­wun­den­frömmigkeit angewendet und letztgültig zugespitzt werden. In der Seitenwunde Christi, so die These der vorliegenden Arbeit, konnte der sich nach Gnade und Heil sehnende Fromme den Fluchtpunkt, das Zentrum all seiner Bemühungen um Gnade und Heil finden. Auch wenn weder die Notwendigkeiten der Buße noch die Relevanz der wahren Reue in Abrede gestellt werden, steht die Seitenwunde Christi als Zugang zum Heil voraussetzungslos, unmittelbar offen und zugleich allen Frommen als Verkör­pe­rung der nahen Gnade vor Augen. Der „von seinem Urquell abgezogene“, aus dem Para­ dies vertriebene Mensch vermag den Rückweg zur Gnade, zu Heil und Errettung in einem Augenblick zu finden, wenn er etwa dem Ratschlag des Johann von Neumarkt in dessen Werk Stimulus Amoris, der „Stachel der Liebe“ aus dem 14. Jahrhundert folgt: „Sieh und nimm wahr: Die Pforte des Paradieses steht offen und der Speer des Longinus, des Ritters, hat abgetrieben und weggewiesen das feurige und zweischneidige Schwert, das für das Paradies zur Hute gesetzt war.“669 Beinahe lakonisch macht Johann von Neumarkt deutlich, worauf es ankommt: Um das schlich­te, rein passivische Sehen, Wahrnehmen und Anerkennen der Heilstat, an welcher der Mensch selbst keinerlei Anteil hat. Der geöffnete Leib des Passionschristus, verwun­det durch den Speer des Longinus, ist zugleich die geöffnete Paradiespforte. Jene Waffe der Passion ist zugleich die Überwinderin des feurigen Schwertes, von dem in der Genesis die Rede ist. Der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies steht die Heimkehr in das­selbe gegenüber. Jedwede Trennlinie zwischen Gott und Mensch fällt und kann als über ­wun­den geschaut werden. Dass der Schauplatz dieser „Revolution der Gnade“ in der Seitenwunde Christi zu suchen ist, belegen äußerst beredt auch die einschlägigen Quellen der vorliegenden Arbeit. In ihrer Reflexion über Schuld, Sünde, Unwürdigkeit und Versöhnung mit Gott weist die Helf­ta­er Theologin Gertrud in ihrem Legatus der Seitenwunde eine herausragende Schlüs­sel­rolle zu. Sich nach Versöhnung mit Gottvater sehnend, bittet sie Christus, sie ihm als würdig vorzustellen.670 Daraufhin widerfährt Gertrud die Reinwaschung und Neu­be­le­bung durch das 669  Sich vnd nym war: dy pforten des paradiz stet offen, vnd daz sper Longini, des ritters, hat abgetriben vnd weck geweyset daz fewͤrig vnd czweysneidig swert, daz fuͤr daz paradiz czw huͤte geseczt waz (Johann von Neumarkt, Stachel, 15, Z. 11–18). 670 Vgl. Gertrud, Legatus III, C. XVIII/4, Z. 1 f.

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aus der Seitenwunde hervorströmende Wasser und Blut.671 Nachdem sie ihre Heilsvergewisserung unmittelbar aus der Seitenwunde schöpft, begegnet ihr jene noch­mals in einer Vision, in der sie auf frappierende Weise als alles überbietenden Wurzel­grund der Gnade gezeichnet wird. Ihre eigene Seele schaut Gertrud als Baum, der in der Seitenwunde eingewurzelt ist: „[I]hre Seele, in der Gestalt eines Baumes, sah sie eine Wurzel in der Wunde der Seite Jesu befestigt zu haben“.672 Jene Einwurzelung ihres „Seelenbaums“ ist existentiell lebensverändernd, sowohl für ihre eigene Gnadenvergewisserung als auch für das Seelenheil der anderen! Aus der Seiten­wun­de zieht Gertruds Seele wie ein Baum jene Kräfte, die ihr zum Wachstum von Früch­ten gereichen, die den Status des Heils für Lebende und Verstorbene beeinflussen, indem „ein Teil derer, zu den Oberen fließend, denselben die Freude vermehrte; aber ein Teil floss in das Fegefeuer und milderte deren Strafen; aber ein Teil floss auf die Erde, und ver­mehrte für die Gerechten die Süße der Gnade und für die Sünder die Bitterkeit der Buße.“673 Aber auch Gertrud selbst wird durch die Einwurzelung in die Seitenwunde von Gnade und Heil durchdrungen und sie erfährt darin eine alles überbietende Verwandlung (con­ver­satio): [D]urch die Wunde selbst, wie durch eine Wurzel, fühlte sie auf eine gewisse neu­artige wunderbare Weise, dass sie sozusagen durch einzelne Zweige, zugleich auch durch Früchte und Blätter durchdrungen wird: Durch die Tugend der Menschlichkeit und zugleich der Göttlichkeit, in solchem Maße, dass die Frucht diesen ganzen Strömens selbst durch sie einen neuartigen Glanz zurückgegeben hat – wie wenn Gold durch Kristall leuchtet.674

Die Pointe des gnadenvergewissernden Inkorporiertwerdens in die Seitenwunde, das im drit­ten Buch des Legatus thematisiert wird, wird durch zahlreiche weitere Passagen, die sich mit der Heilsamkeit aller fünf Kreuzeswunden675 befassen, bereits im zweiten Buch vor­bereitet und ergänzt. Auch dort steht die Seiten671  „jener liebreichste Jesus schien sie durch den Vapor seiner Liebe seines verwundeten Herzens zu sich zu ziehen und sie im daraus fließenden Wasser abzuwaschen, daraufhin sie durch das belebende Blut seines Herzens zu nähren.“ ipse amantissimus Jesus per vaporem amoris sui vulnerati Cordis eam sibi attrahere videbatur et abluere in aqua inde profluenti, deinde irrigare ipsam in sanguine vivi­ficante sui Cordis (ebd., C. XVIII/5, Z. 14–17). 672  animan suam, in similitudine arboris, conspiceret radicem habere fixam in vulnere lateris Jesu Christi (ebd., C. XVIII/6, Z. 2 f.). 673  cujus pars defluens in superos, ipsis gaudium cumulavit; pars vero defluens in Purgatorium, poenas eorum mitigavit; pars autem defluens in terras, justis dulcinem gratiae, et peccatoribus amaritudinem poenitentiae augmentavit (ebd., Z. 21–25). 674  per ipsum vulnus tamquam per radicem, novo quodam mirabili modo sensit se quasi per singulos ramos simul et fructus atque folia penetrari a virtute humanitatis simul et divinitatis, in tantum quod fructus totius conversationis ipsius per eam novum reddidit splendorem, sicut aurum lucet per crystallum (ebd., Z. 3–9). 675  Gertrud orientiert sich hier an jenem einschlägigen Schema, welches die Wunden an Händen und Füßen bestimmten Verfehlungen zuordnet, ohne diese Systematisierung jedoch detailliert auszu­f ühren.



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wunde im Zentrum der Reflexion über Schuld und Heil, wobei Gertrud eine Verbindungslinie zwischen der Meditation der Wun­den Christi, beziehungsweise der Seitenwunde und der Tilgung und Reinigung von Sünden und Makeln auszieht und sich dabei eines einschlägigen hamartiologischen Vokabulars bedient. Auch wenn komplexe Stichwortverbindungen, die einem Bußkatalog entspringen könn­ten, diese Passage prägen, auch wenn von Heilung (medicasti), Unwürdigkeit (indignitas mea), dem Abgrund der Liebe (abyssum pietatis), dem Rost/Fäulnis der Sünde (rubiginem peccatorum) und der Wertlosigkeit der weltlichen Begierde (mundanae voluptatis vilita­tem) die Rede ist, so ist der Weg zur Heilwerdung und zur Erfahrung der Gnade selbst keines­wegs komplex, sondern vielmehr zentriert auf die heilsame Konfrontation mit der Sei­ten­wunde als dem „liebenden Reinigungsbad, aus welchem mir Blut und Wasser her­vor­strömte, allen Makel der fleischlichen und vergänglichen Lust abwaschend“.676 Dass Gertrud diese Reflexion mit Psalm 103 verbindet, bekräftigt ihr Be­kenntnis zu einem umfassenden Zutrauen in die Barmherzigkeit Gottes. Noch einmal, in Caput XXXI des vierten Buches des Legatus, benennt Gertrud von Helfta die Seitenwunde als das innerste und eigentliche Zentrum allen Trostes, auf das Christus selbst sie in einer Vision verweist. Auf ihre Frage „Wo ist, Herr, das Erinnerungszeichen, in welches ich hineinblickend die Freude des Trostes finden könnte?“677 antwortet ihr Chri­stus zunächst nonverbal, lediglich mit einer Geste: „Daraufhin zeigte der Herr auf die nämliche Wunde seiner Seite.“678 Es sind schließlich zwei Engel, die Gertruds Frage beantworten. Deren doppelte Antwort ver­sichert Gertrud einer Heilszusage, die man sonst wohl nur im Sakrament einer voll­stän­digen Buße679 und womöglich in der Kommunion erwarten würde: Die Ver­gewisserung der unauflöslichen Verbundenheit mit Christus und der vollständigen An­nahme aller ihrer Werke! „Als sie sich daraufhin niederbeugte, hörte sie wie abwechselnd diese zwei Worte von zwei Engeln: ‚Du kannst niemals von meiner Gemeinschaft ge­trennt werden! Alle deine Werke gefallen mir auf vollendete Weise!‘“680 Mit ihrer kühnen These, dass die Seitenwunde die wahrhafte Verkörperung der nahen Gna­de darstelle, dass sie als letztgültiger Zielpunkt allen Trostes und Schauplatz der unauf­kündbaren Gemeinschaft mit Gott und vollständiger 676  in amatorio lavacro, unde mihi profluxit sanguis et aqua, abluere omnem maculam carnalis et transitoriae delectationis (Gertrud, Legatus II, C. IV, 246, Z. 4–6). 677  Ubi est, Domine, monumentum in quod ego prospiciens invenire possim consolationis delecta­tio­nem? (Dies., Legatus IV, C. XXXI/1, Z. 4 f.). Im Kontext der Vision, in der Gertrud mit Maria von Magdala spricht, liegt die Übersetzung von monumentum mit „Grabmal“ zwar an sich auf der Hand; anders als in Kapitel A.2.1.1 wird dennoch an dieser Stelle mit dem allgemeineren Lexem „Erinnerungszeichen“ übersetzt. 678  Tunc Dominus ad vulnus lateris sui ipsam ostendit (ebd., Z. 6). 679  Zu den komplexen Regelwerken der spätmittelalterlichen Buße vgl. etwa Angenendt, Religiosität, 644–646. 680  Ad quod dum se inclinaret, deintus quasi vice duorum angelorum intellexit haec duo sibi dicta (ebd., Z. 6–8).

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Rechtfertigung zu betrachten sei, steht die Theologin aus Helfta nicht allein. Auch Angela von Foligno, deren ausgeprägtes Schuld- und Sündenbewusstsein ebenso wenig von der Hand zu weisen ist wie auch ihr differenzierter und kritischer Umgang mit eige­nen Bußleistungen, die sie bisweilen als teuflische Versuchung charakterisiert,681 stellt die Seitenwunde Christi ins Zentrum ihrer Erfahrungen von Gnade und Heil. In verschiedenen Passagen des Liber Lelle berichtet Angela von einer alle scrupulositas über­bietenden Erfahrung von Gnade, göttlicher Freude und völliger Entschuldung. Dieses Er­leben verbindet sich mit ihrem visionären Hineingetauchtwerden in die Seitenwunde Christi.682 Mit den immer wiederkehrenden Begrifflichkeiten „Freude“ und „Sicherheit“ beschreibt sie die überwältigende Gottesbegegnung in der Seitenwunde als Gnadenerfahrung, die alle anderen Möglichkeiten, sich mit Gott versöhnt zu wissen, weit übersteigt. Alle vor­heri­gen schmerzlichen Erfahrungen der Gottesferne und des Versuchtseins werden hier aufgehoben. Sicherheit anstelle von Verunsicherung, Freude anstelle von Traurigkeit werden Angela in der Seitenwunde zuteil: „Und einmal schien es meiner Seele, dass sie mit solch großer Freude und Lust eintrete, hinein in jene Seite Christi, und mit solch großer Freude in der Seite Christi umherginge, dass es auf keine Weise möglich ist, davon zu sagen oder zu erzählen.“683 Jeder Zweifel – auch jeder Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Visionserlebnisse – schwindet in dieser Geborgenheitserfahrung, die Angela mit der Seiten­wunde Christi verbindet.684 In ähnlicher Weise wie auch Gertrud verknüpft Angela mit der Seitenwunde Christi und dem in sie Inkorporiertwerden die Gewissheit des völligen Entschuldetseins und der un­auf­löslichen Gemeinschaft mit Christus. Auch Angela von Foligno bedient sich in jener Schlüssel­ szene des Liber Lelle, der Instructio IV, einer Fülle einschlägiger Begriff­lich­keiten der Sünden- und Gnadenlehre ihrer Zeit. In einer erneuten Vision Angelas über die An­hef­tung „ihrer“ Mönche an die Seite Christi685 vernimmt sie zugleich die Botschaft Christi von dessen vollständiger Tilgung der Sünden der Welt und der 681 

Vgl. dazu ausführlich Kapitel A.2.1.2.2. Frage, inwiefern die graduell abgestufte Aufnahme der Bettelmönche mit dem Ausmaß der Erlö­sung im Kontext des Armutsstreits aussagekräftig ist, muss hier dahingestellt bleiben; vgl. dazu Be­der­n a, Ich bin du, 127 sowie Lachance, Introduction, 24–27. 683  Et aliquando videtur animae quod cum tanta laetitia et delectatione intret intus in illud latus Christi, et cum tanta laetitia vadit intus in latus Christi, quod nullo modo posset dici vel narrari (ebd., Z. 255–257). 684  „Und auf diese Weise bin ich so versichert, dass ich nicht auf irgendeine Weise zweifle noch zweifeln kann.“ Et modo sum ita certificata quod nec aliquo modo dubito nec dubitare possum (ebd., Z. 269 f.). 685  Tunque ante istum benedictum Crucifixum ad matris desiderium congregati sunt omnes filii et absentes et praesentes, quos modo praemisso stringens et amplexans applicabat ad latus (ebd., Z. 162–164). „Und dann wurden, auf das Verlangen der Mutter hin, vor diesen seligen Ge­kreu­zig­ten alle Söhne, sowohl die abwesenden als auch die anwesenden, versammelt, welche er auf die bereits geschilderte Weise streichelte und umarmte und sie an die Seite anhefte­te.“ Der Rückbezug auf das Voranstehende wird besonders in der verkürzten Darstellung und der redaktionellen Notiz modo praemisso deutlich. 682 Die



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Sünden der Bettel­mön­che! Dabei spielen neben der Metapher des Bades und des Lösegeldes auch das Bild der sicheren Wohnstatt eine Rolle: „Und er sprach: ‚Ich bin es, der die Sünden der Welt trägt und ich habe alle eure Sünden getragen, damit sie euch in Ewigkeit nicht angerechnet werden. Hier ist das Bad eurer Reinigung, hier ist der Preis eurer Erlösung, hier ist das Haus eurer Wohnstatt.‘“686 Dabei differenziert sich die hamartiologische Reflexion Angelas in ihrer Darstellung der Seiten­wunde als Schauplatz der nahen Gnade noch weiter aus, wenn sie schließlich von einer dreistufigen Reinigung der Söhne in der Seitenwunde spricht, die neben der generel­len Abwaschung aller Schuld auch eine Immunisierung gegenüber zukünftigen Sünden sowie eine alles überbietende und eigentlich unsagbare Transformation ihrer Söhne in Gott in seiner Glorie wie in seiner Passion umgreift! Mit jenem dritten Aspekt beschreibt Ange­la eine Gnadengabe, deren Ausmaß sie selbst zu schrecken scheint beziehungsweise bei der sie zögert, diese zu kommunizieren, wie ihr Beichtvater festhält: Bei dem dritten aber handelt es sich um einen so großen Exzess, dass ich auf keinerlei Weise etwas von ihr erfahren konnte, weil sie selbst sagte, dass es völlig un­sag­bar wäre. Und als ich rücksichtslos darauf bestand, dass sie irgendetwas sagte, sagte sie endlich: Was willst du, das ich sage? Dieselben schienen in Gott verwandelt, so dass ich nichts anderes in ihnen sah als Gott, bald als der glorreiche, bald als der leidende Gott, so dass ich diese vollständig in ihn verwandelt und verschlungen sah.687

