Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung 9783429038458, 9783429048235, 9783429062408, 3429038456

"Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt." Das Heute des Psalmverses 2,7 hat der Apostel Paulus nicht a

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German Pages 160 [161] Year 2015

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Inhalt
Vorwort
Die dreifache Zeugung des Logos und Messias und der Kultus des Todes
I. Messianische Zeugung in der Zeit
II. Das Gebet der Urgemeinde um Parrhesia und das Kreuz Christi
III. Die Auferstehung des Menschen Jesus Christus als messianische Zeugung
IV. Auferstehung als Akt messianischer Inthronisation
V. Messianische Herrschaft und Gottes Wirken in der Geschichte
VI. Christi Tod als Ende des Todesäons – seine Auferstehung als Anfang des ewigen Lebens: Heute
VII. Der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit – nicht jenseits des Zeitgeschehens
VIII. Die eschatologische Zeit – die Vollendung der messianischen Zeit
IX. Die Offenbarung des Zeugnisses Jesu durch den Heiligen Geist
X. Die Deutung des Kommenden im Licht der Schrift: die messianische Vollendung der Zeit und die eschatologische Zeit der Vollendung – die Zeit messianischer Aktualität
XI. Die Unumkehrbarkeit des Zeitgeschehens in der apokalyptischen Zeit
XII. Zeugnis als Martyrion und Martyria
Literaturverzeichnis
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Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung
 9783429038458, 9783429048235, 9783429062408, 3429038456

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Kurt Anglet Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung

Eine eucharistische Grundlegung des Christusdogmas

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Kurt Anglet

Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung

echter

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über 〈http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 Echter Verlag GmbH, Würzburg www.echter-verlag.de Umschlag: Peter Hellmund Druck und Bindung: CPI books – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-429-03845-8 (Print) 978-3-429-04823-5 (PDF) 978-3-429-06240-8 (e-Pub)

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Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Die dreifache Zeugung des Logos und Messias und der Kultus des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I.

Messianische Zeugung in der Zeit . . . . . . . . . . . 49

II.

Das Gebet der Urgemeinde um Parrhesia und das Kreuz Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

III. Die Auferstehung des Menschen Jesus Christus als messianische Zeugung . . . . . . . . . . 61 IV.

Auferstehung als Akt messianischer Inthronisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

V.

Messianische Herrschaft und Gottes Wirken in der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

VI.

Christi Tod als Ende des Todesäons – seine Auferstehung als Anfang des ewigen Lebens: Heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

VII. Der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit – nicht jenseits des Zeitgeschehens . . . . . . . . . . . . 91 VIII. Die eschatologische Zeit – die Vollendung der messianischen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 IX. Die Offenbarung des Zeugnisses Jesu durch den Heiligen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 X.

Die Deutung des Kommenden im Licht der Schrift: die messianische Vollendung der Zeit und die eschatologische Zeit der Vollendung – die Zeit messianischer Aktualität . . . . . . . . . . . . 115 5

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XI. Die Unumkehrbarkeit des Zeitgeschehens in der apokalyptischen Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 121 XII. Zeugnis als Martyrion und Martyria . . . . . . . . . 137 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

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Vorwort Wer zur Auferstehung Jesu Christi steht, sieht sich – nicht anders als zu den Zeiten der Apostel Petrus, Paulus und Johannes – einer breiten Phalanx ihrer Leugner, ja der Apologeten des Todes gegenüber, die sich der öffentlichen Aufmerksamkeit gewiss sein können. So sorgte die Veröffentlichung des vierten Bandes der sog. Schwarzen Hefte Martin Heideggers aus den Jahren 1942–1948 (weiterhin zitiert als GA 97), der gerade rechtzeitig vor dem Abschluss des vorliegenden Buches erschienen ist, wegen seiner antijüdischen Auslassungen für Schlagzeilen, zumal sie aus der Zeit nach Heideggers nationalsozialistischem Engagement herrühren. Doch nur die wenigsten stießen sich bislang an deren Ursache: an Heideggers Verherrlichung des Todes im Zuge seiner Ablehnung des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Gottes Jesu Christi, für den er auch hier nur abfällige Worte findet (vgl. GA 97, 409). Im Gegenteil, von hier aus erklärt sich – nicht zuletzt in jenen Jahren, zumal in Frankreich – die Faszination, die Heidegger auf zahlreiche Intellektuelle ausübte; selbst Theologen suchten seinem Seinsdenken etwas abzugewinnen, obwohl es nicht etwa unchristlich als vielmehr durch und durch antichristlich ist. Man muss nur einmal den im Jahre 2009 postum veröffentlichten Briefwechsel 1925–1975 zwischen Bultmann und Heidegger lesen, darin die peinlich devote Haltung des Marburger Theologen, der sich mit seiner sog. Entmythologisierung des Neuen Testaments hervortat, gegenüber dem Philosophen, der bereits bei seinem Vortrag vor der Marburger Theologenschaft im Juli 1924 unter dem Titel Der Begriff der Zeit (vgl. ebd. 6) seine Hörer wissen lässt: »Der Philosoph glaubt nicht. Fragt der Philosoph nach der Zeit, dann ist er entschlossen, die Zeit aus der Zeit zu verstehen bzw. 7

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aus dem ἀεί, was so aussieht wie Ewigkeit, was sich aber herausstellt als ein bloßes Derivat des Zeitlichseins.« Was darunter – bald darauf, in Sein und Zeit, wird Heidegger von Geschichtlichkeit reden – zu verstehen ist, erläutert er abschließend anhand der Aussage: »die Zeit ist das rechte principium individuationis. Das versteht man zumeist als nicht umkehrbare Sukzession, als Gegenwartszeit und Naturzeit. Inwiefern aber ist die Zeit als eigentliche das Individuationsprinzip, d. h. das, von wo aus das Dasein in der Jeweiligkeit ist? Im Zukünftigsein des Vorlaufens wird das Dasein, das im Durchschnittlichen ist, es selbst; im Vorlaufen wird es sichtbar als die einzige Diesmaligkeit seines einzigen Schicksals in der Möglichkeit seines einzigen Vorbei. Diese Individuation hat das Eigentümliche, daß sie es nicht zu einer Individuation kommen läßt im Sinne der phantastischen Herausbildung von Ausnahmeexistenzen; sie schlägt alles Sich-heraus-Nehmen nieder. Sie individuiert so, daß sie alle gleich macht. [!!] Im Zusammenhang mit dem Tode wird jeder in das Wie gebracht, das jeder gleichmäßig sein kann; in eine Möglichkeit, bezüglich der keiner ausgezeichnet ist; in das Wie, in dem alles Was zerstäubt« (ebd. 26 f.). Hier wird als »Möglichkeit« verkauft, was nur wenige Jahre zuvor für Millionen bitterste Wirklichkeit war, die mehr oder weniger freiwillig in den Tod liefen, so dass ihnen »im Zukünftigsein des Vorlaufens« jegliche Zukunft geraubt wurde. Darauf – auf der Nivellierung des Menschen durch den Tod – beruht Heideggers Zeitbegriff; perfide ist kein Ausdruck, wie jemand in diesem Zusammenhang von »Individuation« zu reden vermag. Allenfalls wurde diese Todeswirklichkeit keine zwanzig Jahre später durch eine andere überboten: durch die der Gaskammern und Krematorien, durch die hindurch Menschen überführt wurden »in das Wie, in dem alles Was zerstäubt« [vgl. hierzu den Schlussteil von Kap. III]. Erst von hier aus lässt sich die ganze 8

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Perfidie und Verkommenheit der Philosophie Heideggers ermessen, der in einem Brief vom 5. Oktober 1972 an den »Freund« Rudolf Bultmann bemerkt: »Vielleicht bleiben noch Wenige, die unter sich einig eine verborgene Überlieferung des Bleibenden retten und weitertragen.« Und hinzufügt: »Bestärkt in diesem Gedanken übernehmen wir unser Alt-sein« (Briefwechsel 1925– 1975, 247). Heidegger wie Bultmann, beide Zerstörer der philosophischen wie der theologischen Überlieferung auf je ihre Weise, brauchten sich gleichwohl um ihren Nachruhm nicht zu sorgen. So hat etwa noch vor wenigen Jahren George Steiner in Gedanken dichten (Berlin 2011) Heidegger als dem Sprachdenker ein Denkmal gesetzt; immerhin gilt Steiner – als Kind jüdischer Eltern 1929 in Paris geboren, später in Genf und Cambridge lehrend, ein Kosmopolit durch und durch – als einer der führenden zeitgenössischen Literaturwissenschaftler und Komparatisten, zudem mit theologischem Sachverstand, wie sein Buch Von realer Gegenwart (München 1990) beweist. Heidegger wäre in der Tat ein einsamer Denker geblieben, zu dem er sich schon zu Lebzeiten gern stilisierte: ein Denker »Für die Wenigen – Für die Seltenen« bzw. für »Die Zukünftigen«, an die sich seine Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [weiterhin zitiert als GA 65] richten (vgl. ebd. Nr. 5 sowie Nr. 248); er wäre es geblieben, wenn nicht sein Werk von Anfang an durch und durch den Geist dieses unseres Zeitalters atmete, dem »der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« ist (vgl. ebd. 284). Es ist das antichristliche Zeugnis schlechthin, ein Widerspiel gegen das Zeugnis des Lebens (vgl. 1 Joh 5,11; Joh 5,26), gegen das Zeugnis der Wahrheit (vgl. Joh 18,37). Es ist ein Denken, das keine Wahrheit kennt, sondern »nur sieht und faßt, was ist, um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet als ein Wesentliches, in das Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund 9

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zu bringen« (vgl. GA 65, 244 f.). Nichts anderes ist das Ziel von Heideggers Seinsdenken und Seinsgeschichte, mag die Geschichte schließlich auch einen ganz anderen Lauf genommen haben als in seinem Denken; ja, auch ohne dessen Hilfe geschafft haben, das in ihr herrschende Unwesen in die Tat umzusetzen. Obgleich Heidegger unter dem Eindruck des verlorengegangenen Zweiten Weltkriegs gar »die Eschatologie des Seyns« verfasste (vgl. GA 97, 335, 391) und aus seiner zum »Ereignis« aufgeblähten geschichtlichen Selbstmanifestation eingetreten ist »in den Brauch«: »nur das gehörende Hören in die Stille des Brauchs vermag horchsam zu gehorchen« (vgl. ebd. 398) – so hat es nichts von seinem pseudogöttlichen Wesen bzw. Unwesen eingebüßt. »Das befehlende Wesen des Denkens, das nur aus dem Seyn erfahrbar wird, insofern dieses sich als das Ereignis des Brauchs gelichtet hat, setzt uns erst in den Stand, das zu bedenken, was dem vorstellenden Denken zugänglich wurde als das vorherige Vernehmen der Seiendheit des Seienden« (ebd. 399). Über das Seiende hinaus öffnet es das Auge bzw. das Ohr für das schlechthin Unvorstellbare – für die Ewigkeit des Todes, für die absolute Todesverfallenheit menschlichen Daseins. Das ist die frohe Botschaft des Todesäons, die Heidegger für alle bereithält, die bereitwillig dem Kultus des Todes huldigen, der doch so befreiend für alle wirken muss, die die Fesseln des Gottesgehorsams von sich werfen, um »horchsam zu gehorchen« – den Einflüsterungen des Todes. Denn bei allen Metamorphosen, die Heideggers Philosophie kennt, ist er sich in einem treu geblieben: im Kultus des Todes – »der Tod als das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns«. Obschon selbst das »Seyn« seit dem vierten Band der Schwarzen Hefte kontaminiert erscheint durch die Seinsverlassenheit – kaum zufällig erscheint das Wort »Seyn« meist durchstrichen bzw. durchkreuzt –, so 10

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verschafft dem Verzweifelten Trost, dass die verhasste Welt der Technik, des Machens, der Machenschaften nicht das letzte Worte behält, sondern die Stille des Todes. Gleich einem philosophischen Brechkübel umfasst jene Welt alles, was dem Seinsdenken zuwider ist, letzthin dem Seienden Verhaftete: vom biblischen Schöpfergott über die »Judenschaft«, die kirchlichen Dogmen bis hin zum Amerikanismus, der mit dem Sieg der Alliierten nun auch in Europa Einzug hält. Dabei ist es Heideggers Denken selbst, sein Kultus des Todes, der jener Welt näher steht, als er selbst zuzugestehen geneigt ist. Einer, dem jener Kultus nicht unvertraut war, hat das ausgesprochen: der Philosoph Walter Benjamin, der noch im zweiten Abschnitt seines Theologischpolitischen Fragments aus der Zeit 1920/21 schrieb, messianisch sei »die Natur aus ihrer ewigen und totalen Vergängnis« (vgl. GS II.1, 204), um später – im Ursprung des deutschen Trauerspiels – über »das Wesen melancholischer Versenkung« zu vermerken, »daß ihre letzten Gegenstände, in denen des Verworfnen sie am völligsten sich zu versichern glaubt, in Allegorien umschlagen, daß sie das Nichts, in dem sie sich darstellen, erfüllen und verleugnen, so wie die Intention zuletzt im Anblick der Gebeine nicht treu verharrt, sondern zur Auferstehung treulos überspringt« (vgl. GS I.1, 406). Gleichsam als theologischer Grenzgänger hat Benjamin in seinem Fragment Kapitalismus als Religion aus dem Jahre 1921 in der Welt des Kapitalismus einen Kult des Todes gewahrt, bevor Heidegger diesen Kult in eine Ontologie ummünzen sollte. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich Benjamin noch kurz zuvor gegenüber Gershom Scholem höchst abschätzig über Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorienund Bedeutungslehre des Duns Scotus äußerte, da er seinerseits eine Habilitationsarbeit zum Problemkreis Wort und Begriff bzw. Sprache und Logos im Hinblick auf die 11

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Scholastik zu verfassen beabsichtigte (vgl. hierzu GS I.3, 868 ff.). Dazu sollte es nicht kommen, wie auch jenes Fragment unveröffentlicht blieb: ein knapper, jedoch wahrhaft visionärer Text, der seine volle Bestätigung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später erfahren sollte. »Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens«, heißt es da, »findet sich großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen ›Sprung‹ nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in letzter Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung im Sinne des ›non facit saltum‹ unvereinbar. Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch. Diese Spannung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt〈,〉 hat Nietzsche pr〈ä〉judiziert. Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus« (GS VI, 101). Im Abschnitt zuvor bringt Benjamin auch Freud mit jenem Kult in Verbindung: »Die Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterherrschaft von diesem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten verzinst.« Es versteht sich, dass Benjamin, am Anfang einer hoffnungsvollen akademischen Karriere stehend, vor einer Veröffentlichung seiner Gedanken zurückschreckte; hatte er sich doch buchstäblich zwischen alle Stühle gesetzt, wobei der vierte Stuhl, den Heidegger einige Jahre später, mit seinem großen Wurf von Sein und Zeit, einnehmen sollte, damals noch unbesetzt war. Denn nicht um eine so12

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ziologische Bestandsaufnahme handelt es sich bei seiner Deutung des Kapitalismus als Religion; ebenso wenig um eine sozialphilosophische Diagnose im Sinne der späteren Frankfurter Schule bzw. Kritischen Theorie als vielmehr um eine theologische Deutung. »Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird das jedoch überblickt werden« (ebd. 100). Heute – nahezu einhundert Jahre später – können wir es überblicken, wenngleich Benjamin keine maßlose Universalpolemik zu fürchten hätte; er dürfte eher damit rechnen, totgeschwiegen zu werden, weil er den wunden Punkt einer Gesellschaft berührt, die sich als so frei und offen empfindet, dass sie keiner übergreifenden metaphysischen, gar göttlichen Ordnung bedarf, da sie mit der Akkumulation menschlicher Schuld so gut leben zu können glaubt wie mit der Anhäufung der Schuldenberge in den heutigen Staats- und Privathaushalten. »Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen« (ebd. 100), vermerkt Benjamin. »Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist« (ebd. 101). Nichts anderes aber vollzieht Heideggers Seinsdenken, mochten ihm ökonomische Überlegungen, gar die Welt des Kapitalismus noch so fern liegen. Doch die Welt zuvor, bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein, keineswegs allein eine christlich geprägte, war ohne eine be13

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stimmte kosmische Ordnung gar nicht denkbar, da es ohne sie kein zivilisiertes, geregeltes Zusammenleben von Menschen geben konnte; zu bedrohlich war der Rückfall in Tyrannei oder in ein barbarisches Hordenwesen. Genau diese Ordnung aber wird von Heidegger in Abrede gestellt, und zwar nicht aus irgendwelchen anarchistischen Instinkten heraus als vielmehr unter Berufung auf einen Ursprung vor aller metaphysischen Ordnung unter dem Namen des »Seyns«, der geradezu auf eine Gegenwelt, wenn nicht Vorwelt gegenüber jener Welt der Technik zu weisen scheint, deren Verachtung allein deshalb absurd wirkt, als ob der Mensch zuvor, in einem vortechnologischen Zeitalter, in paradiesischen Zuständen gelebt hätte! Doch um ein paradiesisches Leben war es Heidegger niemals zu tun, wie vor ihm der Nietzsche von Jenseits von Gut und Böse an alles andere als ein Leben in Unschuld dachte. Mochte es Heidegger auch in die Welt der Vorsokratiker ziehen, wie Nietzsche in das tragische Zeitalter der Griechen – die Attitüde des Unzeitgemäßen vermag hier wie dort nicht darüber hinwegzutäuschen, dass zumal Heidegger in seiner Lossage vom Gott der Offenbarung jenen Typus der kapitalistischen Religion, den Typus universaler Verschuldung, geradezu in Reinkultur verkörpert: Es handelt sich nicht etwa um einen Typus der Vorzeit, sondern der Endzeit – der Apokalypse: um den Menschen der Gesetzwidrigkeit, der anomía (vgl. 2 Thess 2,3; 1 Tim 4,1; 1 Joh 2,18; 4,3). »Laßt Welt nur welten, sie bedarf der ›Ordnung‹ nicht. Aber ›Welt-Ordnen‹ – d. h. das Wirken verwirkt alles – verwirkt das Denken des Seyns und verwirkt sogar die Vergessenheit. Sie ordnet die ›Welt‹, bevor sie vermögen, Welt welten zu lassen« (GA 97, 89 f.). Was hier anscheinend harmlos daherkommt, bildet den Gipfel der Heuchelei. War schon Nietzsche heuchlerisch, insofern er den Übermenschen propagierte und den amor fati, die Liebe zum Schicksal, predigte, 14

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selbst aber den »Heutigen« die Augen auszustechen trachtete, weil seine Zeitgenossen dem großen Philosophen die gebotene Ehrerbietung versagten [man denke an sein Lamento über seine »Hundestall-Existenz« (vgl. KGW VIII.1, 202)], so reicht nichts an die Heuchelei Heideggers heran, wenn man bedenkt, dass jene Zeilen in einer Zeit geschrieben wurden, als Millionen unsägliches Leid erlitten: »Laßt Welt nur welten, sie bedarf der ›Ordnung‹ nicht.« Sie bedarf fürwahr der Ordnung nicht, wenn kein anderes Recht gilt als das des Gewalttäters; Gottes Gesetz wie die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, von Gerechtigkeit gar nicht zu reden. Und nicht nur dass der bloße Gedanke an Recht und Gerechtigkeit dem »Denken des Seyns« abträglich ist, das sich mal am Unwesen der Geschichte ergötzt, mal in der Stille des Brauchs zu sich findet – es »verwirkt sogar die Vergessenheit«, die den Toten winkt und alles Leid begräbt. »Seyn« bedeutet letzthin nicht mehr als eine Umschreibung seiner selbst: seines Selbstmitleids und seiner Selbstgerechtigkeit, wie sie Heidegger im Zuge seiner Amtsenthebung ungeniert zur Schau stellt – als »Verrat am Denken« (vgl. ebd. 61 f.; 82 ff.); ja, er entblödet sich nicht, sich angesichts seines vormaligen NS-Engagements mit Churchill zu vergleichen, der über Jahre hinweg mit Stalin paktiert habe – als hätte der britische Premier nach dem Scheitern der britischen Appeasement-Politik und der Niederlage Frankreichs überhaupt eine Wahl gehabt, sich die Kriegspartner auszusuchen … Weltfremdheit und Weltverschriebenheit bilden offensichtlich keinen Gegensatz, wie Lächerlichkeit und Vermessenheit zusammengehören. Der Mensch der Vermessenheit aber deckt sich mit dem Menschentypus der anomía, der Gesetzwidrigkeit, dessen Erscheinung nach dem Apostel Paulus dem Tag des Herrn vorausgeht. Daher seine Mahnung an die Thessalonicher: »Lasst euch durch niemand und auf keine Weise täuschen! 15

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Denn zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzwidrigkeit erscheinen, der Sohn des Verderbens, der Widersacher, der sich über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, so sehr erhebt, dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt« (2 Thess 2,3 f.). Nun hat sich Heidegger nicht gleich in den Tempel Gottes gesetzt, obschon er in den Beiträge(n) zur Philosophie sich seinen »letzten Gott« geschaffen hat. Gleichwohl scheute er auch in der Stunde des Abfalls nicht den Gedanken an eine Ehrung im »Heiligtum«: »Der Antichrist aus der Verzweiflung des Denkens, das, wahrhaft denkend, gegen das Denken zu denken vermag, ist ›christlicher‹, wenn Christlichkeit schon sein konnte, als die Meute der klerikalen Theologen, die nicht einmal wissen, daß sogar noch das Gerüst ihrer abgestandenen Theologie auf einer erborgten und fremden, nämlich der platonisch-aristotelischen Philosophie beruht, die zum Überfluß durch Thomas bereits in ihrer römischen Umdeutung angeeignet wurde. Was wird dann wohl ›eine Akademie des heiligen Thomas‹ in Rom über ein Denken ausmachen können, das einmal wagte, das Seyn selber erst als Denkwürdigkeit zu zeigen?« (GA 97, 193). Kaum ein Satz, der nicht die Sprache der Anmaßung spricht, als wäre nicht längst in der Dogmengeschichte über jenes »Gerüst« der platonisch-aristotelischen Philosophie geforscht worden. Denn Heidegger denkt wahrhaft »gegen das Denken«, nämlich gegen das Vernunftdenken der griechischen Philosophie, von dem her die meisten Kirchenväter her das Wort der biblischen Offenbarung zu deuten suchten. Denn bei der biblischen Überlieferung handelt es sich in erster Linie um eine Bildersprache, reich an Symbolen, Allegorien und Typologien – allein Gott erscheint ohne Bild, da alle menschliche Vorstellung transzendierend. Dagegen basiert das Denken der griechischen Philosophie auf dem Begriff, auf dem Versuch einer umfassen16

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den Weltdeutung. Und hier ergeben sich bei der Rezeption der Schriften des Alten wie des Neuen Testaments grundlegende Probleme: angefangen bei der Schöpfungstheologie, der creatio ex nihilo, der Schöpfung aus dem Nichts, da das griechische Denken von einem ewigen Kreislauf ausgeht; über die Christologie, da das griechische Denken keinen Begriff für die Gleichzeitigkeit der menschlichen und der göttlichen Natur in Christus kennt, so dass selbst bei Leo dem Großen, dem Schirmherr über das Konzil von Chalcedon (451), die Verbindung der beiden Naturen in Christus ihrer Struktur nach wie die Doppelhelix der menschlichen Erbanlagen wirkt, obwohl nach Joh 1,14 das Wort, der göttliche Logos Fleisch geworden ist; schließlich die Eschatologie, die Rede vom Ende der Zeit, die aufgrund des neuplatonischen Dualismus von Zeit und Ewigkeit selbst für einen genau differenzierenden Denker wie Augustinus nur schwer begrifflich zu fassen ist, insofern kairos, der Begriff der messianischen bzw. eschatologischen Zeit, nicht von chronos, dem innergeschichtlichen Zeitgeschehen, unterschieden werden kann. Von all diesen Problemen nimmt Heidegger keinerlei Notiz, zumal sein Zeitbegriff über die bloße »Geschichtlichkeit« des chronos nicht hinausführt, im Grunde auch keine Eschatologie kennt, da seine »Eschatologie des Seyns« dem Zustand der sog. Seinsverlassenheit entspricht. Daher der Mangel an Symbolkraft seiner Sprache, den Heidegger dadurch zu kompensieren trachtet, dass er die einzelnen Worte wie eine Zitrone auspresst, um ihnen eine Bedeutung abzugewinnen. Während noch die Beiträge zur Philosophie auf den Begriffscharakter der philosophischen Sprache verweisen – und in der Tat wirkt die Argumentation in seinen früheren Arbeiten trotz eines spezifischen Jargons und einiger Wortungetüme durchaus luzide –, tritt mit dem vierten Band der Schwarzen Hefte eine Art babylonische Sprachverwirrung ein: Wortbildungen, de17

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ren Sinn kaum noch nachvollziehbar ist; eher Beschwörungen von Worten, die dem offenkundig Sinnlosen Sinn verleihen sollen; kein philosophisches Denken als vielmehr eine sich philosophisch gerierende Esoterik, die Heideggers Seinsdenken als das enthüllt, was es von Anbeginn war: als Kult einer Pseudoreligion. Mag Heidegger auch, wie abschließend zu zeigen sein wird, den Antichristen mit der »Judenschaft« identifizieren, so manifestiert sich in keinem anderen Denken – selbst in Nietzsches Konzeption des Übermenschen nicht – so treffend das antichristliche Unwesen der Selbstzerstörung. »Der Anti-christ muß wie jedes Anti- aus dem selben Wesensgrund stammen wie das, wogegen es antiist – also wie ›der Christ‹. Dieser stammt aus der Judenschaft. Diese ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung« (GA 97,20). Doch Heidegger täuscht sich, nicht allein hier, in den Anmerkungen I seiner Schwarzen Hefte 1942– 1948, also zu einer Zeit, als die Vernichtungsaktionen gegen das jüdische Volk auf Hochtouren anliefen. Denn nicht nur für die Zeit des heiligen Johannes gilt, dass die Antichristen aus unserer Mitte gekommen sind (vgl. 1 Joh 2,19), mehr noch für unser Zeitalter, das den Massenmord auf seine Fahnen geschrieben hat; für das – mit Heideggers Worten – »der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« bedeutet (vgl. GA 65, 284). Allein aus diesem Grunde hat die Theologie zu Beginn des dritten Jahrtausends keinerlei Kompromiss mit dem Unwesen ihrer Zeit einzugehen, sondern es mit aller Entschiedenheit beim Namen zu nennen. Nur so gilt für sie die Verheißung, die im Buch der Offenbarung im Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia gerichtet ist: »Du hast dich an mein Gebot gehalten, standhaft zu bleiben; daher werde auch ich zu dir halten und dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die über die ganze 18

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Erde kommen soll, um die Bewohner der Erde auf die Probe zu stellen« (Offb 3,10). Mag sein, dass diese Stunde schon heute – seit gut einem Jahrhundert – angebrochen ist. Doch nicht weniger aktuell ist ein anderes Heute, das mit der Auferstehung Jesu Christi als Akt messianischer Zeugung seinen Anfang nimmt: »So verkünden wir euch das Evangelium: Gott hat die Verheißung, die an die Väter ergangen ist, an uns, ihren Kindern, erfüllt, wie es schon im zweiten Psalm heißt: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt« (Apg 13,32 f.).

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Die dreifache Zeugung des Logos und Messias und der Kultus des Todes »Mein Sohn bist du, heute habe Ich dich gezeugt« (Ps 2,7) – das Heute der Zeugung des Gesalbten ist seit Augustinus im Hinblick auf Christus als »immer«, als eine fortdauernde Gegenwart verstanden worden. Das Heute besitzt jedoch einen Zeitkern, ganz im Sinne der Weihnachtsbotschaft des Engels: »Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (Lk 2,11). Im Lichte seiner Geburt in der Zeit haben wir in früheren Abhandlungen die Zeugung Jesu aus Gottes Heiligem Geist gedeutet, wie schon Papst Leo der Große († 461) in der Geburt Jesu unsere Zeugung als neue Menschen erblickt hat, also den Ursprung unserer Wiedergeburt: »Wenn auch jeder einzelne der Berufenen seinen eigenen Platz in der Heilsordnung hat und alle Kinder der Kirche durch ihre Stelle im Ablauf der Zeiten unterschieden sind, so ist doch die Gesamtheit der Gläubigen, die aus der Taufe hervorgegangen ist, so wie sie mit Christus im Leiden gekreuzigt, in der Auferstehung erweckt und in der Himmelfahrt zur Rechten des Vaters erhöht wurde, auch zusammen mit Christus in dieser Geburt gezeugt worden« (Sermo de natale Domini 1,1: CSEL 138, 126). Doch nicht allein im Hinblick auf die leibliche Geburt Jesu Christi ist im Neuen Testament von Zeugung die Rede; im Hebräerbrief heißt es unter Verweis auf Ps 2,7 sowie Ps 110,4 zu seiner Inthronisation als Hoherpriester, der von Gott berufen werde und sich nicht selbst diese Würde verleihe: »So hat auch Christus sich nicht selbst die Würde eines Hohenpriesters verliehen, sondern Der, der zu ihm gesprochen hat: Mein Sohn bist du, / heute habe Ich dich gezeugt, wie Er auch an anderer Stelle sagt: Du bist Priester auf ewig / nach der Ordnung Melchisedeks« 21

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(Hebr 5,5 f.). Schon in der Einleitung zum Hebräerbrief wird Ps 2,7 mit Blick auf die Hoheit des Sohnes über die Engel ausgelegt, wobei sich diese Prädikation nach Hebr 8,1–6 auf seine himmlische Erhöhung als Hoherpriester als Mittler eines neuen Bundes bezieht: »Denn zu welchem Engel hat Er jemals gesagt: Mein Sohn bist du, / heute habe Ich dich gezeugt, und weiter: Ich will für ihn Vater sein, / und er wird für mich Sohn sein [2 Sam 7,14]?« (Hebr 1,5). Gleichwohl greift eine Interpretation der Zeugung Christi, die sich auf die Geburt Jesu oder auf seine Inthronisation als Hoherpriester beschränkt, zu kurz. Wie es nach einer Predigt zum Advent von Petrus von Blois († um 1204), Priester und Archidiakon von London, ein dreifaches Kommen des Messias gibt: »ein erstes im Fleisch, ein zweites in der Seele, ein drittes zum Gericht« (vgl. Sermo in adventu Domini 3: PL 207, 569) – so gibt es auch eine dreifache Zeugung Christi: eine vor aller Zeit aus Gott dem Vater, eine in der Fülle der Zeit durch den Heiligen Geist vor seiner Geburt aus der Jungfrau Maria, die durch seine Einsetzung als Hoherpriester besiegelt wird, und eine durch seine Auferweckung von den Toten, die seine messianische Herrschaft in der Zeit der Vollendung bzw. in der Vollendung der Zeit begründet. Von ihr spricht der Apostel Paulus, der während seiner ersten Missionsreise in der Synagoge von Antiochia an die dort versammelten Juden und Gottesfürchtigen folgende Worte richtet: »So verkünden wir euch das Evangelium: Gott hat die Verheißung, die an die Väter ergangen ist, an uns, ihren Kindern, erfüllt, indem Er Jesus auferweckt hat, wie es schon im zweiten Psalm heißt: Mein Sohn bist du, heute habe Ich dich gezeugt« (Apg 13,32 f.). Die Bestimmung der Auferstehung Jesu Christi als Zeugung besagt nicht weniger, als dass von ihr an seine messianische Herrschaft über die Todesmächte dieses Äons 22

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ihren Lauf nimmt. Es handelt sich dabei nicht etwa bloß um eine persönliche Interpretation des Apostels Paulus als vielmehr um – das Evangelium. Und zwar um die frohe Botschaft, dass Christus fortan als Herr über die Geschichte waltet, mag sie noch so blutig verlaufen, ja, wie er in seiner letzten öffentlichen Rede mit Blick auf seinen Tod befindet: »Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden« (Joh 12,31). So erscheint mit seiner Auferstehung die Geschichte im Lichte der »Offenbarung Jesu Christi« (vgl. Offb 1,1), wie der Anfang der sog. Johannesoffenbarung lautet. Diese Sichtweise der Geschichte nach Christus ist für das Neue Testament sowie für die Kirche in den ersten Jahrhunderten bestimmend gewesen: Ihr Blick richtet sich auf den kommenden Christus. Dass das Christentum jene Blickrichtung im Laufe der Zeit mehr und mehr einbüßte, dürfte eine, wenn nicht die Ursache für seinen Niedergang in der westlichen Welt darstellen. Zusehends hat man die Geschichte nicht so sehr als den Schauplatz des Kommens Christi im Zeichen der Offenbarung seiner messianischen Herrschaft gesehen denn als einen Freiraum profaner Mächte, bis diese im Zuge der neuzeitlichen Säkularisierung jegliche theologische Deutung außen vor ließen. Dabei kam ihnen entgegen, dass sich – von prophetischen Ausnahmen wie der heiligen Hildegard von Bingen im Mittelalter oder dem seligen Kardinal Newman im neunzehnten Jahrhundert einmal abgesehen – Theologie und kirchliches Leben gewissermaßen in den Binnenraum der Kirche und in die Innerlichkeit der Gläubigen zurückzogen. Für die frühen Christen hingegen ist die Geschichte Ort messianischer bzw. eschatologischer Öffentlichkeit – für das Zeugnis Jesu: »Das Zeugnis Jesu ist der Geist prophetischer Rede« (Offb 19,10b). Wenn aber, wie in einer historistischen Bibelauslegung, die 23

