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German Pages 338 Year 2014
Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.) Lehren bildet?
Theorie Bilden Band 18
Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, Hans-Christoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.)
Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten
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Inhalt
Vorwort | 9
ZUGÄNGE Lehren und Bildung. Anmerkungen zu einem problematischen Verhältnis Michael Wimmer | 13 Zwischen Präsentation und Repräsentation. Untiefen der Wissensvermittlung Alfred Schäfer | 39 Globalisierte Bildung im Dickicht der Kulturen? Vorbereitende Überlegungen zu einem verdeckten Problem Rainer Kokemohr | Tim Schmidt | Gereon Wulftange | 57
STIMMEN Gehen sie zu weit! Generation und Geschlecht in der Bologna-Anrufung Ulrike Bergermann | 85 Das Bachelor-Master-System in der Lehrerbildung. Probleme und Chancen am Beispiel Hamburgs Reiner Lehberger | 107 Verstehen als Menschenrecht versus Kapitalisierung lebenslangen Lernens oder: Lehre als Initiierung lebendiger Verhältnisse von Sache und Subjekt Peter Euler | 125 Menschenbilder und Konzepte des Lehrens
Thomas Görnitz | 147
Für das Imaginäre in der Lehre. Den leeren Strukturzwängen trotzen Agnieszka Dzierzbicka | 163 Kein »Zurück zu Humboldt« – Nietzsches Ekel-Didaktik und die Zukunft unserer Bildungsanstalten Jürgen Vogt | 175
SZENEN Szenen des Lehrens Marianne Schuller | 201 Modalitäten, die man mitschreiben kann (oder nicht ...) (Un-)Möglichkeit, Notwendigkeit, Kontingenz in der »Lehre der Literatur« Marcus Coelen | 211 Forschendes Lernen / Forschendes Lehren. Überlegungen zur Geistesgegenwart im Auditorium Sibylle Peters | 229 Zwischen desaströser Universität und Universität des Desasters – oder: Modulation als Herausforderung für universitäre Lehre und Antwort auf die Modularisierung von Studiengängen Olaf Sanders | 249
ÜBERGÄNGE Die Schule, das Lehren und die Übertragung Hinrich Lühmann | 263
Die Bedeutung der Arbeit an der Übertragung in der Lehrerbildung. Psychoanalytisches in der Lehrerbildung Jean-Marie Weber | 275 Projet Supposé Savoir Torsten Meyer | 285 Überschreitung des Individuums durch Lehre. Notizen zur Übertragung Karl-Josef Pazzini | 309 Autorinnen und Autoren| 329
Vorwort K ARL -J OSEF P AZZINI , M ARIANNE S CHULLER , M ICHAEL W IMMER Der vorliegende Band, der auf ein Kolloquium gleichen Titels zurückgeht, ist vor dem Hintergrund der unter dem Namen ›Bologna‹ firmierenden Umstellungen unserer Lehranstalten, zumal der Universitäten, zu sehen. Während jedoch diesem heiklen bildungspolitischen Vorgang häufig in der Geste von Angriff oder, was es auch gibt, Verteidigung begegnet wird, ist das Interesse dieser Aufsatzsammlung eher auf eine möglichst unerbittliche Selbstbefragung dessen gerichtet, was Bildung im Zusammenhang mit Lehren meinen kann. Innerhalb der Diskussionen um Bildung, um Lehre und um die Relation zwischen beiden gibt es nämlich blinde Flecken, die erst einmal auszumachen, zu umschreiben und anzuerkennen sind. Wenn Bildung und Lehre nicht einfach aufeinander zu beziehen sind, sondern in einem problematischen Verhältnis zueinander stehen, dann ist eine Analyse, d.h. eine Zerlegung der zunächst undurchsichtigen Zusammenhänge vordringlich. Warum und unter welchen Annahmen aber ist der Bezug undurchsichtig, wenn nicht sogar rätselhaft? Dann wenn ›Lehren‹ nicht als ein berechenbarer Prozess verstanden wird, der ›Bildung‹ zum definierten und ausgemachten Ziel erklärt. Wie Bildung kein akkumulierbares, kapitalisierbares, in Besitz zu nehmendes Produkt ist, so ist Lehren auch nicht angemessen als Prozess der Herstellung eben jenes Produktes zu fassen. Sofern Subjekte keine programmierbaren Trivialmaschinen sind, kann das Kausalschema – einem Lehrekontingent als input entspricht ein Bildungskontingent als output – nicht greifen. Damit ist nicht nur das mit der im 18. Jahrhundert entstehenden Pädagogik gleichursprüngliche Paradox angesprochen, dass es des wissenden (und ›mich‹ wissenden) Anderen im Prozess der ›Selbstfindung‹ bedarf, sondern es zeichnet sich eine das Problem aus-
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zeichnende Zuspitzung ab: Wenn man Bildung will, darf man Bildung nicht wollen. Dieses Paradox nun trifft und bestimmt die institutionelle Bildungs- und Lehrorganisationen: Die Institution muss das organisieren, was man nicht organisieren kann (Günther Ortmann). Wenn die paradoxalen Situation bedeutet, dass die Organisation der Bildung und der Lehre ihre eigene Verfehlung einschließt und einschließen muss, dann wird der Umstand, dass wir die Institution einer Bildungsanstalt gleichwohl brauchen, immer merkwürdiger. Diese Merkwürdigkeit selbst ist es, welche die Denkfigur einer Dekonstruktion der Gegensätze im Sinne von Verfehlen vs. Gelingen, von Planung vs. Kontingenz auf den Plan ruft: eine Denkfigur, welche das Rätsel der Einschließung des, gemäß der oppositionalen Geste, Ausgeschlossenen ermöglicht. Erklärt sich von hier aus die im Titel dieser Aufsatzsammlung auftauchende Rede vom Rätsel unserer Bildungsanstalten, so ist zugleich darauf angespielt, das wir nicht, wie Ödipus gegenüber der Sphinx, das Rätsel aus der Welt schaffen, sondern dass es, wie die Unruhe in einer Uhr, anerkannt und ausgetragen werden muss. Etwa im Modus der Anwendung, wenn Anwendung, anders als es die einfache Figur der Applikation will, im performativen Sinn zu verstehen ist: Als etwas, das im Vollzug der Anwendung das Angewendete ebenso wir das, worauf die Anwendung zielt, verschiebt, verändert und insofern unabsehbar beweglich hält. In diesem performativen Sinne berühren sich Anwendung und Darstellung: Wenn Darstellen auf das zielt, was man sich nicht vorstellen kann, dann ist es nicht länger das Ausstellen einer vorher gegebenen Vorstellung, sondern es wird ein von Staunen und Lust angetriebener und begleiteter Gang ins Unvorstellbare, den wir nun getrost einen Lehr- und Bildungsgang nennen können. War die Auseinandersetzung mit dieser auf Bildung, Lehre und auf deren Verhältnis zueinander angewendeten Denkfigur ein Anstoß für die vorliegende Aufsatzsammlung, so ist darin auch ein Grund für die Verschiedenheit der Beiträge zu sehen. Gerade die unterschiedlichen Ansätze, Perspektiven und Zugänge können vielleicht dazu beitragen, der für das Wohl und Wehe unserer Kultur entscheidenden Frage der Bildung einen produktiven Impuls zu geben. Hamburg, Mai 2010 – K.-J. Pazzini, M. Schuller, M. Wimmer
Zugänge
Lehren und Bildung Anmerkungen zu einem problematischen Verhältnis M ICHAEL W IMMER Seit in modernen Gesellschaften die Individuen ihren Platz in der Gesellschaft selbst finden und für ihre Zukunft selbst sorgen müssen, gehört es zu den wesentlichen und überlebenswichtigen Aufgaben der Gesellschaft, für ihren Nachwuchs die entsprechenden Bildungsmöglichkeiten bereitzustellen. Die Forderung, dass die Institutionen des Erziehungs- und Bildungswesens die Aufgabe haben, die jeweils nachwachsenden Generationen dazu zu befähigen, sowohl in das Erbe der älteren Generation einzutreten und es zu übernehmen, als auch zugleich ihre Zukunft nach ihren eigenen Maßstäben, Vorstellungen und Wünschen zu gestalten, ist daher fast so alt wie das moderne Bildungswesen selbst. Was heute als selbstverständlich angesehen wird und als die zentrale Funktion von Schule und Universität gilt, wurde schon von Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen über die Erziehungskunst von 1826 formuliert, allerdings noch als Forderung und als normatives, auf Verbesserung zielendes Grundprinzip jeder Erziehung (Schleiermacher 2000, 34). Wenn man den gegenwärtigen Diskurs über die Schwächen des Bildungssystems betrachtet, sollte man zwar nicht vergessen, dass seit der Institutionalisierung des öffentlichen Bildungswesens immer wieder seine Leistungsfähigkeit und pädagogische Qualität kritisiert worden ist, so dass man sagen könnte, dass seine Erfolgsgeschichte mit der Geschichte der pädagogischen Kritik zusammenfällt. Doch wird heute die Qualität und Effizienz der Bildungsinstitutionen wie selten zuvor in Frage gestellt – von Grund auf, denn angezweifelt wird, ob die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft noch gewährleistet werden kann. Mit großem Aufwand werden
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nun seit einigen Jahren in fast allen Institutionen des Erziehungs- und Bildungswesens – von der Frühpädagogik über Schulen und Universitäten bis hin zu erwachsenenpädagogischen Einrichtungen – Reformen durchgeführt, die es den Bildungsinstitutionen besser gestatten sollen, die Individuen mit den für die Zukunftsbewältigung als relevant angesehenen Fähigkeiten auszustatten und die ökonomische und politische Stellung Deutschlands in einer sich globalisierenden Welt zu sichern. Diese Reformen und die durch sie bereits jetzt deutlich gewordenen und z.T. auch neu hervorgerufenen Probleme betreffen in besonderer Weise die klassischen Lehranstalten, die Schulen und die Universität. Was schon in der bisherigen Geschichte des Bildungssystems ein Rätsel geblieben ist, wie nämlich genau durch Lehre und Unterricht Bildung hervorgebracht werden kann, ist dabei von neuem zum Problem geworden, so dass sich das alte und das neue, durch die Reformen verschärfte Problem überlagern. Dieses besteht darin, dass die Formen des Lehrens, die Rolle und Funktion des Lehrers sowie das Selbstverständnis der Lehrberufe sich dergestalt wandeln, dass der bisher theoretisch zwar unklare, aber doch praktisch erkennbare Zusammenhang zwischen Lehren und Bildung zu zerbrechen droht. Der Problemzusammenhang wird vor allem in drei Diskursfeldern bearbeitet, wobei es erstens um die Wandlungen des Bildungsbegriffs in sich transformierenden Wissensgesellschaften geht, zweitens um die eher ökonomischen und bildungspolitischen Möglichkeiten und Maßnahmen des Umbaus und der Steuerung der Bildungsinstitutionen im Kontext internationaler Abkommen, und drittens um die Fragen des Qualitätsmanagements und der Schulentwicklung im Zusammenhang auch mit den internationalen Vergleichsstudien. Ich werde mich hier nur auf einige Aspekte des Verhältnisses zwischen Lehren und Bildung konzentrieren, das in den genannten Diskursen kaum thematisiert wird, weil man dieses Verhältnis als einen ebenso gesicherten Zusammenhang ansieht wie in der materiellen Produktion. Weil es sich jedoch beim Lehren nicht um einen Herstellungsprozess handelt und bei Bildung nicht um ein Produkt, gehört diese Auffassung selbst mit zum Problem, das sie lösen will.
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I. E INE S ELBSTVERSTÄNDLICHKEIT In Lehranstalten wird gelehrt, und dieses Lehren bildet, hat zum Resultat folglich Bildung, messbar in Form von Abschlusszahlen und Zertifikaten verschiedener Gradationen und Fachrichtungen. Das ist bis hierhin banal und selbstverständlich und wenig rätselhaft. Alle Lehrenden teilen mehr oder weniger die didaktischen Grundannahmen, dass zwischen Lehren und Lernen eine enge Beziehung besteht, dass diese Verbindung insbesondere in institutionellen Kontexten wie Schulen oder der Universität beobachtet und genutzt werden kann, dass diese Relation die Planung, Organisation und Kontrolle des Lernens durch systematischen Unterricht ermöglicht, dass das Lernen durch das Lehren also gesteuert werden kann, wenn auch nur vermittelt, indirekt, unter Berücksichtigung des Kontextes, der Bedingungen, der Adressaten etc. (Terhart 2008, 14). Würde man nicht die Überzeugung teilen, dass Lern- und Bildungsprozesse unter pädagogischer Regie ermöglicht und gelenkt ablaufen können, wäre man des Sinns des Lehrens wohl beraubt. Und doch: einen empirisch stichhaltigen Beweis, dass es das Lehren ist, das bildet, gibt es aus vielen Gründen nicht. So ist es z.B. schon nicht möglich, zwischen pädagogischen Intentionen und ihren Wirkungen einen eindeutigen Kausalnexus festzustellen (Ballauff 1966, 56; vgl. auch Oelkers 1982). Wirkungen, auch intendierte, können sich anderen Bedingungen verdanken, sie können sich auch mit z.T. erheblicher Verzögerung einstellen, Jahre später vielleicht. Vor allem aber lassen sich die Eigenverarbeitungen pädagogischer Handlungen durch die Adressaten nicht vollständig kontrollieren, schließlich handelt es sich nicht um programmierbare Trivialmaschinen, sondern – wenn man in dieser Metaphorik bleiben will – mindestens um komplexe und selbstreferentielle Personensysteme, an deren Intransparenz jeder Versuch einer direkten Einwirkung scheitert bzw. unvorhergesehene Antworten auslöst (vgl. Wimmer 1996). Lehrende können sich also nur äußerst selten direkter Wirkungen ihres Lehrens versichern, und das immer auch nur hypothetisch, seien es Bildungserfolge oder Misserfolge. So ist der Satz »Lehren bildet« zwar einerseits selbstverständlich, andererseits kann er jederzeit in Frage gestellt werden durch die Adressaten, die sich die Wirkungen des Lehrens aufgrund ihres Lernens nicht nur selbst zuschreiben können, sondern genau dies auch lernen sollen, da sie für ihre Leistungen verantwortlich zu zeichnen haben. Darin besteht schließlich
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einer der zentralen Sozialisations- und Subjektivierungseffekte der Schule (vgl. z.B. Dreeben 1980).
II. L EHREN
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Der Titel Lehren bildet lässt sich aber nicht nur als Ausdruck einer Selbstverständlichkeit oder einer unbedachten Voraussetzung von Lehrpersonen verstehen, sondern auch als ein Anspruch und eine Aufgabe, die mit dem Auf- und Ausbau des öffentlichen Bildungssystems seit dem 19. Jahrhundert untrennbar verbunden sind. Diese Aufgabe ist mit den Funktionserfordernissen sich modernisierender Gesellschaften verbunden, in denen die freigesetzten Individuen ihren Platz in der Gesellschaft selbst finden müssen, anstatt durch geburtsständisch geregelte Lebenslaufregime bestimmt zu werden. Dass dieser Anspruch an das Bildungswesen durch die realen Bedingungen in mehrerer Hinsicht konterkariert und Bildung darauf reduziert wurde, »für eine Gesellschaft funktionstüchtig zu machen, die hätte umgestaltet werden sollen« (Peukert 1987, 77), liegt sicher nicht nur an dem Einfluss gesellschaftlicher Entwicklungen, die die Verwirklichung des Bildungsversprechens quasi von außen verhindert hätten (Büchner 2003), sondern auch an Ungereimtheiten im Bildungsbegriff selbst (Meyer-Drawe 1999). Dennoch hat sich der Anspruch an das Bildungssystem, allen gleiche Bildungschancen zu gewähren, erhalten und bekräftigt. Allerdings scheinen seit Jahren die internationalen, nationalen und regionalen Vergleichsuntersuchungen PISA, TIMMS, IGLU bis hin zu zentralen Vergleichsarbeiten in bestimmten Schulstufen zu beweisen, dass das deutsche Bildungssystem keineswegs seine Aufgaben erfüllt, dass die Lehranstalten weder qualitativ noch quantitativ den Wirkungsgrad anderer Länder erreichen, dass sie anscheinend nur Wenige viel und zu Viele zu wenig bilden. Verantwortlich dafür werden viele Bedingungen gemacht – die ungleichen Zugangschancen zu höheren Bildungseinrichtungen, die Herkunft der jeweiligen Klientel, die Struktur des Bildungssystems, die zu früh einsetzende Selektion und die damit zusammenhängenden Bildungsentscheidungen, die Ausstattung von Schulen, aber auch die Lehrerbildung und manchmal auch die viel zu geringen Bildungsausgaben. Aber dennoch erscheint es immer noch rätselhaft, warum gerade das deutsche Bildungssystem so große Schwierigkeiten hat, dem Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit näher zu kommen.
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III. E INE P ROVOKATION Die Behauptung »Lehren bildet« kann auch als eine Provokation verstanden werden, wenigstens vor dem Hintergrund der Bildungstheorie, insbesondere der neuhumanistischen. Bildung galt für Humboldt und seit ihm stets als Selbstbildung (Pleines 1989, 46), als individueller Prozess einer sprachlich vermittelten freien Wechselwirkung zwischen Ich und Welt (vgl. Benner 1995, 77ff). Im Unterschied zu Erziehungstheorien sind Bildungstheorien nicht an der Steuerung von Personwerdungsprozessen oder von Lernprozessen interessiert, sondern daran zu verstehen, wie angesichts des Axioms der anthropologischen Unbestimmtheit der Einzelne in Auseinandersetzung mit der Welt seine Bestimmung finden kann. Gefragt wird danach, wie die Auseinandersetzung des Heranwachsenden mit der Welt aussehen muss, damit er oder sie zu sich selbst finden kann. Bildungstheorien sind daher grundlegend »Möglichkeitstheorien für Selbstbildung« (Schäfer 2005, 155). Sie definieren nicht ein konkretes Ziel, »den gebildeten Menschen«, um dann den Weg anzugeben, wie es erreicht werden könnte, sondern ihnen geht es um die Bildung der Individualität des Einzelnen, die nicht vorab bestimmt und identifiziert werden kann. Die bildungstheoretische Perspektive enthält daher ein kritisches Potential gegenüber den Verantwortungs- und Steuerungsansprüchen von Erziehung und Unterricht wie auch gegenüber allen von außen an das Individuum herangetragenen Ansprüchen, Zwecksetzungen oder Behauptung, diesem sagen zu können, was gut für es wäre. Um die Differenz zwischen Erziehung und Bildung zuzuspitzen, sei eine Abgrenzung genannt, die Hans-Joachim Heydorn 1972 in seinem Buch Zur Neufassung des Bildungsbegriffs formulierte: »Erziehung ist Zucht, notwendige Unterwerfung, die wir durchlaufen müssen, Aneignung, um die wir nicht herumkommen; Bildung ist Verfügung des Menschen über sich selber, Befreitsein, das in der Aneignung schon enthalten ist, aus ihr schließlich hervorgehen soll.« (Heydorn 1972, 120) Um diese für intentionale Erziehungsabsichten unverfügbare Selbsttätigkeit geht es in Bildungstheorien, weshalb man mit Ballauff (1954, 100) und Gadamer (1970, 24) sagen kann: Wenn man Bildung will, darf man Bildung nicht wollen. Bildungstheorien sind also gewissermaßen entlastet von dem Anspruch, Bildungsprozesse zu steuern und Bildung herzustellen, doch lassen sie sich nicht gänzlich von der Bildungspraxis isolieren, in der die – wie auch im-
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mer institutionell modifizierten, reduzierten oder verunreinigten – empirischen Möglichkeitsbedingungen wieder mit dem Bildungswillen verbunden und mit ihren Wirkungen konfrontiert werden. Spätestens hier stößt man wieder auf die pädagogische Paradoxie der bedingten Freiheit, von der die Bildungstheorie sich nur auf der Ebene ihrer theoretischen Aussagen befreien kann (vgl. dazu Wimmer 2006): entweder sie lässt das Zwangsmoment des pädagogischen Handelns außer Acht oder sie ignoriert in der institutionellen Bildungspraxis die Unmöglichkeit, Bildung herstellen zu können, was ebenfalls in einem Paradox mündet, das nicht lehrbare und deshalb sich in Freiheit ereignende Lernen lehren, die nicht organisierbare Selbsttätigkeit organisieren zu wollen. Schon für Freud war daher neben dem Analytiker und dem Politiker der Pädagoge einer derjenigen, die einen unmöglichen Beruf haben (Freud 1976, 565; 1978, 94). Bildung als Möglichkeit freier Selbstbildung bleibt ebenso an die Unmöglichkeit herrschaftsfreier Bildungsprozesse gebunden wie das pädagogische Prinzip der »freien Selbsttätigkeit« an die pädagogische Aufforderung dazu. Entweder muss das Ich in seinem Verhältnis zur Welt als eines vorausgesetzt werden, das seine Bestimmung schon in sich trägt. Dann wäre die Welt nur Ort und Medium einer auf Verwirklichung zielenden bereits angelegten Möglichkeit und Bildung die Entfaltung einer anfänglichen Fülle. Oder man versteht gerade in Gegensatz zu diesem metaphysischteleologischen Begriff einer organologischen Bildung als Ausfaltung einer keimhaft-präformativen Anlage (vgl. dazu kritisch Buck 1984) den Prozess der Menschwerdung in Auseinandersetzung des Ichs mit der Welt, und zwar dergestalt, dass alles sich in und durch die Wechselwirkung zwischen Ich und Welt vollziehen muss, wobei alle Bewusstseinsinhalte einschließlich des Bewusstseins seiner selbst aus dieser Wechselwirkung erst hervorgehen. In dieser Sichtweise hängt Bildung ganz wesentlich vom jeweiligen Zustand der Welt ab, d.h. von den historischen, kulturellen, gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen diese Ich-Welt-Beziehung stattfinden kann. Dann aber wäre es problematisch von Selbstbildung zu sprechen, weil auch das Selbst als solches aus diesem Prozess erst hervorginge und das Eigene selbst, die Individualität des Ich, nicht das originär Eigene, sondern das angeeignete Fremde, Andere wäre (vgl. Wimmer 2009). Macht und Herrschaft stünden dann nicht mehr in Opposition zu Bildung, sondern diese wäre mit ihnen kontaminiert. Es liegt also ein Irrtum vor, wenn man Erziehung nur mit Zwang assoziiert und Selbstbildung mit Freiheit, als ob Bil-
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dung bisher nur von außen, dem Staat und der Gesellschaft, verhindert und ihr Versprechen daher noch einzulösen wäre (vgl. auch Schäfer 2009, 231ff). Aber auch wenn Bildung ein z.T. heteronom bedingter Erfahrungsprozess ist, der vom Ich nicht beherrscht werden kann (vgl. Thompson 2009), bedeutet das noch nicht, dass er vom Lehrer geplant und gesteuert werden könnte. Was prinzipiell schon seit langem bekannt ist – auch wenn man sich nur selten die Konsequenzen klar macht und die Pädagogik in Theorie und Praxis sich immer wieder darüber hinwegsetzt –, dass nämlich der Planbarkeit (Jaspers 1968) und der Machbarkeit (Schäfer/Wimmer 2003) in pädagogischen Angelegenheiten enge Grenzen gesetzt sind, das gilt in besonderer Weise für Bildungsprozesse. Vor dem Hintergrund des pädagogischen Diskurses in der Moderne kann »Lehren bildet« daher auf keinen Fall heißen, dass Bildung hergestellt wird, dass das Subjekt vom Lehrer gebildet wird. Das ignorierte nicht nur die Unmöglichkeit und Paradoxalität, aus einem Behandlungs-Objekt ein Handlungs-Subjekt formen zu wollen, sondern es wäre vor allem der Rückfall in eine recht gewaltförmige Machbarkeitsphantasie. »Lehren bildet« kann daher bestenfalls heißen, dass die Lehre Bildungsprozesse ermöglichen, sie aber nicht bewirken kann. Bildung ist deshalb kein Produkt, schon allein deswegen nicht, weil es an seiner eigenen Herstellung maßgeblich beteiligt ist.
IV. D AS R ÄTSEL
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Bei aller Aufgeregtheit um PISA und bei allem Reformeifer – das Lehren als solches wird selten zum Thema. Als handelte es sich beim Lehren um eine erlernbare und handhabbare Technik, eine instrumentelle Fähigkeit, um ein Set von Vermittlungsmethoden, deren Anwendung man zwar je nach Zweck, Adressaten, Bedingungen variabel halten müsse, was man aber mit einigem Geschick erlernen könne – als handelte es sich also beim Lehren um eine Technologie, deren Mechanismus vollständig aufgeklärt wäre, wird bezüglich des Lehrens nur moniert, dass in den Schulen noch zu oft die falschen Methoden angewendet würden, zu frontal z.B., zu wenig »gehirngerecht«, zu direktiv und inhaltsbezogen, so dass die Lerner zu passiv blieben und bei ihrem Lernen gar nicht dabei wären. Dagegen haben uns doch Pädagogen und Erziehungswissenschaftler darüber aufgeklärt,
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dass Kinder am eigenen Lernen aktiv beteiligt sein sollen, dass Lernen »ohne Beteiligung des Selbst nicht vorstellbar« ist. Heid (2002, 102) vergleicht diese und ähnlich lautende Aussagen mit der folgenden: »Gelungenes Trinken setzt voraus, daß der Trinkende sich an seinem Trinken beteiligt.« Natürlich kann man diese Aussagen trivial oder tautologisch nennen, banal eine Selbstverständlichkeit wiederholend. Doch bei genauerer Betrachtung ist dies keineswegs eine zwar etwas dumme, aber doch harmlose Aussage (vgl. Reichenbach 2004), sondern die Behauptung, dass das moderne Selbstverständnis des Menschen als eines für sein Handeln verantwortlichen Subjekts, als eines Täters hinter seinem Tun (Nietzsche), auch für sein Lernen gelten müsse. Es solle sein Lernen selbst steuern, die Verantwortung für seinen Lernprozess selbst übernehmen (vgl. Kraft 1999). Diese aktiven Aneignungs-, Kompetenzaufbau- und Eigenressourcenentwicklungsprozesse verlangten ihnen entsprechende Lehrmethoden und Lernangebote, so wird gesagt, mit denen die Defizite im Kerngeschäft der Lehranstalten beglichen werden könnten. Kurz: für das Problem des Lehrens gäbe es Lösungen, die man lernen könne. Problematisch ist an dieser Sichtweise, dass sie unsichtbar macht, was keineswegs klar und selbstverständlich ist, dass nämlich das Lehren selbst das Rätsel unserer Lehranstalten ist. Gewiss, lehren bildet, das glauben wir zu wissen oder müssen es mindestens voraussetzen. Manche glauben, man könne sogar den Output feststellen und die Produkte zählen, d.h. nicht nur Bildung als Resultat oder Zustand, sondern sogar den Bildungsprozess selbst empirisch erfassen (vgl. dazu Koller 2006; Schäfer 2006; Gruschka 2007). Aber wie es möglich ist, dass Lehren bildet, diese Frage ist nicht beantwortet. Eine Antwort ist u.a. deshalb schwierig, weil sie nicht ohne Klärung der Frage nach dem Lernen und danach, was jeweils unter Bildung verstanden wird, möglich scheint. Wird z.B. Lehren und Lernen als ein Verhältnis von Aktivitäten oder Handlungen zueinander konzeptualisiert, das analog desjenigen von Lehrer und Schüler eine Komplementarität nicht nur der asymmetrischen Rollen, sondern eben auch von Lehren und Lernen voraussetzt, lässt sich dies als technizistisch charakterisieren: zwei ungleiche Subjekte stehen sich einander gegenüber, wobei idealerweise das eine lernen will, was das andere lehrt bzw. das eine lehrt, was das andere lernen soll. Aus dieser Perspektive kommt es dann zu Störungen, wenn Wollen und Sollen nicht komplementär miteinander synchronisiert sind. Beseitigt werden können diese Störungen
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dann auf Seiten des Lehrers durch Professionalisierungsmaßnahmen (kognitiv, methodisch, psycho-technisch) oder mittels pädagogischer Tugenden (Humor, Geduld, Wahrhaftigkeit, Phantasie etc.), und/oder auf Seiten der Schüler durch Disziplinierungen, Vernunft-/Verantwortungs-/Selbststeuerungsappelle, Motivierungsmaßnahmen und didaktisch-methodische Anpassungen (Verhandlungen). Ohne dass es einer Strukturänderung bedürfte, umfasst dieses Schema eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten: vom Lehrer als allein aktiv Handelndem und den Schülern als Trichterwesen bis hin zu den Schülern als autopoietischen Systemen und dem Lehrer als Lernumweltgestalter und Lernbegleiter. Grundsätzlich geht es immer um die optimale Abstimmung der Komplementarität, wobei Aktivität und Passivität (Spontaneität und Rezeptivität) ungleich verteilt sein können, aber immer eine ausgeglichene Wertbilanz aufweisen müssen. Auch Umweltbedingungen oder eine Änderung der Zielsetzungen ändern prinzipiell nichts an diesem Schema, sie verkomplizieren es lediglich, weil ihnen jeweils Rechnung getragen werden muss. Dieses Steuerungsmodell von Lehr-Lern-Prozessen, für das es strukturell unerheblich ist, ob die Steuerung von außen (Lehrer) kommt oder als Selbststeuerung (Schüler) konzipiert ist, blendet alle Bedingungen aus, die sich nicht in dieser Logik identifizieren und nach Maßgabe von Komplementaritätskorrekturen zu- und verrechnen lassen. Unbewusste Prozesse in Interaktionsverhältnissen (z.B. Übertragungen), Umweltbedingungen jenseits der institutionellen Systemgrenzen (z.B. drohende Arbeitslosigkeit), die Eigenlogik symbolischer Ordnungen und medialer Erfahrungswelten sowie sich jeder Planung und Steuerung entziehende heteronome Ansprüche (Intransparenz des Anderen) und Ereignisse (Kontingenz und Ungewissheit) lassen sich nur als Störungen identifizieren. Um Lehren und Lernen gemäß der Komplementaritätsannahme möglich zu machen, können diese Störungen nur ausgeschlossen werden (z.B. durch individualisierende und subjektivierende Uminterpretation), damit das ideale Gleichgewicht soweit wie möglich hergestellt werden kann. Dass dieses Konzept des Lehr-Lern-Verhältnisses mit seinen idealtypischen Annahmen und Voraussetzungen nur begrenzt ein Verständnis des Lehrens oder gar eine souveräne Lehrpraxis ermöglicht, ist nicht nur in der Erziehungswissenschaft bekannt, sondern auch bei Lehrern eine alltägliche Erfahrung. So spricht z.B. Arnold (1996) von einer »Erzeugungsdidaktik«,
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die auf der Illusion basiert, dass genau das gelernt wird, was der Lehrer lehrt. Er schließt sich damit der grundlegenden Kritik am »Lehr-LernKurzschluss« von Holzkamp (1993) an, der die Differenz der Lehrer- und der Lernerperspektiven betont und die Interessen der Lerner mit ihren eigensinnigen Bedeutungsperspektiven in den Mittelpunkt rückt. In der Praxis legen darüber hinaus ungewollte Nebenwirkungen, unvorhersehbare Ereignisse und das Ausbleiben von erwarteten Wirkungen trotz minutiöser Planungen es nahe, anzunehmen, dass noch andere Faktoren und Bedingungen bedeutsam und wirksam sind als diejenigen, die der intentionalen Planung zugänglich sind. Um diese aber berücksichtigen zu können, genügt es nicht, den Bedingungskatalog des Steuerungsmodells nur zu erweitern, handelt es sich doch vor allem um solche Bedingungen und Prozesse, die in der Lehrer-Schüler-Interaktion gründen (vgl. Schweer 2008) und in ihrem strikt intersubjektiven Charakter die technische Planungsrationalität des Lehrenden transzendieren. Dieser kann und sollte zwar um sie wissen, ohne aber über sie verfügen zu können. Ein Diskurs über das Lehren, der diese Bedingungen in ihrem Eigensinn thematisieren will, muss sich vom Konzept des Lehrers als Sinn- und Steuerungszentrum des Unterrichts und vom Lehren als intentional planbares und zielorientiertes Handeln wenigstens insoweit distanzieren, dass sichtbar wird, dass dieses Verständnis zwar eine alltagspragmatische Funktion für Lehrer haben mag, aber die wirksamen Prozessbedingungen kaum erfassen kann. Zu klären wäre allerdings, ob dieses Steuerungsmodell in seiner subjektzentrierten und zugleich reduktionistischen und vereinfachten Perspektive tatsächlich eine notwendige Illusion darstellt, um als Lehrer arbeiten zu können. Immerhin wird man diese Form des Verfügungswissens nicht einfach preisgeben können, da man wohl allein mit dem Wissen um Unverfügbares keinen Unterricht machen kann. Doch wäre es unvermeidlich, dieses Wissen in seiner Begrenztheit erkennen und seine Geltung fallweise einklammern zu können, ohne es zu negieren. Ein Diskurs über das Lehren hätte also auf mehreren Ebenen Spaltungen Rechnung zu tragen: 1.
Das Lehren ist nicht nur eine von einem intentionalen Subjekt ausgehende und von Lernenden passiv-rezeptiv erfahrbare Handlung, sondern es bedarf für seine Wirksamkeit Bedingungen, über die der Lehrende nicht verfügen kann. Dem Lehren ist daher immer auch eine
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Passivität eingeschrieben. Es ist eine an Andere adressierte Aktivität und untersteht zugleich einem Anspruch, dem es antworten muss. Lehre ist Aufforderung und Antwort zugleich. Der Lehrende ist so einerseits Handlungssubjekt, das seine Handlungen als ursächlich für Lerneffekte ansehen muss, andererseits ist sein Handeln Gelingensbedingungen unterworfen, die nicht ihm, sondern Anderen zuzurechnen sind. Der Lehrende bedarf zwar eines mehr oder weniger technischen Verfügungswissens, um überhaupt lehren zu können. Er muss aber dieses Wissen in seinem fiktional-funktionalen Charakter zugleich auch einklammern können zugunsten eines Wissens um diejenigen Bedingungen, von denen die Wirksamkeit seines Lehrens abhängig ist, die er aber gerade nicht bewirken kann. Lehren ist zielgebend und zugleich heteronom bedingt. Die Lehre ist selbst gespalten in Unterweisung als Wissensvermittlung und in bildende Erfahrung. Wird in jener gegeben, was der Lehrende hat und den Lernenden mangelt, so wird dem Lehrenden in dieser zugemutet, zu geben, was ihm zwar als Besitz unterstellt wird, was er aber nicht hat: die Wahrheit als das wesentliche Wissen, das allem einen Sinn gibt (auch dem Zwang, in die Schule gehen zu müssen).
V. M ETAPHERN DES L EHRENS : Ü BERLIEFERN , Ü BERSETZEN , Ü BERTRAGEN Die technologischen Modelle des Unterrichts und der Lehre sind kaum in der Lage, diesen Spaltungen – von denen hier nur einige genannt wurden – gerecht zu werden. Je konsistenter und geschlossener sie werden, um so weniger gelingt es ihnen, diese Differenzen und ihre Dynamik zu verstehen. Und je wirksamer diese Modelle (wie z.B. von Kiper/Mischke 2006) in der Lehrerbildung oder im modularisierten Studium durchgesetzt werden und das Selbst- und Unterrichtsverständnis der Lehrenden prägen, um so blinder werden die Lehrenden für ihre eigenen ungeplanten Effekte und umso geringer wird die Wahrscheinlichkeit gelingender (bildender) Lehre. Die Verkennung oder Verleugnung der Spaltungen und Differenzen, deren Wirksamkeit sich in allen Formen des Unverfügbaren manifestiert – des Unvorhersehbaren, des Ereignisses, des Unwahrscheinlichen und des Unmögli-
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chen – führt möglicherweise zu heimlichen wie auch zu unheimlichen, auf jeden Fall aber zu ungewollten und ungeplanten Effekten auf Seiten der Lernenden (Lernblockaden, Abwehr, Indifferenz, Motivationslosigkeit, Disziplinlosigkeit, Aggression etc.) und der Lehrenden (mechanischer Unterricht, Burn out, Überforderung, Hilflosigkeit, Angst etc.). Es käme also darauf an, das Lehren bzw. die Lehr-Lern-Interaktion so zu verstehen, dass die o.g. Spaltungen und Differenzen nicht als Störungen und Hindernisse einer reibungslosen Kommunikation erscheinen, sondern als Gelingensbedingungen, ohne die keine Lehre bildungswirksam wäre. Die Differenz zwischen Lehren und Lernen ist sicher auch eine Erklärungslücke, die auch von der Unterrichtsforschung als eine ihrer zentralen Herausforderungen betrachtet wird. Um die Wirksamkeit der Lehre und des Unterrichts zu beschreiben, wird aktuell das alte Prozess-Produkt-Modell zugunsten eines Angebots-Nutzungs-Konzepts (Schrade/Helmke 2008, 296ff) abgeschrieben und die Wirkungsfrage transformiert in eine Nutzungsfrage (Fend 2006). Doch kann auch dieses Marktmodell des Unterrichts die Lernwirksamkeit des Lehrens nicht erklären, so dass sie weiterhin rätselhaft bleibt. Darüber hilft auch die Auskunft der neueren Unterrichtsforschung nicht hinweg, dass der Unterricht wie auch »die Erzeugung von Lernwirkungen eine Koproduktion der beteiligten Akteure« sei (Proske 2009, 798). Für die empirische Unterrichtsforschung mag es auch reichen, feststellen zu können, wer und wie viele das Angebot annehmen, wie es genutzt wird und welche Resultate sich zeigen. Warum aber das Lehren wie und für wen wirksam werden kann, warum und wer vom Angebot angeregt wird oder nicht, die zentrale theoretische Herausforderung also, bleibt im Dunklen. Die Lehr-Lern-Differenz ist also sicher eine Erklärungslücke, aber noch viel bedeutsamer scheint mir, dass diese Leerstelle weniger als Negation sondern eher als Gelingensbedingung des Lehrens verstanden werden kann, was die Möglichkeit des Scheiterns aber nicht ausschließt. Natürlich könnte ein Lehrer sich völlig von der Aufgabe dispensiert sehen, die Adressaten überhaupt zu erreichen und ihnen die ganze Verantwortung für den Unterricht zuschreiben. Derselbe Effekt könnte sich aber auch ergeben bei vollständig durchgeplantem Unterricht, bei dem die Unverfügbarkeit von Lernen und Bildung verkannt oder ignoriert wird. Denn eine Lehre, die das im o.g. Sinne Unmögliche ausschließt, das Ereignis, die Gabe, das Fremde, wäre keine Lehre, sondern eine kalkulatorische Mechanik, die auch Auto-
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maten überlassen werden könnte. Eine Theorie des Lehrens, die die Spaltungen nicht in Dualismen auflöste, sondern die Spaltungen als unaufhebbar-unverträgliche und dennoch sich durchdringende Dimensionen oder Aspekte begreifen würde, dürfte allerdings keine Angst vor der Positivität des Aporetischen haben. Wie ein solches Verständnis des Lehrens allerdings darstellbar ist, ob es ein Modell gibt, an dem man sich orientieren könnte wie z.B. das Sprechen oder das Gespräch (vgl. Waldenfels 1994), ist für mich eine offene Frage. Immerhin gibt es differenzsensible Metaphern wie z.B. »überliefern«, »übersetzen« und »übertragen« (vgl. dazu auch Tholen/Schmitz/Riepe 2001), die das Lehren als ein Geben und zugleich als eine bildende Erfahrungsmöglichkeit eines Lerners denkbar machen. Lehren als Überlieferung hat es z.B. kaum mit kulturellen Inhalten und Wissensbeständen zu tun, die nur von den Älteren an die jüngere Generation weitergereicht werden bräuchten, von der sie dann bis zur nächsten Weitergabe aufbewahrt würden. Überlieferung ist nämlich kaum vorstellbar ohne Veränderung bis hin zum Vergessen (vgl. Benner 2008). Statt um ein bloßes Weiterreichen eines Erbes handelt es sich um einen recht komplexen Prozess der Wiederaneignung, Neuinterpretation und Einschätzung (vgl. Schäfer/Wimmer 2004). Das Tradierte ist jedes Mal von neuem Resultat einer deutenden Neubewertung und Integration in die Organisation der Erinnerung. Darin unterscheiden sich Traditionen von bloßer Gewohnheit, von der sie sich unterscheiden müssen, sollen sie das leisten, worin ihre Funktion gesehen wird: die »konnektive Struktur« einer Kultur aufrechtzuerhalten (Assmann 1999), die Kontinuität der Zeit und eine Identität des Wir zu stiften, d.h. ein Wissen um sich selbst, seine Zugehörigkeit und seinen Ort in der Welt. Das Alte geht so gesehen selbst aus einer Prozedur der ständigen Erneuerung seiner Geltung hervor, einer Neubewertung, Neukonstellierung und Neukontextualisierung bei der Weitergabe im Prozess der Enkulturation, Erziehung und Bildung. Durch das Überliefern/Lehren entsteht eine Differenz im Überlieferten/Gelehrten, so wie durch die Wiederholung eine Differenz im Wiederholten und durch die Vergegenwärtigung im Erinnerten. Das Überlieferte bekommt man zwar, aber es muss auch immer erst erworben und verarbeitet werden, um wirksam werden zu können, wobei Freud so weit geht zu sagen, dass es erst verdrängt worden sein muss, um bei seiner Wiederkehr dann diejenige Wirksamkeit entfalten zu können, die man gemeinhin Traditionen zuschreibt (Freud 1974, 548; vgl. dazu Assmann 2003, 124ff).