Angela musste es bewusst gewesen sein, dass sie mit jenem kühnen Sprachgebrauch, mit ihrem Gebrauch des Lexems der Transsubstantiation jenseits der kirchlichen Sakramen­ten­lehre eine gefährliche Gratwanderung beschritt. Und doch ist dieses Hineingenommenwerden in die Seitenwunde Christi gleichsam nur die Vorstufe der Erfahrung letztgültiger Geborgenheit am Busen Gottes, die Angela als para­diesisches Aufgehobensein und Ruhen bei Christus und den Seligen besingt, in dem man erlöst ist von aller Schuld und Gottesferne: „[S]chließlich, eins mit dem seligen Jesus ein­tretend in den väterlichen Schoß, mögen wir mit jenem zusammen ruhen, dort wo alle Ruhe der Seligen ist, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“688 In der Seitenwunde werden alle lebensnegierenden Momente von Selbstbezichtigung und Selbst­zweifel, von denen das Liber Lelle kündet, schließlich aufgehoben und weichen einem unsagbaren Erleben der nahen Gnade. 686  Et dicebat: ‚Ego sum qui tollo peccata mundi; et peccata omnia vestra tuli, nec vobis imputabuntur in aeternum. Hic est lavacrum vestrae mundationis; hic est pretium vestrae redemptionis; hic est domus vestrae habitationis‘ (dies., Ins. IV, Z. 164–167). 687  In tertia autem est tantus excessus quod omnino nihil poteram habere ab ea, dicente ipsa quod omnino est ineffabile. Cumque importune instarem quod aliquid diceret, tandem dixit: Quid vis ut dicam? Ipsi videntur transformati in Deum sic quod quasi nihil in eis aliud video quam Deum, nunc gloriosum, nunc passionatum, ita quod istos videtur totaliter in se transsubstantiasse et inabyssasse (ebd., Z. 175–180). 688  […] donec, una cum benedicto Jesu introeuntes in paternum sinum, requiescamus cum illo, ubi est omnis requies beatorum in saecula saeculorum (ebd., Z. 233–235).

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Diese erstaunliche, untrennbar mit der Seitenwunde verknüpfte Gnadentheologie ist kein, wie man vielleicht mutmaßen könnte, marginales Randphänomen, das sich singulär bei einer durchaus umstrittenen Mystikerin wie Angela von Foligno oder in einem doch rela­tiv abgeschlossenen Kosmos wie dem Kloster Helfta finden ließe. Sie begegnet vielmehr, wenngleich mit eigenen Akzentuierungen, auch inmitten des fröm­mig­keitstheologischen mainstream, wie die Vita Christi des Ludolf von Sachsen als eine der weitest verbreiteten Leben-Jesu-Darstellungen belegt. Auch mit Blick auf dieses breit rezipierte Werk ist zu konstatieren, dass von „Heils­un­gewißheit“ oder „Scrupulositas“689 wenig zu spüren ist, „weiß sich [doch] der Verfasser der Vita Christi fern jeder Heilsangst beim Blick auf die von der Liebe durchbohrte Seite des Herrn“.690 Ludolf behandelt in seinem Hauptwerk die Gnaden- und Heilsdimension der Seitenwunde aus  – vereinfacht gesprochen  – im Wesentlichen zwei Blickwinkeln, die hier je eigens be­trachtet werden sollen: Zum einen versteht er sie als Hort der nahen Gnade, da sie die Quelle der erlösenden Sakramente darstellt, zum anderen beschreibt er sie als Zugang und Ein­gangspforte zum wahren Leben als versöhnter und gerechtfertigter Mensch. Wendet man sich zunächst dem ersten Aspekt zu, so ist auffällig, dass das immer wieder neu hervorgehobene Erlösungspotential der Sakramente diesen keineswegs aufgrund ihres Konnexes mit dem Priesteramt, sondern aufgrund ihres eigentlichen Ur­sprungs­ortes, der Seitenwunde, eignet. Ludolf koppelt seine Ausführungen zur erreichbaren nahen Gnade in der Seitenwunde mit einer differenzierten Sündenlehre und setzt sie mit der wirksamen Erlösungskraft des aus der Seitenwunde hervorströmenden Blutes und Was­sers in Beziehung: „Und unaufhörlich flossen Wasser und Blut heraus, aus denen die Sakra­mente der Kirche [ihre] Wirksamkeit besitzen.“691 Auf Textpassagen des neuen und alten Testaments rekurrierend,692 entfaltet er nun im Folgenden den Gedanken, dass die voll­kommene Abwaschung (plena ablutio), sowohl der Sünden (peccata) als auch der Makel (maculae), also dem verbleibenden Rest der aktuellen Sünden, „der in der Seele auf Grund der Entfremdung von Gott oder der Gottunähnlichkeit herrscht“,693 mit der Seiten­wunde verknüpft ist. Dabei verweist die Auffassung des Blutes Christi als Lösegeld (pretium), mit dessen Hilfe der Sünder freigekauft wird, auf die zunehmend sakramentale Dimen­sion der Buße und der Erlösung. Thomas Lentes merkt dazu an: Das körperliche Leiden Christi galt als Ausdruck der Entsühnung der Menschen und gerade die Seiten­wun­de mit dem Ausfluß von Blut und Wasser wurde als das zen689 

Zur Thematik der Scrupulositas vgl. Grosse, Heilsungewißheit. Baier, Passionsbetrachtungen (Bd. 3), 464. 691  Et continuo exivit sanguis et aqua, ex quibus habent efficaciam Ecclesiae sacramenta (Ludolf, Vita Christi II, 136, r. Sp., Z. 45–47). 692  Ludolf formuliert in Anlehnung an 1 Petr 1,18 und Ez 36,25. 693  Scheffczyk, Sünde, 316 f. 690 

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trale Ereignis des Passions­geschehens verehrt. Aus ihr flossen die Gnadenströme des Heils, die die Sakra­men­te wie die Kirche als Ganze begründeten und nährten und den einzelnen Menschen ent­sühnten.694

Jene Gnadenströme von Wasser und Blut stellt Ludolf ins Zentrum des Er­ lösungsgeschehens. In Aufnahme von Ex 12695 und Ex 14,696 alttestamentlichen Texten, die er als Präfigurationen des erlösenden Geschehens am Kreuz deutet, weist Ludolf nun noch einmal auf die vollkommene Erlösung des Menschen durch das Vergießen des Blutes Christi hin, welches die Sünden (ubi est plena a peccatis ablutio), folglich die Sünden­strafen (ibi sequitur et a poenis redemptio) und schließlich auch die Makel tilgt (quia ubi est plena a peccatis ablutio, ibi sequitur et a poenis redemptio; et ubi est a maculis ablutio, ibi praecedit et a peccatis purgatio).697 Auch im folgenden Abschnitt Tria documenta e lanceatione lateris Christi, actus confor­ma­tionis et orati greift Ludolf in Anschluss an Chrysostomos den 694 

Lentes, Vermessung, 146. Auch Bodenstedt, Vita, 146, versteht Ludolf in dieser Weise: „Evidently, Ludolphus interpreted redemption to imply freedom from sin and union with God. The forgiveness of sin and the reconciliation with the Father are considered as effects of the shedding of Christ’s Blood.“ 695 „Durch das Blut des Lammes nämlich wird das Haus vor dem Schlag des Engels bewahrt.“ Sanguine enim agni domus servantur a percussione Angeli (Ludolf, Vita Christi II, 137, l. Sp., Z. 10–12). 696  „und durch die Wasser des roten Meeres werden die Feinde ausgelöscht.“ et aqua maris rubri exstinguuntur inimici (ebd., Z. 12 f.). 697  Die bereits mehrfach zitierte vollständige Textpasse aus dem Abschnitt 13 (Miraculum et significatio sanguinis et aqua de latere Christi fluentis) sei hier noch einmal in ihrer Gesamtheit angeführt: „Die von den Juden zugefügte Schmach aber war in einem Zeichen her­vor­ gegangen, weil auf wundersame Weise aus dem ausgelöschten Körper wahres Blut und klares Wasser herausflossen. Daraus folgt: Und unaufhörlich flossen Wasser und Blut heraus, aus denen die Sakra­mente der Kirche [ihre] Wirksamkeit besitzen. Dies aber ist geschehen, um zu zeigen, dass wir durch die Passion Christi die ganze Reinigung gewinnen, von den Sünden und von den Makeln: Von den Sünden freilich durch das Blut, welches der Preis für unsere Erlösung ist, gemäß jenes [Wortes] des Petrus: Ihr seid nicht durch vergängliches Gold und Silber losgekauft, sondern durch das kostbare Blut Christi; von den Makeln freilich durch das Wasser, welches ein Bad unserer Wiedergeburt ist, gemäß jenes [Wortes] des Ezechiel: Ausgegossen ist über euch reines Wasser, und ihr werdet gereinigt werden von all euren Befleckungen. Oder das Blut kann bezogen werden auf das Lösegeld und auf unsere Erlösung, damit wir von Strafen losgekauft werden; das Wasser aber auf das Bad und auf die Rein­waschung der Sünder, damit wir von Fehltritten gereinigt werden. Durch das Blut des Lammes näm­lich wird ein Haus beschützt vor dem Schlag des Engels; und durch das Wasser des roten Meeres werden die Feinde ausgelöscht. Es wurde vergossen, ich wiederhole es, jenes zur Erlösung, dieses zur Rein­waschung der Erlösten; jenes, um den Gefangenen loszukaufen, dieses, um den Unreinen rein­zuwaschen. Aber diese zweite Bedeutung wird durch die erste ausreichend verstanden: Weil dort, wo die vollkommene Reinwaschung der Sünden ist, die Erlösung von Strafen folgt; und wo eine Ab­waschung der Makel ist, dort auch die Reinigung von Sünden bereits vorangegangen ist.“ Sed contu­melia a Judaeis illata in signum prodiit, quia de corpore exstincto sanguis verus, et aqua pura mira­culose manaverunt. Unde sequitur: Et continuo exivit sanguis et aqua, ex quibus habent efficaciam Ecclesiae sacramenta. Hoc autem factum est, ad

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Gedanken auf, dass die Erlösungs­kraft der Sakramente diesen auf Grund ihres Ursprungsorts zukomme und auch der Glaubende in der Gegenwart diesen Bezug zumindest innerlich beziehungsweise intentional (ea inten­tio­ne) herstellen müsse: „Die zweite Lehre ist, gemäß Chrysostomos, dass wir die Sakra­mente der Kirche mit der[selben] Aufmerksamkeit und Andacht empfangen müssen, als wenn sie uns aus der Seite Christi zuflössen.“698 Ludolf nennt in einem Atemzug Erlösung und Reinwaschung von den Sünden und den Zugang zum wahren Leben als untrennbar mit der Seitenwunde verbunden. An dieser Stelle kommt der zweite Aspekt ins Spiel: die Seitenwunde als Verkörperung der nahen Gnade in ihrer Eigenschaft als Eingangstor zum Leben in Gott. Ludolf vermag diesen Aspekt wiederum mit dem ersten Gedankengang, dem Zugang zu den Sakramenten zu koppeln, etwa wenn er mit Blick auf die Seitenwunde konstatiert: [S]ie wurde geöffnet, damit sie ein Zeichen gebe, dass gewissermaßen die Pforte des Lebens offensteht; weil von dort die Sakramente der Kirche fließen, ohne die man nicht eingehen kann zum wahren Leben. Und beachte, dass das, was gesagt wird von den Sakramenten, die aus der Seite Christi aus­fließen, besonders mit Blick auf die zwei vornehmsten Sakramente zu verstehen ist, ohne welche man nicht ins Leben eintreten kann, nämlich das Sakrament der Versöhnung und das Sakrament der Reinigung.699

Zugleich zeichnet der Kartäuser die Seitenwunde jenseits ihrer sakramentalen Di­men­sion als Zugang zu Gnade und Leben, zur bleibenden Heilsvergewisserung. Dieser Zu­gang steht auch und gerade dem Sünder offen, wenngleich Ludolf an einer Stelle als Zu­gangsvoraussetzung dennoch eine „Leistung“ einfordert: ostendendum quod per Passionem Christi plenam consequimur ablutionem, scilicet a peccatis, et maculis: a peccatis quidem, per sanguinem, qui est pretium nostrae redemptionis, secundum illud Petri: Non corruptibilibus auro et argento redemptis estis, sed pretioso sanguine Christi; a maculis vero, per aquam, quae lavacrum est nostrae regenera­tio­nis, secundum illud Ezechielis: Effundum super vos aquam mundam, et mundabimini ab omnibus inquinamentis vestris. Vel, potest referri sanguis ad pretium atque ad nostram redemptionem ut redimamur a poenis: aqua vero ad lavacrum et ad peccatorum ablutionem, ut purgemur a culpis. Sanguine enim agni domus servantur a percussione Angeli; et aqua maris rubri exstinguuntur inimici. Effusus est inquam, ille ad redemptionem, ista ad redempti ablutionem; ille ut redimeret captivum, ista ut ablueret immundum. Sed hic secundus sensus satis intelligitur in primo: quia ubi est plena a peccatis ablutio, ibi sequitur et a poenis redemptio; et ubi est a maculis ablutio, ibi praecedit et a peccatis purgatio (ebd., 136, r. Sp., Z. 41–137, l. Sp., Z. 22). 698  Secundum documentum est, juxta Chrysostomum, quod nos percipere debemus sacramenta Ecclesiae ea intentione atque devotione, ac si nobis de latere Christi profluerent (ebd., r. Sp., Z. 24–29). 699  sed aperuit, ut innuat, quod ibi quodammodo ostium vitae apertum est; quia inde sacramenta Ecclesiae manaverunt, sine quibus ad veram vitam non intratur. Et nota quod hoc, quod dicitur sacramenta manasse de latere Christi, specialiter intelligendum est de duobus praecipuis sacramentis, sine quibus non intratur ad vitam, videlicet: de sacramento redemptionis, et de sacramento ablutionis (ebd., Z. 33–48). Vgl. Joh 19,34 (Vg.).