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Geschichte zum Ort des Gewesenen wird, dann entzieht sich mit dem pneumatischen Fundament jenes Zeugnisses zugleich die Einsicht in die prophetische Dimension der Offenbarung, letzthin in das Kommen Christi, von dem jener Geist Zeugnis gibt – und nicht irgendein Johannes oder x-beliebiger anonymer Verfasser; zumal für die neutestamentlichen Schriften gilt, dass ihre Verfasser Zeugen sind, wie am Schluss des Johannesevangeliums der Evangelist betont: »Dieser Jünger ist es, der all das bezeugt und der es aufgeschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist« (Joh 21,24). Darunter ist keine historische Dokumentation zu verstehen, vielmehr gilt, was der Apostel Petrus anlässlich der Wahl des Matthias zum Apostel konstatiert: »Einer von diesen muss nun zusammen mit uns Zeuge seiner Auferstehung sein« (vgl. Apg 1,22). Weniger ausschlaggebend erscheint, wie Petrus zuvor ausführt, dass er von Anbeginn, von der Taufe Jesu im Jordan an zu seinen Weggenossen gehörte; dazu zählten schließlich auch Judas sowie die zahlreichen Jünger, die Jesus nach seiner eucharistischen Brotrede den Rücken kehrten (vgl. Joh 6,60–71). Zumindest besitzt Gewicht, ein Augenzeuge seiner Verklärung gewesen zu sein: »Denn wir sind nicht irgendwelchen Mythen gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe. Er hat von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit empfangen; denn er hörte die Stimme der erhabenen Herrlichkeit, die zu ihm sprach: Das ist mein geliebter Sohn, an dem Ich Gefallen gefunden habe. Diese Stimme, die vom Himmel kam, haben wir gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren« (2 Petr 1,17 f.). Doch dabei lässt es Petrus nicht bewenden, um die eigene apostolische Autorität zu untermauern. Es handelte sich um eine reine Selbstbezeugung, fände über die eigene Augenzeugenschaft hinaus das Gesehene nicht seine 24

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Bestätigung durch »das Wort der Propheten«, in deren Licht die apostolische Überlieferung für den fernen Adressaten wie auch das prophetische Wort für den Apostel selbst an Evidenz gewinnt: »Dadurch ist das Wort der Propheten für uns noch sicherer geworden, und ihr tut gut daran, es zu beachten; denn es ist ein Licht, das an einem finstern Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in eurem Herzen. Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet« (2 Petr 1,19–21). Obwohl wir noch einmal auf diese Passage in der Auseinandersetzung mit Bultmanns Kerygma-Begriff (in Kap. X bzw. XI) zurückkommen, sei sie bereits hier angeführt, insofern sie verdeutlicht, dass sich ein genuines apostolisches Schriftverständnis aufgrund seiner pneumatischen bzw. prophetischen Begründung essentiell von der Selbstlegitimation eines Sektierers bzw. eines falschen Propheten unterscheidet, der sich auf sein Erlebnis oder seine Privatoffenbarung beruft. M. a. W.: Petrus, Johannes und Jakobus könnten hundertmal auf dem Berg der Verklärung gewesen sein – wäre Christus nicht auferstanden und wäre seine Auferstehung nicht durch das Wort der Propheten bezeugt, so wäre es nicht glaubhafter als irgendein beliebiger Augenzeugenbericht. Denn seine theologische Evidenz schöpft das apostolische Wort nicht daraus, wie es gewesen ist, sondern aus dem Kommenden. »Und der Engel sagte zu mir: Diese Worte sind zuverlässig und wahr. Gott, der Herr über den Geist der Propheten, hat seinen Engel gesandt, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss« (Offb 22,6). Darin allein liegt der Maßstab der Offenbarung Jesu Christi – nicht, was wir damit verbinden oder herauslesen und dabei überlesen bzw. übersehen. Ihr Ur25

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sprung ist »Gott, der Herr über den Geist der Propheten«, nicht der Geist irgendeines Interpreten, mag er sich noch so inspiriert fühlen, um sich mit dem »Geist der Propheten« zu verwechseln. Ganz in diesem Sinne wendet sich der Apostel Paulus in seinem Briefeingang an die Römer: »Paulus, Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, auserwählt, das Evangelium Gottes zu verkündigen, das Er im Voraus durch seine Propheten [!] verheißen hat in den heiligen Schriften: das Evangelium von Seinem Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als der Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als der Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten, das Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn« (Röm 1,1–4). Das ist das Evangelium von Jesus, dem Christus, dem Gesalbten, dessen messianische bzw. eschatologische Herrschaft ihren Anfang in seiner Auferstehung nimmt. Vorher hat Jesus zwar »mit Vollmacht« geredet, wie der Evangelist Matthäus die Wirkung der Bergpredigt beschreibt: »Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte wie einer, der 〈göttliche〉 Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten« (Mt 7,28 f.). Deutlicher noch als das deutsche Wort »Vollmacht«, die ihrem Inhaber ja auch entzogen werden kann, weist das griechische exousía [wörtlich: aus dem Wesen] auf ihren göttlichen Ursprung: Insofern Christus wesensgleich mit dem Vater ist, ist sein Wort kein Menschenwort, ja, es geht nicht einmal – wie das prophetische Wort – von Gott aus, sondern es ist gleich ihm selbst das Wort, der Logos Gottes. Daher seine messianische Bekundung: »Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil Du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es Dir gefallen. Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand 26

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kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will« (Mt 11,25–27; par Lk 10,21 f.). Von daher versteht es sich auch, weshalb er sich weigert, den Hohenpriestern und Schriftgelehrten auf ihre Frage eine Antwort zu geben, mit welcher Vollmacht er das Volk lehrte und das Evangelium verkündete (vgl. Mt 21,23–27; par Mk 11,27–33, Lk 20,1–8). Die Antwort erteilt er dem Hohenpriester Kajaphas bei seinem Verhör vor dem Hohen Rat. »Jesus aber schwieg. Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes? Jesus antwortete: Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mt 26,63 f.; par Mk 14,62). Markiert auch seine Erhöhung am Kreuz gewissermaßen das Bindeglied zwischen seinem ersten und seinem zweiten Kommen Christi, wie wir früher ausführten [vgl. Vom Kommen des Reiches Gottes; Auferstehung und Vollendung], so bedeutet gleichwohl seine Auferstehung seine Zeugung zum Leben »in alle Ewigkeit« (vgl. Offb 1,18), den Anfang seiner universalen messianischen Herrschaft. Seit der Auferstehung von den Toten ist er »dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt als der Sohn Gottes in Macht«, als der Herrscher des neuen Äons. Nicht eine neue Ära führt Christus herauf, wie man oft lesen kann, gar eine Ära des Friedens. Sondern einen neuen Äon, in dem sich die Zeit vollendet; in dem die messianische Zeit der Erfüllung (vgl. Gal 4,4) in die eschatologische Zeit der Vollendung übergeht. Dem wird keine historische Auffassung von Auferstehung und Vollendung gerecht, ja, vermag ihr nicht gerecht zu werden, weil das Werk der Erlösung und der Vollendung eine Prärogative des Messias darstellt, wie es das gesamte Neue Testament bezeugt. Doch bis in die jüngste 27

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Zeit wird von einer historistisch ausgerichteten christlichen Bibelinterpretation – und nicht allein von ihr – beharrlich ignoriert, was der jüdisch-säkulare Philosoph Walter Benjamin zu Beginn seines Theologisch-politischen Fragments auf den Punkt gebracht hat: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende. Darum kann die Ordnung des Profanen nicht am Gedanken des Gottesreiches aufgebaut werden, darum hat die Theokratie keinen politischen, sondern allein einen religiösen Sinn. Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben ist das größte Verdienst von Blochs ›Geist der Utopie‹« (GS II.1, 203). Andernfalls verwechselte man das Christentum mit dem Islam oder dem Judentum, insoweit darin Volk und Religion eine Einheit bilden. So bleibt auch jegliche historistische Schriftauslegung, mag sie sich noch so fortschrittlich gerieren, ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, das nicht über die epochale Größe des Vergangenen hinausfindet, ob man ihr nun melancholisch nachtrauert oder sie aber in der eigenen Geschichte realisiert sieht, von deren Höhe man auf die christliche Überlieferung als einem Aspekt unserer Bildung herabblickt. Keiner hat besser seine historistisch gesonnenen Zeitgenossen durchschaut als Friedrich Nietzsche, der sie in dem Abschnitt »Vom Lande der Bildung« im Zarathustra folgendermaßen charakterisiert: »Wahrlich, ihr könnt keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch – erkennen« (KGW VI.1,149). Denn das Inkognito, das zumal 28

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hinter etlichen neutestamentlichen Schriften stecken soll, deren apostolische Urheberschaft man in Frage stellt, ist in Wahrheit das theologische Inkognito ihrer zeitgenössischen Interpreten, mögen diese auch in der Fachwelt einen großen Namen haben. Gleichwohl hat Nietzsche – selbst alles andere als ein Theologe, doch mit klarem Blick für geschichtliche Zusammenhänge – ihr Inkognito wie ihre Methodik aufgedeckt, wenn er anschließend vermerkt: »Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern!« Hinter ihrer historischen Semiotik lauert nichts weiter als das jeweilige zeitgeschichtliche ideologische Kolorit, von der wilhelminischen Ära bis hin zur Postmoderne, mit dem das prophetische Element der Überlieferung »überpinselt« wird. Dabei ist in der Offenbarung Schwarz auf Weiß im Anschluss an das oben zitierte Wort zu lesen: »Siehe, ich komme bald. Selig, wer an den prophetischen Worten dieses Buches festhält« (Offb 22,7). Ob sich nun diese Ankündigung nach Offb 1,4.8 auf das Kommen Gottes oder – wohl wahrscheinlicher – auf das Kommen Christi (vgl. Offb 1,7) bezieht, sei dahingestellt. Nicht aber die Aktualität seines Kommens: das Heute, das von der Auferstehung Christi seinen Ausgang nimmt, ja, vor dem viele Reiche und Ideologien, die ihre Zeit zu beherrschen schienen, ihre Aktualität einbüßten, längst Geschichte im pejorativen Sinn des Wortes, zur bloßen Vergangenheit geworden sind. Anders der Leser »dieses Buches«: Er wird nicht seliggepriesen, weil er es liest; das kann schließlich so gut wie jeder. Vielmehr weil er »an den prophetischen Worten dieses Buches festhält«: Sie, diese seine prophetischen Worte, bezeugen seine Aktualität bis auf den heutigen Tag. Nicht zuletzt unser Zeitalter bestätigt mehr denn je, was Psalm 2 (1–3) vorab feststellt: »Warum toben die Völker, / Warum machen die Nationen ver29

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gebliche Pläne? / Die Könige der Erde stehen auf, / die Großen haben sich verbündet / gegen den Herrn und seinen Gesalbten. / ›Lasst uns ihre Fesseln zerreißen / und von uns werfen ihre Stricke!‹« Die Erhebung »gegen den Herrn und seinen Gesalbten« geht einher mit der Entfesselung der Macht, mit dem Kultus der historischen Größe; offenbar in den beiden Weltkriegen, die zunächst zur Vernichtung der alten Ordnung führten, um gezielt antichristlichen Ideologien Raum zu schaffen, die eine unsägliche Zahl von Menschenleben forderten. Doch menschliche Schuld und ökonomische Verschuldung sind, worauf das eingangs zitierte Fragment Walter Benjamins Kapitalismus als Religion verweist, nicht voneinander zu trennen. Nicht nur wäre es etwa zu der verheerenden Inflation der zwanziger Jahre ohne den Vertrag von Versailles gekommen, der den Geist der Rache statt der Völkerversöhnung atmete. Denn dass es sich bei dem Prozess der Verschuldung nicht allein um menschliche Fehlkalkulationen handelt, als vielmehr durch ihn die Substanz unserer Zivilisation betroffen ist, hat Wilhelm Röpke, einer der Protagonisten der sozialen Marktwirtschaft, bereits mitten im Zweiten Weltkrieg in seinem Buch Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart (Erstauflage 1942) ausgesprochen, in dessen Einleitung (S. 9) er vermerkt: »Früher oder später mußte aber jeder von dem Gefühl ergriffen werden, auf schwankendem Grunde zu stehen, und damit für die Frage reif zu werden, die die von der Erschütterung unserer Zivilisation innerlich oder äußerlich Betroffenen schon seit langem Tag und Nacht beschäftigte: Welcher unheimliche Krankheitsprozeß hat unsere Welt ergriffen, und was ist eigentlich in jenen Ländern vor sich gegangen, die ihm bereits zum Opfer gefallen sind?« Eine Antwort auf diese Frage geben nicht die ökonomischen Verwerfungen der Zwischenkriegszeit, die Röpke bestens bekannt waren; auch ist sie nicht damit ab30

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getan, dass man auf das sog. Wirtschaftswunder im westlichen Nachkriegsdeutschland verweist. Röpke selbst gibt einen Hinweis, wenn er eine Seite später konstatiert: »Wir erleben die Verzweiflung dessen, der sich verirrt fühlt, und wichtiger fast noch als das Brot wird uns das Bedürfnis nach Orientierung.« Die Desorientierung des modernen Menschen erweist sich bei näherer Betrachtung als alles andere als ein individuelles Phänomen, den Einzelmenschen in einer zusehends undurchschaubareren und komplexen Welt betreffend, obwohl sie den Einzelnen, ja sein Intimleben betreffen; nicht umsonst gehört nach Benjamin die Freud’sche Theorie »auch zur Priesterherrschaft von diesem Kult« universaler Verschuldung. Nicht nur hat die Entfesselung des Sexus seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als Akt der Selbstbefreiung von den Banden von Ehe und Familie propagiert, maßgeblich zu deren Erosion in der westlichen Gesellschaft und damit zur vielbeschworenen demographischen Katastrophe geführt. Weit weniger in den Blick gerät die Vereinzelung des Menschen, nach Hildegard von Bingen ein Symptom der Endzeit, wenngleich sich ihre Auswirkungen nicht erst in unserer Zeit, sondern bereits im neunzehnten Jahrhundert abzeichnen: »Was man doch allein ist!« – schließt ein Brief Nietzsches aus Nizza an seine Mutter vom 30. Januar 1887 (KGB III.5,17). Dutzende weiterer Stellen aus Nietzsches Briefwechsel der achtziger Jahre ließen sich anführen, während er noch vor seiner Frühpensionierung dem Freund Reinhart von Seydlitz aus »voller akademischer Sommer-Thätigkeit« aus Basel am 13. Mai 1878 schreibt: »Können Sie mir jenes Gefühl – das unvergleichbare – nachfühlen, zum ersten Male öffentlich ein Ideal und sein Ziel bekannt zu haben, das Keiner sonst hat, das fast Niemand verstehen kann und dem nun ein armes Menschenleben genügen soll – so werden Sie mir auch nachfühlen, warum ich in diesem 31

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Jahre, sobald mein Beruf mich frei giebt, Einsamkeit brauche. Keinen Freund – Niemanden will ich dann, es ist so nöthig. Nehmen Sie dies, bitte ohne Erörterung hin –« (KGB II.5, 326). Um keine zehn Jahre später in einem Brief (vom 2. Dez. 1887) an Georg Brandes einzuräumen: »Aber eine Philosophie wie die meine, ist wie ein Grab – man lebt nicht mehr mit« (KGB III.5, 207). Denn wo die Einsamkeit nicht von Gott ausgefüllt ist, gleich der eines Eremiten, dem – nach einem Wort der heiligen Theresia von Avila – Gott allein genügt, dort brennt sie wie das Feuer der Hölle, das nicht erlischt. Noch Jahre vor seiner Umnachtung, als Nietzsche gegen Religion und Moral, gegen Schuld und Gewissen seine wilden Attacken reiten sollte, bekennt er dem Basler Freund Franz Overbeck in einem Brief vom 10. Februar 1883 aus Rapallo: »Alles, worauf ich in meinen Briefen an Dich hingedeutet habe, ist nur das Nebenbei – ich habe eine solche vielfache Last qualvoller und gräßlicher Erinnerungen zu tragen! So ist es mir zum Beispiel noch nicht Eine Stunde aus dem Gedächtnisse weggeblieben, daß mich meine Mutter eine Schande für das Grab meines Vaters genannt hat« (KGB III.1, 326). Mehr als eine ganze Ansammlung moraltheologischer Traktate, die vom Dasein menschlicher Schuld zu überzeugen suchen, zeugt Nietzsches Eingeständnis von den Qualen menschlicher Vereinzelung infolge der Auflösung aller moralischen, metaphysischen und religiösen Bindungen: Nicht etwa sind nach Sartres vielzitiertem Wort die Anderen die Hölle; es ist vielmehr die Ausweglosigkeit des Einzelnen, der alle Stricke »des Herrn und seines Gesalbten« zerrissen hat. Ihm bleibt nicht viel mehr, als dem Aufruf Zarathustras im Nachtwandler-Lied zu folgen: »Komm! Kommt! Kommt! Es ist die Stunde: lasst uns in die Nacht wandeln!« (KGW VI.1, 393). Jenem Aufruf sind viele mit nachtwandlerischer oder – um mit Christopher Clark zu reden – mit schlafwandlerischer 32

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Sicherheit gefolgt, um nicht die Nacht eines ewigen Todes zu verfehlen, des Todes ohne Tod (Augustinus), des letzten Trostes der Trostlosen. Denn die Vereinzelung des Menschen stellt ja nicht allein einen soziologischen, sondern weit mehr einen metaphysischen, ja theologischen Tatbestand dar: Wenn sich der Mensch nicht länger als Abbild Gottes begreifen kann, dann verliert er das, worin seine Würde gründet: seine Einzigartigkeit. Er ist einer von Millionen, ja Milliarden – nichts mehr hat der Mensch Nietzsches wie Heideggers zu fürchten, als zu einer austauschbaren Größe zu werden. Daher das Pathos der Selbstübersteigerung, des Willens zum Übermenschen; oder wie es später bei Heidegger heißt: »Der Wille als das Sichübersichhinaussetzen steht in einem Übersichhinaussein« (GA 65, 475). In Wahrheit aber ist der Mensch, der sich über sich hinaus wähnt, an sich selbst gefesselt, gewissermaßen sein eigener Gefangener, seiner Lust wie seines Frustes, Sklave seiner Vereinzelung. »Lust aber will nicht Erben, nicht Kinder, – Lust will sich selber, will Ewigkeit, will Wiederkunft, will Alles-sich-ewig-gleich« (KGW VI.1, 398). Nichts anderes aber ist die Hölle: das »Alles-sich-ewig-gleich«, das Unaufhörliche, das keine Vollendung kennt, letzthin die ewige Wiederkehr des Gleichen. Mag Nietzsches Zarathustra auch im nächsten Abschnitt ausrufen: »Oh mein altes Herz: Weh spricht: ›vergeh!‹« – der Schmerz will nicht vergehen, solange Menschen Menschen Leid zufügen. Deren Leid fällt auf die Täter zurück, mögen sie auch im Augenblick der Tat in Lust schwelgen. Nicht die Tat allein bezeugt das Böse, mehr noch seine Perpetuierung ins Endlose, das nicht bloß ein Nietzsche mit der Ewigkeit verwechselt, vielmehr alle, die kein Ende finden, wie auch der Tod kein Ende bedeutet, sondern die Verdichtung des Todeszusammenhangs der Geschichte. Über ihn aber führt nichts hinaus, keine ewige Wiederkehr des Gleichen, kein Fort33

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schritt – einzig Gott, der Schöpfer und Vollender aller Dinge. »Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu. Und Er sagte: Schreib es auf, denn diese Worte sind zuverlässig und wahr. Er sagte zu mir: Sie sind in Erfüllung gegangen. Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende« (Offb 21,5 f.). Seinen Worten geht die Schöpfung eines neuen Kosmos, eines neuen Himmels und einer neuen Erde, voraus (vgl. Offb 21,1). Alle menschlichen Neuheiten, alle Entdeckungen und Errungenschaften der Technik, so revolutionär sie sein mögen, bleiben dem alten Kosmos, dem alten Schuldzusammenhang verhaftet. Durch nichts kann ein Mensch sich freikaufen, sein Leben gegen den Tod einlösen. Daher das Einverständnis mit dem Tod, die Absage an den Sühnegedanken – bis in die zeitgenössische Theologie hinein, obwohl nach einhelliger neutestamentlicher Überlieferung nicht etwa der bloße Gedanke, sondern das Sühneopfer Christi das Fundament unserer Erlösung ist. Deshalb ist heutzutage mehr denn je »der Kapitalismus als Religion« in der westlichen Hemisphäre zu einer Art Volksreligion geworden: »Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewusstsein einzuhämmern« – und doch irrt Benjamin, wenn er fortfährt: »und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen〈,〉 um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren« (vgl. GS VI, 100 f.). Denn nichts liegt dem »Typus des kapitalistischen Denkens«, der sich Benjamin zufolge großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen findet (vgl. ebd. 101), ferner als der Gedanke an Gott. »Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde: wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter« (KGW VI.1, 106). So die Schlussfolgerung von 34

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Nietzsche-Zarathustra, dem Übermenschen, der es – in der Verkehrung des ersten mosaischen Gebotes – nicht erträgt, einen Gott neben sich, geschweige denn über sich zu haben. Nur ist damit nicht alle Schuld gesühnt, geschweige das Opfer abgeschafft, wie Nietzsche selber weiß: »Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir brennen und braten Alle zu Ehren alter Götterbilder« (KGW VI.1, 247). Trotz einer mehr als tausendjährigen christlichen Kultur haben inmitten der europäischen Zivilisation die Idole der Macht und menschlicher Ehre überdauert. Nur bedarf es keiner Altäre mehr, um Götter durch Menschenopfer gnädig zu stimmen: Vielmehr verlangt die Selbstvergötterung des Menschen das Opfer des Menschen, dessen bloßer Anblick ein Menschenwesen verletzt, das über den Menschen hinausstrebt: »Ihr leidet noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet noch nicht am Menschen. Ihr würdet lügen, wenn ihr’s anders sagtet! Ihr leidet Alle nicht, woran ich litt. – –« (KGW VI.1, 355). Die Gedankenstriche stehen nicht von ungefähr, wie Nietzsche seine Schwester Elisabeth in einem Brief vom 20. Mai 1885 aus Venedig wissen lässt: »Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es immer mit den Gedankenstrichen los« (KGB III.3, 53). Was es damit auf sich hat, verrät Nietzsche zu Beginn von Abschnitt 38 seiner Schmähschrift Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum: »– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer nicht. Es giebt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie – die Menschen-Verachtung. Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnissvoll gleichzeitig bin« (KGW VI.3, 207). Genau diese Gleichzeitigkeit der menschlichen und göttlichen Natur in Christus bildet die Voraussetzung seiner 35

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Kenosis, seiner Selbstentäußerung: »Obschon Gott gleich seiend, / hielt er nicht daran fest, wie Gott zu sein, / sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen; / er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz« (Phil 2,6–8). Der ganze Passus sei hier zitiert, weil er den unaufhebbaren Gegensatz zwischen dem Abstieg des Logos in die Menschennatur, um diese zu erlösen, und der Selbstübersteigerung des Menschen, der sich über den Menschen erhebt, um den Menschen zu überwinden, im Denken Nietzsches beschreibt. Nicht umsonst wettert er – unter Rekurs auf die historistische Bibelexegese seiner Zeit, die Christus gegen Paulus auszuspielen suchte – gegen das Opfer Jesu: »Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauerhafte Heidenthum! – Jesus hatte den Begriff ›Schuld‹ selbst abgeschafft, – er hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er lebte diese Einheit von Gott als Mensch als seine ›frohe Botschaft‹ … Und nicht als Vorrecht! – Von nun an tritt schrittweise in den Typus des Erlösers hinein: die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft, die Lehre vom Tod als einem Opfertode, die Lehre von der Auferstehung, mit der der ganze Begriff ›Seligkeit‹, die ganze und einzige Realität des Evangeliums eskamotirt ist – zu Gunsten eines Zustandes nach dem Tode!« (Ebd. 213). Nein, nicht nach dem Tode, sondern durch seinen Tod über den Tod hinaus – mit der messianischen Zeugung des Gesalbten. Denn Christus hat sich in seiner Menschwerdung gerade jenes »Vorrechts« entäußert, um ein Mensch unter den Menschen zu sein, wie es schon im alttestamentlichen Buch Baruch heißt: »Unser Gott ist auf der Erde erschienen, als Mensch unter Menschen« (Bar 3,38). Nichts aber ist dem Menschentypus Nietzsches mehr zu36

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wider als der Mensch. »– Was folgt daraus? Das man gut thut, Handschuhe anzuziehn, wenn man das neue Testament liest. Die Nähe von so viel Unreinlichkeit zwingt beinahe dazu. Wir würden uns ›erste Christen‹ so wenig wie polnische Juden zum Umgang wählen: nicht dass man gegen sie auch nur einen Einwand nöthig hätte … Sie riechen beide nicht gut. –« Und weiter: »Die Menschlichkeit hat hier noch nicht ihren ersten Anfang gemacht, – die Instinkte der Reinlichkeit fehlen …« (vgl. KGW VI.1, 221). Nicht einmal ein Menschenalter später sollten sich jene »Instinkte« ausleben – unter dem Begriff der »Rassenhygiene«. Doch unabhängig von den Ressentiments, die sich buchstäblich Luft zu verschaffen suchen, finden hier die Worte des Apostels Paulus ihre volle Bestätigung: »Dank sei Gott, der uns stets im Siegeszug Christi mitführt und durch uns den Duft der Erkenntnis Christi an allen Orten verbreitet. Denn wir sind Christi Wohlgeruch unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verlorengehen. Den einen sind wir Todesgeruch, der Tod bringt; den anderen Lebensduft, der Leben verheißt« (2 Kor 2,14–16). Dass Paulus unter Leben etwas ganz anderes versteht als Nietzsche, versteht sich geradezu von selbst, wie dieser auch im Antichristen bekennt, »dass wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als ›göttlich‹, sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht nur als Irrthum, sondern als Verbrechen am Leben … Wir leugnen Gott als Gott … Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen« (KGW VI.3, 223). Dem geradezu korrespondierend, vermerkt der Apostel Paulus: »Wenn unser Evangelium dennoch verhüllt ist, ist es nur denen verhüllt, die verlorengehen; denn der Gott dieser Weltzeit hat das Denken der Ungläubigen verblendet. So strahlt ihnen der Glanz der Herrlichkeit der Heilsbotschaft nicht auf, der Botschaft von der Herrlichkeit Christi, der Gottes Eben37

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bild ist. Wir verkündigen nämlich nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns aber als eure Knechte um Jesu willen. Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten! – Er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi« (2 Kor 4,3–6). – Ganz anders die frohe Botschaft von Nietzsches Zarathustra: »Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht sein, nicht Licht heissen. Die – will ich blenden: Blitz meiner Weisheit! Stich ihnen die Augen aus!« (KGW VI.1, 356). Von daher versteht sich der Spott für »das Opfer des Unschuldigen«: »Das mochte gut sein für den Prediger der kleinen Leute, dass er litt und trug an des Menschen Sünde. Ich aber erfreue mich der grossen Sünde als meines grossen Trostes – « (ebd. 355). Nicht um Sühne ist es Nietzsche zu tun, sondern einzig die Steigerung der Schuld verschafft Genugtuung, insofern das Verderben des Menschen einem Anderen, »Höheren« dient, wie Nietzsche zuvor konstatiert: »›Der Mensch muss besser und böser werden‹ – so lehre ich. Das Böseste ist nöthig zu des Übermenschen Bestem« (ebd.). Spätestens hier mag selbst dem theologisch Unbedarften aufgehen, dass es nach den Verbrechen und Katastrophen unseres Zeitalters unmöglich ist, nach diesen Sätzen zur Tagesordnung überzugehen. Ebenso wenig ist es für eine Theologie, die damit Ernst macht, die Zeichen der Zeit zu deuten, damit getan, sich mit den gängigen theologischen Themen zu bescheiden. Mehr noch als für die Zeitgenossen Jesu gilt sein Wort für unsere Zeit: »Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten. Warum könnt ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?« (Lk 12,56 f.). Und mehr noch als eine Philosophie, der es um die Wahrheit geht, hat das theologische Denken um dieser Wahrheit willen einen Umweg einzule38

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gen; m. a. W., insofern es die theologische Lehre von der Auferstehung der Toten zum Gegenstand hat, vermag es nicht den Kultus des Todes zu ignorieren, der sich im Denken Nietzsches wie Heideggers Bahn bricht und darüber hinaus zum Wahrzeichen des »Kapitalismus als Religion« geworden ist. Was es mit jenem »Umweg« auf sich hat, hat Benjamin wenige Jahre später, in seiner Erkenntniskritischen Vorrede zum Trauerspielbuch, auf den Punkt gebracht: »Die Alternative der philosophischen Form, welche durch die Begriffe von der Lehre und von dem esoterischen Essay gestellt wird, ist’s, die der Systembegriff des XIX. Jahrhunderts ignoriert. Soweit er die Philosophie bestimmt, droht diese einem Synkretismus sich zu bequemen, der die Wahrheit in einem zwischen Erkenntnissen gezogenen Spinnennetz einzufangen sucht als käme sie von draußen herzugeflogen. Aber ihr angelernter Universalismus bleibt weit entfernt, die didaktische Autorität der Lehre zu erreichen. Will die Philosophie nicht als vermittelnde Anleitung zum Erkennen, sondern als Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren, so ist die Übung dieser ihrer Form, nicht aber ihrer Antizipation im System, Gewicht beizulegen. Diese Übung hat sich allen Epochen, denen die unumschreibliche Wesenheit des Wahren vor Augen stand, in einer Propädeutik aufgenötigt, die man mit dem scholastischen Terminus des Traktats darum ansprechen darf, weil er jenen wenn auch latenten Hinweis auf die Gegenstände der Theologie enthält, ohne welche die Wahrheit nicht gedacht werden kann. Traktate mögen lehrhaft zwar in ihrem Ton sein; ihrer innersten Haltung nach bleibt die Bündigkeit einer Unterweisung ihnen versagt, welche die Lehre aus eigener Autorität sich zu behaupten vermöchte. Nicht weniger entraten sie der Zwangsmittel des mathematischen Beweises. In ihrer kanonischen Form wird als einziges Bestandstück einer fast mehr erziehlichen als lehrenden Intention 39

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das autoritäre Zitat sich einfinden. Darstellung ist der Inbegriff ihrer Methode. Methode ist Umweg. Darstellung als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik. Wie bei der Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philosophische Betrachtung nicht um den Schwung. Aus Einzelnem und Disparatem treten sie zusammen; nichts könnte mächtiger die transzendente Wucht, sei es des Heiligenbildes, sei’s der Wahrheit lehren. Der Wert von Denkbruchstücken ist um so entscheidender, je minder sie unmittelbar an der Grundkonzeption sich zu messen vermögen und von ihm hängt der Glanz der Darstellung im gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der Qualität des Glasflusses. Die Relation der mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und des intellektuellen Ganzen spricht aus, wie der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts sich fassen läßt. Mosaik und Traktat gehören ihrer höchsten abendländischen Ausbildung nach dem Mittelalter an; was ihren Vergleich ermöglicht, ist echte Verwandtschaft« (GS I.1, 207 ff.). Obwohl es Benjamin um die Frage der Form, der Methodik der Darstellung geht, lässt sich seine Absage an den idealistischen Systembegriff alles andere denn als eine bloße Formfrage abtun. Vielmehr geht es um den Wahrheitsgehalt des Denkens, wie er im Traktat zum Ausdruck gelangt, »weil er jenen wenn auch latenten Hinweis auf die 40

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Gegenstände der Theologie enthält, ohne welche der Wahrheit nicht gedacht werden kann«. Davon kann beim »Systembegriff des XIX. Jahrhunderts« nicht die Rede sein, insofern er nicht nur die Wahrheit im menschlichen Subjekt zu gründen sucht. Sondern durch dessen Selbstverabsolutierung die grundlegende Differenz von göttlichem und menschlichem Geist aufgehoben wird, gemäß dem Axiom, »daß es nicht zweierlei Vernunft und nicht zweierlei Geist geben kann, nicht eine göttliche und eine menschliche, nicht einen göttlichen und einen menschlichen«, so Hegels Folgerung in der Einleitung zu seinem religionsphilosophischen Kolleg von 1824 (vgl. Vorlesungen, Bd. 3 = Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 46; weiterhin zit. als V 3). Daraus ergibt sich nach der Vorlesung von 1827: »Religion ist nur im Selbstbewußtsein; außerdem existiert sie nirgends« (V 3, 306). Schon im Manuskript (von 1821) wird ihr »wissenschaftlicher Begriff« entfaltet, stellt sich das Zusammenspiel von Religion und Selbstbewusstsein folgendermaßen dar: »Diese Beziehung beider Seiten bin Ich selbst in der Religion. ICH, das DENKENDE, und ICH, das unmittelbare Subjekt, sind ein und dasselbe Ich; und ferner die Beziehung dieser so hart gegenüberstehenden Seiten – des schlechthin endlichen Bewußtseins und Seins, und des Unendlichen – ist in der Religion für mich. Dies ist die spekulative Bestimmung der Religion; nur dadurch und insofern ist sie spekulativ« (V 3, 119). Ihre Bestimmung als Spekulation bedeutet freilich nichts anderes als eine Umschreibung für eine moderne Gnosis, für den Versuch menschlicher Selbsterlösung auf dem Wege rationaler Erkenntnis, der zwangsläufig scheitern musste, da kein Mensch gleich dem Gott der Offenbarung von sich sagen kann: »Ich bin, der Ich bin« (Ex 3,14). Dem entspricht allenfalls die Wahngestalt des menschlichen Selbstbewusstseins, die der späte Hölderlin in seinem hymnischen Entwurf Vom Ab41