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Auch das Verständnis vom Lehren als Übersetzung muss den Differenzen Rechnung tragen, und zwar nicht nur didaktisch in Bezug auf den zu vermittelnden Stoff, sondern ebenso mit Blick auf die Adressaten. Auch hier kann es sich nicht um eine Eins-zu-Eins-Übersetzung handeln, wobei der zu übersetzende Inhalt identisch bliebe. Wenn jede Sprache ihre eigene spezifische Weltansicht mit sich bringt, wie bereits Humboldt schrieb (Humboldt 1996, 19f; 135), können Übersetzungen gerade diese Spezifik nicht vollständig erfassen (Humboldt 1981, 138). Da dies auch für die jeweils individuellen Sprechweisen gilt, hat man es beim Lehren immer mit komplizierten Übersetzungsverhältnissen und Unübersetzbarkeiten zu tun (vgl. Wimmer 2009), und zwar nicht nur zwischen dem Eigenen und dem Fremden beim Lehrenden wie auch beim Adressaten, sondern insbesondere zwischen der Sprache und der Singularität des Subjekts bzw. des Anderen. Weil weder die Sprache mit sich selbst identisch ist noch zwischen der Sprache und dem Subjekt eine Identität besteht (denn selbst die Muttersprache bekommt man von anderen), steht jede Interaktion, jede Kommunikation und letztlich auch jede Reflexion unter dem »Gesetz der Übersetzung« auf der Suche nach einer »vor-ersten Sprache«, wie Derrida schreibt (Derrida 2003, 120f), einer eigenen, seinem Begehren und seiner Singularität angemessenen Sprache. Wenn in dieser Perspektive jedes Sprechen bereits als ein Übersetzen verstanden werden kann, dann gilt dies in ganz besonderer Weise für das Lehren, das in dem Moment imperialistische Züge annimmt, wenn diese Differenzen verkannt oder übergangen werden, wenn der Andere mit dem, was er, oder schlimmer noch: mit dem, was man selbst sagt, identifiziert wird. Zum Lehren als Übertragung möchte ich hier nur so viel sagen, dass damit nicht die einfache Weitergabe von Wissen gemeint ist, ein Wissenstransfer zwischen zwei Speichern, wobei der Lehrende als Medium das Wissen hat und es dem Schüler gibt, der es dankbar oder gezwungenermaßen nimmt. Vielmehr geht es hierbei um ein Geben dessen, was der Lehrer nicht hat. Es war Freud, der die Übertragung als Schlüsselbegriff nicht nur therapeutisch wirksamer, sondern auch alltäglicher Interaktionsverhältnisse ins Spiel gebracht hat. Unter einer Übertragung versteht die Psychoanalyse ein komplexes Geschehen in einer Beziehung, in der Wissen und Begehren auf sehr enge Weise miteinander verbunden werden (Lacan 2008). Das manifestiert sich u.a. darin, dass der eine (der Patient, der Schüler) dem anderen (dem Arzt, dem Lehrer) ein für ihn existentiell relevantes Wissen unter-
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stellt, das dieser jedoch in der begehrten Qualität nicht hat und nicht haben kann. Obwohl man vielleicht sagen kann, dass ohne Übertragung und ohne Wissensbegehren wohl kein Lehren und Lernen stattfinden kann, das bildend genannt werden kann, bleibt immer noch sehr rätselhaft, wie dies möglich ist, da es das Objekt des Begehrens als ein reales nicht gibt. Übertragung meint also ein prekäres Beziehungsgeschehen, in dem die Kräfte des Imaginären so unverzichtbar wie gefährlich sind. Ihr Bann muss durch die Figur eines Dritten unterbrochen werden, damit das Lehren seine Bildungswirkungen entfalten kann. In allen drei Verständnisweisen erscheinen zum einen das Lehren und die Figur des Lehrers als exponiert, ungesichert, riskant. Es sind die Erfahrungen des Fremden und die Beziehungen zum Anderen, die für die Bildung des Subjekts konstitutiv sind, und diese Beziehungen lassen sich kaum als harmonische Partnerschaftsverhältnisse oder als hilfsbereite Lernhelferdienste begreifen. Lehrer sein heißt, der Andere des Anderen zu sein. Und diesem Anderen oblag es schon im Höhlengleichnis Platons demjenigen, den er von seinen Ketten befreite und veranlassen wollte, das Gehäuse seiner Sozialisation zu verlassen, den Kopf umzudrehen, wie es im griechischen Original heißt – keine wirklich nette Geste, sondern Heimsuchung und Nötigung. Zum andern modifizieren die drei Metaphern auf unterschiedliche Weise das Verhältnis von Geben und Nehmen, das zwischen Lehren und Bildung vermittelt. Lehren und Bildung sind durch die Gabe vermittelt, aber nicht durch den Tausch, wie aktuelle Konfigurationen des Lehrer-SchülerVerhältnisses unterstellen (vgl. dazu Dzierzbicka 2006). Statt ein faktisch bestehendes Ungleichheits- und Machtverhältnis zu verleugnen, indem so getan wird, als wären Lehrer und Schüler freie und gleiche Vertragssubjekte – denn welcher Schüler würde schon freiwillig, ohne »Erpressung« eine Lern- und Leistungsvereinbarung eingehen –, wird die Asymmetrie in Lehr-Lern-Verhältnissen nicht negiert, aber auch nicht als eine Hierarchie festgeschrieben, wenn man die Relation im Rahmen einer »anökonomischen« Logik der Gabe versteht, wie sie von Derrida (1993) vorgestellt worden ist. Diese kann hier in ihrer Bedeutung für den Bildungsgedanken und das Lehren in der gebotenen Differenziertheit zwar nicht dargestellt werden (vgl. dazu Wimmer 1996a), doch ist es die Aporetik der Gabe, die es erlaubt, den Zusammenhang zu verstehen, dass Bildung zwar durch das Lehren veranlasst, aber nicht hervorgebracht werden kann, und dass es im-
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mer das Subjekt ist, das sich selbst bildet, dies aber nur als antwortendes, d.h. in Relation zu Anderen und Anderem kann.
VI. L ERNEN ZU LEBEN , STATT LEBENSLANGES
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Die gegenwärtigen Bildungsreformen folgen in ihrer Outputorientierung durchgängig einem Modell der Lehre (und des Lernens) als Wissensvermittlung und Kompetenzaufbau und verringern dabei die Spielräume bildender Erfahrungsmöglichkeiten in den Bildungsinstitutionen. Durch Bildungsstandards, Modularisierung, Zielvorgaben, Prüfungen, Kontrollen, Evaluationen, Dokumentationspflichten etc. werden alle Momente ausgeblendet, die sich nicht eindeutig identifizieren, messen, skalieren, standardisieren und in kategoriale Raster eintragen lassen. Das Konzept des selbstorganisierten Lernens und das didaktische Prinzip der Individualisierung und Differenzierung widersprechen dieser Ausrichtung auf vorgegebene Leistungsstandards nur scheinbar, da der Verzicht auf die Normierung von Aneignungsstrategien und von Lernwegen die Zielvorgaben und die als Leistungsmaßstäbe fungierenden vordefinierten Kompetenzstufen nicht ausschließen. Beim individualisierten Unterricht geht es nicht um individuelle Bildung im klassischen Sinn (vgl. Schäfer 1997), sondern gerade umgekehrt darum, die Selbststeuerungspotentiale der lernenden Subjekte zu aktivieren (Tuschling 2004), damit diese den Leistungsanforderungen effizienter nachkommen können. Die mit Hilfe der Metaphern des Überlieferns, Übersetzens und Übertragens aufgezeigten Prozesse des Lehrens werden weiter erschwert oder sogar verhindert, indem durch die Ökonomisierung aller Verhältnisse die Gabe annulliert und damit die Möglichkeiten für Bildung beschnitten werden. Denn Lehren und Lernen im Sinne von Bildungsprozessen sind auf das angewiesen, was mittels der Metaphern beschrieben werden kann und was in anderen Diskursen auch »pädagogischer Eros« genannt wird. Darüber hinaus zeigen sich auch neuartige Selektionseffekte, die in einem funktionalen Zusammenhang mit der neoliberalen Leistungsideologie stehen, in der der Markt als soziale Integrationsinstanz und das unternehmerische Selbst als neue Menschenfassung fungieren und die nur diejenigen prämiert, die sich in ihrem Selbstverhältnis dieser technologischen Rationalität
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gemäß selbstgesteuert »bilden« und sich dem Diktat des »lebenslangen Lernens« unterwerfen. Wie immer, wenn eine bisherige Selbstverständlichkeit bewusst und damit reflexiv aus dem alltäglich Üblichen ausgehakt, dadurch zu einem Thema oder gar zu einem Anspruch wird, ändern sich sein Sinn und seine Funktion. So auch beim Topos des »lebenslangen Lernens«, das ja nicht nur die im Grunde banale Erkenntnis wiederholt, dass der Mensch aufgrund der Vorzeitigkeit seiner Geburt, seiner Umweltoffenheit und der Plastizität seines Gehirns, d.h. aufgrund seiner Unbestimmtheit alles lernen muss und dass sein Bildungsprozess im Prinzip kein Ziel und kein Ende hat, weshalb er Zeit seines Lebens ein lernendes Wesen ist. Indem so getan wird, als sei es eine neue Erkenntnis, wird das »lebenslange Lernen« zu einem Imperativ, sich sein gesamtes Leben lang als Lerner zu begreifen, wobei dieses Lernen als intentionales Lernen im Sinne von Fort- oder Weiterbildung verstanden wird, und nicht als sich ohnehin begleitend vollziehender Prozess. Aufgrund der Ungewissheit der Zukunft geht es darum, immer auf der Höhe der Zeit zu bleiben, zu wissen, was gebraucht wird, um im Konkurrenzkampf mithalten zu können, seine Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten und am Markt nicht unterzugehen. »Lebenslanges Lernen« steht also im Dienst der Anpassungs- und Änderungsbereitschaft und kann als eine grundlegende Überlebenstechnik bezeichnet werden. Doch es ist ein Mittel, das den Zweck vernichtet, weil es als Überlebensmittel das Opfer des Lebens verlangt, welches doch gerade erhalten werden soll. Wenn man sein Leben lang lernen muss, um überleben zu können, dann muss man sein Leben ganz in den Dienst des Lernen stellen, d.h. sein Leben – den Zweck – für das Lernen – das Mittel – opfern. Früher lernte man, solange man lebt. Heute überlebt man nur solange, wie man lernt. Das Lernen absorbiert das Leben, dem es doch eigentlich dienen sollte. Doch was heißt dies für das Lehren und auf was für einen Begriff des Lernens referiert eigentlich die Neukonfiguration des Lehrers als Lernhelfer und Coach, die man z.B. schon 1995 in der Denkschrift der Bildungskommission NRW Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft finden kann? (Vgl. Ruhloff 1998) Zunächst einmal ist der Begriff Lernen inzwischen universal einsetzbar, da nicht nur Kinder, sondern auch Autos, neuronale Netze, Computer und Organisationen lernen. Vor allem lernen heute die Gehirne, womit erfolgreiche Anpassungsleistungen an Umwelterfordernisse oder effiziente Informationsverarbeitungen gemeint sind. Alle anderen Auffas-
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sungen des Lernens hat die empirische Psychologie gemeinsam mit den Neurowissenschaften erfolgreich an den Rand gedrängt. Ein Lernen, das nicht nur Anpassungen sondern signifikante Veränderungen bewirkt, das nicht nur Üben, Wissensakkumulation und Kompetenzaufbau meint, sondern Transformationen im Selbst- und Weltverhältnis evoziert (Kokemohr 2007), ein solches Lernen hat dagegen etwas mit Erfahrungen zu tun, und zwar mit solchen, die irritieren (vgl. Koller 2005). Diese Erfahrungen bringen den Lernenden überhaupt erst hervor, indem dieser aufmerksam und in Anspruch genommen wird durch etwas, das gewohnte Verarbeitungen überfordert. Nicht der Lerner fängt an, auch wenn alles mit ihm beginnt. Er ist nicht der Urheber und Autor seines Lernens, sondern er wird in Mitleidenschaft gezogen, verliert die Selbstgewissheit und ist gefordert, erneut wahrzunehmen und zu begreifen. Eine bildende Erfahrung stößt ein Lernen auf der Schwelle zwischen »nicht mehr« und »noch nicht« an (Benner 2005). Das Vertraute ist zweifelhaft geworden und das Neue noch nicht da. Ein solches Lernen lässt sich kaum als Kumulation oder als kontinuierlicher Strukturaufbau begreifen, sondern nur als Wandel, Veränderung, d.h. als Bildung, die auf einen Mangel antwortet. Für einen Mangel hat die heutige globalisierte Gesellschaft keinen Raum mehr. Das zeigt sich auch in den zur Zeit dominierenden Theorieparadigmen, auf denen die Vorstellungen des selbstgesteuerten Lernens basieren, den konstruktivistischen, kognitionspsychologischen und neurowissenschaftlichen Theorien autopoietischer Systeme. Diese können ihre kybernetischen Wurzeln nicht verleugnen, und konfigurieren dementsprechend das Lernen gemäß dem »Diktat der Maschine«, wie Käte Meyer-Drawe jüngst schrieb. »Zwar sind wir selbst nicht das ganz Andere der Maschine, aber wir weichen von ihnen ab, wo es darum geht, dass wir vom Unbestimmten profitieren und aus Schaden klug werden. Wir kennen einen Schmerz des Denkens, der uns vorantreibt.« (Meyer-Drawe 2008, 15) Gegen einen maschinenförmigen Lernbegriff wäre Erfahrung nicht bloß ein Medium kontrollierter Verhaltensänderung oder die Regulation von Botenstoffen im Gehirn, denn »Erfahrung lässt sich nicht an- und abschalten. [...] Man vollzieht einen Akt, ohne ihn selbst ausgelöst zu haben. [...] Das Ich wird in den Dativ gesetzt: Dies meint ein Ereignis, das sich nicht nach aktiv oder passiv bzw. nach innen oder außen sortieren lässt. Lernen als Erfahrung meint eine eigentümliche Verwicklung in eine Welt, auf die wir antworten, indem wir ihre Artikulationen aufnehmen.« (Ebda., 16) Und Günther Buck
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schrieb: »Erst in dieser Rückwendung der Erfahrung auf sich selbst, die zugleich ein Wandel unseres Erfahrenkönnens ist, liegt die eigentlich belehrende Kraft der Erfahrung.« (Buck 1989, 3) Diese Gedanken sind allerdings kaum zeitgemäß, denn aktuell ist der Lerner ein »Funktionär der Gesellschaft« (Meyer-Drawe 2008, 192). Anstatt zu lernen um zu leben, lebt er um zu lernen. Dabei geht es um verwertbare Resultate. Der Prozess des Lernens selbst bleibt lebensweltlich wie wissenschaftlich im Dunkeln. Was heißt das für das Lehren, wenn man keine genaue Kenntnis des Lernvorgangs hat? Diese Wissenslücke besteht nämlich nicht zufällig, sie gehört zum Lernen selbst. Man vergisst die Lernakte, sobald man sie hinter sich gebracht hat, und so wie man beim Lernen zugleich auch etwas verlernt, so wird jeder Bildungsprozess durch einen Entbildungsprozess begleitet. Aktiv bei seinem Lernen dabei sein, seinen eigenen Lernprozess steuern und dann auch noch dafür verantwortlich sein – das sind, wie mir scheint, disziplinierende Maßregelungen, neue erfahrungsfeindliche Subjektivierungsstrategien also, auf dass man bloß nicht zur Besinnung komme. Gemeinsam mit der Formalisierung der Lernprozesse, der Vernebensächlichung der Inhalte und der Forderung, das Lernen zu lernen, was, wie Liessmann treffend schrieb, dem Vorschlag gleicht, ohne Zutaten zu kochen (Liessmann 2006, 35), kann man in diesem missionarisch in Lehrerfortbildungen verbreiteten Konzept des selbstgesteuerten Lernens einen Frontalangriff auf Nachdenklichkeit sehen. Lehrbücher werden nach Maßgabe der Praxistauglichkeit entrümpelt, Gebrauchsanweisungen statt Shakespeare in Englisch eingeführt (vgl. z.B. Senatsverwaltung Berlin 2006, 11), das Lernen soll insgesamt schnell, hochtourig, zielführend, funktional und effizient vor sich gehen (Meyer-Drawe 2008, 125ff). Wie sollte man da Gegenstände verteidigen, deren Bedeutung darin liegt, zur Nachdenklichkeit anzuregen, zu nichts sonst? Nach Blumenberg liegt die Bedeutung der Nachdenklichkeit nämlich darin, »die unmittelbare Nutzbarmachung des Menschen zu erschweren« (Blumenberg 1986, 124). Leben zu lernen hieße deshalb vielleicht vor allem, sich auch nachdenkend klar darüber werden zu können, wie man leben will, wie wir zusammen leben können (Masschelein/Simons 2005).
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P.S.: D AS L EBEN
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Doch ist es überhaupt möglich, leben zu lernen, lernen zu leben? Ist das denn etwas anderes als Erfahrungen zu machen – heißt »leben lernen« nicht einfach »erfahren«? Gewiss, man kann differenzieren zwischen verschiedenen »Lebenslernzielen« wie das Überleben, die Lebensbewältigung, die Lebenskunst und das Sterbenlernen (vgl. Göhlich/Zirfas 2007, 187ff; Zirfas 2008), und nichts erscheint plausibler, als ginge es bei allem Lernen vor allem darum, leben zu lernen. Doch ergeben diese Formulierungen einen Sinn, da doch das Leben kein Lerngegenstand ist und beim Lebenlernen das Lebenkönnen immer schon vorausgesetzt ist? Einerseits kann man mit Derrida sagen: »Leben ist das, was man per definitionem nicht lernen kann. Nicht von sich selbst, nicht vom Leben und nicht durch das Leben. Höchstens vom anderen und durch den Tod.« (Derrida 1995, 10) Andererseits scheint nichts dringlicher als dies: »Es ist die Ethik selbst: lernen, zu leben – allein, von sich selbst. Anders kann das Leben nicht leben. Und tut man je etwas anderes, als leben zu lernen, alleine, von sich selbst?« (Ebda.) Gleichzeitig unmöglich und notwendig konfrontiert uns die Formulierung »leben lernen« mit einer Schwierigkeit pädagogischer Professionen, die mir insbesondere für das Lehren grundlegend zu sein scheint. Denn woher kann man eine Antwort auf die Frage bekommen, wie man selbst leben möchte, was man um seiner selbst Willen aus sich machen könnte oder sollte, die Frage also, wie man lernen könnte zu leben? Diese Frage ist es vielleicht, die auch den Willen zum Wissen antreibt, die aus Wissen erst individuell bedeutsames Wissen machen kann. Und es ist diese Frage, die auch für PädagogInnen bedeutsam ist, denn es ist diese – wohl nur in den seltensten Fällen explizit artikulierte – Frage, von der ihre Adressaten erwarten und vielleicht wünschen, eine Antwort zu bekommen. Es ist dieses Wissen, das Lehrpersonen unterstellt wird, und es hängt viel davon ab, wie sie mit dieser Übertragung umgehen, ob sie vorgeben, versprechen oder gar selbst glauben, darauf eine Antwort geben zu können. Und wenn es wirklich diese Frage ist und wenn es dieser Wunsch ist, der einer wirksamen pädagogischen Beziehung oder Interaktion zugrunde liegt, dann ist er auch für den so genannten alltäglichen Unterricht unverzichtbar. Schließlich geht es immer auch darum, nicht nur funktionieren, sondern vor allem leben zu lernen, und also bei PädagogInnen, es zu lehren. Aber kann man das, das Leben lehren, jemanden lehren zu leben? »Kann man durch Disziplin oder
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durch Lernen, durch Erfahrung oder durch Experimentieren lernen oder lehren, das Leben zu akzeptieren, ja mehr noch: zu bejahen?« (Derrida 2004, 10) Ob man das Leben lehren kann? »Ich werde dich das Leben lehren« – vom Vater an den Sohn, vom Meister an den Schüler adressiert, klingt das eher drohend und nach Ankündigung von Dressur und Normalisierung. Nun, man wird wohl keine Antwort auf diese Fragen erwarten. Doch erinnern sollte man sich an sie. Schließlich sollte man im Spiel immer wissen, was der Einsatz ist. Und man sollte wissen, wofür man verantwortlich ist, auch und vielleicht gerade in Lehrberufen.
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Zwischen Präsentation und Repräsentation Untiefen der Wissensvermittlung A LFRED S CHÄFER
I. V ERSÖHNUNGSHOFFNUNGEN Die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang von einer einfachen Unterscheidung – derjenigen, dass die Präsentation von Wissen (etwa in schulischen oder universitären Kontexten) zugleich als eine Repräsentation der Bedeutung des Wissens durch den Präsentierenden zu verstehen ist. Diese Unterscheidung ist nicht neu: Sie liegt nicht nur derjenigen von Didaktik und Methodik zugrunde, sondern sie definiert auch einen (traditionellen) Horizont imaginärer Erwartungen, die sich auf die Position des Lehrenden beziehen. Dieser sollte nicht nur überlegen in dem Sinne sein, dass er Unklarheiten des Wissens klären kann, weil er über das dazu wiederum erforderliche Wissen verfügt. Er sollte sich vor allem selbst als jenen Ort begreifen, der die Bedeutung des Wissens, seine Rationalitätsansprüche und Geltungsgründe und die dadurch ermöglichte vernünftige Orientierung repräsentiert. Im Lehrenden sollen sich die Macht und die Rationalität des Wissens (sowohl über die zu vermittelnden Gegenstände wie auch über die Rezeptionsbedingungen jener Adressaten der Vermittlung) als versöhnt darstellen. Damit wäre die Voraussetzung für ein adäquates Lehren gelegt. Diese Figur einer Präsentation und Repräsentation der Ordnungen des Wissens entwickelt nicht nur normatives Potential gegenüber Lehrenden: Sie sollen die Differenz von Präsentation und Repräsentation dieser Ordnungen in sich versöhnen. Sie erlaubt sogar kritische Positionierungen des pädagogischen Denkens. Wenn etwa Lehrer als Funktionsträger der Verwaltungseinheit Schule verstanden werden, so erhält dies genau aus dem
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Grunde einen negativen Beigeschmack, weil dies dem Bild der präsentierenden Repräsentanten des Wissens, der Fackelträger menschlicher Aufklärung und Orientierung zu widersprechen scheint. Es sind die präsentierenden Repräsentanten des Wissens, die die pädagogische Hoffnung auf Befreiung von undurchschauten Machtverhältnissen, die Anwaltschaft für die Heranwachsenden gegenüber gesellschaftlichen Forderungen zu garantieren scheinen. Die Versöhnung der Präsentation und Repräsentation eines seine eigene Geltung verbürgenden Wissens wird so zur Voraussetzung der Einlösung des pädagogischen Versprechens. Nun wurde der imaginäre Charakter dieses Bildes in seiner Problematik immer schon wahrgenommen: Es basierte auf einer Ausblendung konkreter Sozialbeziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, die gleichsam (wie etwa im pädagogischen Verhältnis bei Herman Nohl 1949) nur komplementär im Hinblick auf den Lernprozess ausgemalt wurden. Vorlieben, Abneigungen, Konflikte, Disziplinprobleme oder Verweigerungshaltungen müssen vor dem Hintergrund der Fokussierung auf den Prozess der Wissensvermittlung als eher störende und zu kontrollierende Randbedingungen modelliert werden. Auf diese Weise kann man versuchen, die imaginäre Versöhnung von Präsentation und Repräsentation von unproblematischen Wissens- und Geltungsbeständen zu verteidigen. Siegfried Bernfelds (1973) Betonung der Bedeutung von Übertragungsphänomenen verweist gegenüber solchen Kontrollphantasmen auf die Unausweichlichkeit einer komplexen und überdeterminierten ›Selbstauslegung im Anderen‹, die als unhintergehbare nicht nur problematisch, sondern zugleich auch produktiv sein kann. In dieser Ambivalenz emotionaler Bindungen liegt ein Problem, das für Bernfeld weder durch den Verweis auf pädagogische Ideale, noch durch das Vertrauen auf eine sich über ihre Repräsentation durchsetzende Rationalität des Wissens zu lösen ist. Gehorchen pädagogische Ideale eher der Logik sich steigernder Wunschphantasien, so stehen die Phänomene der Übertragung für ein Begehren, das sich gerade den Ordnungen des Wissens nicht fügt und deren vermeintliche Bindekräfte unterläuft. Bernfeld setzt von daher auf eine Instituetik – auf eine institutionelle Konzeption, die Wissen und Begehren in ein Verhältnis zu setzen hätte. Solchen Problematisierungsperspektiven, die nur eine begrenzte Aufmerksamkeit erfuhren, steht heute ein eigentümliches Vertrauen in eine wissenschaftliche Fundierbarkeit der früher nur imaginär formulierbaren Versöhnung gegenüber: ein scheinbar zunehmend wachsendes Vertrauen in
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die lehrende Vermittlung des Wissens, die gerade auf die Macht des Wissens zur Gründung einer möglichen Versöhnung von Wissen und Begehren zu setzen scheint. Die Wirkungs- und Effektivitätsforschung, die sich – etwa über das Normalisierungskonzept der Kompetenz – sowohl auf die Vermittlung von Wissen als auch auf ›Haltungen‹ richtet, setzt immer schon die Realisierbarkeit des Modells des Wissen präsentierenden Repräsentanten des Wissens voraus: Er bildet eine soziale Zurechnungsgröße, an die sich nicht nur didaktische oder politische Erwartungen richten, sondern deren Verantwortlichkeit über die Effektivität messbar und schließlich dotierbar erscheint. Nun könnte man an dieser Stelle darauf verweisen, dass solche Vorstellungen auf Immunisierungen beruhen, dass sie schwierige Konzepte – wie das der Soziabilität, der Empathie oder auch das des Wissens – einfach so definieren, dass sie messbar werden und die dazu führen, dass nach der Messung an die Wirklichkeit dieser Konzepte geglaubt wird. Eine solche Kritik, die auf die Untiefen des Begriffs und die Grenzen der Repräsentation verweist, würde epistemologisch ansetzen. Man könnte aber auch – etwa mit Gerhard Gamm (2005) – auf die eigentümliche Situation hinweisen, dass der zunehmenden Komplexität, Unüberschaubarkeit und Unbestimmbarkeit paradoxerweise eine Zunahme von Verantwortungszuschreibungen gegenübersteht. Einfache handlungstheoretische Verantwortungszuschreibungen scheinen ihre Konjunktur gerade in einer Situation zu steigern, in der mit ihnen kaum noch etwas adäquat zugerechnet werden kann. Dies wäre eine sozial ansetzende Kritik, mit der die (kaum zu erwartende) erneute Konjunktur eines quasi-geisteswissenschaftlichen Pädagogikverständnisses mit funktionalistischen Bezugspunkten ein Stück weit als kostenneutrale Reaktion auf den leeren Signifikanten PISA erklärt werden könnte. Das, was beiden – den epistemologischen wie den zeitdiagnostischen – Perspektiven gemeinsam zu sein scheint, könnte man vielleicht als die Vermutung kennzeichnen, dass sich Wissen nicht ohne weiteres durch Wissen begründen lässt. Eine solche Vermutung mag eine erkenntnistheoretische Seite haben; aber zugleich verweist sie darauf, dass zwischen einer wissensimmanenten Geltung des Wissens und seinen sozialen Akzeptanzbedingungen zu unterscheiden ist. Ein Anspruch des Wissens, der beide Seiten umgreift, wird als Machtanspruch lesbar. Wenn die zu akzeptierende Geltung des Wissens nicht wiederum auf eben solches Wissen gegründet werden kann, dann hat dies auch Auswirkungen auf die Autorität desjeni-
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gen, der dieses Wissen präsentiert und es in seiner Präsentation zugleich als Geltungszusammenhang repräsentiert. Seine Autorisierung müsste sich gleichsam von der Unbegründbarkeit des Wissens her zeigen lassen. Im Wissen selbst scheint sich dann eine Differenz zu ergeben, die einen Raum erzeugt, innerhalb dessen sich die unaufhebbare Virulenz des Begehrens denken lässt. Dem soll in einem ersten Schritt nachgegangen werden (II). Die Problematik der Differenz der Präsentation des Wissens gegenüber seiner Repräsentation verlangt nicht nur die Berücksichtigung eines letztlich nicht durch Wissen zu fundierenden Verhältnisses zum Wissen, sondern damit auch eine Thematisierung der damit einhergehenden sozialen Beziehungen wie institutionellen Verhältnisse. In ihnen scheint sich diese Differenz weiter zu komplizieren: Lehren erhält dann in theoretischer Perspektive seine wohl ohnehin unaufhebbaren Unwägbarkeiten zurück, die als solche den unverfügbaren und nicht (wahrscheinlich auch nicht über ein Wissen-Wollen) zu bestimmenden Raum der Bildung angeben. Diesen Zusammenhängen, die zugleich den imaginären Charakter eines technologischen Schließungsgestus des Lehrens deutlich machen, möchte ich mich in einem zweiten Schritt nähern (III).
II. H EGEMONIALE P RÄSENTATIONEN Wenn man sich auch – etwa im Hinblick auf Kriterien gesellschaftlicher Brauchbarkeit oder einer kanonischen Orientierung – darüber streiten mag, welches Wissen im schulischen Unterricht vermittelt werden soll, so scheint doch eines unstrittig zu sein: dass der Gegenstand des Unterrichts eben in ›Wissen‹ besteht. Dem Wissen kommt – unabhängig davon, wie es didaktisch reduziert und methodisch aufbereitet wird – so etwas wie eine Grundlegungsfunktion zu: Von ihm her sollen sich Rationalität, Vernünftigkeit, Urteilsfähigkeit und damit zugleich die Voraussetzungen einer autonomen und kritischen Lebensführung ergeben. Das Wissen gilt als conditio sine qua non für eben diese Zielperspektiven. Nun kann man – und die Bildungstheorie kennt diese Unterscheidung seit langem – an solche Zielperspektiven material oder formal herangehen. In einer materialen Orientierung fragt man sich, welche Wissensinhalte solche Perspektiven eröffnen – also danach, welches inhaltliche Wissen notwendig ist. In einer formalen Perspektive scheint es das Wissen als Wissen
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zu sein, von dem her man sich Hoffnung verspricht. Es kommt dann darauf an, sich die Bedeutung des Wissens als Wissen zuzueignen, um in die Lage zu kommen, sein Leben selbstbestimmt führen zu können. Eine solche Perspektive setzt in einem strengeren Sinne als die materiale auf die Dignität des Wissens selbst. Sie wirft damit zugleich die Frage auf, worin denn diese Dignität zu sehen sei und inwiefern sie als solche auch noch das subjektive Verhältnis zum Wissen übergreifen soll. Seit Platon wird das Wissen gegenüber der Meinung durch seine Begründbarkeit profiliert. Gegenüber der sophistischen Rhetorik und deren Perspektive, dass Geltung sich durch Prozesse des Überzeugens herstelle, soll das ›Wissen‹ als Wahrheit so etabliert werden, dass zweifelsfreie Begründungen von bloßen Meinungen, bloßen Überzeugungs- bzw. Überredungsprozessen unterschieden werden können. Seit Platon kennt man aber auch das Problem, dass sich Wissen in einer reflexiven Schleife der Selbstgründung kaum als begründet ausweisen lässt. Die sokratischen Dialoge enden in der Aporie. Die Aporie aber steht dafür, dass jede Geltungsbegründung vielleicht doch im Rahmen rhetorischer Unterscheidungen verbleibt. Es scheint – wenn Wissen schon durch sich selbst begründet werden soll – eines anderen Wissens zu bedürfen, um das Wissen zu begründen. Ein solches Begründungswissen muss der Problematik des Wissens, seiner durch es selbst nicht begründbaren Unterscheidung etwa von der Meinung, selbst entzogen sein. In der nicht reflexiv erreichbaren Schau der Idee des Guten findet Platon ein solches sowohl die Welt als auch ihr Verständnis grundlegendes Wissen. Es ist die postulierte Einsicht in einen metaphysischen Logos, von dem her sich das Wissen in seiner Wahrheit wie seiner Zugänglichkeit von jedem Verdacht, bloße Meinung im Horizont strittiger Rhetorik zu sein, zu befreien versucht. Der Neuplatonismus eines Plotin hat dann darauf aufmerksam gemacht, dass der Grund des Wissens selbst nicht Gegenstand irgendeines Wissens – auch nicht einer reinen Ideenschau – sein kann. Dennoch hält seine Metaphysik an einer unerkennbaren Grundlegung von Sein und Erkenntnis fest, die im Rahmen einer Ursprungserzählung vorgetragen wird. Diese Erzählung verspricht die Intelligibilität der Welt ebenso wie die des Sinns der – wenn auch in ihrer Selbstgründung begrenzten – Erkenntnis. Es entwickelt sich damit eine Figur, die das Wissen von den Grenzen seiner Begründbarkeit her thematisiert – eine Figur, die dann eine christliche Karriere durchlaufen hat. Noch die transzendentalphilosophische Wende Kants denkt in dieser Figur, auch wenn sie dem
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eine prominente Stellung einräumt, was diesseits der Grenze zum nichtwissbaren Grund liegt. Der Grund des Wissens im Subjekt aber bleibt ebenso ein X, wie die Welt jenseits der Logik von Anschauung und Verstand unerkennbar bleibt. Wenn aber das Wissen weder durch den Verweis auf ein transzendentales Signifikat noch auf einen transzendentalen Signifikanten, weder durch einen Ur-Grund noch durch einen Grund im Erkenntnissubjekt begründet werden kann, dann bleibt nur der Verweis auf das Wissen als Grundlage des Wissens. Man scheint wieder bei der sokratischen Aporie angekommen zu sein – und damit beim Problem eines Wissens, das kaum begründbar erscheint. Die Unterscheidbarkeit von Meinung und Wissen scheint dann selbst nur eine figurative Stilisierung darzustellen: Eine wie auch immer gesicherte Begründbarkeit des Wissens scheint selbst noch Gegenstand einer Auseinandersetzung zu sein. Ihre Beendbarkeit durch eine zweifelsfreie Begründung des Wissens erscheint als ein Versprechen, als eine Figur, in der das Wissen in seiner Begründbarkeit durch sich selbst versprochen wird. Eine Ausbuchstabierung dieser Figur könnte man in der Prozessualität des Wissens sehen. Einer solchen Strategie des Umgangs mit dem Selbstgründungsversprechen des Wissen und den damit verbundenen Hoffnungen auf Rationalität, wie man sie in der Logik wissenschaftlicher Verfahren findet, ist eine gewisse Eleganz nicht abzusprechen. Sie verzeitlicht die Begründungsproblematik des Wissens ohne den Anspruch, sie auflösen zu können. Methodische Verfahren nehmen die Relativität jedes von ihnen produzierten Wissens in sich auf und machen diese Relativität zum Ausgangspunkt eines endlosen Forschungsprozesses. Die Frage der Begründbarkeit des Wissens wird so einerseits an Verfahren gebunden und andererseits vertagt, d.h. in ihrer Unlösbarkeit bestätigt. Wissen bleibt relativ nicht nur im Hinblick auf seine verfahrensmäßige Begründbarkeit, sondern auch im Hinblick auf seine nur vorläufig postulierbare Geltung. Es erneuert sich als endloses Versprechen auf eine zukünftige Einlösbarkeit eines in sich gegründeten Wissens. All dies ist nicht neu, aber es wirft die hier interessierende Frage auf, wie denn ein solches nur relativ bestimmtes und also auf Unbestimmbarkeit und Vorläufigkeit verweisendes Wissen eben jene Bedeutung erlangen kann, wie sie für den Unterricht anvisiert ist. Inwiefern kann also das Wissen als Wissen, das bestimmte Wissen auf relativ-methodischer Grundlage und zeitlich vorläufiger Geltung eine in sich selbst gründende Autorität be-
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anspruchen? Die Antwort der formalen Bildungstheorie auf diese Frage lautet bekanntlich, dass dies deshalb möglich ist, weil eben das Wissen als Wissen in seiner methodischen Relativität und Vorläufigkeit vermittelt werde. Das Wissen kann also in dieser Sicht eine Rationalität (des Wissens wie der Lebensführung) verbürgen, gerade weil es auf ein endloses, sich selbst korrigierendes Verfahren verweist. Das Faszinosum einer solchen Lösung besteht darin, dass hier gerade die Unbegründbarkeit des Wissens zu seiner ausgezeichneten Geltungsgrundlage gemacht wird. Wenn nun die Begründbarkeit des Wissens in ihrer Überschreitbarkeit zu sehen ist, und wenn sich das subjektive Verhältnis zum Wissen genau in dieser Figur einer Rationalität der endlosen Selbstüberschreitung zeigt, dann stellt sich die Frage, wie die Form eines sich in seinen Begründungen überschreitenden Wissens auf der Seite des Lehrers präsentiert werden kann und welche Möglichkeiten durch diese Präsentation unbegründbarer Grundlegung durch Wissen beim Lernenden eröffnet werden. Diese Frage dürfte ihre Berechtigung nicht zuletzt dadurch erhalten, dass die Figur einer endlosen Selbstüberschreitung des Subjekts als solche nicht ohne weiteres einsichtig ist. Fasst man das formale Bildungsmodell als eines der Selbstüberschreitung, so scheint sich dieses Modell selbst als ein Versprechen zu zeigen, das seinen Sinn aus dem Versprechen des Wissens auf eine immer verschobene Möglichkeit der Selbstgründung zieht. Die Frage nach der Präsentierbarkeit eines Wissens, das sich selbst in der Figur der Überschreitung verspricht, nimmt das Problem auf einer sehr ehrgeizigen Ebene auf. Meist wird man wohl eher davon ausgehen müssen, dass Wissen als in sich selbst begründet und keineswegs relativ vermittelt wird. Wenn neues Wissen entsteht, gehorcht dies der Fortschrittslogik eines immer adäquateren Wissens. In einer solchen Perspektive scheint es eher darauf anzukommen, den Lernenden ein Vertrauen in das fortschreitende, sich zur Begründung jedes Selbst- und Weltverhältnisses aufschwingende Wissen zu vermitteln. Auch hier ist Überholbarkeit der Grundlagen angezeigt, aber eine, die doch auf eine letzte Grundlage verweist: dass Wissen als Wissen selbst über jeden Zweifel erhaben ist. Diese Grundlage bleibt letztlich metaphysisch. Man kann dann wohl davon ausgehen, dass in einer solchen Sakralisierung des Wissens vor allem dessen hegemonialer Charakter gegenüber anderen Formen der Selbst- und Weltvergewisserung durchgesetzt werden muss. In einer solchen Konstellation, in der das Wissen als
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Wissen sakrosankt gesetzt wird, präsentiert der Lehrer mit dem Wissen zugleich dessen Hegemonieanspruch. Geht man demgegenüber von der Problematik der Begründbarkeit des Wissens selbst aus, dann ergibt sich die obige Fragestellung, wie denn das Wissen in der Differenz von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Begründetheit und Unbegründbarkeit präsentiert werden kann. Wird im Falle einer sakralisierten Geltung wissenschaftlich produzierten Wissens der Lehrer dadurch zu einer präsentierenden Autorität, dass er eben diese Geltung durchsetzt und damit eine hierarchische Opposition dieses Wissens zu anderen Wissensformen eröffnet, so stellt sich in diesem Fall die Frage der Autorisierung durch das Wissen anders. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass diese Autorisierung selber zwischen Begründbarkeit und Unbegründbarkeit schillert. Gegenüber einem Lehrenden, der auf die unverbrüchliche Geltung des präsentierten Wissens setzt, ergibt sich hier eher die Perspektive auf eine Problematik des Präsentierens, auf ein Problem der Autorität des Präsentierenden. Auf den zweiten Blick jedoch wird deutlich, dass die Differenz von Bestimmtheit und nur relativer Begründbarkeit des Wissens eine andere Autorisierung und damit Machtposition eröffnet: Diese scheint als solche auf einer anderen, aber dennoch konstitutiven Bedeutung des Wissens für Autorität zu beruhen. Eine Autorisierung durch das Wissen beruht in dieser Perspektive letztlich auf der endlosen Begründungsrelativierung des Wissens, auf seiner beständigen Verschiebung. Die Begründungslücke im Wissen, die durch dieses selbst nur prozessual und damit immer vorläufig geschlossen werden kann, ist dann als jener Raum zu verstehen, innerhalb dessen sich die Autorität des Lehrenden bewegt. Seine Autorisierung würde dann letztlich darauf beruhen, dass er die prozessuale Überwindung der Differenz von begründetem Wissen und Grundlosigkeit versprechen kann. Vielleicht könnte man auch sagen, dass sich das Wissen in der Präsentation des Lehrenden selbst verspricht. Seine Autorität und Macht würde dann von dem (immer wieder neu gegebenen und doch niemals endgültig einzulösenden) Versprechen des Wissens abhängen. Seine Lehre bestünde dann weniger in dem aktual vermittelten Wissen, sondern im Versprechen des Wissens. Ein solches Versprechen aber beinhaltet eben mehr als das vermittelte Wissen: Es impliziert das Werben um und die versuchte Verpflichtung der Adressaten auf die Differenzlogik des Wissens. Redeweisen wie diejenige vom Lernen des Lernens mögen zwar etwas ähnliches meinen, aber sie übergehen so-
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wohl die Problematik eines sich aufschiebenden Versprechens als auch diejenige einer (tendenziell hegemonialen) Verpflichtung auf eben dieses Versprechen. Wenn die Autorität des Lehrenden vor dem Horizont des Wissens daran hängt, dass er nicht nur das Wissen präsentiert, sondern gleichzeitig jenes Versprechen auf die Handhabbarkeit des Begründungsproblems, dann ist damit zugleich der Anspruch verbunden, dem Begehren nach Gründung, nach Sicherheit auf eine sinnvolle Weise begegnen zu können. Allerdings kann es auch hier nicht mehr als ein Versprechen geben: Die Lücke zwischen dem Wissen und dem, was durch seine Prozessualität versprochen wird, bleibt offen. Und gerade sie soll durch eine Autorität geschlossen werden, die auf eben dieser Lücke und damit auf dem Versprechen beruht. Eröffnet ist damit ein Raum von Auseinandersetzungen, der nicht durch den Verweis auf das Wissen geschlossen werden kann. Auf der einen Seite findet sich nun die Position eines Lehrenden, dessen Autorisierung auf dem Versprechen des Wissens beruht, das nur durch einen immer wieder neuen Rekurs auf Wissen einzulösen ist und sich daher als Versprechen immer wieder erneuert; auf der anderen Seite stehen Lernende, die auf den Glauben an dieses Versprechen verpflichtet werden sollen, was wiederum nur zu gehen scheint, wenn das Wissen mehr verspricht als sich selbst: etwa die Erfüllung von Wünschen nach Sicherheit, Orientierung, sozialem oder individuellem Glück. Spätestens damit wird deutlich, dass der hegemoniale Anspruch eines sich selbst versprechenden Wissens wohl nur dann Aussicht auf einen – wie auch immer gearteten – Erfolg haben dürfte, wenn es in der Präsentation des Wissens um mehr geht als eben nur Präsentation. Wenn schon das Versprechen des Wissens selbst sich auf die Lösung des Begründbarkeitsproblems bezieht, und wenn mit diesem Versprechen zugleich ein Begehren verbunden ist, für das das Wissen selbst eben nur den Weg anzugeben scheint, dann stellt sich die Frage, inwiefern mit der Präsentation des Wissens und seines hegemonialen Anspruchs nicht zugleich andere Versprechen repräsentiert werden. Wenn aber so die Präsentation des Wissens auf Fragen seiner Repräsentation verweist, dann dürfte sich das bisher relativ unproblematisch gehaltene Verhältnis zum Wissen und der durch es möglichen Autorisierung erheblich komplizieren.