8  Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung

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Die Seitenwunde als ostium vitae und zugleich als ostium amoris700 spricht das Wort der Versöhnung und des Heils dem zu, der Christus liebt.701 Durch diese Wunde wie durch die Pforte der Liebe ist Augustinus eingetreten, als er sagte: „Longinus hat mir die Seite Christi geöffnet durch die Lanze; und ich trete ein – dort ruhe ich sicher. Die Nägel und die Lanze rufen mir zu, dass ich in Wahrheit versöhnt bin mit Christus, wenn ich ihn liebe.“702

Die Erfahrung der Ruhe und des Versöhntseins ist nach Augustinus und Ludolf also im In­kor­poriertwerden in die Seitenwunde zu finden; darauf deuten die beiden Wendungen requiesco sucurus sowie reconciliatus sum Christo hin. Dass die Marterwerkzeuge Chri­sti, vor allem die Lanze, als Herolde dieser Versöhnung fungieren, ist besonders bemer­kens­wert. Das Lösegeld, den vollständigen Preis der Entschuldung des Sünders, das Gott den Richter besänftigt und ohne menschliches Zutun Heilsgewissheit schenkt, ist nur in der Seitenwunde zu finden: [A]us diesem Riss des Herzens Christi, aus welchem geheimnis­voll, wie aus einer Quelle, das Lösegeld unseres Heils freigebig vergossen wurde, wurde zu­recht auch unser Herz zum Mitleiden und Lieben verwundet, weil hier am meisten offen­bar wurde, wie großzügig bei ihm die Versöhnung sein wird.703

Auf diese Weise wird dieser eigentlich den Auserwählten vorbehaltene Zugang scheinbar paradox auch für den Sünder zum rettenden Eingangstor zu Gott: In der Öffnung deiner Seite, Herr, hast du deinen Auserwählten den Zugang zum Leben eröffnet. Durch diese deine Pforte, Herr, treten die Gerechten in es ein. Gedenke nicht, Herr, so bitte ich, meiner Unge­rech­tig­keiten, so dass du mir ihretwegen diesen Zugang verschließt, welchen du für die Sünder und Büßer vorgesehen hast.704 700  Der unauflösliche Konnex zwischen Liebe und Gnade in der Erlösungstheologie des Kartäusers ist ekla­tant: Es ist der durch die Liebe verwundete Christus, dessen Gnade durch die Liebeswunde offen­bar wird und dessen Liebeswunde damit zugleich als eindrücklichstes Signum seiner Gnade fungiert. 701  Zugleich ist jene Liebe auch Geschenk Gottes an den Beter, der um diese Liebe als Verwundung des eige­nen Herzens bitten kann – eine Verwundung, die er angesichts der Seitenwundenbetrachtung zu erlan­gen sucht. 702  Per istud vulnus quasi per ostium amoris Augustinus intraverat, cum dicebat: ‚Longinus aperuit mihi latus Christi lancea; et ego intravi, ibi requiesco sucurus. Clavi et lancea clamant mihi, quod vere reconciliatus sum Christo, si eum amavero‘ (ebd., 138, l. Sp., Z. 43–49). 703  Ebd., r. Sp., Z. 39–46. 704  In apertura lateris tui, Domini, aperuisti electis tuis januam vitae. Haec porta tua, Domine, justi intrabunt in eam. Noli, Domine, quaeso, iniquitatum mearum recordari, ut propter eas mihi claudas aditum istum, quem peccatoribus et poenitentibus providisti (ebd., Z. 15–22). Die Sehnsucht nach dem Eingehen in Christus durch den Zugang der Seitenwunde (apertura lateris tui), welche erneut als Pforte des Lebens (januam vitae) bezeichnet wird, scheint mit der Frage nach der iustificatio des Sünders aufs engste verwoben. Man gewinnt den Eindruck, die Metapher des somatischen Inkor­poriert­werdens, des Aufgenommenwerdens in den inkarnierten Gott, sei gleichsam das Sinnbild für den inneren Vorgang der Gerechtsprechung der Seele. Erscheint zunächst lediglich den Auserwählten (electis), den Gerechten (justi) der Zugang gewährt, und

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

In der Bildsprache des Alten Testaments besingt Ludolf die Seitenwunde als Zufluchtsort vor dem Untergang, als bleibende Ruhestätte in Gegenwart und Ewigkeit: So etwa als Eingang zur Arche („Sieh die Pforte in der Seite der Arche, durch die die Tiere eingegangen sind, welche nicht durch die Sintflut umkommen sollten“)705 oder als Höhlun­gen im Fels, die vor dem Rachen des Löwen als Metapher des Todes Schutz bieten („Strebe nun also nach den Höhlen jenes Felsens und der Höhlung der Lehmwand und am Tage deines Untergangs laufe zurück und sei in ihnen geborgen, dass du dort ver­magst, Weide zu finden und dem Rachen der Löwen zu entkommen“).706 Immer wieder betont Ludolf die heilbringende Reflexion der Seitenwunde als Zusiche­rung der nahen Gnade, die jedermann zugänglich und die so greifbar, real und überwäl­ti­gend ist, dass sie alle Dimensionen der Bedrohung, auch die Todesangst oder die Furcht vor Krankheit,707 übersteigt: Welcher Grund für unseren Tod ist denn so beschaffen, dass er nicht durch den Tod Christi aufgelöst wird? […] Wenn also in unsere Gesinnung ein solch mächtiges und solch wirkkräftiges Heilmittel gekommen ist, kann ich von keiner noch so großen Krankheit mehr erschreckt werden.708

Der Gedanke an diese Errettung, so Ludolf, wirke in der Gesinnung des Menschen gleich einem mächtigen Heilmittel, das gegen alle Ängste wappne und jeder Heilsungewissheit das Wort verbietet. Die Seiten­wun­de erscheint somit als Ort der securitas, der consolatio und protectio,709 als „nahes Para­dies“ der Heilsgewissheit, angesichts dessen sogar der Tod seine Schrecken verliert. In der Seifürchtet der Beter, seine Ungerechtigkeiten könnten ihm diesen Zugang in die Seitenwunde Christi und somit die Vereinigung mit ihm ver­schließen (ut propter eas mihi claudas aditum istum), so wird schließlich gerade entgegengesetzt die Seiten­wunde als rettender Eingang für Sünder und Büßer dargestellt (quem peccatoribus et poenitentibus providisti). In einer „Sprache des Körpers“, welche den inkarnierten Gott und das Sym­bol seiner Menschlichkeit und seiner Passion, die Seitenwunde, als Zielpunkt des Strebens nach Heils­ge­wissheit proklamiert, wendet sich die Vita Christi also nicht in exklusiver Weise an eine Schar von Erwählten, sondern verheißt auch dem Sünder Heilsgewissheit. 705  Ecce ostium in latere arcae, quo intrant animalia non peritura diluvio (Ludolf, Vita Christi II, 139, r. Sp., Z. 27–29). Vgl. dazu Gen 6,16 (Vg.): fenestram in arca facies et in cubito consummabis summitatem ostium autem arcae pones ex latere deorsum cenacula et tristega facies in ea. Vgl. dazu auch Röm 5,5 (Vg.). 706  Ad hujus ergo petrae foramina, et maceriae cavernam stude nunc, et in die exitus tui recurre, et in eis latita, ut ibi valeas pascua invenire, et ora leonum evadere (Ludolf, Vita Christi II, 139, r. Sp., Z. 29–33). Mehrere Bibelstellen mögen hierbei als Bezugsrahmen gedient haben; zur Metapher der Felsen­höhle(n) vgl. Ex 33,22 (Vg.); besonders jedoch Hl 2,14 (Vg.) (columba mea in foraminibus petrae in caverna maceriae); zur Weide Joh 10,9 (Vg.) sowie zum Rachen der Löwen Ps 21,22 (Vg.) und möglicherweise Dan 6,22 (Vg.). 707  Ob hier an körperliche Gebrechen oder die Sünde als Krankheit zum Tode gedacht ist, lässt der Kar­täuser offen. 708 Vgl. Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 20–25. 709  Auch wenn diese Begriffe mit Blick auf alle fünf Kreuzeswunden genannt werden, ist die Zuspitzung auf die Seitenwunde dennoch nicht zu übersehen; vgl. ebd., Z. 5 f.



8  Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung

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tenwunde verwandelt sich das Arcanum ins Offenbare, das Ferne und Ersehnte in Nähe und Erfüllung. Die Sehnsucht nach der Gnade Gottes findet nirgends so unmittel­bar ihre Erfüllung wie in der Betrachtung der Seitenwunde Christi: Offen steht das Ge­heim­nis des Herzens durch die Höhlungen des Körpers, offen steht jenes große Sakrament der Frömmigkeit, offen liegen die Eingeweide der Barmherzigkeit unseres Gottes, in wel­chen uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe.710

Hier bleibt keinerlei Raum für Verunsicherung oder Zweideutigkeit mit Blick auf die Barm­herzigkeit Gottes – der dreifache cantus firmus des patere unterstreicht mit rhetori­scher Kraft die Offensichtlichkeit der Gnade, derer der Fromme ansichtig zu werden ver­mag. Nicht einmal das Argument des überwältigenden Sündenbewusstseins („Was aber, wenn ich mir einer Fülle der Übertretungen bewusst bin?“)711 kann hier noch ins Gewicht fallen: Diese provoziert vielmehr den Überfluss der Gnade (plenitudo gratiae),712 die Menge der Süße (multitudo dulcedinis) und die Vollkommenheit der Tugend (perfectioque virtutum).713 Dem Leser der Vita Christi bleibt angesichts dieser überwältigenden „Nah­gnad­ enerfahrung“ nur noch wie der Psalmbeter die immer­währende Barmherzigkeit Gottes bis in alle Ewigkeit zu preisen und zu besingen.714 Während Ludolf von Sachsen seinem Leserkreis unter Rückgriff auf biblische Motive und kirchliche Autoritäten in zahlreichen Passagen die Seitenwunde als ursprünglichen Topos der nahen Gnade vor Augen hält, ist im Fall der Passionsperformanz der Elisa­beth von Spaalbeeck zwar aus den bereits genannten Gründen keine prägnante Betonung der Seitenwunde festzustellen. Und dennoch muss sie als wichtiges Element ihrer ganz­heit­lichen imitatio Christi begriffen werden, die darauf abzweckt, Elisabeth wie ein leben­diges Schweißtuch der Veronika darzustellen und den Betrachtenden zum Heil und zur Er­fah­ rung der Gnade Gottes zu leiten. So kann Philipp von Clairvaux in seiner Vita Elisabeth die rhetorische Frage aufwerfen: „Wen also würde es nicht erfreuen […], die Darstellung einer so reichlichen Tugend, eines solch glorreichen Heils zu sehen: nämlich die Jung­frau im Kreuz und das Kreuz in der Jungfrau zu bedenken?“715 In der Betrachtung der aus ihrer Seitenwunde blutenden Elisabeth von Spaalbeeck vermag auch der Ungebildete, auch derjenige, der mit den komplexen Ausführungen eines Ludolf von Sachsen wenig anzu­fangen wüsste, die nahe Gnade Gottes zu schauen. 710  Patet arcanum cordis, per foramina corporis; patet magnum illud pietatis sacramentum; patent viscera misericordiae Dei nostri, in quibus visitavit nos oriens ex alto. Quidni viscera per vulnera pateant! (Ebd., Z. 35–41). 711  Quid enim, si multorum sum mihi conscius delictorum? (Ebd., r. Sp., Z. 7–9). 712  Vgl. dazu auch ebd., Z. 9 f.: „Freilich, wo die Übertretungen überfließen, ist auch die Gnade im Über­fluss vorhanden.“ 713  Vgl. dazu ebd., Z. 14–16. 714  Vgl. ebd., Z. 10–13. 715  Philipp von Clairvaux, Vita, 371, Z. 10–13.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Die Passionsspiele als wiederholbare, überindividuelle Repräsentation der Passion Christi werfen die Frage nach der Seitenwunde als Inbegriff der Gnade noch einmal auf ganz eigen­tümliche und komplexe Art und Weise auf. Denn die Darstellung der Passion auf der Bühne, verdichtet und zugespitzt in der Seiten­wun­den­szene, inszeniert die Fragen von Heil, Versöhnung, Errettung und Gnade in einem Atem­zug mit Fluch, Verwerfung und Verdammnis. An dieser Stelle wird der Symbol­ge­halt der Seitenwunde als Garant der Gnade pervertiert: Zumindest auf den ersten Blick716 muss man feststellen, dass sie zugleich als Quelle der eigenen (d. h. internen, christlichen) Er­rettung und Versöhnung und als Symbol und vermeintliche Ursache einer fraglosen Ver­werfung und Verdammnis der anderen (d. h. des externen, jüdischen Kontexts) dar­gestellt wird. So lässt das Textmanuskript des „Frankfurter Passionsspiels“ Christus selbst in gleichsam pro­phetischer Vorwegnahme des Faktums der Durchbohrung seiner Seite am Kreuz diese als rachewürdiges Vergehen beschreiben und als Urkunde des Fluches, welcher der „Juden­heit“ drohe: „Ach, du viel törichte Judenheit, mit der Lanze hast du einen Himm­li­schen durchstochen, das werde ich nicht lassen ungerächt.“717 Hier begegnet die Sei­ten­wunde nicht länger als Hort des Heils, sondern als Drohkulisse, hier wandelt sich das Sym­bol der voraussetzungslosen Gnade in ein Symbol der überindividuellen Verdammnis von Generation zu Generation! Indem der Darsteller des Annas, des jüdischen Hohepriesters, die Zufügung der Seiten­wun­de nicht wie in der biblischen Vorlage als schlichte Überprüfung des Todes, sondern selbst als Racheakt an Christus darstellt, wird jene Rache an den Juden nochmals begrün­det und in den scheinbar legitimierenden Kausalzusammenhang des „Rache folgt auf Ra­che“ eingezeichnet. Und dennoch offenbart ein zweiter Blick auf diese Szene ein etwas komplexeres Bild. So­fern man die Möglichkeit in Betracht zieht, die Figur des Longinus aus den bereits in A.2.2.2 genannten Gründen als Mitglied der jüdischen Gemeinschaft aufzufassen, so spielt die Seitenwunde vor der durch und durch dunklen und bedrohlichen Kulisse ihre „ge­wohnte Rolle“: die der Errettung auch für den eigentlich Verlorenen. Dies erhält vor dem Hintergrund der historischen Tatsache, dass an manchen Orten und zu manchen Zei­ten das Sakrament der Taufe – sei es unter Zwang und Todesandrohung oder tatsächlich als freiwilliges Geschehen  – Juden in das corpus Christianum integrieren sollte, eine ge­wisse Sinnhaftigkeit. Heil und Errettung von ihrem vermeintlichen Irrweg waren zumin­dest theoretisch und auf der theologischen Diskursebene, wenngleich meist nicht in ihrer Lebens­wirklichkeit, eine Denkfigur des Mittelalters. Vor diesem Hintergrund ist es die Seitenwunde als ursprünglicher Quell der rettenden Sakra­mente, die Longinus von seiner tatsächlich körperlichen und 716 Dass diese pauschale Deutung auch individuelle Zugeständnisse und Ausnahmen machen konnte, wird gleich zu zeigen sein. 717  So FP 3672–3674: ach, du vil dorichte Iudischeit, mit der lantzen hastu eyn himelschen durchstochen. das werde ich nit lassen vngerochen.