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grund nämlich … auf die Formel gebracht hat: »Allda bin ich / Alles miteinander« (Sämtliche Werke, Bd.2, 259; wir kommen im Verlauf unserer Abhandlung auf den »Abgrund« zurück). Immerhin ehrt es Hegel, dass er den Selbstwiderspruch solcher Selbstverabsolutierung, ja die daraus resultierende Selbstzerrissenheit des menschlichen Geistes, Unendliches und Endliches in sich zu vereinen, beim Namen genannt hat: »Ich bin die Beziehung dieser beiden Seiten; diese beiden Extreme sind jedes selbst Ich, das Beziehende, und das Zusammenhalten, Beziehen ist selbst dies in einem sich Bekämpfende, dies im Kampf sich Einende; oder Ich bin der Kampf, denn der Kampf ist eben dieser Widerstreit, der nicht eine Gleichgültigkeit der beiden als Verschiedener ist, sondern der das Zusammengebundensein beider ist. Ich bin nicht einer der im Kampf Begriffenen – Ich bin beide Kämpfer, Ich bin der Kampf selbst. Ich bin das Feuer und Wasser, die sich berühren, und die Berührung bald Getrennter, Entzweiter, bald Versöhnter, Einiger – Einheit dessen, was sich schlechthin flieht, und eben diese Berührung ist selbst diese doppelt, widerstreitend seiende Beziehung als Beziehung« (V 3, 121). Mit einem Wort: die Unversöhntheit in persona, die im Denken die Versöhnung Gottes mit den Menschen durch Christus einzulösen sucht, die wir allenfalls denkend nachvollziehen können. Scheiterte Hegels Reduktion der Religion auf das Selbstbewusstsein, indem am Ende die Unversöhntheit, die Selbstzerrissenheit des menschlichen Geistes zutage tritt, so wird sie bei Nietzsche zum Programm, im »Lied der Schwermuth 3« des Zarathustra: ›Der du den Menschen schautest So Gott als Schaf –: Den Gott zerreissen im Menschen 42

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Wie das Schaf im Menschen, Und zerreissend lachen – Das, Das ist eine Seligkeit! Eines Panthers und Adlers Seligkeit! Eines Dichters und Narren Seligkeit!‹ – – (KGW VI.1, 369). Das Hohngelächter über das »Zerreissen« des Lammes Gottes, des Mensch gewordenen Logos und Messias, auf den Johannes der Täufer weist (vgl. Joh 1,36), zeugt von einem Übermut, der Hegels Selbstbewusstsein in den Schatten stellt, weil der Mensch zu seiner Seligkeit weder Gottes noch der Erlösung bedarf. Er findet sie im Blutrausch, auf den der ewige Tod folgt, den Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment von Frühjahr–Herbst 1881 als Versöhnung preist: »Grundfalsche Werthschätzung der empfindenden Welt gegen die todte. Weil wir sie sind! Dazu gehören! Und doch geht mit der Empfindung die Oberflächlichkeit, der Betrug los: was hat Schmerz und Lust mit dem wirklichen Vorgange zu schaffen! – es ist ein Nebenher, welches nicht in die Tiefe dringt! Aber wir nennen’s das Innere und die todte Welt sehen wir als äußerlich an – grundfalsch! Die ›todte‹ Welt! Ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein Fest, aus dieser Welt in die ›todte Welt‹ überzugehen – und die größte Begierde der Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Gesetze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Betrug giebt. Ist dies Selbstverneinung der Empfindung, im Intellekte? Der Sinn der Wahrheit ist: die Empfindung als die äußerliche Seite des Daseins zu verstehen, als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dauert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so genießen! 43

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Laßt uns die Rückkehr in’s Empfindungslose nicht als einen Rückgang denken! Wir werden ganz wahr, wir vollenden uns. Der Tod ist umzudeuten! Wir versöhnen 〈uns〉 so mit dem Wirklichen d. h. mit der todten Welt« (KGW V.2, 366). Wer möchte angesichts eines derartigen Pathos der Versöhnung es wagen, wie der Ökonom Wilhelm Röpke ein Menschenalter später – inmitten des Zweiten Weltkriegs – die Frage aufzuwerfen, welcher »unheimliche Krankheitsprozeß« die Welt ergriffen habe? Nietzsche selbst hat im fünften Buche seiner Fröhlichen Wissenschaft in § 382, überschrieben Die grosse Gesundheit, darauf die Antwort gegeben: »Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft [!] – wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren« (ebd. 317 f.). Es versteht sich, dass es zu dem neuen Mittel auch eines neuen Menschen bedarf, wobei sich die Frage nach dem bisherigen Menschen von selbst beantwortet: »Wie könnten wir uns (…) noch am gegenwärtigen Menschen genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist unvermeidlich, dass wir seinen würdigsten Zielen und Hoffnungen nur mit einem übel aufrechterhaltenen Ernste zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemanden so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbst44

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vergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlichübermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt – und mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt …« (ebd. 318 f.). In der Tat – man braucht diese Zeilen nur im Lichte des Kommenden zu lesen, um zu begreifen, dass »vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird«. Nietzsche freilich, der heutzutage hoch in Ehren gehalten wird, brauchte nicht zu bangen, für sein Ideal [vgl. ebd. 318: »wir Argonauten des Ideals«] zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ganz ähnlich dürften die empfunden haben, die jenem Ideal nicht nur in der Theorie huldigten, sondern sich anschickten, es in die Praxis umzusetzen, wenn Nietzsche in einem anderen nachgelassenen Fragment aus dem Zeitraum Frühjahr–Herbst 1881 bekennt: »Sich die Vortheile eines Todten verschaffen – es kümmert sich Keiner um uns, weder für noch wider. Sich wegdenken aus der Menschheit, die Begehrungen aller Art verlernen: und den ganzen Überschuß von Kraft auf das Zuschauen verwenden. Der unsichtbare Zuschauer sein!!« (Ebd. 352). »Der unsichtbare Zuschauer sein!!« – ein Anderer, dem die Welt nicht weniger Bewunderung zollte, sollte daraus eine Philosophie formen, obschon es sich – treffender – lediglich um Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) handelt, Martin Heideggers sog. zweites Hauptwerk aus den dreißiger Jahren, das erst postum zu seinem 100. Geburtstag im Jahre 1989 erschienen ist. Darin heißt es unter dem Abschnitt 125. Seyn und Zeit: »Um den Vollzug dieses 45

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Vorbereitenden unserer Geschichte handelt es sich allein in der Seinsfrage. Alle ›Inhalte‹ und ›Meinungen‹ und ›Wege‹ im Besonderen des ersten Versuchs von ›Sein und Zeit‹ sind zufällig und können verschwinden.« – Um dann fortzufahren: »Aber bleiben muß der Ausgriff in den ZeitSpiel-Raum des Seyns. Dieser Ausgriff ergreift jeden, der stark genug geworden, die ersten Entscheidungen durchzudenken, in deren Bereich mit dem Zeitalter, dem wir eingeeignet bleiben [!], ein wissender Ernst zusammentaugt, der sich nicht mehr stößt an gut und schlecht, an Verfall und Rettung der Überlieferung, an Gutmütigkeit und Gewalttat, der nur sieht und faßt, was ist, um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet als ein Wesentliches, in das Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund zu bringen« (GA 65, 242 f.). Man kann angesichts der Empörung, die die eingangs erwähnten antijüdischen Passagen beim Erscheinen des vierten Bandes von Heideggers Schwarzen Heften auslösten, sich nur wundern, dass sie nicht schon längst Platz gegriffen hat, wo doch hier Heidegger unverblümt einen wissenden Ernst bekennt, »der sich nicht mehr stößt an gut und schlecht, an Verfall und Rettung der Überlieferung, an Gutmütigkeit und Gewalttat, der nur sieht und faßt, was ist« – das ist das Pathos, der Ernst einer Philosophie, die mit ihrer Zeit konform geht, ja »zusammentaugt«. Das ist die Wahrheit des Seins, von der Heidegger spricht, wie er unumwunden im selben Kapitel einräumt: »Daß der Tod in dem wesentlichen Zusammenhang der ursprünglichen Zukünftigkeit des Daseins in seinem fundamentalontologischen Wesen entworfen ist, heißt doch zunächst im Rahmen der Aufgabe von ›Sein und Zeit‹: er steht im Zusammenhang mit der ›Zeit‹, die als Entwurfsbereich der Wahrheit des Seyns selbst angesetzt ist. Schon dieses ist ein Fingerzeig, deutlich genug für den, der mitfragen will, daß hier die Frage nach dem Tod im wesentli46

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chen Bezug steht zur Wahrheit des Seyns und nur in diesem Bezug; daß daher hier nicht und niemals der Tod als die Verneinung des Seyns oder gar der Tod als ›Nichts‹ für das Wesen des Seyns genommen wird, sondern im genauen Gegenteil: der Tod als das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« (GA 65, 284). Es versteht sich von selbst, dass jene »Wahrheit des Seyns« nichts mit dem Wahrheitsbegriff der philosophischen Überlieferung gemein hat, zumal dem platonischen, wie Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch unter dem Stichwort »Philosophische Schönheit« vermerkt, »daß Wahrheit nicht Enthüllung ist, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihm gerecht wird« (vgl. GS I.1, 211). Bezeichnenderweise kennen Heideggers Beiträge zur Philosophie den Begriff der Offenbarung nicht. Nur ein einziges Mal ist davon die Rede mit Blick auf das »Seyn«: »daß dieses (…) ein Kampf sein muß, der sich in der äußersten Tiefe als das Spiel des Abgründigen offenbart« (vgl. GA 65, 474). Dieses Spiel zu durchschauen, ist heute mehr denn je Aufgabe der Theologie, weil das zur Ontologie aufgeblähte Seinsdenken kein Geheimnis kennt, allenfalls Verheimlichung – die Verheimlichung seiner Komplizität mit dem Abgründigen, mit der Macht des Todes und des Bösen, dessen Kultus Heideggers Kultus des letzten Gottes ebenso darstellt wie Nietzsches Kultus des Übermenschen. Wie Benjamin den Kapitalismus definiert hat als »eine Religion aus bloßem Kult, ohne Dogma« (vgl. GS VI, 102), so will jener Kult das Dogma nicht kennen – das Dogma von der Menschwerdung des Logos, auf dem alle anderen Dogmen beruhen. Daher gilt es mit Nietzsche, »den Gott [zu] zerreissen im Menschen«, um dem Menschen mit Heideggers letztem Gott den Weg in den Selbstuntergang zu weisen. – Gewissermaßen die Gegenrichtung weist die »Offenbarung Jesu Christi« (Offb 1,1), so der eigentliche 47

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Titel der sog. Johannesoffenbarung, die ihren Ausgang nimmt von der Auferstehung Jesu Christi, von seiner messianischen Zeugung (vgl. Apg 13,32 f.), um am Ende, bei seiner Wiederkunft, die Mächte dieses Todesäons zu richten.

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I. Messianische Zeugung in der Zeit Wie eng Auferstehung Jesu Christi und messianische Herrschaft, Gottes Herrschaft und die Zeugung seines Gesalbten zusammenhängen, geht aus Psalm 2 hervor, der das Wirken Gottes und seines Gesalbten in der Geschichte gegen alle Gegenmächte dieser Weltzeit zum Ausdruck bringt: 1

Warum toben die Völker, Warum machen die Nationen vergebliche Pläne? 2 Die Könige der Erde stehen auf, die Großen haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Gesalbten. 3 »Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke!« 4 Doch Er, der im Himmel thront, lacht, der Herr verspottet sie. 5

Dann aber spricht Er zu ihnen im Zorn, in seinem Grimm wird Er sie erschrecken: 6 »Ich selber habe meinen König eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg.« 7 Den Beschluss des Herrn will ich kundtun. / Er sprach zu mir: »Mein Sohn bist du. Heute habe Ich dich gezeugt. 8 Fordere von mir, und Ich gebe dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum. 9 Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern.« 10

Nun denn, ihr Könige, kommt zur Einsicht, lasst euch warnen, ihr Gebieter der Erde! 11 Dient dem Herrn mit Furcht, 49

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und küsst Ihm mit Beben die Füße, damit Er nicht zürnt und euer Weg nicht in den Abgrund führt. Denn nur wenig, und sein Zorn ist entbrannt. Wohl allen, die Ihm vertrauen!

Analog zur Revolte im Himmel, zur Erhebung Satans und seiner Engel gegen Gott, gibt es eine Erhebung auf Erden: der Könige und der Großen, der Machthaber dieses Äons, die sich aber nicht allein gegen Gott, sondern nach Ps 2,2 »gegen den Herrn und seinen Gesalbten« richtet. Bemerkenswert ist die wechselseitige, korrespondierende Vorstellung seiner messianischen Herrschaft: Offensichtlich handelt es sich um keine Selbstbezeugung des Messias als vielmehr um eine Bezeugung von Gott, ja mehr noch: um eine Zeugung aus Gott. Rein religionsgeschichtlich betrachtet, könnte man mit Blick auf V. 6 darin einen symbolischen Akt der Inthronisation des Sohnes nach Maßgabe der Einsetzung orientalischer Könige sehen. Doch selbst wenn sich diese als gottgleich betrachteten, spricht nicht nur die Fortdauer der Herrschaft Gottes dagegen, der ja nicht wie ein weltlicher Herrscher mit der Inthronisation seines Sohnes abdankt; vielmehr gehören sie ja zu den Königen und Großen, die gegen Gott und seinen Gesalbten aufbegehren. Deren Herrschaft ist ja eine universale, ja ewige, die die Machthaber dieser Weltzeit abzuschütteln trachten: »Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke!« Das ist das Programm aller Weltmächte: die Emanzipation von Gottes Wahrheit und Gesetz, um der Welt ihr eigenes Gesetz aufzuzwingen, selbst wenn sie, wie Nationalsozialismus und Bolschewismus, kein Gesetz kennen außer dem Gesetz der Macht. Oder selbst wenn sie gleich dem zeitgenössischen Säkularismus keine Wahrheit anerkennen, wie etwa der Protagonist von Kafkas »Prozess« die 50

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Türhüterparabel die Frage nach dem Gesetz mit der Feststellung beschließt: »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht« (Der Prozess, 388). Immerhin heißt es daraufhin: »K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht« (ebd. 389). Ganz anders das Urteil Nietzsches in einem nachgelassenen Fragment aus dem Zeitraum Mai–Juli 1885: »Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heißt freilich auf eine schreckliche Weise die gewohnten Werthgefühle von sich abthun – und hier, wenn irgend wo, gilt es, sich an der ›erkannten Wahrheit‹ nicht zu ›verbluten‹. Man muß sofort in dieser höchsten Gefahr die schöpferischen Grund-Instinkte des Menschen heraufrufen, welche stärker sind als alle Werthgefühle: die, welche die Mütter der Werthgefühle selber sind und im ewigen Gebären über das ewige Untergehn ihrer Kinder ihre erhabene Tröstung genießen. Und zuletzt: welche Gewalt war es denn, welche uns zwang, dem ›Glauben an die Wahrheit‹ abzuschwören, wenn es nicht das Leben selber war und alle seine schöpferischen Grund-Instinkte? – so daß wir also es nicht nöthig haben, diese ›Mütter‹ heraufzubeschwören: – sie sind schon oben, ihre Augen blicken uns an, wir vollführen eben, wozu deren Zauber uns überredet hat« (KGW VII.3, 249). Man muss nur der Magie jener »schöpferischen Grund-Instinkte« des Lebens folgen, mögen sie auch Tod und Untergang bedeuten – welch wunderbares Schauspiel, anzusehen, wie die Menschenkinder ihre »Grund-Instinkte« ausleben! Bestand der erste Sündenfall darin, dass die ersten Menschen vom Baum der Erkenntnis aßen, so hält beim zweiten, bei seiner Überbietung, der Mensch mit Nietzsche bereitwillig die Hand zum Baum des Lebens ausgestreckt (vgl. Gen 3,22), freilich nicht, um ewig zu leben, sondern im Namen des Lebens den Tod zu verkosten. Der Ungehorsam gegen seinen Herrn und Schöpfer ist längst kein singulärer Akt 51

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mehr, sondern ein fester Bestandteil unserer Lebens-, genauer: unserer Todeskultur geworden. Der Berufung auf die menschliche Natur oder auf die sog. Grundwerte des menschlichen Lebens ist damit der Boden entzogen. Es handelt sich daher um weit mehr als um ein Gedankenspiel, wenn etwa Nietzsche in einer Aufzeichnung von August–September 1885 die Frage aufwirft: »Gesetzt, die Welt wäre falsch, Leben nur auf dem Boden des Wahns, unter dem Schirme des Wahns, an dem Leitfaden des Wahns zu begreifen: was bedeutet dann ›der Natur gemäß leben‹? Könnte die Vorschrift nicht gerade die sein: ›sei ein Betrüger‹? Ja sogar, wie wollte man es verhüten zu täuschen? Wir irren uns über uns selber und sind uns unfaßbar: wie viel mehr sind wir es für die ›Nächsten‹! Aber sie glauben sich nicht getäuscht durch uns – und darauf hin beruht aller Verkehr mit gegenseitigen Rechten und Pflichten. – Daß das Täuschen nicht in meiner Absicht liegt, zugegeben! Aber feiner zugesehn: ich thue auch nichts dazu, meine Nächsten aufzuklären, darüber, daß sie sich über mich täuschen. Ich verhindere nicht ihren Irrthum, ich bekämpfe ihn nicht, ich lasse ihn geschehn –: in so fern bin ich zuletzt doch der Betrügende mit Willen. Genau so verfahre ich aber auch gegen mich selber: die Selbsterkenntniß gehört nicht unter die Gefühle der Verpflichtung; selbst wenn ich mich zu erkennen suche, so geschieht es aus Gründen der Nützlichkeit oder einer feineren Neugierde, – nicht aber aus dem Willen der Wahrhaftigkeit« (KGW VII.3, 383). Genau darin besteht das Lebensgesetz nicht etwa in Diktatur und Tyrannei als vielmehr der Welt des »Kapitalismus als Religion«, in der nach Benjamins Einsicht der Utilitarismus eine religiöse Färbung gewinnt. Man muss ja nicht Nietzsches Sicht teilen, aber eine Welt ohne Gott entspricht genau dem Bild, das Nietzsche zeichnet, wenn er fortfährt: »– Daß der Wahrhaftige mehr werth sei als der Lügner, im Haushalte 52

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der Menschheit, wäre immer erst noch zu erweisen. Die ganz Großen und Mächtigen waren bisher Betrüger: ihre Aufgabe wollte es von ihnen. Vorausgesetzt, daß es sich ergäbe, Leben und Vorwärtskommen sei nur möglich auf einem consequenten und langen Getäuscht-werden: so könnte der consequente Betrüger zu den höchsten Ehren kommen, als Lebensbedinger und Förderer des Lebens. Daß man schädigt, indem man nicht die Wahrheit sagt, ist der Glaube der Naiven, eine Art Frosch-Perspektive der Moral. Wenn das Leben und der Werth des Lebens auf gut geglaubten Irrthümern ruht, so könnte gerade der Wahrheit-Redende, Wahrheit-Wollende der Schädigende sein (als der Aufdröseler der Illusionen)« (ebd. 383 f.). Zumal letzte Mutmaßung findet in unserer sog. offenen Gesellschaft seit einiger Zeit ihre volle Bestätigung: Es wird nur noch dem Gehör geschenkt, der sagt, was man hören will. So fern scheint nicht mehr die Zeit zu sein, zu der der Apostel Paulus im zweiten Brief an Timotheus bemerkt: »Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien [wörtlich: Mythen] zuwenden. Du aber sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verkünde das Evangelium, erfülle treu deinen Dienst« (2 Tim 4,3–5). Spätestens hier mag deutlich werden, dass es sich bei diesem Evangelium, bei der Frage nach dem Wesen der messianischen Herrschaft keineswegs um eine akademische Frage bzw. um eine Frage von rein historischem Interesse handelt. Mögen auch die Zeiten eines orientalischen oder römischen Gottkaisertums passé sein, die Erhebung gegen Gott und seinen Gesalbten ist es nicht, ob sie nun unter dem imperialen Gestus der napoleonischen Ära daherkommt oder unter dem zivilen einer demokratischen Bürgergesellschaft, die vorgibt, alle Fäden einer globalisierten 53

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Welt in der Hand zu halten. Daher überrascht es nicht, wenn der heilige Augustinus, der die Erschütterung des Römischen Reiches erleben sollte, im Hinblick auf Ps 2,7 [»Der Herr sprach zu mir: ›Mein Sohn bist du. Heute habe Ich dich gezeugt‹«] mit der Gottheit des Sohnes zugleich die Ewigkeit seiner Zeugung betont: »In dem Tag, von dem der Prophet spricht, könnten wir den Tag erblicken, an dem Jesus Christus als Mensch geboren ist. Aber ›heute‹ besagt Gegenwart, und in der Ewigkeit gibt es nichts Vergangenes, als habe etwas aufgehört zu sein, und nichts Zukünftiges, als gäbe es etwas, was noch nicht ist. Es gibt nur Gegenwärtiges. Denn was ewig ist, ist immer. Es ist vom Wesen Gottes aus zu verstehen nach dem Wort: ›Heute habe Ich dich gezeugt.‹ Damit verkündet der reine katholische Glaube die ewige Zeugung der Kraft und Weisheit Gottes« [Ennarationes in Psalmos 2,6–8: PL 36,70 f.; vgl. ebd. das folgende Zitat]. Ungeachtet des Kontextes des »Beschlusses« Gottes (vgl. V. 7), auf den noch einzugehen sein wird, konstatiert Augustinus mit Blick auf V. 8 [»Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe«]: »Das gilt bereits zeitlich, insofern er den Menschen angenommen hat, der anstelle aller Opfer sich selbst dargebracht hat und für uns eintritt [vgl. Röm 8,34]. Auf die ganze zeitliche Heilsordnung, die für das Menschengeschlecht getroffen wurde, dürften sich die folgenden Worte beziehen: ›Fordere von mir‹, damit sich auch die Heiden dem christlichen Glauben anschließen und so, vom Tod erlöst, Gottes Eigentum werden.« Von der Heidenmission ist im Psalm indessen so wenig die Rede wie von einer Zerschlagung der »irdischen Begierden« bzw. der »schmutzigen Händel des alten Menschen«, wie Augustinus anschließend den Triumph des Herrn und seines Gesalbten allegorisch auslegt. Vor allem aber ist ihre Herrschaft eine ewige, mag sie sich auch in der Zeit offenbaren. Zudem klingt es überaus verwunderlich, wenn Au54

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gustinus die Annahme des Menschen, also die Menschwerdung Christi, sowie sein Opfer, worüber er sonst so Tiefsinniges zu sagen weiß, dem Zeitlichen zuordnet, wo doch seine Menschwerdung den Einbruch des Ewigen in die Zeit markiert, wie sein Opfer die Vollendung der Zeit einleitet. Offenkundig will eine kategoriale Bestimmung jenes Einbruchs nicht gelingen, wenn das »Heute« gewissermaßen in die Ewigkeit zurückdatiert wird. Denn die Zeugung, von der Augustinus spricht, ist die ewige Zeugung des Sohnes aus dem Vater vor aller Zeit, wie sie im Nicänischen Glaubensbekenntnis bekannt wird. Auf ihr gründet die personale Identität des Sohnes, seine Wesenseinheit mit dem Vater, wie es im Hebräerbrief heißt: »Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8). Er ist das ewige Wort, das bei Gott [wörtlich: auf Gott hin] war (vgl. Joh 1,1); das Kind in der Krippe, ohne noch ein Wort von sich geben zu können; der Schmerzensmann, der am Kreuz verstummt; schließlich der Auferstandene, der in die Herrlichkeit des Himmels eintritt: »Denn er muss herrschen, bis Gott ihm alle seine Feinde unter die Füße gelegt hat« (1 Kor 15,25). Die Wesenseinheit des Einen Christus mit Gott, dem Vater, wie sie Christus selbst in den Evangelien betont und die anderen neutestamentlichen Schreiben zum Ausdruck bringen, bildet zweifellos die Grundlage seiner messianischen Sendung und Herrschaft. Doch vollzieht sich diese in der Zeit bzw. durch die Zeit hindurch – nicht in der ewigen Gegenwart Gottes, dem »ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind« (2 Petr 3,8 [Ps 90,4]). »Gestern« war Christus, so die allegorische Auslegung des Apostels Paulus, jener Leben spendende Felsen, aus dem die Israeliten bei ihrer Wüstenwanderung tranken (vgl. 1 Kor 10,4); dergestalt war er nicht der Messias, der Menschensohn. Erst später wird den Israeliten, und zwar den Geringsten unter ihnen, nämlich den Hirten auf 55

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freiem Feld, der Engel die frohe Botschaft verkünden: »Fürchtet euch nicht, denn ich verkünde euch eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (Lk 2,11). Nicht gestern ist es geschehen oder vorgestern oder vor ewigen Zeiten, auch nicht morgen oder in einer fernen Zukunft, nein: Heute – ein Heute, das einen Zeitkern enthält; Zeit im Sinne von Kairos, der für den Einbruch der Ewigkeit in die Zeit steht, nicht im Sinne von Chronos, einem Zeitpunkt in einer Kette von Tagen und Jahren, in der Folge der Zeiten, die in Vergessenheit gerieten, hielte sie nicht ein Chronist für die Nachwelt fest. Und markiert auch die Geburt Christi den Kairos schlechthin, so beschränkt sich dieser keineswegs gleichsam auf seinen Geburtstermin, der ohnehin nicht genau bekannt ist. Vielmehr vermerkt der Hebräerbrief (5,5 f.): »So hat auch Christus sich nicht selbst die Würde eines Hohenpriesters verliehen, sondern Der, der zu ihm gesprochen hat: Mein Sohn bist du. Heute habe Ich dich gezeugt [Ps 2,7], wie er auch an anderer Stelle sagt: Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks [Ps 110,4].« Mag die Erwählung des Sohnes zu diesem Amt auch vor aller Zeit geschehen sein, so handelt es sich um keinen Engel, wie Hebr 1,5, Ps 2,7 zitierend, ausführt; vielmehr wird er als Sohn erst mit seinem Eintritt in die Welt offenbar: »Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit [wörtlich: am Ende dieser Tage] aber hat Er zu uns gesprochen durch den Sohn, den Er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den Er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens; er trägt das All durch sein machtvolles Wort, hat die Reinigung von den Sünden bewirkt und sich dann zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt« (Hebr 1,1–3). 56

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Nun könnte man dagegen einwenden, all das geschehe ja allein deswegen, weil Christus der Sohn sei. Gewiss, aber Sohn im Sinne von Hoherpriester und Opferlamm, von Erlöser und kommender Richter war Christus nicht »immer«. Wie Hebr 7,28 unter Verweis auf Ps 2,7 und 110,4 bekräftigt: »Das Gesetz nämlich macht Menschen zu Hohenpriestern, die der Schwachheit unterworfen sind; das Wort des Eides aber, das später [!] als das Gesetz kam, setzt den Sohn ein, der auf ewig vollendet ist.« Seine Inthronisation entspricht der Zeugung des Menschen, des Menschensohnes, die auf das Gesetz hin folgt, wie der Engel Maria verkündet: »Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben. Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden« (Lk 1,30–35). Hier erfolgt die Ankündigung der Zeugung des messianischen Kindes in der Zeit, dessen Geburt das »Heute« (vgl. Lk 2,11) seiner Gegenwart begründet – als Menschensohn, als Messias.

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II. Das Gebet der Urgemeinde um Parrhesia und das Kreuz Christi Obwohl das Fest der Geburt Christi, also das Weihnachtsfest, seit der Neuzeit im Bewusstsein vieler Christen als das wichtigste christliche Hochfest erscheint – bedeutsamer als die Feier des Triduum –, tritt es in den neutestamentlichen Schriften eindeutig hinter das Erlösungswerk Christi zurück; nicht die Krippe, sondern das Kreuz ist der Ort unserer Erlösung. Darauf weist selbst der Evangelist Lukas – neben Matthäus überliefert er allein die Geschichte von der Geburt Jesu, zugleich ist er der Verfasser der Apostelgeschichte –, wenn er etwa nach der Freilassung von Petrus und Johannes das Gebet der Urgemeinde um Parrhesia, um Freimut, überliefert: »Herr, Du hast den Himmel, die Erde und das Meer geschaffen und alles, was dazugehört [Ps 146,6; Ex 20,11]; Du hast durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, durch den Heiligen Geist gesagt: Warum toben die Völker, warum machen die Nationen vergebliche Pläne? Die Könige der Erde stehen auf, und die Herrscher haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Gesalbten [Ps 2,1 f.]. Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, um alles auszuführen, was Deine Hand und Dein Wille im Voraus bestimmt haben. Doch jetzt, Herr, sieh auf ihre Drohungen und gib Deinen Knechten die Kraft, mit allem Freimut, Dein Wort zu verkünden. Streck Deine Hand aus, damit Heilungen und Wunder geschehen 59

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durch den Namen Deines heiligen Knechtes Jesus. Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt, und sie verkündeten freimütig das Wort Gottes« (Apg 4,24– 31). Erst im folgenden Satz ist von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde die Rede; dass sie »ein Herz und eine Seele« war, gleichsam die Frucht dieses Gebetes. Nicht aus eigener Kraft, geschweige denn aus dem Bewusstsein bloßer Solidarität, sondern aus der Erfüllung mit dem Heiligen Geist vermag sie all das durch den Namen Jesu zu wirken, wozu ihr Gott die Kraft schenkt. Und es ist alles andere als ein Zufall, dass diese Kraft vom Kreuz Jesu ausgeht, dem Wahrzeichen des Widerspruchs, der die Stämme Israels mit den Heiden – wie zuvor Herodes mit Pilatus – über alle Gegensätze hinweg verbindet. Und wie die Kirche, geboren in diesem kleinen Raum, eine universale ist, so ist der Widerstand gegen das Kreuz Christi ein universaler, weil die Mächte dieses Äons um ihre Macht fürchten. Denn nicht erst am Ende der Zeiten, sondern – wie wir in den Abhandlungen »Vom Kommen des Reiches Gottes« sowie in »Auferstehung und Vollendung« dargetan haben – vom Kreuz geht die Herrschaft Christi aus: »Jesus aber schwieg. Darauf sagte der Hohepriester zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes? Jesus antwortete: Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mt 26,63 f.; par. Mk 14,61 f.). So heißt es auch treffend in der lateinischen Fassung des Tedeum: »Iudex crederis esse venturus« – »als Richter … bist du im Begriff, zu kommen«; nicht wie in der deutschen Übersetzung: »Als Richter, so glauben wir, kehrst du einst [!] wieder.«

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III. Die Auferstehung des Menschen Jesus Christus als messianische Zeugung Dennoch erweist sich auch diese unsere Erklärung als unzureichend, insofern es um die Deutung von Ps 2,7 im Hinblick auf Christus geht: »Den Beschluss des Herrn will ich kundtun. / Er sprach zu mir: ›Mein Sohn bist du. Heute habe Ich dich gezeugt‹.« Gewiss, es handelt sich, wie oben dargetan (s. S. 27), bei Mt 26,63f. (par. Mk 14,61 f.) um eine Schlüsselstelle zur Bestimmung der messianischen bzw. eschatologischen Herrschaft Christi. Ihr zufolge bildet sein Kreuz gewissermaßen das Bindeglied zwischen seinem ersten und seinem zweiten Kommen. Ebenso bezeichnet es die Differenz zwischen dem alten und dem neuen Äon: Ist Christus noch in den alten Äon hineingeboren, so ist dessen Macht durch sein Kreuz gebrochen: »Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden. Und ich, wenn ich über diese Erde erhöht bin, werde alle zu mir ziehen« (Joh 12,31 f.). Dass damit keineswegs ein Weltfriedensreich einsetzt, zeigen nicht erst die Endzeitreden Jesu, die in den synoptischen Evangelien seiner Passion vorausgehen, oder die sog. Johannesoffenbarung. Schon Ps 2 weist ja auf die Erhebung der Großen und der Könige der Erde gegen den Herrn und seinen Gesalbten. Und im Anschluss an das Wort von der Zeugung des Gesalbten, vom »Heute« seiner Zeugung, ist ihm die Verheißung Gottes gegeben: »Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum. Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern« (Ps 2,8 f.). Das ist nun nicht dem Christuskind einfach in die Wiege gelegt bzw. dem Menschensohn gesagt, der am Kreuz erhöht worden 61

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ist. Offensichtlich weist die Zeugung des Gesalbten über die Geburt und das Kreuz Jesu hinaus – auf seine Auferstehung. So wenigstens deutet der Apostel Paulus den Psalmvers 2,7 in seiner Ansprache in der Synagoge von Antiochia während seiner ersten Missionsreise, in der er zunächst auf Gottes Wirken in Israel eingeht, auf die Erwählung Davids, aus dessen Geschlecht habe Er »dem Volk Israel, der Verheißung gemäß, Jesus als Retter geschickt« (Apg 13,23). Nach einem Hinweis auf Johannes den Täufer als Vorboten Jesu fährt Paulus fort: »Brüder, ihr Söhne aus Abrahams Geschlecht und ihr Gottesfürchtigen! Uns wurde dieses Wort des Heils gesandt. Denn die Einwohner von Jerusalem und ihre Führer haben Jesus nicht erkannt, aber sie haben die Worte der Propheten, die an jedem Sabbat vorgelesen werden, erfüllt und haben ihn verurteilt. Obwohl sie nichts fanden, wofür er den Tod verdient hätte, forderten sie von Pilatus seine Hinrichtung. Als sie alles vollbracht hatten, was in der Schrift über ihn gesagt ist, nahmen sie ihn vom Kreuzesholz und legten ihn ins Grab. Gott aber hat ihn auferweckt, und er ist viele Tage hindurch denen erschienen, die mit ihm zusammen von Galiläa nach Jerusalem hinaufgezogen waren und die jetzt vor dem Volk seine Zeugen sind« (Apg 13,26–31). So weit der Bericht über die Passion, den Tod und die Auferstehung Jesu, der sich mit der Überlieferung der Evangelien deckt. Doch dann erscheint die Auferstehung Jesu unter dem Zitat von Ps 2,7 in einem besonderen Licht: »So verkünden wir euch das Evangelium: Gott hat die Verheißung, die an die Väter ergangen ist, an uns, ihren Kindern, erfüllt, indem Er Jesus auferweckt hat, wie es schon im zweiten Psalm heißt: Mein Sohn bist du, heute habe Ich dich gezeugt« (Apg 13,32 f.). Man mag die Zeugung des Sohnes auf die ewige Zeugung aus Gott, dem Vater, vor aller Zeit beziehen; oder aber auf die Zeugung durch Gottes Heili62