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III. P ROBLEME
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Die bisherigen Überlegungen gingen von der vielleicht naiven – aber dennoch äußerst wirksamen – Vermutung aus, dass es das Wissen sei, das gelernt werden müsse, und dass es die Präsentation dieses Wissens sei, die den autoritativen Kernbereich des Lehrens ausmache. Eine solche Vorstellung, die den legitimatorischen Kern der Wissensvermittlung angeben mag, ist wohl deshalb naiv, weil sie jene Verweisungszusammenhänge, in denen das Wissen schon im Hinblick auf sich selbst steht, abblendet. Diese wurden als ein Versprechen auf Begründung des Wissens durch Wissen eingeführt und es wurde darauf verwiesen, dass ein solches Versprechen immer mehr verspricht als nur begründetes Wissen. Die Frage der Autorisierung des Lehrenden lässt sich damit ebenfalls wohl nur im Rahmen solcher Verweisungszusammenhänge verstehen, die er als das Wissen Präsentierender gleichzeitig immer schon zu repräsentieren scheint. Diese Gleichzeitigkeit betrifft schon die Präsentation selbst. Auch in sie ist immer schon eine Differenz eingelassen. Sie ist schon gegenüber dem vorhandenen Wissen – und nicht erst gegenüber dem Versprechen des Wissens – eine Inszenierung. Die Autorisierung der Präsentation durch das Wissen beruht immer schon auf der Differenz des Wissens zu seiner Präsentation. In der Präsentation wird eine Geltung des Wissens inszeniert, die in ihr selbst nicht hervorgebracht wird. Damit tritt für den Lehrenden die schwierige Situation ein, dass seine Autorisierung durch das Wissen nur eine stellvertretende ist – also eine, die nicht ›unmittelbar‹ durch das Wissen und auch nicht ›unmittelbar‹ durch die Lücke im Wissen erfolgt, sondern durch eine Lücke zum Wissen. Man könnte diese schwierige Situation vielleicht so umschreiben, dass die Autorisierung des Lehrenden nun nicht mehr nur auf dem Versprechen des Wissens beruht (was – wie zu zeigen versucht wurde – schon schwierig genug wäre), sondern zugleich auf dem Versprechen eines unmittelbaren Verhältnisses zu diesem Versprechen. Es wird also etwas viel versprochen: Neben dem Versprechen des Wissens auf eine verschobene Selbstgründung wird in Anspruch genommen, dass der Lehrende in seiner Inszenierung die eigene Differenz zu diesem Versprechen aufzuheben in der Lage wäre. Beide Versprechen müssen Versprechen bleiben: Sie versprechen sich also selbst und sind in ihrer Akzeptanz auf einen Glauben angewiesen, der zwar durch Wissen genährt, aber nicht begründet werden kann.
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Eben dieser Glaube scheint nun aber auf ein offenes Spiel imaginärer Schließungs- und Auflösungsmöglichkeiten von Selbst-, Fremd- und Weltverständnissen zu verweisen. Ob und inwieweit man an die Einlösbarkeit eines oder beider Versprechen glaubt und welche Gründe man dafür heranzieht, mag auf beiden Seiten, der des Lehrenden und der des Lernenden, zu den unterschiedlichsten Positionierungen führen. Um diesen Prozess einer imaginären Selbst- und Fremdauslegung vor dem Hintergrund jenes Versprechens des Wissens zu regulieren, scheint eine institutionelle Verortung von Lehrenden und Lernenden hilfreich zu sein. Vielleicht bringt die Institution Ruhe ins Spiel. Dies würde nun allerdings voraussetzen, dass ihre Regeln den Untiefen der Wissensvermittlung einen Halt geben würden. Die institutionellen Regelungen würden dann als soziale Regeln nicht nur das Versprechen des Wissens stützen und bekräftigen, sondern auch das in der Inszenierung des Lehrenden liegende Versprechen, das Versprechen des Wissens leibhaftig zu vertreten. Es wäre also die soziale Verortung von Lehrenden und Lernenden in der Institution, die die Untiefen des doppelten Versprechens und das sich daran anknüpfende Spiel von imaginären Selbstund Fremdverständnissen neutralisieren soll. Es stellt sich jedoch die Frage, ob damit das Problem nicht nur verschoben oder gar vervielfältigt wird. Fragt man etwa nach der Begründung einer eben solchen sozialen Ordnung der Wissensvermittlung, so scheint eine Antwort, die soziale Gründe für eine solche soziale Ordnung anführt, problematisch zu sein. Dass etwa Schule oder Universität als Institutionen zu verstehen sind, die aus einem sozial definierbaren Interesse oder zu einem sozial definierbaren Zweck (etwa zur Sozialisation und Qualifikation des Nachwuchses) eingerichtet wurden, wirft neben der Frage, wer dazu autorisiert ist, das Problem auf, ob sich diese sozialen Interessen und Zwecke rechtfertigen lassen. Damit ist man wieder auf dem Feld des Wissens angelangt. Wenn es sich hier um Institutionen handeln soll, die das Versprechen des Wissens kultivieren sollen, scheint deren Begründung sich gerade an diesem Versprechen messen lassen zu müssen. Eben dieses Versprechen liegt nun als Versprechen wiederum jenseits der Formulierung sozialer Funktionserfüllung. Die Suche nach der Wahrheit, nach dem Grund, die das Versprechen des Wissens ausmachen und von den ›Amtsträgern‹ bezeugt und repräsentiert werden soll, steht quer zu jeder sozialen Funktionsbestimmung der Institutionen des Lehrens, die sich im Lichte dieses Versprechens definieren. Andererseits reicht eben das Versprechen des Wissens
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nicht hin, um soziale Institutionen zu begründen. Wie also solche Institutionen auszusehen hätten, lässt sich weder mit Hilfe des Wissens noch durch den Einsatz sozialer Definitionsmacht begründen. Eröffnet wird hier ein Feld rhetorischer (figurativer) Auseinandersetzungen, deren Lösungen immer kritisierbar bleiben und so jener Unbegründbarkeit Rechnung tragen, die nur durch die Macht leerer Signifikanten geschlossen werden kann. Von der Leistung über die Gerechtigkeit und Bildung bis hin zur subjektiven Autonomie und Wahrheit reichen die Einsätze in diesem Macht- und Wahrheitsspiel. Wenn soziale Institutionen das Versprechen des Wissens auf Begründbarkeit und Wahrheit nicht einlösen können und wenn dieses Versprechen ebenfalls nicht hinreicht, um institutionelle Regelzusammenhänge zu begründen, so wirft dies nicht zuletzt auch Probleme für den Lehrenden auf, der nun beide Ordnungen repräsentieren soll. Lange ist dieses Problem als Rollenkonflikt verhandelt worden: Der Lehrende müsse einerseits die Rolle des beamteten und bürokratischen Agenten einer staatlichen Institution spielen und andererseits im Dienst der Wahrheit dieses Wissens die Lernenden betreuen. Diesem Inter-Rollenkonflikt korrespondiere auf der Seite der Lernenden das Dilemma, die im Lehrenden sich widerstreitenden Ordnungen zur Einheit zu bringen. Eine solche rollentheoretische Perspektive unterscheidet sich von der hier vorgeschlagenen Sichtweise darin, dass sie die Untiefen der Begründbarkeit beider Ordnungen abblendet und tendenziell den Lehrenden – zumindest dann, wenn er ein ›guter Lehrender‹ sein soll – in die Position eines letztlich doch souveränen Vermittlers rückt. Er soll in seinem Handeln die sich widerstreitenden Erwartungen als mögliche Einheit repräsentieren. Was hier mit einer normativen Selbstverständlichkeit vom Lehrenden gefordert wird, ist die Inszenierung der Einheit von sozialer und symbolischer Ordnung im Rahmen eines die Legitimität beider Ordnungen verbürgenden Wissens. Demgegenüber scheint es ratsam zu sein, die Unmöglichkeit einer solchen Versöhnung des scheinbar Begründeten in den Mittelpunkt zu stellen. Beide Ordnungen scheinen hinsichtlich ihrer Begründung problematisch zu sein und das vermittelte Wissen könnte man gerade als jenes Medium verstehen, innerhalb dessen die Differenz von Begründung und Unbegründbarkeit verhandelt wird. Damit erst wird der scheinbar selbstverständliche Rahmen normativer Zumutungen verlassen und jener Raum eröffnet, innerhalb dessen sich Unmöglichkeiten zeigen – Unmöglichkeiten einer sowohl
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theoretischen als auch moralischen Schließung. Es ist gleichzeitig ein Raum, innerhalb dessen jede Position zur Disposition steht – auch wenn es soziale wie symbolische Strategien zur Hegemonisierung im Namen der Institution wie des Wissens geben mag. Der Lehrende repräsentiert, er steht für das Wissen, das er selbst rezipiert hat und zugleich im Zeigen und Erklären reproduziert. So wie seine Autorisierung einerseits auf ein vorgängiges Wissen angewiesen ist, verweist sie andererseits (nicht zuletzt materialisiert durch die Möglichkeiten des Internet) auf die Überholbarkeit dieser Autorität durch das sich verändernde Wissen selbst. In dieser Situation mögen die Durchführung von Lernkontrollen, der Verweis auf die Lehrpläne oder die institutionell definierte Position des Lehrenden zunächst hilfreich sein; aber solche Lösungen bestehen in der Betonung und Durchsetzung der sozialen Ordnung, die zugleich die Unlösbarkeit des Autoritätsproblems auf der Ebene des Wissens deutlich macht. Offensichtlich wird so nur die hegemonial durchgesetzte Verknüpfung der Ordnung des Wissens mit derjenigen einer sozialen Ordnungsmacht. Umgekehrt wird gerade mit der Betonung der sozialen Sanktions- und Ordnungsmacht deutlich, dass die Ordnung des Wissens, die durchgesetzt werden soll, gerade nicht den Grund der sozialen Ordnung bilden kann. Damit stehen zugleich die sozial selbstverständlich erscheinenden symbolischen Muster der Begründung schulischer Wissensvermittlung auf dem Spiel: Das hegemonial durchgesetzte Wissen steht nicht nur im Gegensatz zum Versprechen des Wissens, sondern auch zu jeder definitiv erscheinenden Organisation von Begründungsmustern. Es ist das Versprechen des Wissens, das noch die Legitimität symbolischer Selbstverständigung oder die sozialer Regelungen verbürgen soll, und es ist zugleich dieses Versprechen, das von symbolischen und sozialen Ordnungsmustern immer schon unterbrochen werden muss, damit faktische Geltung beansprucht werden kann. Und es ist der Lehrende in seinen unterschiedlichen Repräsentationsbezügen, der vor allem genau die Unlösbarkeit dieses Widerspruchs repräsentiert. Er mag sich auf das Versprechen des Wissens verpflichten und seine unbedingte Geltung bezeugen, aber dies bedeutet zunächst nur eine Positionsnahme, eine Bindung seines Begehrens an eine mögliche imaginäre Position, von der her sich die Widersprüchlichkeit nicht aufheben lässt. Er mag sich auf die Bestandssicherung des vorhandenen Wissens im Sinne einer kulturellen Tradierung verpflichten und auch dies wird ihn nicht aus dem Dilemma befreien, dass das Versprechen
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des Wissens gerade mehr umfasst als bloße Überlieferung. Und er kann noch so sehr die institutionellen Verpflichtungen in den Vordergrund rücken, sie werden ihn nicht von der Frage ihrer Legitimierbarkeit und damit vom Versprechen der Begründbarkeit durch rationale Argumentation, vom Versprechen des Wissens entlasten. Deutlich werden kann auf diese Weise, dass es in diesem Geflecht von Repräsentationen unterschiedlichste Positionierungsmöglichkeiten gibt, dass es verschiedene Ansatzpunkte eines subjektiven Begehrens geben kann. Ebenso deutlich dürfte jedoch auch sein, dass diesen unterschiedlichen Begehren keine Erfüllungsmöglichkeit entspricht. Eröffnet ist ein Feld unterschiedlicher Subjektivierungsmöglichkeiten, von denen keine in der Lage sein dürfte, das Subjektive als Identität in sich zu schließen oder dem Symbolischen wie Sozialen einen Grund zu geben. Eröffnet wird ein Raum von möglichen heterogenen, in sich gebrochenen Subjektivierungsformen, und es ist dieser Raum, auf den die Lernenden reagieren, auf den bezogen sie eine Verortungsmöglichkeit finden müssen, die ebenfalls nicht eindeutig definierbar sein dürfte. Auch für ihr Begehren dürfte es eine Vielzahl möglicher unmöglicher, imaginärer Anknüpfungspunkte geben. Die Variante, dass dies ›die Persönlichkeit‹ des Lehrenden sein könnte, bildet nur einen dieser imaginären Bezugspunkte.
S CHLUSSÜBERLEGUNG Blickt man auf die bisherigen Überlegungen zurück, so könnte man vielleicht sagen, dass mit ihnen die Öffnung eines Feldes imaginärer Orientierungspunkte des individuellen Begehrens ohne Rückgriff auf psychologische Motive aus der Logik der Wissensvermittlung selbst entwickelt wurde. Die Wissensvermittlung ist weder über das Wissen noch über die Vermittlung so zu begründen, dass nicht ein offener Raum imaginärer Bezugspunkte konstituiert wird. Institutionelle Lösungsversuche dieses Problems scheinen die Angelegenheit nur zu verkomplizieren, auch wenn sie die hegemoniale Kraft des Wissens sozial stärken mögen. Vor diesem Hintergrund wird jeder Ausweg, der den imaginären Raum möglichen Begehrens kanalisieren will, selbst wiederum nur als ein Begehren ausweisbar sein, dessen Bezugspunkt imaginär bleibt. So impliziert das Begehren einer Verpflichtung des Lernenden auf das Begehren des Ver-
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sprechens des Wissens immer schon eine andere Grundlage des Begehrens als dieses Versprechen selbst; umgekehrt verweist eine vorstellbare Verpflichtung auf Legitimationsbestände des Wissens, des Sozialen oder des Symbolischen auf jenen Irritationsgehalt des Wissens, den das Wissen selbst bereitstellt. Zudem ergibt sich das Problem, dass jede Repräsentation des bevorzugten Begehrens selbst nicht als in sich geschlossene inszeniert werden kann. Jacques Rancière hat in seinen Lektionen über den ›unwissenden Lehrmeister‹ (2007) einen Ausweg gewählt, der, um das Begehren nach Wissen zu wecken, auf die Unwissenheit des Lehrenden und damit auf die Unmöglichkeit der Vermittlung setzt. Allerdings wird ein nicht durch das Wissen selbst bestimmtes Begehren nach einem bestimmten Wissen beim Lernenden vorausgesetzt und die Unwissenheit des Lehrmeisters zielt dann darauf, das Begehren des Wissens in eines der eigenständigen Erschließung des Wissens zu stabilisieren. Die Lehre besteht dann darin, dass man nichts zu lehren hat (vgl. Rancière 2007, 25). Was eine solche Perspektive vom hier vorgeschlagenen Problemhorizont unterscheidet, ist nicht nur die Annahme, dass der ›Wille zum Wissen‹ immer schon vorausgesetzt werden kann: Es kommen Lernwillige, die durch die Unwissenheit des Lehrmeisters auf sich selbst zurückgeworfen werden und sich in ihr eigenes Begehren so verstricken, dass sie ihre souveränen Lernmöglichkeiten entdecken. Unterschiedlich ist auch, dass das Wissen selbst relativ unproblematisch gehalten wird: Es wird nicht mit seiner eigenen Problematik, mit der Struktur seines Versprechens konfrontiert, die sich unabhängig vom Problem der Vermittlung und damit der Autorisierung des Lehrenden ergibt. Wenn so auch die Fallen der Repräsentation des Wissens, seiner sozialen Organisation und symbolischen Verortung umgangen werden, drängt sich doch wieder die Frage des Wissens selbst, seiner Präsentierbarkeit auf. Rancières ›unwissender Lehrmeister‹ scheint darauf zu setzen, dass das Begehren nach Wissen, das die Lernenden mitbringen, durch seine Unwissenheit noch einmal auf sich selbst gewendet wird und so zu einer Bindung des Begehrens an den Prozess der Wissenszueignung führt. Das Begehren richtet sich so (als vom Lehrmeister verstärkter ›Wille‹) auf das Versprechen des Wissens selbst. Nun scheint es aber gerade nicht ausgemacht, dass die Differenz zwischen dem Wissen und dem Versprechen des Wissens durch ein Begehren geschlossen wird, das sich auf das Versprechen des Wissens richtet. Eben deshalb schien ja eine institutionelle Abstützung notwendig, die sich wie-
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derum auf bestimmte soziale Selbstverständnisse stützt. Eröffnet wurde damit aber nicht nur ein Feld heterogener und unmöglicher Repräsentationen durch den Lehrenden, sondern auch ein offenes Feld für das Begehren der Lernenden. Dieses Feld dadurch schließen zu wollen, dass man das Begehren auf das Versprechen des Wissens als Wissen lenkt, schien nur als hegemoniale Schließung möglich, womit sich ein Raum von Widerständen öffnet. Vielleicht liegt die zentrale Frage des Lehrens darin, wie es möglich sein kann, die Differenz des Versprechens des Wissen zu seiner hegemonialen Schließung (mit Hilfe ›verbürgten Wissens‹, sozialen rituellen Inszenierungen oder symbolischen Ordnungsmustern) in der Vermittlung selbst zu repräsentieren. Eine solche Perspektive scheint mehr zu implizieren als jene ohnehin schon schwierige Frage, wie man die Differenz von vorhandenem Wissen und dem Versprechen des Wissens repräsentieren soll. Hier könnte man auf die Antwort eines beständigen Befragens des Wissens im Namen seiner beanspruchten Wahrheit kommen, die ja zunächst die Vermittlung des Wissens und seine anschließende Befragung im Namen seines Versprechens impliziert. Diese schwierige Aufgabe verkompliziert sich durch die Berücksichtigung des Sachverhalts, dass es möglicherweise ganz andere – und nicht von vornherein im Namen des Versprechens des Wissens auszuschließende – Begehren sind, die das Verhältnis zum zugeeigneten Wissen steuern. Die hegemoniale Position des Wissens, die durch dessen Versprechen legitimiert zu sein scheint, im Prozess seiner Vermittlung zu relativieren, scheint die Voraussetzung dafür zu sein, dass eine Wissensaneignung um des Lehrenden willen, in Konkurrenz zu Mitschülern, im Hinblick auf die Akkumulation kulturellen Kapitals einen legitimen Raum gewinnt. Ein solcher Raum sieht sich zum Ersten dem Versprechen der Bildung gegenüber, das die Selbstverpflichtung auf Rationalität, auf das Versprechen des Wissens gegenüber seiner sozialen Instrumentalisierung betont. Ein solcher imaginärer Horizont scheint einerseits unabdingbar zu sein, andererseits aber tendiert er – gerade aufgrund seines imaginären Charakters – zur Ideologie (vgl. Adorno 1959). Zum Zweiten liegt die Problematisierung der hegemonialen Position des Wissens in einer (nicht zuletzt vor dem Hintergrund des imaginären Horizonts der Bildung) unangenehmen Nähe zur Instrumentalisierung der Wissensvermittlung für soziale Zwecke und normalisierte Kompetenzprofile. Jedoch bedeutet diese Problematisierung der hegemonialen Position des Wissens und seines Versprechens nicht zuletzt
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auch eine Problematisierung eben dieser sozialen Instrumentalisierung, die selbst noch vor dem Hintergrund der Hegemonie des Wissens formuliert wird und so ihren sozial definierten Hegemonieanspruch verbirgt. Die Relativierung des hegemonialen Anspruchs des Wissens zielt hier demgegenüber gerade darauf, den verstellten Blick darauf freizugeben, dass jede versuchte Begründung des Wissens durch sich selbst niemals hinreicht und so den Raum öffnet, innerhalb dessen eine immer problematisierbare Konstellation von Gründen und damit ein Feld von Konfliktlinien Platz findet.
L ITERATUR Adorno, T.W. (1959): Theorie der Halbbildung: In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 8. Frankfurt am Main, 93-121. Bernfeld, S. (1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main. Gamm, G. (2005): Unbestimmtheitssignaturen der Technik. In: Gamm, G./Hetzel, A. (Hg.): Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine Deutung der technisierten Welt. Bielefeld. Nohl, H. (1949): Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt am Main. Rancière, J. (2007): Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien.
Globalisierte Bildung im Dickicht der Kulturen? Vorbereitende Überlegungen zu einem verdeckten Problem R AINER K OKEMOHR , T IM S CHMIDT , G EREON W ULFTANGE Schulisches und universitäres Lehren und Lernen, im Zeichen der PISAUntersuchungen und des Bologna-Beschlusses verstärkt auf berufspragmatische Verwertbarkeit eingestellt, 1 begünstigt ein teaching and learning for
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Das Bundesministerium für Bildung und Forschung nennt als eines der Ziele des Bologna-Prozesses: »Berufsqualifizierung/Beschäftigungsfähigkeit der Absolventinnen und Absolventen aller drei Stufen muss stärker in den Fokus gerückt werden. Die Hochschulen müssen für eine breite Wissensgrundlage sorgen, aber auch auf den Arbeitsmarkt vorbereiten.« Erreicht werden soll dies u.a. durch ein »[...] gestufte[s] Studiensystem [...] aus Bachelor und Master mit europaweit vergleichbaren Abschlüssen, die Einführung und Verbesserung der Qualitätssicherung sowie die Steigerung der Mobilität im Hochschulbereich […]. So kann das vorhandene Wissenspotenzial besser ausgeschöpft werden.« (BMBFa) In den Förderrichtlinien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Nachwuchsförderung vom 10. Januar 2010 heißt es: »In einer Wissensgesellschaft werden Bildung und Forschung zu zunehmend wichtigen gesellschaftlichen Ressourcen und zu zentralen Faktoren im internationalen Wettbewerb. Ein leistungsfähiges Bildungssystem ist die wesentliche Grundlage dafür, dass individuelle Zukunfts- und Arbeitschancen verbessert werden und dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung, auch im internationalen Wettbewerb, erfolgreich bleibt. Um die Qualität im Bildungssystem zu sichern und
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the test. Lehrende und Lernende sehen sich aufgefordert, ihr Handeln an Wissen zu orientieren, dessen Erwerb in Leistungskontrollen zu prüfen ist. Damit wird ihr Blick auf propositionales, in Aussagesätzen zugängliches Wissen gelenkt. Er wird abgelenkt von praktischem Wissen, das, oft nicht bewusst und widerständig gegen propositionale Formulierungen, Welt- und Selbstverhältnisse grundiert, Identitätskonstruktionen durchzieht und zukünftige Bedeutungsbildung präfiguriert (vgl. Straub 1999, 95-98). 2 Die
weiter zu entwickeln, müssen jedoch wissenschaftlich fundierte Grundlagen geschaffen werden, die eine verlässliche Beurteilung der Situation und der Perspektiven im Bildungswesen ermöglichen. Darüber hinaus nimmt im Kontext einer wissensbasierten, outputorientierten Steuerung auf allen Ebenen des Bildungswesens die Bedeutung empirisch fundierten Wissens für Funktionsinhaber (in Ministerien, Landesinstituten, Schulämtern, als Schulleiterin/Schulleiter etc.) zu. […] Leistungsfähige Forschung, Innovation und internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederum stehen in engem Wechselverhältnis miteinander. Beides setzt eine etablierte, exzellente empirische Bildungsforschung voraus. […] Ein zentraler Bestandteil des Rahmenprogramms ist die Gewinnung und Förderung von hochqualifizierten Nachwuchswissenschaftlerinnen/ Nachwuchswissenschaftlern für die empirische Bildungsforschung. […] Im Rahmen der Förderrichtlinie werden thematisch fokussierte empirisch ausgerichtete Promotionsprojekte für hervorragende Akademikerinnen/Akademiker gefördert. Ein besonderes bildungspolitisches Interesse gilt hierbei bestimmten Schwerpunkten, die im Hinblick auf die Schaffung einer soliden Forschungsbasis für bildungsrelevante Entscheidungen (etwa im Rahmen der Bildungsberichterstattung) sowie auch im Hinblick auf die wissenschaftliche Fundierung der pädagogischen Praxis vorrangig sind. […] Eine wesentliche Grundlage für die Optimierung, aber auch für die Vergleichbarkeit von Bildungsprozessen und -ergebnissen bildet – national wie international – die zuverlässige Messung von Kompetenz in verschiedenen Anforderungsbereichen. Die empirische Erfassung von Kompetenzen ist jedoch theoretisch und methodisch äußerst anspruchsvoll.« (BMBFb) 2
Zur Unterscheidung propositionalen und praktischen Wissens schreibt Linda Zagzebski: »Knowledge is a highly valued state in which a person is in cognitive contact with reality. It is, therefore, a relation. On one side of the relation is a conscious subject, and on the other side is a portion of reality to which the knower is directly or indirectly related. While directness is a matter of degree, it is convenient to think of knowledge of things as a direct form of knowledge in
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Ablenkung von praktischem Wissen mindert Neugierde, Erkenntniswille und notwendige Überschreitungen gegebener Welt- und Selbstverhältnisse. Wir nutzen Wissen, um unsere Welt- und Selbstverhältnisse unter dem Aspekt von Rationalität zu organisieren (vgl. Valsiner 2007, 76). 3 Doch indem wir von Wissen sprechen, heben wir propositional Gewusstes gleichsam als Insel des Gewussten im Raum des Nichtwissens sowohl von anderem Gewussten als auch von anders Gewusstem oder zu Wissendem ab. Mängel des Nichtwissens werden im Alltag in praktischem Wissen produktiv, sofern propositional Gewusstes auch Intuitionen eines anderen und anders Gewussten als eines Wissens mitführt, das zwar ungesagt und nicht lehrend ausdrücklich gemacht ist, aber auf die eine oder andere Weise gesagt werden könnte. 4 Redeformen solch anderen und anders Sagbaren sind
comparison to which knowledge about things is indirect. The former has often been called knowledge by acquaintance since the subject is in experiential contact with the portion of reality known, whereas the latter is propositional knowledge since what the subject knows is a true proposition about the world. Knowing Roger is an example of knowledge by acquaintance, while knowing that Roger is a philosopher is an example of propositional knowledge. Knowledge by acquaintance includes not only knowledge of persons and things, but also knowledge of my own mental states. In fact, the knower’s own mental states are often thought to be the most directly knowable portion of reality. Propositional knowledge has been much more exhaustively discussed than knowledge by acquaintance for at least two reasons. For one thing, the proposition is the form in which knowledge is communicated, so propositional knowledge can be transferred from one person to another, whereas knowledge by acquaintance cannot be« (Zagzebski 1999, 92). 3
Hier kann auch daran erinnert werden, dass im praktischen Wissen die Etymologie des Wortes »wissen« bewahrt ist. Die Grundbedeutung von »wissen«, wortgeschichtlich verwandt mit dem griechischen eidon, »drückt den am Subjekt erreichten Zustand aus, der durch die Handlung finden (erkennen, erblicken) erreicht wird, also ich habe gefunden/erkannt = ich weiß, was wiederum verwandt ist mit durativ in (lat.) video ich sehe« (Kluge 2002, 994).
4
Dieses Argument liegt dem Prinzip der Ausdrückbarkeit zugrunde: Zwar kann ihm zufolge nie alles zugleich ausgedrückt werden. Wohl aber gilt, »dass man alles, was man meinen, auch sagen kann« (Searle 1973, 34). Dieses letztlich generative Prinzip der Sprache, dessen Grund schon Humboldt im wirksamen,
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rhetorische Figuren uneigentlicher Rede wie Ironie, Hyperbel, Metapher oder Metonymie. Sie erlauben uns, im Sagen Nichtgesagtes zu sagen und im Mangel des propositional Sagbaren andere Welt- und Selbstverhältnisse zu entwerfen. Doch indem die engen Maschen des Kontrollnetzes im teaching and learning for the test auf propositional ausgelegte Wissensprüfungen ausrichten, werden Formen uneigentlicher Rede und die ihnen innewohnenden Intuitionen praktischen Wissens, das produktiv Mögliche des Mangels, entwertet. 5 Wie also organisiert das teaching and learning for the test, indem es den Blick auf propositional zu Wissendes als pragmatisch zu Nutzendes beschränkt, den komplexen Charakter des Wissens? Propositionale Wissensformung blendet aus, dass Wissen ein WeltSelbst-Verhältnis ist, dessen Erfahrung Subjektivität bildet. Verdeckt wird die Ausblendung im Versprechen von Lehr- und Studienplänen, es werde gelehrt und gelernt, was berufspragmatisch funktional sei. Aber das Versprechen ist leer. Denn mangels sicherer Kenntnis zukünftiger Notwendigkeiten wird tautologisch unterstellt, es werde getestet, was berufspragmatisch funktional sei, und es sei berufspragmatisch funktional, was getestet werde. Indem gleichgesetzt wird, was empirisch nicht gleichgesetzt werden kann, wird negiert, was im Versprechen suggeriert wird, dass nämlich jene Freiheit, Flexibilität, Souveränität und Integrität des Denkens und Handelns gefördert werde, die moderne Lebens- und Arbeitswelten von individuellen Welt- und Selbstverhältnissen fordern. Angesichts dynamischer Kulturen
aber kaum zugänglichen Spracherbe vorausgehender Generationen und Kulturen erkennt (vgl. Humboldt 1963, 426-440; bes. 438f), ist zu radikalisieren durch den Hinweis, dass die Nichtausdrückbarkeit des Ganzen einem jeden Wissen einen uneinholbaren Mangel einschreibt. 5
Hier lässt sich das Beispiel mancher ostasiatischer Kulturen nennen. Deren Schulsysteme sind u. a. unter dem Druck westlichen Wissensimports oft Lernanstalten, die dem Anschein nach auf propositional Gewusstes verpflichten. Das Diktat scheint aber lebbar zu sein durch eine kulturelle Tiefenstruktur, die propositional Gewusstes als Moment koagierender Kräfte (exemplarisch: Yin und Yang) weiß, die, einfacher Definition entzogen, den gelebten Grund des Wissens ausmachen. Diese Tiefenstruktur kann als funktionales Äquivalent zur okzidentalen Vorstellung eines Wissens gelten, das sich von Gesagtem oder Gewusstem abhebt.
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und Lebenslagen, die dazu herausfordern, Wissen zu dynamisieren, Konventionen zu überschreiten, Welt- und Selbstverhältnisse zu verflüssigen, zu modifizieren oder zu transformieren, bieten testbezogene Wissensformen, in Lehr- und Studienplänen standardisiert, Lehrenden und Lernenden nur beschränkt Hilfe. Durch solche Standardisierung schwächen PISA- und Bologna-Reformen Sensibilität und Kreativität im Sinne verantwortlicher, nicht nur technokratisch selektiver und utilitaristisch ausgerichteter Teilnahme am gesellschaftlichen Prozess. 6
I. O KZIDENTALE W ISSENSFORMATION Propositionale Wissensformen sind am frühneuzeitlichen Ideal klarer und distinkter Wahrheit 7 orientiert. Als definitorisch objektiviertes Wissen gehorchen sie letztlich einer Ja-Nein-Logik, die die europäische Geschichte in zwei Jahrtausenden hervorgebracht, in der Neuzeit als signifikante Wissensform ausgezeichnet und in der Erfolgsgeschichte neuzeitlicher Wissenschaften zur Herrschaft gebracht hat. Als enzyklopädisches System symbolischer Ordnung beanspruchen sie, Welt im Modus definiter Wissensfragmente zu organisieren, Weltsegmente zu repräsentieren und in der Repräsentation über sie zu verfügen. Die Vorstellung der Welt als gewusster, im Gewussten repräsentierter und verfügbarer ist die epistemologische Voraussetzung sowohl des dominanten Typus okzidentaler Welt- und Selbstverhältnisse als auch testförmiger Wissensprüfungen. So gesehen ist das teaching and learning for the test eine späte Erscheinungsform im Siegeszug okzidentaler Wissensformation.
6
Der Konstanzer Studierendensurvey von 2009 legt nahe, dass gegenwärtige Studierendengenerationen mehr Wert auf ein utilitaristisch verwertbares Studium sowie auf private Lebensbereiche als auf überindividuelle Aspekte wie »Kunst und Kulturelles«, »Politik und öffentliches Leben« oder auch »Wissenschaft und Forschung« legen (vgl. Universität Konstanz 2009, 36; 47).
7
Vgl. A. G. Baumgarten, der sich in seiner Aesthetica von 1750 mit dem Wahrheitsbegriff einer auf Logik reduzierten Philosophie auseinandersetzt und ihre notwendige Ergänzung durch eine Philosophie der Kunst fordert, die »zwischen dem ›dunklen Grund der Seele‹ und der oberen klaren und deutlichen Erkenntnis steht« (Ritter 1971, 557; vgl. auch Bäumler 1967, 207ff).
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Deren Erfolg, vor allem im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, 8 ist offensichtlich. Doch ihre Engführung im teaching and learning for the test macht Subjektivierungsprozesse problematisch. Indem sie Lehrende wie Lernende unmittelbar aufs geschichtslose Resultat verpflichtet, negiert sie die Bildungsprozesse der Subjekte in der Spannung zwischen wildem Denken und kultureller Wissensformung. So bindet sie nachwachsende Generationen an das Produkt eines historischen Sonderweges und überantwortet die Ontogenese epistemologischem Dunkel. Verführt durch den Siegeszug und seine wissenschaftlichen, technischen und lebenspraktischen Folgen führt das teaching and learning for the test dazu, Bildungsfraglichkeiten zu verschatten und Lehrende wie Lernende als gleichsam geschichtslos kognitive Apparate aufs Bewährte zu verpflichten. Nicht selten imprägniert es schon die außerschulische und außeruniversitäre Alltagspraxis, indem es die Entwicklung Lernender vom Neugeborenen zum Erwachsenen als Wissenszuwachs begreifen lässt, der durch geeignete Wissenszuführung zu beschleunigen sei. Solchem Blick bleibt verborgen, dass die Geschichte abendländischen Denkens eine Geschichte qualitativer Brüche und komplexer Transformationen ist, neben der es kulturell andere Vergesellschaftungsformen und andere Universen des Wissens, Denkens, Fühlens und Handelns gibt. Es bleibt verborgen, dass auch Subjekte sich in Verschiebungen oder Brüchen von Welt- und Selbstverhältnissen, in Krisen, Modifikationen und Transformationen vorprädikativ-prädikativer Bedeutungsund Wissensbildung bilden. Wo solche Prozesse dennoch wahrgenommen werden, werden sie gern in der Ordnung okzidental-neuzeitlichen Wissens einer vom Weltwissen geschiedenen Innenwelt der Individuen zugerechnet. So tritt dem lernenden Individuum objektiviertes Wissen als etwas Fremdes entgegen, das es zu erobern, anzueignen und dem es in seiner Beherrschung sich unterzuordnen gelte.
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Zur interkulturellen Übertragbarkeit von Wissen als »given message« vgl. das »Unidirectional Culture Transfer Scheme« bei Valsiner (2007, 34).