8  Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung

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wohl auch seiner „geist­lich-religiösen“ Blindheit heilen („Sein Blut rann mir auf meine Hand, / das streich ich jetzt überall / über die blinden Augen mein; / zur Stund sah ich des Tages Schein, / und kam doch als ein armer Blinder her.“), nachdem er wortreich Jesus als Sohn Gottes be­kennt („Ach, was hab ich Armer getan, / dass ich so frevlerisch erstochen hab / den Mann, der sicherlich ist / des wahren Gottes Sohn vom Himmel, Christ“), und um Er­bar­men und Vergebung seiner Tat und all seiner Sünden gebeten hat: „des bitte ich dich, Herr Jesus Christ,  / weil du so barmherzig bist,  / dass du die Sünde vergebest mir,  / die ich be­gan­gen hab an dir,  / und nicht rechnest sie, durch die Güte dein,  / an der armen sündigen Seele mein.“718 Der mitleidvolle Jude, so die Aussage jener Szene, kann durch seine com­passio mit Christus das Mitleid Christi erwecken und durch den unmittelbaren Kontakt mit seiner Seitenwunde, die für seine Glaubensgenossen nichts als Fluch und Verdammnis be­deutet, Rettung und Gnade erfahren. Den­noch darf diese Episode als bühnenwirksame Darstellung der Möglichkeit der „Juden­bekehrung“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass es die Konnotationen des Unheil­vollen, der Ungnade und der Verdammnis sind, die der Seitenwunde des „Frankfurter Passi­ons­spiels“ anhaften. Angesichts der Eindrücklichkeit, der weiten Verbreitung und der Popularität dieses und ande­rer, ähnlich ausgerichteter Passionsspiele ist die Reichweite der Drohbotschaft der Un­gnade nicht zu unterschätzen. Die dadurch evozierten „Bilder im Kopf “ der Betrachter mögen auch bei der Betrachtung anderer Seitenwundendarstellungen in der bildenden Kunst nachgewirkt haben. Dennoch sprechen die bildlichen Quellen der Seitenwundendarstellungen durchgehend die Sprache des Heils und der Gnade und der Versöhnung mit Gott. So deutet die Umschrift der Darstellung der „Geburt der Kirche aus der Seitenwunde Chri­sti“ in der Bible moralisée (A.2.3.1) dieses Geschehen wie folgt: „Nachdem es dem Herrn gefallen hat, dass Christus für uns (pro nobis!) sterbe, hat er aus der Seitenwunde des am Kreuz entschlafenen Christus die Kirche erbaut, die sich auf die Sakramente der Seiten­wunde, Wasser und Blut, Taufe und Eucharistie gründet.“ Zugespitzt könnte man sagen: Extra ecclesiam nulla salus? – extra vulnus lateris nulla salus! Dem Betrachter des Bildes, dem Betrachter der Seitenwunde als Geburtsstätte der Kirche offenbart sich ein Stück Heilsgeschichte, das auch ihn oder sie als Glied dieser Kir­che unmittelbar betrifft. Von Anbeginn der Kirche, von ihrer Geburtsstunde an, ist die Seiten­wunde als Geburtsort dieser Stätte der Heilsvermittlung selbst Inbegriff von Gnade und Errettung. 718  Ach, was han ich armer gethan,  / das ich so frebelichen erstochen han  / den man, der sicherlich ist / des woren gottes sone von hymmel, Crist. / sin blut ran mir uff myn hant, / da streich ich isz alzuhant / vber die blinden augen myn; / zu stunt sage ich des tages schin, / vnd kame doch ein armer blinder her. […] des bidden ich dich, her Ihesu Crist, / sit du so barmhertzig bist, / das du die sunde vergebest mir, / die ich begangen han an dir, / vnd nit reche isz, durch die gude dyn, / an der armen sundigen sele myn (FP 4202–4217).

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

Der Schmerzensmann am Westportal des Ulmer Münsters (A.2.3.5) verknüpft gar durch seinen Zeigegestus seine Seitenwunde als Ort der Sicherheit und des Heils mit dem Kirchenraum, den der Gläubige betritt und der ihm so zum Ort von Sicherheit und Heil wird.719 In der arma Christi-Darstellung des „Kunigundenpassionals“ (A.2.3.3) wird das Fak­tum der Erlösung der Seitenwunde selbst in den Mund gelegt! Die um die Seitenwunde ge­wundene Umschrift spricht dem Gläubigen dessen Erlösung zu, indem sie auf sich selbst verweist: „Das ist die Größe der Wunde, durch die Christus uns erlöst hat, als er am heiligen Kreuz hing“.720 Im Angesicht der Seitenwunde weiß sich der Fromme also ohne sein eigenes Verdienst er­löst; zugleich transportiert diese Darstellung der Seitenwunde auch einen Appell. Die Sei­ten­wunde nachzeichnend, fordert der Schmerzensmann auf einem Spruchband: „So stehe ich als Mensch für dich da. Wenn du sündigst, lass ab um meinetwillen“.721 Dennoch ist es die Botschaft der Versöhnung und des Friedens, der allen Zank und alle Tren­nung zwischen Gott und Mensch aufzuheben vermag, die im Vordergrund steht und aufs engste mit der Seitenwunde als Symbol jener Versöhnung korreliert wird. Dies geschieht auf höchst erstaunliche Art und Weise, indem in einem beigefügten Gebet die Seiten­wunde wie eine Person, ja wie etwa Maria im Ave Maria als Erlöserin, Heilerin und Hel­ferin mit einem Andächtige(n) Seuftzer zu der Seiten wunden des Herrn direkt adressiert wird: „Sei gegrüßt, Du Seitenwunden unseres Heilands Jesu Christ / Die wir waren festgebunden, unser du Erlöser bist, / Dein Blut, Wasser hast gegeben uns zu heilen unsere Wund / deiner Hilf wir uns ergeben, sei gegrüßt, spricht unser Mund.“722 Der durch die Seitenwunde ausgezeichnete Christus spricht dem zweifelnden Frommen die voll­kom­mene vergebende Gnade zu: „Dein Richter will ich nicht sein: Ich bin der Fried’ […]. Das Zanken fliehe ich: Als Du Feind warst, habe ich dich durch mich mit meinem Vater versöhnet.“723 Frieden im Sinne einer vollständigen Aussöhnung mit Gott ist auch das zentrale Thema des Epitaphs „Schmerzensmann und Maria vor Gott Fürbitte leistend“ des Malers Hans Hol­bein (A.2.3.10). In jener zeittypischen Interzessionsdarstellung verweist der aufer­stan­de­ne, lebendige Christus auf seine Seitenwunde, ja er scheint sie sogar selbst noch weiter zu öffnen, während er den Weltenrichter, Gottvater, unterstützt von der Fürbitte seiner Mut­ter, um 719 

Vgl. dazu Hamm, Katholischsein, 19. Hec est mensura vulneris [quo Christus] tu nos redemit, pendens in cruce sacra (Toussaint, Passional, 179). 721 Ebd., Sic homo sto pro te, cum peccas desine pro me. 722  Sey gegrießt Du Seiten wunden unsers Heilands Jesu Christ / Die wier waren festgebunden, unßer du Erlöser bist, / Dein Blut, wasser hast gegeben uns zu heilen unser wund / deiner hielf, wir uns ergeben, sey gegrüst spricht unser Mund. Der sehr umfangreiche Text findet sich ebd., 193–196. 723  Dein Richter will ich nicht sein: ich bin der Frid […]. Das zancken fliehe ich: als du Feind warest, habe ich dich durch mich mit meinen Vattern versehnet (ebd.). 720 



8  Sehnsucht nach Gnade – das Streben nach Heilsvergewisserung

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Erbarmen für die Menschen anfleht: „Vater sieh an mein  / Wunden rot  / hilf den Menschen / aus aller Not / durch meinen bitteren Tod.“724 Die Seitenwunde erscheint wie ein Erinnerungszeichen, das Gott selbst sichtbar, greifbar an sein Erbarmen und seine Retter­macht gemahnen soll und kann. Dass sie als Garant und Signifikant der göttlichen Barm­herzigkeit zu verstehen ist, darauf wird der Bildbetrachter gehofft und vertraut haben, wenn auch im Bekenntnis Gottes zur Barmherzigkeit die wahre Reue, die vera con­tritio, als Bedingung eingefordert wird: „Barmherzigkeit will ich allen denen erzeigen / die da mit wahrer Reu’ von hinnen scheiden.“725 In den Kontext des Gerichtsdenkens, der Vergeltung im Partikular- beziehungsweise im Universal­ge­richt am Ende des Lebens respektive am Ende der Zeiten, ist auch das „Speerbildchen“ aus dem Besitz des Hartmann Schedel (A.2.3.6) einzuordnen. Dem durchstoßenen Herzen Christi, der fühlbaren, „lebensechten“ Darstellung der Seitenwunde beigefügt ist unter anderem ein Gebets­text, in dem der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, Christus als dem Weltenrichter um dessen Leiden willen einst auf der „guten Seite“ gegenüber zu stehen: „Gewähre uns um Dei­ner Passion und des Kreuzes willen, dass […] wir Dich als Richter von Angesicht zu Angesicht dereinst als Sichere (securi) erblicken werden.“726 Das Moment der Unmittel­bar­keit, der Nähe und der Sicherheit sind die Facetten der Sehnsucht, die sich mit der Seiten­wunde verbinden. Betrachtet man die vielstimmige Eindeutigkeit, mit der die einschlägigen Quellen die Sei­ten­wunde als Verkörperung der nahen Gnade bezeichnen, so stehen damit Über­le­gun­gen im Raum, die meines Erachtens weiter diskutiert werden könnten: Ob sich die „Vehe­menz der Gnade“ einer überwältigenden Realität der Angst verdankt haben – oder ob die frohe Botschaft des Heil bringenden, verwundeten Gottes eher in ihrer Interdependenz mit der Entdeckung der Liebe, der Bedeutsamkeit des Somatischen oder ganz anderen Aspekten der spätmittelalterlichen Frömmigkeit zu begreifen ist. Was, so könnte man 724  Vatter sich an mein / wunden rot / helf den menschen / aus aller not / durch meinen bittern tod. Vgl. dazu die ausführliche Bildbeschreibung und Analyse in Hamm, Religiosität, 429: „Den erhöhten Platz des Richters in der Mittelachse nimmt nicht Christus, sondern Gottvater ein, während Christus in seiner Passionsgestalt von Golgatha und mit ihm Maria als fürbittende Inter­zessoren, als Advokaten der sündigen Menschen, vor ihm stehen. […] Das fürbittende Eintreten des barm­herzigen Erlösers und der erbarmensreichen Miterlöserin für die zu ihren Füßen knieenden Sünder und Sünderinnen bewirkt den Umschwung in der Haltung des Vaters. […] Das Erbarmen seines Sohnes und Marias lassen Gottes eigene Barmherzigkeit zum Zuge kommen. Sie erweist ihre Über­legenheit gegenüber der Gerechtigkeitslogik der Vergeltung.“ 725  Barmherzigkait will ich allen den erzaigent / die da mit warer reu von hinnen schaiden. Vgl. auch Schiller, Ikonographie (Bd. 2), 239 f. 726 Bei Griese, Text-Bilder, 283 (Anm. 580) ist der Text wie folgt transkribiert: Deus qui nobis signatis lu­mine uul/tus tui memoriale tuum ad instan/ciam veronice ymaginem tuum su/ dario impressam relinquere uoluisti / per cruce et passionem tuam tribue ut / ita marie matris per speculum et in / enigmate uenerari adorare ho/norare ipsam ualeamus ut te / tunc facie ad faciem uenientem super / nos iudicem securi uideamus.

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B  Die Devotion zur Seitenwunde Christi

weiter fragen, begünstigte im ausgehenden Mittelalter jene Zentrie­rung auf ein scheinbar paradoxes Symbol? Wie konnte es dazu kommen, dass die Wunde als Inbegriff des Todes als Signum der lebensspendenden Rettung und der heilsamen Gnade wahrgenommen wurde? In welcher Weise jenes komplexe Spiel der unterschiedlichen und doch untrennbar zu­sam­men­gehörigen Frömmigkeitsströmungen die Bedeutsamkeit der Seitenwunde wie in einer Echokammer wechselseitig verstärkten, wird nun unter C. zu fragen sein.

C  Innen und Außen, Verwundung und Heilung, Leid und Leidenschaft – die Seitenwunde als vieldeutiges und verbindendes Signum der spätmittelalterlichen Frömmigkeit Schließ dich auf, du rote Wunde, mach mich durstig alle Stunde nach dir, birg mich in dein Hohl, da ich schlafe und ruhe wohl: Da ich nun klopfe, so tu auf […]. Mit dürrem Herzen ich dich lecke, mit ganzer Liebe ich in dir stecke.1

Das Phänomen der spätmittelalterlichen Seitenwundenfrömmigkeit unter verschiedenen Linsen zu betrachten, unterschiedliche Quellen zu befragen – dies stellte das Anliegen der vorliegenden Untersuchung dar. Im Wissen um die Unabschließbarkeit dieses Unterfangens, sollte die Vielstimmigkeit jener Devotion ebenso anklingen wie auch die Frage nach einer Art cantus firmus aufgeworfen werden. Auch wenn unbenommen das hier entworfene Tableau durch zahlreiche andere Quellenzeugen ergänzt werden könnte und müsste, so mag sich doch durch die hier berücksichtigten Quellenzeugnisse der Facettenreichtum einer Seitenwundenfrömmigkeit andeuten. Die theologischen Interpretationen, die Gertrud von Helfta entfaltet, die Aussagen, die Angela von Foligno trifft und die Aspekte, die Ludolf von Sachsen durch seine zahlreichen Rekurse auf die Tradition eines Augustinus, Anselm von Canterbury oder Bernhard von Clairvaux hervorhebt, werden durch die beiden so unterschiedlichen performativen Quellen, der Passionsperformanz der Elisabeth von Spaalbeeck sowie der Frankfurter Dirigierrolle und dem Frankfurter Passionsspiel und ihren jeweiligen Sichtweisen auf die Bedeutung der Seitenwunde Christi ergänzt. Der Facettenreichtum der Bildquellen, die die Seitenwunde in jeweils eigenständiger Weise beleuchten und in den Fokus 1  Sliuz dich uf, du rote wunde, mach mich durstic alle stunde nach dir, pirc mich in din hol, da ich slafe und ruowe wol: sint ich nu klopfe, so tuo ouf […] mit dürrem herzen ich dich lecke, mit ganzer liebe ich in dir stecke. Zit. in Ohly, Gesetz, 67 f. und bei Lentes, Nur der geöffnete Körper, 154.

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C  Innen und Außen, Verwundung und Heilung, Leid und Leidenschaft

des Betrachtenden rücken, soll ebenfalls dazu beitragen, die Vieldeutigkeit der Devotion zur Seitenwunde hervorzuheben. Die Unterschiedlichkeit der Autorinnen und Autoren, ihre Zugehörigkeit zu differierenden Milieus und damit verbunden auch die sich unterscheidenden Adressatenkreise, unterstreichen die These eines übergreifenden Interesses an der Seitenwunde als zentralem Gegenstand spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Die inhaltlichen Schwerpunkte, die sich dabei abzeichnen, die theologischen Schlussfolgerungen, die sich nahelegen, zeugen von der Originalität der Autorinnen und Autoren, der Künstlerinnen und Künstler. So kann etwa Gertrud von Helfta in ihren einschlägigen Texten die Motivik der mütterlichen Zuwendung und Geborgenheit hervorheben, wenn sie in einer Vision der Seitenwunde Christi das Moment des Gewärmt- und Gehaltenwerdens beschreibt. Zugleich wird dem Leser die Verbindung zur Eucharistie vor Augen geführt, wenn Christus die Fromme aus seiner Seitenwunde nährt, als sei sie ein kleines Kind, um wenige Augenblicke später im Duktus des Hoheliedes ebenfalls als Aspekt jener Seitenwundenfrömmigkeit die Vereinigung mit Christus zu betonen. Trost und Hoffnung, so scheint dabei deutlich zu werden, sind für den Glaubenden auch inmitten der irdischen Existenz möglich, insofern die Seitenwunde wie ein Durchgang zu Christus begriffen wird, trotz der Tatsache, dass eine völlige Einheit mit Gott in diesem Leben ein Ding der Unmöglichkeit bleiben muss. Die Seitenwunde Christi wird somit zum monumentum, zum Erinnerungszeichen sowohl für die unauflösliche Gemeinschaft mit Christus als auch für die Versicherung, die eigenen Werke im Angesicht Gottes für gerecht und würdig befunden zu wissen. Zweifel der eigenen Rechtfertigung oder die Angst vor Gottesferne haben im Angesicht der Seitenwunde keinen Platz mehr. Ähnliche und doch eigenständige Akzente setzt Angela von Foligno, für die die Seitenwunde das Bindeglied zwischen Außen und Innen darstellt, den Zugang zu jener im Schmerzens­mann eingeschlossenen Freude, die eigentlich unaussprechlich bleiben muss. Und dennoch ringt Angela von Foligno um die Möglichkeit, ihr Entzücken über die Seitenwunde als dem Raum der Freiheit und der freudigen Unbeschwertheit ihren Lesern zu vermitteln. Letztlich findet Angela dort das Ziel ihrer Sehnsucht: Ruhe und Geborgenheit, ein paradiesisches Aufgehobensein des Menschen aus aller Schuld und Gottesferne. Auch Ludolf von Sachsen versteht die Seitenwunde als Ort der Vereinigung mit Gott, in der sich das Ferne in das unsagbar Nahe verwandelt. In den Wunden Christi, zumal in seiner Seitenwunde, offenbart sich die Zugänglichkeit Gottes. Heil und Heilung finden dort für Ludolf ihren Kulminationspunkt. Während in der Vita der Elisabeth von Spaalbeeck die Seitenwunde gleichsam als finales Signum ihrer vollständigen Passionsperformanz erscheint, die insgesamt als heilbringendes Erkenntnisgeschehen für alle Gläubigen begriffen wird, führt eine Beschäftigung mit der Frankfurter Dirigierrolle und dem Frank-