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gen Geist, durch die Christus in der Zeit aus Maria Fleisch angenommen hat. Im Hinblick auf seine Auferstehung von Zeugung zu sprechen, erscheint indessen recht kühn, da er doch zuvor gelebt und gewirkt hat – ob als das ewige Wort des Vaters [vgl. Joh 1,3: »Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.«] oder ob er in seinem Menschenleben das Werk der Erlösung bis hin zu seinem Tod am Kreuz vollzogen hat, wie Paulus es ja zuvor ausführt. Wenn schon mit Blick auf einen sterblichen Menschen die Auferstehung als ein Wendepunkt zum ewigen Leben hin angesehen werden könnte – wie aber dann für das ewige Wort Gottes, von dem es heißt: »In Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen« (Joh 1,4)? Nun ist die Geburt Jesu die Geburt eines Menschen, und sein Tod ist der Tod eines Menschen, dem Wesen nach wohl Gott (vgl. Phil 2,6), doch als Erlöser Mensch. »Denn: Einer ist Gott, / Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus, / der sich als Lösegeld hingegeben hat für alle, / ein Zeugnis zur vorherbestimmten Zeit, / als dessen Verkünder und Apostel ich eingesetzt wurde – ich sage die Wahrheit und lüge nicht –, als Lehrer der Heiden im Glauben und in der Wahrheit« (1 Tim 2,5–7). Der Nachdruck, mit dem Paulus seine eigene apostolische Sendung mit der messianischen Jesu, des Menschen Christus Jesus, verbindet, unterstreicht, dass dessen Menschwerdung nicht etwa im Sinne hellenistischer Vorstellung nach einer Art Zeitreise einem kurzen Intermezzo auf Erden gleicht, um nach seiner Auferstehung wieder in die Natur des göttlichen Logos zurückzukehren. Ebenso wenig bedeutet seine Hingabe am Kreuz – nach gnostischem Verständnis – eine Erlösung vom Fleisch, sondern eine Erlösung des Fleisches. Nicht umsonst gilt Christus »von den Toten auferweckt (…) als der Erste der Entschlafenen« (vgl. 1 Kor 15,20) bzw. als 63

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»der Ursprung, der Erstgeborene der Toten« (Kol 1,18). Daher überrascht es nicht, wenn Paulus im Anschluss an das Wort von der Zeugung konstatiert: »Dass Gott ihn aber von den Toten auferweckt hat, um ihn nicht mehr zur Verwesung zurückkehren zu lassen, hat Er so ausgedrückt: Ich will euch die Heilsgaben gewähren, die Ich David fest zugesagt habe« [Jes 55,3 G]. Darum sagt Er auch an einer anderen Stelle: Du lässt deinen Frommen nicht die Verwesung schauen [Ps 16,10]. David aber ist, nachdem er seinen Zeitgenossen gedient hatte, nach Gottes Willen entschlafen und mit seinen Vätern vereint worden. Er hat die Verwesung gesehen; der aber, den Gott auferweckte, hat die Verwesung nicht gesehen. Ihr sollt aber wissen, meine Brüder: Durch diesen wird euch die Vergebung der Sünden verkündet, und in allem, worin euch das Gesetz des Mose nicht gerecht machen konnte, wird jeder, der glaubt, durch ihn gerecht gemacht. Gebt also acht, dass nicht eintrifft, was bei dem Propheten gesagt ist: Schaut hin, ihr Verächter, staunt und erstarrt! Denn Ich vollbringe in euren Tagen eine Tat – würde man euch von dieser Tat erzählen, ihr glaubtet es nicht [Hab 1,5]« (Apg 13,34–41). Mochte Paulus dieses Wort des Propheten Habakuk hier an die Söhne Abrahams und an die Gottesfürchtigen von Antiochia richten, der Unglaube dürfte in unseren Tagen nicht geringer sein, wie die einleitenden Ausführungen zu Nietzsche und Heidegger zeigen. Eine eigenartige Aura umgibt die Toten, denen Heidegger im dritten Band seiner Schwarzen Hefte seine Reverenz erweist, wo er unter Überlegungen XV vermerkt: »Die verwandelte Gegenwart, in der die Gefallenen aus der besten Jugend stehen, hat ihren eigenen Glanz. Sein Leuchten muß der künftigen Jugend erhalten bleiben. Das ist noch unser einziger Dienst« (GA 96, 273). An Trostlosigkeit kaum zu überbieten, dieser »Dienst«, nicht nur im Vergleich mit dem 64

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Dienst am Evangelium des Apostels Paulus und seines Schülers Timotheus, wenn wir bedenken, dass jene Zeilen aus dem dritten Kriegsjahr des Zweiten Weltkrieges stammen; dass zu den Gefallenen des Ersten Weltkrieges sich Millionen von Kriegstoten hinzugesellen werden. Nicht nur dass die »Gefallenen aus der besten Jugend« ihrer Zukunft in diesem Leben beraubt wurden, sondern dass ihnen von einem Denken der Todesverherrlichung, das obendrein, wie noch zu zeigen sein wird, dem Vergessen huldigt, jede Hoffnung auf ein anderes Leben verstellt wird. Es gefällt sich im melancholischen Rückblick auf eine Heimat, die jene nicht mehr erblicken werden: »Vielleicht ist jedes Mal in dem Abschied der vielen geopferten Bauernsöhne die Heimat reiner und unvergänglicher aufbewahrt und ihrer Bestimmung zugekehrt als in unseren Bemühungen, die oft am Vergänglichen haften bleiben« (ebd. 275). Um nicht zu sagen: die nie über das Vergängliche hinausführen, dessen Lobpreis schon Nietzsches Zarathustra anstimmt: »Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!« (VI.1, 106). Wie absurd eine derartige Rechtfertigung ausfällt, lässt sich den eingangs zitierten Ausführungen Heideggers zum Begriff der Zeit entnehmen, wonach die Individuation das Eigentümliche habe, dass sie es nicht zu einer Individuation kommen lasse »im Sinne der phantastischen Herausbildung von Ausnahmeexistenzen; sie schlägt alles Sich-heraus-nehmen nieder. Sie individuiert so, daß sie alle gleich macht. Im Zusammenhang mit dem Tode wird jeder in das Wie gebracht, das jeder gleichmäßig sein kann; in eine Möglichkeit, bezüglich der keiner ausgezeichnet ist; in das Wie, in dem alles Was zerstäubt.« Nicht nur zynisch und perfide wirkt diese Bestimmung von »Individuation« angesichts eines millionenfachen Todes zumal in jenen Jahren; wie grotesk Heideggers Gedankenführung ist, erweist 65

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sich, wenn er zwei Seiten zuvor unverblümt konstatiert: »Vergangenheit bleibt so lange einer Gegenwart verschlossen, als diese, das Dasein, nicht selbst geschichtlich ist. Im Zukünftigsein ist das Dasein seine Vergangenheit; es kommt darauf zurück im Wie. Die Weise des Zurückkommens ist unter anderem [!] das Gewissen. Nur das Wie ist wiederholbar [Hervorh. K. A.]. Vergangenheit – als eigentliche Geschichtlichkeit erfahren – ist alles andere denn als Vorbei. Sie ist etwas, worauf ich immer wieder zurückkommen kann« (Der Begriff der Zeit, 25). Just das Wie soll wiederholbar sein, in dem alles Was zerstäubt! – Man muss sich diesen ausgemachten Unsinn einmal vergegenwärtigen, auf den so mancher Geistesmensch, nicht zuletzt nicht wenige Theologen, hereingefallen sind. Denn in der Tat ist jenes Wie geradezu endlos wiederholbar auf den Schlachtfeldern und in den Schlachthäusern der Geschichte. Die Auslöschung von Unzähligen zu rechtfertigen und der Toten gedenken zu wollen [»etwas, worauf ich immer wieder zurückkommen kann«], das ist ein intellektuelles Halunkenstück, das in nichts den Gedenkkulten der Massenmörder nachsteht, die sich darin selbst zelebrieren. Hier zeigt sich nicht allein die Aktualität der messianischen Inthronisation Jesu Christi nach Ps 2,7, sondern nicht weniger die Folgerung daraus nach Ps 2,8 f.: Fordere von mir, und Ich gebe dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum. Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern. Daran ist eine messianische, sprich: christliche Theologie zu messen; nicht an faulen Annäherungen an eine Rechtfertigung des Todes. Nur sei angemerkt: Wir haben es be66

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wusst vermieden, die Moderne pauschal mit der »Kultur des Todes« (Papst Johannes Paul II.) zu identifizieren, die sich von Nietzsche her über Heidegger in unserem Kulturraum immer mehr die Bahn bricht. Denn sind in der ästhetischen Moderne auch Tod und Verwesung allgegenwärtig, so behält der Tod nicht das letzte Wort – so in der Bilderwelt Paul Klees, in der das Leiden der Menschen im Licht der Erlösung aufscheint, in vielfältigen Transfigurationen, wie sie vielleicht nur große Musik kennt. Ebenso wenig in der Bilderwelt des zeitgenössischen tschechischen Malers Miloslav Čelakovsk´ y, in der Friedhofskreuze im Herbstwind oder abgeerntete dunkle Felder nicht am Boden zu haften scheinen, sondern in einem Zustand der Elevation in die Höhe schweben, ganz wie es der junge Kafka in einem Brief aus seinem ländlichen Urlaubsort Liboch vom Spätsommer 1902 an Oskar Pollak beschreibt: »Oder wo ich durch die Felder gehe, die jetzt ganz braun und wehmütig dastehen mit den verlassenen Pflügen und die doch ganz silbrig aufleuchten, wenn dann trotz allem die späte Sonne kommt und meinen langen Schatten (ja meinen langen Schatten, vielleicht komm ich durch ihn noch ins Himmelreich) auf die Furchen wirft. Hast Du schon gemerkt, wie sich die Erde entgegenhebt der fressenden Kuh, wie zutraulich sie sich entgegenhebt? Hast Du schon gemerkt, wie schwere fette Ackererde unter den allzu feinen Fingern zerbröckelt, wie feierlich sie zerbröckelt?« (Kafka, Briefe 1900–1912, 16). Mehr als in chemischen Analysen, in irgendwelchen touristischen Attraktionen, aber auch in philosophischen »Überlegungen«, die über einen melancholischen Rückblick in die Vergangenheit nicht hinausführen, leuchtet in solchen Beobachtungen der Glanz des Unsichtbaren im Sichtbaren auf, ganz im Sinne des Wortes von Paul Klee, Kunst gebe das Sichtbare nicht wieder, sondern mache sichtbar – das Verborgene, ließe sich ergänzen. 67

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IV. Auferstehung als Akt messianischer Inthronisation Man mag in jenen Beobachtungen oder Bildern lediglich Momentaufnahmen eines Zustands erblicken, die über unsere Welt hinausweisen, wie die Verklärung Christi auf dem Berg Tabor gewissermaßen eine Momentaufnahme jener Herrlichkeit darstellt, die von Kreuz und Auferstehung ausstrahlt. Doch weder eine biologische Erklärung noch eine historische Rekonstruktion oder philosophische Spekulation führt einen Schritt weiter. Jemand mag an der wunderbaren Geburt Jesu aus Maria der Jungfrau zweifeln, doch bis heute gibt es keine biologische Erklärung für die Jungfernzeugung des Hammerhais, immerhin eines der größten Meeressäugetiere; und fände sich eines Tages eine, so gewiss nicht für das Wirken Gottes, für Den nichts unmöglich ist (vgl. Lk 1,37; Gen 18,14). Auch ist die Zeugung, von der der Apostel Paulus mit Blick auf Ps 2,7 spricht, keine biologische, ebenso wenig wie die des Logos vor aller Zeit. Vielmehr zeugt sie von der Auseinandersetzung, ja von der Abrechnung Gottes mit den Herrschern dieses Äons: »Dann aber spricht Er zu ihnen im Zorn, / in seinem Grimm wird Er sie erschrecken: / ›Ich selber habe meinen König / eingesetzt auf Zion, meinem heiligen Berg‹« (Ps 2,5 f.). Die Inthronisation des messianischen Königs auf dem Zion entspricht einer Antwort Gottes auf die Anmaßung der Könige und Großen dieser Welt, sich von Gott und seinem Gesalbten loszusagen, um ihre eigene Macht ungehemmt zur Geltung zu bringen. Der Zion steht für die Gegenwart Gottes in seinem heiligen Tempel, dessen Zerstörung Jesus zu Beginn seiner Endzeitreden ankündigt (vgl. Mt 24,1 f.; Mk 13,1 f.; Lk 21,5 f.), wie er auch nach seiner Vertreibung der Händler aus dem Tempel seinen Gegnern gegenüber 69

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»als Beweis« für die Legitimität seines Vorgehens anführt: »Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten« (Joh 2,19). Passion und Tod Jesu, das »Niederreißen« seines Leibes geht der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ebenso voraus wie seine Auferstehung – die Zeugung seiner messianischen Herrschaft. Wenn also der Apostel Paulus mit Blick auf Ps 2,7 die Auferstehung Jesu als die Erfüllung der Verheißung Gottes, die an die »Väter« ergangen ist, »an uns, ihren Kindern« (vgl. Apg 13,33), begreift, dann gibt er eine Antwort auf die Frage nach dem Messias, die Jesus selbst gestellt hat: »Danach fragte Jesus die Pharisäer, die bei ihm versammelt waren: Was denkt ihr über den Messias? Wessen Sohn ist er? Sie antworteten ihm: Der Sohn Davids. Er sagte zu ihnen: Wie kann ihn dann David, vom Geist [Gottes] erleuchtet, ›Herr‹ nennen? Denn er sagt: Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten, und ich lege dir deine Feinde unter die Füße [Ps 110,1]. Wenn ihn also David ›Herr‹ nennt, wie kann er dann Davids Sohn sein? Niemand konnte ihm darauf etwas erwidern, und von diesem Tag an wagte keiner mehr, ihm eine Frage zu stellen« (Mt 22,41–46; par Mk 12,35–37a; Lk 20,41–44). Als Sohn Davids weist ihn die an David ergangene Verheißung aus; so schließt der Stammbaum Jesu mit der Feststellung: »Im Ganzen sind es also von Abraham bis David vierzehn Generationen, von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft vierzehn Generationen und von der Babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus vierzehn Generationen« (Mt 1,17). Insofern die Zahl 14 dem Zahlenwert des Davidsnamens entspricht (D W D = 4–6–4), ist Jesus »der dreimalige David, der vollmächtige messianische Davids-König« (vgl. H. A. Hutmacher, Symbolik der biblischen Zahlen und Zeiten, 183 f.). Obschon der leiblichen Herkunft nach Sohn Davids, ist Christus seinem göttlichen Ursprung nach der »Herr«. Gleichwohl ist in seinem 70

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Wirken auf Erden, mochten ihn auch die Hilfsbedürftigen »Sohn Davids« nennen, nicht allein den Pharisäern und Schriftgelehrten seine Messianität verborgen geblieben; selbst seinen Jüngern befahl er nach dem Messiasbekenntnis des Petrus, »niemand zu sagen, dass er der Messias sei« (Mt 16,20). Abgesehen davon, dass er sich der Samariterin zum Abschluss des Gespräches am Jakobsbrunnen als Messias zu erkennen gibt (vgl. Joh 4,26), bekennt ihn als solchen Marta vor der Auferweckung ihres Bruders Lazarus (vgl. Joh 11,27); desgleichen heißt es im sog. Epilog zum Johannesevangelium zu den Wundern des Auferstandenen vor den Augen seiner Jünger, sie seien »aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen« (Joh 20,31). Bezeichnenderweise erfolgt diese Feststellung gleichsam post mortem; denn zu Lebzeiten manifestiert sich das messianische Wirken Jesu in seiner Verkündigung und Lehre, seinen Heilungen und Wundern, ohne dass in ihm der Messias erkannt worden wäre. Wie auch er selbst vom Menschensohn anstatt vom Messias spricht, wobei bis zuletzt, bis zu seiner letzten öffentlichen Rede die Frage im Raum steht: »Wer ist dieser Menschensohn?« (Joh 12,34b). Die Antwort darauf gibt nicht Jesus zu seinen Lebzeiten selbst, sondern der Gesalbte nach Ps 2,7 auf seine Inthronisation als König hin: »Den Beschluss des Herrn will ich kundtun. / Er sprach zu mir: ›Mein Sohn bist du. Heute habe Ich dich gezeugt‹.« Undenkbar, dass diesen Beschluss der kleine König in der Krippe kundtun könnte; eine entsprechende Proklamation erübrigt sich für den Logos, der vor aller Zeit aus dem Vater hervorging: Er ist das Wort Gottes. Hier aber lässt der Psalmist den Sohn den Beschluss des Herrn aussprechen, und zwar im Heute, das nach dem Apostel Paulus die Auferstehung bezeichnet: die Zeugung des Gesalbten, des Christus, des 71

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Herrn über die Herrscher der Völker. Daher der Nachsatz, in dem der Messias die Worte des Herrn wiederholt: »Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum. Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern.« Diese Worte lassen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Obwohl es sich um Worte des Vaters handelt, die der Sohn wiederholt, gibt er damit nicht einen Eid gleichsam unter vier Augen wieder, sondern einen Beschluss, also eine öffentliche Verlautbarung, die sich an die Könige der Erde und die Großen richtet, wie es ja auch vorab heißt, Er, der Vater, spreche zu ihnen im Zorn, im Grimm werde Er sie erschrecken. Die Inthronisation des Sohnes zum König der Welt kommt also einer Kriegserklärung gleich, die sich gegen die »gegen den Herrn und seinen Gesalbten« verbündeten Mächte dieses Äons richtet, welche sich brüsten: »Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke!« (Ps 2,3). Anders als bei seinem ersten Kommen als Kind, das mit seinen Eltern vor dem wütenden König Herodes nach Ägypten fliehen muss, ist der Sohn im Zeichen seiner Auferstehung König, Herrscher über die Welt. Nicht umsonst heißt es in der brieflichen Einleitung zur sog. Johannesoffenbarung von Jesus Christus [zunächst unter Verweis auf Ps 89,38.28]: »Er ist der treue Zeuge, der Erstgeborene der Toten, der Herrscher über die Könige der Erde. Er liebt uns und hat uns von unseren Sünden erlöst durch sein Blut; er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater. Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit. Amen« (Offb 1,5 f.). Seine Benediktion unterstreicht, dass der Erlöser Jesus Christus mit dem Auferstandenen identisch ist. Was aber der Psalmist nach Ps 89,28–30 über David sagt, dessen Haus Gott jedoch verworfen hat (vgl. Ps 89,39–52), das deutet Johan72

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nes hier auf Christus: »Ich mache ihn zum erstgeborenen Sohn, zum Höchsten unter den Herrschern der Erde. Auf ewig werde Ich ihm meine Huld bewahren, mein Bund mit ihm bleibt allzeit bestehen. Sein Geschlecht lasse Ich dauern für immer, und seinen Thron, solange der Himmel währt.« Nichts anderes bekundet auch Paulus von Christus, dessen Herrschaft von Kreuz und Auferstehung aus ihren Anfang nimmt. Denn wie er als Erlöser am Kreuz stirbt, wird er gezeugt durch seine Auferstehung als »der Erstgeborene der Toten« (Kol 1,18) bzw. als »der Erste der Entschlafenen« (vgl. 1 Kor 15,20), den Gott »über alle erhöht [hat], / und ihm den Namen verliehen, / der größer ist als alle Namen« (vgl. Phil 2,9). Daher ergeht an sie am Schluss von Ps 2 (10–12) die Warnung: »Nun denn, ihr Könige, kommt zur Einsicht, / lasst euch warnen, ihr Gebieter der Erde! / Dient dem Herrn mit Furcht, / und küsst Ihm mit Beben die Füße, / damit Er nicht zürnt und euer Weg nicht in den Abgrund führt. / Denn nur wenig, und sein Zorn ist entbrannt. / Wohl allen, die Ihm vertrauen!«

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V. Messianische Herrschaft und Gottes Wirken in der Geschichte Jene Warnung dürften sich im Laufe der Geschichte nicht wenige Potentaten zu Herzen genommen haben, selbst wenn es die Geschichtsbücher nicht ausdrücklich verzeichnen. Dennoch haben sich bis auf den heutigen Tag viele Machthaber »gegen den Herrn und seinen Gesalbten« erhoben, um »ihre Fesseln zu zerreißen«, da sie kein Gesetz über sich anerkennen als das Gesetz ihrer Macht, des Willens zur Macht, dem Gottes Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit im Wege stehen. Dass das Böse seine Zeit hat, ja, dass die Bösen Geschichte schreiben, ist unbestritten. Nur sollte niemand meinen, Gott – insofern man überhaupt noch an Ihn glaubt – und Sein Gesalbter habe sich aus den Niederungen der Geschichte in eine selige Ferne zurückgezogen. Nicht nur für biblische Zeiten gilt der Schlussvers von Ps 76: »Er nimmt den Fürsten den Mut, / furchterregend ist Er für die Könige der Erde.« Dergleichen das von Paulus zitierte Wort des Propheten Habakuk: »Schaut hin, ihr Verächter, staunt und erstarrt! Denn ich vollbringe in euren Tagen eine Tat – würde man von dieser Tat erzählen, ihr glaubtet es nicht« (Apg 13,41; Hab 1,5). Mag Paulus dieses Wort auch zunächst auf die Auferstehung Jesu Christi beziehen, so wird mit dessen Inthronisation das Ende aller Mächte eingeläutet, die sich gegen sein Königtum erheben. Zunächst das des Römischen Reiches, das über Israels Grenzen hinaus von Nero bis Diokletian die erste große Christenverfolgung kannte; seine Größe, der viele nachtrauerten, ist buchstäblich Geschichte geworden. Von den Monstren unseres Zeitalters gar nicht zu reden. Das Tausendjährige Reich währte zwölf Jahre. Das Sowjet-Imperium sechsmal zwölf, also 72 Jah75

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re. Die Kolonialreiche sind verschwunden, sosehr sie auch einst expandierten. Und was die Großen der Geschichte angeht, selbst wenn sie als Lieblinge der Nachwelt in die Geschichte eingingen, ja wie ein Friedrich der Große das »Große« in ihrem Namen tragen, so verdankt Letzterer seine Größe nicht zuletzt dem Blut seiner Untertanen: Kostete doch etwa der Siebenjährige Krieg (1756–1763) allein 260 000 preußischen Soldaten das Leben; nicht gerade wenig, wenn man bedenkt, dass Preußen damals gerade drei Millionen Einwohner zählte. Nicht umsonst zog sich einst König David auf dem Gipfel seiner Macht den Zorn Gottes wegen einer Volkszählung zu (vgl. 2 Sam 24,1–25; 1 Chr 21,1–30), um auf diese Weise die Zahl der wehrfähigen Männer in Israel und Juda zu erfassen. Selbst seinen Heerführer Joab – ansonsten schnell bei der Hand, Blut zu vergießen – überkommen Skrupel; er »sagte zum König: Der Herr, dein Gott, möge das Volk vermehren, hundertmal mehr, als es jetzt ist, und mein Herr, der König, möge es mit eigenen Augen sehen. Warum aber hat mein Herr, der König, Gefallen an einer solchen Sache?« (2 Sam 24,3). Ebendieser Frage haben sich viele Könige und Heerführer nicht gestellt, um nicht innezuwerden, geschweige zu offenbaren, dass ihr Ruhm, ihre Größe durch das Blut von Unzähligen erkauft ist. Ja, sie bräuchten sich dieser Frage gar nicht zu stellen, ließen sie sich von einer der Geistesgrößen unseres aufgeklärten Zeitalters gesagt sein: »Was zur Grösse gehört. – Wer wird etwas Grosses erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich fühlt, grosse Schmerzen zuzufügen? Das Leidenkönnen ist das Wenigste: darin bringen es schwache Frauen und selbst Sclaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehen, wenn man grosses Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört – das ist gross, das gehört zur Grösse« (F. Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft § 325: KGW V.2, 233). 76

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Sätze, die sich selbst kommentieren angesichts ihrer vollen Bestätigung nicht zuletzt im darauffolgenden Jahrhundert. Die zudem bestätigen, was der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief vermerkt: »Keiner täusche sich selbst. Wenn einer unter euch meint, er sei weise in dieser Welt, dann werde er töricht, um weise zu werden. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott. In der Schrift steht nämlich: Er fängt die Weisen in ihrer eigenen List [Ijob 5,13]. Und an einer anderen Stelle: Der Herr kennt die Gedanken der Weisen; er weiß, sie sind nichtig [Ps 94,11 G]« (1 Kor 3,18–20). Ihre Nichtigkeit zeigt sich darin, dass kaum ein Mensch die Tragweite seiner Gedanken abzuschätzen vermag. Weitaus schlimmer, als argumentativ widerlegt zu werden, erweist es sich, wenn er Recht behält, wie ein Nietzsche mit seiner Verherrlichung geschichtlicher Größe Recht behalten sollte. Da nutzt es ja nichts mehr, wenn er am Ende seines geistigen Schaffens, den heraufziehenden Weltkrieg vor Augen, dem Hause Hohenzollern den Todkrieg erklärt (vgl. KGW VIII.3, 457 f.) oder wenn seine »Letzte Erwägung« darum kreist, wie »wir der Kriege entrathen« (vgl. ebd., 460). Obschon Nietzsche in der Zwischenrede (§ 286) der Fröhlichen Wissenschaft bekennt: »Ich kann nur erinnern – mehr kann ich nicht!« (KGW V.2, 208), so scheint sein Gedächtnis nicht gerade das beste zu sein; immerhin hatte er noch wenige Jahre zuvor – in einem nachgelassenen Fragment von Sommer–Herbst 1884 – ausdrücklich erklärt: »Ich freue mich der militärischen Entwicklung Europa’s, auch der inneren anarchistischen Zustände: die Zeit der Ruhe und des Christenthums, welche Galiani für dieses Jahrhundert voraussagte, ist vorbei. Persönliche männliche Tüchtigkeit, Leibes-Tüchtigkeit bekommt wieder Werth, die Schätzungen werden physischer, die Ernährung fleischlicher. Schöne Männer werden wieder möglich. Die blasse Duckmäuserei (mit Mandarinen an der Spitze, wie Comte 77

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es träumte) ist vorbei. Der Barbar ist in Jedem von uns bejaht, auch das wilde Thier. Gerade deshalb wird es mehr werden mit den Philosophen. – Kant ist eine Vogelscheuche, irgendwann einmal!« (KGW VII.2, 261). Nun, diejenigen, die Nietzsches Worte in die Tat umsetzen sollten, ließen in der Tat nicht lange auf sich warten, um jene »Grösse« zu erlangen und den Barbaren in uns zu bejahen, bald nachdem das Haus Hohenzollern in die Annalen der Geschichte eingegangen ist. Von hier aus versteht sich, warum »Er, der im Himmel thront, lacht, der Herr verspottet sie« (Ps 2,4). Der Zynismus der Macht fällt auf die Mächtigen zurück; sie erweisen sich als Spottgeburten gleich den Weltweisen, die mit gutem Gewissen das Gewissen leugnen und glauben, durch starke Sprüche Gott zum Narren halten zu können. Bildet doch einen Wesenszug unseres Zeitalters das Nichternstnehmen Gottes. Mehr denn je gilt daher, was der Apostel Paulus an anderer Stelle vermerkt: »Täuscht euch nicht: Gott lässt keinen Spott mit sich treiben; was der Mensch sät, das wird er auch ernten« (Gal 6,7). Nichts verhängnisvoller, als wenn der Mensch sich selbst überlassen bleibt, sein Weg unausweichlich »in den Abgrund führt« (vgl. Ps 2,12). Dessen ist sich Nietzsche durchaus bewusst gewesen, insofern er in einem nachgelassenen Fragment aus dem Winterhalbjahr 1882/83 bekennt: »Meine stärkste Eigenschaft ist die Selbstüberwindung. Aber ich habe sie auch am meisten nöthig – ich bin immer am Abgrunde« (KGW VII.1, 114). Und mag man auch mit einem anderen Weltweisen dessen Silben unterschiedlich akzentuieren: »Der Ab-grund ist Ab-grund« (vgl. Heidegger, GA 65, 379) – dessen Leere füllt sich nicht, es sei denn mit den Toten, die dem »Spiel des Abgründigen« (vgl. ebd. 474) verfallen sind. Eine Ahnung davon gewährt Hölderlins hymnischer Entwurf Vom Abgrund nämlich … (vgl. Sämtliche Werke, Bd. 2, 259 f.), der beginnt: 78

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Vom Abgrund nämlich haben Wir angefangen und gegangen Dem Leuen gleich, in Zweifel und Ärgernis, um jäh abzubrechen mit den Worten: Ihr Blüten von Deutschland, o mein Herz wird Untrügbarer Kristall, an dem Das Licht sich prüfet, wenn wenDeutschland Der Name »Deutschland« scheint buchstäblich in der Luft zu hängen oder besser: über dem Abgrund zu schweben, der sich mit seiner historischen Größe öffnen sollte. In ihn sollte das Land tiefer und tiefer fallen, um am Ende des Zweiten Weltkriegs physisch wie moralisch auf dem Boden aufzuschlagen. Die Frage, wie es dazu kommen konnte im Lande der Dichter und Denker, ist immer wieder aufgeworfen worden. Mehr noch verkörpert seine geistige Größe die Musik. Wir können jener Frage hier nicht weiter nachgehen. Doch allein der Einblick in das Werk Nietzsches wie Heideggers mag genügen, um die Verherrlichung des Todes zu erkennen, den antichristlichen Grundzug des deutschen Geistes, wie ihn Nietzsche unumwunden in einer späten Hommage an Richard Wagner, in einer Notiz vom Herbst 1887, einbekennt: »das was ich an W〈agner schätzte〉 war das gute Stück Antichrist, das er mit seiner Kunst und Art vertrat (oh so klug! – / ich bin der Enttäuschteste aller Wagnerianer; denn in dem Augenblick, wo es anständiger als je war, Heide zu sein, wurde er Christ ... Wir Deutschen, gesetzt daß wir uns je in ernsten Dingen ernst genommen haben, sind ja deutsche Atheisten und Spötter allesamt: W〈agner〉 war es auch« (KGW VIII.2, 34). Der Abfall vom Abfall ist es, den der Bewunderer dem Bewunderten verübelt. Sich eine eigene Kultur zu schaffen, die sich von den christlichen Wurzeln lossagt, ja, sich ei79

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nen eigenen Gott zu schaffen, der nichts mit dem christlichen gemein hat: »DER LETZTE GOTT«, so ist das vorletzte Kapitel von Heideggers Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) überschrieben; und um Missverständnisse vorab auszuräumen, darunter das Epitheton: »Der ganz Andere gegen / die Gewesenen, zumal gegen / den christlichen.« – Hierin liegt das Werk des Antichristen in einem ganz unmetaphorischen Sinne, weil die Geschichte nicht mehr im Lichte der Erlösung und Vollendung gesehen wird, sondern im Zeichen des Selbstuntergangs, in den Heideggers letzter Gott vorausgeht. Nach wie vor erweist sich als höchst aktuell, was Benjamin am Ende seiner These VIII Über den Begriff der Geschichte vermerkt – es handelt sich um sein philosophisches Vermächtnis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, also vor Auschwitz abgefasst: »Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist« (GS I.2, 697). Es handelt sich um eine rein kulturhistorische Betrachtung idealistischer Natur, auch wenn allgemein zwischen Kulturgeschichte und Realbzw. Weltgeschichte unterschieden wird. So sieht man bei einer kulturgeschichtlichen schon einmal augenzwinkernd oder stirnrunzelnd hinweg, wenn einer Gewalt und Tod verherrlicht; allein antisemitische Äußerungen brechen den allgemeinen Konsens, rufen – wie jüngst Heideggers Schwarze Hefte – Empörung hervor. – Doch letzthin ist auch die Sichtweise der Realgeschichte eine kulturhistorische, wenn etwa die NS-Herrschaft barbarisch genannt wird. In Wahrheit handelt es sich hierbei um einen Euphemismus, denn Barbaren wie Hunnen oder Mongolen mochten durchaus grausam verfahren, doch besaßen sie gleichwohl ein Ethos. Ein Ethos kannten 80

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aber die Nationalsozialisten nicht, weil sie jeglichen moralischen Wertmaßstab, ja auch nur den Anhauch von Menschlichkeit von Anfang an leugneten, sondern bis in den Untergang hinein auf gnadenlose Vernichtung und Selbstvernichtung aus waren. Mit einem Wort: Was hier geschehen ist, entzieht sich jeder menschlichen Bestimmung, sondern ist durch und durch – teuflisch. Einer Geschichtsauffassung, die nicht nur wie später Nietzsche, sondern wie bereits Hegel in seiner Philosophie der Geschichte ausschließlich das weltgeschichtlich Große – sei es in der Gestalt Friedrichs des Großen oder Napoleons – verherrlicht, entzieht sich die Einsicht in die infernale Perspektive der Geschichte, letzthin in ihre messianische und eschatologische Dimension, wie sie aus dem Alten wie Neuen Testament gar nicht fortzudenken ist. Hegel hingegen »gilt die Eschatologie als Paradigma des Scheiterns der Religion« (vgl. W. Jaeschke, Vernunft in der Religion, 197); die Geschichte reduziert sich auf bloße Weltgeschichte oder wie es in der Religionsphilosophie heißt: »Alles wird zur Vergangenheit; wie eine Sandwüste erscheint das endliche Leben; sie ist das Bewußtsein der Freiheit und Wahrheit« (V 3, 61 f.). Einer – bei allem Freiheits- und Fortschrittspathos – recht trostlosen Wahrheit, da das Bild der Leere überspielt wird vom Gedanken, sich über die Geschichte wie über die Weite der Vergangenheit erheben zu können. Mit Nietzsches »Rechtfertigung aller Vergänglichkeit« und Heideggers Verherrlichung des Todes ist er zu Ende gedacht worden. Anderen war es und ist es – wie derzeit in den Krisen- und Kriegsregionen des Nahen und Mittleren Ostens – vorbehalten, das endliche Leben in eine Sandwüste zu verwandeln bzw. dem Erdboden gleichzumachen. Von einem Scheitern der Religion ist in diesem Zusammenhang nur insofern zu sprechen, als sich die christliche Theologie weithin jener idealistischen Geschichtsdeutung anbequemt hat. Mehr denn je gilt es 81