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II. M ETAPHERN ALS EIN B EISPIEL
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W ISSENSFORMUNG :
Geschichts- und kulturneutrale Wissensformung ist nicht nur epistemologisch bedeutsam. Da sie in Formen des Lehrens und Lernens praktisch wird, ist sie auch in didaktischem Interesse zu befragen. Die Entstehung der Didaktik als institutionalisierter Disziplin geht in Deutschland mit dem Prozess der industriellen Revolution und der Ausprägung des Bildungsbürgers einher, in dem Wissen zum erwerbbaren Bildungsgut erhoben worden ist. In seiner Verfügung sollte der freigesetzte Wirtschaftsbürger jene Kräfte entfalten, die in den so genannten Gründerjahren zu einem Signum der industrialisierten Wohlstandsgesellschaft geworden sind. So ist Didaktik als Vermittlungsinstanz zwischen wildem Denken und etablierten Wissensformen zur Antwort auf die Fremdheit eines Wissens geworden, das von Wissenschaften, Technik oder aus fremden Welten in die eigenen Lebenswelten eingetragen wird. 9 Zwar kritisiert schon Nietzsche in der Figur der »couranten Menschen« (Nietzsche 1980a, 667) und des Geschichte vergessenden Bildungsphilisters die Selbstverblendung solchen Wissenserwerbs. Doch Didaktik folgt ihr und arbeitet sich an ihr ab – und sieht sich bis heute vor den Folgeproblemen. Als oft scheintherapeutische Institution richtet sie Lehrende und Lernende auf Welt als gewusste aus. In der Formulierung von Lehrplänen und in der Modellierung schulischer und universitärer Lehr-Lern-Prozesse sucht sie wildes Denken in objektivierenden Wissensformationen zu disziplinieren. 10 Sie
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Lehrreich ist das Beispiel Ludwig Wittgensteins, der nach der Arbeit am Tractatus logico-philosophicus als Volksschullehrer in Niederösterreich gearbeitet hat. Konrad Wünsche hat verdienstvoll Wittgensteins didaktisches Denken herausgearbeitet, das von propositional klarer Beschreibbarkeit der zu lehrenden Gegenstände bestimmt und frei von lebensweltlichen Anschlüssen an das praktische Wissen seiner Schüler gewesen zu sein scheint (vgl. Wünsche 1985, 57ff).
10 Natürlich gibt es auch kluge Didaktiken, die vom wilden Denken auszugehen versuchen, anstatt ihm in der Unterwerfung unter objektiviertes Denken seine Kraft zu nehmen. Doch sie sind in der Regel Gegenkonzepte gegen staatlich institutionalisierte Bildungssysteme. Dem Zweifler an der pointierten Darstellung der Didaktik sei ein Gang über eine »Didacta«, die Messe der Lehrmittelhersteller, empfohlen. Die meisten der dort gezeigten Produkte sind Muster formierter
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übernimmt die Aufgabe, mit der Zurichtung, Darstellung und Vermittlung objektivierten Wissens die Zugänge zu Welt einzurichten. Dies gelingt ihr in dem Maße, in dem Lehrende und Lernende im europäisch neuzeitlichen Horizont objektivierten Wissens Welt fraglos als »immer schon« gewusste oder wissbare unterstellen. Wir versuchen an einem Beispiel zu zeigen, was didaktischer Wissensformung den Schein des Selbstverständlichen gibt. Das Beispiel entstammt einem Kultur vergleichenden Forschungsprojekt, das der Untersuchung naturwissenschaftlichen Wissens und der das Wissen begleitenden Einstellungen und Haltungen japanischer und deutscher Schülerinnen und Schüler gilt (Berg/Langlet/Schaefer 2007). Es bietet sich an, weil es propositionales mit kulturell verschiedenem Wissen zu versöhnen beansprucht und im Ernst des Unterfangens erkennen lässt, wie schwer es ist, Verführungen okzidental eingelebter Wissenstraditionen zu entgehen. Es erlaubt, die Spannung wissenschaftlichen Wissens zu kulturellem Alltagswissen ausdrücklich zu machen und zu diskutieren, was im Zeichen testförmig objektivierten Wissens verschwindet. Das Projekt gilt der Untersuchung von Einstellungen und Haltungen Jugendlicher gegenüber natur- und lebenswissenschaftlich bedeutsamen Phänomen. Die Untersuchung verpflichtet sich dem klugen Anspruch, mit der Wahrnahme von Einstellungen und Haltungen kulturelle Verschiedenheiten von Wissen (vgl. Schaefer 2007b, 287) 11 und wissenschaftlich objektiviertes Wissen als besondere Wissensformen sichtbar zu machen und deren Diversität für didaktische Inanspruchnahme aufzubereiten. Doch die Durchführung lässt erkennen, wie schwer der Anspruch zu erfüllen ist, weil okzidental eingelebte Selbstverständlichkeit propositionalen Wissens Wahrnehmungen eines kulturell Anderen lenkt. Was ist erforscht worden? Forscher aus Japan und Deutschland haben mit Fragebögen sowie anhand von Gesprächen und Unterrichtsbeobachtungen das naturwissenschaftliche Verständnis von Schülerinnen und Schü-
Wissensmodule, die implizit beanspruchen, mit dem formierten Wissen auch unsere Welt- und Selbstverhältnisse zu synthetisieren. 11 »Heutige ›Wissenschaft‹ allerding [sic] – das sollten wir Europäer wohl immer mit bedenken – ist von ihrem Ursprung her ›europäische Wissenschaft‹, und bei der Begegnung uralter gewachsener Kulturen sollten wir uns immer fragen, welchen Beitrag jede einzelne im Konzert der Völker leisten kann.« (Ebd.)
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lern, wie es sich in ihren Äußerungen zu Einstellungen und Haltungen zeigt, untersucht. Während sie japanische Schülerinnen und Schüler stärker an konventionellen Wissensformen orientiert und in der Wiedergabe von Wissen zu hohen Leistungspunkten kommen sehen, seien deutsche Schülerinnen und Schüler zwar weniger leistungsstark im Sinne konventionell erwartbarer Antworten, aber kreativer und zielstrebiger im Umgang mit Problemen (vgl. ebd., 282; 287). Es sollen hier weder die Methoden der Kulturen vergleichenden Untersuchung noch die Aussagen über unterschiedliche Leistungsprofile japanischer und deutscher Schülerinnen und Schüler diskutiert werden (vgl. Kokemohr 2007, wo einige Methodenfragen genannt sind). Unserem bildungstheoretischen Interesse folgend konzentrieren wir uns auf das epistemologische Schema, das der Untersuchung zugrunde liegt. Um Kulturen vergleichen zu können, bedarf es eines allgemeinen Vergleichsmaßstabs. Diesen Maßstab sehen die Forscher im wissenschaftlichen Wissen, dessen transkulturell universale Geltung unterstellt wird. Doch das Vertrauen in die universale Gewissheit wissenschaftlichen Wissens stellt vor das nicht mehr neue Problem, dass der okzidentale Wissenschaftskosmos, der Geburtsraum wissenschaftlichen Wissens, trotz seiner globalen Ausbreitung in konkurrierende und oft unvereinbare Wissens-, Denk- und Interpretationskulturen zerfallen ist und angesichts der Verschiedenheit der Weltkulturen nicht als selbstverständlicher Geltungsanker kulturell verschiedenen Wissens dienen kann. Wie also versuchen die Autoren des Projekts, einen Maßstab zu finden, der die erhobenen Daten auf ein für alle geltendes Wissen, Denken und Handeln hin zu interpretieren und zugleich deren kulturelle Diversität aufzunehmen erlaubt? Sie beziehen sich auf naturwissenschaftlich objektiviertes Wissen. Da Naturwissenschaften Wissen im Blick auf eine für alle gleiche Natur bereitstellen, sehen sie in ihnen Formen von »Wissenschaftssprechen (als Weltsprachen)«, 12 denen sie im Zeitalter technisch-wissenschaftlicher Zivilisationen kulturelle Dignität und die Aufgabe einer notwendigen Allgemeinbildung zusprechen (vgl. Schaefer 2007c, 9), die auch kulturell spezifisches Wissen berücksichtige.
12 Die Projektautoren verstehen ihre Arbeit als Befolgung der Leitlinien der genannten Denkschrift der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) (vgl. Schaefer 2007c, 9ff).
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Doch naturwissenschaftliches Wissen ist voraussetzungsreich und in seinen vorprädikativ-epistemologischen Geltungsbedingungen nicht ohne weiteres zugänglich. Die Autoren des Projekts wissen das. Sie folgen der didaktischen Einsicht, dass wissenschaftliches Wissen, um zur Anerkennung gebracht zu werden, einer Übersetzung bedarf, die Lernenden wissenschaftliches Wissen durch das Dickicht kultureller Sprach- und Lebensformen hindurch zugänglich macht. Zu diesem Zweck entwickelt der Hauptautor im Vorfeld des Projekts eine sinnfällige Metapher, die die Bildung von Begriffen modelliert. Begriffe seien im »Klettenmodell« (Schaefer 2007a, 28ff) zu denken. Sie hätten wie die Klette einen Kern, der mit den ihn umgebenden Widerhaken »persönliche Bedeutung« als »assoziatives Umfeld« festhalte. Der Kern sei eine »logische«, und das heißt im gegebenen Kontext eine universale Begriffsbedeutung im Sinne der »objektiv kennzeichnenden Merkmale des Sachverhaltes« (ebd., 29), während sich in den Widerhaken weiche, kulturell verschiedene Vorstellungen assoziativ verfangen. Die Metapher besticht. Indem sie Bedeutungskern und anhängende Vorstellungen in das Verhältnis von Zentrum und Peripherie setzt, nimmt sie die Differenz von objektiv geltender Bedeutung und subjektiv gemeintem Sinn auf. Sie formuliert, was in reformpädagogischen Traditionen gern als objektive Sache und subjektives Erleben unterschieden wird. Doch indem sie objektive Bedeutung und subjektiv gemeinten Sinn als immer schon Gegebenes vorstellen, immer schon Gegebenes vorstellen lässt, entzieht sie dem Blick die Genese von Begriffen und die kulturellen Bedingungen ihres Gebrauchs, wie etwa Wittgenstein sie im Topos der »Familienähnlichkeiten« thematisiert. 13
13 Wittgenstein entwickelt am Beispiel des Spiels die Unschärfe natürlichsprachiger Begriffe (vgl. Wittgenstein 1984, 276-278, § 65-67). Im skizzierten Projekt wird die Funktion der ins Zentrum gestellten »Einstellungen« und »Haltungen« für die Bildung und den Gebrauch von Begriffen nicht angesprochen. Zwar wird darauf verwiesen, dass der »Anteil an Assoziationen«, die »individuellen Erfahrungen« entstammen, »allen Begriffen (auch den wissenschaftlichen!) eine ganz persönliche Note, eine persönliche Erfahrung gibt« (Schaefer 2007a, 29). Wie aber ein »logischer« Begriffskern und die »ganz persönliche Note« zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen seien, wird nicht gesagt. Doch gerade die inkompatiblen »Assoziationen« verschiedener Kulturen könnten ein Licht auf kulturrelevante Deutungen des Begriffskerns werfen. Indem die
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Vereinfachend lässt sich die Begriffszurichtung am paradigmatisch verwendeten Lebensbegriff darstellen. Schon immer sei Leben durch einen universalen Begriffskern ausgezeichnet worden, der, im Blick auf individuelles Leben, die Vorstellung eines Anfangs und eines Endes einschließt. Während in frühen Konzeptionen disziplinär wenig spezifizierte Merkmale wie »Wachstum, Fortpflanzung und Bewegung« oder im 19. Jahrhundert biologisch definierte Merkmale wie »Stoffwechsel« den Kern des Lebensbegriffs gebildet hätten (Schaefer 2007a, 58), sei der Kern heute durch »Kriterien [wie] Ordnung/Chaos-Polarität, Selbststeuerung« und andere Begriffspaare komplexer zu formulieren (ebd., 60). Am universalen, mehr oder weniger komplex formulierten Kern würden sich kulturell verschiedene Lebensvorstellungen verhaken, wie sie sich in Mythen, Alltagstheorien, philosophischen Reflexionen oder ästhetischen Phantasien finden. Indem die Metapher den Lebensbegriff als Klette modelliert, ordnet sie einem statischen Begriffskern kulturelle Deutungen als gleichsam frei schwebende Momente zu. Da Leben kein einfacher, von nur einer wissenschaftlichen Disziplin zu fassender Begriff sei, sei er nur im Blick auf »transdisziplinäre Kriterien« (ebd., 58) im Rahmen von »Lebenswissenschaften« (ebd., 61) zu bestimmen. Dieser Weg führe zu »12 Lebensprinzipien«, die ein Muster von Gegensätzen bilden und als »Polaritätsprofil« von Dichotomien wie »Einheit/Gegensätzlichkeit«, »Veränderung/ Konstanz«, »Ordnung/Chaos« und anderen auszuformulieren seien (ebd., 62f). Das Muster dichotomer, den Naturwissenschaften des Lebens entnommener Begriffspaare bilde den universalen Begriffskern des Lebens, dem kulturspezifische Deutungen anhängen, wie sie in Mythen, Literatur, Kunst oder Religion auftreten, das Alltagsbewusstsein der Individuen durchziehen und von Kulturwissenschaften formuliert werden können. Dass kulturelle Deutungen der Schülerinnen und Schüler auf der Untersuchungsebene des Kulturvergleichs einerseits als Spiegelungen ihrer »Einstellungen« gelesen und andererseits dem Polaritätsprofil des Lebensbegriffs zugeordnet werden können, wird als Bewährungsprobe der Versöhnungsleistung des universalen Begriffskerns mit seiner subjektiven wie auch kulturellen Färbung verstanden.
Klettenmetapher begriffslogische, kulturelle und psychologische Aspekte im Bilde vereint, entzieht sie die Differenz der Begriffssysteme verschiedener Disziplinen und Kulturen dem Blick.
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Doch die Versöhnung in der Metapher verdankt sich nur dem Schein von Evidenz. Dichotomien wie »Einheit/Gegensätzlichkeit«, »Veränderung/Konstanz«, »Ordnung/Chaos« sind selbst Ausdruck eines okzidental eingeübten Denkens. Es dient dazu, Phänomene trotz ihrer Verschiedenheit zu ordnen. Dass sich auch die Einstellungen und Haltungen der japanischen und deutschen Schülerinnen und Schüler im Netz solcher Dichotomien ordnen lassen, verdankt sich weniger dem in Frage stehenden Sachverhalt als der interpretativen Flexibilität der Begriffsnutzung. Der flexible Gebrauch verdeckt, dass der »transdisziplinäre« Lebensbegriff auf dem Grunde naturwissenschaftlicher Biologie bestimmt wird (ebd.), und dass ihm kulturspezifische Lebensvorstellungen als subjektive Einstellungen nur assoziativ angehängt werden (ebd., 53). Weil das Polaritätsprofil begrifflich vage ist, kann ungesagt bleiben, wie Begriffskern und Vorstellungsassoziationen verbunden und die epistemologisch-didaktische Doppelfunktion der Klettenmetapher gewahrt werden. So scheint der Lebensbegriff sowohl universal als auch kulturell bestimmbar zu sein. Aber begrifflich definieren können wir Leben nur als Beobachter, nämlich als das Leben der Pflanze, des Tieres oder des anderen Menschen. Da sich meine Erinnerung erst im Leben bildet, kann ich mein Leben eben so wenig definieren, wie ich meinen Tod beobachten und als diesen meinen Tod denken kann. Das Leben im Polaritätsprofil zu definieren, setzt also den Beobachter voraus, der in beobachtende Distanz zum Beobachteten tritt, es als Objekt nimmt und Einstellungen, die sich ihm nicht fügen, oder Spuren vorprädikativer Bedeutungsbildung ausblendet oder zu einem freundlichen Dekor nivelliert, das das Leben als ein handelnd gelebtes und leidend erlebtes Leben verdeckt. Didaktisch bedeutet dies, dass ein Lehrender, orientiert an der Klettenmetapher und dem Polaritätsprofil als dem Kern des Lebensbegriffs, Lernenden ein Interaktionsprofil zumutet, in dem auch diese sich als Beobachter figurieren und die objektivierenden Deutungsregeln in ihr intrapsychisch kulturelles System übersetzen. 14 Darf man in dieser Ausrichtung die Erblast einer Didaktik des Wissens sehen, die, die Menschen nicht nur in institutionellen Bildungssystemen in Lehrende und Lernende scheidend, zu wissen vorgibt, was ihnen und der Welt gut tut? Prägt sie die pädagogische Praxis eines Lehrens und Lernens,
14 Zur semiotischen Interaktionsausrichtung durch »sign mediation«, wie sie mit der Klettenmetapher verbunden ist, vgl. auch Valsiner 2007, 31.
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in der Lehrende Lernende auf ihren Blick aufs Gewusste zu verpflichten suchen? Wirkt in ihr eine Bildungsidee nach, in der sich christliche Erlösungsmystik und wissenschaftliche Wissensprüfung zu okzidentaler Rationalität verbinden? Darf man in ihr auch den Grund für didaktischpragmatische Wissensformen erkennen, die Lehrende und Lernende auf die Ratio ökonomischer wie kultureller Märkte verpflichten?
III. L ERN -
UND
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Hier ist die Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen ausdrücklich zu machen. Unausgesprochen leitet sie uns schon bisher. In Lernprozessen entfalten und sichern Menschen Lebens- und Überlebensmöglichkeiten in den Grundfiguren je eingelebter Welt- und Selbstverhältnisse. Bildungsprozesse dagegen sind der Versuch, andere Welt- und Selbstverhältnisse zu entwerfen, wo eingelebte Grundfiguren angesichts neuer oder anders nicht zu bearbeitender Probleme versagen. Lernend fügen wir unserem je gegebenen Welt- und Selbstverhältnis objektiviertes Wissen ein, das als gewusstes unser Verhalten und unser Handeln prägt. So lernen wir vieles, was etwa unser Naturverhältnis reicher und komplexer macht, und bewahren durch eben dieses Lernen unsere Vorstellung von Natur als etwas, das, nicht von uns hervorgebracht, uns als Objekt entgegentritt. Lernen steigert mit der Menge des Gewussten die Effizienz unserer ihm verbundenen Verhaltensweisen und Handlungsmöglichkeiten. Doch ein Welt- und Selbstverhältnis, das auf solches Lernen reduziert wäre, fixierte unser Denken und Handeln und verpflichtete es auf Präsuppositionen, die ihm voraus liegen und es vorgängig einhegen. Es machte uns blind gegen Gefahren jenseits ihrer. Im Blick etwa auf Natur und Leben übersähen wir, dass sie, nur als Gewusstes aufgefasst, mit einem technomorphen Natur- und Lebensbegriff verbunden sind, dem zufolge das Leben der Menschen durch Beherrschung der Natur zu sichern sei. Eine Dialektik der Aufklärung, die die vom Wissen geworfenen Schatten verdeckt und im Gewussten den Wissenden vergisst, entzöge unserem Blick, dass die lernende Einschränkung aufs Gewusste über Formen der Ausbeutung in die Zerstörung der äußeren und über Formen der Selbstausbeutung in die Perversion der inneren Natur führen kann.
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Doch weil ein jedes lernend erworbene Wissen doppeltes Nicht-Wissen zeugt, 15 konfrontiert es uns mit unserer Unwissenheit im Blick auf das in jedem neuen Wissen auftretende Nicht-Wissen dessen, was wir vielleicht wissen sollten, um das neu erworbene Wissen zu verstehen. Indem es einhegende Präsuppositionen je in Kraft setzt, verweist es auf Ungesagtes und entzieht es zugleich dem Blick. Ein jedes Wissen, das zum Moment unseres Welt- und Selbstverhältnisses wird, setzt uns gleichsam wissend der Unwissenheit unserer selbst aus. So kann lernend erworbenes Wissen im neuen Nicht-Wissen Neugierde und Erkenntniszugänge ins Spiel bringen. Sie aber gehen verloren, wo wir im teaching and learning for the test abdunkelnden Präsuppositionen folgen, unsere Unwissenheit verkennen und erworbenes Wissen als Endprodukt still stellen. In diesem Sinn manifestiert sich im teaching and learning for the test eine Ordnung des Lehrens und Lernens, die aus dem historischen Feld objektivierten Wissens wuchert, dieses neu ordnet, Wissen und mit ihm uns als Wissende substanzialisiert und unsere Wurzelgeflechte vergessen macht. Solcher Welt- und Selbstverengung können Bildungsprozesse entgegenwirken. Sie gelten dem Versuch, andere Welt- und Selbstverhältnisse zu entwerfen, wo eingelebte Grundfiguren problematisch werden oder versagen. In Bildungsprozessen werden wir als Wissende getroffen, indem sie Gewusstes verflüssigen lassen und uns kritisch den vorprädikativ-präsuppositiven Aggregierungen unseres Wissens, Denkens und Handelns und damit unserer selbst aussetzen. Indem sie Nicht-Objektiviertes zur Geltung bringen, das, vom objektiviert Gewussten verschattet, unser Welt- und Selbstverhältnis durchzieht, können sie unser Welt- und Selbstverhältnis verändern. So kann Vertrautes unvertraut werden in abrupten Erfahrungen von Liebe, Begehren, Krankheit, Sorge, Angst, Glück oder auch, nüchterner, im Verlust des scheinbar Vertrauten wie Wohnung, Geld und all der Dinge, deren Gegebenheit sich alltagsstatistisch idealisierender Objektivation verdankt. Was lebenspraktisch verlässlich scheint, kann zur Frage und
15 Den Doppelcharakter des Wissens diskutiert auch Alfred Schäfer: Zwischen Präsentation und Repräsentation. Untiefen der Wissensvermittlung (in diesem Band). Er thematisiert den Lehrenden, der im idealtypischen Blick Lernender nicht nur das Wissen als ein Moment der Welt als gewusster, sondern durch sein Sein im Wissen, wie man traditionell formulieren kann, auch die Bedeutung des Wissens für Wissende repräsentiert.
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Antworten, abgeleitet aus vertrauten Grundfiguren, können schal werden. So können Denkgewohnheiten aufbrechen, in denen wir Begehren als Trieb, Gesundheit als Zustand des Körpers, Glück als Wohlstand und Sorge oder Angst als seinen Mangel gedeutet, Wohnungen als zuhandene Gebrauchsdinge genommen und Geld im Vertrauen auf den Markt als ungefährdeten Tauschwert fixiert hatten. Ein Unfall, der uns an die Fragilität der Sozialwelt, der Zusammenbruch von Banken, der uns an die Relativität des Tauschwertes, das Ende einer Freundschaft, das uns an unsere Einsamkeit, oder schwere Krankheit, die uns an unseren Tod erinnert, können uns begreifen lassen, dass Welt- und Selbstverhältnisse, auch andere, zu leben, ein unvermeidbares Wagnis ist. Verschlössen wir uns solchen Erfahrungen, gäben wir Quellen möglicher Welt- und Selbstverhältnisse jenseits eingespielter Konventionen preis. Deshalb sind Bildungsprozesse der notwendige, aber schwierige, endlich nicht planbare und nicht in testbezogenen Wissensformen und -vermittlungen herstellbare Versuch, durch Auflösung, Verflüssigung, Verschiebung, Verdichtung oder Umdeutung obsolet gewordener Grundfiguren unserer Welt- und Selbstverhältnisse auf Erfahrungen und Probleme zu antworten, die wir in lernender Verfestigung objektivierten Wissens verdecken. Sie bleiben notwendig auch und gerade dort, wo die ökonomische Funktionalisierung des Lehrens und Lernens noch im Modus ästhetisierender Sublimierung Phantasmen nährt, im Gewussten Welt zu beherrschen.
IV. T EACHING AND LEARNING FOR DER S UBJEKTIVITÄTSGENESE
THE TEST IM
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Die Unterscheidung konservativer Lern- und transformierender Bildungsprozesse hat epistemologische, individual- und gesellschaftstheoretische Konsequenzen. Sie zu reflektieren erfordert Theorien, die die wissenschaftsdisziplinären Grenzen prädikativer Objektivationen überschreiten. Doch stehen wir mit diesem Anspruch strukturell nicht vor eben dem Problem, vor dem wir die Autoren des Kulturen vergleichenden Forschungsprojektes sehen? Ist eine Bezugnahme auf kulturell Fremdes und eine kritische Auseinandersetzung mit trans- oder interkulturellen Ansprüchen möglich, ohne selbst kulturell gefangen zu sein? Da es eine Position oberhalb aller Kulturen nicht gibt, kann eine jede Bezugnahme nur ein Versuch sein, er-
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kennbare Verschattungen mit dem Risiko neuer Abschattungen aufzuhellen. Hier sind, gerade auch in bildungstheoretisch-didaktischem Interesse, Theorien kultureller Bezugnahme als Erkenntnis- und Verstehenshilfen zu prüfen, die, gleichsam als entfaltete Metaphern, Denkfiguren und Formen der Sagbarkeit für Ungesagtes anbieten, ohne es je zur Gänze zu repräsentieren. Okzidental manifest geworden ist die Grenze prädikativer Objektivationen als cartesianische Subjekt-Objekt-Unterscheidung. Historisch lange vorbereitet, erhebt diese die Selbstgewissheit des Ichbewusstseins zum Ankerpunkt der Zentralperspektive, von dem aus Welt methodisch kontrolliert in den Blick eines Verstandes zu nehmen und die Gesetze der Natur zu erkennen seien. Diese in der Kantschen Vernunftkritik kritisch ausgearbeitete Auffassung sieht sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von dem von Nietzsche angeführten Argument herausgefordert, die Wahrheit jener Erkenntnis sei nur eine vom Verstande gespiegelte »Wahrheit«, gebunden an die symbolischen Netze kulturell verschiedener Sprachen, nur ein »bewegliches Heer von Metaphern […]«: 16 Tatsächliche Wahrheit, diese Unmöglichkeit, wird verwiesen an einen Nicht-Ort als den konstitutiven, aber uneinholbaren Fluchtpunkt aller Bildungsbewegungen. Die linguistische Wende der Wahrheitsphilosophie zwingt, die Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen aufzunehmen. Denn die Begrenzung aufs Gewusste würde nur »Wahrheit« behaupten, selbstgewisses Ichbewusstsein gegen Zweifel immunisieren und, kulminierend im teaching and learning for the test, den Umbau unserer Welt- und Selbstverhältnisse blockieren. Blind gegen die Abgründe unserer Welt- und Selbstverhältnisse 17 würde es uns des grammatischen wie anthropologischen Po-
16 Das vollständige Zitat lautet: »Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen« (Nietzsche 1980b, 880f). 17 Für den realen Gehalt solcher Blindheit liefert die jüngste Krise des Finanzmarktes ein anschauliches Beispiel einer sich immunisierenden Selbst- und
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tentialis 18 berauben, Zugänge zu Anderem, Ungesagtem, Ungedachtem zu suchen, ehe es als Katastrophe über uns hereinbricht. Das Nachdenken über Bildungsprozesse wird schon lange vom Potentialis eines Jenseits des je Gegebenen geprägt. 19 In unterschiedlicher Weise gegenwärtig ist es im Denken von Michel Foucault und Jacques Lacan. Wenn Foucault in der Gouvernementalität eine Selbstdisziplinierung der Menschen heraufziehen sieht, die sie in fröhlicher Selbstvergessenheit im Wortsinn zu Subjekten, zu Unterworfenen selbstvollzogener Objektivationen macht, setzt er in der Kritik die Idee von Bildungsprozessen jenseits welt- und selbstvergessener Konventionalität voraus (vgl. Foucault 2006, 162f). Foucault begreift Subjektivität als werdendes und sich änderndes Moment in historisch-gesellschaftlicher Entwicklung. Lacan arbeitet in gewisser Weise komplementär zu Foucaults Interesse die Struktur der Genese sozialer Subjekte heraus. Er entwickelt Denkfiguren, die beanspruchen, Bildungsprozesse als Spannung von Gesagtem und Unsagbarem sagbar zu machen, indem sie psychologische, gesellschaftstheoretische sowie epistemologische Grenzen des Denkens unterlaufen. Was Nietzsche als »Wahrheit« deutet, analysiert Lacan als ontogenetisch konstitutive Welt- und
Weltvergessenheit, die an die Rationalität des Marktes glaubt und nicht wahrnimmt, dass eben dieser Glaube in die Katastrophe führt. Ein anderes Beispiel zeigt das Buch König der Könige von Ryszard Kapuscinki (1995), das in der literarischen Form einer »Parabel der Macht« am Beispiel des Untergangs des äthiopischen Kaiserreichs in den Jahren um 1975 die Welt- und Selbstvergessenheit von Machtsystemen zur Sprache bringt. 18 Hier liegt ein weithin unbearbeitetes Feld empirischer Forschung, in der die These der Abdunkelung des grammatischen und anthropologischen Potentialis zu prüfen ist: Gibt es Sprachformen und rhetorische Figuren, die in Interaktionsbeziehungen des teaching and learning for the test ausgezeichnet, gibt es andere, die begünstigt, geschwächt oder zurückgedrängt werden? Welcher Ort, welcher Charakter, welche Freiheit wird dem Möglichkeitsdenken zugestanden? (Zur Grundlegung der linguistisch-anthropologischen Dimension der Frage vgl. Ducrot 1972, 167ff.) 19 Von dieser Unterscheidung lebt bekanntlich der das abendländische Bildungsdenken durchziehende Platonismus, wie z. B. das platonische Höhlengleichnis eindrucksvoll zeigt.
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Selbstartikulation. Im berühmten Spiegelstadium entdeckt er, dass alles human soziale Leben auf der Täuschung des Infans beruhe, sich als von der Welt unterschiedenes Ich im Zugleich seines Spiegelbildes und des von der Mutter zugesprochen Ich-Ideals zu erkennen, das, von dem vom Vater ins Spiel gebrachten Gesetz transformiert, in das symbolische Netz der Kultur eingebunden wird, in dem die Artikulation des je Sagbaren sein Unsagbares als konstitutiven Mangel eines abwesend Anwesenden gegenwärtig hält. So wird das Selbstbewusstsein des cartesianischen Cogito und seiner neuzeitlichen Derivate als Resultat einer Täuschung begreifbar, die die Spaltung des Subjekts ins soziale, weil zugesprochene und in dieser Form ausgesagtgewusste Ich (Moi) und ins aussagend-wissende, prädikativ nicht einholbare ich (je) verdeckt (vgl. Lacan 1975a, 64). Die Verdeckung der Spaltung des okzidental sich souverän glaubenden Subjekts begreift Lacan als Skandalon, das das Subjekt dazu nötige, den Bruch der Wirklichkeit aufzunehmen und sich im konstitutiven Mangel zu bewähren. Der konstitutive Mangel ist eine Theoriefigur, die den anthropologischen Potentialis auslegt. Die Differenz von ausgesagtem Ich und aussagendem ich evoziere, was als Begehren Bildungsprozesse antreibe, die Spaltung zu schließen. Da aber die Spaltung konstitutiv, das Reale nicht einholbar, also der Mangel nicht aufhebbar und das vom Mangel gezeugte Begehren real unerfüllbar sei, schlage sich dieses gleichsam ersatzweise in imaginär-symbolischen Objekten nieder, die es, als Schein-Objekte, als »Objekt-Ursache[n]« des Begehrens (vgl. Cremonini 2003, 146ff), von Lacan so genannte Objekte »a«, entweder über Grenzen eines je Gewussten hinaus antreiben oder, um den Preis seiner phantasmatischen Substitution als »Wahrheit«, zu imaginärem Genießen verführen, das, die Dialektik des der symbolischen Ordnung innewohnenden Begehrens verkennend, gegen die Struktur der Sprache als prinzipiell unabschließbarer symbolischer Ordnung auf ein Jenseits der Differenz und letztlich auf den Tod dränge (vgl. Lacan 1975b, 198f). Die Klettenmetapher kann als ein Objekt »a« verstanden werden, das im Sinne der Lacanschen Theoriefigur deren Ambivalenz teilt. Als metaphorische Symbolisierung eines anders schwerlich Sagbaren verstanden kann sie ein Bildungsbegehren offen halten, also etwa fragen lassen, wie die Klettenmetapher den Lebensbegriff zu- und andere Deutungen abschneidet. Wo die Metapher dagegen als Feststellung eines Realen genommen wird, wirkt sie als ein phantasmatisches Objekt »a«, das im imaginären
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Genießen die Spaltung des Subjekts und mit ihm das Begehren untergehen lässt. Folgt man dieser Deutung, dann führt das Argument in bildungstheoretischer Absicht zu der Konsequenz, dass im Rahmen des teaching and learning for the test Wissen im Sinne eines Gewussten als phantasmatisches Objekt »a« genommen, von der Spaltung des Subjekts abgelenkt, mit der imaginären Beherrschung des Gewussten die Beherrschbarkeit von Welt phantasmatisch vorgespiegelt und der anthropologische Potentialis geschwächt wird, Welt- und Selbstverhältnisse auf das hin zu öffnen, was jenseits von »Wahrheits«-Festungen nottut. Es ist letztlich die phantasmatische Entlastung, die das teaching and learning for the test so mächtig macht. In der Vorstellung der Welt als gewusst beherrschbarer nivelliert sie das anthropologische Potential eines uneinholbar Anderen, das über das symbolische Netz des je Eigenen, der je eigenen Kultur hinausweist. Das teaching and learning for the test lässt das Lehren und Lernen als Weg erscheinen, das Gewusste zu konsistenter Einheit von Welt zu synthetisieren und im Blick auf sie unser Verhalten zu uns selbst zu ordnen. In ihm fallen Bildungsinstitutionen in die nachhegelsche Hybris eines objektiven Geistes zurück, der verkennt, dass er in der Maske marktwirtschaftlicher (oder anderer) 20 Notwendigkeit Welt zu »Welt« macht und die produktive Spaltung des Subjekts verdeckt. So verschließt das teaching and learning for the test eben jene möglichen Zukünfte, um deretwillen es uns zu stärken behauptet. Auch Foucault verhält sich kritisch zum cartesianischen Erbe. Während Lacans Analyse die Spiegelstruktur als universales Schema einer jeden Subjektwerdung freizulegen sucht, betont Foucault die Geschichtlichkeit der Subjektivitätsformationen und der geschichtlich herausgebildeten »Selbstpraktiken«. Foucault legt den »cartesianischen Moment« 21 als
20 Vielleicht wird irgendwann »umweltpolitische Notwendigkeit« oder eine andere Schein-Groß-Erzählung die Rolle der nicht mehr bestehenden »großen Erzählung« übernehmen. Mit dieser Vermutung wollen wir nicht gegen die Notwendigkeit argumentieren, das Leben ökologisch umzuorientieren. Gesagt werden soll nur, dass immer wieder sprachliche »Dummies« erfunden werden können, die die Verfügbarkeit des Ganzen als eines Gewussten suggerieren. 21 Foucault selbst nutzt Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass der Terminus nur programmatischer Verständigung dient, während der damit bezeichnete
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Bruch der abendländischen Geschichte des Verhältnisses von Subjekt und Wahrheit frei. Während vor diesem historischen Bruch dem Subjekt, um zur Wahrheit zu gelangen, abverlangt worden sei, sich in Sorge um sein Selbst in seinem Subjektsein zu wandeln, seien »wir in die Neuzeit eingetreten […], als wir sagen konnten, […] daß die Voraussetzung, unter der das Subjekt zur Wahrheit gelangen kann, die Erkenntnis und die Erkenntnis allein ist« (Foucault 2004, 35). Während Lacan im Spiegelbild des Moi die psycho-soziale Konstitution genau dieses historischen Subjekts betont, ohne die historisch-kulturelle Subjektgenese zu thematisieren, 22 untersucht Foucault die Wendung, die der cartesianische Bruch in die Konstruktion des Subjekts einträgt. In jenem Bruch werde »die Evidenz […] wie sie sich unmittelbar und zweifelsfrei dem Bewußtsein gibt [...] zum Ursprung und zum Ausgangspunkt des philosophischen Verfahrens (sc. der Wahrheitserkenntnis) gemacht« (Foucault 2004, 31). Indem nun das cartesianische Vorgehen »die Evidenz der Existenz des Subjekts dem Zugang zum Sein vorausstellte«, habe es aus der Selbsterkenntnis den »grundlegenden Zugang zur Wahrheit« (ebd.) gemacht. Wenn aber die Evidenz der Existenz des Subjekts dem neuzeitlichen Zugang zum Sein logisch vorausgesetzt ist, dann ist mit ihr zugleich die Grundfigur jenes Lernens bestimmt, durch das wir unserem je gegebenen Welt- und Selbstverhältnis objektiviertes Wissen einfügen. Die Prämisse der Existenzevidenz scheidet den Zugang des Subjekts zu Wahrheit von seinem Sein, so dass es zwar zur Umorganisation seines Wissens herausgefordert, in seiner Grundfigur aber nicht getroffen wird. Foucault betont, dass der cartesianische Moment nicht ein fixer Zeitpunkt und nicht an das Datum des Vollzugs des methodischen Zweifels durch Descartes gebunden ist. Einerseits habe der Moment eine lange Vorgeschichte und andererseits sei das Denken der europäischen Neuzeit durchzogen von der Hypothek, die die vorcartesianische Geschichte hinterlassen habe. Foucault scheint den Moment eher im Sinne des englischen
Bruch sich lange in der Geschichte des Verhältnisses von Subjekt und Wahrheit vorbereitet habe (vgl. Foucault 2004, 35ff). 22 Lacan thematisiert die ontologische Dimension des Spiegelstadiums, die »ursprüngliche […] Form« des ich (je), das in der Form seiner sozialen Manifestation, des Ich (Moi) der »gesellschaftlichen Determinierung« verbunden sei (Lacan 1975, 64).
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momentum zu denken, nämlich als einen Kraftimpuls, der sich dem Zusammenwirken sehr verschiedener historischer Kräfte verdankt und seither die geschichtlichen Prozesse fortschreitender Subjektivitätsformationen prägt. Das Formierungsmoment sieht er zunächst in der Macht sich etablierender Diskurse und später in komplexen Dispositiven, »heterogene[n] Ensemble[s]« 23 qualitativ sehr verschiedener, aber zusammenwirkender Gegebenheiten. Hegel, Nietzsche, den Husserl der Krisis oder Heidegger deutet er als Denker, deren Philosophien die Verschüttungen des cartesianischen Subjektivitätsdiskurses aufzubrechen suchen und sich dadurch auszeichnen, »daß durch eine gewisse geistige Struktur versucht wird, die Erkenntnis, den Akt des Erkennens, die Bedingungen und Auswirkungen dieses Aktes an eine Veränderung im Sein des Subjekts zu koppeln« (Foucault 2004, 49). In diese Reihe stellt er auch Lacan, der »wohl seit Freud der einzige gewesen ist, der die Frage der Beziehungen zwischen Subjekt und Wahrheit wieder ins Zentrum der psychoanalytischen Problematik stellen wollte« (Foucault 2004, 51), 24 also in der kritischen Aufnahme des cartesianischen Erkenntnisproblems die Bedingungen des Zugangs zur Wahrheit mit den Bedingungen der Bildung des Subjekts zu verbinden gesucht habe. Wenn möglich ist, was wir hier als Perspektive skizzieren, nämlich die psychoanalytisch-ontologisch ausgerichteten Analysen, Reflexionen und Deutungen Lacans mit den ebenfalls historisch-kulturellen Analysen, Reflexionen und Deutungen Foucaults zu verbinden, dann werden sich auch neue Einsichten in das Verhältnis von Lern- und Bildungsprozessen und in die aktuelle Landschaft ihrer ökonomischen Formierung ergeben. Insbesondere könnte sich die vermeintlich natürliche Verfasstheit des Wissens
23 Foucault bestimmt das Dispositiv im Gespräch einmal »als heterogene Einheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann« (Foucault 1994, 392; zit.n. Ruoff 2007, 101). 24 Lacan besteht auf dem – von Descartes nicht gesehenen – Unterschied von aussagendem (je) und ausgesagtem (moi) Subjekt: »Tatsächlich ist das aussagende ich, das ich des Aussagens nicht dasselbe wie das ich der Aussage, das heißt wie der shifter, der es, in der Aussage, bezeichnet.« (Lacan 1996, 145)
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als dechiffrierbares Produkt eines soziohistorischen Kontextes erweisen. Es könnte sich die Ökonomisierung der Bildungssysteme selbst als ein kulturspezifisch initiiertes, aber global wirksames Dispositiv zeigen, das, anders als der Name »Bildung« glauben lassen will, auf Lernen ausrichtet und Bildung nur noch als sein Ungesagtes mitführt. So gesehen wäre das teaching and learning for the test selbst Moment dieses Dispositivs, das das Lernen zu einem Gewussten führt, die Subjektivitätsgenese vom Gelernten zu trennen sucht, Einsichten in die Trennung systematisch verdeckt und im Schein des Wissens den kolonialen Drang des Vergessens antreibt. Die Klettenmetapher zeigt beispielhaft die suggestive Kraft der europäisch neuzeitlichen Wissensgeschichte. Sie scheint dem Dispositiv objektivierten Wissens auch in außereuropäischen Kulturen wie der Japans natürliche Geltung zu schaffen. Aus welcher Quelle also könnte sich die Auflösung eines fest gefügten Dispositivs speisen, wenn dieses auch die Subjekte selbst als das von Foucault beschworene Ensemble von Diskursen, administrativen Regelungen, Institutionen, Moralvorstellungen und eingespielten Praktiken formiert? Doch Foucault hat die Subjekte nicht ausschließlich als eine Funktion von Dispositiven gesehen. Er hat nur die geschichtlichkulturelle Entwicklung von Subjektivitätsformationen gegen die transzendentale Überhöhung des Subjekts betont. In Dispositiven sieht er Vernetzungspotentiale, aber keine Objekte. Zwar gibt es kein Subjekt, das, konstitutionell in sie verstrickt, sie ohne Rest objektivieren und sich von ihnen lossagen könnte. Dass aber jede Verstrickung von soziohistorischen Potentialen einer Subjektivitätsgenese durchsetzt ist, kraft derer Subjekte auf Dispositive antworten, Potentiale also real werden können, ist ein starkes momentum der Psychoanalyse Lacans, dem Foucault zustimmen dürfte. Eine mögliche Antwort lässt sich am Projekt des japanisch-deutschen Wissens- und Einstellungsvergleichs andeuten. Das dort genutzte Polaritätsprofil des Lebensbegriffs zehrt vom Phantasma klarer und distinkter Wahrheitsvorstellung. Doch welche Übersetzungsprobleme sich im Versuch stellen, in standardisierten Tests Begriffe und deren kulturellen Gebrauch vergleichend zu untersuchen, wird erkennbar, wenn man, statt okzidentaler Vorstellungen, etwa konfuzianische Traditionen aufzunehmen sucht, die, statt der Ordnungsleistung binär modulierter Definitionen, »die schrittweise Entfaltung zu einem harmonisch geordneten Kosmos« (Huang 2009, 133) betonen und als fremdes Element ansprechen könnten, was in eingelebten Welt- und Selbstverhältnissen verschattet ist. In jenem Kosmos
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wird der menschliche Körper als »ein Organismus inmitten eines ihn umgreifenden kosmischen Organismus« gedacht, »der ebenso ein natürlich lebendiges So-Sein […] wie ein ethisch soziales So-Sein-Sollen […] ist«. Die okzidentale Unterscheidung von beobachtendem Subjekt und beobachtetem Objekt ist auf ein solches Denken schwerlich anwendbar (vgl. ebd., 137). 25 Der koloniale Erfolg westlichen Denkens lässt uns wenig sensibel gegenüber der fünftausendjährigen Erfolgsgeschichte jener Welt- und Selbstverhältnisse sein. Vielleicht werden uns weltpolitische Verschiebungen im Zuge der Globalisierung dazu nötigen, den radikalen Anspruch anderer Welt- und Selbstverhältnisse, anderer Dispositive und ihrer Potentiale aufzunehmen.