C  Innen und Außen, Verwundung und Heilung, Leid und Leidenschaft



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furter Passionsspiel als weiteren Performanzquellen zu ambivalenteren Konnotationen der Seitenwunde. Nicht nur als Signum des Segens, sondern auch als Sinnbild des Fluches, erscheint die Seitenwunde Christi auf der Bühne des Glaubens. Die hier ausgewählten zehn Beispiele aus dem Bereich der Kunst tragen weitere Assoziationen und Schwerpunkte des frömmigkeitstheologischen Bedeutungsspektrums bei. Das Moment des Erbarmens, der Nahbarkeit Christi, die Verbindung zur Eucharistiefrömmigkeit oder zum weiten Feld der Brautmystik, die Fokussierung auf die Passion als Grunddatum des Glaubens, sprechen aus jener kleinen Auswahl der Kunstwerke, die um unzählige weitere Beispiele ergänzt werden könnten. Die Breite der Medien – Texte, Performanzen und Bilder – stützen den Eindruck des breit gestreuten Interesses an der Seitenwunde Jesu. In ihrer vehementen Konzentration auf eben dieses Objekt konnten sich die spät­mittel­alter­ lichen Theologinnen und Mystiker, die Maler und Performanz­künstlerinnen nicht allein auf die schmale biblische Textbasis2 beziehen, sondern auch auf bereits von den Kirchenvätern entwickelte Vorstellungen, die von der „Wunde als Angelpunkt zwischen Gott und Mensch“ sprachen.3 Als Schnittfläche des Christuskörpers, als Schnittfläche zwischen Innen und Außen, ent­wickelte die Seitenwunde ein ungeheures Integrationspotential, das in der Lage war, ganz unter­schiedliche Momente spätmittelalterlicher Theologie und Frömmigkeit zu verbinden und in sich aufzuheben. In einer Epoche, die inmitten der Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit immer stärker um eine normative Zentrierung bemüht war, offenbarte sich die Seitenwunde als schein­bar paradoxes Symbol, das im Stande war, Gegensätze auszuhalten, abzubilden und in sich zu vereinen: Die rote Wunde wurde zum sichtbaren Siegel, zum Prisma, in dem sich die Bedeutsamkeit des Körpers in seiner Verwundbarkeit und Vergänglichkeit aber auch sei­ ner Lebendigkeit (B.1)4 ebenso begreifen ließ wie die Ambivalenz des Blutes als Sinn­bild von Leben und Tod (B.2). Die Seitenwunde bildete das Zentrum der virulenten Stig­ma­tisierungserfahrungen der Zeit als Urbild und Zielpunkt der Sehnsucht nach vollständiger imitatio Christi (B.3) und fungierte als Projektionsfläche für die Relevanz und die Durchlässigkeit der Geschlechterkonzepte (B.4). Als Ursprungsort der Sakra­men­te (B.5) konnte sie die Autorität der Kirche stützen und zugleich den Primat ihrer Amts­träger aufs schärfste hinterfragen, ja sogar untergraben!5 Als Symbol der Liebe und des Eros (B.6) vermochte sie ihren ganz 2 

Joh 19,34; 20,27 f. Vgl. dazu Lentes, Nur der geöffnete Körper, 154. 4  An dieser Stelle sei an Deutungsansätze des ausgehenden Mittelalters erinnert, die etwa allein den Aspekt der Vergänglichkeit ins Zentrum stellen; vgl. dazu die Besprechung der Thesen Huizingas bei Binski, Medieval Death, 130. 5  Den möglichen Zusammenhang zwischen Kelchverweigerung und gesteigerter Seiten3 

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eigenen Vers im Liebesdiskurs beizu­tra­gen und in der zentralen Hinwendung zur Passion als Kernbotschaft der spät­mittel­al­ter­lichen Frömmigkeitstheologie (B.7) bildete sie den nucleus, in welchem sich die Gesamt­heit der Passion erfassen ließ. Als Verkörperung der nahen Gnade (B.8) nahm sie all jene Diskurslinien der Zeit in sich auf, welche die Barmherzigkeit Gottes weit über den Gedanken einer vergeltenden Gerichtstheologie stellten. In ihrer Vielstimmigkeit beschreibt die Seitenwunde als vieldeutiges und einen­des Signum der spätmittelalterlichen Frömmigkeit jene in ihrer Komplexität und Diver­ si­ tät. Die Omnipräsenz der Seitenwunde in den ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Auszugs­linien der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit erinnert – quod erat demonstrandum – an den in A.1 genannten Kartenspielertrick: Ganz egal, welche Karte Sie aus dem Stapel ziehen: Sie ziehen stets  – diejenige mit der Seitenwunde! Ist man bereit, sich auf die spielerische These der vorliegenden Arbeit einzulassen, könnte man fest­stellen: Alle Wege, die man auf dem weiten Feld der spätmittelalterlichen Frömmigkeit aus­kundschaftend beschreiten mag, führen – zur Seitenwunde. Auch wenn notgedrungen aus Analysezwecken die vorliegende Arbeit jene Verbindungslinien und Themenstränge einzeln untersuchen und darlegen musste, ist freilich keiner dieser Aspekte isoliert zu be­trach­ten. Die unterschiedlichen Momente der Frömmigkeitspraxis und Theologie be­ein­flussten, verstärkten und bedingten sich vielmehr gegenseitig in ihrem Zusammenfluss in der Seitenwundenfrömmigkeit. So war eine Passionsfrömmigkeit, in der die passio als Leid und Leidenschaft begriffen wurde, etwa anschlussfähig für die Diskurse der Liebe; die Entdeckung der Nähe und Nied­rigkeit Gottes bedingte eine neue Wertschätzung des Körpers – und umgekehrt. Der neuen Vehemenz der erlösenden Gnadentheologie steht zugleich der dunkle Gegenpol der Aus­grenzung und Diffamierung der Anderen gegenüber, die nicht zuletzt in der Blut­fröm­migkeit begegnet – um nur einige jener Wechselwirkungen und Verzahnungen anzu­reißen. Um noch einmal das Bild der Echokammer zu bemühen: Nicht allein die unterschied­li­chen Themenstränge verstärkten einander. Innerhalb der Seitenwundenfrömmigkeit trifft man auf einen Chor frappierend gleichklingender lateinischer Lexeme, welche die Texte durch­ziehen und einen erstaunlichen Gesamtklang erzeugen: Das Leiden (pati) und das Offen­stehen der Wunde (patet vulnus), die Seite Christi (latus Chisti) und das sich in ihr bergen (latitans). Die Wunde als verletzte Oberfläche, als Innen und Außen zugleich,6 vermochte den wundenfrömmigkeit konstatiert auch Muessig, Stigmata, 178: „It has been suggested that the decision taken at the Council of Constance (1414–18) to no longer permit the laity to drink the sacramental wine of the Eucharist inspired a sort of substitute worship of the side wound for the blood the laity could no longer imbibe.“ 6  Damit wurde die Seitenwunde zum Emblem einer Epoche, die die Vereinigung von Innen und Außen als allumfassendes Lebenskonzept propagierte; nicht allein in Extremerfahrungen der Mystik, son­dern auch in jedem Gebet: „As David of Augsburg points out, this does not take place in specifically mystical contexts, but rather it should happen in prayer in general,



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From­men in Gott zu „trans-ferieren“.7 Selbst sinnliche Grenzlinie zwischen Innen und Außen ver­mochte die Seitenwunde die Grenzen zwischen Mensch und Gott niederzureißen. In diesem Sinne stellte und stellt die Seitenwundenfrömmigkeit damals und heute alles duali­stische Denken und alle scheinbar festgefügten Strukturen in Frage. Wenn die Sei­ten­wunde des männlichen Erlösers als Mutterbrust und Mutterschoß besungen, wenn das Signum des Todes als Zeichen des unvergänglichen Lebens beschrieben, wenn das Leiden Christi zugleich als seine leidenschaftliche und ungestüme Liebe für den Menschen begriffen wird, geraten alle festgefügten Ordnungen in die Aporie. Die Seitenwunde wird somit zum „U-topos“ der unmöglichen Möglichkeit, der allen From­men  – der gelehrten Theologin ebenso wie dem Laien, dem kirchlichen Würden­träger wie der am Rande zur Ketzerei stehenden Begine – offenstand wie das Geheim­nis des Herzens Gottes: Patet arcanum cordis, per foramina corporis; patet mag­num illud pietatis sacramentum; patent viscera misericordiae Dei nostri!8 Dass diesem „U-topos“, in den zugleich die ganze Topographie der Welt eingezeichnet wer­den konnte9 und dem ein solch erstaunlich harmonisierendes und integrierendes Po­tenti­al innewohnte, in den nachfolgenden Jahrhunderten zunehmend etwas Fremdes, Ver­störendes, Befremdliches10 aneignete, ist daran abzulesen, dass immer stärker das Herz Christi in den Fokus rückte und die Seitenwunde lediglich als zunehmend irrelevanter „Passus“ in den Hintergrund trat, ja unsichtbar wurde.11 Zumindest innerhalb des Mainstream von Theologie und Frömmigkeit löste im nach­refor­ma­torischen, sich langsam ausbildenden Katholizismus die HerzJesu-Frömmigkeit die Sei­tenwundenfrömmigkeit ab. Das Modell der Ganzheit trat an die Stelle eines Konzepts der Verwundung und des Fragmentarischen. Eine (auch durch die Abbildungsformen greif­b are) reine Innerlichkeit verdrängand ultimately it should transform the experience of the world so that prayer would include everything and liberate experience itself. In this regard I think that we are allowed to speak of an actual art of sensory and emotional excitement and stimulation in the Middle Ages“ (Largier, Inner Senses, 15). Vgl. dazu auch Lentes, Nur der geöffnete Körper, 154 sowie Butler, Leibliche Einschreibungen, 542. 7  Vgl. zur translatio auch in Hollywood, Beautiful, 233 (Anm. 42). 8  Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 35 f. 9  Vgl. dazu auch zur Lippe, Welt, 34 sowie vor allem Clausberg, Entleibung. Eine Abbildung aus ei­ner französischen Bible moralisée aus dem 13. Jahrhundert, auf der Christus die Welt in seinem Lei­bes­inneren, seinem ‚Uterus‘, wie ein Baumeister mit einem Zirkel vermisst, findet sich ebd., 42. 10  Als modernes literarisches Beispiel sei hier an die Erzählung „Ein Landarzt“ von Franz Kafka aus dem Jahr 1917 erinnert, in der eine befremdliche (Seiten-) Wunde im Zentrum steht. Vgl. K afka, Landarzt. 11  Vgl. zur Entwicklung der Herz-Jesu-Frömmigkeit etwa Gurewich, Observations, 360. Zudem fand durch die Einbindung in die Liturgie, näherhin in das Fünfwundenoffizium, bereits im 15. Jahr­hun­dert eine erste „Domestizierung“ statt, in deren Gefolge die Seitenwunde zunehmend ihre prominente Alleinstellung sowie ihre mystische Deutungsdimension preisgeben musste; vgl. dazu Walz, Dominikanische Herz-Jesu-Auffassung, 76.

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te eine Religiosität, die durch die Vereinigung von Innen und Außen, Leib und Seele gekennzeichnet war. Der Schmerzensmann des aus­gehenden Mittelalters, der seine Wunde zeigte, wandelte sich schließlich im 19. Jahr­hun­dert in einen pastellfarbenen, weichgezeichneten Jesus mit isoliertem Herzen! Auch wenn im protestantischen Kontext noch bei Luther12 ein schwaches Echo jener zentra­len spätmittelalterlichen Frömmigkeit zu vernehmen ist, geriet sie zunehmend aus dem Blickfeld, um sich im Zeitalter des Pietismus zu einem höchst eigenwilligen und in vieler Augen suspekten Randphänomen der Herrnhuter Fröm­mig­keit zu entwickeln. In seiner Spätphase entwickelte Nikolaus von Zinzendorf (1700– 1760), in der Sache zwar eindeutig geprägt von spätmittelalterlichen Motiven, in Tonfall und Diktion jedoch sehr eigenständig, eine neuartige Seitenwundenfrömmigkeit, die er zum „Central-punkt“13 erhob. Ohne Zweifel spielt auch bei ihm ebenfalls die vertraute Motivik des Hohe­lieds eine Rolle, und doch begegnet man in seiner „Seitenwunden-Poesie“ einem anderen, durch und durch spätbarocken Tonfall: Ihr lieben herzen gukt! Das vöglein hat da nein genist’t, wo’s kirchlein rausgegraben ist, ins selge höhlgen. Ins höhlgen, wo’s so blutig blitzt, hat’s vögel sich hinein verfitzt, drumher hat’s wunden-schwänelein, im schloß-canal vom seiten-schrein; da lernt das selge seelgen ein täucher sein im höhlgen.14

Obgleich Zinzendorf durchaus systematisch-theologische Erwägungen anstellte und nieder­schrieb, so sind rezeptionsgeschichtlich vor allem jene Texte ins kollektive Be­wusst­sein eingegangen, die im Leben der Brüdergemeine, etwa in Liedtexten, tradiert wur­den: Seiten-hölgen! Seiten-höhlgen! Seiten-höhlgen, du bist mein; allerliebstes Sei­ ten-höhlgen, ich verwünsch mich ganz hinein. Ach mein Seiten-höhlgen! du bist meinem seel­gen, doch das liebste plätzelein; Seitenschrein! leib und seel fährt in dich nein.15

Wenngleich jene Zinzendorfsche Seitenwundenfrömmigkeit nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein kann,16 soll der kurze Verweis darauf daran erinnern, wie weit­reichend unsere Wahrnehmung der Seitenwundenfrömmigkeit 12 

Luther bleibt bei der reinigenden Schau in die Wunden; siehe dazu Groebner, Abbild. Vgl. dazu Vogt, Gloria Pleurae, 190. 14  Ebd., 183. 15  Zit. nach ebd., 186. Zu folgendem Text merkt Vogt an, er sei wohl „für Außenstehende kaum mehr nach­vollziehbar gewesen (ebd., 183): „So immer seit-wärts-schielerlich, so seitenheimweh-fühlerlich, so Lamms-herz-gruft-durchkriecherlich, so Lamms-schweiß-spur-beriecherlich, an der magnetschen Seit, so Jesus-schweiß-tropfhaftiglich, vor liebes-fieber schütterlich, wie’s kind voll Geistes, so leichnams-luft-anzieherlich, so wunden-naß-aussprüherlich, so grabes-dünste witterlich, aufs Mensch-Sohns zeichen zitterlich, […] so Marter-Lamms-herzhaftiglich, so Jesus-knaben­haftig­lich, so Marie Magdalenelich, kindlich, jungfräulich, ehelich, soll uns das Lamm erhalten, bis zum Kuß seiner Spalten.“ 16  Einen hervorragenden Überblick zur Forschungslage findet sich ebd., 175–212 (mit der dort angegebenen Literatur). 13 