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heutzutage, die recht unvermittelte Aussage Benjamins in These VI Über den Begriff der Geschichte zu realisieren: »In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist« (GS I.2, 695). Erlösung und Vollendung aber gehören in der christlichen Überlieferung aufs Engste zusammen; Christologie und Eschatologie sind in keiner Weise wie bei Hegel zu trennen, weil es keine wirkliche Erlösung ohne messianische Vollendung gibt. Ist doch Christus gleich Gott, dem Vater, im Kommen begriffen [… esse venturus]. Denn was leicht übersehen bzw. überlesen wird, etwa beim Abschluss der brieflichen Einleitung der sog. Johannesoffenbarung, wo es nach der oben zitierten Benediktion unter Anlehnung an Dan 7,13 sowie Sach 12,10 zunächst heißt: »Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch alle, die ihn durchbohrt haben; und alle Völker der Erde werden seinetwegen jammern und klagen. Ja, amen« (Offb 1,7); ja, was leicht übersehen wird, ist der Sachverhalt, dass hier zwar von Christus die Rede ist, jedoch nicht im Satz darauf, wo Gott, der Vater, bekundet: »Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott [!], der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung« (Offb 1,8). Er ist auch gemäß Offb 1,1 der Ursprung der Offenbarung – nicht Christus, geschweige denn Johannes: »Offenbarung Jesu Christi, die Gott [!] ihm gegeben hat, damit er seinen Knechten zeigt, was bald geschehen muss; und er hat es durch seinen Engel, den er sandte, seinem Knecht Johannes gezeigt« (Offb 1,1). Christus als »der treue Zeuge« (vgl. Offb 1,5) ist ebenso hier der Mittler, wie er zuvor das Werk der Erlösung, salopp gesagt, nicht im Alleingang vollbracht hat, als vielmehr in der Rede über seine Vollmacht beteuert: »Amen, 82

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amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn« (Joh 5,19). Nicht etwa dergestalt, dass der Vater etwas denkt, was der Sohn dann auszuführen hätte. Ausdrücklich ist von einem Tun des Vaters die Rede, dessen Wirken keinesfalls mit dem Kommen des Sohnes endet. Dass der Sohn wiederum kein bloßer Befehlsempfänger des Vaters ist, geht ja bereits aus dem zweiten Psalm hervor, der von einem Zusammenwirken beider zeugt. Noch deutlicher aber aus dem Johannesevangelium, wenn Christus zu erkennen gibt: »Auch richtet der Vater niemand, sondern Er hat das Gericht ganz dem Sohn übertragen, damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat« (Joh 5, 22 f.). Das ist genuine christliche, ja messianische Theologie, insofern sich Christus nicht einfach auf seine göttliche Herkunft beruft, sondern auf seine messianische Sendung. Dabei fällt nicht nur nach dem Buch der Offenbarung auf, dass Gott zunächst der Handelnde ist, ebenso bei Paulus, der im Hinblick auf die Wiederkunft Christi konstatiert: »Es gibt aber eine bestimmte Reihenfolge: Erster ist Christus; dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt« (1 Kor 15,23 f.). Daraus könnte man folgern, Christus sei bis dahin eine Art Alleinherrscher, mit der Übergabe seiner Herrschaft sei gewissermaßen der Schlusspunkt seiner Herrschaft gesetzt. Doch man lese genau weiter, wo es, Ps 110,1 zitierend, heißt: »Denn er muss herrschen, bis Gott [!] ihm alle Feinde unter die Füße gelegt hat. Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod. Sonst hätte Er ihm nicht alles zu Füßen gelegt. Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterwor83

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fen, ist offenbar der ausgenommen, der ihm alles unterwirft. Wenn ihm dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich Dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem« (1 Kor 15,25–28). Erst am Ende wird sich der Sohn dem Vater unterwerfen, der aber zuvor der Unterwerfende, also der Handelnde ist, wie ja auch nach Ps 2,8, unmittelbar nach der Bekundung der Zeugung des Sohnes, der Vater sagt: »Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum.« Gott ist der Gebende bzw. der Unterwerfende, auch wenn Christus – wie ehedem als Erlöser – so auch am Ende als Richter wirkt, insofern ihm der Vater das Gericht übertragen hat. Am Ende »wird auch er, der Sohn sich Dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott herrscht über alles und in allem.«

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VI. Christi Tod als Ende des Todesäons – seine Auferstehung als Anfang des ewigen Lebens: Heute Nicht nur von 1 Kor 15 her zeigt sich, wie eng im Werk von Erlösung und Vollendung Gott der Vater und der Sohn und – wie noch zu sehen sein wird – Gottes Heiliger Geist zusammenwirken, ja, wie christologische und selbst trinitätstheologische Überlegungen die Konzeption des Messianischen durchdringen. Es gehört zu den Verirrungen einer historistischen Theologie, wenn mit Harnack behauptet wird, das Dogma wäre als ein hellenistisches Gedankengebäude der biblischen Überlieferung übergestülpt worden. Schon rein historisch gesehen, erweist sich eine derartige Sicht als fragwürdig, insofern das Christusdogma dem hellenistischen Denken in einem langen Prozess abgerungen werden musste. Wie wir bereits vor Jahren in Anlehnung an die Tübinger Vorlesungen des Gräzisten Wolfgang Schadewaldt dargelegt haben, war es für den Griechen schwer nachvollziehbar, in Christus infolge seiner Menschwerdung eine menschliche Natur anzunehmen, da dem Griechen die Natur in ihren Erscheinungen als eine Epiphanie des göttlichen Logos gilt – und nicht als Schöpfungswerk Gottes [vgl. Kreuz und Kairos, 24 ff.; W. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen, 229]. In den Augen eines Monophysiten musste daher die Annahme einer eigenständigen menschlichen Natur in Christus, wie sie das Konzil von Chalcedon (451) lehrt, einer Halbierung bzw. einer Verdoppelung der einen göttlichen Natur gleichen, die ihm aus seinem Hervorgehen [griech.: physein] aus Gott dem Vater wesenhaft eignet. Bestenfalls gilt dann die Menschennatur Christi als Supplement, als Werkzeug oder Organ seines göttlichen Wesens, was jedoch nicht zutrifft, da ein 85

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menschliches Organ – wie Hand oder Fuß oder auch ein inneres Organ – zweifellos eine wichtige Funktion des Leibes erfüllt, jedoch Glied dieses Leibes ist und niemals für den ganzen Menschen steht, den Christus – im Unterschied zu Gott dem Vater wie dem Heiligen Geist – verkörpert. Als Mensch aber erscheint der Gesalbte Gottes nach Ps 2,7 bzw. Hebr 1,5, wie oben dargetan. [Wäre es übrigens Harnack darum gegangen, hinter das vermeintlich griechische Dogma auf die hebräischen Wurzeln der Gestalt Jesu zurückzugehen, dann hätte er kaum dafür plädieren können, das Alte Testament aus der Bibel zu entfernen oder die gnostische Paulus-Deutung eines Marcion für authentisch zu halten …] Doch wie schon in der Taufe Jesu – und nur ein Mensch kann getauft werden, kein rein göttliches Wesen – sein Sohnsein durch die Stimme des Vaters und die Erscheinung des Heiligen Geistes bezeugt wird (vgl. Mt 3,13–17; Mk 1,9–11; Lk 3,21 f.), so ist auch seine Zeugung kraft seiner Auferstehung nicht bloß ein singulärer Akt, eine historische Person namens Jesus von Nazaret betreffend, sondern des Sohnes Gottes, der – noch im Angesicht des Todes – Leben schenkt, ja, mit Blick auf seine Auferstehung einem Todgeweihten Leben zu verheißen vermag. Ob nun als Sohn Gottes bezeugt bei der Taufe im Jordan, aus Gott hervorgegangen vor aller Zeit oder ob »heute« in der Stadt Davids als Retter geboren: »Er ist der Messias, der Herr« (vgl. Lk 2,11) – Christus am Kreuz trifft der Hohn der Passanten, der Hohenpriester, der Schriftgelehrten und Ältesten: »Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen. Er ist doch der König von Israel! Er soll vom Kreuz herabsteigen, dann werden wir an ihn glauben. Er hat auf Gott vertraut: Der soll ihn jetzt retten, wenn Er an ihm Gefallen hat [Ps 22,9]; er hat doch gesagt: Ich bin Gottes Sohn« (Mt 27,42 f.). Genau genommen hat es nach Mt 26,63 der Hohepriester bei seinem Verhör aus86

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gesprochen, auf dessen Frage sich Jesus als »Menschensohn« (vgl. Mt 26,64) zu erkennen gibt. Doch ob Gottes Sohn, Messias Gottes oder König von Israel bzw. »König der Juden« (vgl. Lk 23,37 f.), als den ihn auch die römischen Soldaten verspotten – all seine Ehrennamen verblassen förmlich angesichts seines nahenden Todes. Dennoch überliefert der Evangelist Lukas eine Begebenheit, die vor seinem Tode über den Tod hinausweist: »Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen, verhöhnte ihn: Bist du denn nicht der Messias? Dann hilf dir selbst und auch uns! Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: Nicht einmal du fürchtest Gott? Dich hat doch das gleiche Urteil getroffen. Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Dann sagte er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete ihm: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23,39–43). Was sich in Anbetracht des anschließend berichteten Todes Jesu für den Hörer bzw. Leser seiner Passionsgeschichte eher wie eine periphere Episode ausnimmt, erlangt gerade wegen seines Todes ein unglaubliches Gewicht. Denn jetzt stirbt wahrhaft der ewige Sohn des Vaters, der Retter Israels, der Messias, der Herr. Mochten sich mit diesem seinem Tod auch die Worte der Propheten erfüllt haben, die ihn voraussagten, so offensichtlich nicht »die Verheißung, die an die Väter ergangen ist« (vgl. Apg 13,32): Einer, der sich selbst nicht zu retten vermag, soll uns, ihre Kinder (vgl. Apg 13,33), erlösen? In diesem Sinne wären die Worte Jesu an den guten Schächer, den die Ostkirche als heiligen Dismas kennt, letzte Worte auf dem Wege zur Agonie des Todes. Der Tod Jesu am Kreuz wäre kein Erlösertod; die Worte Jesu an den Verbrecher, der sich angesichts seines Kreuzes bekehrt, wären ein leerer Trost, wenn nicht er – der Menschensohn, der Messias, der Herr – zu neuem Leben ge87

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zeugt worden wäre. Und zwar zu einem wahrhaft neuen Leben, nicht Totenerweckung im Sinne einer Wiederbelebung, wie sie dem armen Lazarus zuteil geworden ist (vgl. Joh 11,17–44). Denn mit dem Tod Jesu liegt eine radikale Diskontinuität im Ablauf der Ereignisse vor, nicht einfach eine Diskontinuität, wie sie ein schwerer Unfall oder sonstiger Schicksalsschlag im Lebensablauf eines Menschen bedeuten kann. Denn wenn sein Tod der Tod des Todes ist, dann kann sein Leben nicht einfach eine wie immer geartete Fortdauer des Früheren bedeuten. Weit größer als irgendeine noch so einschneidende Zäsur markiert Jesu Tod das Ende – nicht etwa sein Lebensende, sondern das Ende eines Äons, des Äons der Mächte und Gewalten, ebendes Todesäons, dessen Schrecken die Menschen in Atem halten. Diese Herrschaft über den Todesäon setzt nun nicht mit seiner ersten Zeugung aus Gott ein, des ewigen Wortes, durch das alles geworden ist (vgl. Joh 1,3), also die Schöpfung Gottes. Sie setzt auch nicht mit seiner Geburt in dieser Zeit ein, die in seiner Hingabe, letzthin in der Hingabe Gottes an den Kosmos, an die Welt gipfelt: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass Er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird« (Joh 3,16 f.). Das ist die frohe Botschaft: die Rettung der Welt, die mit der Geburt Jesu – »Heute« (vgl. Lk 2,11) – ihren Anfang nimmt und mit seiner Hingabe am Kreuz ihr Ziel und ihr Ende findet. Doch es gibt noch ein anderes »Heute« – ein »Heute«, das über das Kreuz hinausweist: »Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23,43). Diesem »Heute« aber geht seine Auferstehung zu einem ewigen Leben bzw. seine Auferweckung durch Gott zum 88

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ewigen Leben voraus, wie sich der auferstandene und erhöhte Christus auch Johannes zu erkennen gibt: »Als ich ihn sah, fiel ich wie tot vor seinen Füßen nieder. Er aber legte seine rechte Hand auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte [Jes 44,2.6] und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt« (Offb 1,17 f.). Das ist die Botschaft des auferstandenen und herrschenden Christus, der daher Johannes sogleich dazu anhält: »Schreib auf, was du gesehen hast: was ist und was danach geschehen wird« (Offb 1,19). Weist die Botschaft Jesu auf das Kreuz; lässt er allenfalls seine Jünger – so nach dem Abstieg vom Berg der Verklärung – von seiner Auferstehung wissen, wobei er ihnen verbietet, »irgendjemand zu erzählen, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei. Dieses Wort beschäftigte sie, und sie fragten einander, was das sei: von den Toten auferstehen« (Mk 9,9 f.). Ja deutet er in seinen Endzeitreden – wenngleich in Form von Gleichnissen – auf seine Wiederkunft, sogar auf das Weltgericht (vgl. Mt 25,31–46), so bildet doch das Wort von seiner Auferstehung so etwas wie eine hermeneutische Grenzscheide – ein Wort, zumal mit dem Hinweis auf seinen Kreuzestod gesprochen, das jedes Begreifen übersteigt. Nicht weil seinen Jüngern als frommen Israeliten die Hoffnung auf Auferstehung fremd gewesen wäre, die bereits die sieben Brüder und ihre Mutter nach dem zweiten Buch der Makkabäer (7,1–41) zum Martyrium beseelte. Es ist vielmehr die Konstellation von Tod und Auferstehung Jesu, den doch Gott als Messias und Retter gesandt hat. Mit dessen Tod scheint jegliche Hoffnung auf Rettung und Erlösung erloschen, weshalb jeder versuchen wird, sein eigenes Leben zu retten, Judas gar durch seinen Verrat, Petrus durch die Verleugnung seines Herrn und Messias. Unglaublich erscheint nicht etwa die Auferstehung am Letz89

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ten Tag, von der Marta, die Schwester des Lazarus, zu Jesus spricht (vgl. Joh 11,24). Vielmehr stellt sich ihnen die Frage nach der Auferstehung auf dem Weg nach Jerusalem, angesichts des Kreuzes Christi, mit dem das Ende des alten Äons gekommen ist, so dass mit seiner Auferstehung der neue Äon, der Lebensäon seinen Anfang nimmt.

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VII. Der Einbruch der Ewigkeit in die Zeit – nicht jenseits des Zeitgeschehens Daher stellt Christus auch keineswegs im Stile eines neuzeitlichen Philosophen irgendwelche Spekulationen über das Wesen der Auferstehung an. Er versichert vielmehr, den sicheren Tod vor Augen, dem Verbrecher, der sich ihm bis in den Tod hinein anvertraut: »Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23,43). Nicht so sehr an der Auferstehung stoßen sich die Feinde Christi, vielmehr bildet das Kreuz den Stein des Anstoßes. Bis auf den heutigen Tag weckt es Spott und Abscheu, wirkt als Provokation, sei es für eine bürgerliche Existenz, die sich selbst genug ist, sei es für ein Machtstreben, das mit Waffengewalt seine Ziele zu realisieren trachtet. – Umso überraschender wirkt es, dass nun der gekreuzigte Christus den Verbrecher, der auf ihn sein Vertrauen setzt, nicht auf eine ferne Zukunft verweist, auf sein Wiederkommen in Macht und Herrlichkeit, sondern auf heute – auf ein Heute, das sich ihm durch das Kreuz, durch Sein Kreuz erschließt. Es erübrigt sich zu sagen, dass es sich hierbei nicht um einen 24-Stunden-Tag handelt, da dem Tod am Kreuz die Grabesruhe des Karsamstags folgen wird. Doch der Zeitraum, in dem sich unser Leben und Sterben abspielt, ja, dem sich selbst der Tod mit der Grablegung des Toten zu fügen scheint, wird durchbrochen in der Auferstehung Jesu Christi mit dem Einbruch der Ewigkeit in die Zeit, ganz im Sinne des Wortes Christi: »Ich war tot, doch nun lebe ich in Ewigkeit« (vgl. Offb 1,18). Denn die Ewigkeit liegt nicht jenseits des Zeitgeschehens. Vielmehr konstituiert sie in der Auferstehung Jesu eine Zeit, die nur ein Heute kennt: »Schreib auf, was du gesehen hast: was ist und was danach geschehen wird« 91

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(Offb 1,19). Anders als ein Chronist, der das Vergangene vor dem Vergessen zu bewahren sucht, enthüllt sich in den Visionen und Bildern der Offenbarung, die Johannes bezeichnenderweise »am Tag des Herrn« (vgl. Offb 1,10) empfangen hat, das, was von heute an gilt – vom Tag der Auferstehung Jesu Christi an, dem Tag seiner Zeugung als Herrscher über Kosmos und Geschichte. Wenn man so will, ist der gute Schächer das erste von jenen Kindern, an denen sich, dem Apostel Paulus zufolge, die Verheißung erfüllt: »So verkündigen wir euch das Evangelium: Gott hat die Verheißung, die an die Väter ergangen ist, an uns, ihren Kindern, erfüllt, indem Er Jesus auferweckt hat, wie es schon im zweiten Psalm heißt: Mein Sohn bist du, heute habe Ich dich gezeugt« (Apg 13,32 f.). Genau das ist das Evangelium des Apostels: die Auferweckung Jesu als messianische Zeugung durch Gott, in deren Licht Paulus ja nicht allein das Kreuz Christi, das Werk seiner Erlösung, unserer »Gerechtmachung«, Rechtfertigung (vgl. Röm 3,21–31), deutet, sondern mehr noch sein Kommen, wie er es exemplarisch in 1 Kor 15,23–28 dargelegt hat – ein Kommen, das vom Tag seiner Auferstehung, von heute aus, seinen Anfang nimmt. Denn die Macht der Auferstehung Jesu Christi erweist sich in seiner Herrschaft über die Mächte dieses Äons, wie es ja im Anschluss an das Wort von der Zeugung in Ps 2,7 heißt: »Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum. Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern« (Ps 2, 8 f.). Das ist gesagt mit Blick auf Völker und Könige, auf die Großen dieser Erde, die sich gegen den Herrn und seinen Gesalbten erheben. Doch der Gesalbte, der nach seiner Erhöhung über die Erde alle an sich zu ziehen verheißt (vgl. Joh 12,32), hat als Ersten einen Verbrecher an sich gezogen, der ihn als Mitgekreuzigter bat, seiner nicht zu vergessen, »wenn du in dein Reich kommst« (vgl. Lk 23,42). 92

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Gottes Gnade, das Erbarmen Jesu Christi widerspricht nicht seiner Macht, sondern folgt aus der Macht seiner Auferstehung. Daher schließt auch der zweite Psalm mit einer Mahnung an die Potentaten der Erde zur Einsicht und mit einem Lobpreis: »Wohl allen, die Ihm vertrauen!« Denn der Glaube, von dem nicht allein der Apostel Paulus, sondern Christus selbst, ja das ganze Neue Testament spricht, gründet in diesem messianischen Vertrauen – im Vertrauen auf Sein Wort, auf Seine Macht, die sich ja nicht in Krankenheilungen und Wundern erschöpft, als vielmehr in der Macht seiner Auferstehung sichtbar wird und in seinem machtvollen Kommen zur Vollendung gelangt. Es handelt sich dabei nicht um eine Verheißung unter anderen, geschweige denn im Sinne von Versprechungen, wie wir sie von den Ideologen unseres Zeitalters her kennen, die in der Regel unerfüllt bleiben. Ausdrücklich bekräftigt doch der Apostel Paulus mit Blick auf das Evangelium, Gott habe die Verheißung, die an die Väter ergangen sei, an uns, ihren Kindern, erfüllt [!], indem Er Jesus auferweckt habe, »wie es schon im zweiten Psalm heißt: Mein Sohn bist du, heute habe Ich dich gezeugt« (Apg 13,32 f.). Die Adressaten der Verheißung sind also nicht wir, sondern die »Väter«, d. h. die Patriarchen und Propheten; allein von hier aus versteht sich, wie absurd es ist, das Alte Testament aus der Bibel entfernen zu wollen. Denn wir sind ihre Kinder, letzthin Kinder Abrahams durch Christus (vgl. Röm 4,1–25). Wer das leugnet, verleugnet das Wirken, ja die Verheißung Gottes und schafft sich sein eigenes Evangelium, wie ehedem die Gnosis oder die Anhänger einer historistischen Kulturreligion. – Nicht weniger abwegig ist es daher, wenn man seit Marx und Lenin herbetet, das Christentum vertröste die Menschen auf eine ferne Zukunft, anstatt die Probleme hier und heute zu lösen: Bis auf den heutigen Tag ist der Marxismus die Lösung dieser Pro93

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bleme in der Praxis weitgehend schuldig geblieben. Auch geht es dem Christen gar nicht um irgendwelche Lösungen oder die Erfüllung irgendwelcher menschlichen Wunschträume, sondern um das Werk der Erlösung, das im Kreuz und in der Auferstehung Jesu Christi geschehen ist. Deshalb kann auch der heilige Johannes, obgleich, wie oben dargelegt, nur mehr das vierte Glied in der Kette der Offenbarung, deren Vorwort mit einer Seligpreisung beschließen: »Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest und wer sie hört und wer sich an das hält, was geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe« (Offb 1,3). Dass die Zeit nahe und nicht etwa fern ist; dass es sich folglich bei jener Seligpreisung nicht um eine Vertröstung auf unvorstellbare Zeiten handelt, zeigt der Abschluss der Ankündigung des Gerichts durch den dritten Engel: »Hier muss sich die Standhaftigkeit der Heiligen bewähren, die an den Geboten Gottes und an der Treue zu Jesus festhalten. Und ich hörte eine Stimme vom Himmel her rufen: Schreibe! Selig die Toten, die im Herrn sterben, von jetzt an; ja, spricht der Geist, sie sollen ausruhen von ihren Mühen; denn ihre Werke begleiten sie« (Offb 14,12 f.). Das ist der Grund ihrer Seligkeit: das Festhalten an den Geboten Gottes und an der Treue zu Jesus, durch die nichts von ihrem Leben und Sterben verlorengeht, mögen sie auch ihr Leben und ihren Besitz hingegeben haben. Denn anders als dem irdisch gesinnten Menschen, der sich durch Besitz oder Macht, durch äußere Schönheit oder gesellschaftliche Ehren definiert, erscheint der Mensch Gottes bekleidet durch ein anderes Gewand: durch eine apokalyptische Wachsamkeit, die sich durch nichts irreführen lässt: »Siehe, ich komme wie ein Dieb. Selig, wer wach bleibt und sein Gewand anbehält, damit er nicht nackt gehen muss und man seine Blöße sieht« (Offb 16,15). Denn mag eine sich aufgeklärt gebärdende Welt mit ihrer Nacktheit bzw. ihren Nacktheiten kokettieren, als könnte ihr 94

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nichts passieren, wie auch Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment von Ende 1886 – Frühjahr 1887 bekennt: »In psychologischer Hinsicht habe ich zwei Sinne: einmal den Sinn für das Nackte / sodann: den Willen zum großen Stil« (vgl. KGW VIII.1, 311) – sie geht einher mit einer falschen Sicherheit, ja Schlaftrunkenheit, die zu einem Signum unseres Zeitalters geworden ist. Man denke nicht nur an Christopher Clarks viel diskutiertes Buch zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Die Schlafwandler; ebenso vermerkt Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk unter den Stichworten »Traumstadt, Zukunftsträume, anthropologischer Nihilismus«: »Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte« (GS V.1, 494). Es sei nur angemerkt, dass jene Seligpreisung des Wachen am Ende der Erscheinung des sechsten Engels mit den Schalen des Zorns steht; es folgt der siebte, der ein gewaltiges Erdbeben ankündigt, das den Untergang Babylons einleitet: »So gewaltig war dieses Beben. Die große Stadt brach in drei Teile auseinander, und die Städte der Völker stürzten ein. Gott hatte sich an Babylon, die Große, erinnert und reichte ihr den Becher mit dem Wein seines rächenden Zorns« (Offb 16,18b f.). Nach ihrem Untergang ertönt ein Jubel im Himmel, der mit den Worten endet: »Jemand sagte zu mir: Schreib auf: Selig, wer zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen ist. Dann sagte er zu mir: Das sind zuverlässige Worte, es sind Worte Gottes. Und ich fiel ihm zu Füßen, um ihn anzubeten. Er aber sagte zu mir: Tu das nicht! Ich bin ein Knecht wie du und deine Brüder, die das Zeugnis Jesu festhalten. Gott bete an! Das Zeugnis Jesu ist der Geist prophetischer Rede« (Offb 19,9 f.) Fast wörtlich wiederholt sich nach Offb 22,8 f. die Szene, der Versuch des Johannes, dem Engel seine Ehrerbietung zu erweisen, der jedoch abwehrt: »Gott bete an!« 95

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Gott ist der Ursprung seiner Sendung. »Gott, der Herr über den Geist der Propheten, hat seinen Engel gesandt, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss« (Offb 22,6b). Die Dringlichkeit des Kommenden, seine Unabwendbarkeit stehen im Widerspruch zu einem Geschichtsbewusstsein, dem die Dauer der Geschichte das Maß aller Dinge abgibt. Selbst Nietzsche, der sich noch in Menschliches, Allzumenschliches I (§ 261 = vgl. KGW IV.2, 220) darüber mokierte, dass man heutzutage »das Evangelium der Schildkröte« bewundere: »Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob in allen Zeiten nach dem Satz Geschichte gemacht geworden wäre: ›möglichst wenig in möglichst langer Zeit!‹« – selbst Nietzsche bleibt dem Zeitbewusstsein des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet, insofern er in einem nachgelassenen Fragment vom Frühjahr 1884 vermerkt: »Unsere Ableitung des Zeitgefühls usw. setzt immer noch die Zeit als absolut voraus« (KGW VII.2, 114). Ganz anders das apokalyptische Zeitbewusstsein. Selbst das Millennium, die tausendjährige Herrschaft der Heiligen nach dem Sieg über das Tier und seinen Propheten, bezeichnet weniger eine Ära des Friedens als den Übergang zum Gericht, gleicht einem Atemholen der Märtyrer. »Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nahmen, wurde das Gericht übertragen [Dan 7,9.22; vgl. auch 1 Kor 6,2]. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren, weil sie am Zeugnis Jesu und am Wort Gottes festgehalten hatten. Sie hatten das Tier und sein Standbild nicht angebetet, und sie hatten das Kennzeichen nicht auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand anbringen lassen. Sie gelangten zum Leben und zur Herrschaft für tausend Jahre. Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung. Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teilhat. Über solche hat der zweite Tod keine Gewalt. Sie 96

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werden Priester Gottes und Christi sein und tausend Jahre mit Ihm herrschen« (Offb 20,4–6). Nicht eine Epoche, sondern ein Interregnum bedeuten die tausend Jahre, wie exemplarisch aus dem Brief an die Gemeinde von Smyrna hervorgeht: »Fürchte dich nicht vor dem, was du noch erleiden musst. Der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, um euch auf die Probe zu stellen, und ihr werdet in Bedrängnis sein, zehn Tage lang [Dan 1,12.14]. Sei treu bis in den Tod, dann werde ich dir den Kranz des Lebens geben« (Offb 2,10). Was darunter zu verstehen ist, darauf verweist die anschließende Feststellung: »Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer siegt, dem kann der zweite Tod nichts anhaben« (Offb 2,11). Denn keineswegs geht es in der messianischen Zeit – wie in der sog. freien Natur – bloß um Leben und Tod. Allein die Todeslager des zwanzigsten Jahrhunderts lehren, dass es mehr zu fürchten gibt als den Tod, wie auch die Offenbarung nach der Posaune des fünften Engels kundtut: »In jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen, aber nicht finden; sie werden sterben wollen, aber der Tod wird vor ihnen fliehen« (Offb 9,6). Die Märtyrer, die am Zeugnis Jesu festhalten, sind so wenig dem Tod entronnen wie Christus selbst. Seine Auferstehung indessen bedeutet nicht einfach ein Weiterleben nach dem Tode, sondern die Überwindung des zweiten Todes, der denen droht, die am Gewaltzusammenhang, letzthin am Schuldzusammenhang, der Geschichte festhalten: Darin liegt das eigentliche Drama der messianischen bzw. eschatologischen Zeit, der Zeit der Erlösung und Vollendung. Deshalb gilt die letzte Seligpreisung der Offenbarung dem Menschen, der umkehrt, aus dem Munde des Gesalbten: »Siehe, ich komme bald, und mit mir bringe ich den Lohn, und ich werde jedem geben, was seinem Werk entspricht. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und 97

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das Ende. Selig, wer sein Gewand wäscht: Er hat Anteil am Baum des Lebens [Gen 2,9; 3,22], und er wird durch die Tore in die Stadt eintreten können« (Offb 22,12–14). Die Polis ist das himmlische Jerusalem, die Heimat der Exilierten dieser Erde, die zunächst gleichsam einen Umweg einlegen, bevor sie jene Stadt betreten: »Lasst uns also zu ihm [Christus] vor das Lager hinausziehen und seine Schmach auf uns nehmen« (Hebr 13,13). Gemeint ist sein Weg nach Jerusalem, der vor die Stadt – nach Golgota – führte. »Denn wir haben hier keine Stadt, die bestehen bleibt, sondern suchen die künftige« (Hebr 13,14). Es handelt sich nicht um »die Stadt der Zukunft«, um eine babylonische Weltmetropole. Es handelt sich auch nicht um die angestammte Heimat, wie sie seit der Romantik, ja noch – wie oben gesehen – von Heidegger verklärt wird, als wäre sie das Paradies. Erst recht nicht aber die Nation, deren Kult dem Zeitalter des Historismus zum Verhängnis wurde: Unzählige sollten infolge der Weltkriege ihre Heimat nicht mehr sehen oder wurden aus ihr vertrieben. Die Seligkeit der Offenbarung ist eine gänzlich andere als die Glückseligkeit eines erfüllten Lebens, das sich in der Rückschau erschöpft. Der Blick dessen, der am Zeugnis Jesu und am Wort Gottes festhält, richtet sich nach vorn; darauf, »was bald geschehen muss« (Offb 22,6b). Nicht aufgrund einer wie auch immer gesicherten Prognose, ja nicht einmal einer Verheißung, als vielmehr Seiner Versicherung: »Siehe, ich komme [Sach 2,14] bald. Selig, wer an den prophetischen Worten dieses Buches festhält« (Offb 22,7).