L ITERATUR Bäumler, A. (1967): Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Darmstadt. Berg, G./Langlet, J./Schaefer, G. (2007): Einstellungen und Haltungen. Die dritte Komponente der naturwissenschaftlichen Bildung. In: Sandhoff, K./Donner, W. u.a. (Hg.): Vom Urknall zum Bewusstsein – Selbstorganisation der Materie. Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 124. Versammlung. 16.-19. September 2006 in Bremen. Stuttgart, 271-292. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBFa): Der BolognaProzess, http://www.bmbf.de/de/3336.php# inhalte. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBFb): Förderrichtlinien zur Nachwuchsförderung, http://www.bmbf.de/de/14166.php.
25 Hier ist dem Missverständnis vorzubeugen, es gehe um esoterisches Wohlbefinden. Ein Hintergrund unserer Überlegungen ist vielmehr, dass jener koloniale Zug heute keineswegs beendet ist. Während asiatische Gesellschaften sich umfangreich und detailliert mit westlichen Philosophien und Theorien auseinandersetzen, gilt Analoges nicht von westlichen Gesellschaften im Blick auf asiatische Potentiale, wie sich schon auf der Ebene der Publikationen erkennen lässt. Die meisten westlichen Philosophien und Theorien liegen in chinesischer und japanischer Übersetzung vor. Übersetzungen aus dem Chinesischen oder Japanischen in westliche Sprachen sind dagegen weitaus weniger zahlreich.
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Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBFc): Studiensituation und studentische Orientierungen. Zehnte Erhebung zur Studiensituation an Universitäten und Fachhochschulen (WS 2006/07). Arbeitsgruppe Hochschulforschung an der Universität Konstanz im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Projektleitung von Prof. Dr. Werner Georg, Tino Bargel, http://www.bmbf.de/publikationen/ index.php?ABC=S&pag=4#pub. Cremonini, A. (2003): Die Durchquerung des Cogito. Lacan contra Sartre. München. Ducrot, O. (1972): Dire et ne pas dire. Paris. Foucault, M. (1994): Das Spiel des Michel Foucault’. In: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. III. Paris. Foucault, M. (2004): Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt am Main. Foucault, M. (2006): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt am Main. Huang, Ch.-Ch. (2009): Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung. Bielefeld. Humboldt, W. v. (1963): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Ders.: Werke, Bd. III, Schriften zur Sprachphilosophie, hrsg. v. Flitner, A./Giel, K.. Darmstadt, 368-756. Kapuscinki, R. (1995): König der Könige. Frankfurt am Main. Kluge, F. (2002): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin/New York. Kokemohr, R. (2007): Kurzkommentar zur Diskussionsveranstaltung. In: Sandhoff, K./Donner, W. u.a. (Hg.): Vom Urknall zum Bewusstsein – Selbstorganisation der Materie. Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 124. Versammlung. 16.-19. September 2006 in Bremen. Stuttgart, 271-292. Lacan, J. (1975a): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Ders.: Schriften I. Frankfurt am Main. Lacan, J. (1975b): Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Ders.: Schriften II. Olten, 165-204. Lacan, J. (1996): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI.Weinheim/Berlin.
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Stimmen
Gehen sie zu weit! Generation und Geschlecht in der Bologna-Anrufung U LRIKE B ERGERMANN
I. A NGERUFEN . N EUE G ESETZE Ist »Bologna« ein aktueller Name des Polizisten, der nach Althusser »He, Sie da!« ruft und damit ein Subjekt produziert, das sich im Hören auf, in der Umwendung nach diesem Ruf als eines innerhalb des Gesetzes konstituiert? »Die Umwendung ist ein Akt, der gleichsam durch die ›Stimme‹ des Gesetzes und die Empfänglichkeit des vom Gesetz Angerufenen bedient ist« fasste Judith Butler zusammen (2001, 101; vgl. auch Althusser 1977, bes. 108-153), 1 – das könnte man umlesen. Heute fühlen sich die Lehrenden angerufen. Im Wenden auf die neuen Bestimmungen affirmieren sie sich als akademische Subjekte, sie akzeptieren das Gesetz, das ihre Wendeposition zu allererst ermöglicht. Althusser schreibt: »diese praktischen Telekommunikationen der Anrufung [verfehlen] praktisch niemals ihren Mann« (Althusser 1977). 2 Der nicht verfehlte Mann ist in diesem Zusam-
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Althusser thematisiert das eigene Schreiben, das auch eine Anrufung an den Leser praktiziert und diesem Autoritarismus nicht entkommen kann (vgl. ebd., 193; siehe auch Mladen Dolar in Zizek 1991).
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»Angenommen, die vorgestellte Szene spiele sich auf der Straße ab und das angerufene Individuum wendet sich um. Es wird durch diese einfache Wendung um 180 Grad zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkannt hat, daß der Anruf ›sehr wohl‹ ihm galt und ›niemand anders als es angerufen wurde‹. Wie durch
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menhang mit statistischer Wahrscheinlichkeit gelegentlich eine Frau, 3 aber das soll hier weniger interessieren als das Gesetz, das den Polizisten autorisiert hat und das die längste Zeit als staatlich-patriarchales gehört worden ist. »Gehört worden ist« könnte hier die falsche Formulierung sein. Hat es zuerst das Gesetz, dann die mahnende Exekutive, dann das reagierende Subjekt gegeben? »In Wirklichkeit«, so Althusser, »spielt sich dies alles nicht in einer zeitlichen Aufeinanderfolge ab. Die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte ist ein und dasselbe. [...] Das, was dem Anschein nach außerhalb der Ideologie sich abspielt (genau gesagt auf der Straße), spielt sich in Wirklichkeit in der Ideologie ab.« 4 Das Versprechen, hier »die Wirklichkeit« zu erhellen und »dem Anschein« zu entkommen, insofern man sich der Ideologie und den ideologischen Staatsapparaten zuwendet, löst uns aber nicht aus dem zeitlichen Paradox, denn die Ideologie ist nicht überzeitlich, und wir sind als akademische Subjekte nicht außerhalb der skizzierten Räume. Entweder wir waren schon da, als Bologna kam, oder wir kamen danach. Der Ruf dieses Gesetzes und seiner ausführenden »policeylichen« Organe (von Akkreditierungsanstalten bis zur Selbstevaluation) ergeht an beide, aber klingt verschieden. Butler interessiert diese paradoxe Zeitlichkeit in der Anrufung. Die Umwendung ist eine »vorwegnehmende Bewegung in Richtung Identität«, schreibt sie, und die Theorie der Interpellation entwirft »eine gesellschaftli-
Erfahrungen belegt, verfehlen diese praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann...« (Ebd.) 3
Das Statistische Bundesamt meldete für 2007: »Während bei den Lehrkräften für besondere Aufgaben fast genauso viele Frauen wie Männer beschäftigt sind, ist nur etwas mehr als jede zehnte Professur mit einer Frau besetzt.« (CEWS 2009a) Insgesamt lag die Frauenquote an Professuren 2007 bei 16,2%, an W3/C4-Professuren 2006 bei 11.0% (diese Zahl lag für 2007 noch nicht vor) (CEWS 2009b).
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Dass die Ideologie »also die Individuen als Subjekte« anruft, zeigt, dass das nicht identisch ist, ein Individuum und ein angerufenes Subjekt – und hier sitzt der Ansatzpunkt für ein Denken der Veränderung; gleichzeitig ist laut Althusser aber wiederum jedes Individuum schon immer, toujours-déjà, und vor seiner Geburt Subjekt.
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che Szene, in der ein Subjekt angerufen wird, sich umwendet und dann die Begriffe akzeptiert, mit denen es angerufen wurde.« (Butler 2001, 101) Was war nun zuerst, oder warum wäre diese Frage falsch gestellt? »Wie können wir uns diese ›Wendung‹ als der Subjektbildung vorausgehend denken, als ursprüngliche Komplizenschaft mit dem Gesetz, ohne die kein Subjekt entsteht?« (Ebd.) Diese Frage ist zentral für die Möglichkeit von Kritik, einer Differenz zwischen der Position eines kritikfähigen, aussagemächtigen Teiles des Systems und einer nicht vollständig identifizierten Position. Erstens kommt hier das Begehren ins Spiel, das diese doppelte Situierung bedingt: »Die Möglichkeit einer kritischen Sicht auf das Gesetz wird somit beschränkt durch das, was man als ursprüngliches Verlangen nach dem Gesetz bezeichnen kann, als leidenschaftliche Komplizenschaft mit ihm, ohne welche kein Subjekt existieren kann« (ebd., 102f). 5 Dass ein akademischer Beruf gerade durch sein Versprechen von geistiger Individualität ein hohes libidinöses Identifikationspotential umfasst, ist nicht zu leugnen. Nun kann zweitens das Ich nicht nur dann kritisieren, wenn es versteht, dass es selbst »von seinem komplizenhaften Begehren des Gesetzes abhängt« (ebd., 103), sondern an dieser Stelle wird diese Komplizenhaftigkeit auch richtig kompliziert. Die Komplizenschaft mit dem Gesetz (z.B. dem der neuen Universität) bedingt und begrenzt zugleich die Kritik am Gesetz. Die Existenz des sprechenden Subjekts hängt von der Verhaftung mit dem Gesetz ab. Daraus folgert Butler: »Man kann in der Kritik jener Begriffe, die einem die eigene Existenz sichern, nicht zu weit zu gehen.« (Butler 2001, 121) Man kann gar nicht zu weit gehen. Man kann die Kritik nicht weit genug treiben, denn es gibt so viel zu kritisieren? Oder: Es ist sowieso nicht möglich, zu weit zu gehen, denn dann würde man ja verstummen, wenn der Status des sprechenden Subjekts durch die Kritik entzogen wird? Im Originaltext heißt es in gleicher Doppeldeutigkeit: »[O]ne cannot criticize too far the terms by which one’s existence is secured.« (Butler 1997, 129) Die Beruhigung (weitgehende Kritik ist nie falsch; die Identität des Kritikers ist gesichert) ist eins mit dem durchaus gegenläufigen Aufruf, man möge nicht
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Das ist nicht ohne Kritik an der quasi-religiösen Autorität, die im Akt der Namensgebung vorausgesetzt wird, die aber durch die »Berufung« zum Professor/zur Professorin, bei aller Unberechenbarkeit, immerhin keine metaphysische ist und hier nicht weiter berücksichtigt wird.
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aufhören im Immer-weiter-Gehen der Kritik. Da wir KritikerInnen uns gar nicht selbst abschaffen können, können wir unaufhörlich in diese Richtung gehen, die uns abschaffen würde. Der Polizist ruft weiter, wir drehen uns um und ziehen ihm fortwährend die Uniform aus. Nicht nur das Subjekt wird erst durch die Anrufung, sondern auch das Gesetz wird erst durch die immer weitergehende Gesetzeskritik. Dass die Exekutive in nicht unproblematischem Verhältnis zur Legislative steht, kommt der universitären Praxis hier sicher zur Hilfe.
II. V ERRECHNET . Q UANTIFIZIERTE L EHRE In Harks Dissidenter Partizipation lässt sich die leidenschaftliche Verstrickung ins Gesetz nachfühlen; bei Schuller erzeugte diese früher auch ein unbotmäßiges Lachen, deplatzierte körperliche Erschütterungen, ein Sichdaneben-Benehmen (vgl. Schuller 1990a; 1990b; 1990c). Das Lachen scheint vergangen. Selbst schuld, wenn man die Anrufung weitergibt: Warum nicht Module füllen mit Close Reading, Credit Points erfinden für Gründlichkeit und Einfühlungsvermögen in 4 SWS! Genau darum geht es ja, sagen hier die VertreterInnen des alten Humboldt-Ideals: Die Unmessbarkeit, die Unanrechenbarkeit von Wissensprozessen, gerade das, was den Statistikern entgeht, ist es, was die Bildung ausmacht, es ist notwendig das Andere der Quantifizierbarkeit: Qualität hat jeweils eigene Maßstäbe, unvorhersehbar. Credit Points für Othering? Kann eine solche Camouflage funktionieren, könnte sie mehr als nur ein Semester nachhaltig werden, würde nicht bald eine Institutionalisierung wieder zuschlagen, die daher grundsätzlich abzulehnen wäre? Im Harper’s Magazine schreibt Mark Slouka im August 2009, dass keine Camouflage funktioniere, die sich schon auf die Sprache der Wissensvermessung eingelassen hat. »Many years ago, my fiancée attempted to lend me a bit of respectability by introducing me to my would-be mother-in-law as a future Ph.D. in literature. From Columbia, I added, polishing the apple of my prospects. She wasn’t buying it. ›A doctor of philosophy‹, she said. ›What’re you going to do, open a philosophy store?‹ I married the girl anyway.« (Ebd., 32)
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Der Autor, zwischen zwei Frauen in seinem Wert begutachtet, rettet sich in eine vermeintliche Souveränität zurück nur mit dem letzten Satz – und natürlich vor dem Hintergrund eines vorausgesetzten Einverständnisses mit dem Leser/der Leserin des Harper’s Magazine, dass Literatur versus Geldverdienen die zwar herrschende, aber kritikwürdige Perspektive sei. Dass auch Wissenschaft und Kultur zunehmend in kapitalistischen bits and pieces verhandelt werden, verleitet dazu, den Ökonomisten vorzurechnen, dass sich ihr auszubildendes Humankapital durchaus mit etwas mehr Freiheit und etwas mehr Geisteswissenschaften am besten amortisiert, schließlich brauche die Wirtschaft gerade unspezifische Intelligenz etc. Aber Slouka hat auch beobachtet, dass sich diese Gespräche in einer bestimmten Sprache abspulen. Mit einem solchen Gespräch, schreibt er, tritt man sozusagen in den Club ein, in einen Country Club, in dem wir alle Mitglieder sind, die gleiche Sprache sprechen, denn wir verstehen, dass Wirtschaftlichkeit und die Amortisierung des Humankapitals die relevanten Größen sind (vgl. Slouka 2009, 35). 6 Clubs waren lange und sind teilweise bis heute Orte mit Frauenausschluss, Country Clubs bevölkert von modernisierten Westernhelden. In ihrer Sprache die Notwendigkeit für eine Lehre zu formulieren, bedeutet, so Richard Münch, in einen »akademischen Kapitalismus« einzusteigen. Qualitätskriterien könnten nicht für eine Vielfalt unterschiedlicher (Wissens-)Kulturen gleichermaßen gelten; Vergleichbarkeit, z. B. von Studiengängen, setze mit einem Hang zum Universellen als Evaluationsmaßstab auch bei Akkreditierungen eine spezielle (»kulturfreie«) Art von Kriterien voraus und produziere sie zugleich (vgl. Münch 2009, 81 et passim). Lokale Kulturen der Bildung müssen sich nun Instanzen unterziehen, deren Legitimation gerade nicht für das gilt, was an den lokalen Bildungskulturen spezifisch ist. »Es bildet sich eine Art akademischer Kapitalismus heraus«, so Münch, »in dem Universitäten zu Unternehmen werden, die sich darauf spezialisieren, ihren Namen als symbolisches Kapital zu vermarkten. Dadurch rückt die zirkuläre Akkumulation von monetärem und symbolischem Kapital ins Zentrum des Geschehens.« (Münch 2009, 93) Die Entlassung aus der ministerialen Kontrolle in die »Hochschulautonomie« wird bezahlt
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Aufschlussreich im Bezug auf kapitalismuskritische Ansätze, die die Universitäten als Wissensfabriken mit operaistischen und deleuzianischen Parametern, als Produzenten eines »Kognitiven Kapitalismus« sehen, erscheint Knowledge production and its discontents (eicpc 2009).
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durch die Unterwerfung unter Agenturen, die nicht-staatlich und nicht demokratisch legitimiert sind und deren juristische Haltlosigkeit zwischen privatwirtschaftlicher Organisation und hoheitsrechtlichen Aufgaben Joachim Lege detailliert herausgearbeitet hat (2009). Dass das alte LehrerSchüler-Verhältnis durch das von Anbieter und Kunden ersetzt wird (vgl. Münch 2009, 78), ist dann nur folgerichtig; LOM (»Leistungsorientierte Mittelverteilung«) rechnet auf beiden Seiten mit Humankapital. Auch wenn diese Anschlüsse von Sprache, Geld und juristischen Einheiten aus unterschiedlichen Ökonomien stammen, kann man doch addieren: Die Anrufung geschieht in der Sprache des Geldes oder immerhin in der Logik der Verrechenbarkeit, und wir haben sie immer schon verstanden.
III. G ETRENNT . W ISSENSCHAFTSGESCHICHTE Max Weber hat die Bereitschaft, in der Spezialisierung Leidenschaft zu empfinden, als Voraussetzung für die Arbeit in der Akademie betrachtet. Gleichzeitig gehe die Ausdifferenzierung in Einzelwissenschaften und die Spezialisierung auch innerhalb dieser einher mit einer Entzauberung der Welt – das müsse man ertragen wie ein Mann (vgl. Weber 2002, 44). »Wer dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück.« (Ebd.) Was für das neue Fach Soziologie 1917 noch nach persönlichem Purgatorium aussah, wird dreißig Jahre später anders besetzt. Für Weber kündigen sich hier von Anfang an Begrenzungen an: »Alle Arbeiten, welche auf Nachbargebiete übergreifen, wie wir sie [...] notwendig immer wieder machen müssen, sind mit dem resignierten Bewußtsein belastet: daß man allenfalls dem Fachmann nützliche Fragestellungen liefert, auf die dieser von seinen Fachgesichtspunkten aus nicht so leicht verfällt, daß aber die eigene Arbeit unvermeidlich höchst unvollkommen bleiben muß.« (Weber 2002, 11f) 7 Die Unmöglichkeit, ein Fachmann zu werden, schmerzt. Einfälle bereiteten sich »nur auf dem Boden ganz harter Arbeit« (ebd., 13) vor oder beim Dilettanten; eigentlich benötigt fruchtbare wissenschaftliche Arbeit beides: Weder Arbeit noch Leiden-
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Die Auslassung bezieht sich auf die Soziologie.
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schaft können allein den Einfall erzwingen, aber beide locken ihn (vgl. ebd.). Einfälle kommen unerwartet, nicht beim Grübeln, aber ohne Grübeln wären sie auch beim Spaziergang nicht gekommen. Hasard ist jedenfalls dabei und muss in Kauf genommen werden (vgl. ebd., 14). Der Forscher muss »rein der Sache dienen« (ebd., 15) und zum Unerwarteten hin offen sein. In seiner Persönlichkeitsstruktur muss er sein wie ein Künstler (vgl. ebd.); womit durch die Hintertür doch wieder etwas Zauber in die Wissensproduktion eingeführt wäre: Die notwendige Unberechenbarkeit des Neuen, der Verzicht auf den Status des Fachmanns, wird durch den tendenziell genialischen Mann beantwortet, dessen Einfälle seinen Dilettantenstatus ebenso erfordern wie zugleich ausstreichen. Man kann mit Barbara Hahn (2009) vermuten, dass ein Teil der Frauenforschung bzw. feministischen Forschung der späten 1970er und der 1980er Jahre auch deswegen Fuß in der Universität fassen konnte, weil Anspruch und Verheißung eines Teils der entsprechenden Programmatiken beinhaltete, die realen gesellschaftlichen Widersprüche in die Akademie hineinzutragen, das Private zu theoretisieren und auf der Straße und zu Hause wieder nutzbar zu machen, die Differenzierung in Disziplinen nicht etwa »zu ertragen wie ein Mann«, sondern, so die Ideologie, Interdisziplinarität walten zu lassen »wie eine Frau«. Gender Studies, wo es sie institutionalisiert gibt, arbeiten entsprechend disziplinenübergreifend, wenn auch in der Regel sozialwissenschaftlich dominiert (vgl. Bergermann 2008). Modularisierte Lehre treibt die Zerteilungen auf die Spitze – weniger, weil Teile eines Moduls (wie Seminare und Übungen) oft schlecht aufeinander abgestimmt sind, als vielmehr, weil es die Stundenpläne sind und nicht die Themen, die Studierende zum Seminarbesuch bewegen. Ich habe lange über die Wahl dieses letzten Verbs nachgedacht. Motivieren? Nötigen? Ist »bewegen« zu aktiv für die Befolgung eines Kalenders? Was wäre angemessen neutral, und warum fällt mir das nicht ein? Die Fiktion des »eigenen« Interesses, das praktisch noch nicht da gewesen sein kann, bevor mich ein Seminar für etwas interessiert, die Verheißung, es gebe etwas Interessantes zu lernen, bevor man es wissen kann, habe ich in einer Weise verinnerlicht, die eine besondere Form von Selbsttechnologie sein muss. Nach einer bestimmten (unbestimmten, aber begrenzten) Anzahl von Jahren wird es vorbei sein mit dem Nicht-Wissen – im Rückblick wird man mit größter Wahrscheinlichkeit einen Sinn im Studium gesehen haben, sonst wäre die eigene Frageposition ja vollständig unterhöhlt, unmöglich,
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inkompetent für die Frage selbst. Vor zehn Jahren war die Situation noch insofern entspannter, als dass Fehlschläge zeitlich möglich waren. Module werden durchlaufen wie Brechts Radwechsel: »Ich bin nicht gerne, wo ich herkomme, ich bin nicht gerne, wo ich hingehe, warum sehe ich den Radwechsel mit Ungeduld?« 8 Was hat nun Ungeduld mit Geschlecht zu tun? Brecht gibt zwei Antworten. Die eine: »Das Kind kommt gelaufen. Mutter, binde mir die Schürze! Die Schürze wird gebunden.« 9 Die zweite: »Und lass uns die Gespräche rascher treiben, denn wir vergaßen ganz, dass du vergehst – und es verschlug Begierde mir die Stimme.« 10 Wie kontingent die Auswahl auch sei: Eine kurzerhand verbindende steht einer kurzerhand begehrenden Figur gegenüber, und es wäre durchzuspielen, ob das gendering durch das Personal auch dort plausibel bleibt, wo es auf das Wissen ankommt und nicht auf einen »Glücklichen Vorgang« oder »verlängertes Begehren«. Der Student kommt gelaufen: Binde mir die Module! Die Module werden gebunden. Der Student sagt: Lass uns noch einen Unterricht haben, denn gleich ist das Studium schon wieder vorbei. Jeweils ist das Gegenüber durch Brecht weiblich adressiert, was das weitere Gedankenspiel erlaubt, was wäre, wenn Max mehr auf Marianne gehört hätte oder wenn Brecht schwul gewesen wäre. Die Frau als eherne Schleifenbinderin oder als namenloses Spiegelbild der Gelüste eines anderen: Die Übertragung funktioniert im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer noch als Wiederauflage der Ehre,
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Der Radwechsel: Ich sitze am Straßenrand / Der Fahrer wechselt das Rad. / Ich bin nicht gern, wo ich herkomme / Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. / Warum sehe ich den Radwechsel / Mit Ungeduld? (Brecht 1967, 1009).
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Glücklicher Vorgang: Das Kind kommt gelaufen / Mutter, binde mir die Schürze! / Die Schürze wird gebunden. (Brecht 1967, 1004)
10 Entdeckung an einer jungen Frau: Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau / Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn. / Da sah ich: eine Strähn in ihrem Haar war grau / Ich konnt mich nicht entschließen mehr zu gehen. / Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte / Warum ich, Nachtgast, nach Verlauf der Nacht / Nicht gehen wolle, denn so war’s gedacht / Sah ich sie unumwunden an und sagte: / Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben / Doch nütze deine Zeit, das ist das Schlimme / Daß du so zwischen Tür und Angel stehst. / Und laß uns die Gespräche rascher treiben / Denn wir vergaßen ganz, daß du vergehst. / Und es verschlug Begierde mir die Stimme. (Brecht 1967, 160f)
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endlich Lehrerin werden zu dürfen, aus der Frauenbildung im 19. Jahrhundert. Wir dürfen Sekretärin des eigenen modularisierten Stundenplans sein, Stenotypistin der Akkreditierungsvorgabenerfüllung und heimliche Geliebte des eigenen Restkörpers. Das können sich immerhin diejenigen Frauen leisten, die es zur Dozentin im BA geschafft haben, obwohl mit 11-16% noch nicht einmal eine mindestdemokratische Quote durchgesetzt werden konnte.
IV. M ODULARISIERT . D ER L EHRMEISTER
UN / WISSENDE
Noch etwas ist bedenkenswert für die neue Lehre: In einem Magisterstudiengang wurde man bis zum Abschluss herzlich wenig überprüft. Das aktuelle Klagen, dass der Wissens-, wenn nicht gar Bildungsstand der BAStudierenden so überaus niedrig sei, ist vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass wir, die wir nun überprüfen, selbst nicht halb so viel geprüft worden sind und unter Umständen ebensolche Lücken zu Protokoll gegeben hätten. 11 Die Hamburger Veranstaltungsreihe der »Geheimagentur« mit dem Titel Die Abendschule der Verschwendung machte sich dagegen die Logik der Verschwendung des Wissens zu eigen (und eben nicht der künstlichen Verknappung von Wissen, welche die kapitalistische Dynamik verlangt, sobald Wissen zur Ressource geworden ist). 12 Sibylle Peters hat dazu
11 Die Zeitschrift Forschung und Lehre, herausgegeben vom Deutschen Hochschulverband, gab im September 2009 ein DIN-A-5-Supplement heraus mit einem Text von Andreas Dörpinghaus: Bildung. Plädoyer wider die Verdummung, in dem der Erziehungswissenschaftler Bildung als Sorge um sich, Suche nach Erkenntnis und Verständigkeit und vor allem als Wartenkönnen und Verzögerung skizziert. Nicht nur Bildung ist Wartenkönnen, sondern auch das ganze Studium als Nichtnurabgeprüftes ist mehr als eine Verzögerung, die immer noch auf ein Telos hin gedacht wäre, sondern der Weg ist das Ziel: Während die Zeit verstreicht, lernt man, kommt gar nicht umhin zu lernen. 12 »Seit Mitte der 1990er Jahre wird die von den studentischen Revolten des 20. Jahrhunderts erkämpfte Universität abgebaut. Studierte man zuvor ein geistesoder sozialwissenschaftliches Fach, wurde man bis zur Abschlussprüfung eigentlich niemals getestet. Häufig wurde nicht einmal die Anwesenheit überprüft.
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das sujet supposé savoir auf die Zuhörerschaft, das Publikum, auf Lehrende wie Lernende bezogen. Forschendes Lernen/Forschendes Lehren geht mit Bruno Latour davon aus, dass alle bereits in den Forschungsprozess eingebunden sind, auch ohne es zu wissen: 13 Vor dem Hintergrund der Histori-
Was man lernen wollte und wann, war ins Belieben gestellt, denn die Seminarwahl war ebenso frei wie die Regelstudienzeiten uninteressant. Eine skandalöse Verschwendung von Ressourcen und Lebenszeit! In den letzten Jahren wurde dieser Verschwendung konsequent Einhalt geboten: durch BA-/MA-Studienordnungen, Modul- und Punktesysteme, Monitoring, Studiengebühren und so fort. Dabei kamen erschreckende Fakten ans Licht: Daraufhin getestet, was sie im einzelnen lernen, zeigten sich die Studierenden viel weniger gebildet als gedacht. Man sah sich gezwungen, das Niveau der Lehre dem nunmehr geprüften Stand der zu Belehrenden anzupassen. Zugleich ging man daran, bestimmte Mindest-Lerninhalte mit bestimmten Zeitkontingenten zu versehen und stellte fest, das es eigentlich unmöglich ist, in einer vertretbaren Studienzeit zu einem würdigen Wissensstand zu kommen. Hatte man Studierende bisher als Mitforscher verstanden, verpflichtete man sie daher nun dazu, ausschließlich zu lernen. Die Zeit fürs Denken wurde knapp, und zwar, da auch Testen, Modulieren, Berichten Zeit kostet, auch für diejenigen, die eigentlich dafür angestellt waren. Man konzentrierte sich fortan aufs Kerngeschäft und vertrieb damit zuletzt auch die Öffentlichkeit weitgehend aus den Universitäten.« (Geheimagentur 2009) 13 »Seine [Latours, Anm. U.B.] Texte stellen die ubiquitäre Forderung nach einer stärkeren Orientierung der Wissenschaften an gesellschaftlichen Bedarfen vom Kopf auf die Füße. Hier wird gezeigt, dass die Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft gerade dort, wo sie zu funktionieren scheint, nämlich in den Natur- und Technowissenschaften, keineswegs auf einer Ausrichtung der Wissenschaft an der Gesellschaft basiert, sondern eher umgekehrt auf der historischen Ausweitung des wissenschaftlichen Experiments auf die gesellschaftliche Umwelt. Demnach wäre die vermeintliche ›Anwendung‹ von Produkten, die auf die eine oder andere Weise aus der wissenschaftlichen Forschung stammen, als eine weitere Phase des eigentlichen Experiments zu begreifen – eine Phase, deren experimenteller Charakter jedoch als solcher nicht anerkannt ist, weil dieser Teil des Experiments sich eben nicht an den Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und Diskurse orientiert. Allererst gestellt sind damit Fragen wie: Wie sol-
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sierung von Wissensproduktion zwischen »Universität« und »Öffentlichkeit/Gesellschaft« kann man sagen, dass die saubere Trennung von Ideen und Anwendung nie funktioniert hat, sondern »die Öffentlichkeit«, bestehend aus den unwissend Mitforschenden, das Wissen immer schon mitproduziert hat. Was in seiner Konsequenz für die Einschätzung von Lehr-/ Lernverhältnissen sofort einsichtig ist: Eine Forschungsbeteiligung, die bereits besteht, ist als solche zu begreifen; 14 vorherrschende Lehrkonzepte
len die neuen kollektiven Experimente protokolliert werden? und: Welche Art Forum sollte über ihren Fortgang und Ausgang entscheiden?« (Peters 2009) Angesichts einer Forschung, die in dieser Weise inklusiver, zugleich aber auch exklusiver wird, sind wir von Antworten auf diese Fragen heute weit entfernt, denn sie zu finden, würde ja zunächst voraussetzen, alle Mitglieder der Gesellschaft grundsätzlich als »Mitforscher« anzuerkennen. Die Konzepte forschenden Lernens geben nun gerade keine Antwort auf die Frage, wie ein solches allgemeines »Mitforschen« ernstlich zu organisieren wäre – im Gegenteil: Beim Mitforscher-Sein im Sinne Latours geht es darum, eine Beteiligung, die immer schon besteht, als solche zu begreifen. Die Settings forschenden Lernens tendieren dagegen dazu, eine bereits gegebene Teilhabe zu unterbrechen, um in einer kontrollierten Umgebung ein lernintensives »Involvement« zu simulieren. 14 Die Konsequenz für die Geheimagentur und für Peters Forschungen ist, sich dem Internet zuzuwenden. »Vertrieben aus den Hörsälen und Seminarräumen der Universitäten hat sich die Logik der Verschwendung verlagert, zerstreut und verteilt. Fragt man, wo sich heute all die aufhalten und treffen, die mit Wissen ihre Zeit verschwenden, so ist das nicht mehr die Universität, sondern das Web. Wie viele Leute hier erhebliche Teile ihres Leben damit zubringen, LexikonArtikel oder Kritiken zu schreiben und zu lesen, Video-Blogeinträge zu erstellen und zu kommentieren, sich gegenseitig Fragen zu stellen und zu beantworten, sich Vorträge anzusehen, Links zu posten und so fort, spottet der Beschreibung. [...] Klar ist wohl: Ungedeckten Kredit hat im Netz nicht mehr in erster Linie der Denker, dessen Worte unerschöpflich zu denken geben. Ungedeckten Kredit hat heute vielmehr das potentiell unbegrenzte Netzwerk aller, die teilnehmen. Will man etwas wissen und sucht im Netz, lernt man meist irgendetwas anderes. Dabei kann niemand mehr so genau sagen, wo Wissenschaft aufhört und wo sie wieder anfängt, und das ist gut. Zugleich wird die Beziehung von Wissen und Verschwendung im Netz aber auch in neue Auseinandersetzungen verwickelt: Schließlich ist es gerade im Hinblick auf Bildungsprozesse zugleich Mittel von
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gehen allerdings von der Unterbrechung solcher Zusammenhänge aus, um kontrollierte Umgebungen zu schaffen. Jacques Rancières »unwissender Lehrmeister« (2009) 15 ist ein solcher nicht, weil er besser weiß; er wird dafür bezahlt, dem Schüler (sic) die Voraussetzung dafür zu geben, sein eigenes Wissen zu entdecken. Die Vorstellung, der Lehrmeister wisse es besser, könnte ein Placebo dafür sein, wie sein Beispiel zeigt. Joseph Jacotot war zur Zeit der französischen Revolution ein junger Rhetoriklehrer in Dijon, wurde kurz darauf in die republikanische Armee eingezogen und unterrichtete zurück in Dijon neben den klassischen Sprachen und der Ideengeschichte auch Mathematik, Analysis und Rechtswissenschaft. Mit der Rückkehr der Bourbonen musste er Frankreich verlassen, fand Asyl beim liberalen niederländischen König und lehrte weiter. Aber er konnte kein Niederländisch, und die Studenten, die in seine Vorlesungen strömten, konnten kein Französisch. Jacotot wies seine Studenten an, die zweisprachige Ausgabe des Telemach (eines regierungskritischen Bildungs- und Abenteuerromans von Fénelon vom Ende des 17. Jahrhunderts) zu lesen, den französischen Text mittels der niederländischen Übersetzung zu lernen und nach der ersten Hälfte unablässig zu wiederholen, um dann die zweite Hälfte irgendwie auf französisch zu verstehen und sich darüber prüfen zu lassen. Die Ergebnisse waren überraschend – denn sie waren zumindest genauso gut, wie sie von französischen Studenten zu erwarten gewesen wären. 16 »Bisher hatte [Jacotot] wie alle gewissenhaften Professoren geglaubt, dass die wesentliche Sache des Lehrmeisters die ist, seine Kenntnisse den Schülern zu vermitteln, um sie graduell zu seinem eigenen Wissen zu führen. Er wusste wie sie, dass es nicht darum ging, den Schülern Kenntnisse einzutrichtern und sie diese wie Papageien wiederholen zu lassen, aber auch, dass man ihnen diese Zufallswege ersparen muss, auf denen sich die Geister verlieren, die noch unfähig sind, das Wesentliche
Controlling, Präsentationszwang, Profilierungswahn, Kommerzialisierung. Wie lässt sich der Zusammenhang von Wissen und Verschwendung gegen solche Anfeindungen in Stellung bringen?« (Peters 2009) 15 Als »universale Beziehung« bezeichnet übrigens ein neues Forschungsprojekt an der FU Berlin das Verhältnis von »Meister und Schüler« (sic) (Freie Universität Berlin 2010). 16 Ranciere verweist auf: Felix und Victor Ratier (1838).
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vom Nebensächlichen und das Prinzip von der Konsequenz zu unterscheiden.« (Ranciere 2009,12f)
War der Lehrmeister überflüssig? Die Studenten hatten im Gebrauch des Telemach dieselbe Intelligenz bewiesen wie beim Erlernen der Muttersprache. »Sie waren vorgegangen, wie man nicht vorgehen darf, wie die Kinder, blind und ratend. Ist diese schimpfliche Methode des Ratens nicht die wahre Bewegung der menschlichen Intelligenz, die ihre eigene Macht in Besitz nimmt?« (Ebd., 21) Dazu benötigt man Emanzipation, genauer: den emanzipierenden Lehrmeister (vgl. ebd., 23). Es folgt ein Aufruhr in der Pädagogik. »Es ist noch akzeptabel zu hören, dass ein Wissender darauf verzichten müsse, sein Wissen zu erklären. Aber wie kann man zugeben, dass ein Unwissender für einen anderen Unwissenden Grund von Wissen sein könne? [...] Die konsultierte Behörde antwortete, dass er zu diesem Unterricht kein Recht hätte.« (Ebd., 25) 17 »Man kann unterrichten, worin man unwissend ist, wenn man den Schüler emanzipiert, das heißt, wenn man ihn dazu zwingt, seine eigene Intelligenz zu gebrauchen.« (Ebd., 25f) Jacotot »träumte von einer anderen Art gegenseitigen Unterrichts: dass jeder Unwissende sich für einen anderen Unwissenden zum Lehrmeister machen könne, der ihm seine intellektuelle Macht offenbare [...] und wer emanzipiert, hat sich nicht darum zu kümmern, was der Emanzipierte lernen muss. Er wird lernen, was er will, nichts vielleicht.« (Ebd., 28) Im Band Was ist eine Universität? hat Marianne Schuller auf diesen Lehrmeister Bezug genommen. Schuller (und klingt der Name nicht selbst wie Schüler? oder doch wie Schule, Schulmeister?) fordert eine Lehre, die einen Raum für noch Ungedachtes öffnen kann, »einen Freiraum erstellen, der, weil er noch nichts beinhaltet, Potenzial für andere Wahrnehmungsund Denkweisen schafft.« (Schuller 2009, 47) Hier geht es um eine Lehre, »die sich nicht (nur) als Vermittlung von bereits gegebenem, sondern als Erzeugung von Wissen realisiert. Zugespitzt gesagt: Es geht um eine Lehre, die das Wissen, das sie lehrt, erzeugt. Taucht damit das Nicht-Wissen als ein dem Wissen inhärentes
17 »Ich muss Sie lehren, dass ich Sie nichts zu lehren habe«, zitiert Rancière aus Sommaire des lecons publiques de M. Jacotot sur les principes de l’enseignement universel, herausgegeben von J.S. van de Weyer 1822, 11.