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durch diese Strömung des 18. Jahrhunderts geprägt und überlagert wurde, wie etwa Arbeiten des Künstlers Mike Kelley zeigen.17 Die Diversität und Offenheit der spätmittelalterlichen Seitenwundenfrömmigkeit tritt gerade im Vergleich mit Zinzendorf umso deutlicher zu Tage. Freilich ist diese Beob­ach­tung wenig erstaunlich angesichts des unübersehbaren Trägerkreises, ihrer in der vorlie­gen­den Arbeit nachgezeichneten Verflechtungen mit theologischen Kernthemen und der Legion der Quellen, in denen sie beschrieben, besungen, dargestellt und repräsentiert wurde. Der spätmittelalterliche Diskurs über die Seitenwunde konfrontiert mit der Präsenz des Kör­pers im Kult, ohne jedoch einem „Körper-Kult“ zu huldigen. Was der Fromme er­blickt, ist kein überhöhter Körper, sondern ein Ort, der in seiner Verwundbarkeit und Offen­heit zum Schauplatz der Heilwerdung und der Verschmelzung mit Gott zu werden vermag. Dieser spätmittelalterliche Diskurs plädiert für einen nahbaren Gott, ohne diesen jedoch zu verniedlichen. Er öffnet dem Einssein, der unio einen Raum, ohne Christus zu verein­nah­men. In den spätmittelalterlichen Texten, Bildern und Performanzen fungiert die Sei­ten­wunde als Leerstelle, als Riss, der das Verborgene offenbar macht und zugleich unseren Blick und all unsere Sinne fokussiert und zentriert. Die Seitenwunde als Fluchtpunkt war nicht nur das Zentrum verschiedener Frömmig­keits­linien, sie war auch Fluchtpunkt der Frommen, insofern sie hier eine Freiheit von Struk­turen, Hierarchien und Zuschreibungen erfuhren, die sie sonst vergeblich suchten.18 In diesem Verstehenshorizont wird nachvollziehbar, dass Johannes Tauler schreibt:

17  In der Arbeit „The Little Side Cave #1“ des Künstlers Mike Kelley aus dem Jahr 1985 sieht man einen in Pop-Art-Manier gezeichneten Schmerzensmann mit Seitenwunde neben einer an einen Eingang zu einem Bergwerktunnel erinnernden Seitenwunde, die überschrieben ist mit den Worten: Welcome to Little Side Cave; unter der Zeichnung findet sich eine ins Englische übersetzte Zinzendorf-Passage: „Oh What Glances I Send You Now. I Am One Spirit With You And You One Body With Me And One Soul. You Treasure Of The Side. You Mad Litttle Thing, I Devour You Like Food And Drink To Fulfilment, Am Mad With Love, Out Of My Mind.“ Abbildung bei Schmidt, Mythos, 109. 18  Auch für die Seitenwundenfrömmigkeit als Zentrum der Passionsfrömmigkeit gilt wohl, was Swan­s on, Passion, 26 pointiert mit Blick auf die Passionsfrömmigkeit festhält: „Anticlericalism (meaning not the specific opposition to priesthood, but opposition to the apparent misuse by clerics of their powers and status) might then be interpreted as an outgrowth of Passion devotion […]. That Passion devotion might be especially human-centered and anti (or extra-) ecclesial received perhaps its most graphic testimony in an English heresy trial of 1428. Margery Baxter, a woman of decidedly original opinions on religious matters, had condemned visits to church to honour the crucifix. In a debate with a witness, in which she offered to reveal ‚the true cross of Christ‘, she ‚extended her arms out wide saying […] This is the true cross of Christ, and this cross you can and ought to look at and adore every day here in your own house‘. Margery was not actually given the opportunity to explain just what the gesture meant, but it can be taken as a proclamation that Christ’s Passion was daily experienced within the world, rather than something confined to the images and imaginings of an ecclesiastical context.“

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C  Innen und Außen, Verwundung und Heilung, Leid und Leidenschaft

Wissent, einen swank in die heiligen wunden unseres herren mit minnen ist Gotte werder denne alle die orgellen und die gloggen und das hoch gesenge und die kasuggelen mit den schilten. – Wisset, ein Schwung in die heiligen Wunden unseres Herrn in Liebe ist Gott mehr wert als alle Orgeln und die Glocken und die prächtigen Gesänge und die Meß­gewän­der mit den Schilden.19

Womöglich ist es jene leise Ahnung des Widerständigen, des Anarchischen, das diese Quel­len bis heute relevant und faszinierend macht, selbst dann, wenn wir ihre Metaphorik als fremd und verstörend empfinden sollten. Die Verehrung der Seitenwunde, wie sie exemplarisch in den Texten der Gertrud von Helf­ta, des Ludolf von Sachsen und der Angela von Foligno, aber auch in den Per­fomanz­quellen der Elisabeth von Spaalbeeck oder auf der Bühne der Passionsspiele inszeniert und nicht zuletzt in der Fülle der bildlichen Darstellungen überliefert ist, wird zum Brenn­spiegel der Paradoxa des christlichen Glaubens, für welche die Frömmigkeit des aus­gehen­den Mittelalters besonders transparent und durchlässig gewesen ist. Vielleicht könnte man somit tatsächlich von einem cantus firmus sprechen, inmitten der Vielstimmkeit: Verwundung und Heilwerdung, Leid und Leidenschaft, Nahes und Unfassbares fallen in eins. Wie es Ludolf von Sachsen in seiner Vita Christi in Worte gefasst hat: Offen steht das Geheimnis des Herzens durch die Höhlungen des Körpers, offen steht jenes große Sakrament der Fröm­migkeit, offen liegen die Eingeweide der Barmherzigkeit unseres Gottes, in welchen uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe.20

19  Tauler zit. nach Gnädinger, Tauler, 95. Dass die Seitenwunde für Tauler dabei eine Vorrang­stellung innerhalb der Kreuzeswunden einnahm, weist Gnädinger ebenfalls nach; vgl. ebd. 20  Ludolf, Vita Christi II, 140, l. Sp., Z. 34–39: Patet arcanum cordis, per foramina corporis; patet magnum illud pietatis sacramentum; patent viscera misericordiae Dei nostri, in quibus visitavit nos oriens ex alto.

Quellen- und Literaturverzeichnis Die Abkürzungen von Zeitschriften und Sammelwerken erfolgen nach Siegfried M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG3), Berlin/New York 32014.

Quellen Anonym, Wie das hochwirdigist Auch kaiserlich heiligthum. Vnd die grossen Ro(e) mischen gnad darzu gegeben. Alle Jaer außgeru(e)fft vnd geweist wirdt: Jn der lo(e) blichen Statt. Nu(e)remberg, Nürnberg, 1487, GW M27302  – benutztes Exemplar: BSB München Ink H-29 (https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12bsb00039348-2, zuletzt besucht: 26.1.2021). Angela von Foligno, Zwischen den Abgründen, hg. und übers. von Berthe Widmer, Einsiedeln 1955. Angela of Foligno, Angela of Foligno. Complete Works, hg. und übers. von Paul Lachance O. F. M. (CWS), New York 1993. Angela von Foligno, Gesichte und Tröstungen. Nach ihren eigenen Worten aufgezeichnet von Bruder Arnaldus O. F. M., hg. von Arnold Guillet, übers. von Jan van den Arend, Stein am Rhein 1975. Angela von Foligno, Instructio IV, in: Il libro della beata Angela da Foligno. Edizione critica, hg. von Ludger Thier O. F. M./Abele Calufetti O. F. M. (Editiones Collegii S. Bonaventura ad Claras Aquas), Grottaferrata 1985. Angela von Foligno, Angela da Foligno. Il libro dell’esperienza, hg. von Giovanni Pozzi (Piccola bibliotheca adelphi 290), Milano 22001. Angela von Foligno, Memoriale I–VI, in: Il libro della beata Angela da Foligno. Edizione critica, hg. von Ludger Thier O. F. M./Abele Calufetti O. F. M. (Editiones Collegii S. Bonaventura ad Claras Aquas), Grottaferrata 1985. Angela de Foligno, Le Livre des Visions et Instructions de la bienheureuse Angèle de Foligno, hg. von Ernest Hello, Seuil 81991 (EA Paris 1868). Anselm von Canterbury, Gebete, hg. von Leo Helbling (Sigillum 24), Einsiedeln 1965. Anselm von Canterbury, Opera Omnia, tom. I (PL 158), Paris 1864, 975–983. Aristoteles, Opera Omnia. Graece et Latine, vol. I, Hildesheim u. a. 21998 (EA Paris 1848). Aristoteles, Die Poetik des Aristoteles, übers. von H[ans] Stich, Leipzig 1887. Sancti Augustini Opera, Enarrationes in Psalmos 101–150. Pars 3: Enarrationes in Psalmos 119–133, hg. von Franco Gori (CSEL 95/3), Wien 2001. Sancti Augustini Opera, Confessionum Libri Tridecim (PL 32), Paris 1841.

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Personenregister Biblische Personen sind kursiv gesetzt. Abaelard 57, 252, 300, 326, 346 Adelheid Langmann 265, 347 Aelred von Rievaulx 209, 226, 265, 280, 327 Agnes Blannbekin 13 Aischylos 19 Albertus Magnus 88, 206, 287 f., 290, 309 Albrecht von Halberstadt 30 Alcuin 177 Alice/Alix von Schaerbeke 284, 329 Alkuin 2 Ambrosius 107, 194, 283 Angela von Foligno 17, 24–26, 41 f., 53–56, 88, 204 f., 208, 210, 219, 225, 234 f., 238, 244, 265, 269–271, 275, 283, 315, 323, 328, 335 f., 348 f., 354, 356, 367 f., 374 Anna Vorchtlin von Engelthal 285 Anselm von Canterbury 19, 26, 88, 102, 105, 266, 268, 324, 326, 367 Anselm von Laon 2, 177 Antonius, Heiliger 247 Arnaldus, Frater 26, 42, 45–49, 56, 58, 62, 349 Arndt, Johann 52 Augustinus (von Hippo) 293, 296, 306, 309, 318, 319, 328, 337, 359, 367 Barbarossa 304 Barrett-Browning, Elisabeth 53 Bataille, George 54 Beatrice von Nazareth 221, 284 Beatrix von Burgund 304 Beda Venerabilis 2 Benessius 181 Bernhard von Clairvaux 83, 200, 209, 215, 217, 265, 280–282, 290, 293, 300, 302, 309, 316, 326–328, 332 f., 343, 367

Biel, Gabriel 224 Bonaventura 50, 77, 81, 83, 133, 185, 251 f., 327 Bonifaz VIII. 52, 78 Brigitta von Schweden 114, 331 Brugmann, Johannes 86 Bruno 78 f., 328 Burchardus de Monte Sion 83 Caspar von Regensburg 297, 308 Christina Mirabilis 119 Christine Pizan 304 Chrysostomos 90 f., 96, 118, 294, 357 f. Cranach, Lukas d. Ältere 5–7 Cranach, Lukas d. Jüngere 5 Cyprian 194 Dante 42, 330 David von Augsburg 82 f., 207 Dionysius von Areopagita 28, 50 Dorothea von Montau 14, 285 Egbert von Schönau 303 Elias von Cortona 251 Elisabeth von Schönau 266, 392 Elisabeth von Spaalbeeck 46, 111, 114–119, 122, 125 f., 132, 207, 212, 239, 244, 253, 257 f., 269 f., 282, 284, 324, 328, 348 f., 361, 367 f., 374 Elsbeth Oye 226 Elsbeth Stagel 284 Eugen IV. 226 Fieschi, Caterina 55 Flaccus, Aulus Persius 189 Franz von Sales 52, 283 Franz(iskus) von Assisi 42–44, 57, 75, 133, 142 f., 245 f., 248–252, 257 f., 306, 327

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Personenregister

Frauenlob 305

Isaak von Stella 11 f., 22, 215, 278

Galen 224, 260–262 Gerhard von Köln 233 Gero von Reichersberg 253 Gerson, Johannes / Jean 303, 345 Gertrud von Helfta 15, 24–26, 28–30, 32 f., 38, 41 f., 52, 56, 88, 170, 191, 208, 210, 216, 222, 224, 235, 238, 243 f., 253, 258, 268, 270, 274, 283, 291 f., 310, 313, 315 f., 328, 334, 336, 348, 350, 353, 367 f., 374 Getrud von Hackeborn 27 Gottfried von Straßburg 301 Gregor der Große 28, 170, 192–195, 242, 289 f. Gregor XI. 78 Gregor von Nyssa / Gregorius 92, 106 Groote, Gert 86 Guerric von Igny 209, 264 f. Guiges du Pont 82 „Guter Werner“ von Oberwesel 230

Jakob Colonna 52 Jakob von Mailand 277 Jakob von Vitry 20, 217, 246–248, 281 Jakobus de Varagine 192 James of Milan (Jacobus de Mediolano) 83, 277 Johannes der Täufer 5 Johann Friedrich von Sachsen 5 Johannes, Jünger Jesu 32, 40 f., 58, 60, 83, 176 f., 184, 216 f., 314, 328 Johannes I. von Brabant 122 Johannes vom Kreuz 252 Johannes von Alverna 221 Johannes von Fécamp 325 Johannes XXII. 78 John von Howden 307 John von Ford 18, 309 Juliana von Mont-Cornillon 122, 124, 284 Juliane von Norwich 264, 285, 333 f.