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VIII. Die eschatologische Zeit – die Vollendung der messianischen Zeit Es liegt so etwas wie ein heiliger Ernst darin, wenn Johannes von »den prophetischen Worten dieses Buches« spricht. Ein Schriftsteller könnte nicht so reden; ihm bleibt nur mehr übrig, auf die Suggestion der Sprache zu bauen, die er zu Papier bringt, vielleicht auf »den Willen zum großen Stil«. Ja, nicht einmal ein Philosoph oder Theologe, insofern deren Stärke in erster Linie in der Kraft des Arguments liegt, das sich der Urteilskraft ihrer Hörer oder Leser stellt. Doch der heilige Johannes appelliert hier weniger an deren Urteilskraft oder Sprachempfinden, selbst wenn allein die Lektüre des Textes beide fordert. Anders als bei einem Gedicht, bei dichterischer Prosa oder einem philosophischen Text geht es hier offensichtlich nicht um unsere Interpretation. Trotz der visionären Kraft der Bilder; trotz, ja wegen der theologischen Dichte des Textes ist der Spielraum der Deutung denkbar eng. Unmissverständlich schärft Johannes unmittelbar vor dem Abschluss des Buches dessen Leser bzw. dem Hörer seiner Worte ein: »Ich bezeuge jedem, der die prophetischen Worte dieses Buches hört: Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen hinzufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht. Und wer etwas wegnimmt von den prophetischen Worten dieses Buches, dem wird Gott seinen Anteil am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt wegnehmen, von denen in diesem Buch geschrieben steht« (Offb 22,18 f.). Es besteht also weder ein Spielraum zur Steigerung der Schrecken, um seine Hörer oder Leser in Panik zu versetzen, noch zur Abschwächung seiner Dramatik, als wäre die Geschichte nach Christus ein schönes Spiel, an dessen 99

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Bildern sich die Menschen delektieren können; als wäre alles halb so schlimm, weil doch am Ende das Gute siegt. Was für ein Kunstwerk wie Schillers Räuber oder Wilhelm Tell zutreffen mag, gilt hier nicht, weil Ästhetisches hier keine, allenfalls eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Denn der heilige Johannes ist kein Autor: Gleich zweimal ist »von den prophetischen Worten dieses Buches« die Rede bzw. wird auf »die prophetischen Worte dieses Buches« verwiesen. – Auch ist Johannes nicht der Prophet. Obwohl am Tag des Herrn »vom Geist ergriffen« (vgl. Offb 1,10), wird ihm anschließend aufgetragen: »Schreib das, was du siehst, in ein Buch …« (vgl. Offb 1,11), bzw. nach seiner Vision dessen, »der wie ein Mensch aussah« (vgl. Offb 1,13 [Dan 7,13]), wird ihm noch einmal gesagt: »Schreib auf, was du gesehen hast: was ist und was danach geschehen wird« (Offb 1,19). Nicht Autor, nicht Schöpfer jenes Buches ist er als vielmehr der Empfänger seiner Worte aus der Hand des Engels: »Und der Engel sagte zu mir: Diese Worte sind zuverlässig und wahr« (Offb 22,6a). Doch nicht in ihnen selbst gründen Zuverlässigkeit und Wahrheit wie in einem Orakel. Vielmehr fährt der Engel, wie bereits oben zitiert, fort: »Gott, der Herr über den Geist der Propheten, hat seinen Engel gesandt, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss« (Offb 22,6b). Gott als »der Herr über den Geist der Propheten« ist der Ursprung einer Prophetie, die sich nun nicht auf eine ferne Zukunft bezieht, vergleichbar dem Orakelspruch Bileams (Num 24,15–17a): Spruch Bileams, des Sohnes Beors, Spruch des Mannes mit geschlossenem Auge, Spruch dessen, der Gottesworte hört, der die Gedanken des Höchsten kennt, der eine Vision des Allmächtigen sieht, 100

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der daliegt mit entschleierten Augen: Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich erblicke ihn, aber nicht in der Nähe: Ein Stern geht in Jakob auf, ein Zepter erhebt sich in Israel. Nach Offb 22,16b bekennt Jesus: »Ich bin die Wurzel und der Stamm Davids, der strahlende Morgenstern.« Ebenso haben die Kirchenväter jenen Stern auf die messianische Zeit bezogen (vgl. Ignatius von Antiochien, An die Epheser 19,2), unabsehbar von der Urgeschichte aus. In der Offenbarung, die Johannes zuteil wird, wird jedoch auf die Nähe des Kommenden hingewiesen; auf das, »was bald geschehen muss«. Es handelt sich, strenggenommen, nicht um »eine Vision des Allmächtigen«, wie sie dem Orakelspruch Bileams zugrunde liegt. Sondern um eine persönliche Zusage: »Siehe, ich komme bald. Selig, wer an den prophetischen Worten dieses Buches festhält« (Offb 22,7). Schon jetzt gilt die Seligpreisung, nicht erst für die Zukunft, weil die messianische Zeit in Christus bereits angebrochen ist, um mit seinem zweiten Kommen ihre Vollendung zu finden. M. a. W.: Die eschatologische Zeit, die Zeit der Vollendung, ist die Vollendung der messianischen Zeit. Die Zeit bewegt sich nicht mehr – gleich einer Uhr – im Kreis. Sie tickt auf das Ende zu; daher ist die Zeitmessung nach Christus nach vorn – auf seine Wiederkunft hin offen: »Siehe, ich komme bald.« Das bedeutet allerdings, dass es sich bei »den prophetischen Worten dieses Buches« nicht einfach um eine Ausschau auf den kommenden Messias handelt, vergleichbar den messianischen Texten des Alten Testaments, in denen sich das Bild vom messianischen Retter mit dem Bild des Endgerichts durchdringt. Vielmehr setzen sie »das Zeugnis Jesu« voraus. Wie oben dargetan, weist der Engel ausdrücklich darauf hin, indem er nach ihrer Offenbarung an 101

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Johannes dessen Versuch einer Ehrerbietung abwehrt: »Tu das nicht! Ich bin ein Knecht wie du und deine Brüder, die das Zeugnis Jesu festhalten. Gott bete an! Das Zeugnis Jesu ist der Geist prophetischer Rede« (Offb 19,10). Und so nimmt sich Johannes in dem bereits zitierten Vorwort als Zeuge zurück: »Dieser hat das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugt: alles, was er geschaut hat. Selig, wer diese prophetischen Worte vorliest und wer sie hört und wer sich an das hält, was geschrieben ist, denn die Zeit ist nahe« (Offb 1,2). Es ist »das Zeugnis Jesu Christi«, das die Verbindlichkeit jener prophetischen Worte verbürgt, ja, das nicht nur Gehorsam erheischt, sondern ihren Verkünder und ihren Hörer seligpreist. Das Zeugnis Jesu Christi – nach Offb 1,5 ist er »der treue Zeuge« – gilt in einem dreifachen Sinne: mit Blick auf sein Sühnopfer am Kreuz; im Hinblick auf sein Kommen in Herrlichkeit: »Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen (vgl. Mt 26,64; par Mk 14,62); nicht zuletzt aber ist er nach Offb 1,5 zugleich »der Erstgeborene der Toten, der Herrscher über die Könige der Erde«, also aufgrund seiner Auferstehung als messianischer Zeugung, wie der Apostel Paulus Ps 2,7 deutet (vgl. Apg 13,32 f.). Insofern ist das Zeugnis Jesu »der Geist der prophetischen Rede« (vgl. Offb 19,10). Nicht nur wird der heilige Johannes »vom Geist ergriffen«, um das Geschaute in ein Buch zu schreiben (vgl. Offb 1,10). Gegen Ende des Buches heißt es: »Der Geist und die Braut aber sagen: Komm! Wer hört, der rufe: Komm! Wer durstig ist, der komme [Jes 55,1]. Wer will, der empfange umsonst das Wasser des Lebens [Sach 14,8]« (22,17). Jesus selbst bekundet im Gespräch mit der samaritischen Frau am Jakobsbrunnen, wer das Wasser trinke, das er ihm geben werde, werde niemals mehr Durst haben; »vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, zur sprudelnden Quelle wer102

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den, deren Wasser ewiges Leben schenkt« (vgl. Joh 4,13 f.). Was unter diesem Wasser zu verstehen ist, erläutert Christus selbst am Vorabend seiner Passion. »Am letzten Tag des [Laubhütten-]Festes, dem großen Tag, stellte sich Jesus hin und rief: Wer Durst hat, komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen. Damit meinte er den Geist, den alle empfangen sollten, die an ihn glauben; denn der Geist war noch nicht gegeben, weil Jesus noch nicht verherrlicht war« (Joh 7,37–39). Kaum zufällig entflammt nach diesen Worten Jesu ein Streit um seine Messianität, zunächst im Volk, danach im Hohen Rat. »Einige aus dem Volk sagten, als sie diese Worte hörten: Er ist wahrhaftig der Prophet. Andere sagten: Er ist der Messias. Wieder andere sagten: Kommt denn der Messias aus Galiläa? Sagt nicht die Schrift: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte? So entstand seinetwegen eine Spaltung in der Menge. Einige von ihnen wollten ihn festnehmen; aber keiner wagte ihn anzufassen« (Joh 7,40–44). Nur ein kurzer Aufschub sollte Jesus vor seiner Verherrlichung, vor seiner Passion gewährt werden – vor dem Zeugnis, das er als »der treue Zeuge« (vgl. Offb 1,5) in seiner Passion ablegen sollte, um nach seinem Tod durch seine Auferstehung zu neuem Leben als der Gesalbte, Christus (vgl. Ps 2,7; Apg 13,33) gezeugt zu werden. Darin liegt das Mysterium seiner Messianität beschlossen, die seine jüdischen Zeitgenossen aus seiner Herkunft herzuleiten suchen, während sie durch seinen Tod und seine Auferstehung offenbar wird. Hierin gründet der »Beschluss des Herrn«, den der Gesalbte selbst kundtut: »Er sprach zu mir: ›Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt‹« (Ps 2,7). Hierauf beruht auch die »Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gegeben hat« (Offb 1,1), wie der Anfang der sog. Johannesoffenbarung 103

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lautet – seine Offenbarung als »der treue Zeuge, der Erstgeborene der Toten, der Herrscher über die Könige der Erde« (vgl. Offb 1,5), mit einem Wort: seine Offenbarung als messianischer Herrscher der Endzeit, der Zeit der Vollendung.

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IX. Die Offenbarung des Zeugnisses Jesu durch den Heiligen Geist Die Zeit der Vollendung ist zugleich die Zeit des Geistes, »den alle empfangen sollten, die an ihn glauben« (vgl. Joh 7,39) – alle, denn zuvor hat der Heilige Geist, gemäß dem Großen Glaubensbekenntnis, gesprochen durch die Propheten. Deuten sie auf den Gesalbten, auf Christus, den kommenden Messias, hin, so geht jetzt der Geist von Christus Jesus aus: »Das Zeugnis Jesu ist der Geist der prophetischen Rede« (Offb 19,10). Es ist alles andere als ein Zufall, dass Christus in seinen Abschiedsreden wiederholt auf die Sendung des Geistes zu sprechen kommt: »Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde den Vater bitten, und Er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch. Nur noch kurze Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir, und ich bin in euch« (Joh 14,15–20). Die Christusverbundenheit der Jünger resultiert nicht einfach aus bloßer Erinnerung, also aus der Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern aus der Gegenwart des Geistes, gewissermaßen dem bleibenden – (vgl. »für immer bei euch«) – Vermächtnis Jesu, der hier nicht umsonst auf seine Auferstehung verweist: »Ich komme wieder zu euch« – und nicht etwa auf seine Wiederkunft am Ende der Zeiten. Auf ihre Verbundenheit mit Christus weist das anschließende Gleichnis vom wahren Weinstock in Kapitel 15, an 105

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dessen Ende Christus noch einmal auf die Sendung des Geistes zu sprechen kommt: »Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater aus senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. Und auch ihr sollt Zeugnis ablegen, weil ihr von Anfang an bei mir seid« (Joh 15,26 f.). Ebendarin besteht »das Zeugnis Jesu« (vgl. Offb 19,10), das vom Geist – und nicht etwa von den Jüngern – ausgeht: »Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater euch in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe« (Joh 14,26). Es handelt sich hierbei nicht etwa um die Erinnerung an gemeinsame schöne Zeiten; um irgendwelche sentimentalen Rückblicke, als vielmehr um eine Erinnerung an die Worte Jesu, an deren Wahrheit, die der Heilige Geist den Jüngern erschließen wird, deren »Herz von Trauer erfüllt [ist], weil ich euch das gesagt habe« (vgl. Joh 16,6), also in der Stunde des Abschieds. Ihre Trauer nimmt die Fassungslosigkeit vorweg, mit der sie wenig später seinem Kreuzestod gegenüberstehen, in dem Christus nach seinen eigenen Worten gegenüber Pilatus für die Wahrheit Zeugnis ablegt (vgl. Joh 18,37). Die Offenbarung dieser Wahrheit, der Wahrheit seines Zeugnisses, aber erfolgt durch den Heiligen Geist, also im Lichte der Auferstehung Jesu, an die in jener Stunde gar nicht zu denken ist, obwohl sie die Voraussetzung bildet für die Sendung des Geistes. Daher die Bekräftigung Jesu: »Doch ich sage euch: Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er die Welt überführen 〈und aufdecken〉, was Sünde, Gerechtigkeit und Gericht ist; Sünde: dass sie nicht an mich glauben; Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich nicht mehr seht; Gericht: dass der Herrscher dieser Welt gerichtet ist. Noch vieles 106

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habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird [!]. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich euch gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden« (Joh 16,7–15). Denn obgleich der Heilige Geist die Jünger auch an das erinnern wird, was Jesus ihnen gesagt hat (vgl. Joh 14,26), ja, ihnen nicht zuletzt den Sinn seines Sühnopfers erschließt, wie auch auf ihre Frage, »was das sei, von den Toten auferstehen« (vgl. Mk 9,10), Antwort gibt, indem er sie »in die ganze Wahrheit führen« wird (vgl. Joh 16,13), so wird er gleichwohl »nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird« (vgl. ebd.). Und wie die Jünger erst vom Auferstandenen den Geist der Sündenvergebung empfangen (vgl. Joh 20,22), mochten sie zuvor auch im Namen Jesu Krankheiten geheilt und Dämonen ausgetrieben haben (vgl. Mk 6,13; Mt 10,8; Lk 9,1), so markiert seine Auferstehung einen neuen Anfang in der Verkündigung des Kommenden. Sowohl das Pfingstereignis (vgl. Apg 2,1– 13) als auch das oben erwähnte Gebet der Urgemeinde um Furchtlosigkeit, um Parrhesia, gehen hervor aus dem Wirken des Heiligen Geistes: »Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt, und sie verkündeten freimütig das Wort Gottes« (Apg 4,31). Das Wirken des Geistes besagt indessen nicht, dass Christus und Gott, sein Vater, sich fortan in Zurückhaltung übten, um gleichsam das Feld der Verkündigung ganz dem Heiligen Geist und den Aposteln zu überlassen, als ob 107

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diese nun ihr eigenes Evangelium verkündeten bzw. das Kerygma Christi in ihrem Sinne auslegten. Noch deutlicher als in Joh 16,13 die anschließende Feststellung Jesu zum Wirken des Heiligen Geistes: »Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein, darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden« (Joh 16,14 f.). Nur eine historistische Bibelauslegung im Stile eines Rudolf Bultmann, demzufolge das Kerygma stets neu zu formulieren wäre (vgl. R. Bultmann/M. Heidegger: Briefwechsel 1925– 1975, 186; wir kommen im folgenden Kapitel darauf zurück), letzthin eine Schriftauslegung ohne pneumatisches Fundament, kann davon abstrahieren, dass die Verkündigung des Heiligen Geistes eins ist mit dem Evangelium des Sohnes, des Wortes Gottes, dem ewigen Wort des Vaters. Und so offeriert auch der Apostel Paulus seinen Hörern nicht seine je eigene, private Version des Evangeliums, sondern stellt unmissverständlich klar: »So verkünden wir euch das Evangelium: Gott hat die Verheißung, die an die Väter ergangen ist, an uns, ihren Kindern, erfüllt, indem Er Jesus auferweckt hat, wie es schon im zweiten Psalm heißt: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt« (Apg 13,32 f.). Das ist das Evangelium Jesu Christi; alles andere, mag es noch so geistreich scheinen, hat nichts damit zu tun. Die Zeugung des Sohnes kraft seiner Auferweckung bildet den Dreh- und Angelpunkt des Evangeliums, letzthin des Kommenden, dessen Horizont der Heilige Geist erschließt. Wie das erste Kommen Christi, seine Geburt aus Maria, von der Krippe zum Kreuz hin führte, erfolgt sein zweites Kommen auf seine Auferstehung hin. Von hier aus setzt seine Herrschaft über die Mächtigen der Erde ein – nicht erst nach seiner Wiederkunft; ja, man kann nach Mt 26,64 (par Mk 14,62), wie bereits dargetan, im Kreuz 108

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das Zeichen seines Triumphes sehen. Doch mit dem Heute seiner Auferstehung erhebt sich seine messianische Herrschaft über die Mächte dieses Äons, weshalb auf die Bekundung des Beschlusses »Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt« (vgl. Ps 2,7) die Aufforderung folgt: »Fordere von mir, und ich gebe dir Völker zum Erbe, die Enden der Erde zum Eigentum. Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern« (Ps 2,8 f.). Manche Christen mögen sich schwertun, diese Worte auf Christus, den Friedenskönig, anzuwenden. Um wie viel schwerer aber auf den Heiligen Geist, der in Taubengestalt geradezu als die Friedenstaube erscheint! So wirkt der Geist im Hinblick auf die Kirche als Inbegriff von Frieden und Einheit in persona; deutlich tritt sein aufbauendes Wesen hervor, wie nach 1 Kor 12,1–11 der eine Geist die vielen Gaben bzw. Charismen vereint. – Doch der Geist ist auch Feuer. Und wie Gott, der Herr, über das Ansinnen der Mächtigen, die sich gegen Ihn und seinen Gesalbten erheben, lacht und sie verspottet, ja, sie im Zorn und in seinem Grimm erschreckt (vgl. Ps 2,4 f.), so vermag auch der Geist den Machthabern dieser Welt ihre Grenzen aufzuzeigen, indem er sie verwirrt und zerschlägt. Bezeichnend die Episode, die im ersten Buch der Könige überliefert ist: Ahab, der König von Israel, sucht nach einem dreijährigen Frieden den Krieg mit den Aramäern, um ihnen Ramot-Gilead zu entreißen. Er findet in Joschafat, dem König von Juda, einen Verbündeten, der zunächst begeistert zusagt, um dann den König von Israel zu bitten: »Befrag doch zuvor den Herrn! Da versammelte der König von Israel die Propheten, gegen vierhundert Mann, und fragte sie: Soll ich gegen Ramot-Gilead zu Felde ziehen, oder soll ich es lassen? Sie gaben den Bescheid: Zieh hinauf! Der Herr gibt die Stadt in die Hand des Königs. Doch Joschafat sagte: Ist hier sonst kein Prophet des 109

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Herrn, den wir befragen könnten? Der König von Israel antwortete Joschafat: Es ist noch einer da, durch den wir den Herrn befragen könnten. Doch ich hasse ihn; denn er weissagt mir nie Gutes, sondern immer nur Schlimmes. Es ist Micha, der Sohn Jimlas« (1 Kön 22,5–8). Während auf Drängen des Königs Joschafat ein Bote zum Propheten Micha gesandt wird, empfangen beide Könige, in prunkvollen Gewändern auf ihren Thronen sitzend, die Huldigungen der falschen Propheten. »Zidkija, der Sohn Kenaanas, hatte sich eiserne Hörner gemacht und rief: So spricht der Herr: Mit diesen wirst du die Aramäer niederstoßen, bis du sie vernichtet hast« (1 Kön 22,11). Dem pflichtet der Chor der falschen Propheten bei, und auch der zu Micha gesandte Bote fordert ihn auf: »Mögen deine Worte ihren gleichen. Sag daher Gutes an! Doch Micha erwiderte: So wahr der Herr lebt: Nur was der Herr mir sagt, werde ich sagen. Als er zum König kam, fragte ihn dieser: Micha, sollen wir gegen Ramot-Gilead zu Felde ziehen, oder sollen wir es lassen? Micha antwortete: Zieh hinauf, und sei erfolgreich! Der Herr gibt die Stadt in die Hand des Königs. Doch der König entgegnete: Wie oft muss ich dich beschwören, mir im Namen des Herrn nur die Wahrheit zu sagen? Da sagte Micha: Ich sah ganz Israel über die Berge zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und der Herr sagte: Sie haben keine Herren mehr. So geh jeder in Frieden nach Hause. Da wandte sich der König von Israel an Joschafat: Habe ich es dir nicht gesagt? Er weissagt mir nie Gutes, sondern immer nur Schlimmes« (1 Kön 22,13–18). Damit könnte die Geschichte ihre Bewandtnis haben. »Micha aber fuhr fort: Ich sah den Herrn auf seinem Thron sitzen; das ganze Heer des Himmels stand zu seiner Rechten und seiner Linken. Und der Herr fragte: Wer will Ahab betören, so dass er nach Ramot-Gilead hinaufzieht und dort fällt? Da hatte der eine diesen, der andere 110

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jenen Vorschlag. Zuletzt trat der Geist vor, stellte sich vor den Herrn und sagte: Ich werde ihn betören. Der Herr fragte ihn: Auf welche Weise? Er gab zur Antwort: Ich werde mich aufmachen und zu einem Lügengeist im Mund all seiner Propheten werden. Da sagte der Herr: Du wirst ihn betören; du vermagst es. Geh und tu es! So hat der Herr jetzt einen Geist der Lüge in den Mund all deiner Propheten gelegt; denn Er hat über dich Unheil beschlossen. Da trat Zidkija, der Sohn Kenaanas, zu Micha, schlug ihm ins Gesicht und rief: Wie, sollte denn der Geist des Herrn von mir gewichen sein, um mit dir zu reden? Micha erwiderte: Du wirst es an jenem Tag erfahren, an dem du von einem Gemach in das andere eilst, um dich zu verstecken. Der König von Israel aber gab den Befehl: Nehmt Micha fest, führt ihn zum Stadtobersten Amon und zum Prinzen Joasch, und meldet: So spricht der König: Werft diesen Mann ins Gefängnis, und haltet ihn streng bei Brot und Wasser, bis ich wohlbehalten zurückkomme. Doch Micha erwiderte: Wenn du wohlbehalten zurückkommst, dann hat der Herr nicht durch mich geredet. [Und er sagte: Hört, alle ihr Völker!]« (1 Kön 22,19– 28). Obwohl verkleidet, um nicht als König erkannt zu werden, wird Ahab in der Schlacht von einem Pfeil getroffen und verblutet in seinem Streitwagen. »So starb der König; man brachte ihn nach Samaria und begrub ihn dort. Als man im Teich von Samaria den Wagen ausspülte, leckten Hunde sein Blut, und Dirnen wuschen sich darin, nach dem Wort, das der Herr gesprochen hatte [vgl. 1 Kön 21,19]« (1 Kön 22,37 f.). Weit mehr als nur ein Stück alttestamentlicher Zeitgeschichte, verdeutlicht die Prophetie Michas nicht allein das Walten Gottes im Allgemeinen als vielmehr das Wirken des Geistes im Besonderen: Der Geist erscheint hier als Person [hebräisch: Ruach], nicht bloß als die Schechina Gottes. Bereits hier zeigt sich, dass das biblische Gottes111

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verständnis alles andere als – wie Nietzsche spottete – einen »Monotonotheismus« darstellt. Ebenso wird ersichtlich, dass Harnack irrt, wenn er den Glauben an die göttliche Trinität als eine hellenistische Erfindung abtut. Denn »Person« ist der Geist nicht im Sinne des neuzeitlichen Personenbegriffs als eine autonome, allein durch Herkunft oder durch die herrschenden Gesetze mit anderen verbundene individuelle Größe, wie sie etwa Erik Peterson nach einer Tagebuchnotiz vom 12.IX.1948 Gott erscheint: »Die Einsamkeit Gottes ist unserer unaufhebbare Einsamkeit. [–] Die griechischen Götter waren eine lustige Kumpanei, wie konnte da der Grieche unter Einsamkeit leiden?« (Theologie und Theologen = AS Bd. 9/2). Gewiss handelt es sich bei dem biblischen Gottesverständnis nicht um »eine lustige Kumpanei«. Auch dürfte Christus am Kreuz eine tiefe Einsamkeit empfunden haben, in der – durchaus überzeugend – der frühe Peterson nach einem [bislang unveröffentlichten] Manuskript den Ursprung der Kirche erkannte. Doch über die nachvollziehbare menschliche Einsamkeit verbindet Christus in seinem Beten und Wirken eine nicht weniger tiefe Verbundenheit mit seinem Vater im Heiligen Geiste, wie sie Christus etwa in der Bildrede vom Fruchtbringen gegenüber seinen Jüngern zum Ausdruck bringt: »Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich auch euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!« (Joh 15,9). Denn anders als im Sinne der neuzeitlichen Identitätsphilosophie gründet die Identität der göttlichen Personen nicht in ihrer Subjektivität, etwa in der Individualität des Menschen Jesus von Nazaret, oder um mit dem Apostel Paulus zu reden: »Also schätzen wir von jetzt an niemand mehr nur dem Fleische nach ein; auch wenn wir früher Christus dem Fleische nach eingeschätzt haben, jetzt schätzen wir ihn nicht mehr so ein« (2 Kor 5,16). Vielmehr ist das Wesen des Menschen Jesus Christus durch seine Wesenseinheit mit Gott dem Vater im 112

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Heiligen Geist bestimmt, wie sie kein Mensch kennt, mag er sich einem anderen noch so eng verbunden fühlen. Nur so kann Jesus dem Philippus entgegnen: »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen« (Joh 14,9 ); oder wie bereits zitiert: »und wer mich sieht, sieht Den, der mich gesandt hat« (Joh 12,45). Um keine äußere – oder auch innere – Ähnlichkeit im menschlichen Sinne geht es hier, wie man sie bisweilen zwischen Vater und Sohn antreffen mag; ebenso wenig um eine Wahlverwandtschaft, die durch Affinität verschiedener Personen bestimmt ist. Es ist der Eine Gott und Vater, aus dem der Sohn gezeugt ist, als Mensch durch den Heiligen Geist, wie sich auch bei der Taufe Jesu im Jordan der Himmel öffnet und der Geist in der Gestalt einer Taube sichtbar wird. So kann Johannes der Täufer bekennen: »Auch ich kannte ihn nicht; aber Er, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, Er hat zu mir gesagt: Auf wen du den Geist herabkommen siehst und auf wem er bleibt, der ist es, der mit dem Heiligen Geist tauft. Das habe ich gesehen, und ich bezeuge: Er ist der Sohn Gottes« (Joh 1,23 f.).

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X. Die Deutung des Kommenden im Licht der Schrift: die messianische Vollendung der Zeit und die eschatologische Zeit der Vollendung – die Zeit messianischer Aktualität Die Bezeugung des Menschen Jesus Christus als des Sohnes Gottes durch Johannes den Täufer wirkt – zumal in jüngerer Zeit Jesu Taufe im Jordan den Weihnachtszyklus beschließt – in der kirchlichen Überlieferung besonders vertraut, mag auch seine Zeugung durch den Heiligen Geist wie seine ewige Zeugung aus Gott dem Vater ein Mysterium bleiben. Gleichwohl wird im Laufe des Kirchenjahres kein anderes Evangelium so oft verlesen wie die Verkündigung des Engels (vgl. Lk 1,26–38). Bildet es doch gleichsam den Auftakt zu unserer Erlösung. Doch endet das Werk unserer Erlösung nicht am Kreuz, ja, nicht einmal in der Auferstehung Jesu, sondern von dieser geht eine, letzthin unsere Vollendung aus. Und reicht das Werk der Propheten buchstäblich bis zum Zeugnis Johannes’ des Täufers (vgl. Joh 1,33 f.), so ist, wie dargetan, das Zeugnis Jesu »der Geist prophetischer Rede« (vgl. Offb 19,10). Ihn werden alle empfangen, die sich auf den Namen Jesu taufen lassen zur Vergebung der Sünden (vgl. Apg 2,38), wie Petrus in seiner Pfingstpredigt (Apg 2,17– 21) den Propheten Joel (3,1–5) zitierend, ausführt: In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, 115

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und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde Ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen, und sie werden Propheten sein. Ich werde Wunder erscheinen lassen Droben am Himmel Und Zeichen unten auf der Erde: Blut und Feuer und qualmenden Rauch. Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln Und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und herrliche Tag. Und es wird geschehen: Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet. Hier wird durch den Mund des Petrus, der noch kurz zuvor vor dem Kreuz seines Herrn die Flucht ergriff, gleichsam das Panorama der Endzeit entworfen, obschon auf diese Predigt hin es die ersten Bekehrungen gab, also sich die Anfänge der Kirche konstituierten: »An diesem Tag wurden 〈ihrer Gemeinschaft〉 etwa dreitausend Männer hinzugefügt. Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten« (Apg 2,41b f.). Bezeichnend, dass in der Konstitution der Urkirche aus dem Geiste Gottes zugleich ein eschatologischer Ausblick auf den »Tag des Herrn« gewährt wird, und zwar aus dem »Geist der prophetischen Rede«, in dem die Worte des Propheten Joel anschließend von Petrus auf »das Zeugnis Jesu« bezogen werden: auf dessen machtvolle Taten und Wunder, auf seine Passion und seine Auferstehung, schließlich auf seine Inthronisation gemäß Ps 110,1:

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Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten, und Ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße. Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt« (Apg 2,36). Sein Zeugnis umfasst seine Kreuzigung und seine Inthronisation »zum Herrn und Messias« im Zuge seiner Auferweckung, seiner Zeugung zu einem neuen Leben, wie der Apostel Paulus Ps 2,7 auf Christus hin auslegt (vgl. Apg 13,32 f.). Daraus wird ersichtlich, dass »die Worte der Propheten, die an jedem Sabbat vorgelesen werden« (vgl. Apg 13,27), mit der Inthronisation Jesu zum messianischen Herrscher keineswegs abgegolten sind. Im Gegenteil, den ihm von Christus offenbarten Tod vor Augen, wendet sich der Apostel Petrus in seinem zweiten Brief an seine Leser- bzw. Hörergemeinde gleichsam wie mit einem apostolischen Vermächtnis: »Ich will aber dafür sorgen, dass ihr auch nach meinem Tod euch jederzeit daran erinnern könnt. Denn wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten [wörtlich: Mythen] gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen [!] seiner Macht und Größe. Er hat von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit empfangen; denn er hörte die Stimme der erhabenen Herrlichkeit, die zu ihm sprach: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe. Diese Stimme, die vom Himmel kam, haben wir gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren. Dadurch ist das Wort der Propheten für uns noch sicherer geworden, und ihr tut gut daran, es zu beachten; denn es ist ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in eurem Herzen. Bedenkt dabei 117

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vor allem dies [wörtlich: dies zuerst erkennend]: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet« (2 Petr 1,15–21). Nichts anderes aber geschieht in einer historistischen Bibelauslegung, wie es sich nach der bereits oben erwähnten Bemerkung Bultmanns aus seinem Brief vom 14. Dezember 1932 an Heidegger (vgl. Briefwechsel 1925–1976, 186) ergibt: »Welches das Kerygma sei, ist, da es nur im Vollzug des Verkündigens wirklich Kerygma ist, nie abschließend zu sagen, sondern muß stets neu gefunden werden.« In der Tat: Wer das pneumatologische Fundament der Schrift verkennt, der verkennt zugleich ihr prophetisches und ihr apostolisches Zeugnis. An seine Stelle tritt der Prediger oder Bibelforscher, der uns mit immer neuen Auslegungen beglückt; oder wie es wörtlich heißt: mit »einer eigenen Auslegung«, also mit einer eigenmächtigen Auslegung bzw. mit einer privaten, wie die italienische Übersetzung des griechischen idías lautet. Denn wenn ein Apostel wie Petrus oder Paulus den Psalm 2 oder 110, den Propheten Joel oder sonst einen Propheten zitiert, dann doch nicht, um seine religiöse Bildung zur Schau zu stellen, sondern weil die Schrift für die Deutung des messianischen Zeugnisses Jesu eine normative Bedeutung besitzt: »Denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes [wörtlich: von Gott her] geredet.« Wer das in Abrede stellt, der macht den Propheten Micha zu einem Lügenpropheten, den Propheten Joel zu einem Märchenerzähler sowie die Apostel Petrus und Paulus zu Übermittlern von Mythen. Es handelt sich bei ihrem Zitat der Schrift auch nicht bloß um sog. Schriftbeweise, um ihre 118

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Hörer zu überzeugen. Vielmehr geht es um die Deutung des Kommenden im Licht der Schrift. Denn es ist derselbe Geist, der durch die Propheten gesprochen hat, der Christus von den Toten auferweckte, so dass der Gesalbte des Herrn sprechen kann: »Den Beschluss des Herrn will ich kundtun. / Er sprach zu mir: ›Mein Sohn bist du. Heute habe Ich dich gezeugt‹« (Ps 2,7). Dieses Heute aber leitet die messianische Wende der Geschichte ein, mehr noch als das »Heute« gemäß dem Worte des Engels an die Hirten nach seiner Geburt: »Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr« (Lk 2,11). Handelt es sich hierbei um den entscheidenden Punkt in der Zeit, gewissermaßen um die Zeitenwende, da fortan die Zeit als die Zeit nach Christi Geburt gezählt wird, so setzt mit der Inthronisation des Auferstandenen infolge seiner Zeugung als messianischer Herrscher die Vollendung der Zeit bzw. die Zeit der Vollendung ein. Daher ist auch der Zeitindex ein anderer als zuvor in der alttestamentlichen Prophetie. Heißt es bei dem Propheten Joel (3,1), den Petrus in seiner Pfingstpredigt zitiert, danach aber wird es geschehen; oder aber beim Propheten Daniel (2,28), er ließ den König Nebukadnezzar in der Deutung seines Traums vom Standbild wissen, was am Ende der Tage geschehen wird, so tritt im Buch der Offenbarung an die Stelle der Vision einer fernen, ja unabsehbaren Zukunft die Zeit messianischer Aktualität. »Und der Engel sagte zu mir: Diese Worte sind zuverlässig und wahr. Gott, der Herr über den Geist der Propheten, hat seinen Engel gesandt, um seinen Knechten zu zeigen, was bald geschehen muss« (Offb 22,6). Die Zeit der Vollendung, die messianische Zeit im Zuge der Auferstehung und Inthronisation Christi, kennt strenggenommen keine (ferne) Zukunft, sondern einzig ein Heute, in dem das Kommende erschlossen wird. »Siehe, ich komme bald. Selig, wer an den prophetischen Wor119

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ten dieses Buches festhält« (Offb 22,7). Es werden seinem Hörer oder Leser nun nicht gerade glückselige Zeiten verheißen. Dessen Seligkeit besteht vielmehr darin, dass er nicht getäuscht wird. Mag das Buch der Offenbarung auch voller Bilder und Chiffren sein, so ergeht gleichwohl an den Seher die Mahnung des Engels: »Und er sagte zu mir: Versiegle dieses Buch mit seinen prophetischen Worten nicht! Denn die Zeit ist nahe« (Offb 22,10). Bei dem letzten Satz handelt es sich um ein Selbstzitat, um den Abschluss des Vorworts (vgl. Offb 1,3). Die Nähe der Zeit entspricht der Aktualität des Kommens Christi. Daher der bereits zitierte Ausruf: »Der Geist und die Braut aber sagen: Komm! Wer hört, der rufe: Komm! Wer durstig ist, der komme. Wer will, der empfange umsonst das Wasser des Lebens« (Offb 22,17). Dem entspricht am Ende die messianische Selbstbezeugung Jesu: »Er, der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald.« – Darauf die Anrufung: »Amen. Komm, Herr Jesus« (Offb 22,20; vgl. auch 1 Kor 16,22).