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Moment auf, so verschiebt sich mit diesem Paradox die herkömmliche Anordnung der Schüler- und der Lehrerfigur: es gibt nicht nur die Figur des unwissenden Schülers, sondern die paradoxe Figur des ›unwissenden, gleichwohl den Platz des Wissens einnehmenden Lehrmeisters‹. Wird es nicht darum gehen, diesen Platz aufzugeben, sondern darum, ihn und seinen Platzhalter neu zu denken und zu gestalten.« (Ebd., 46)
Eine durchaus »theatrale Anordnung« (ebd., 49), wie in der psychoanalytischen Rede, wo erst die Unterbrechung eines Diskurses den Bezug auf das Andere eröffnet. Voraussetzung ist eine reflektierte Jacotot-Szenerie: Dem Lehrmeister wird (mit Hilfe von z.B. Pult, Kamera usw., einer Bühne) ein Wissen unterstellt; gleichzeitig müssen wir im Seminar den strukturellen Mangel an Wissen mitwissen. Die hier genannten Materialien, an denen Schuller ihre epistemologischen Skizzen entwickelt, hat sie in vielen vorausgegangenen Werken durchgearbeitet – und es ist nicht nur inhaltlich überzeugend, sondern auch politisch enorm motivierend zu sehen, dass literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeit tatsächlich die Arbeit an der Form des Wissens immer mittransportiert hat. Brechts Theater, Freuds Szene und die anderen, sie bieten in ihrer Komplexität auch das Reflexionspotential noch für spätere institutionelle Wissens(verwaltungs)formen an. Von der psychoanalytischen talking cure ist die Rede, von Anna O., und davon, dass Freud die Entstehung seines Wissens etwa über Hysterie dadurch erlangt habe, dass er den Hysterikerinnen zuhörte; wo früher das Wort »Geschlecht« aufgetaucht wäre, ist es nun »Ästhetik«.
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Im Jahr 2009 erschien ein wichtiger und vielfältig anregender Sammelband zur Zukunft von Bildung und Lehre in einer modularisierten Universität, herausgegeben von Ulrike Haß und Nikolaus Müller-Schöll (2009). Hier befragen sich elf kluge und namhafte WissenschaftlerInnen in intensiven persönlichen Statements vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Karrieren, was die Bologna-Reform aus der Universität mache. Trotz der großen Bandbreite an Anregungen und Kenntnissen, die der Band bietet, sei hier nur auf eine irritierende Leerstelle verwiesen. Die Universität hat kein Geschlecht mehr und scheint im aktuellen Rückblick auch keins gehabt zu ha-
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ben, selbst in der Perspektive von AutorInnen, die bislang die Frage nach der Hervorbringung von Wissen und episteme oft mit der Frage nach dem Geschlecht verbunden haben. In der aktuellen Rede geht es dagegen um Generationen (um »Kohorten«, um den Wechsel in feministischer Forschungspolitik, um die Art der Weitergabe akademischen Wissens und Weihens). Das kann individuell und daher noch ganz zufällig sein. »Ich erinnere mich an eine Woche, in der ich vier Bewerbungen in den Briefkasten warf. Daraus wurde nichts. Was nicht nur Teil meiner eigenen, sondern ebenso Teil einer noch ungeschriebenen Geschichte der deutschen Universität ist.« (Hahn 2009, 83) Barbara Hahn hat in vielfacher Hinsicht angefangen, diese Geschichte zu schreiben: in Rekonstruktionen der Schreibbedingungen von Frauen in der Romantik, von Hannah Arendts Denken ohne Geländer, von Schreibweisen in Paarbeziehungen, in universitären und außeruniversitären Bereichen von Wissensproduktion. Was hier nicht steht, ist die Tatsache, dass es die »feministische Literaturwissenschaft« in Deutschland war, die bei der Stellenbesetzung und der entsprechenden Wahl Barbara Hahns damals eine zentrale Rolle spielte. Wenn individuelle Biografien unter bestimmten Voraussetzungen und Vorsichtsmaßnahmen betrachtet durchaus als exemplarisch für größere Zusammenhänge gelten können, ist es umso erstaunlicher, dass gerade hier die »Geschichte der deutschen Universität« ohne das Thema Frauenforschung auskommen soll. Aber was Biografisches berührt, lässt sich noch nicht gleich als symptomatisch für eine ganze wissenschaftspolitische Einschätzung nehmen. Etwas einfacher ist die Sache dort, wo es um den Austausch von Anerkennung in hierarchisch und ständisch sortierten Altersstufen geht. Die gute Zeit der Universität war, als noch väterliche Lehrer mit ihren Schützlingen wie buddy und Papi gleichzeitig informell beieinander saßen. »Ein bekannter Heidelberger Germanist war liebenswert indigniert« – so hebt die Geschichte an, als sich Jochen Hörisch zur Prüfung anmelden wollte –, das sei nicht nötig, er erinnere sich doch an ihn; und »ein Doktorand« sei »vom Ordinarius zum häuslichen Mittagessen gebeten« worden, man habe gepflegt über das Thema der Dissertation gesprochen und dann sei die Meldung ergangen, das sei nun das Rigorosum gewesen (Hörisch 2009, 39). Oh dieses Vertrauen in die Kraft der persönlichen Überzeugung jenseits formalistischer Regelwerke, dieses Initiationsritual unter Männern, bekocht von der Gattin, unüberprüfbar, intransparent und jeglicher Willkür
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ausgesetzt! Das war noch eine »universitäre Lust an Ritualen« (ebd.), keine Bürokratie wie heute. Der Autor, der erst im Vorjahr eine feuilletonistische Schlammschlacht vom Zaune brach, als ein jüngerer Rezensent es wagte, sein Buch zu kritisieren, 18 sieht sich sicher selbst betrogen um die Machtposition der schönen genealogischen Weitergabe. Sogar Hartmut von Hentig fordere nun »jugendbündische« Organisationsformen für Schulen (vgl.
18 Ein kurzer Abriss der Debatte: 1. In der Rezension des Buches von Hörisch Das Wissen der Literatur wagt es Burkhard Müller (Müller 2008a), Hörisch entgegen der Einordnung in akademische Hierarchien einen Freund zu wünschen, der ihm beim plaudernden Schreiben einen Rat gibt. 2. Daraufhin schreibt Hörisch eine Replik, einen »offenen Brief« (eine Mail), den er an seinen gesamten mit einflussreichen Menschen gespickten Mailverteiler schickt (Hörisch 2008a) und der von altväterlicher Herablassung nur so trieft. »Sehr geehrter Herr Müller: so geht das nicht. Dergleichen wirft ein sehr ungünstiges Licht auf Ihren Stil, Ihr Milieu, Ihre Erziehung. Ich widerstehe der Versuchung, mich auf Ihr Niveau einzulassen und Ihnen eine Freundin, eine Frau oder einen Therapeuten zu empfehlen, die Ihre Ausfälle zu zügeln verstehen. Für sachlich geboten halte ich aber den Hinweis, dass einem Rezensenten, der einen solch peinlich fehlerhaften und pöbelhaften Text abliefert, ein kompetenter, stilsicherer und urteilsfähiger Redakteur not täte, der ihn davor bewahrt, sich öffentlich so zu diskreditieren und zu disqualifizieren, wie Sie es mit Ihrer Rezension getan haben. Ihre Rezension ist eine weitere Schande für das Feuilleton der SZ«, die FAZ schließlich habe das Buch positiv rezensiert. 3. Burkhard Müller antwortet: »Sehr geehrter Herr Hörisch, Sie haben zuvor einen Brief an Thomas Steinfeld [SZ-FeuilletonLeiter] geschrieben, worin Sie die Sache von Chef zu Chef abmachen wollten. Das hat nicht funktioniert, Sie haben postwendend die verdiente Abfuhr gekriegt. Nun wollen Sie das Schlachtfeld erweitern und durch Ihren ›offenen Brief‹, dessen Adressenliste Sie im Briefkopf wie zu einer Heerschau aufbieten, die Macht Ihrer persönlichen Beziehungen spielen lassen. Auf insinuierende Weise (denn zur Offenheit fehlt Ihnen dann doch der Mumm) schlagen Sie vor, dass gegen mich ein allgemeiner Boykott verhängt wird. Nicht Erörterung verlangen Sie, sondern Kaltstellung des Ihnen Missliebigen.« (Müller 2008b) Schließlich nennt er Hörisch »selbstherrlich« und rät ihm, mal nachzudenken. Eine weitere Replik Hörischs bringt nichts Neues außer dem wiederholten Wunsch, »ein kompetenter und stilsicherer SZ-Redakteur würde mal ein sehr ernstes Wort mit Ihnen reden« (Hörisch 2008b).
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Hörisch 2009, 40), nur die Universität setze auf Verschulung und EntErotisierung, beklagt er. Nein, dieser sogenannten Erotik als Treibriemen zwischen den Generationen ist keine Träne nachzuweinen. Sie bleibt im Band in dieser Form allein (vgl. z.b. Müller-Schöll 2009), 19 auch wenn gelegentlich in anderen Beiträgen der Verlust des Lehrer-Schüler-Verhältnisses im modularisierten Studium beklagt wird. Das ließe sich erklären mit dem Beitrag von Ulrike Haß, die die Weitergabe von Wissen und sozialem Gefüge problematisiert. Sie kritisiert die Trennung der universitären Standorte in Ausbildungsanstalten und Forschungselite und innerhalb der Anstalten die Trennung in sogenannte Lecturers zur Massenabfertigung von Studierenden bei doppelter und dreifacher Stundenzahl als Entwicklung zur »Kontrolle ohne Verantwortung« – unter Berufung auf die Kategorie Generation (vgl. Haß 2009, 199ff). Ebenso wie die Schule, die Familie und andere Bereiche verliert die Universität die Eigenschaft, einen Ort zu bilden, an dem sich verschiedene Generationen konfliktreich aufeinander beziehen und wo Wissensvermittlung, Disziplinierung, das Aushandeln von Rangordnungen usw. geschehen. Formen einer permanenten Kontrolle ersetzen die Initiationsphasen innerhalb dieser Einheiten. Die jüngeren Generationen stauen sich, denn es geht nicht mehr um allmähliches Ausbilden und Reifezeiten (vgl. ebd., 119), sondern um sofortige und anhaltende Selbsttechnologie inklusive Selbständigkeit. Die Ich-AG ersetze die zweite soziale Geburt. »Das Wissen, wie Generationen einander ablösen können, indem die vorangehende Generation der nachfolgenden einen Platz einräumt, ist abhanden gekommen.« (Ebd., 120) Die Jüngeren könnten nicht mehr nachfolgen, nur noch »lauern«, denn es entfalle »die juridisch-symbolische Dimension einer Beziehung und Einordnung in die Sphäre des Sozialen«. Die Jungen sind »nicht sinnvoll eingetragen in die symbolische Grammatik des Sozialen. Sie stauen sich in den Bildungseinrichtungen« (ebd.). Ist diese Grammatik
19 Müller-Schöll legt in seiner Relektüre von Programmatiken um 1800 (Humboldt), um 1968 (Szondi) und Derridas université sans condition die LehrerSchüler-Verhältnisse frei und die Variationen, in denen sie nicht als einer für den anderen, sondern als Gefüge beider »für die Wissenschaft« entworfen waren (ebd., 129).
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geschlechtsneutral, könnte hier jede/r die gleiche Sprache sprechen, wenn er/sie könnte? Stauen sich vielleicht manche stärker als andere? Waren Initiationsweisen, seien sie formalisiert oder, bei Hörischs Professor, vorher demokratisch, nach race class gender egalitär zugänglich? Christina Benninghaus hat den fundamentalen male bias in der Kategorie der Generation herausgearbeitet (vgl. Benninghaus 2005). Schon der Sprachgebrauch des kanonischen Referenztextes von Karl Mannheim von 1928, der den Begriff »Generation« prägte, imaginierte diese als geschlechtshomogene, männliche Gruppe, im Anschluss an die »Kohorte«. Eine Generation ist eine Ansammlung von Männern; Frauen sind »eine Leerstelle im Generationsdiskurs« (Benninghaus 2005, 31), der stillschweigend Generation mit männlichen Kohorten gleichsetzt (ebd.). Eine Kohorte ist der Jahrgang, der in den Krieg zieht. Die Metaphorik des harten Kriegers hat zur zunächst fast ausschließlich männlichen Prägung des Generationendenkens beigetragen (vgl. Benninghaus 2005, 148). 20 Erst neben einer kriegsbedingten Krise der Männlichkeit wurde von einer Art Generation der »Neuen Frau« gesprochen, die dann auch gleich konsumorientiert, oberflächlich und unmoralisch hieß. Dilthey fand, eine Generation, das seien »diejenigen, welche gewissermaßen nebeneinander emporwuchsen, d.h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames Jünglingsalter, deren Zeitraum männlicher Kraft teilweise zusammenfiel.« (Dilthey 1957, 37) Aus Kindern werden Männer, keine Frauen. Die Wort- oder Begriffsgeschichte ist nun nicht die tiefere Wahrheit der Gegenwart, aber genauso wenig ist »Generation« eine neutrale Kategorie. Ihr bias ist im Zusammenhang gesehen wieder nur ein Element unter anderen, das hier berechtigterweise keine Rolle spielen mag, wo es mit Ulrike Haß um das Herzstück der Universität, das Programm des generationenübergreifenden Lernens geht (vgl. Haß 2009, 121), und insofern das eine Utopie ist, ist es »wirklich im Sinn seiner Möglichkeit« (ebd., 107). Es ist die Wiederholung des Absehens von geschlechterpolitischen Perspektivierungen, die in der Summe, wenn auch nicht im Einzelfall, vielsagend erscheint. Ist nicht die Stimme des institutionalisierten akademischen Wissens die längste Zeit als männliche gehört worden? Sind nicht gerade die zitierten Autorinnen solche, die dafür immer besonders feine Ohren hat-
20 Vgl. die Schriften von Ernst Jünger, dem 1954 verstorbenen Ernst Kahl, aber auch von E.M. Remarque und Carl Zuckmayer.
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ten, aber jetzt dastehen wie angewurzelt, wie Lots Frau im Blick zurück auf Gomorrha, so erschrocken, dass eine alte Hierarchisierung in Haupt- und Nebenwiderspruch durchkommt? Dass die konkrete personelle Autorenschaft der Bologna-Beamten keine Rolle spielt, heißt nicht, dass die Stellen und Agenturen, die in die Macht des Anrufens gesetzt sind, nichts mehr mit ihrer geschlechterbinären Tradition zu schaffen hätten. Gender ist wieder zum Nebenwiderspruch geworden. Einigen der prominentesten und scharfsinnigsten Kritikerinnen der 80er und 90er Jahre hat es die Sprache nicht verschlagen, aber entgegen den früher mit bestimmten Perspektiven versehenen Analysen der Wissensinstitutionen lesen sich gegenwärtige so, als sei vielleicht doch nur Garnitur gewesen, was mit der Struktur des Unbewussten oder dem Lachen im Feminismus oder der Übertragung im Begehren nach Wissen in traditionellen patriarchalen Strukturen nach etwas ganz anderem als nur einem Beilagensalat klang. Das erklärt sich schnell als Generationenfrage und wird sofort wieder rätselhaft. Alle AutorInnen im zitierten Band sind wenige Jahre vor oder nach ihrer Emeritierung, haben sich also mit maximal kritischer Distanz in die Institution hineingekämpft und sehen das Ende ihrer Ära auch als eines einer bestimmten universitären Verfasstheit, die sicher immer noch kritikwürdig war, aber innerhalb derer man doch sinnvoll gearbeitet hatte. (Es hätte weniger verwundert, wären die Kritikerinnen am Anfang ihrer Laufbahn gewesen: Anfang des 21. Jahrhunderts ist Feminismus schließlich out). Ist Gender ein Kriterium für Kritik und Einstieg, nicht aber für den Ausstieg? Das Gesetz erklingt als europäisches mit internationalem Maßstab besonders laut. In der unvermeidlichen Umwendung liegt aber auch der Einwand: Warum verknappen statt Verschwendung voraussetzen, warum vermessen statt Zeit geben, warum denn nicht mehr nach gender, class, race als epistemischen Strukturelementen fragen, warum nicht alte und neue Generationskonzepte mit offeneren Strukturen ersetzen, die mehr auf belonging setzen als auf das Erben, deren Begehren nicht nur auf Mutter, Vater und/oder Polizisten zielen, sondern auch auf die anderen Lernenden, Kollektive usw.? Hier wäre das Geschlecht nicht aus der Bildung herausgerechnet, aber wäre nur eins unter vielen.
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Das Bachelor-Master-System in der Lehrerbildung Probleme und Chancen am Beispiel Hamburgs R EINER L EHBERGER Die 2006 vorgestellten Ergebnisse von PISA-E haben Hamburg wegen der abermals schlechten Ergebnisse alarmiert. Ein vorletzter Platz – und das vormals abgeschlagene Bremen nur noch dicht hinter Hamburg – sorgte für Unruhe und hat z.B. das in der Hansestadt mächtige Hamburger Abendblatt dazu bewegt, eine neue tägliche Seite den Schulen der Stadt zu widmen. Die Reform der Lehrerbildung hingegen ist kein öffentlichkeitswirksames Thema, und dies gilt wohl nicht nur in Hamburg. Und während wegen des öffentlichen Drucks im neuen Hamburger Haushalt kräftig zusätzlich in die Hamburger Schulen investiert werden soll, muss die Lehrerbildung in der ersten, d.h. universitären, Phase im momentanen Verteilungskampf innerhalb der Universität gegen reduzierte Ressourcen kämpfen. Dabei steht und fällt die Schulreform mit der Qualität der Lehrerinnen und Lehrer. In einer 2007 veröffentlichten Vergleichsstudie von McKinsey zu der Frage »Was machen Länder mit guten PISA-Ergebnissen anders als Länder mit schlechten Ergebnissen?« kommen die Autoren zu folgendem Resultat: »The experiences of these top school systems suggest that three things matter most: 1. Getting the right people to become teachers, 2. Developing them into effective instructors, 3. Ensuring that the system is able to deliver the best possible instruction for every child.« (McKinsey 2007)
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Als Fazit könnte man also festhalten: Auf die Lehrer und ihre Ausbildung kommt es an. Eine systematisch angelegte Schulreform sollte die Lehrerbildung, d.h. die Aus- und Fortbildung von Lehrern, in den Mittelpunkt stellen. Für den Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und das Zentrum für Lehrerbildung Hamburg (ZLH) zumindest gilt: Im Mittelpunkt unseres Interesses steht nun schon seit einigen Jahren sehr deutlich die Reform der Lehrerbildung. Und auch das ist deutlich: Wegen der mit der inhaltlichen Reform verbundenen strukturellen Umstellung auf das Bachelor-Master-System (BA/MA) hält sich bei nahezu allen Beteiligten die Begeisterung in Grenzen – oft in sehr engen Grenzen, euphemistisch formuliert. Im Folgenden sollen drei Punkte näher beleuchtet werden: • Stand der BA/MA-Umstellung in Hamburg • Probleme bei der Umstellung • Chancen der Reform
S TAND
DER
U MSTELLUNG
Begonnen hat der Prozess der Reform der Lehrerbildung in Hamburg Ende der 90er Jahre mit der Arbeit und dem Bericht einer von Jürgen Oelkers geleiteten Kommission, die damals eine Reform im Rahmen der grundständigen Lehrerbildung empfahl (Keuffer/Oelkers 2001). In Bezug auf das alte System der Lehrerbildung kam die Oelkers-Kommission zu folgenden Kritikpunkten: Die Studiengänge zeichneten sich durch mangelnde Transparenz und wenig Anschlussfähigkeit an die zweite Phase aus, es gäbe einen zu geringen Professionsbezug und die Studiendauer sei insgesamt zu lang. Der BA/MA-Prozess hat allerdings auch Hamburg schnell eingeholt: Die von der Oelkers-Kommission favorisierte grundständige Lehrerbildung wurde aufgegeben, und mit der Senatsdrucksache von 2006 wurde die Einführung des BA/MA-Modells auch für die Lehrerbildung festgeschrieben. In Übereinstimmung mit der Oelkers-Kommission wurden in dieser Drucksache unter anderem folgende inhaltliche Leitlinien festgelegt: • erweiterte Praxiserfahrungen für alle Lehrämter, • eine Verstärkung des Professionsbezugs • und eine Verkürzung der Studienzeit.
D AS B ACHELOR -M ASTER -S YSTEM IN
DER
L EHRERBILDUNG
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Seit dem Wintersemester 2007/08 ist inzwischen die neue Struktur in Hamburg eingeführt, und zwar für alle vier in Hamburg zu studierenden Lehrämter: Gymnasium, Primar- und Sekundarstufe I, Berufsschule und Sonderschule. Im bundesdeutschen Rahmen ist die Reform der Lehrerbildung allerdings noch ein Flickenteppich. Vereinfacht kann man folgendes sagen:
Tabelle 1: BA/MA in der Lehrerbildung – Umstellungsstand in den Bundesländern Bundesland
Baden-Württemberg Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Niedersachsen Rheinland-Pfalz Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen
Stand
– Nur BS –
Umgestellt
– Nur BS – – Erfurt –
Nordrhein-Westfalen
Baden-Württemberg Bayern Hessen Mecklenburg-Vorpommern Nordrhein-Westfalen Saarland Sachsen-Anhalt Thüringen – Jena –
Umstellung beschlossen
Modularisiert
Zehn Länder haben auf BA/MA umgestellt, davon drei allerdings nur teilweise, nämlich nur im Berufsschul-Lehramt, und Thüringen sinnigerweise nur an einer von zwei Universitäten. Erfurt bietet BA/MA in der Lehrerbildung, Jena bleibt beim Staatsexamen. Modularisiert haben inzwischen alle Bundesländer, einige planen, neben dem Staatsexamen auch ein MasterExamen zu ermöglichen. Der wichtigste Grund dafür ist die Beibehaltung der Steuerung des Studiums durch das Staatsexamen. Nordrhein-Westfalen
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hat definitiv beschlossen umzustellen, und wenn mich nicht alles täuscht, heißt das, dass die beiden ersten Pilotstandorte für BA/MA in NRW in Bielefeld und Bochum eine »Reform der Reform« beginnen müssen, denn deren Struktur ist mit einer BA/MA-Ausbildung in den Lehrämtern so nicht kompatibel. Soweit der Stand der Strukturreform bundesweit. Einen Vergleich der Curricula hat es bisher nicht gegeben, doch alle meine Erfahrungen deuten darauf hin, dass die Inhalte eher noch heterogener geworden sind als vormals. Das, was zum Beispiel die Vorstandsmitglieder der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft als Leitlinien eines Kerncurriculums vorgeschlagen haben, haben sie an ihren eigenen Universitäten nur selten durchsetzen können. Dies ist erstaunlich, hat aber immer damit zu tun, dass natürlich die Spezialisierungen der Handelnden vor Ort letztlich bestimmen, was konkret als Kerncurriculum definiert wird. Ob die Standards der KMK für die Lehrerbildung und die zu studierenden Fächer das ändern können, kann man bezweifeln, denn sie sind zu allgemein formuliert, um wirklich Steuerungswirkung entfalten zu können.
P ROBLEME
BEI DER
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Jeder, der die Umstellung auf BA/MA mitgemacht hat oder mitmacht, kann ein langes Klagelied von Widrigkeiten, Unzulänglichkeiten und, manche würden sagen, Zumutungen anstimmen. Die Kritik reicht vom Vorwurf der Verschulung und damit der Aufgabe eines wissenschaftlichen Studiums (Brenner 2009) bis hin zur Rückkehr der Großvorlesung, da die beschlossenen Curricula mit den vorhandenen Kapazitäten anders gar nicht abzudecken seien (Tillmann 2005). Vier für Hamburg zentrale Problemfelder sollen im Folgenden entfaltet werden. 1. Mobilitätsstau statt Mobilitätszuwachs Die Mobilität im europäischen Raum war und ist für den Bologna-Prozess ein primäres Ziel. In der der Bologna-Erklärung vorausgegangenen Sorbonne-Erklärung heißt es sogar, dass die Studierenden im Bachelor- und Master-Studium mindestens ein Semester im Ausland verbringen sollten. In
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den neuen BA/MA-Studiengängen ist man von diesem Ziel weit entfernt. Waren es früher ca. 30 Prozent der deutschen Studierenden, die für ein Semester ins Ausland gingen, sind es zur Zeit noch weniger geworden, nämlich 17 Prozent, an Fachhochschulen sogar nur neun Prozent (Brenner 2009). Insbesondere in den Lehramtsstudiengängen der neueren Sprachen ist dies eine Katastrophe, denn in diesen Fächern ist ein Auslandsaufenthalt eigentlich eine Voraussetzung für den späteren Beruf. Folgende Faktoren machen zur Zeit in der Hamburger BA/MA-Struktur die Mobilität schwierig – es sei denn, die Studierenden nehmen eine Verlängerung des Studiums in Kauf: Die Modulstruktur, die in der Regel auf zwei Semester angelegt ist und mit einer examensrelevanten Modulprüfung abschließt, macht per se einen einsemestrigen Auslandsaufenthalt fast unmöglich. Geht man z.B. im vierten Semester (und das ist realistisch gesehen der früheste Zeitpunkt), fehlen die Prüfungen zu den Modulen aus Semester drei und vier. Geht man im fünften Semester, fehlt die Wissensbasis für die Modulfortführung in Semester sechs. Besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern haben wir es ja mit aufeinander bezogenen Teilmodulen zu tun, so dass das Auslassen eines Teils faktisch den nachfolgenden Modulteil unmöglich macht. Grundsätzlich sollten die an der ausländischen Universität erworbenen Studienleistungen anerkannt werden. Geregelt wird dies durch so genannte »learning agreements«, die man vor dem Auslandsaufenthalt abschließt. Studiert man nicht auf Lehramt, sondern nur ein Hauptfach wie z.B. Anglistik, so ist ein solches Verfahren durchaus realisierbar. Im Lehramt mit seinen drei Fächern aber (zwei Unterrichtsfächer und Pädagogik) ist dies viel komplizierter, da an vielen ausländischen Universitäten die notwendigen Lehrinhalte – z.B. Fachdidaktik, aber auch Fächer wie Arbeitslehre – gar nicht angeboten werden bzw. mit den Modulen an der Heimatuniversität nicht oder nur wenig kompatibel sind. Mobilitätsstau gibt es aber nicht nur beim Auslandsaufenthalt. Wahrscheinlich ist es sogar einfacher, nach Sussex zu wechseln, als von Hamburg nach Hannover oder Rostock. Die wesentlichen Gründe dafür sind: Der Umstellungsprozess im Lehramtsstudium läuft, wie beschrieben, in den Bundesländern sehr verschieden. Gleiches gilt für die Curricula. Fragen der gegenseitigen Anerkennung sind bislang aber nicht gelöst worden. Allein ein Blick auf die Gewichtung pädagogischer Anteile im Lehramtsstu-
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dium zeigt die Probleme: So werden an einigen Universitäten, so auch in Hamburg, die Pädagogik-Anteile stark akzentuiert und es entfallen damit weniger Leistungspunkte auf die studierten Unterrichtsfächer. Dazu finden sich different ausgestaltete Praktika, und das auch noch zu höchst verschiedenen Zeitpunkten innerhalb des Studiums. Und letztlich gibt es in den Bundesländern eine unterschiedliche Studiendauer für die verschiedenen Lehrämter, für die Grund- und Mittelstufe beispielsweise Varianten mit acht, neun und zehn Semestern. 2. BA-Abschluss: Kein berufsqualifizierender Abschluss für das Lehramtsstudium Die Einführung der BA/MA-Struktur ist verbunden mit der Intention, dass der Bachelor-Abschluss ein berufsqualifizierender Abschluss ist und dass nur die wissenschaftlich orientierten Studierenden sich für den Masterstudiengang bewerben und ihr Studium mit dem Master oder der Promotion abschließen. Nun kann man sich in den Wirtschafts- und Kulturwissenschaften durchaus vorstellen, dass sich für BA-Absolventen entsprechende Berufsperspektiven anbieten. Der Markt wird zeigen, ob dies auch Wirklichkeit wird. Für die Studierenden der Lehrämter ist diese Perspektive allerdings völlig ausgeschlossen, denn alle Bundesländer haben deutlich gemacht, dass für den Lehrerberuf der MA-Abschluss Eingangsvoraussetzung ist. Pläne wie die des ehemaligen Berliner Schulsenators Böger, BA-Absolventen als Assistenzlehrer einzustellen, sind schnell wieder zurückgenommen und nicht weiter diskutiert worden. Damit ist natürlich auch verbunden, dass Lehramtsstudierende eigentlich per se einen Platz im Masterstudiengang gesichert haben müssten. Dies allerdings wird in den Bundesländern durchaus unterschiedlich gesehen: Einige Universitäten diskutieren auch für Lehramtsstudierende eine – allerdings niedrige – Schwelle vom Bachelor zum Master. In Hamburg wird es keine formale Schwelle geben, bei zahlreichen Bewerbungen von auswärtigen Bewerbern zum MA allerdings dann doch eine Zulassung nach der Abschlusszensur im Bachelor-Studiengang.
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3. BA-Abschluss und Polyvalenz In der Bologna-Ideologie sollte der BA-Abschluss so angelegt sein, dass er polyvalent ist, d.h. verschiedene Optionen für das MA-Studium offenlässt. Damit kann man die Hoffnung verbinden, dass jemand, der z.B. Mathematik und Sport im Lehramt studiert, aber bemerkt, dass der Lehrerberuf nicht seiner Eignung entspricht, aus dem Lehramtsstudium ausscheiden und im MA dann entweder Mathematik oder Sport zum Hauptfach machen und so ohne Zeitverlust trotzdem sein Studium fortführen kann. So weit, so gut. Akzentuiert man aber – wie wir in Hamburg – bereits im BA-Studium den Pädagogik-Anteil sehr stark, so ist naturgemäß der Anteil der Fächer am Studium deutlich niedriger als in einem Fachstudium. Die Polyvalenz, so die Vertreter der Fächer, bestehe damit nur auf dem Papier. Wer tatsächlich den Lehramtsstudiengang wechseln und einen Master of Science machen wolle, müsse erhebliche Studienanteile im MAStudiengang nachholen, um bestehen zu können. Zu konstatieren ist, dass die Kritik für die Lehrämter Primar- und Sekundarstufe, Sonderschule und Berufsschule zutrifft. Die Polyvalenz erweist sich also als prekär, bei einem Wechsel aus diesen Lehrämtern ist zumindest mit einer erheblichen Studienverlängerung zu rechnen. Und damit sind wir bei meinem vierten und letzten Schwachpunkt der BA/MA-Struktur im Lehramtsstudium. 4. Studiendauer und Abbrecher Modularisierung und Transparenz der Workloads sollten eine Verkürzung der tatsächlichen Studienzeit und eine Reduzierung der Zahl der Studienabbrecher erreichen. Offiziell gesicherte bundesweite Daten liegen, soweit ich sehe, nicht vor. Aus allen Universitäten, die ich kenne, höre ich aber, dass im Lehramtsstudium der Bachelor-Abschluss von einem hohen Prozentsatz in sechs Semestern nicht erreicht wird und dass die Abbrecherquote mindestens bei 30 Prozent liegt. Für Bielefeld und Bochum geht aus einer HISUntersuchung hervor, dass in der Pilotphase 30 (Bielefeld) bzw. 50 Prozent (Bochum) das Studium abgebrochen haben. In Bochum benötigten 60 Prozent der Studierenden mehr als sechs Semester für den BA (Grützmacher/Reissert 2006). Die Gründe dafür liegen für mich auf der Hand:
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Die Studierenden sind nach wie vor auf kontinuierliches studienbegleitendes Arbeiten angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das haben die BA/MA-Befürworter mit ihrer Festlegung von einer Jahresarbeitszeit von 1.800 Stunden für Studierende – Lehrer haben in Hamburg eine Jahresarbeitszeit von ca. 1.760 Stunden – nicht wahrhaben wollen. Die Curricula sind überall zu überladen, und der Prüfungsdruck und die Zeiten für Prüfungen im studienbegleitenden System sind völlig unterschätzt worden. Und drittens sind sicherlich Studienabbrüche und Studienverlängerungen dem oft chaotischen Transformationsmanagement vor Ort geschuldet. Hohe zeitliche Überschneidungen von Veranstaltungen, mangelndes Prüfungsmanagement und fehlende personelle Ausstattung für die Lehramtsprüfungen sind nur einige der hier anzuführenden Belege.
C HANCEN
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Zu den benannten Problemlagen könnten, auch aus Hamburger Sicht, unschwer weitere Punkte hinzugefügt werden. Es bleibt allerdings: Die Aufzählung von Missständen ist noch keine Kritik – und vor allem gilt: Alle empirischen Befunde, die wir haben, sagen uns, dass das alte System der Lehrerbildung ebenfalls höchst unzulänglich war (für Hamburg vgl. Arnold 2006). Ausdrücklich zähle ich zu diesen Rückmeldungen die Ergebnisse der empirischen Schulforschung seit TIMSS und PISA, denn schlechte Schülerleistungen sind vor allem Resultat unzureichenden Unterrichts, und unzureichender Unterricht verweist auf lückenhafte Aus- und Fortbildung. Auch aus allem, was wir aus direkten Befragungen von Studierenden und Referendaren wissen, kann keine Zufriedenheit mit dem alten System erwachsen. Teilt man diese Kritik am »alten« System, so kann man für die jetzige Reform – trotz aller Unzulänglichkeiten – auch positive Chancen sehen. An vier Beispielen will ich dies exemplifizieren: Neue Strukturen, Berufseignung, Praktika und Studierbarkeit.
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1. Neue Strukturen Der Kritik, dass die Lehrerbildung keine institutionelle Verortung an der Universität hat, ist inzwischen in allen Bundesländern mit der Gründung von Zentren für Lehrerbildung begegnet worden. Allerdings zeigt sich, dass diese Zentren sehr unterschiedlich ausgestattet und damit wohl auch unterschiedlich wirksam sind. Für Hamburg gilt, dass in allen für die neue Lehrerbildung relevanten Institutionen konsequent phasenübergreifende Strukturen geschaffen wurden. Für die zwei Ebenen des Hamburger Zentrums für Lehrerbildung, den Rat und die Geschäftsstelle, gilt nämlich, dass die zwei Phasen der Lehrerbildung personell gleichberechtigt vertreten sind. So sitzen im Rat den fünf Universitätsvertretern (1. Phase) vier Vertreter des Landesinstituts (2. Phase) und ein Vertreter der BSB (3. Phase) gegenüber. Hinzu kommen mit je einer Stimme die anderen an der Lehrerbildung beteiligten Hochschulen (Hochschule für Musik und Theater, Hochschule für Bildende Künste, Technische Universität und Fachhochschule). Einzigartig in der deutschen Hochschullandschaft ist vor allem, dass die Geschäftsstelle gleichberechtigt von je einem Vertreter der Universität und der Schulbehörde geleitet wird. Diese Strukturen ermöglichen zügige und effektive Abstimmungen zwischen den Phasen und vermeiden Reibungsverluste durch lange Prozesse. Die zweite neue Struktur für die Reform in Hamburg ist die der Sozietäten, in denen ebenfalls Vertreter aller Phasen der Lehrerbildung zusammenarbeiten. Zur Zeit gibt es 28 Sozietäten, gegliedert nach Fächern, Fächergruppen und drei prioritären Themen (Heterogenität, Neue Medien, Schulentwicklung). Als wichtigste Aufgabe kommt den Sozietäten derzeit die Beratung und Abstimmung der universitären Curricula (Modulgestaltung) sowie die Planung der Schulpraktika zu. Die Arbeit der Sozietäten hat eine bislang nie dagewesene Kooperation der Phasen erbracht und ist damit die Gelenkstelle für die angestrebte Anschlussfähigkeit der ersten an die zweite Phase der Lehrerbildung geworden. Kritisch anzumerken ist, dass die kontinuierliche Arbeit in den Sozietäten den Vertretern der zweiten Phase offenbar leichter fällt als denen der Universität. Während bei den ersteren die Sozietätsarbeit Teil ihres Arbeitsauftrags ist, ist die Mitarbeit für Universitätsvertreter »eigenständig« in die Arbeitsverpflichtungen einzubetten.
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2. Berufseignung Der neuen engeren Zusammenarbeit zwischen der Universitäts- und der Schulseite ist auch mein zweites Beispiel – die Thematisierung der Berufseignung – geschuldet. Spätestens seit der 2004 von Uwe Schaarschmidt und anderen vorgelegten Studie zur Lehrergesundheit kann man an dem Befund, dass der Lehrerberuf ein psychosozial komplexer und höchst anspruchsvoller Beruf ist, nicht mehr vorbei sehen. Ungünstige Arbeitsbedingungen und ungünstige personale Voraussetzungen auf der Seite des Lehrers im motivationalen und psychosozialen Bereich führen für die Betroffenen wie auch für die Schüler und das System zu hohen Belastungen. Die Frage nach der Eignung für den Beruf bzw. die Frage, wie man die Eignungsvoraussetzungen von Studierenden entwickeln kann, ist daher in Hamburg als studienbegleitende Aufgabe gesetzt worden (Lehberger/ Schaarschmidt 2009). Abb. 1: Eignungsentwicklung (Universität Hamburg)
Im Verlauf des BA-Studiums wird der Lehramtsstudierende zu verschiedenen Zeitpunkten mit Fragen nach seiner Eignung für den gewählten Lehrerberuf konfrontiert. Es beginnt vor der Immatrikulation mit einer vorgeschalteten Online-Selbstbefragung der Studierenden mit dem so genannten CCT (Career Counselling for Teachers), einem Assessment-Verfahren, das nicht nur die Selbstbefragung ermöglicht, sondern den angehenden Studierenden auch die Chance gibt, sich mit zahlreichen Informationen und Tex-
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ten zum Lehrerberuf, zur Ausbildung, zu Chancen und Herausforderungen des Berufs auseinanderzusetzen. In der Praxisorientierten Einführung (PE) im ersten Semester wird den Studierenden ein Block von drei bis vier Sitzungen mit Übungen zum Lehrerhandeln angeboten. Dies dient insbesondere der Erprobung des Lehrerverhaltens in Anforderungssituationen, die über das Unterrichten hinaus täglich im Lehrerberuf vorkommen. Vornehmlich geht es um Rollenspiele mit kommunikativen und interaktiven Herausforderungen (z.B. Gespräche bei Konflikten mit Schülern, Eltern oder Kollegen, das Abfassen eines Elternbriefes u.a.m.). Dabei sind alle Studierenden aktiv einbezogen, entweder als Agierende oder als Beobachter. Die Beobachtungsergebnisse werden ihnen zurückgemeldet und besprochen. So entstehen erste Einsichten in Stärken und Schwächen im kommunikativen und interaktiven Aufgabenfeld eines zukünftigen Lehrers. Eine dritte Chance, sich mit der Eignungsfrage auseinanderzusetzen, bietet das Integrierte Schulpraktikum (ISP). Im Rahmen des in ein Vor- und Nachbereitungsseminar eingebetteten vierwöchigen Praktikums wird von den Studierenden auf der Basis des von Schaarschmidt/Herlt konzipierten Fragebogens Fit für den Lehrerberuf (Verband Bildung und Erziehung 2005; vgl. dazu Schaarschmidt/Kischke 2007) eine Selbsteinschätzung durchgeführt. Dieser Fragebogen beinhaltet 21 anforderungsrelevante Merkmale, die in vier übergeordnete Felder gegliedert sind. 1.
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Psychische Stabilität (Merkmale: Fähigkeit zur offensiven Misserfolgsverarbeitung, Frustrationstoleranz, Erholungs- und Entspannungsfähigkeit, Stabilität bei emotionalen Belastungen und Stressresistenz). Aktivität, Motivation und Motivierungsfähigkeit (Merkmale: Freude am Umgang mit Kindern und Jugendlichen, Verantwortungsbereitschaft, Humor, Wissens- und Informationsbedürfnis, Anstrengungsund Entbehrungsbereitschaft, Begeisterungsfähigkeit und beruflicher Idealismus). Soziale Kompetenz (Merkmale: Durchsetzungsvermögen in kommunikativen Situationen, soziale Sensibilität, Sicherheit im öffentlichen Auftreten und Freundlichkeit/Warmherzigkeit). Berufsrelevante Grundfähigkeiten und -fertigkeiten (Merkmale: Stimme, Flexibilität, didaktisches Geschick, Ausdrucksfähigkeit und Fähigkeit zum rationellen Arbeiten).