Hadewijch 17, 47, 284, 298 f., 329 Hans Holbein d. Ä. 195, 364 Hartlieb, Johannes 262 Hartmann Schedel 187–190, 241, 340, 365 Heinrich II. von Brabant 122 Heinrich von Geldern 122 Heinrich von Halle 30 Heinrich von Herford 227 Heinrich von Meißen – siehe auch Frauenlob Heinrich IV. 184 Heloise 252 Henry von Bolinbroke – siehe auch Heinrich IV. Hildegard von Bingen 1, 14, 290 Homer 28 Honorius Augustodunensis 111 Honorius III. 68, 246 Hrabanus Maurus 2, 92, 177 Hugo von St. Viktor 2, 28, 210 Ida von Louvain 284 Ida von Nivelles 284 Ignatius von Loyola 86 f. Irenäus 20, 283

Kant, Immanuel 19 Karl V. 5, 8 Katharina von Genua 222–224 Katharina von Siena 7, 17, 119, 265, 288 Klemens V. 77 „König Rindfleisch“ 231 Kolmesser, Johann 156 Konrad von Megenberg 158 Konrad von Würzburg 304 Kremer, Johannes 156 Kundigunde von Böhmen 179 Laban, Rudolf 128 Lacan, Jacques 17, 54 f. Lanspergius, Johannes 31 Lévinas, Emmanuel 55 Longinus 77, 89–92, 100, 151, 155, 158– 169, 178, 184, 220, 225, 231 f., 236 f., 240, 319, 321, 337 f., 351, 359, 362 Ludolf von Sachsen 21, 23–26, 77–110, 161, 179, 207–210, 213, 215, 217, 223 f., 236–239, 243 f., 259, 273, 275, 292–296, 316–318, 320–325, 328 f., 331, 341, 356–361, 368, 371, 374 Ludwig der Bayer 78 Lukardis von Oberweimar 14 f., 210



Personenregister

Lutgart von Tongeren 24 f. Luther, Martin 5–7, 52, 61, 204, 317, 323, 326, 332, 341, 346, 372 Margarete von Kempe 114 Margarete von Porete 50, 52, 268 Margarete von Ypres 284 Margaretha Ebner 114 Maria Magdalena 83, 308 Maria von Brabant 125 Maria von Oingt/Oignies 18, 20, 119, 245, 249, 252, 264, 281, 284 Mary de Bohun 184 Mechthild von Hackeborn 32, 82, 210, 224 Mechthild von Magdeburg 33, 47, 53, 124, 211, 265, 279, 285, 297, 301, 303, 309, 329 f. Meister Eckhart 18, 50, 226, 287, 349 Mengot, Friedrich 197 Michael von Massa 82 Neumarkt, Johann von 351 Nicolaus Cusanus 226 Nikolaus V. 226 Noll, Gustav 53 Odo von Cluny 324 Olivi, Petrus Johannes 303 Origines 194, 208 Ottokar II. von Böhmen 180 Ovid 306 Paltz, Johann 99 Paris, Matthaeus 248 Paul III. 87 Paulus Diakonus 192 Paulus, Apostel 266 Petrus Cantor 209, 246 Petrus Damiani 325 Petrus Lombardus 2 Petrus von Celle 279 f. Philipp von Clairvaux 46, 118–124, 126–137, 139–144, 147, 204, 206 f., 212, 238, 253, 257, 268, 270 f., 282, 284, 349, 361 Platon 210 Pseudo-Beda 122

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Pseudo-Bonaventura 77, 81 f. Pseudo-Dionysius 55 Rabanus Maurus siehe Hrabanus Maurus Rahner, Karl 1–4, 10, 87 Reinier van Euskercken 193 Reinmar der Alte 305 Reinmar von Zweter 301 Richard de Morins 248 Richard Rolle 114, 220, 264, 303 Ricœur, Paul 55, 309 Rilke, Rainer Maria 41, 44, 53 Roger von Wendover 251 Rudolf von Habsburg 225 Rudolph von Biberach 19, 207 Rudolph von Coggeshall 248 Rupert von Deutz 2, 195, 285, 290, 300 Sartre, Jean-Paul 54 Schwartz, Ulrich 195 Seuse, Heinrich 82 f., 171, 209, 212, 226, 265, 284, 287, 307 f., 327, 348 Surgant, Ulrich 345 Tauler, Johannes 78, 85, 209, 287, 329, 373 f. Tersteegen, Gerhard 52 Tertullian 1, 20, 174, 177, 194, 220 Theresa von Avila 52, 54, 86, 205 Thomas, Jünger 159, 172, 200, 217, 220, 290, 340 Thomas von Aquin 18, 78, 206, 210, 280 Thomas von Cantimpré 24, 114, 246, 248 Thomas von Celano 133, 247 Thomas von Kempen 86, 224 Thomas von Straßburg 78 Thomas Wykes 248 Ubertin von Casale 51 Ulrich von Liechtenstein 261, 267 Venturino da Bergamo 83 Wilhelm von St. Thierry 19, 207, 283, 285, 302 William von Ryckel 121 f., 124, 144 Zinzendorf, Nikolaus von 372f.

Sachregister Abendländisches Schisma 77 Abendmahl 35, 37 f., 63, 242, 285 f., 295, 311, 353 Abendmahlskelch → Kelch Abendmahlssakrament 290 Ablass 72, 185, 186, 190, 192, 339, 344 f., 347 Absolution 145, 227, 346 Adam 7, 94–96, 174–176, 273 f., 293, 295 f., 345 Adam-Christus-Typologie 97, 172 f., 273, 296 Affekte 132, 300, 310, 312, 330, 334 agape 299 Aggression 228 f., 231, 239 f., 244, 298 Alltag 13, 210, 280, 324, 344 Alsfelder Passionsspiel 116, 158, 164, 168, 232 Alterität 12, 14, 21, 230, 262, 268 Ambivalenz 45, 113, 141, 179, 204, 213, 218–220, 226, 233, 236, 238, 241, 243, 245, 252, 322, 338, 343, 369 amica Christi → Freundin Christi Amor → Liebesgott amor, evisceratus → Liebe, zerfleischende Andacht 4, 36, 71, 88, 96, 132, 184, 187, 294, 313, 334, 344, 358 Andachtsbildchen 184 Andachtsbuch 80 f., 86, 180 f., 311 Androzentrismus 291 Anfechtung 107 Antijudaismus → Judenfeindlichkeit arbor amoris 307 Arche Noah 97 arma Christi → Leidenswerkzeuge/ Marterwerkzeuge Armenbibeln 2 Armut 44, 50 f., 58, 62, 68, 71 f., 127, 206, 246, 336 f.

Armutsstreit 51, 71, 75, 354 ars moriendi 196 Artusepik 304 Askese 37, 49, 56, 147, 205, 212, 252, 347 Ästhetisierung 187, 272 attritio 347 Audition 39, 44, 46 Augsburger Religionsfrieden 5 Augustinereremiten 346 Ausgrenzung 219 f., 228, 233, 238–240, 242–244, 320, 370 Außen ↔ Innen 12 f., 20, 65, 67, 202, 211, 214, 219, 368 Autorität, kirchliche 30, 52, 88, 90, 227, 249, 361, 369 Barmherzigkeit 6, 31, 57, 74, 108, 142, 166, 169, 197, 205, 209, 215, 236, 253, 271, 293, 303, 325, 338, 343, 347, 353, 361, 365, 370, 374 Begierde 99, 144, 179, 237, 353 Beginen 18, 114, 116, 123, 125, 127–131, 134, 136–139, 141, 143–147, 245–247, 252, 270, 284, 309, 371 Beherzigung (recordatio) 64, 106, 208, 324 Beichte 57, 63, 145 f., 247, 323, 346 Benediktiner/Benediktinerorden 31, 122, 144, 146, 251, 300 Benediktbeurer Passionsspiel 157, 165 Benediktbeurer Weihnachtsspiel 152 Benediktusregel 26 Beschneidungswunde 224 Besessenheit 22, 61 f. Bettelmönche 70–74, 76, 215, 273, 315, 336, 349, 354 f. Bible moralisée 173–175, 177, 274, 296, 363, 371 Blasphemie 72, 248 f.

412

Sachregister

Blut Christi 6, 59, 92 f., 161 f., 165, 192, 221 f., 224 f., 229, 233, 235, 237 f., 241, 243, 245, 254, 268, 273, 286–288, 290, 294, 296, 357 Blutfrömmigkeit 220, 225, 233, 240, 243 f., 370 Blutreliquien 220, 225, 244 Blutwunder 284 Braut Christi (sponsa Christi) 175, 177, 274, 288, 296, 329 Brautmystik 16, 20, 241, 300 f., 303, 369 Brüder und Schwestern des freien Geistes 52 Brüdergemeine 372 Brust/Brüste Christi 39 f., 45, 75, 181, 191, 209, 216, 242, 265, 274 f., 276, 301, 314, 371 Brust/Brüste Mariens 75, 171, 191, 196 f., 265, 276 Brustweisung 75, 171, 243, 265, 276 Buße 37, 43, 56–58, 76, 132, 146, 201, 205, 227 f., 247, 282, 323, 345 f., 350–353, 356 Bußleistungen 37, 58, 61, 204 f., 347, 350, 354 canticum canticorum → Hohelied caritas 172, 191, 242, 296, 306, 321 Charismatikerin, religiöse 123, 125 Christus – als Bräutigam 27, 39, 200, 246, 252, 288, 301 f., 325, 329, 342 – als Frau 266 – als Mutter 19, 264 – als Passionschristus 3, 8, 33, 54, 82, 179, 186, 191, 194, 199 f., 208, 212–214, 218, 234, 242, 245, 264, 268, 270, 275, 278, 325, 330, 334 f., 351 – als Pelikan 222, 344, 265 – als Ritter 199, 301, 305 f. – als Weltenherrscher (Pantokrator) 20, 199 f., 306, 325 – als zweiter Adam 174, 177, 295 f. Christus in der Kelter 142, 172, 194 f., 222, 242, 258, 287 compassio → Mitleiden confessio → Beichte conformatio/conformatio Christi → Gleichförmigkeit/Gleichförmigmachung

consolatio → Trost contritio, vera → Reue, wahre/­Reuschmerz, wahrer cross-dressing 261, 267, 279 Cupido 306 f., 311, 316 Dame 301, 304 f., 308 Dämonen 61, 67, 331 Dämonisierung 230, 272 Decretum Gratiani 57 Devotio moderna 13, 23, 52, 86 Devotionsliteratur 24, 26 Dominikaner/Dominikanerorden 26, 78 f., 91, 188, 194, 226, 233, 309, 327 Donaueschinger Passionsspiel 114–116, 164–166, 232 Dornen/Dornenkrone 103, 145, 178 f., 184, 187, 194, 219, 239, 325 Durchbohrung Christi 91, 95, 109 f., 116, 160, 163 f., 166, 168, 190, 240, 255, 318, 337 f., 362 „Ein-Geschlechts-Modell“ 261 f. Eingeweide (praecordia) 69, 72, 75 f., 107 f., 141 f., 208 f., 215, 266, 271, 273, 288, 293, 306, 361, 374 Einschreibung 34, 212, 217, 227, 245, 249, 254, 260 f., 308, 310, 334 Einswerdung (unio) 29, 50, 100, 106, 179, 202, 205, 207, 211, 216, 222, 253, 264, 271, 277, 280 f., 285, 292, 302, 308, 314–316, 321, 357, 373 Einverleibung 38, 273, 279–282, 285, 291, 324, 336 Ekel 147, 247, 284 Ekstase 17, 42, 138, 146, 207, 241, 247 Elevation der Hostie 69, 73, 144, 221, 239, 279, 284 Embryologie 206, 223 Engel 6, 41, 50, 94, 134, 191, 294, 353, 357 Erbauung/Erbauungsliteratur 23, 26 f., 81, 147, 343 Erdbeben 160, 163 Erlebnismystik 207, 222 Erlösung 6 f., 74, 93 f., 101, 109, 111 f., 150, 181 f., 185, 187, 200, 209, 214, 219, 223–225, 235–238, 294 f., 320, 332, 334, 347, 354–359, 364



Sachregister

Eros 17 f., 259, 278, 298 f., 301, 308, 315, 320–322, 329, 369 Eschatologie 205 f. Essbildchen 284 Eucharistie 33, 36, 97, 144 f., 149, 175, 187, 235, 238 f., 255, 279 f., 282–286, 288–290, 292, 295 f., 345, 363, 368 Eucharistiefrömmigkeit 9, 144, 147, 201, 220, 239, 279 f., 283 f., 287, 291, 369 Evangelienharmonien 80 Evangelium Nikodemi 157 Exil, babylonisches 77 Exkommunikation 78, 146 Fanatismus 151, 232 Fasten/Fastenpraxis 15, 31, 127, 147, 204, 210, 246, 284, 345, 347 Fegefeuer/Fegefeuerstrafen 37, 123, 146, 195, 224, 345, 347, 349 f., 352 Feminisierung 273, 276, 278 Flagellanten → Geißler Fluch 91, 162 f., 168–170, 237, 240, 242, 337 f., 345, 362 f., 369 fons vitae 2, 172 Frankfurter Dirigierrolle 111, 115, 148 f., 153–156, 159, 232, 239, 243 f., 336 f., 367 f. Frankfurter Passionsspiel 111, 115, 148, 155–159, 163, 166 f., 231 f., 240, 243 f., 336, 338, 362 f., 367 Franziskaner/Franziskanerorden 43, 47, 123, 251, 277 Frauenlob 304 Frauenmystik 55, 172, 280, 327 Freiheit 43, 51, 65, 217, 277, 318, 368, 373 Freude 12, 35, 37, 41, 43, 59 f., 63–66, 70, 72, 83, 129, 137, 139, 141, 160, 167 f., 176, 206, 209 f., 219, 225, 239, 251, 256, 303 f., 312, 315, 333–335, 350, 352–354, 368 Freundin Christi (amica Christi) 104 f. Frömmigkeitstheologie 23, 25 f., 202, 263, 322, 348, 370 Frömmigkeitspraktiken 11, 14 f., 246, 347 Frömmigkeit, somatische 19 Fronleichnamsfest 279, 284 Fürbitten 123, 146, 349

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Furcht 35, 58, 91, 132, 160, 166–169, 256, 312, 334, 346, 360 Fürsorge 195, 266 f., 298 Fürsprecher 44, 196, 243 Gebärmutter 265, 268, 272–274, 276, 280, 295 Gebet 19, 27, 29, 31, 34–37, 39, 44, 57, 61, 63, 79, 81, 84, 87–89, 96, 98–100, 109 f., 121, 123, 136, 138, 146, 186–188, 190, 193–195, 197, 205, 209–213, 224, 241 f., 253–255, 259, 275, 308, 311 f., 314, 318, 323, 331, 340 f., 343, 345, 347, 349 f., 364 f., 370 Geborgenheit 40, 58, 63, 66, 77, 274, 355, 368 Geburt 2, 84, 86, 94, 169, 173–177, 209, 265–267, 273, 293, 295 f., 333, 363 Geburtshelferin → Hebamme Geißelung 58, 103, 159, 220, 224, 226 f., 229, 330 f. Geißler 227–229, 244 Geist Gottes 144 f., 282 Genugtuung (satisfactio) 57, 101, 247, 323, 326, 346, 348 Gericht 67, 84, 109, 125, 180, 190, 195–197, 339, 365 Geschlechtergrenzen 30, 201, 272 Geschlechterrollen 178, 267, 277–279 Geschlechtsverkehr 178 Gesten 51, 95, 98, 112, 124, 129, 135, 139, 143, 212, 262, 318 Gleichförmigmachung (conformatio Christi) 98 f., 100, 208, 218, 252, 258 f., 283, 316–318, 320, 322 f. Gliedergebete 99, 213, 255, 318 Glück 254, 302 Gnade, nahe 343, 345, 361 Gnadenbilder/Gnadenbildchen 186, 192, 344 f. Gnadenmedien 344, 350 Gnadentheologie 29, 31, 356, 370 Gott als Richter 183, 190, 195, 276, 341, 359, 364 f. Gottesbegegnung 18 f., 45, 63 f., 200, 209 f., 354 Gottesferne 41, 63, 77, 349, 354 f., 368

414

Sachregister

Gottesliebe 13, 17, 61, 100, 218, 259, 300, 311, 317, 322–324, 349 Gottesmutter 9, 59–61, 141, 143, 146, 158, 191, 196, 243, 269, 271, 304 f., 328 Gregorsmesse 191–194, 222, 242, 286, 289 f., 292, 345 Häresie 52 Hebamme 175–177, 274 Heidelberger Passionsspiel 157, 160, 163, 232 Heiligenverehrung 38, 230 Heilsbrunnen 222 Heilsgeschichte 55, 129, 141, 147, 159, 176, 224, 274, 330, 363 Heilsplan 142, 237, 268 Heilstreppe 196 Heilsvergewisserung 179, 190, 341 f., 348, 350, 352, 358 Heiltumsweisung 188–190, 218, 229, 238 Heilung 39, 84, 91, 99, 159, 162–164, 166, 169, 183, 190, 214, 219, 230, 313, 333, 337 f., 353, 367 f. Herz, heiliges 172, 188 Herzenswunde 21, 141, 187, 252 f., 255 f., 259, 311, 333 Herz-Jesu/Herz-Jesu-Verehrung 32 f., 172 f., 333 Heterosexualität 262 Hexerei 248 Himmel 40, 64, 76, 87, 153 f., 160, 166, 169, 195, 206, 221, 225, 281, 307, 337, 363 Himmelfahrt 84, 129, 147, 156, 209 Hingabe 258, 280, 283, 313, 317 f. Hochmittelalter 20, 153, 200, 324 Hohelied (Canticum Canticorum) 40, 88, 98, 105 f., 141, 177 f., 209, 215, 252, 256, 281 f., 293, 301–303, 305, 308 f., 312, 316, 318, 320 f., 326, 368, 372 Höllenfeuer 7 Höllenangst 57 Homosexualität 262 Honig 70, 105–107, 218, 234, 274, 281, 293, 318 Horen → Stundengebete Hostie 38 f., 69, 73, 144 f., 221, 225 f., 230 f., 239, 279, 281–286, 291 f., 330