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XI. Die Unumkehrbarkeit des Zeitgeschehens in der apokalyptischen Zeit Weit davon entfernt, ein bloßes Stilmittel zu sein, sind die Akklamationen des kommenden Christus am Ende der Offenbarung keineswegs lediglich das Zeichen einer Art apokalyptischer Ungeduld. Denn mit der Erwartung des messianischen Herrschers, mit der Nähe seines Kommens wandelt sich auch der Zeitbegriff. Es ist kein Zufall, dass wohl der schärfste Kritiker des Historismus, der Philosoph Walter Benjamin, in einer Aufzeichnung seines Passagen-Werks, das die Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts umfassen sollte, konstatiert: »Das Pathos dieser Arbeit: es gibt keine Verfallszeiten. Versuch, das neunzehnte Jahrhundert so durchaus positiv anzusehen wie ich in der Trauerspielarbeit das siebzehnte mich zu sehen bemühte. Kein Glaube an Verfallszeiten. So ist auch (außerhalb der Grenzen) mir jede Stadt schön und ebenso ist mir die Rede von einem größeren oder geringern Wert der Sprachen nicht akzeptabel« (GS V.1, 571). Benjamin hat sowohl mit einer zyklischen Auffassung von Zeiten und Kulturen, von deren Aufstieg und Niedergang, eines ewigen Kreislaufs, der dann glücklicherweise durch den Fortschritt in eine gar so wunderbare Zukunft durchbrochen wird, als auch mit dem Fortschrittsgedanken gebrochen: »Die Überwindung des Begriffs des ›Fortschritts‹ und des Begriffs der ›Verfallszeit‹ sind nur zwei Seiten ein und derselben Sache« (ebd., 575). Benjamins kryptotheologische Konzeption der Geschichte, auf die wir hier nicht näher eingehen können, trägt wie kaum eine andere unseres Zeitalters der Einmaligkeit aller Epochen Rechnung, insofern jede einzelne gleichsam in einem messianischen Licht erstrahlt. Oder wie es im sog. Epheser-Hymnus heißt, 121

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Gott habe »beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist« (Eph 1,10). Doch abgelöst vom Kommen Christi, in einer rein immanenten Betrachtungsweise der Geschichte, stößt deren positive Bestimmung schnell an ihre Grenzen: Das siebzehnte Jahrhundert war durch den Dreißigjährigen Krieg gezeichnet; das neunzehnte Jahrhundert durch die napoleonischen Kriege und einen aufkommenden Nationalismus sowie Imperialismus; das frühe zwanzigste gar durch den Ersten Weltkrieg, dem ein zweiter folgte, dessen Anfänge Benjamin nicht überleben sollte, obwohl er die heraufziehende Katastrophe in ein treffendes Bild fasste, und zwar in These IX seiner letzten Aufzeichnungen Über den Begriff der Geschichte: »Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm« (GS I.2, 697 f.). Er hat sich in den Flügeln des Engels verfangen, um ihn in eine Zukunft zu treiben, die er nicht sieht, ja, nicht sehen kann, weil er ihr den Rücken zukehrt. Deshalb vermag er sich nicht über die Geschich122

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te zu erheben, auf die sein Blick fixiert ist: »Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.« Über sie aber führt in der Moderne trotz aller Zukunftsorientierung nichts hinaus, weil niemand gleich dem Engel der Apokalypse zeigen kann, was bald geschehen muss (vgl. Offb 22,6). Benjamins Angelus Novus bleibt der Zeit verhaftet, deren Sturm ihn davonträgt, wie Nietzsches Zarathustra nicht über die Zeit hinausfindet, insofern er sich eingestehen muss (KGW VI.1, 149): »Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: ein Grauen überfiel mich. Und als ich um mich sah, siehe! Da war die Zeit mein einziger Zeitgenosse.« Die Unumkehrbarkeit der Zeit ist es, die alle, die über ihre Zeit hinauszugreifen suchen, dem kommenden Messias und Menschensohn entgegentreibt: »Denn die Zeit ist nahe« (Offb 22,10). Ist doch das Bild des Grauens, das Nietzsches Zarathustra überfällt, ein dialektisches, näher besehen: ein apokalyptisches. Denn keineswegs verhält es sich so, dass er sich so weit in die Zukunft vorgewagt hätte, dass mit seinem Flug sein Traum von der Wiederkehr des Gleichen für alle Zeit ausgeträumt worden wäre; das wäre das wenigste. Es gibt für ihn vielmehr nicht nur kein Zurück, sondern auch kein Voran – über die Zeit hinaus, in die es ihn verschlagen hat. Mochte es Nietzsche, wie so manchen seiner Zeitgenossen, aus seiner Zeit, aus der bürgerlichen Welt des neunzehnten Jahrhunderts, in eine erträumte Zukunft oder in eine unvordenkliche Vergangenheit ziehen – so führt nun nichts über die Zeit hinaus, die er sich einmal erträumt hat, doch nun zum Albtraum geworden ist, weil sie das Ende des bürgerlichen Zeitalters einleiten sollte. Doch nicht besser ergeht es Benjamins Engel der Geschichte, der sich der Begrenzung der Zeit bewusst ist. »Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine 123

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Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.« Mochte es für Benjamin noch wenige Jahr zuvor eine positive Würdigung des siebzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts gegeben haben, so ist ihm mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine entsprechende Perspektive auf das zwanzigste, also auf die Zeit, in die sein Angelus Novus gestellt ist, verstellt: Eine einzige Trümmerlandschaft vor Augen, vermag er sich erst gar nicht umzuwenden, um der Zukunft entgegenzufliegen, weil er von einem Sturm, von der Dynamik des Fortschritts in sie hineingetrieben wird, so dass sich bereits Benjamins Kindheit um Neunzehnhundert, erst recht das neunzehnte Jahrhundert der Pariser Passagen wie eine ferne Welt ausnimmt, mochte sie in seiner Phantasie auch jenem Paradiese gleichen, aus dem ihn der Sturm für immer forttrug. Was an Benjamins Ausgriff in die Geschichte in Gestalt des Angelus Novus wie auch buchstäblich am »Aus-flug« von Nietzsches Zarathustra in die Zukunft deutlich wird, ist die Tatsache, dass bei allem Zukunftstaumel ihrer Zeitgenossen nichts über die messianische Zeit der Vollendung hinausführt, in der kaum zufällig Urgeschichte und Endzeit einander korrespondieren. Denn »wie es zur Zeit des Noach war, so wird es auch in den Tagen des Menschensohnes sein. Die Menschen aßen und tranken und heirateten bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging; dann kam die Flut und vernichtete alle. Und es wird ebenso sein, wie es zur Zeit des Lot war: Sie aßen und tranken, kauften und verkauften, pflanzten und bauten. Aber an dem Tag, an dem Lot Sodom verließ, regnete es Feuer und Schwefel vom Himmel, und alle kamen um. Ebenso wird es an dem Tag sein, an dem sich der Menschensohn offenbart. Wer dann auf dem Dach ist und seine Sachen im Haus hat, soll nicht hinabsteigen, um sie zu 124

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holen, und wer auf dem Feld ist, soll nicht zurückkehren. Denkt an die Frau des Lot!« (Lk 17,26–32). Was den Jüngern Jesu – die Urgeschichte Israels vor Augen – noch einleuchten mochte, die bittere Lektion hatte eine Generation, die wie Nietzsche oder Benjamin im Zeitalter des Historismus groß geworden war, noch zu lernen: die Unumkehrbarkeit des Zeitgeschehens in der apokalyptischen Zeit; ihr vermag niemand zu entgehen, weder durch den Traum von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, wie ihn Nietzsche träumte, noch durch den Fortschritt in eine traumhafte Zukunft – ein Traum, der Benjamin – bei allen melancholischen Rückblicken auf frühere Epochen und bei aller Fortschrittskritik – letzthin mit den Surrealisten und der Mehrheit seiner Zeitgenossen, zumal auf Seiten der politischen Linken, verband. Denn Umkehr [griechisch: metanoia] ist eine, wenn nicht die zentrale Kategorie der messianischen Zeit, die freilich über das erste Kommen des Messias hinaus bis zum Letzten Tag, ja bis zur letzten Stunde gilt, wie die Reue des guten Verbrechers am Kreuz beweist. Für die Endzeit aber gilt, dass für viele – bis in die Kirchen hinein – metanoia buchstäblich zum Fremdwort geworden ist, wie es sich ja auch um eine Wortschöpfung des neutestamentlichen Griechisch handelt. Daher konstatiert der Engel der Apokalypse nüchtern: »Wer Unrecht tut, tue weiter Unrecht, der Unreine bleibe unrein, der Gerechte handle weiter gerecht, und der Heilige strebe weiter nach Heiligkeit. Siehe, ich komme bald, und mit mir bringe ich den Lohn, und ich werde jedem geben, was seinem Werk entspricht« (Offb 22,11 f.). Weniger um eine Verheißung handelt es sich hier, sondern um die nüchterne Feststellung der Konsequenz unseres Handelns, soweit es kein Gesetz über sich erkennt, geschweige denn Gottes Willen anerkennt, da Gott ihm nicht viel mehr bedeutet als ein Wort aus der Religionsgeschichte. Und aus diesem Grunde ist es auch völ125

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lig abwegig, mit Blick auf die Katastrophen unseres Zeitalters von Tragik zu reden, wie Benjamin es ja bereits in seinem Trauerspielbuch hinsichtlich des siebzehnten Jahrhunderts näher dargelegt hat: »Die griechische, die entscheidende Auseinandersetzung mit der dämonischen Weltordnung gibt auch der tragischen Dichtung ihre geschichtsphilosophische Signatur. Das Tragische verhält sich zum Dämonischen wie das Paradoxon zur Zweideutigkeit. In allen Paradoxien der Tragödie – im Opfer, das alter Satzung willfahrend, neue stiftet, im Tod, der Sühne ist und doch das Selbst nur hinrafft, im Ende, das den Sieg dem Menschen dekretiert und dem Gotte auch – ist die Zweideutigkeit, das Stigma der Dämonen, im Absterben. Überall ist, wie schwach auch immer, der Akzent gesetzt. So auch im Schweigen des Helden, der Verantwortung weder findet noch sucht und dergestalt den Verdacht auf die Instanz der Verfolger zurückwirft. Denn seine Bedeutung schlägt um: nicht die Betroffenheit des Angeschuldigten, sondern das Zeugnis sprachlosen Leidens erscheint in den Schranken und die Tragödie, die da gewidmet schien dem Gerichte über den Helden, wandelt sich zur Verhandlung über die Olympischen, bei der jener den Zeugen abgibt und wider willen der Götter ›die Ehre Des Halbgotts‹ kundmacht. Der tiefe aischyleische Zug nach Gerechtigkeit beseelt die widerolympische Prophetie aller tragischen Dichtung« (GS I.1, 288). Es handelt sich aus theologischer Sicht um ein Verlangen nach Gerechtigkeit, das vor dem mosaischen Gesetz wie dem »Gesetz des Glaubens« (vgl. Röm 3,27) liegt, da die Gerechtigkeit Gottes in Christus noch nicht offenbar geworden ist. Es herrscht in jener Welt eine Fatalität, gegen die der tragische Held ankämpft, um ihr am Ende zu erliegen: als Zeuge des Unrechts, das ihr zugrunde liegt – einer Welt, die weder Erlösung kennt noch Erlösung bringt.

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Ganz anders die Katastrophen unseres Zeitalters der Weltkriege und der Gewaltherrschaften, mögen sie auch tausendfach als »Tragödien« etikettiert worden sein: Nicht um eine Tragödie im Sinne des tragischen Zeitalters der Griechen handelt es sich, um eine Erhebung gegen die olympischen Götter, sondern um ein einziges Aufbegehren »gegen den Herrn und seinen Gesalbten: ›Lasst uns ihre Fesseln zerreißen und von uns werfen ihre Stricke!‹« (Ps 2,2b f.). All die Kriege und Katastrophen sind von Menschen gewollt und gemacht, mögen auch zeitgenössische Historiker darüber streiten, wie etwa das Zögern des britischen Außenministers Grey vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu bewerten oder die persönliche Schuld eines Potentaten oder einer Nation zu gewichten sei. Ob sie nun mit schlafwandlerischer Sicherheit in den Krieg taumelten oder nachtwandlerisch à la Nietzsche-Zarathustra die Finsternis herbeisehnten – einig erscheinen die Verantwortlichen jener Generation, des geistigen wie des politischen Lebens, in einem: in der Auslöschung des Geistes, vor der schon der Apostel Paulus gegen Ende seines ersten Briefes an die Thessalonicher warnt (1 Thess 5,19–22): Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles, und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt! Nicht allein in der Philosophie Nietzsches hat das Böse seinen Fürsprecher gefunden. »Zu erwägen: / Das vollkommene Buch. –« ist ein nachgelassenes Fragment vom Herbst 1887 überschrieben (vgl. KGW VIII.2, 64), mit dem Vermerk: »Das Werk auf eine Katastrophe hin bauen« (vgl. ebd. 65). Welche Katastrophe gemeint ist, verrät Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment von November 1887 – März 1888: »Was ich erzähle, ist die Ge127

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schichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier schon am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt sich überall an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen« (KGW VIII.2, 431). Hatte er doch selbst, wie eingangs zitiert, in der Fröhlichen Wissenschaft jener Musik den Takt vorgegeben, insofern »vielleicht der große Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt …« (vgl. KGW V.2, 319). Eine Tragödie, die mit der griechischen lediglich den Namen gemein hat, weil der Typus Nietzsches mit Stricken herbeizieht, wogegen der Mensch des tragischen Zeitalters der Griechen verzweifelt ankämpft: seinen eigenen Untergang. Einer der wenigen, der den Weg dorthin, den Weg in den Abgrund, beizeiten erkannt hat, war der Satiriker Karl Kraus, der in Apokalypse (Offener Brief an das Publikum) vom Oktober 1908 zunächst resigniert feststellt: »Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies schon in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?« Um anschließend selbst die Antwort zu geben: »Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten für die Werke des Geistes. 128

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Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muß sie untergehen.« Das ist wohlgemerkt Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geschrieben. Denn das »Heute« im Ablauf der Geschichte, wie es jede Chronik verzeichnet, bedeutet, nicht über die Zeit, in der wir leben, hinausgehen zu können: »weil es kein Morgen mehr gibt«. Aber auch kein Zurück, weil alles zur Vergangenheit wird. Das ist das Schicksal derer, die keine Umkehr kennen, sondern ganz in ihrer Zeit aufgehen, um mit ihr – ganz zielbewusst – unterzugehen; die selbst Schicksal spielen bzw. nach einem Wort Nietzsches der Lust am Selbstuntergang frönen. Anders als das Heute des messianischen Menschen, der mit seiner Zeit bricht, um dem kommenden Christus entgegenzugehen, erweist sich mit der Auslöschung des Geistes gemäß der Einsicht Nietzsches die Zeit als ihr einziger Zeitgenosse – eine Zeit, die besinnungslos auf ihr Ende zueilt; einer Zeit, der sie hoffnungslos ausgeliefert sind: »Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muß sie untergehen.« Und zwar ganz so, wie Kraus fortfährt, geradezu das Wort des Apostels Paulus von der Auslöschung des Geistes bestätigend: »Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach der Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann« (Alle Kraus-Zitate: Untergang der Welt durch schwarze Magie = Werke, Bd. 8, 16). Was Kraus wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen erkannte, ist die eschatologische, ja apokalyptische Ausrichtung der Geschichte: die Unumkehrbarkeit des Zeitgeschehens auf das Ende hin, das mit der Vernichtung des Geistes seinen Lauf nimmt, mag auch die äußere Welt zunächst standhalten. In nichts deutlicher aber erweist sich das Verhängnis als ebendarin, als im Aufschub des Endes: Haben doch allein im letzten Quartal des Zweiten Weltkriegs so viel Menschen ihr Leben verloren wie in den drei 129

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vorausgehenden Quartalen. Was dann Tragödie genannt wird, erweist sich als die bittere Konsequenz der eigenen Verirrung, das Schicksal bewusst herausgefordert, den Geist ausgelöscht zu haben durch die Vergottung seiner selbst, der eigenen Kultur oder Nation, der Idole seiner Zeit. Wie isoliert ein Karl Kraus mit seiner theologischen Deutung des Zeitgeschehens nicht nur vor dem Ersten Weltkrieg dastand, sondern noch Jahre danach, zeigt eine Betrachtung Reinhold Schneiders zu Nietzsches Grab, signiert »Potsdam, 2. Juni 1935« (vgl. Ges. Werke 7: Geschichte und Landschaft, 430–437). Sie ist lesenswert nicht nur aufgrund der einzigartigen Begabung Schneiders, geschichtliche Zusammenhänge in Natur- bzw. Landschaftsbildern zu erfassen, sondern weil der frühe Schneider – trotz seiner Konversion zur katholischen Kirche – nicht über eine idealistische Geschichtsdeutung hinausfindet, die die christliche Überlieferung mit der deutschen bzw. europäischen Geschichte zu harmonisieren trachtet. »Der Turm zu Röcken stammt noch aus romanischer Zeit; er ist ungefüg und fast zu schwer für die kleine Kirche mit dem gotischen Chore; in seinen hochgelegenen winzigen Fenstern stehen noch die runden Säulen. Ringsum breitet sich der Rasen, auf dem die Grabsteine verstreut sind; einige Kreuze und Platten neigen sich, als wollten sie den Toten nachsinken in die Erde. Mauern schließen das enge Totenfeld ein, ohne den alten ländlichen Häusern draußen den Blick auf den Friedhof zu gewähren. Hier, an der Mauer der Kirche, neben dem Grabstein der Mutter liegt die Platte, die Friedrich Nietzsches Namen nennt; und man könnte wohl meinen, daß keine Stätte dem Denker fremder sein müsste als diese, wo er die letzte Ruhe fand.« Ihrer Schilderung schließen sich einige Fragen an, die zunächst um Nietzsche kreisen: »Führte hierher der Weg Zarathustras, in den Schatten der alten Kirche, die noch in 130

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der besten Zeit des Glaubens und wohl auch des Reiches gegründet wurde? Hätte er nicht ein anderes Grab finden müssen, auf einer südlichen Felsenhöhe, vielleicht angesicht des Golfes von Rapallo, den er so liebte? Was verband ihn mit der Kirche außer seinem Haß? Und mit dieser deutschen Enge, dieser schlichten, fast armen Landschaft, in der keine Größe ist; in der eben nur die Seele eine Zuflucht findet; in der sich der Gedanke bestenfalls ein grenzenloses Reich erschaffen kann, das niemals Wirklichkeit wird?« – Doch nun folgt ein geschichtlicher Ausblick, der Land und Leben Nietzsches verbindet: »Aber das Grab liegt in der großen Schlachtenebene der Deutschen. Denn nicht ferne von Röcken wehte die schwedische Fahne an der Stelle, wo Gustav Adolf an jenem Nebeltage des Jahres 1632 fiel: in derselben Ebene, wo der Schwedenkönig bei Breitenfeld einen großen Sieg gewann; hier, gegen Weißenfels, flüchteten die Franzosen vorüber nach der Völkerschlacht; aber auch Großgörschen ist nicht fern, und über dem Passe von Kösen, auf dem Ackerlande, liegt Auerstedt; an der Brücke von Weißenfels drohte Friedrich dem Großen die tödliche Kugel, eh er bei Roßbach seinen strahlenden Sieg gewann; Karl V. zog hier vorüber nach Naumburg nach seinem Siege bei Mühlberg; und auch die Schlachtfelder des alten Reichs sind nahe: südlich, bei Hohenmölsen an der Elster, verlor Rudolf von Schwaben die Schwurhand, mit der er Heinrich IV. die Treue geschworen; auf der Ebene vor Merseburg übte Heinrich I. seine Reiter; allzu fern sind auch nicht die Schlachtfelder der Unstrut: Homburg, wo Heinrich IV. die Sachsen schlug, Riade, wo Heinrich I. die Ungarn besiegte, Burgscheidungen, wo der letzte Thüringerkönig fiel; und nördlicher, in der Gegend von Mansfeld, schlugen die Sachsen den Feldherrn Kaiser Heinrich V., den Grafen Hoyer von Mansfeld, am Welfesholze.« Schneider zeichnet in das weite Panorama der Landschaft, 131

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die sich ihm von Nietzsches Grab aus öffnet, das Schlachtenpanorama einer gut tausendjährigen Geschichte ein, um in sie Nietzsches Vision einzubetten: »Hinter dem Grabe zu Röcken öffnet sich die Landschaft deutscher Tradition, schwer verhangenes Land; der Denker, der in der Schlachtenebene geboren wurde und in ihr sein Grab fand, trug auf der Ebene des Geistes die Geschichte seines Volkes aus, so wie ein jeder Geist von Bedeutung die Geschichte austragen muß, unabhängig von seinem Willen. Auch das Leben der Geistigen ist, wie das der Politiker, zu einem guten Teile Frondienst an der Geschichte, deren Wesen darin besteht, daß sie den Menschen wohl fordert, aber über den Menschen hinweg zu diesen unbekannten Zielen strebt. Nietzsche, der, nachdem er den Zarathustra geschrieben, nach Rom ging, um dort in der Vorstellung, ein Zertrümmerer zu sein, ein seltsames Glück zu genießen: er war der Reformation nicht so fern, wie er meinte; im Gegenteil, die Tradition des deutschen Protestantismus lebte in ihm. Wie aber die Reformation nur verständlich ist, insofern sie auf die Geschichte des alten Reiches und seine Kämpfe bezogen wird, so steht auch der Zertrümmerer in der Geschichte als ein Träger dieses alten Streits; den Namen ›Der Hammer‹, den er für sich beanspruchte, hatte schon Thomas Münzer und vor ihm Friedrich II. geführt.« Doch so eindrucksvoll Schneiders Versuch wirkt, Nietzsches Gestalt im Lichte der deutschen Geschichte wie der Geschichte der Reformation zu begreifen, ja dass Nietzsche von ihr und Gottes Gewalt am Ende eingeholt werde, so stößt er auf seine Grenzen angesichts des Begriffs der Tragödie, selbst in ihrer christlichen Umdeutung. »Alle, die auf Erden mit ihrer ganzen Seele streiten«, heißt es abschließend, »streiten für Gott. Und vielleicht ist darum das Grab zu Röcken in einem Sinne, der nicht ausgesprochen, kaum gedeutet werden kann, am rechten Ort. 132

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Aber auch innerhalb der deutschen Tradition ist es am rechten Ort: an deren Straße des deutschen Geistes, deren Ziel nicht mehr zweifelhaft ist.« Nun mag Nietzsches Grab »am rechten Ort« sein, an einem Ort der Stille inmitten einer Landschaft voller Kriegsschauplätze und Aufruhr, Nietzsche selbst dürfte seiner »Heimholung« in das Land der Ruhe kaum zugestimmt haben. Doch fragwürdiger das Fazit: »an der Straße des deutschen Geistes, deren Ziel nicht mehr zweifelhaft ist.« Denn zweifelhafter ist es nie gewesen als in jenen Jahren. Immerhin hatte Schneider, der alsbald zu einer Symbolfigur des geistigen christlichen Widerstands gegen die NS-Herrschaft avancieren sollte, noch das Nachwort von Philipp der Zweite oder Religion und Macht (Leipzig 1931) mit einem fulminanten Anruf beschlossen: »Das Echo entspricht der Stimme, die ruft. Dem Hinaufsteigenden ist der Turm ein Symbol des Sieges; dem Hinabsteigenden ein Symbol des Untergangs. Wenn aber eine neue Stimme das Wort in den alten Hallen wagt, um eine Bestätigung zu erfahren, so tönt der Anruf besser zu hart als zu zaghaft. So könnte wenigstens über alle Unzulänglichkeiten hinweg das eine dargetan werden, das not tut: der Mut zur Tragödie, zur Totalität.« Es bedarf keiner weiteren Erklärung, dass es eines solchen »Anrufs« gar nicht bedurft hätte »Madrid, im Sommer, / Paris, im Winter 1930« – zu einer Zeit also, als sich die Mächte des Todes längst formierten. Denn was sich an Schneiders geschichtlicher Deutung der großen Gestalten der Welt- und Geistesgeschichte, so empathisch sie zweifellos ausfällt, ablesen lässt, ist die Unterschätzung, ja Verkennung der apokalyptischen Dimension der Geschichte: dessen, »was bald geschehen muss« (vgl. Offb 22,6). Anstatt das Zeitgeschehen, das sich wie ein Auszug aus der Apokalypse liest, im Licht der Offenbarung zu deuten, erscheint diese – das letzte Buch der Bibel – wie ein Buch mit sieben Siegeln, obschon dem heili133

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gen Johannes bedeutet wird: »Versiegle dieses Buch mit seinen prophetischen Worten nicht! Denn die Zeit ist nahe« (Offb 22,10). Schneider hat wohl seine eigene Sicht der Geschichte im Rückblick korrigiert, und zwar in seinem Freiburger Vortrag über Newmans Entscheidung vom 19. September 1945, allerdings unter Rekurs auf die visionären Einsichten des Kardinal Newman: »Und wenn ich auch nicht sagen will, daß das Ende kommt, treten wir doch bald in einen neuen Kreis heiliger Geschichte ein.« Dazu Schneider: »Aber heilige Geschichte ist tödlicher Kampf der Gewalten; Newman sah die Herausforderung, die sich durch sein Jahrhundert vorbereitet hatte, in ihrer letzten Gestalt leibhaftig erscheinen: ›Die nächste und übernächste Generation werden eine furchtbare Zeit erleben. Der Teufel ist losgelassen. Möchten wir vor jenem Tage alle geborgen sein‹, schrieb er im Jahre 1882« (Gesammelte Werke 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, 372 f.). Ganz in diesem Sinne, obgleich anders als Nietzsche es sich wohl vorgestellt hatte, sollte sein vorausblickendes Wort aus der Vorbemerkung seiner Schrift Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum seine volle Bestätigung finden: »Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthu〈m〉 geboren« (KGW VI.3, 165). Klarer als Newman hat niemand das Kommende heraufziehen sehen – nicht zuletzt das diabolische Unwesen, das darin zutage tritt, gewissermaßen unter philosophischer Beihilfe, Mäeutik: »um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet als ein Wesentliches, in das Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund zu bringen« (GA 65, 243). Zur näheren Bestimmung jenes »Seyn« vermerkt Heidegger später: »daß dieses die Verweigerung und das Entsetzen selbst ›ist‹ und als dieses im Ereignis gewahrt werden und daher immer schwer ein Kampf sein muß, der sich in der äußersten Tie134

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fe als ein Spiel des Abgründigen offenbart« (ebd. 474). Wie bereits an anderer Stelle vermerkt, ist hier das einzige Mal, immerhin in einem Werk von mehr als 500 Seiten, von Offenbarung die Rede – von der Offenbarung als einem Spiel des Abgründigen. Nur selten ist Heidegger in jenen Jahren deutlicher geworden als so mancher, der es aufgrund der eigenen christlichen Überlieferung hätte besser wissen müssen, das Spiel des Abgründigen nicht durchschaute.

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XII. Zeugnis als Martyrion und Martyria Wenn in den Paradoxien der griechischen Tragödie nach Einsicht Walter Benjamins »die Zweideutigkeit, das Stigma der Dämonen, im Absterben« begriffen ist (vgl. GS I.1, 288), so gelangt sie in den vermeintlichen Tragödien unserer Zeit zu neuer Blüte, da ihre Urheber keinerlei Sühne kennen, sondern in der Akkumulation unabsehbarer Schuld nur eines suchen – den Tod. Alles andere als paradox erscheint es daher, wenn Nietzsche, der nicht nur in seinem so überschriebenen Werk einen Zustand von Jenseits von Gut und Böse beschwor, sich eingesteht: »Es wirken auch in uns Dämonen« (KGW VIII.1, 9). Er selbst hat einen von ihnen ausfindig gemacht. So vermerkt er in Morgenröthe (§ 262: Der Dämon der Macht): »Nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, – nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen. Man gebe ihnen Alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung, – sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt sein. Man nehme ihnen Alles und befriedige diesen: so sind sie beinahe glücklich, – so glücklich als eben Menschen und Dämonen sein können« (KGW V.1, 211). Klarer als in jeglicher Psychologie, einschließlich Nietzsches eigener, ist es ihm hier gelungen, die Kräfte beim Namen zu nennen, die Unzählige im darauffolgenden Jahrhundert in den Abgrund zogen, mochte dieses noch weniger als das Jahrhundert zuvor etwas von Dämonen wissen wollen. Doch nicht allein im Raum der Geschichte sind sie zu Hause – nicht weniger im Bereich des Denkens, wenn etwa in Heideggers Philosophie bezeichnenderweise »die Zweideutigkeit der Aussage« an die Stelle des Logos tritt (vgl. GA 65, 474). Dabei belässt es Heidegger nicht, inso137

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fern er in den Anmerkungen V des vierten Bandes seiner Schwarzen Hefte genau zu unterscheiden weiß: »Das Dämonische ist nicht diabolisch; das Diabolische reicht nicht in das Dämonische. Der Diabolos ist nur der Gegenspieler des einen, d. h. des rachsüchtigen Gottes« (GA 97, 441). Gemeint ist offensichtlich der Gott der Bibel, obschon von Ihm der heilige Johannes schreibt: »Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,8). Diesen Gott scheint Heidegger schlecht zu kennen, insofern Christus kundtut: »Auch richtet der Vater niemand, sondern Er hat das Gericht ganz dem Sohn übertragen, damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren« (Joh 5,22 f.). Weder an dem einen noch an dem anderen, dem Logos Gottes, liegt offenkundig dem einsamen Denker, da er das Zeugnis Gottes verschmäht: »Wenn wir von Menschen ein Zeugnis annehmen«, schreibt der heilige Johannes, »so ist das Zeugnis Gottes gewichtiger; denn das ist das Zeugnis Gottes: Er hat Zeugnis abgelegt für seinen Sohn. Wer an den Sohn Gottes glaubt, trägt das Zeugnis in sich. Wer Gott nicht glaubt, macht Ihn zum Lügner, weil er nicht an das Zeugnis glaubt, das Gott für seinen Sohn abgelegt hat. Und das Zeugnis besteht darin, dass Gott uns das ewige Leben gegeben hat; und dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht« (1 Joh 5,9–12). Hier, vom Zeugnis [griech.: martyria] Gottes, dem Zeugnis des Lebens, scheidet sich das Denken Heideggers, für das, wie bereits dargetan, gilt »im genauen Gegenteil: der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« (vgl. Beiträge zur Philosophie, 284). Ganz in diesem Sinne begreift Heidegger das menschliche Leben, wie er auch in den Anmerkungen IV seiner Schwarzen Hefte 1942–1948 unmissverständlich zu verstehen gibt: »Denkbar wird das Wesen der Geburt des Menschen nur aus dem Wesen des 138

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Todes« (GA 97, 372). Deshalb kennt sein »Denken« keinerlei Eingedenken, allenfalls ein »Andenken«. Das Los der Opfer der Kriege oder der Konzentrationslager erscheint letzthin so gleichgültig und unabwendbar wie ein verheerender Regenguss, insofern ihnen nicht, durch Heimat und Brauchtum verbunden, unser Andenken gilt; allerdings unter der Voraussetzung: »Das angehende Andenken entspricht der Vergessenheit« (GA 97, 282). Denn wo der Tod das letzte Wort behält, ja, das Wesen der Geburt des Menschen nur aus dem Wesen des Todes denkbar erscheint, da herrscht am Ende das Vergessen – der Wunschtraum dessen, der nichts zu verlieren hat; dem es einzig darum geht, sich selbst ein Denkmal zu setzen, bevor er in die Vergessenheit eingeht. »Andenken an die Vergessenheit sagt: ihr als dem Ereignis gehören, in die Vergessenheit gelangen; meint aber nicht, die Vergessenheit vorstellen, um mit dieser Vorstellung eine Philosophie zu machen. Das wäre die schärfste Art, der Vergessenheit sich zu widersetzen« (GA 97, 283). Es bedarf einer solchen Philosophie erst gar nicht. Denn in der Tat ist die Vergessenheit als Besiegelung des Todes das Unvorstellbare, weil sie nicht nur auf die Besiegelung menschlicher Schuld hinausläuft, sondern jeglichem Lebensrecht der Boden entzogen wird. Dass in einer Philosophie nicht von Liebe oder Barmherzigkeit die Rede ist, ist nicht neu. Über »das Geheimnis der Liebe« weiß Heidegger letztlich nicht viel mehr zu sagen: »Aber wie voll der Selbsttäuschung ist die Liebe ( … )« (vgl. GA 97, 61). Dass Heideggers Schwarze Hefte kein Mitleid kennen, allenfalls vor Selbstmitleid triefen, mag seine persönliche Natur betreffen. Wahrhaft diabolisch, ja antichristlich ist ein anderer Grundzug seines Denkens: der Ausfall des Rechts, von Gerechtigkeit gar nicht zu reden, allenfalls in einem ironischen Sinne. Denn mögen die heidnischen Römer grausam gegen die Christen vorgegangen sein, so 139