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Auf der Basis des gleichen Fragebogens gibt der schulische Mentor dem Praktikanten eine Fremdeinschätzung. In einem gemeinsamen Auswertungsgespräch erfolgt ein Abgleich zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung, es werden mögliche Gründe für abweichende Einschätzungen besprochen und gegebenenfalls gemeinsam Überlegungen zu weiteren Entwicklungsschritten angestellt. Eine naheliegende Schlussfolgerung der Auswertung kann die Teilnahme an einem vom Fachbereich Erziehungswissenschaft angebotenen Lehrertraining sein. Dieses Lehrertraining ist integraler Bestandteil der Eignungsberatung, bleibt aber ein freiwilliges Angebot mit den Themenkomplexen: • • • • •
Analyse der individuellen Beanspruchungssituation, Zeit- und Selbstmanagement, Kommunikation und soziale Kompetenz, Persönliche Zielsetzung, Entspannung.
Mit diesem mehrschrittigen Verfahren der Eignungsbefragung und -entwicklung ist an der Universität Hamburg zum ersten Mal dieser wichtige Ausbildungsaspekt für zukünftige Lehrer in das Curriculum aufgenommen worden. Es ist – dies sei betont – kein selektives Verfahren, sondern ein Verfahren, das auf Selbstreflexion, Eigeninitiative und Kompetenzentwicklung setzt. 3. Praktika Eine qualitative wie quantitative Verbesserung des Praxisbezugs durch Schulpraktika ist seit langem eine der zentralen Forderungen an die Reform der Lehrerbildung. Dabei kann es natürlich nicht allein um eine quantitativ erweiterte Verweildauer von Studierenden an Schulen und im Unterricht gehen. Ein Qualitätsmerkmal sind Schulpraktika nur, wenn sie thematisch angeleitet, angemessen begleitet und nachhaltig und systematisch reflektiert werden. Im Wesentlichen haben Praktika die Funktion:
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der Orientierung und Selbstüberprüfung für den angestrebten Beruf, der Berufserprobung durch Beobachten, Planen, Durchführen und Reflektieren von Unterricht, dem Aufbau von Systemwissen über das System Schule durch Erkundung und Partizipation und der Berufserforschung (vgl. dazu Altrichter/Posch 2008) und des Aufbaus eines »Habitus forschenden Lernens«.
Durch die Neustrukturierung der Studiengänge im BA/MA-System ist es an allen daran beteiligten Universitäten deutschlandweit zu einer verbesserten Verankerung von Praktika gekommen. In Hamburg gestalten sich die Praxisphasen wie folgt: •
• •
Hospitationen von Unterricht und Begleitung eines Lehrers an einem kompletten Schultag im ersten Semester in der PE: Das Ziel ist hier das Einleiten des Perspektivwechsels von der Schüler- zur Lehrerrolle. Ein vierwöchiges Praktikum im Rahmen des ISP mit dem Ziel einer reflektierten Entscheidung über die Berufswahl. Zwei Fachpraktika (1 Tag pro Semester, 4 bis 5 Wochen im Block während der Semesterferien) in den studierten Fächern im Masterstudium (zusammen 30 LP) mit dem Ziel, Schule und Unterricht mit Forschungsfragen zu erkunden sowie Kompetenz in der Planung, Durchführung und Evaluation von Unterricht zu gewinnen. Abb. 2a: Praxisphasen (Lehramt Allgemeinbildende Schulen: BA)
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Abb. 2b: Praxisphasen (Lehramt Allgemeinbildende Schulen: MA)
Insgesamt sind die neuen Praxisphasen im Hamburger BA/MA-Modell erheblich erweitert (quantitativ fast verdoppelt) und systematisiert worden. Ein Webfehler ist der für mich zu späte Zeitpunkt des ISP im 5. und 6. Semester. Im engen Geflecht der Vergabe von Leistungspunkten, der Modulanordnung und deren Abfolge sowie der für alle Fächer verbindlichen Zeitfenster ist so ein Webfehler allerdings nur schwer zu beheben. Erst wenn die nötige Revision des Bachelorstudiengangs und die dann hoffentlich auch stattfindende Verringerung von Pflichtveranstaltungen durchgeführt wird, wird sich auch die Chance für eine Neuplatzierung des ISP ergeben. 4. Studierbarkeit Traditionell überließ die Universität die konkrete Semesterplanung des Studiums ihren Studierenden. Für Lehramtsstudierende, die ja in der Regel drei Fächer (zwei Unterrichtsfächer und Pädagogik) studieren, war dies oft eine erhebliche Herausforderung. Dies insbesondere auch, weil die Anfangszeiten und die Dauer von Lehrveranstaltungen nicht einheitlich waren und – um dies vorsichtig zu formulieren – die Angebote der Dozenten sich keineswegs gleichmäßig auf die Woche verteilten. Die Folge waren bei vielen Fächerkombinationen zum Teil systemisch bedingte erhebliche Studienzeitverlängerungen.
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Die Studierbarkeit im Rahmen der vorgesehenen sechs Semester des Bachelor- bzw. vier Semester des Masterstudiums sicherzustellen, ist im neuen Modell eine von der Universität nicht länger zu vernachlässigende Pflichtaufgabe, nicht zuletzt deshalb, weil die Studierbarkeit auch bei der Akkreditierung der Studiengänge eine wichtige Rolle spielt. Hinzu kommt, dass, wie in Hamburg, die Studierenden auch Studiengebühren bezahlen. So ergibt sich auch aus diesem Grund eine Verpflichtung für die Universität, ein Lehramtsstudium tatsächlich auch im Zeitrahmen von insgesamt zehn Semestern durchführbar zu gestalten. Dieses Ziel ist nur durch Planungsvorgaben und die Beteiligung aller Fächer zu erreichen. In Hamburg ist dafür seit dem Wintersemester 2008/09 sukzessive ein so genanntes Zeitfenstermodell eingeführt worden, das den Fächern für Pflichtlehrveranstaltungen ein sechs- bis achtstündiges Zeitfenster zwischen Montag 8 Uhr und Freitag 16 Uhr zuweist. Zudem werden für die Wahlpflichtlehrveranstaltungen weitere so genannte Wahlzeiten im Umfang von zwölf Semesterwochenstunden ausgewiesen. Darüber hinaus sind die Überschneidung der Lehrveranstaltungen über die Studienjahre sowie die von den Studierenden gewählten Fächerkombinationen berücksichtigt worden. Die Zeitfenster rotieren jedes Jahr, so dass »ungeliebte« Zeiten wie z.B. der Montagvormittag und der Freitagnachmittag im Wechsel zugewiesen werden. Festgelegt sind damit natürlich auch die Anfangszeiten und die Zeiteinteilung (zwei- oder vierstündig). Richten sich die Fächer nach ihren Zeitfenstern, so wird eine Überschneidungsfreiheit von über 90 Prozent aller im Lehramt in Hamburg gewählten Fächerkombinationen erreicht. Ganz ohne Zweifel kann damit für die Studierenden eine erhebliche Verbesserung ihrer Studienbedingungen erreicht werden.
R ESÜMEE Bei allen auch in diesem Beitrag aufgewiesenen Widersprüchlichkeiten des BA/MA-Modells, der Prozess scheint unumkehrbar 1 und wird dabei die Universitäten weiter (Revision der ersten Entwürfe, Akkreditierung) im wahrsten Sinne in Bewegung halten. Die Reform der Lehrerbildung muss
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Allerdings ist das politisch gesetzte Ziel, dass der Bologna-Prozess 2010 erfolgreich abgeschlossen sein sollte, in weite Ferne gerückt.
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sich in diesen Prozess einbringen, denn der strukturelle Umbruch eröffnet auch Chancen für eine professionsnähere Ausbildung. Die zu konstatierende Heterogenität der neuen Lehrerbildung im nationalen Rahmen ist insbesondere für die Mobilität der Studierenden ein erhebliches Problem. Mit zwei Strategien kann dem begegnet werden: •
•
Wir benötigen dringend eine liberale Anerkennungspraxis beim Übergang vom Bachelor zum Master, damit Studierende den gewünschten Wechsel an andere Universitäten auch tatsächlich vollziehen können. Wir benötigen Mindeststandards für zentrale Aspekte der Lehrerbildung, wie z.B. Eignungsverfahren und Praktika. Wenn diese im nationalen Rahmen nicht sofort durchsetzbar sind, sollte man regional (z.B. im »norddeutschen Verbund«) damit beginnen.
Die BA/MA-Umstellung und die Reform der Lehrerbildung sind mit den vorhandenen Kapazitäten nicht zu bewerkstelligen. Die Universitäten benötigen Ressourcen für das neue Prüfungsmanagement (hier wäre mittelfristig die Übertragung der Kapazitäten aus den staatlichen Prüfungsämtern eine Lösung), für Beratung und für die Einbeziehung von Personal mit psychosozialen Kompetenzen. Für die Dozenten und Professoren gilt: Ihr Berufsbild wird sich verändern. Gefragt ist die Bereitschaft zur Kooperation mit Institutionen wie Studienseminaren, Landesinstituten und Schulen. Gefragt ist weiterhin die Bereitschaft zu einer gewissen Regelhaftigkeit des Lehrangebots und zur Übernahme von erheblichen Prüfungsanforderungen. Nur wenn sich der gesamte Lehrkörper beteiligt, sind die neuen Aufgaben zu bewerkstelligen. Das, was Professoren von der Lehrerschaft fordern, nämlich sich vom »Einzelkämpfer« zum »Teamplayer« zu entwickeln, gilt in Zukunft daher auch für die Hochschullehrer selbst. Vielleicht stellen wir aber auch in einigen Jahren fest, dass all diese Anforderungen an die Lehrerbildung in den jetzigen Strukturen der Universitäten gar nicht zu erreichen sind. Spätestens dann wird die Suche nach neuen Strukturen, wie z.B. die nach einer »school of education«, virulent werden.
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L ITERATUR Altrichter, H./Posch, P. (2008): Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. Bad Heilbrunn. Arnold, E. (2006): Was können Studierende am Ende ihres Studiums? Selbsteinschätzung von Kompetenzen im Rahmen von Absolventenbefragungen. In: Hilligus, A.H/Rinken, H.-D. (Hg.): Standards und Kompetenzen – neue Qualität der Lehrerausbildung? Berlin, 275-281. Bastian, J./Keuffer, J./Lehberger, R. (2005): Lehrerbildung in der Entwicklung. Das Bachelor-Master-System: Modelle – Kritische Hinweise – Erfahrungen. Weinheim/Basel. Brenner, P.J. (2009): Die Zauberlehrlinge. Universitas (64) Aug. 2009, 789-801. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg (2006): Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft: Reform der Lehrerausbildung in Hamburg. Drucksache 18/3809 vom 28.02.06., http://www.buergerschaft-hh.de/ Parldok/tcl/PDDocView.tcl?mode=show&dokid=17789&page=0. Daschner, P. (2005): Entwicklung der Lehrerbildung in Hamburg. Teil I: Etappen auf dem Weg nach Bologna – Verzahnung der Phasen und Erarbeitung von Kerncurricula. In: Bastian, J./Keuffer, J./Lehberger, R.: Lehrerbildung in der Entwicklung. Das Bachelor-Master-System: Modelle – Kritische Hinweise – Erfahrungen. Weinheim/Basel, 35-41. Grützmacher, J./Reissert, R. (2006): Ergebnisbericht zur begleitenden Evaluation des Modellversuchs »Gestufte Lehrerausbildung« an den Universitäten Bielefeld und Bochum. HIS GmbH, Hannover. Hartnagel, T. (2009): Kompetenzentwicklung im Lehramtsstudium durch Praktika. Ein Vergleich des Bucerius LERN-WERKS Leseförderung mit dem Integrierten Schulpraktikum. Examensarbeit, Universität Hamburg. Keuffer, J./Oelkers, J. (Hg.) (2001): Reform der Lehrerbildung. Weinheim/ Basel. Lehberger, R./Schaarschmidt, U. (2009): Eignungsberatung für Lehramtsstudierende – Ein Pilotprojekt an der Universität Hamburg. Journal für Schulentwicklung 4/2009. McKinsey & Co. (2007). How the world’s best performing school systems come out on top, http://www.mckinsey.com/App_Media/Reports/SSO/ Worlds_School_Systems_Final.pdf.
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Verstehen als Menschenrecht versus Kapitalisierung lebenslangen Lernens oder: Lehre als Initiierung lebendiger Verhältnisse von Sache und Subjekt Lebenslängliches Lernen: Die Bildungsarchitektur der Verwertung des »ganzen« Menschen P ETER E ULER Lebenslanges Lernen ist ein allseits bekanntes Schlagwort geworden. Schlagwörter erkaufen ihre Evidenz durch Unterschlagung und basieren auf selbstverständlich scheinenden Herrschaftsbedingungen. So leuchtet heute jeder und jedem ein, dass man sich stets neu verkaufen und dafür eben die entsprechenden Kompetenzen erwerben oder zumindest erfolgreich vortäuschen muss. Ziel ist der »flexible Mensch, der, lebenslang lernbereit, seine kognitiven Fähigkeiten den sich rasch wandelnden Märkten zur Disposition stellt« (Liessmann 2006, 8). Bei dem Prozess, in dem sich das lebenslange Lernen zu einer existentiellen Selbstverständlichkeit in hochkapitalisierten Gesellschaften entwickelt, handelt es sich in Wahrheit um eine gewaltige Zäsur innerhalb des Bildungssystems, die sich seit Jahrzehnten vorbereitet. »Lifelong learning«, »lifelong education«, »education permanent« sind Begriffe, die schon seit den 60er Jahren die internationale Diskussion bestimmen. Der Europarat leitete in den 60er Jahren eine breite Diskussion ein (Conseil der Cooperation Culturelle), die UNESCO machte in den 70er Jahren das lebenslange Lernen zu ihrem zentralen Thema, im Jahr 1978 veröffentlichte der Club of Rome No Limits To Learning. Das Jahr 1996 machte der Europarat zum
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»Europäischen Jahr des lebensbegleitenden Lernens« und erklärte schließlich in der sogenannten Lissabonerklärung 2000, »eine Diskussion über eine umfassende Strategie zur Implementierung lebenslangen Lernens auf individueller und institutioneller Ebene in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens in Gang [zu] setzen« (zit. nach Vieser 2006, 3). Die drei großen Bologna-Ziele Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit und Mobilität (vgl. Pongratz 2009, 12; 17) erhalten mit der Kopenhagener Erklärung zum »lebenslangen Lernen« endgültig die ihnen entsprechende Bildungsarchitektur. Sowohl Struktur und Funktion der Bildungsinstitution als auch das, was weithin unter Bildung verstanden wird, unterliegen einer Zäsur, die durchaus mit der Einführung der Schulpflicht im 19. Jahrhundert in Europa vergleichbar ist. Bislang gingen nahezu alle Theorien der Bildung der letzten Jahrhunderte in unserem bürgerlich-kapitalistischen Kulturkreis davon aus, dass Pädagogik in der Erwachsenheit endet. Die von Herbart noch als Paradox verworfene Pädagogik für Erwachsene hält zwar mit der sogenannten Erwachsenenbildung und der ihr folgenden Weiterbildung historischen Einzug in das Verständnis pädagogischer Legitimität, aber dort, wo sie noch begründet und nicht einfach unüberlegt als Tatsache akzeptiert wurde (vgl. Ballauf 2008), bleibt die durch Herbart formulierte Befürchtung, dass eine Andragogik »allgemeine Unmündigkeit entstehen« ließe, deutlich präsent. Im geschichtlichen Gang der Erwachsenenbildung zur Weiterbildung und schließlich zum lebenslangen Lernen nach dem zweiten Weltkrieg in Europa werden die Herbartschen Bedenken quasi in Umkehrung Realität: Der gesellschaftliche Prozess produziert Unmündigkeit, weshalb für diese stets neu sich einstellende Unmündigkeit ein Lerngestell zu konstruieren ist: Lebenslängliches Lernen als permanente pädagogische Einrichtung, um den stets drohenden Verlust der Erwachsenheit temporär zu beheben. Obwohl dieser international organisierte lebenslängliche Lernzwang immer noch als »Bildungsprozess« betitelt wird, stößt er bei denjenigen, die noch nicht auf Linie gebracht wurden und sich auf einen reflektierteren Begriff von Bildung berufen, auf empörten Widerstand, eben weil sich dort an einem kastrierten Bildungsbegriff orientiert wird, dem die ihm eigene Potenz genommen wurde. Solche Versuche, den Bildungsbegriff in dieser Weise unfruchtbar zu machen, stoßen in unterschiedlich reflektierenden Perspektiven auf Kritik. In der Perspektive von Hannah Arendts Vita activa z.B. degeneriert diese Begriffsbestimmung zur Lern-Arbeit (vgl. Ruhloff
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2002), welche Handlungsdimensionen auf den Stoffwechsel elementarer Reproduktion reduziert, aus dem die Gattung sich historisch – schmerzhaft und inkonsequent – heraus entwickelte. In phänomenologischer Perspektive wird Bildung in dieser Fassung gerade um seine für ihn spezifische Erfahrungsdimension gebracht (vgl. Meyer-Drawe 2008, 15 u.a.). Es wird nämlich verkannt, dass im verordneten Selbstlernzwang mehr und anderes steckt, als die Selbstdeutung ahnt oder nahe legen möchte. Laut neomarxistischer Kritikperspektive wird tendenziell der ganze Mensch, nicht nur seine Arbeitskraft, also sowohl die äußere wie auch die innere Natur des Menschen (vgl. Euler 1989), der Kapitalisierung unterworfen, wodurch der subversive Überschuss von Bildung selbst wieder der fortschreitenden Kapitalisierung einverleibt werden soll. Die Bestrebungen in all diesen Initiativen und Programmen für eine neue Bildungsarchitektur des lebenslangen Lernens lassen Bildung zum »Fitnesstraining für die Selbstvermarktung« degenerieren (Hackl/Patzner 2005). Die gegenwärtig dominierende Form der Vergesellschaftung folgt der Expansion der Kommodifizierung und Privatisierung. Das dazu passende pädagogische Fachschlagwort ist »employability«. Subjektiv bedeutet es Beschäftigungsfähigkeit, objektiv die Realisierung der Bedingung ökonomischer Verwertbarkeit. Jüngst kommt eine neue Eskalationsstufe der Auslieferung der Menschen an den Arbeitsmarkt ans Licht der Öffentlichkeit: »Immer mehr Langzeitarbeitslose verschwinden aus der Arbeitslosenstatistik, weil die Arbeitsagenturen sie für ›dauerhaft geistig behindert‹ erklären. Weil sie als schwer vermittelbar gelten, werden sie in Behindertenwerkstätten abgeschoben.« (Monitor 2009). Ein ökonomisch definierter Begriff der »Behinderung« betritt die Bühne hemmungsloser Verwertung. Wer nicht in der Lage ist, sich zu vermarkten, ist behindert, krank. Da in den industrie-kapitalistischen Gesellschaften Produktion, Verwaltung und mediale Distribution der permanenten Revolutionierung unterliegen und eine davon unabhängige Reproduktionsbasis schwindet (erinnert sei an die Schrebergärten in den Arbeitersiedlungen), verlangt die Aufrechterhaltung von »employability« eine umfassende Architektur des lebenslangen Lernens, dessen Konzept sich zunächst verhältnismäßig harmlos in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte und verbreitete und nun in unterschiedlichen nationalen und internationalen Formen das gesamte Bildungssystem bestimmt. Tendenziell steht damit räumlich und zeitlich das ganze Leben unter der Bedingung, die Verwertungsfähigkeit zu
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aktualisieren und sich nach Maßgabe ökonomischer Schicksalsschläge biographischen updates zu unterziehen. Auch das Lernen ist damit im bislang nicht dagewesenen Ausmaß Gegenstand der Kapitalisierung geworden.
I M OECD-K URS VERSCHWINDET B ILDUNG HETERONOMEN S ELBSTLERNZWANG
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Viel zu lange und noch in weiten Teilen der Pädagogenschaft bis heute ist der politisch organisierte »Verkauf der Bildung« in seinen Konsequenzen für die inhaltliche pädagogische Arbeit ignoriert worden. »Die Kommodifizierung, also Verwarenförmigung, und Ökonomisierung von Bildung und Erziehung sind […] seit dem 1. Januar 1995 in vollem Gange.« (Lohmann 2004) Nahezu unbefragt vollzog sich ein Wechsel in der internationalen Zuständigkeit für Bildung. Warum ist ausgerechnet die OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) und nicht die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) international für das Bildungswesen zuständig? Die Zuständigkeit der internationalen Wirtschaftsorganisation der führenden Mächte dieser Welt für die Bildung in einer ständig wachsenden Zahl an Staaten ist weniger sachlich zwingend notwendig, als vielmehr durch die Ideologie des Neoliberalismus begründet; noch in keiner Studie der Welt konnte ein quantitativer Zusammenhang von Bildung und Wirtschaftsentwicklung nachgewiesen werden. Anders als vielerorts behauptet, bedeutet die Liberalisierung des Handels auch keineswegs »Entstaatlichung«. Es geht nicht um weniger Staat, das ist Propaganda. Vielmehr geht es dabei um eine veränderte Rolle des Staates (Lohmann 2004). Der Staat wird immer mehr zum Vollzugsorgan der Liberalisierung. Und hier ist noch eine kaum beachtete Veränderung zu betonen, nämlich die Rolle sogenannter postdemokratischer LobbyistenVerbände. WTO und GATS sind initiiert worden von einer »Handvoll USFinanzdienstleister, darunter American Express, City Bank Group« usw. In Europa waren es vor allem deutsche Wirtschaftsminister wie Graff Lambsdorff und Bangemann, die die Öffnung der Märkte vorantrieben. Unglaublich wirkmächtig ist heute auf europäischer Ebene der »European Round Table of Industrialists« (ERT), dem die größten Konzerne Europas (VW, Siemens, E.ON. Telekom, Bayer usw.) angehören, um einen verbesserten Dialog zwischen Industrie und Regierungen zu ermöglichen (Lohmann
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2004). Die neoliberale Doktrin wird von diesen kleinen Zirkeln im engen Verbund mit den Spitzen der Wirtschaft und des Finanzkapitals (dessen Bedeutung in den letzten beiden Jahrzehnten zur dominanten Größe anwuchs) wirkmächtig massenmedial in Szene gesetzt (vgl. Müller 2009), im Bildungsbereich mustergültig zu studieren an der Entstehung und Bedeutung des CHE, dem neoliberalen Trendsetter in der Bildungspolitik. Wir befinden uns in einem historischen Prozess, in dem die Suche nach Verwertungsmöglichkeiten von Kapital auch all diejenigen Bereiche bürgerlicher Kultur erfasst, die bislang aus unterschiedlichen Gründen davor geschützt wurden. Das GATS-Abkommen von 1995 ist daher DAS Dokument dieses Einschnitts. »Die Erosion der Reste dessen, was unterm Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ von sich aus selbst einst glauben wollte, es bestünde aus freien und gleichen Subjekten, schafft die besten Voraussetzungen für die Wiedereinführung von Abhängigkeitsordnungen, die man für längst überwunden hielt.« (Dath 2008, 20) So beschreibt Jean Ziegler, langjähriger UN Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Ernährung, in seinem Buch Das Imperium der Schande die barbarischen Wirkungen dieser Refeudalisierung durch die größten transkontinentalen Kapitalgesellschaften z.B. auf dem Lebensmittelbereich, genauer: die Verschärfung des Hungers durch die Kapitalisierung der Lebensmittel (vgl. Ziegler 2007, 213). Schon einer der Großen der Gründerzeit der BRD, Eugen Kogon – tief gläubiger Katholik, 7 Jahre Häftling in Buchenwald und dadurch Überlebender des Holocaust, der seit 1951 an der TH-Darmstadt Politikwissenschaften lehrte, Autor des Klassikers Der SS-Staat und Mitbegründer der CDU, von der er sich in der Zeit der Restauration kritisch abwandte und den der frühere TU-Präsident Johann-Dietrich Wörner mit den Worten würdigte: »Er hat das moralische Gewissen der Universität bis heute geprägt« – warnt aus systematischen Gründen: die »Bedarfsdeckung zum Nutzen des Menschen ist nicht Mittel zum Gewinnzweck«. Er kritisierte die neu kreierte Begrifflichkeit der sogenannten sozialen Marktwirtschaft und sprach vom »Sozialkapitalismus«, dessen Fehler eben genau darin liege, dass der »Kapitalprofit« als primärer Systemzweck erhalten bleibe (zit.n. Erb 2009, 366). Die Exzesse dieses Systems werden im beginnenden 21. Jahrhundert immer gravierender und offenkundiger und betreffen nun auch das Bildungssystem unmittelbar.
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Heydorn beschrieb in Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs von 1972 jenen Prozess, deren Effekt sich unter anderem in der Tendenz zeigt, »die Veränderungen im Bildungswesen der schnell fortschreitenden Revolutionierung der technischen Basis stets wieder anzupassen«. »Die Terminologie ist nordamerikanischen Ursprungs« und »zeigt die polit-ökonomische Abhängigkeit ebenso an wie die Internationalisierung konkurrenzkapitalistischer Vorstellungen« (Heydorn 2004, 69). Das amerikanische Bildungssystem gewinnt nach dem Zweiten Weltkrieg international an Bedeutung. Dem stehen in Europa aber traditionelle Widerstände im Weg, die einerseits noch einen substanziellen Bildungsbegriff verteidigen, andererseits an der hierarchischen Funktion von Bildung auch gegen Funktionsanforderungen festhalten. Der durch die OECD betriebene Prozess, der sowohl Pisa und Bildungsstandards durchdrückt als auch den sogenannten Bologna-Prozess und GATS-Prozess forciert, verändert aber auch, und zwar entscheidend und absichtsvoll, die Theorie der Pädagogik und Bildung. Es entsteht die »Erziehungswissenschaft der OECD« (Radtke 2003). Man könnte auch formulieren, dass das Ende der »Halbbildung« eingeläutet wird, weil deren Funktionalität schwindet (vgl. Gruschka 2001; Tischer 1990). Doch was da fällt, muss wohl noch ordentlich gestoßen werden! Daher der große finanzielle Aufwand und der umfängliche Theorieapparat der Qualitätssteuerung auf allen Ebenen des Bildungssystems, der sich als neue Theorie der Bildung ausgibt (vgl. Koch 2006; Gruschka 2006). Im Kern besteht die »neue Bildungstheorie« aus pädagogischer Psychologie und die Pädagogik wird so zu einer Managementtheorie. Dagegen wäre ja außer der Trauer um traditionelle Theoriebestände nichts Entscheidendes einzuwenden, wenn da nicht materialiter der Prozess, um den es in Erziehung und Bildung geht, gänzlich unangemessen zur Sprache käme und behandelt würde. Nicht von ungefähr erlebt der Begriff des Lernens dabei eine enorme Karriere. Zwar betiteln die OECD-Reformer allenthalben ihre Vorschläge, Konzepte und massenmediale Propaganda mit dem Wort »Bildung«, doch was sie dann unter der Großüberschrift verhandeln, ist die Optimierung von Lernprozessen, die sie für gesellschaftlich erforderlich halten. Das liegt wohl daran, dass der Lernbegriff in der Sprache der metaphysikfreien Metaphysik weniger belastet ist. Schirlbauer dazu: »Der Lernbegriff sträubt sich wenig bis gar nicht gegen das, was ihm inhaltlich angetan wird. Der (klassische) Bildungsbegriff schon« (Schirlbauer 2006, 30). Auch
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spurenfrei zu foltern will gelernt sein, würde aber trotzdem nicht unter den Bildungsbegriff subsumiert werden. Im Unterschied zum Lernbegriff bezeichnet Bildung ein substantielles Wechselverhältnis von Ich und Welt, in dem der Mensch sich Welt zueignet und in dieser Zueignung nicht nur auf sich selbst, sondern wiederum auch auf die Welt zurückwirkt, sie so auch mitbildet. Dieses Wechselverhältnis steht nun wiederum – und das ist konstitutiv für die Bildung – unter der Idee der sozialen Verbesserung, d.h. sie begreift den Zustand der menschlichen Angelegenheiten als einen im Sinne der Humanität verbesserungsnotwendigen und verbesserungsfähigen, wobei diese Verbesserung in die Kompetenz menschlichen Handelns fällt. Bildung ist also ihrer Struktur nach kritisch, da sie nicht einfach geschieht, sondern absichtsvoll zur Verbesserung durch und für die Menschen beitragen soll. Ihr Handlungsziel, wie es Kant formuliert, ist die Idee eines möglichen besseren Zustands des Menschengeschlechts. Wird etwas anderes als Ziel der Bildung ausgegeben, bleibt der Mensch unter seinen humanen Möglichkeiten, d.h. er nutzt die ihm gegebene Freiheit gegen dieselbe. Bildung ist also aus der aufklärerisch-idealistischen Tradition seinem Begriff nach reflexiv. Der reflexive Charakter der Bildung fügt sich nicht den kognitivistischen und individualistischen Verengungen des »neuen« Bildungsverständnisses. Bildung sprengt die kognitive Verengung, weil sie sich im Individuum keineswegs nur als »Kopf« vorfindet, sondern auch mit »Herz« und »Hand« und weil der Mensch als sinnliches Vernunftwesen sein Leid, wie auch sein Glück nie nur dem Verstand schuldet. Bildung sprengt aber auch die individualistische Verengung, weil sie die Verbindung des Individuums mit dem Allgemeinen zum Inhalt hat, wie sie auch seine historisch-kulturellen und gesellschaftlich-politischen Bedingungen zum Inhalt seiner Erkenntnis, seiner Urteile, seiner Empfindungen und seiner Handlungen werden lässt. Für Freiheit ist Bildung daher auch nur eine Bedingung, wenn sie, wie Kant das in seiner übernommenen Forderung »sapere aude« formuliert, mit dem Mut verbunden ist, sich zu äußern, weil eben Kritik im Interesse des Allgemeinen notwendig gegen Herrschaft gerichtet ist. Herrschaft ist nämlich die Form des Handelns, in dem die Freiheit Einzelner die Freiheit der anderen Menschen systematisch gegen deren Freiheitsmöglichkeit einsetzt. Der Lernbegriff ist fast selbstverständlich zu einem »psychologischen Thema« (Benner u.a. 1988) geworden. Dass die Thematik des Lernens sich aus Bildungsreflexionen herauslöste und dem Pädagogischen fremd wurde,
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belegt vor allem ein offenkundig gesteigertes Interesse an gesellschaftlicher Verfügung über die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen. Sozialtechnologische Vorstellungen spiegeln sowohl dieses Interesse wieder, als sie auch den Eindruck vermitteln, sie besser organisieren zu können. Diese Zuständigkeitsverschiebung weg von der Pädagogik hat aber auch mit einer Vernachlässigung des Themas Lernen durch diese selbst zu tun. Es ist hier nicht der Ort, dem näher nachzuforschen, doch ich möchte den Verdacht äußern, dass sich die Pädagogik zu sehr auf ihre sogenannte relative Autonomie besonnen hat, statt auf ihre materialen Probleme, wodurch sie versäumte, ihre notwendig widersprüchliche Vergesellschaftung zu erforschen und zu lehren.
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VON
Fast nirgendwo zeigt sich die Dominanz psychologischer Lerntheoreme im Dienste der rationellen Lernbewirtschaftung stärker als in der Ignoranz gegenüber der pädagogisch entscheidenden Differenz von Wissen und Verstehen. Das bedeutet nicht, dass die Pädagogik durchweg und insgesamt die Orientierung am Verstehen befolgt hätte, im Gegenteil, der Wunsch nach dem Nürnberger Trichter als heteronome Lernstrategie ist wohl mindestens implizit stark präsent im institutionalisierten Bildungsgeschäft, anders ist die schnelle Verbreitung der Ideologie des effizienten Lernens mit immer neuen Techniken bzw. Deutungen gar nicht zu erklären. Dieser Tendenz zur »Lernfabrik« (Ruhloff 2002) steht aber ein tradierter Verstehensbegriff pädagogischen Handelns gegenüber, der zumindest unterschwellig, oft aber auch ganz bewusst und emphatisch die pädagogische Kritik an der umstandlosen Verfügung über den Menschen befeuert. Kaum ein Name ist mit dieser Forderung so intensiv verbunden wie der Martin Wagenscheins. Er war nie mainstream, aber immer ein prominenter Außenseiter der Pädagogik. Gerade weil er das »Verstehen-Lehren« (Wagenschein 1999) ins Zentrum der Lehre der Naturwissenschaften stellte, stand er schräg zu gängigen Wissenschaftsvorstellungen, indem er die Hermeneutik auf die Naturwissenschaften anwandte, und war damit zugleich produktiver Unruheauslöser im pädagogischen Geschäft. Denn sowohl die positivistische Verkürzungen widerstrebende Vorstellung der Na-
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turwissenschaften als historisch gewordene und daher verstehbare, als auch die allgemeine Ausarbeitung des Verstehens als materiales Zentrum der Bildung ist der Sache nach gegen eine immer mächtigere Tendenz zur Instrumentalisierung des Bildungswesens gerichtet. Wesentlich für Wagenschein ist die Lehrorientierung an der subjektiven Erschließung der Unterrichtsgegenstände. Er plädiert daher für die Öffnung der Sache für das staunende, überraschte, irritierte, begeisterte, erschrockene Subjekt, das damit zugleich aber selbst seine Poren sinnlicher und geistiger Wahrnehmung dem Gegenstand zuwendet. Damit soll – Humboldt'sch gesprochen – eine lebendige Wechselbeziehung von Ich und Welt entstehen. Diese subjektive Erschließung verlangt material für Wagenschein, sich an drei Prinzipien zu halten, die er im Laufe seines lebenslangen pädagogischen Forschens herausgearbeitet hatte: dem des »Exemplarischen«, des »Genetischen« und des »Sokratischen« (Wagenschein 1999). Bildung bedeutet existierendes Wissen, Objektivationen der Kultur zu verstehen. Theorieprominenz erhielt Wagenschein während der Tübinger Konferenz 1951, initiiert u.a. von Carl Friedrich von Weizsäcker, Walter Gerlach und Georg Picht, auf welcher die pädagogisch berühmt gewordene »Tübinger Erklärung« verabschiedet wurde. In ihr wurde der Erstickung des geistigen Lebens durch »Stoffüberladung« und »Vielwisserei« der Kampf angesagt. Die Tübinger Erklärung forderte die »Durchdringung des Wesentlichen« der Fächer und Stoffe und »Verständnis« statt »Gedächtnisleistungen«. Als Mittel wurde das »Exemplarische Prinzip« empfohlen, ein Begriff, der seitdem untrennbar mit dem Namen Wagenschein verbunden bleiben sollte. »Exemplarisch« bedeutet, an einer wichtigen Thematik des Fachs das für das Fach Spezifische erfahr- und erkennbar werden zu lassen, wobei zumeist ein erstaunliches Phänomen den Ausgangspunkt bildet. Erstaunlich kann aber ein Phänomen nur sein, wenn es Erwartungen nicht gemäß ist, ihnen widerspricht, also in diesem Prozess schon ein Bedenken vorliegt. Dadurch entsteht Interesse an der Sache (die keineswegs mit dem Fach identisch ist bzw. sein muss), weil sich ein Raum auftun kann für Erstaunen, Suchen, Deuten und Befragen. Dem Exemplarischen muss aber eine ihm entsprechende Art der Gesprächsbehandlung des Gesehenen und Beobachteten korrespondieren, die Wagenschein mit dem Begriff des »Sokratischen« belegt. Denn nur im Gespräch über die bewegende Sache kann der subjektive Aufschluss derselben erfolgen. Dabei ist dieses Reden nicht ir-
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gendein Reden, sondern ist bestimmt durch das kritische Befragen der beanspruchten Behauptungen, eben ein argumentatives Prüfen der Geltungsansprüche. Doch wie ist in der Sache der Zusammenhang des Exemplarischen und Sokratischen vorzustellen? Wagenschein erkennt im Laufe seiner Theorieentwicklung den Kern des Verstehens im »genetischen Prinzip«, weil Verstehen nur im eigenen geistigen (Nach-)Vollzug des Zustandekommens der wissenschaftlichen Prinzipien, Begriffe und Theorien gründet. Nur insofern handelt es sich um individuell-subjektive (Wieder-)Entdeckung. Dazu gehört sowohl das Herum- und Ausprobieren, die Erfahrung von Sackgassen wie auch die lustvolle Bestätigung des Vermuteten, die gelungene Rekonstruktion, die plötzliche Einsicht. So schrieb Wagenschein einmal: »Wenn man nach einer einzigen Bezeichnung sucht, ist es mit dem Wort ›Genetisch‹ am ehesten getroffen«, da Pädagogik »mit dem Werden des Menschen« zu tun hat, im Unterricht speziell mit dem »Werden des Wissens in ihm« (Wagenschein 1999, 75). Verstehen vollzieht sich durch die ReVerlebendigung der Sachen unter dem Primat des wahrnehmenden, denkenden und handelnden Subjekts. Die Resultate der Wissenschaften sind objektiv unverständlich, weil ihr Werden in den systematisierten Resultaten verschwindet, ihre Geltung und ihre Anwendung unabhängig vom Verstehen gesichert sind. Wenn es also Ziel der Lehre ist, nicht bloß Wissen anzueignen und korrekt anzuwenden, weil das nur Einübung in »gedankenloses Denken« (Felix Klein, zit. nach Bulthaup 1973, 14) wäre, sondern das Ziel darin besteht, die im Resultat eingeschlossenen geistigen Implikationen zu verstehen und aus dem Verständnis heraus beurteilen zu können, dann ist die Geschichte der Wissenschaften für die Pädagogik in all ihren Lehrdimensionen objektiv bedeutsam. Dass man pädagogisch Entscheidendes aus der Geschichte des Fachs für die Didaktik lernen kann und soll, hat Wagenschein schon mit Bezug auf den Mathematiker O. Toeplitz (1881-1940) erkannt. Toeplitz hat in seinem Buch Die Entwicklung der Infinitesimalrechnung – eine Einleitung in die Infinitesimalrechnung nach der genetischen Methode folgendes formuliert: »Nicht um die Geschichte handelt es sich, sondern um die Genesis […]. Unerschöpflich kann man so aus der Historie für die didaktische Methode lernen.« (Zit. nach Wagenschein 1999, 90) Die Geschichte ist für die
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Lehre interessant, weil an ihr die Genese der Sache erschließbar ist und das auf drei Ebenen: 1.
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als Gegenstand der Lehrerbildung, denn die Geschichte der Unterrichtsgegenstände ist objektiv die Bedingung, den eigenen Unterrichtsgegenstand über seinen Resultatscharakter hinaus erfasst zu haben. als Mittel, die Vorstellungsprobleme von Schülern besser zu erkennen und ihre Äußerungen besser zu verstehen. als Unterrichtsgegenstand, denn die Einsicht in systematisch wichtige Aspekte eines Fachs sind auch durch und an historischen Entwicklungen möglich, wobei das auch in übertragener Weise erfolgen kann.
Deutlich ist im gesamten Werk von Wagenschein, dass seine Theorie aus der Kritik falscher Praxis erwächst. Besonders auf den Physikunterricht bezogen konstatiert Wagenschein eine verfrühte Einführung wissenschaftlicher Begriffe und eine überstürzte Mathematisierung. Diese wiederum haben zur Folge, dass einer antidemokratischen Spaltung in, wie er sie nennt, »Experten« und »Eingeschüchterte« durch den Unterricht zugearbeitet und einer »gespaltenen Weltbegegnung« der Weg bereitet wird. Spätere empirische Studien haben bislang Wagenscheins Kritik immer neu bestätigt, weil die Reformansätze immer wieder an einer grundlegenden Orientierung am Verstehen vorbei gehen. Die Fachsystematik hat nicht den Lehrgang vorzugeben, sondern das System der Wissenschaft. Die Systematik des Fachs soll am Ende des Verstehens einsehbar und kritisierbar geworden sein. Wagenschein formulierte einmal, dass wir keine »Schienenfahrer« erziehen wollen, sondern »Schienenleger« (Wagenschein 1976, 198). Nicht die optischen Gesetze stehen für ihn also am Anfang, sondern die Lichtphänomene, nicht das Fallgesetz samt Stoppuhr, sondern die Beobachtung von Bewegung, die dann auch zur Frage nach der Messung führen kann. Horst Rumpf, der wohl zu den besten Kennern des Wagenscheinschen Werks gehört, sagt jüngst in einem Interview mit Donata Elschenbroich, dass es im Gegensatz zum schlechten Unterricht nicht darum geht, dass das »Subjekt [...] überwunden werde[n]«, sondern dass man es, gerade auch in den Naturwissenschaften »erst noch zu kultivieren« habe (Elschenbroich 2005, 193).