Hostienfrevel 220, 229, 231 Hostienmühle 287 Hostienwunder 220, 231, 244 Hostienzauber 284 Humanismus 303 humanitas Christi 62 Hysterie 15, 17, 45 icon, vera → Schweißtuch der Veronika imago dei 171 imitatio/imitatio Christi 86, 111, 218, 222, 226, 249 f., 361, 369 Individualität 25, 303, 327 Inkarnation 205, 215, 256, 312, 343 Inkorporation 32, 72, 273 Innen ↔ Außen, siehe Außen ↔ Innen Inquisition 50, 128 Inszenierung 115–117, 150, 154, 160, 162, 164 f., 227, 229, 232, 277 Interdikt 78, 151 Interzession 171, 196 Intimität 173, 179, 252 f., 262, 269, 285, 288, 291 f., 315, 321 Jenseitsqualen 196 Jesuiten/Jesuitenorden 87, 203, 280 Jesuskind 172, 188, 285 Jesus-Monogramm 308 Johannesevangelium 1, 35, 157, 200, 239, 258, 282 Juden 90–93, 95, 151–155, 157–160, 162–164, 167–169, 229–232, 236 f., 240, 244, 293 f., 320, 325, 337 f., 357, 362 Judenbekehrung 363 Judenfeindlichkeit/Antijudaismus 90, 154 f., 157, 159, 213, 229, 233, 325 Kartäuser/Kartäuserorden 21, 26, 31, 77–82, 84–88, 94, 98, 101 f., 109, 209, 223, 236, 238, 245, 273, 281, 293, 295, 300, 316, 320, 328, 358–360 Katharer 205 Katharsis 131 Kelch 6, 97, 176, 181, 184, 191, 193, 195, 221 f., 242, 279, 286 f., 290 f., 296, 321, 369 Kelter 142, 172, 194 f., 222, 242, 258, 287 Ketzer 20, 205, 227, 229, 371



Sachregister

Keuschheit 53, 57 Kinderkreuzzug 226 Kindermörder 230 Kirche als zweite Eva 1, 94, 96, 174–177, 295 f. Klerus 158, 228 f., 345 Kommunion → Abendmahl Kontaktreliquie 189, 219 Kontemplation 62, 339 Körperlichkeit 20, 136, 200, 205, 207, 213 Körperflüssigkeiten 221, 265, 268, 276, 295 Körperhaltungen 209 f., 326 Kreuz Christi 51, 55, 328, 348 Kreuzesmeditation 55 Kreuzesnachfolge 58, 273 Kreuzesnägel 178, 184, 208 Kreuzeswunden 6, 32, 34, 133, 145, 217, 220, 224, 235, 237 f., 241, 247–249, 352, 360, 374 Kreuzigung/Kreuzigungsszene 91, 102, 111, 149, 159, 163, 167, 171, 177, 181, 188, 218, 220, 224, 236, 338 Kreuzzug 81, 179, 225, 245 f., 252 Kruzifix 35, 39, 63, 73, 137, 300, 308, 311, 339 Kulturanthropologie 21 Kuss/Küssen 75, 109, 262, 315, 318, 372 Laien/Laienfrömmigkeit 10, 23 f., 85, 169, 204, 221, 248, 285–287, 290, 342, 371 Laienkelch 222, 291 Land, heiliges 225 Lanze, heilige 187, 241 Laterankonzil, IV. 20, 205, 229 Leben-Jesu-Literatur 77, 80 Leben-Jesu-Frömmigkeit 80 f. Legenda aurea 160, 192, 251 Leiblichkeit 263, 271 f., 285 Leibfeindlichkeit 22, 210 Leib-Seele-Dualismus 20, 205 Leiden Christi/Passion Christi 6, 16, 33, 54, 60 f., 65 f., 76, 84, 93, 103, 115, 120, 122, 124, 129, 134, 141, 158, 162, 164, 166, 179 f., 183, 205, 208, 210, 212, 218, 222, 233, 245, 258, 294, 305, 322–324, 338, 341, 348 f., 362, 371

415

Leidenschaft (passio) 8, 12, 16, 34–36, 102, 109, 148, 183, 187, 210, 222, 233, 241, 267, 299, 306, 308, 311 f., 316, 320, 322, 329, 333, 348, 367, 370, 374 Leidensgeschichte 119, 153, 218, 326–328, 337, 340, 348 Leidenswerkzeuge/Marterwerkzeuge (arma Christi) 169, 172, 179–181, 183–185, 211, 214, 319, 331 f., 339 f., 364 Lektionar 129, 212 Lepra 246 Liebe, höfische 303–305 Liebe, zerfleischende (amor, evisceratus) 70, 215 f., 315 Liebesgott/Amor 35, 306 f., 312 Liebeskunst 252 Liebeslager/Minnelager 301, 308, 316 Liebeslyrik 303, 312 Liebeszauber 284, 313 Literalität 114 Logozentrismus 213 Longinuslegende 91, 167 Lösegeld 94, 101, 236 f., 294, 320, 355, 356 f., 359 Loskauf 94, 130, 143, 237 f., 271 Luzerner Osterspiel 165 f., 232 Marienfrömmigkeit 146, 201 Marienklage 115, 160, 165 Marienlob 304 f. Mariologie 264, 272 Marterwerkzeuge 180, 319 Märtyrer/Märtyrertum 60, 88, 90–92, 221, 225, 229, 251 Martyrium 90, 92, 97, 221, 250, 252 Masochismus 16, 333 Mazzot 230 meditatio → Meditation Meditation (meditatio) 13, 29, 39, 55 f., 61, 65, 84, 88, 111, 114, 182, 205, 218, 274, 281, 284, 339 f., 344, 353 memoria passionis → Passionsmemoria Messe 69, 149, 162, 172, 193, 242, 280, 285, 290, 345 Milch 105 f., 191, 209, 221, 233, 242, 265, 268, 274–276

416

Sachregister

Mimesis 16, 117, 126, 131, 203, 208, 210, 213, 217, 239, 249 f., 257 f., 270 f., 320, 324, 328 Mimetische Praktiken 13, 24, 119, 131, 280 Minne, geistliche 53, 299, 304 f., 308 Minne, weltliche 300 Minnesang 297 f., 304 Mirakelmann 232 Misogynie 264 Mitleiden (compassio) 14, 16, 31, 34, 36, 54, 60, 65, 69, 82, 101 f., 110, 139, 159, 169, 180, 183, 187, 195, 206, 208, 210, 216–218, 254, 265, 272, 310 f., 320, 323 f., 326, 329, 332–334, 336, 348, 359, 363 Mond 176 f. Mutterbrust 171, 272, 274 f., 371 Mutterschoß 272, 274 f., 371 Nachfolge/Nachfolge Christi 16, 42 f., 58, 60, 71, 75, 212, 226, 234, 236, 249, 273, 323, 327, 334 Nägelmale 64, 191, 197, 220, 243 Nähe Gottes 49, 62, 325, 343 Narbe 38 f., 251, 272, 292 Niedrigkeit Christi 63, 268, 270, 322 f., 325, 328, 330, 332, 370 Not Gottes 172 Ockhamisten 346 Opfer 32, 73, 78, 149, 162, 290, 307, 330, 334, 337, 339 Ordnung der Liebe (ordo caritatis/ ordinatio caritatis) 98, 303 f., 312, 316, 318 ordo caritatis/ordinatio caritatis → Ordnung der Liebe Orthodoxie 52, 205, 349 ostium amoris → Seitenwunde als Pforte der Liebe ostium vitae → Seitenwunde als Pforte zum Leben Ostkirche 20 Pantokrator → Christus als Weltenherrscher

Paradieserzählung 37, 174 f., 177, 273, 293, 295 f. Partikulargericht 195, 197 Passion Christi → Leiden Christi Passionsbilder/Passionsbildnisse 161, 170 Passionslektüre 80 f., 170 Passionsmemoria (memoria passionis) 33, 328, 335 Passionsmimesis 210, 258 Passionsperformanz 118, 139, 143, 212, 257, 269, 271, 324, 361, 367 f. Passionsspiel 65, 111, 114–116, 129, 148–150, 152–160, 163–168, 218, 220, 229, 231 f., 240, 243 f., 327, 336–338, 344, 362 f., 367, 369, 374 Passionstraktakte 162, 218, 327 Passionswappen 172, 331 Pathologisierung 15, 22, 120 Patristik 2, 4, 80 performative turn 112 performance studies 112 f. Performanz/Performanzen/performance 112–114, 117, 120, 122, 128, 166, 268 Pest/Schwarzer Tod 99, 227 Pfeil/Pfeil der Liebe 35, 99, 255 f., 306, 309, 311 f., 318 f. Pflaster 38 f., 292 Phallussymbol 277 Philopassionismus 16, 333 Pièta 61, 171 Pogrom 151, 155, 228–231, 233 Poststrukturalismus 21 Praecordia → Eingeweide Predigt 50, 61, 79, 98, 182, 186, 209, 228, 322, 328, 342 f., 345 Priesteramt 284, 356 Psalmen 79, 135 f. Psychoanalyse 54 queering 277 raptus → Verzückung Realpräsenz 162, 189, 218, 285 Rechtfertigung 36, 41, 313 f., 346, 354, 368 recordatio → Beherzigung Reklusen 123, 224 Reliquienfrömmigkeit 182



Sachregister

Renaissance 21 f., 204, 261, 269, 303, 306 Reue, wahre/Reueschmerz, wahrer (contritio, vera) 31, 37 f., 43, 57, 96, 102, 167 f., 197, 243, 320, 323, 329, 345–347, 350 f., 365 Ritualmord 229 f. Rose 175, 272, 307–309, 333 Sadismus 54 Säftelehre, antike 268 Sangesspruchdichtung 301 Satan → Teufel satisfactio → Genugtuung Säugling 218, 242, 274 Scham 45, 129, 247, 276, 331 Schande/Schändlichkeit 60, 91, 95, 138, 159, 236 f., 293, 320 Schicklichkeit 141, 143, 239, 270 Schlaf 39, 174–176, 274, 301 Schlafentzug 246 Schmerzensmann 20, 34, 59, 65, 172, 177, 181, 186 f., 191, 195, 199, 242 f., 276, 290, 296, 309, 321, 340, 343, 345, 348, 364, 368, 372 f. Schönheit 187, 211, 267, 308, 327 Schuld 36, 74, 77, 158, 183, 198 f., 207, 293 f., 313, 346 f., 351, 353, 355, 368 Schutzmantelchristus 172 Schutzmantelmadonna 345 Schwangerschaft 114, 209, 265, 267 Schweißtuch der Veronika (vera icon) 130, 143, 181, 184, 190, 341, 344, 361 scrupulositas → Skrupel Seelenheil 147, 193, 219, 351 f. Seelsorge 26, 146 Segen/Segnung 71, 162, 170, 338, 342 Seitenwunde – als Geburtsstätte der Kirche 2, 169, 293, 295, 363 – als Liebeswunde 36, 38, 95, 110, 178, 244, 273, 292, 309–312, 314, 316–321, 359 – als Liebessymbol 241, 253 – als Pforte der Liebe (ostium amoris) 100, 319, 359 – als Pforte zu den Sakramenten 95, 295 – als Pforte zum Leben (ostium vitae) 97, 100, 358 f.

417

– als Schnittfläche 11, 204, 316, 369 Selbstkasteiung 205, 246 Selbstverwundung 226, 247 Selbstzüchtigungen 43, 347 Seraph 247, 306 Sexualisierung 16, 22 Sexualität 14, 17, 54, 272, 278, 298 Sinnlichkeit 13, 17 f., 217, 278 Skrupel (scrupulositas) 36, 274, 283, 291, 341, 354, 356 scrupulositas → Skrupel sola fide 6 sola gratia 6 f. sola scriptura 6 f. solus Christus 6 Sonne 35, 176 f., 255, 305, 311 Soteriologie 205 Speerbildchen 4, 9, 172, 187–190, 213, 215, 218, 241, 340, 365 Spirituale 51 f., 68, 75 spiritus libertatis 51, 71 sponsa Christi → Braut Christi St. Galler Passionsspiel 150, 153, 157, 164 Sternenhimmel 221 Stigmatisierung 121 f., 132 f., 145, 172, 218, 245, 248–252, 256 f., 327 Stillen 191, 242, 265, 268, 272, 274 f. Strafen, ewige 347 Strafen, zeitliche 347 Stundenbuch 173, 184, 191 Stundengebete (horen) 79, 84, 122, 129, 131, 134, 137–139, 144, 147 Subjektphilosophie 55 Sühne 97, 227, 229 Sündenbewusstsein 57, 343, 354 Sündenstrafen 74, 185, 195, 357 Synagoge 5, 153–155, 168, 338 Tanz 141, 207, 227 Tanzwut 228 Tätowierung 250 Taube 27, 88, 104–106, 320 Taufe 5, 33, 97, 113, 151, 153, 155, 162, 175, 187, 250, 288, 290, 296, 337 f., 362 f. Teufel 5, 7, 21, 42, 63, 102, 107, 179 f., 204, 217, 331, 341

418

Sachregister

Todesstunde 196, 258, 267, 109 f. Totenschändung 91, 236, 244 Trance 117, 119, 134, 284 Tränen 57, 60, 96, 102, 144, 319, 323 transformatio → Transformation Transformation (transformatio) 76, 117, 193, 212, 230, 271, 283, 317, 355 Transsubstantiation/Transsubstantiationsslehre 192 f., 229 f., 285, 290 Traurigkeit 60, 64–66, 210, 335, 354 Trinität 62, 209, 306 Trost 3 f., 32, 40 f., 43, 106 f., 136, 190, 216, 281, 284, 308, 314, 353, 382

Versöhnung 319, 346, 351, 358 f., 362–364 Versuchung/Versuchtsein 61, 63, 204, 354 Verwandlung 37, 72 f., 76, 192, 282 f., 347 Verzückung (raptus) 45, 128 f., 131, 134, 136–138, 144 f. Visionen 14, 24 f., 28, 30, 32, 36–38, 40, 46, 58, 68 f., 71 f., 74, 123, 207 f., 219, 244, 269, 283, 336, 339 Volksfrömmigkeit 333 Vorhaut Christi 13

Umarmung 53, 64, 70, 72, 109, 172, 179, 200, 215, 222, 236, 262, 282, 301 f., 315, 318, 336 Unglaube 217, 248 Ungnade 343, 363 Unheil 168–170, 237, 240, 337 f., 363 unio → Einswerdung Universalgericht 195 f., 365

Wallfahrt 44, 230, 344 Weiblichkeit Christi 270 Wucherpolemik 157 Wundmale 27, 133, 139, 165, 194, 201, 245, 247–249, 251, 253–255, 257, 331, 339 Wunderglaube 12

Verdammnis 67, 183, 204, 242, 244, 346, 362 f. Verdienste 29, 76, 197, 331, 349 Vergebung 32, 57, 99, 166, 185, 196, 228, 346, 363 Verinnerlichung 80, 256 f., 326, 344 Versenkung 39, 106, 166, 200, 218, 224, 234, 323, 329

Zärtlichkeit 15, 253, 262 Zentrierung, normative 8, 323 f., 325, 332, 348, 369 Zisterzienser/Zisterzienserorden 11, 18, 26, 98, 120, 126, 128, 131, 133, 137, 197, 265, 281, 300, 309, 326 Zuversicht 88, 109 Zweifel 36, 41, 45, 66, 172, 217, 222, 235, 274, 290, 315, 354f., 364, 368