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kannten sie gleichwohl eine Rechtsordnung, ebendas römische Recht. Israel hatte das Gesetz, die Griechen kannten Heiliges Recht (vgl. dazu die Habilitationsschrift von Kurt Latte, Heiliges Recht. Untersuchungen zur Geschichte der sakralen Rechtsformen in Griechenland, Tübingen 1920). Doch die Deklaration des Todes als »das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« steht im Widerspruch zum Zeugnis Gottes, das Heidegger bei allem Spott durchaus zu fürchten hat, insofern es der Sphäre des Rechts angehört, wie nach Ps 97,2 Gerechtigkeit und Recht die Basis, die Stützen seines Throns sind. Bildet doch das Zeugnis Jesu Christi den terminus ad quem der Offenbarung, ja des Evangeliums der Kirche, der neutestamentlichen Überlieferung. Denn die Autorität jenes Zeugnisses liegt nicht in uns selbst, im Erweis unserer Stärke, neuzeitlich gesprochen: im Ausweis unserer Subjektivität. Vielmehr betont etwa im Vorwort zur Offenbarung Jesu Christi »sein Knecht Johannes«: »Dieser hat das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi bezeugt: alles, was er geschaut hat« (Offb 1,2). Ganz in diesem Sinne vermerkt auch der Apostel Paulus in seiner Einleitung zum ersten Korintherbrief: »Ich danke Gott jederzeit für die Gnade Gottes, die euch in Christus Jesus geschenkt wurde, dass ihr in allem reich geworden seid in ihm, an aller Rede und Erkenntnis. Denn das Zeugnis über Christus wurde bei euch gefestigt, so dass euch keine Gnadengabe fehlt, während ihr auf die Offenbarung Jesu Christi, unseres Herrn, wartet. Er wird euch festigen bis ans Ende, so dass ihr schuldlos dasteht am Tag Jesu, unseres Herrn« (1 Kor 1,4–8). Dazu heißt es in einem Kommentar von Erik Peterson: »Das Verbum βεβαιοῦν [bebaioun] ist ein Terminus aus der Rechtssprache. Paulus liebt es, Bilder aus der Rechtssprache zu entnehmen. Βεβαιοῦν heißt soviel wie ›rechtlich sichern‹, ›garantieren‹, wie βεβαίωσις [bebaiosis] dann sowohl ›Verbürgung‹ oder ›Sicherstel140

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lung‹ heißt. In dem Maße also, in dem das Zeugnis von Christus sichergestellt ist, kam es auch zu jeglicher Form von logos und gnosis in Korinth.« Weiter stellt Peterson klar, dass die Wendung martyrion Christi [Zeugnis Christi] schwer konkret zu übersetzen sei. »martyrion ist nicht ganz mit martyria identisch. Martyrion ist die abgeschlossene martyria.« Zur rechtlichen Bedeutung von martyria vermerkt Peterson in dem anschließenden Exkurs: »Der neuzeitliche Pietismus hat den Begriff des Zeugnisses von Christus verengt. Er stellt das Zeugnis der Predigt gegenüber und die geistgewirkte Rede der angelernten. Der neutestamentliche Sprachgebrauch zeigt aber, daß das geistgewirkte Zeugnis nicht einfach autoritätslos ist. Vielmehr ist die autoritative Wirkung der martyria von der Art, daß sie zum martyrion – ich möchte fast sagen: zum Beweisverfahren – wird und in diesem Sinn auch zur Anklage« (zu allen Zitaten vgl. E. Peterson, Der erste Brief an die Korinther [und Paulus-Studien], 44 f.). Die Anklage richtet sich zunächst gegen Christus, der auf die Frage des Pilatus »Bist du der König der Juden?« antwortet: »Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege« (vgl. Joh 18,37). Doch mit seinem Todesurteil gelangt der Prozess nicht zu seinem Ende, sondern wird zum Gericht über diese Welt, wie Jesus in seiner letzten öffentlichen Rede nach dem Ertönen der Himmelsstimme bekennt: »Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden« (Joh 12,31). Denn mit seiner Auferstehung wird sein martyrion zum Beweisverfahren, in dem Christus nach Offb 1,5 als »der treue Zeuge, der Erstgeborene der Toten, der Herrscher über die Könige der Erde« auftritt – ein Prozess, in dem nach 1 Kor 1,6 das Zeugnis über Christus »bei euch gefestigt«, sichergestellt wurde; in dem, Peterson zufolge, das martyrion »zum Be141

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weisverfahren [ – ] wird und in diesem Sinne zur Anklage.« Zur Anklage wird sie nicht denjenigen, die das Zeugnis Jesu, dessen Martyria, in sich tragen, insofern sie, wie der Apostel Paulus nach Röm 3,21–31 ausführt, Gott durch sein Blut gerecht gemacht hat. »Christus ist schon zu der Zeit, da wir noch schwach und gottlos waren, für uns gestorben. Dabei wird nur schwerlich jemand für einen Gerechten sterben; vielleicht wird er jedoch für einen guten Menschen sein Leben wagen. Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. Nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht gemacht sind, werden wir erst recht vor dem Gericht Gottes gerettet werden. Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch 〈Gottes〉 Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt werden, gerettet werden durch sein Leben. Mehr noch, wir rühmen uns Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn, durch den wir jetzt schon die Versöhnung empfangen haben« (Röm 5,6–11). Wie Christus in seiner letzten öffentlichen Rede nach Joh 12,31 – seinen Prozess und sein Kreuz vor Augen – zweimal vom Jetzt spricht: vom Gericht über die Welt und vom Hinauswurf ihres Herrschers, so ist auch bei Paulus gleich zweimal vom Jetzt die Rede: im Hinblick auf unsere Gerechtmachung bzw. Rechtfertigung sowie auf unsere Versöhnung mit Gott, die auf den Sühnetod Christi zurückgehen. Und doch bleibt Paulus dabei nicht stehen, sondern verweist auf das Leben Christi und auf das Gericht Gottes. Zugespitzt formuliert, ließe sich sagen, dass die martyria der Christen Zeugnisse eines Prozesses sind, den nicht etwa sie führen, da ihnen von Christus verboten ist, zu richten: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« (Mt 7,1); ebenso mahnt der Apostel Paulus die Korinther: »Richtet also nicht vor der Zeit; wartet, bis der Herr kommt, der das im Dunkeln Verborgene ans Licht bringen 142

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und die Absichten der Herzen aufdecken wird. Dann wird jeder sein Lob von Gott erhalten« (1 Kor 4,5). Zwar werden die Heiligen am Gericht Gottes und seines Gesalbten teilhaben, woran Paulus später erinnert: »Wisst ihr denn nicht, dass die Heiligen die Welt richten werden?« – »Wisst ihr nicht, dass wir über Engel richten werden?« (1 Kor 6,2a; 3). Und doch ist ihnen hier und jetzt versagt, dem Gericht vorzugreifen. Ihre martyria sind buchstäblich Zeugnisse in einem Beweisverfahren, das ein Höherer führt, dem die Vollmacht gegeben ist, »Gericht zu halten, weil er [der] Menschensohn ist« (vgl. Joh 5,27). Und jenes Beweisverfahren ist anhängig seit der Auferstehung Jesu, seiner Zeugung zum ewigen Leben, wobei Christus hier nicht schon als Richter, sondern als Fürsprecher der »Auserwählten Gottes« eintritt, wie Paulus dies in dem grandiosen Abschluss von Röm 8 [31–39] zum Ausdruck bringt: »Was ergibt sich nun, wenn wir das alles bedenken? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte Er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer kann die Auserwählten Gottes anklagen? Gott ist es, der gerecht macht. Wer kann sie verurteilen? Christus Jesus, der gestorben ist, mehr noch: der auferweckt worden ist, sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein. Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? In der Schrift steht: Um deinetwillen sind wir den ganzen Tag dem Tod ausgesetzt; wir werden behandelt wie Schafe, die man zum Schlachten bestimmt hat. Doch das alles überwinden wir durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.« 143

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Die Liebe Gottes aber lässt sich in keiner Weise gegen die Gerechtigkeit Gottes, gar gegen sein Gericht ausspielen, wie es ein idealistischer Gottesbegriff suggeriert, der in eine historistische Theologie Eingang fand, auf die sich ja Nietzsche beruft, wie oben dargetan. So stellt Christus in seiner letzten öffentlichen Rede klar: »Jesus aber rief aus: Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an Den, der mich gesandt hat. Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt. Wer meine Worte nur hört und sie nicht befolgt, den richte nicht ich; denn ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten« (Joh 12,44–47). Es handelt sich um ein Selbstzitat aus dem Nikodemusgespräch (vgl. Joh 3,17). Denn in der Tat ist der Sohn, wie es da heißt, von Gott nicht in die Welt gesandt worden, um die Welt zu richten: Er ist am Ende seines ersten Kommens vielmehr wie ein Verbrecher zum Kreuzestod verurteilt worden. – Doch fährt Christus fort: »Wer mich verachtet und meine Worte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter: Das Wort, das ich gesprochen habe, wird ihn richten am Letzten Tag« (Joh 12,48). Ebendarin aber ist Christus das Wort Gottes – über den im johanneischen Prolog bezeugten Anfang bei Gott hinaus (vgl. Joh 1,1–5), wo er das Licht genannt wird (vgl. Joh 1,5), wie er sich hier als das Licht bekennt. Er ist und bleibt das Wort Gottes bis zu seinem Tod am Kreuz; ja, er ist das Wort Gottes als Richter am Letzten Tag. So nämlich wird der messianische Sieger über den Antichristen und seinen Propheten in der Offenbarung genannt: »Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand; und sein Name heißt ›Das Wort Gottes‹« (Offb 19,13). Sein Name wohlgemerkt lautet so – nicht etwa sein Titel, worauf ihn eine nominalistische Theologie zu reduzieren sucht, der Namen Schall und Rauch bedeuten. Denn in seiner Person, in seinem Namen sind Rettung und Gericht nicht zu 144

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trennen, die miteinander durch sein Zeugnis vereint sind. Daher dessen Bedeutung für die neutestamentliche Theologie, nicht zuletzt für das Johannesevangelium, von dem ein wesentlicher »Aspekt« nach dem Urteil des protestantischen Schweizer Theologen Théo Preiss – er dürfte Petersons Ausführungen nicht gekannt haben, die erst vor einigen Jahren im Rahmen der Ausgewählten Schriften veröffentlicht wurden – in seinem Aufsatz »La Justification dans la Pensée Johannique« [Die Rechtfertigung im johanneischen Denken] von den Exegeten des ausgehenden neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts völlig verkannt worden sei: »Je veux dire l’aspect juridique. C’est un fait élémentaire, évident, et si simple que je m’excuse presque d’en faire l’objet d’un travail, que la fréquence peu ordinaire dans l’Evangile et les épîtres de termes et de raisonnements juridiques: l’envoyé, témoigner, témoignage, juger, jugement, accuser, convaicre, Paraclet. Même des termes à couleur plutôt ›mystique‹ comme ›lumière‹ et ›vérité‹ révélent, si on les regarde sous cet angle, une teinte juridique très marquée: la vérité s’oppose moins à l’erreur qu’au mensonge, et moins au mensonge en général qu’au faux témoignage; et Jésus est la lumière qui juge et ›fait la lumière‹, comme nous disons, dans l’affaire ténébreuse de ce monde« (La Vie en Christ, 48). [»Ich will sagen den juristischen Aspekt. Es handelt sich um eine elementare Tatsache, so offenkundig und greifbar, dass ich mich entschuldige, sie nicht schon früher zum Gegenstand einer Arbeit gemacht zu haben, die der außergewöhnlichen Häufigkeit von juristischen Begriffen und Schlussfolgerungen im Evangelium und in den Briefen nachgeht, wie der Gesandte, zeugen, Zeugnis, richten, Urteil, anklagen, überführen, Beistand. Aber selbst Begriffe von eher ›mystischer‹ Färbung wie ›Licht‹ und ›Wahrheit‹ offenbaren, wenn man sie unter diesem Blickwinkel betrachtet, eine ausgeprägte juristische Tönung: 145

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Die Wahrheit bezeichnet weniger den Gegensatz zum Irrtum als zur Lüge, und zwar weniger zur Lüge im Allgemeinen als zum falschen Zeugnis; und Jesus ist das Licht, das richtet und erleuchtet, wie wir sagen, in der Verfinsterung dieser Welt.«] Und weiter vermerkt Preiss: »Le quatrième Evangile n’a pas fini de nous étonner. Avec son extrème simplicité, l’aigle qui l’a écrit est d’une envergure prodigieuse: son œuvre est à la fois la plus juridique et la plus mystique que l’on puis imaginer« (ebd. 63). [»Das vierte Evangelium setzt unserem Erstaunen kein Ende. Mit seiner extremen Einfachheit wirkt der Adler, der es geschrieben hat, von einer wunderbaren Spannweite: Sein Werk ist zugleich das zumeist juristische und zumeist mystische, das man sich vorstellen kann.«] Das Erstaunen kann kaum größer sein, wenn wir das johanneische Zeugnis der Wahrheit mit dem Zeugnis eines Denkens vergleichen, dem »der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« bedeutet (vgl. Heidegger, GA 65, 284). Denn während hier die Rede vom Seinsereignis höchste Erwartungen weckte, als stünde eine Art der Selbstmanifestation des Seins bevor – und sei es auch nur im Sinne einer universalen Katastrophe, wo es doch um nicht weniger geht, als darum, im Einvernehmen mit seinem Zeitalter »die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund zu bringen« (vgl. ebd. 243), so wird im vierten Band der Schwarzen Hefte, also nach Eintreten der Katastrophe, der Leser eines anderen belehrt: »Im Ereignis geschieht nichts. Hier ist kein Geschehen mehr; auch kein Geschick; denn auch Schickung west noch aus dem Gegenüber. Im Ereignis ist das Wesen der Geschichte verlassen. Die Rede von der Seynsgeschichte ist eine Verlegenheit und ein Euphemismus [!]. Inwiefern ist im Ereignis kein Geschehen? Das Ereignis ist der weltende Schied in die Weile, als der Wahrnis der weitenden Nähe. Im Ereignis ist kein Ablauf, kein Gehen und Kommen; doch die 146

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Weite ist auch nicht mehr das Dauern im bloßen wahrlosen Anwesen. Die Wahrnis ist der Brauch« (GA 97, 382). Von der Wahrheit des Seyns keine Rede mehr, nur mehr von »Wahrnis« – ein Wort, das keines ist, eher an Wörter wie Wirrnis oder Fahrnis mahnt; Letzteres ein Wort aus der Rechtssprache für fahrende Habe, bewegliches Vermögen, gleichsam die Restposten des philosophisch Abgebrannten. Ganz in diesem Sinne heißt es in einer Notiz vor dem obigen Zitat: »Die Denkenden sind die Verzweifelten, die in der Verwahrlosung des Seins nicht leben können, die nichts auf die kleinen Klugheiten geben und die großen Ausreden.« Und die doch nicht klein beigeben wollen angesichts ihrer Unwahrheit wie auch ihrer akademischen und gesellschaftlichen Ehrenstellung: »Denken ist: die Verwahrlosung des Seins erfahren, ihr nachstellen, ihr, des Menschenwesens Gefahr« (GA 97, 382). Kaum dürfte die Geschichte des menschlichen Geistes ein größeres Possenspiel kennen, auf das ganze Generationen von Intellektuellen hereingefallen sind, als hier, wo einer, der im Namen des Seins bzw. »Seyns« Seinsgeschichte zu schreiben vorgibt, am Ende durchblicken lässt, es sei im Grunde nichts gewesen – nichts als Schweigen und Stille. Ist doch Heideggers Sein in keiner Weise von der gar so verachteten Seinsverlassenheit zu unterscheiden. Besser als jede Kritik bringt ziemlich zu Beginn eine Notiz die Sache auf den Punkt: »Die Preisgabe in die Verwahrlosung der Wahrheit« (GA 97, 21). Damit kommt Heidegger der Wahrheit näher, zumindest in einem rein etymologischen Sinne, insofern das Wort Fährnis dichterisch für Gefahr steht. Und auch hier schafft weder das Denken noch der Brauch als »Wahrnis« eine wahre Abhilfe: »Das Ereignis des Brauches ist so huldreich als bösartig. Deshalb ereignet es mit dem Abschied verborgen die Gefahr, in die sich das Denken als die Sage des Brauches einläßt. Darum ist das Denken als Denken gefährlich. Die 147

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Gefahr des Seyns kommt nicht aus dem Bösartigen allein, sondern daraus, daß es (der Brauch) abschiedlich ist: Die Huld und das Böse. Das ›und‹ beider ist der Brauch, der sich in die Sparnis des Ratsals verbraucht« (GA 97, 334). – »Ratsal braucht kein Labsal« (GA 97, 273). Nur mit Mühe ist sie von Wirrsal zu unterscheiden, was nach Gen 11,9 der Name Babel bedeutet, »denn dort hat der Herr die Sprache der Welt verwirrt, und von dort aus hat er die Menschen über die ganze Welt zerstreut«. Was seit der Urgeschichte für die Weltsprachen gilt, trifft am Ende – nach der Lossage von der Metaphysik – die Sprache des menschlichen Geistes, der verzweifelt dem Bedeutungslosen Bedeutung, Wortbedeutungen abzuringen versucht, nachdem er zuvor alle substantiellen Bestimmungen der Überlieferung in Abrede gestellt hat. Daher spricht der späte Heidegger von einer »Eschatologie des Seyns« (vgl. GA 97, 335), ja mehr noch (ebd.): »Die Katastrophe des Seyns ereignet sich aus der Gefahr, als welche der Brauch sich in den Abschied ereignet.« Abschied nicht von irgendetwas oder irgendjemandem, sondern vom Wahrheitsgehalt der Sprache, den Heidegger unter dem Titel Die Eschatologie des Seyns als dessen »Entwindung« in das Ereignis fasst. »Die Entwindung: die Anastrophe, sie ist eschatologisch die Analogie des Seyns. Die aus dem Seyn gedachte, weil aus der Wahrheit des Seins, d. h. aus der Seinsvergessenheit erfahrene Eschatologie, geht nicht auf die letzten Dinge, sondern sie ist das Ding des Abschieds im Unterschied. Vor der Anastrophe ereignet sich die Katastrophe.« (GA 97, 391) Die Katastrophe freilich nicht im Sinne des Zweiten Weltkriegs als vielmehr gemäß dem oben aus Karl Kraus’ Apokalypse zitierten Wort: »Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes«, der Heidegger in der Sphäre des Geistes den Weg bereitet hat in seiner Huldigung des Bösen, die sich nun aus den Höhen der Geschichte in »das Ereignis des Brauches« zurückzieht. 148

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Weit gefehlt, in dessen Stille im Zuge der Ernüchterung des Denkens so etwas wie eine Stätte der Selbstbesinnung erblicken zu wollen. »Auch die Nüchternheit des Denkens ist eine Stimmung. Sie wird bestimmt aus der Stimme der Stille des Brauchs. Zur Nüchternheit als Stimmung gehört das Gehörthaben der Stille« (GA 97, 414). Um mehr als um eine Stimmung handelt es sich nicht; ihre Verortung im Schweigen vermag ebenso gut das Gegenteil, nämlich Verstockung bedeuten. Denn so untreu ist sich Heidegger nun auch wieder nicht geworden, insofern er im I. Vorblick seiner Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [GA 65, 34] konstatiert: »Also muß erst die große Stille über die Welt für die Erde kommen. Diese Stille entspringt nur dem Schweigen.« Das klingt nicht sonderlich dramatisch, wie auch Heideggers Feststellung im vierten Band der Schwarzen Hefte: »Das rechte Schweigen verschweigt auch noch sich selber. Darum redet es zu Zeiten, und sei es nur in der Sage der Schrift« (GA 97, 363). Doch was da gesagt wird bzw. im Sagen verschwiegen wird, das lässt Heidegger mit einem Augenzwinkern durchblicken: »Sag es und trag es, das Ungesprochene, in das Vergessen« (GA 97, 416). Ganz unausgesprochen blieb es freilich nicht, was Heidegger dem Vergessen zu überantworten trachtet. Heißt es doch im Hinblick auf »die große Stille« in Beiträge zur Philosophie (GA 65, 34) in dem Abschnitt zuvor: »Wenn uns eine Geschichte, d. h. ein Stil des Da-seins, noch geschenkt werden soll, dann kann dies nur die verborgene Geschichte der großen Stille sein, in der und als welche die Herrschaft des letzten Gottes das Seiende eröffnet und gestaltet.« Nichts anderes aber ist in jenen Jahren geschehen, mochte es sich auch bei der »Herrschaft des letzten Gottes« lediglich um einen menschlichen Abgott handeln. Und mochte Heidegger diesem inzwischen ebenso abgeschworen haben wie dem »Seyn«, dessen Eschatologie er 149

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verfasste, so nicht dem Kultus des Todes, der absoluten Todesverfallenheit des Menschen: »Die Eschatologie des Seyns denkend, denken wir in die Vorbereitung des anderen Wesens des Menschen: daß er der Sterbliche ist. Die übliche Vorstellung von der Sterblichkeit reicht nicht einmal in die Richtung des Wesens, das den Sterblichen auszeichnet« (GA 97, 409). So nimmt es nicht wunder, dass den Zeitgenossen Heideggers »die verborgene Geschichte der großen Stille« ein Rätsel blieb, obschon dessen Lösung der Dramatiker Georg Büchner in seiner Erzählung Lenz ein Jahrhundert zuvor lieferte, und zwar in einem knappen Dialog zwischen dem wirren Dichter Lenz und seinem Wegbegleiter Oberlin: »Sehn Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören müsste, mir wäre geholfen.« – »Was denn, mein Lieber?« – »Hören Sie denn nichts? hören Sie nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt?« (Werke und Briefe, 110; vgl. dazu vom Verf.: Das Drama der Stille, in: Georg Büchner und die Aufklärung, hrsg. G. Wimmer, Wien/Köln/Weimar 2015, 173–185). Jene Stimme durchdringt das Werk Heideggers vom Begriff der Zeit [Juli 1924] an, wo es, wie bereits erwähnt, im Hinblick auf Individuation heißt, sie individuiere »so, daß sie alle gleich macht. Im Zusammensein mit dem Tode wird jeder in das Wie gebracht, das jeder gleichmäßig sein kann; in eine Möglichkeit, bezüglich der keiner ausgezeichnet ist; in das Wie, in dem alles Was zerstäubt« (vgl. ebd. 27) – über »die verborgene Geschichte der großen Stille« als Ereignis des Seins dringt sie »aus der Stimme der Stille des Brauchs«: als »das Gehörthaben der Stille«. Und zwar wie sie in der modernen Geistesgeschichte alle Ohren, die Heideggers Einflüsterungen andächtig lauschten, geflissentlich überhört haben; wie sie allein Büchners Lenz als Echo absoluter Todesverfallenheit gewahrt. 150

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Darin liegt das zutiefst Diabolische, ja Antichristliche der Philosophie Heideggers, der ausgerechnet, wie eingangs dargetan, den Antichristen aus der »Judenschaft« herzuleiten trachtet. »Wenn erst das wesenhaft ›Jüdische‹ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht; gesetzt, daß das ›Jüdische‹ überall die Herrschaft vollständig an sich gerissen hat, so daß auch die Bekämpfung ›des Jüdischen‹ und sie zuvörderst in die Botmäßigkeit zu ihm gelangt« (GA 97, 20). Das zu einer Zeit geschrieben, in der das Judentum in Europa, ob fromm oder säkularisiert, seiner Vernichtung entgegensah; nach Heidegger aber ist mit dem Holocaust »der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht« – wäre es nicht blutiger Ernst, so könnte man Heideggers Verständnis des Zeitgeschehens als einfach lächerlich abtun. Doch so verständlich die allgemeine Empörung über Heideggers antijüdische Ausfälle auch ist – es handelt sich um alles andere als um einen Ausfall oder um eine bloße Verirrung, sondern bildet eine Konsequenz seines »Denkens«, das auf nichts als auf Lüge beruht. »Denken? – Das Diktat des Seyns in die Sprache einschreiben« (GA 97, 86). Das hat vielen imponiert, bis hin zu George Steiner. Doch was leicht überlesen wird, ist nicht weniger grotesk als Heideggers gesamtes Geschichtsbild. Denn er, der sich als der große Seins- und Sprachdenker sieht und gesehen worden ist, stellt in den Anmerkungen IV des vierten Bandes der Schwarzen Hefte lapidar fest: »Für das Denken gibt es keine Bestätigung« (GA 97, 334). M. a. W., es gibt keine Wahrheit. Ganz wie es die Zeitumstände erfordern, kann der »Denker« das Sein auslegen, um es zuletzt in einer eigenen »Eschatologie« in die Seinsverlassenheit zu verabschieden. Daher anschließend die bereits oben zitierte Aussage: »Das Ereignis des Brauches ist so huldreich als bösartig.« 151

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In nichts anderem aber besteht das Wirken des Menschen der Gesetzwidrigkeit als in gezielter Täuschung und Lüge. So fährt der heilige Paulus nach dem eingangs angeführten Wort über den »Sohn des Verderbens« in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher fort: »Erinnert ihr euch nicht, dass ich dies schon gesagt habe, als ich bei euch war? Ihr wisst auch, was ihn jetzt noch zurückhält, damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muss der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält. Dann wird der gesetzwidrige Mensch allen sichtbar werden. Jesus, der Herr, wird ihn durch den Hauch seines Mundes töten und durch seine Ankunft und Erscheinung vernichten. Der Gesetzwidrige aber wird, wenn er kommt, die Kraft des Satans haben. Er wird mit großer Macht auftreten und trügerische Zeichen und Wunder tun. Er wird alle, die verlorengehen, betrügen und zur Ungerechtigkeit verführen; sie gehen verloren, weil sie sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollten. Darum lässt Gott sie der Macht des Irrtums verfallen, so dass sie der Lüge glauben; denn alle müssen gerichtet werden, die nicht der Wahrheit geglaubt, sondern die Ungerechtigkeit geliebt haben« (2 Thess 2,5–12). Wer oder was sich auch immer hinter der Gestalt des katechon, des »Aufhaltenden«, verbirgt, kann hier nicht erörtert werden. Offenbar werden aber mit Heidegger all jene, die »sich der Liebe zur Wahrheit verschlossen haben, durch die sie gerettet werden sollen«, weil sie das Zeugnis Gottes verwerfen, insofern ihnen »der Tod das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns« (vgl. GA 65, 284) bedeutet. Um keinen anderen Gegensatz geht es letzthin im Denken wie in der Geschichte als um den Gegensatz zwischen dem Zeugnis Gottes als dem Zeugnis des Lebens (vgl. 1 Joh 5,9–12) und dem Zeugnis des Todes. Und wenn das 152

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Zeugnis Jesu nach Offb 19,10 »der Geist prophetischer Rede« ist, dann deshalb, weil sich schon jetzt aus messianischer Perspektive die Konstellation des Gegenwärtigen mit dem Künftigen abzeichnet, aufgrund der Offenbarung dessen, »was bald geschehen muss« (vgl. Offb 1,2); aufgrund der Aktualität der messianischen Zeugung des Auferstandenen: vom Heute seiner Auferstehung aus. Daher das – bereits zitierte – Wort des Engels an Johannes: »Versiegle dieses Buch mit seinen prophetischen Worten nicht! Denn die Zeit ist nahe« (Offb 22,10). Genau das Gegenteil dessen, was dem Propheten Daniel am Ende seiner Endzeitvision befohlen wird: »Du, Daniel, halte diese Worte geheim, und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes! Viele werden nachforschen, und die Erkenntnis wird groß sein« (Dan 12,4). Immerhin wird Daniel durch die Erscheinung einer Gestalt, die an den Menschensohn in Offb 1,13–15 erinnert, in einer seiner letzten Offenbarungen kundgetan: »Und jetzt bin ich gekommen, um dich wissen zu lassen, was deinem Volk in den letzten Tagen zustoßen wird. Denn auch diese Vision bezieht sich auf jene fernen Tage« (Dan 10,14). Als nichts dagegen erscheint die babylonische Gefangenschaft Israels, von der ägyptischen gar nicht zu reden. Im Licht der sog. Geheimen Offenbarung, im Lichte unserer Zeit ist offenbar geworden, wozu die Mächte des Todes fähig sind: im Holocaust des Volkes Israel. Es bleibt jedem überlassen, es mit Nietzsche bei einer bloßen »Todtenbeschwörung« (vgl. KGW VIII.2, 64) zu belassen; oder mit Heidegger dem Zeugnis des Todes und der Vergessenheit zu huldigen, um sich die Geschichte nach eigenem Gutdünken zurechtzubiegen und zurechtzulügen. Oder aber auf das Zeugnis Gottes, das Zeugnis des Lebens, zu bauen bzw. auf das Zeugnis Jesu, mit dessen martyrion das Beweisverfahren gegen die Übeltäter der Geschichte anhängig ist, bis es ins Gericht übergeht. 153

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»Denn jetzt ist die Zeit, in der das Gericht beim Haus Gottes beginnt«, bemerkt der Apostel Petrus (1 Petr 4,17) – es ist die Zeit, in der wir stehen; doch fährt er fort: »Wenn es aber bei uns anfängt, wie wird dann das Ende derer sein, die dem Evangelium nicht gehorchen?« Daher gebe sich niemand irgendwelchen Illusionen hin, insofern das Gericht noch aussteht. Denn aufgrund seiner Taten wird der Mensch gerichtet, wie der Apostel, Ps 62,13 zitierend, konstatiert: »Er wird jedem vergelten, wie es seine Taten verdienen« (Röm 2,6); ebenso beschließt Christus seine Aufforderung zur Nachfolge und Selbstverleugnung: »Der Menschensohn wird mit seinen Engeln in der Hoheit seines Vaters kommen und jedem Menschen wird er vergelten, wie es seine Taten verdienen« (Mt 16,27). Doch nicht allein aufgrund seiner Taten wird der Mensch gerichtet. Deutlicher wird Christus zuvor auf den Vorwurf hin, er treibe die Dämonen durch Beelzebul, deren Anführer, aus, dem er zunächst begegnet: »Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben. Auch dem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird vergeben werden; wer aber etwas gegen den Heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt« (Mt 12,31 f.). Ist doch nach 1 Joh 5,6 der Geist »es, der Zeugnis ablegt; denn der Geist ist die Wahrheit«. Ihr abzuschwören; das Zeugnis des Geistes Gottes zu verwerfen, um mit den Idolen dieses Äons dem Zeugnis des Todes zu huldigen, erweist sich als nicht weniger verhängnisvoll als die Untaten derer, die Geschichte schreiben, mögen jene auch ebenso wortreich wie die Gewalttäter ihre Verstrickung in den universalen Schuldzusammenhang zu kaschieren suchen. Und mag es auch nicht wenigen im Verlauf der Geschichte gelungen sein, sich ihrer Verantwortung vor einer weltlichen Gerichts154

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barkeit zu entziehen, so nicht vor dem Gericht Gottes, wie Christus abschließend bekräftigt: »Ich aber sage euch: Über jedes unnütze Wort, das die Menschen reden, werden sie am Tag des Gerichts Rechenschaft ablegen müssen; denn aufgrund deiner Worte wirst du freigesprochen, und aufgrund deiner Worte wirst du verurteilt werden« (Mt 12,36 f.).

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Kurt Anglet Entgrenzung des Raumes · Traktat über Auferstehung 88 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-02883-1 Begrenzung der Zeit · Traktat über Vollendung 128 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-02964-7 Das Ende der Zeit – die Zeit des Endes Eschatologie und Apokalypse 170 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-02762-9 Kreuz und Kairos Eine eucharistische Grundlegung des Christusdogmas 144 Seiten · Broschur · ISBN 978-3-429-02749-0 Kafka-Sequenzen zum Prozess · Die Aura vor dem Fall 224 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-02843-5 Kafka-Sequenzen zum Schloss · Die zweite Aufklärung 292 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-02844-2 Detonation des Schweigens · Galina Ustwolskaja zum Gedächtnis 80 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-03020-9 Macht und Offenbarung · Zum Geheimnis der Gesetzwidrigkeit 272 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-03173-2 Die letzte Stunde · Eine Betrachtung 181 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-03337-8 Vorausbilder · Zu Arnold Schönbergs Kriegswolkentagebuch 88 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-03422-1 Vom Kommen des Reiches Gottes 248 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-03572-3 Gott — der Vater Jesu Christi, der Gott der Vollendung 80 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-03468-9 Auferstehung und Vollendung 128 Seiten · gebunden · ISBN 978-3-429-03683-6

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Im Lichte der Auferstehung Jesu deutet Kurt Anglet die „Offenbarung Jesu Christi“ (Offb 1,1), dessen messianische Herrschaft in der Zeit der Vollendung. Dabei geht er auf ihren Widerpart ein, wie ihn der Philosoph Walter Benjamin in seinem Fragment „Kapitalismus als Religion“ als „Kult ohne Dogma“ beschrieb – auf den Kultus des Todes, dessen Protagonist Nietzsches Übermensch verkörpert. Seine Vollendung hat er jedoch in der Philosophie Heideggers erfahren, so in der „Eschatologie des Seyns“ im vierten Band der „Schwarzen Hefte (1942–1948)“, deren antichristlichen Grundzug Anglet abschließend darlegt. Kurt Anglet, geboren 1951 in Northeim; Studium der Theologie, Philosophie und Germanistik in Frankfurt am Main und Münster; Promotion in Fundamentaltheologie 1988, Habilitation in Dogmatik 2003 in Breslau; Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Alois Kardinal Grillmeier an „Jesus der Christus“; Priesterweihe 2002 in Berlin; Professor am Berliner Seminar Redemp­to­ris­Mater, einer Affiliation der röm. Gregoriana. Seniorforscher der „Group2012“, eines internationalen Netzwerkes von Germanisten zur Erforschung der literarischen Moderne.

www.echter-verlag.de ISBN 978-3-429-03845-8

Kurt Anglet Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung

„Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt.“ – Das Heute des Psalmverses 2,7 hat der Apostel Paulus nicht auf die ewige Zeugung des Sohnes aus dem Vater vor aller Zeit, auch nicht auf die Zeugung des messianischen Kindes in der Zeit, sondern auf die Auferstehung Jesu Christi bezogen (vgl. Apg 13,32 f.).



Kurt Anglet



Auferstehung Jesu Christi als messianische Zeugung

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