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Wagenscheins Kritik gewann trotz enormer Widerstände in Teilen der fortschrittsideologisch verfangenen Fachverbände und der organisierten Gymnasiallehrerschaft steigend an Prominenz. Dazu trug auch bei, dass führende Physiker, wie z.B. C. Fr. von Weizsäcker oder Max Planck, seine Analyse, sowie seine daraus abgeleitete Pädagogik der Naturwissenschaften begrüßten. Die »Verletzung der […] Verstehenskraft« (Wagenschein 1976, 167), der irrationale Glaube an die Wissenschaft oder die gleichfalls irrationale Wissenschaftsfeindlichkeit sind keine lässlichen pädagogischen Sünden, sondern ein gefährlicher demokratischer Skandal. Statt um Wissen hat es um Wissenschaftsverständigkeit (vgl. Bierbaum u.a. 2007, 75ff) zu gehen. Verstehen ist daher beileibe kein pädagogischer Luxus, sondern »Verstehen ist Menschenrecht« (Wagenschein 1970). Dem »Verstehen als Menschenrecht« korrespondiert bei Wagenschein ein zweites Prinzip: »Rettet die Phänomene« (Wagenschein 1983, 108). Das erste Prinzip formuliert die Subjektorientierung, das zweite die Objektorientierung im Lehrprozess. Beide Forderungen markieren die Brennpunkte der pädagogischen Ellipse des Lehrens: Sache und Subjekt.
»S ACHE « UND »S UBJEKT « SIND DIE B RENNPUNKTE PÄDAGOGISCHER L EHRE : W IDER DIE REPRESSIVE G LEICHSETZUNG VON V ERMITTLUNG UND A NEIGNUNG Opfer eines an Effizienzsteigerung und Mitteloptimierung ausgerichteten Lehrens ist zentral das Verstehen. Verstehen meint eine subjektive Zueignung der Sache, weshalb eine pädagogische Praxis, die Verstehen zum Ziel hat, Raum für sensible Wahrnehmung, gedankliche Bewältigung, Interpretation und reflexive Einschätzung benötigt. Erstaunliche Phänomene oder Problemlagen dienen der Initiierung eines möglichen Verstehensprozesses. Die pädagogische Tätigkeit des Lehrens geht absichtsvoll von einem Subjekt aus, bezweckt aber die Initiierung einer lebendigen Wechselwirkung des sinnlichen und denkenden Menschen mit der Sache. Diese Wechselwirkung zwischen Sache und Subjekt ist das Wesen der Bildung, ihre Reflexion der Inhalt von Bildungstheorie. Sache und Subjekt sind die Brennpunkte der Lehrellipse, um den die Unterrichtsbewegung sich drehen sollte (vgl. Gruschka 2005). Die Aufgabe von Lehre ist so wenig die, Kulturleistungen
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einzutrichtern, wie die, diesen gegenüber gleichgültig einem vermeintlich freien, beliebigen Machenlassen den Raum zu öffnen. Sache und Subjekt sind verschieden, aber in pädagogischer Perspektive in engster Wechselbeziehung aufeinander bezogen. Das lebendige Verhältnis von beiden setzt in der LehrerInnenbildung wie im Lehrarrangement sowohl Respekt vor der Sache, wie auch Respekt vor den Subjekten voraus. Beides widerspricht einer heteronomen Lernoptimierung, wie psychologisierend oder hirnfreundlich sie sich auch ausweist. Fast alle neueren Bildungsprogramme sind demgegenüber aber konzeptionell verfahrenstechnisch angelegt, an Effizienz ausgerichtet. Sie zehren von Vorstellungen technischer Schematismen, wie vermeintlich optimales Lehren vonstatten geht, egal, was gelehrt und egal, wer belehrt werden soll. Der gesellschaftliche Druck auf das, was die herrschenden Kräfte Bildung nennen, was sich aber als Anleitung zur fremdgesteuerten Selbstbestimmung erweist, um im erbittert geführten »Weltwirtschaftskrieg« (Mühlmann 2009) zu siegen, zerstört nahezu planmäßig die elementaren pädagogischen Voraussetzungen von Bildung. Das genau ist der Unterschied zwischen einer Wissensgesellschaft und einer Bildungsgesellschaft, auf den viele Kritiker hinweisen. Doch in der herrschenden Umsteuerungspolitik verbirgt sich eine Ignoranz gegenüber der Eigensinnigkeit von Sache und Subjekt, die zur Deutung provoziert. In der Eigenheit von Sache und Subjekt steckt nämlich das subversive Moment, das Gernot Koneffke als zentral für den institutionalisierten Bildungsprozess beschrieb. Die Integration in die hochkapitalistische Gesellschaft sollte durch Bildung gelingen, wodurch der Widerspruch von Integration und Subversion entsteht, auf den Koneffke mit aller Deutlichkeit als das Wesen bürgerlicher Bildung hinwies (Koneffke 1969). Fast scheint es aber so, als hätten die neuen Ingenieure des Lehrens und Lernens Angst davor, Sache und Subjekt nicht in Schach halten zu können. Denn auch die im Rumpfbegriff Wissensgesellschaft zum Ausdruck kommende Tendenz, dass die Gesellschaft immer mehr Bildung braucht, um als kapitalistische erfolgreich zu bleiben, vermehrt die Angst vor den Folgen dessen, was da aus dem Bauche der allseits geförderten Wissensgesellschaft als gar nicht beabsichtigtes Wesen zum Vorschein kommen möge. Dass reibungslose Integration im Sinne der Unterordnung unter den bestehenden Irrsinn die Folge sei, ist unwahrscheinlich. Das gibt allerdings auch noch keineswegs zu naiver pädagogischer Hoffnung Anlass; alle möglichen Reaktionen sind denkbar.
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Die Annahme ist allerdings berechtigt, denn allen pädagogisch Handelnden ist bekannt, dass von beiden Seiten etwas dazwischen kommen kann, was der pädagogischen Absicht zuwider läuft, und sei die Vorbereitung noch so gründlich. Jedem Lehrenden ist die Situation wohl vertraut, dass die zu Belehrenden sich spröde verhalten, stören, verweigern, anderes machen und die Sache gar nicht »klappt« wie geplant, statt dessen neue und unerwartete Seiten zeigt. Doch in einem strengen pädagogischen Sinne können Sache und Subjekt gar nicht dazwischen kommen, nicht stören, weil die pädagogisch ausgerichtete Lehre geradezu auf das »Dazwischenkommen« angelegt ist. »Inter-Esse« soll das Verbindende sein, weil doch das Subjekt gerade durch die Faszination der Sache, durch die Anregung von ihr und durch die Auseinandersetzung mit ihr Subjekt wird, und die Sache ihrerseits als subjektiv erfahrbare der Inhalt subjektiver Begegnung ist. Adorno hat in der Theorie der Halbbildung diese Bildungsrelation von Sache und Subjekt daher auch feinfühlig »Zueignung« (Adorno 1980, 94) genannt. Die Sache kann sich für das Subjekt nur in der Perspektive und der Haltung der Zueignung öffnen, wodurch die Sache kein verschlossenes Ding ist und das Subjekt kein neutraler Beobachter. »Zu-Eignung« bewahrt im Unterschied zu »An-Eignung« den Respekt vor dem Eigenen beider Seiten im Bildungsprozess, wodurch dieser überhaupt erst im Sinne einer freien, regen und allgemeinen Wechselwirkung möglich wird. Nicht das raubende Besitzen ist bestimmend, sondern die Erfahrung von Sachen und die geistige Einsicht in die Tiefenstruktur der Sachen, die wiederum zur sinnlich-geistigen Horizonterweiterung des Subjekts führt. Diese kulturelle Bereicherung bedeutet sowohl Teilhabe am Allgemeinen als auch Erweiterung des Allgemeinen. Bildung wird durch Teilhabe mehr und nicht weniger! Die unter dem Diktat der Verwertung stehenden und heute gängigen Lernprozesse verlangen dagegen eine »Aneignung«. Und viel zu häufig, schon durch strukturelle Bedingungen, die nicht zuletzt in falschen Vorstellungen von Lehre und Bildung bestehen, fehlen den Lernprozessen dann Qualitäten der »Zueignung« bzw. kommen ihnen abhanden. Dabei verkommt sowohl die Sache als auch das Subjekt zum bloßen Mittel eines heteronomen Prozesses. Gegen diesen Trend stellen sich auch pädagogische Rezeptionen neostrukturalistischer bzw. sogenannter postmoderner Theorien, die dadurch, dass sie das Unbestimmte auch gegen eindimensionale Verbesserungsabsichten als eine notwendige Bedingung für humane Verhältnisse zur Gel-
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tung bringen, auch für den Eigensinn von Sach- und Subjektbeziehung Raum schaffen und einen verfeinerten und sensibleren Blick auf diese vernachlässigte Wechselbeziehung werfen. Die Reflexion auf die lebendige Beziehung von Sache und Subjekt im am Verstehen orientierten Lehren basiert auf der Differenz von Aneignung und Zueignung, der in der Didaktik oft wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Genauer: Die Didaktik strickt am Mythos herzustellender, gelingender Vermittlung mehr mit, als sie aufgrund ihres pädagogischen Pathos wahrhaben will – sie strickt an diesem Mythos sogar gerade wegen ihres Pathos mit. Im Kern gründet dieser Mangel an selbstkritischer Theorie und Praxis darin, die »Differenz zwischen der Aneignungslogik und der Vermittlungslogik« nicht anzuerkennen (Gruschka 2002, 89). Diese Anerkennung liefe auf die Anerkennung und Bestimmung der Grenze von Didaktik hinaus, die dann wesentlich wäre für das didaktische Forschen und Handeln. Ein solches Eingeständnis widerspricht aber auch der einstimmig von der KMK beschlossenen Umsteuerung auf Bildungsstandards. In Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung. Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb hat Andreas Gruschka dem Betrieb eine profunde Didaktik als Kritik der Didaktik entgegengestellt. Er zeigt, dass die Didaktik in ihren besten Entwürfen, berauscht durch die Idee von Bildung, die substanzielle Differenz von Vermittlung und Aneignung ausblendet. Didaktik bekommt und gibt sich auch selbst dadurch den Charakter eines »ungedeckten Versprechens« (Gruschka 1997), so, als ob die Absicht schon das Gelingen impliziert. Doch diese Gleichsetzung ist repressiv. Die gute Absicht der Vermittlung, die doch das Gelingen des Aneignungsprozesses begünstigen und ermöglichen soll, verselbständigt sich im Vermittlungsbetrieb, so dass didaktische Konstrukte sogar den subjektiven Zugang zur Sache blockieren können bzw. durch ein Lernen in und für die didaktische Kunstwelt substituieren. Nicht, dass das Verstehen keine Hilfe benötigte, aber die didaktischen Hilfskonstrukte müssen stets unter der Perspektive geprüft werden, ob sie auch tatsächlich dem Subjekt Wege zur Sache eröffnen oder doch nur zu einer didaktischen Kunstwelt. Gruschka unterscheidet daher scharf zwischen dem Unterrichtsgegenstand und der Sache. Das unterstellt aber wiederum keineswegs, die Sache könne umstandslos zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden. Die didaktische Anstrengung besteht statt dessen in Hilfen zur Sacherschließung, wodurch das, was der Gegenstand des Unterrichts ist, den Weg zur Sache beschreitbar machen soll, wie weit
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auch immer das im Unterricht gelingen kann, aber die Perspektive darf nicht verschlossen werden. Repressiv ist die Gleichsetzung von Aneignungs- und Vermittlungslogik in einem doppelten Sinne: In der Wissensvermittlung ist nämlich sowohl die Sachseite als auch die Subjektseite unterbestimmt. Rumpf, Kranich und Buck haben in einem Band mit dem Titel Welche Art von Wissen braucht der Lehrer? Einsprüche gegen die »landläufige Praxis« dieser doppelten Unterbestimmung formuliert. Sie ordnen ihre Überlegungen der schon 1900 mit Simmel einsetzenden Kritik an der immer schrofferen Diskrepanz zwischen »der objektiv gewordenen und der subjektiven Kultur« (Simmel zit.n. Rumpf u.a. 2000, 7) zu. Sie erkennen als Grundübel der landläufigen LehrerInnenbildung in Theorie und Praxis das unbearbeitete Verhältnis von Unterrichtsfachwissenschaft und Bildungswissenschaft. Stünde dieses Verhältnis als Thema im Zentrum des Studiums, könnte gängigen Fehlvorstellungen systematisch entgegen gearbeitet werden. In den gängigen Fehlvorstellungen stehen nämlich das Unterrichtsfach und die allgemein-pädagogischen Ansprüche in keinem inneren, sondern in einem äußerlichen, eben in der Sache unvermittelten Verhältnis. In jüngster Zeit wird dieser Mangel durch neue Leittheorien oder durch Methodenversprechungen überdeckt. Leittheorien sind hier zum einen der Konstruktivismus, für den die Sache tendenziell im Subjekt aufgeht, wobei die Eigenständigkeit der Sache als Substanz für die Subjektbildung systematisch getilgt ist, zum anderen werden postmoderne Theorien angezapft, die vermeintlich den Bestimmungsanspruch durch Unbestimmtheitsnachweise negieren und insofern ebenfalls eine Subjekt-Sach-Relation als Kern der Zueignungsproblematik nicht zulassen. Praktisch dominant scheint mir aber die Hypertrophie von Methoden zu sein, die in theoretisch dürftigen Annahmen gründen und schlichte Umsetzungsphantasien befriedigen. Solche Vorstellungen bestimmen in weitem Umfang auch bildungspolitische Diskussionen über Lehre und Schule und sind auch in der Lehrerschaft, nicht zuletzt auch aus frustrierenden Reformerfahrungen heraus, stark verbreitet. Eine Mischung aus diesen Beiden, Versatzstücke sogenannter moderner Theorien und amtlich beanspruchte Praxiskompetenz (die selten bis nie nachgewiesen wird!) bestimmen auch weite Teile der zweiten Ausbildungsphase. Populäre Phrasen in der gegenwärtigen Bildungsreform, wie die einer »Lernerorientierung« oder die »vom Input zum Output«, verraten theore-
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tisch die gänzliche Unterbestimmtheit der Thematik und sind praktisch wohl nur aus widerstandsloser Hilflosigkeit zu erklären. Demgegenüber gründet gerade eine pädagogisch qualifizierte Unterrichtsarbeit in der intensiven und umfassenden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Unterrichtsfach und pädagogischen Ansprüchen. Für eine verstehensorientierte Sacherschließung reicht eben das bloße Resultatswissen des Fachs nicht aus. Im Gegenteil bewirkt die bloße Wissensvermittlung als Resultatsweitergabe – mit oder ohne psychomethodischen Versüßungen – eine Fehlvorstellung des Gegenstandes und verhindert Sachbezug wie auch daran stattfindende Subjektentwicklung. Zentral ist daher das Wissen über das (Unterrichtsfach-)Wissen. Dieses reflektierte Wissen umfasst unterschiedliche Dimensionen, wie das Wissen über die Entstehung, die Genesis des Wissens, Wissen über die Art des Wissens (nature of science), Perspektivkonzentrationen und Perspektivausblendungen, Alternativen, sowie Fehl- und Parallelentwicklungen, Verwicklungen und Verstrickungen in kulturelle und politische Zusammenhänge und Interessenlagen. Zueignung und Verstehen durch Unterrichtung zu ermöglichen, verlangt all dies auf Seiten der Lehrenden und zwar für drei Dimensionen des Lehrhandelns: 1. als Voraussetzung der Lehrenden zur pädagogischen Einschätzung der zu lehrenden Sache, 2. zur Identifizierung von und Sensibilisierung für Vorstellungsschwierigkeiten beim Verstehen und 3. zur Gestaltung der Lehrsituation. Das Wissen über das Wissen und eine Erkenntnisgeschichte als Zueignungsgeschichte bilden die Bedingungen eines pädagogischen Lehrverständnisses. Deshalb kritisiert Rumpf in der LehrerInnenbildung auch den »niedergeworfenen Widerstand der Welt« (Rumpf u.a. 2000, 19), weil ohne die Ecken und Kanten der Phänomene und Gegenstände die Erkenntnis zu Instant-Wissen verkommt, weil das Wissen über den Gegenstand schlechtidealistisch mit ihm identisch scheint, im Grunde dadurch aber auch gar keine Zueignungsanstrengung existieren dürfte. In der landläufigen Praxis des Lernens von Wissen in seiner unverstehbaren, von seinen Wurzeln abgeschnittenen Resultatsform heißt Wissen im Jargon der Lernsklaverei nicht zu Unrecht dann auch Stoff. Stoff verleugnet die »Annäherungsarbeit« an die Sache und zugleich damit die Wege zum Wissen (ebd., 33). »Das von Annäherungs- und Entstehungsprozessen gereinigte Wissen mag ja für den innerwissenschaftlichen Fortschritt sehr geeignet sein – für Lehrer in sogenannten Allgemeinbildenden Schulen ist es jener Züge entledigt,
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die seine Entdeckung und Realisierung zu einem herausfordernden Abenteuer werden lassen könnten. In der Sprache Adornos handelt es sich hierbei um einen Verdinglichungsprozess.« (Ebd., 34) Das Wissen von der Welt erleidet entscheidende Verluste. So verlieren für die Subjekte »die Dinge […] ihren Überschuss über die Begriffe« (Meyer-Drawe 1990, 90), sie verlieren, was an ihnen mehr ist als bloß das, was der Begriff von ihnen erfasst. Ein davon unberührtes Lehren arbeitet mit an der »Weltnichtung« (vgl. Meyer-Drawe 1999). Zugleich entwickeln die Subjekte damit von sich ein falsches, ein durch den Fetisch der Naturbeherrschung quasi omnipotent verzerrtes Bild von Autonomie, so als ob sie frei seien, wenn sie alle und alles, eben auch sich selbst, beherrschten. Durch diese reduzierten Lehr-Lern-Vorstellungen, samt den Reformen, die von ihnen bestimmt sind, verlieren die Sachen an Reichtum, an Fraglichkeit, an Eigenheit. In eins damit erscheint der Mensch nur noch als das »reduzierte Wissenschaftssubjekt«, bestimmt durch »die verkürzte Wahrnehmung« (Rumpf u.a. 2000, 26), dessen Schema ein Beherrschungsmodell ist. Sache und Subjekt sind in der Perspektive bloßen Wissens nur noch ein Schatten ihrer selbst, sie können gar nicht mehr in ein lebendiges Verhältnis treten, sie sind pädagogisch impotent. Dass Schülerinnen und Schüler Interessantes dann vor allem außerhalb der Schule im Bereich kundenfreundlichen Unterhaltungskonsums vermuten und suchen, versteht sich fast von selbst (vgl. Ziehe 2005). Entfremdetes Lernen in der Schule ist damit der ideale Nährboden für die Kulturindustrie. Ein weiterer dramatischer Effekt in der viel beschworenen Wissensgesellschaft ist die Aufwertung der Bedeutung wissenschaftlichen Wissens bei gleichzeitigem Unverständnis desselben. Rumpf verweist auf Georg Christoph Lichtenberg und die Koryphäe der Biochemie Erwin Charaff, die beide vor den Folgen eines Wissens warnen, das von sich nichts mehr weiß und sich dadurch über- und unterschätzt. Unterlassung von Wissenschaftsverständigkeit bewirkt nach Wagenschein genauso Wissenschaftsgläubigkeit wie Wissenschaftsfeindlichkeit. »Nachdenkliche Aufmerksamkeit« (Rumpf u.a. 2000) bleibt damit genauso auf der Strecke, wie der »Prüfgeist« (Lichtenberg). Wissenschaft wird dann zur Heteronomie. »Heute ist Wissenschaftlichkeit […] zu einer neuen Gestalt der Heteronomie geworden.« (Adorno 1963, 48) Doch pädagogisch stellt sich die Frage, ob die immer stärker betriebene Umsteuerung von Prinzipien der Bildungsschule zu Lernfabriken (vgl.
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Ruhloff 2002) die gewünschten Effekte hat, haben kann, oder ob sich hier nicht, wie schon in früheren Kämpfen in und um die institutionalisierte Bildung auch neue Problemkonstellationen herausbilden bzw. entstehen. Zunächst darf man nicht auf die Totalitätsansprüche der Reformer hereinfallen. Denn es bleibt bei der Einsicht von Martin Buber: »Das einzige, was dem Menschen zum Verhängnis werden kann, ist der Glaube an das Verhängnis: er hält die Bewegung der Umkehr nieder.« (Buber 1979, 60) Ihren Grund hat diese Hoffnung auch in der objektiven Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Situation und der Bildungsverhältnisse, wie sie Heydorn und Koneffke als in bürgerlicher Bildung grundsätzlich angelegt identifizierten. Die hier nachgewiesene Differenz von Wissen und Verstehen, von Vermittlungs- und Aneignungslogik ist nämlich die didaktische Objektivierung des Widerspruchs von Bildung und Herrschaft im Bildungssystem selbst. Das meint nicht, dass im Sinne eines historischen Mechanismus auf einen Automatismus gesetzt werden könnte. Wohl aber verschärft sich mit den extensiv und intensiv gesteigerten Zwängen der globalen Kapitalisierung der Bildungsdruck auf die Menschen. Die Widersprüche des lebenslangen Bildungssystems, das sowohl die umspannt, die noch Aussichten auf Erhalt und Aufstieg meinen zu haben, als auch die, die nicht mehr mitkommen oder mitkommen wollen, erhöht den Integrationsanspruch (vgl. hierzu Dammer 2008), der zu neuen Widerspruchslagen des Kampfes um Bildung im Bildungssystem führt. Er ist nur als explizit politischer zu führen, weil die beanspruchte Autonomie zugleich domestiziert werden soll (vgl. Koneffke 2009). Politisch heißt dabei, dass das Verhältnis von Subjekt und Sache im Sinne des Selbst- und Fremdverstehens im Zentrum der Auseinandersetzung stehen sollte, damit nicht moralisch und intellektuell unterbestimmte Theoreme die bildungspolitische Debatte bestimmen.
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Menschenbilder und Konzepte des Lehrens T HOMAS G ÖRNITZ Im Aufruf zur Tagung Lehren bildet heißt es: »Der tief greifende Umbau von Schule und Universität verkehrt die Bildungsinstitutionen in berufspragmatisch ausgerichtete Lernanstalten.« Und weiter: »Wenn der Lehrer zum ›Coach‹, zum ›Moderator‹, zum ›Lernhelfer‹, ›Lernarrangeur‹ usw. wird, dann wird er im Prozess von Lehren und Lernen zu einem gleichsam apparativ-instrumentellen Faktor, der einen hohen Grad an Messbarkeit und Berechenbarkeit garantiert.«
Ich möchte dieses Zitat zum Anlass nehmen, um zu verdeutlichen, dass und wie ein negativer Prozess auch auf den Bereich des Lehrens und Lernens übergreift, der sich in anderen Bereichen des Lebens bereits fest etabliert hat. Der Prozess, den ich meine, hat eine äußere, offensichtliche und eine tiefere, weniger offensichtliche Seite. Der offensichtliche Aspekt betrifft die zunehmende und immer umfassendere Ökonomisierung fast aller Bereiche des Lebens der Menschen. Hierzu wurde und wird viel Kluges gesagt und geschrieben und es gibt viele kompetente Wissenschaftler, die diesen Prozess gründlich untersuchen. Das Dahinterliegende und weniger Offensichtliche hängt mit dem durch die Wissenschaften, vor allem durch die Naturwissenschaften entwickelten Menschenbild zusammen und damit auch mit meinem eigenen Fach, der Physik. Für die Naturwissenschaften, die sich immer mehr an mathematisch formulierbaren Gesetzen orientieren, ist es selbstverständlich, sich auf Zahlen, d.h. auf Messbares, zu konzentrieren. Mit dem Geld ist eine ebenfalls messbare Größe in die Beziehungen der Menschen getreten, die für eine
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arbeitsteilige Gesellschaft mit all ihren Vorzügen unausweichlich ist. Wird aber diese messbare Größe als das einzige Kriterium für alles verwendet, bedeutet dies eine unerhörte Einschränkung der Realität. Diese Beschränkung der Realität auf solcherart Messbares und Berechenbares schränkt das Bild vom Menschen mit seinen vielfältigen Facetten auf eine Struktur ein, die zwar gegenwärtig häufig als wissenschaftlich begründet dargestellt wird, deren gravierende Mängel jedoch auch aus Sicht der Naturwissenschaften nicht zu übersehen sind. Mit diesem mechanistisch-naturalistischen Menschenbild, von dem seine Verfechter postulieren, dass es sich auf die Naturwissenschaften stützt und dass es daher als alternativlos anzusehen sei, möchte ich mich im Folgenden auseinandersetzen, und dabei immer wieder auch den Bogen zu Lehren und Lernen schlagen.
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NATURALISTISCHE M ENSCHENBILD , SEINE Q UELLEN UND E NTWICKLUNGEN In den extrem unsicheren Zeiten des dreißigjährigen Krieges, in dem beispielsweise ein Drittel der deutschen Bevölkerung ausgerottet worden war, entwickelte Descartes eine Philosophie der absoluten Sicherheit. Sein Ausgangspunkt war der methodische Zweifel, der es ihm ermöglichte, an allem zu zweifeln – nicht aber daran, dass er zweifelte. Diese wichtige Erkenntnis, dass nämlich das Einzige, dass uns unvermittelt und unmittelbar gewiss ist, unsere gegenwärtigen, bewussten Gedanken sind, ist heute nach meiner Wahrnehmung weithin ins Vergessen geraten. Damit ist natürlich keineswegs gemeint, dass diese Gedanken irgendetwas Zutreffendes über den Körper oder die Umwelt des Menschen ausdrücken müssten – darüber sind beliebige Irrtümer möglich, nicht aber darüber, dass diese bewussten Gedanken bewusst sind. Wenn der selbstgestellte Erklärungs- und Reduktionsauftrag der Naturwissenschaften von diesen ernst genommen werden soll, so muss man sich dabei auch verdeutlichen, dass Erklären unter Anderem ein Zurückführen von Unbekanntem auf Bekanntes, von Unverstandenem auf Verstandenes bedeutet. Der in den Naturwissenschaften noch bis in die Gegenwart verfolgte Weg, der von den Atomen über die Elementarteilchen zu den Strings führen soll, und der schwierig zu Verstehendes auf Unverstandenes zurückführt, kann somit einem möglichen Erklärungsauftrag nicht gerecht werden. Bei den Strings
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sind bisher weder die Gleichungen noch irgendwelche Lösungen in Sicht. Was aber an anderer Stelle gezeigt wird (vgl. Görnitz/Görnitz 2006; 2008), ist die Möglichkeit einer Zurückführung auf eine abstrakte Quanteninformation – Protyposis –, die dem Menschen zumindest in der speziellen Form seiner bewussten Gedanken unmittelbar bekannt ist. Descartes war der Meinung, dass es neben der »denkenden Substanz« noch etwas gibt, über das ebenfalls absolut sichere Erkenntnis gewonnen werden kann, nämlich all das, was den Gesetzen der Mathematik gehorcht. Dieses war damals im Wesentlichen Geometrie, und so ist die »zweite Substanz« durch Ausgedehntheit gekennzeichnet. Auch dabei wird heute oft übersehen, dass sich Descartes für die Annahme dieser Gewissheit der Mathematik auf die Güte Gottes berufen hat, die der Mathematik erst ihren Gewissheitscharakter verleihen könne. Welche – gewiss unbewusste – Ahnung in Bezug auf den Gewissheitscharakter der Mathematik damit bei Descartes deutlich wird, wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert erkennbar. In den dreißiger Jahren zeigte Gödel, dass die Suche nach einer vollständigen Gewissheit und einer bewiesenen Widerspruchsfreiheit selbst für die Mathematik nicht möglich ist. Dass es sie dann erst recht nicht für die übrigen Wissenschaften geben kann, liegt auf der Hand. Nach Newtons Entwicklung der Mechanik begann ein beispiellos erfolgreicher Siegeszug der mathematischen Naturbeschreibung, der die von Descartes postulierte Gewissheit zu einer machtförmigen Praxis werden ließ. Ein Höhepunkt in dieser Entwicklung war die rechnerische Vorhersage der Existenz eines bis dahin unbekannten Planeten. An dieser Geschichte ist interessant, dass man zuerst eine Abweichung der Uranusbahn von den theoretischen Vorhersagen beobachtete und man dann nicht die Theorie als falsifiziert, sondern, da diese als viel zu schön und zu stimmig galt, die Beobachtungen als unvollständig ansah. Diese Annahme ließ sich durch die dann möglich gewordene Entdeckung des Neptuns, der diese Ablenkung des Uranus bewirkt, als zutreffend ausweisen. Der unerhörte Erfolg der mathematischen Naturwissenschaften führte dazu, dass man die wissenschaftliche Aufmerksamkeit immer mehr auf die »ausgedehnte Substanz«, die Materie, konzentrierte, und dass die »denkende Substanz« immer mehr aus dem wissenschaftlichen Blickfeld geriet. Mit der Etablierung der Newtonschen Mechanik und ihren mathematischen Strukturen griff eine bedeutsame Vorstellung auch in den Bereich des philosophischen Denkens über – die Vorstellung des Determinismus. New-
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ton selbst, der einen großen Teil seiner Tätigkeit auch theologischen und alchimistischen Fragestellungen gewidmet hat, stimmte dabei keineswegs mit seinen Nachfolgern überein. Am klarsten ist dieses von einem der größten mathematischen Physiker, Pierre-Simon Laplace, an der Wende zum 19. Jahrhundert mit einer Figur dargestellt worden, die heute als »Laplacescher Dämon« bekannt ist. Für die in dieser Figur veranschaulichte überragende Intelligenz genügt die Kenntnis der Bewegungsgrößen der Atome des Universums zu einem einzigen Zeitpunkt, damit die gesamte Vergangenheit und die gesamte Zukunft wie ein fertiger Film vor ihrem geistigen Auge ablaufen kann. Die mathematische Struktur, die der Determinismus aufgreift, bedeutet also, dass es überhaupt nichts Zufälliges in der gesamten kosmischen und irdischen Entwicklung gibt. Wenn das so wahr wäre – was es, wie wir heute wissen, zum Glück nicht ist – wäre alles, was wir als zufällig einschätzen oder empfinden, allein unserer Unkenntnis geschuldet, hätte aber keinen objektiven Hintergrund. Im Rahmen der klassischen Physik hat eine Naturbeschreibung Gültigkeit erlangt, die die ganze Welt in ihrer vollen zeitlichen und räumlichen Erstreckung wie einen fertig abgedrehten Film betrachtet, in dem lediglich der kenntnislose Zuschauer von den Ereignissen überrascht wird. Das berühmte Zitat von Einstein: »Der Alte würfelt nicht« lässt dieses besonders deutlich werden. Die damit bei Einstein sichtbar werdende grundlegende Ablehnung der Quantentheorie ist folgerichtig mit seiner Ablehnung der Vorstellung eines freien Willens verbunden. Die dahinterstehende Haltung formuliert Einstein wie folgt: »An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit. Schopenhauers Ausspruch: ›Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will‹ hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten des Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz. Dieses Bewusstsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl und macht, dass wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch besonders dem Humor sein Recht lässt.« (Einstein 1953, 7)
Bekanntlich hat sich Einstein sehr intensiv um den Frieden und um andere politische Fragen gekümmert und damit Verantwortungsbewusstsein vorge-
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lebt. Aber wenn man die Konsequenzen des Determinismus so klar formuliert, wie es die mathematische Struktur erfordert, so kann man sagen, dass man mit ihnen frei ist, zu tun und zu lassen, was einem in den Sinn kommt, da man auf Grund der (vorgeblichen) naturgesetzlichen Zusammenhänge determiniert und damit frei von jeder Verantwortung ist. Im Gegensatz zu vielen publizierten Meinungen erlaubt es nämlich die naturgesetzliche deterministische Struktur der klassischen Physik nicht, diesem gesetzmäßigen Ablauf wenigstens gelegentlich auszuweichen. Wenn trotzdem eine solche Durchbrechung der determinierten Entwicklung behauptet wird, ohne zu erwähnen, dass ein solches Durchbrechen der Fakten-Determiniertheit erst mit der Berücksichtigung von quantenphysikalischen Strukturen möglich wird, hat man von der Naturwissenschaft etwas sehr Wesentliches noch nicht verstanden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Erkenntnis noch lebendig, dass die geistigen Phänomene aus der klassischen Physik nicht abgeleitet werden können und auch mit deren Vorstellungen von Materie nicht zu vereinbaren sind. In seiner berühmten Rede auf der Tagung der Naturforscher und Ärzte 1872 in Leipzig hat Du Bois-Reymond formuliert: »Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammensein Bewußtsein entstehen könne.« (Du Bois-Reymond, 1912, 458)
Die Lösung dieses Problems wird in den Naturwissenschaften erst ein Jahrhundert später sichtbar, als sich die Möglichkeit abzeichnet, Quanteninformation wissenschaftlich zu untersuchen. Trotzdem gibt es auch in dieser Zeit für viele Naturwissenschaftler vielfach nur noch die Atome und Zellen, und das Bewusstsein wird vorgeblich zu einer ihrer vielfältigen Funktionen. Dieses Modell der »Funktion« lässt nicht deutlich werden, dass eine Funktion an das Gerät gebunden ist, zu dem sie gehört, während die Information jedoch sehr wohl ihren Träger wechseln kann, ohne dabei ihre Bedeutung ändern zu müssen. Und wenn ich den Computer verwenden will, um einen Nagel in die Wand zu schlagen, so taugt dies ebenso wenig dazu wie das Verwenden eines Hammers bei einer Berechnung.
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Noch bedeutsamer ist, dass Information auch rückbezüglich sein kann. Man könnte sogar sagen, dass Information über Information, also Codierung, das Wesen bedeutungsvoller Information ausmacht. Im Alltag wird der Begriff »Information« zumeist als identisch mit »Bedeutung« verstanden, aber aus der Physik kann man lernen, dass Information zuerst einmal als bedeutungsfrei begriffen werden muss und dass eine mögliche Bedeutung erst durch eine Decodierung im Empfänger erzeugt wird. Diese Bedeutung wird demgemäß auch wesentlich subjektive Anteile aus diesem Decodierungsprozess enthalten. »Bedeutung« kann daher nicht objektivierbar sein – und damit auch kein Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Theorie. Eine grundlegende Eigenschaft des Bewusstseins, das physikalisch gesehen als Information bezeichnet werden kann, besteht darin, dass bei ihm die Reflexivität besonders deutlich zutage tritt, da ich mein Denken überdenken kann. Für eine »Funktion« gilt dies keineswegs. Das Öffnen des Öffnens eines Dosenöffners wird wohl nicht einmal als Lyrikversuch gelten können. An dem Gesagten wird deutlich, dass heute nicht einmal mehr das Problembewusstsein vorhanden zu sein scheint, dass bei Du Bois-Reymond noch kristallklar formuliert wird. Ich hoffe, dass in den letzten Absätzen etwas davon deutlich geworden ist, wie und weshalb in weiten Bereichen der Naturwissenschaften eine schleichende Wandlung der Vorstellung vom Menschen als eines lebendigen, kreativen und letztlich nicht determinierten Wesens in die einer komplexen Maschine stattgefunden hat. Deutlich und im Rahmen der klassischen Physik vollkommen zutreffend hat dies G. Roth um die Jahrtausendwende so formuliert: »Die Entthronung des Menschen als freies denkendes Wesen – das ist der Endpunkt, den wir erreichen. [...] Nach Kopernikus, Darwin und Freud erleben wir hier den letzten großen Angriff auf unser traditionelles Bild vom Menschen.« (Roth 2000, 72) Für mich als Quantenphysiker ist es interessant zu sehen, wie diese unhaltbare These in der Zwischenzeit immer mehr relativiert wird, allerdings nicht mit Hilfe naturwissenschaftlicher, sondern soziologischer Argumente und Konstrukte. Der Prozess dieser Entmenschlichung des Menschen ist nach meiner Wahrnehmung weitgehend unbewusst abgelaufen. Dies auch deshalb, weil die tatsächlichen Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Strukturen, die man den philosophischen und soziologischen Aussagen anfänglich zugrunde gelegt hatte, nicht in ihren mathematischen Konsequenzen nachvollzo-
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gen worden sind. Die bewussten Motive der Protagonisten hingegen, die auch publiziert sind, lassen von diesem unbewussten Untergrund wenig erahnen. Es wird von der Möglichkeit von Freiheit gesprochen, die angeblich mit Determinismus vereinbar sein soll. Da wird Determinismus im Alltagssinne – nämlich als »ziemlich festgelegt« – wie bei Freud gebraucht und damit werden die Konsequenzen zugleich so dargestellt, dass sie in Anpassung an die Wirklichkeit und im Gegensatz zur wissenschaftlichen Basis, auf die sie sich vorgeblich stützen, den Erfahrungen der Menschen teilweise entsprechen. Die unbewusst bleibenden zugrunde liegenden Strukturen, die auf den wissenschaftlichen Determinismus rekurrieren, können dann umso tatkräftiger ihre Wirkungen entfalten. Im Rahmen von philosophischen Untersuchungen wird man als Naturwissenschaftler oft davon überrascht, dass die lediglich verbalen Erläuterungen zu klaren mathematischen Strukturen ausgewertet werden, und dann, auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung, aus diesen Erläuterungen Schlussfolgerungen gezogen werden, die den mathematischen Strukturen teilweise widersprechen. Wenn also nach diesem Menschenbild der Mensch eine komplexe Maschine ist, so ist es sinnvoll und notwendig, diese auf Effizienz hin zu entwickeln. Dies bedeutet auch, den Ausbildungs- bzw. Trainingsvorgang sehr rational anzugehen und seine Effizienz nicht durch Nebensächliches (wie z.B. Kunst, Musik oder gar Religiöses) mindern zu lassen. Natürlich fragt man sich, wie man mit dieser Karikatur des Menschen umgehen soll. Ich denke, dass zuerst grundsätzliche Überlegungen über naturgesetzliche Zusammenhänge nötig sind, und dann eine Darlegung einer neuen wissenschaftlichen Sicht auf Welt und Mensch erfolgen muss, die sich aus den viel weitergehenden Erkenntnissen der Quantentheorie ergibt.
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Um in einer sich verändernden Umwelt überleben zu können, entwickeln Lebewesen Regeln, die es ihnen erlauben, aus früheren Situationen für spätere zu lernen, um ihnen damit besser begegnen zu können. Regeln haben daher nur einen Sinn in Bezug auf Mehreres und relativ Gleiches. Wenn sich Regeln verschärfen und sogar in eine mathematische Gestalt bringen lassen, sprechen wir von Naturgesetzen. Sie sollen immer für alles Gleiche gelten. Diese geforderte Gleichheit kann einmal dadurch erreicht
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werden, dass Situationen durch experimentelle Eingriffe gleich gemacht werden. Wenn man beispielsweise aus einem Rohr die Luft abpumpt, dann fällt in ihm eine Feder tatsächlich genauso schnell wie ein Stein. Häufiger verfährt man aber nach der Regel: »Nachts sind alle Katzen grau.« Man »kehrt die Unterschiede unter den Teppich«, dann wird vieles Ähnliche tatsächlich gleich erscheinen. Je mehr auf diese Weise gleich gemacht wird, desto exaktere Gesetze werden sich formulieren lassen. Am weitesten vorangeschritten erweist sich hierbei die klassische Physik. Ihre Gesetze sind so exakt, dass sie, wie beschrieben, es möglich machen, eine vollständig determinierte zeitliche Entwicklung der Fakten zu postulieren. Was in der klassischen Physik an zentraler Stelle der Weltbeschreibung »unter den Teppich gekehrt« wird, ist die allgemein bekannte Tatsache, dass oftmals ein Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile; der Teile, aus denen es zusammengesetzt ist oder in die es zerlegt werden kann – was nicht immer dasselbe ist. Die klassische Physik reduziert die Wirklichkeit auf Objekte und auf Kräfte, die zwischen diesen wirken. Die Kräfte bewegen die Objekte gegeneinander, lassen aber zumindest die grundlegenden, fundamentalen Objekte unverändert. Diese Form der Weltbeschreibung, die von den antiken Atomisten bis zur Mechanik und Elektrodynamik sehr erfolgreich war, kam am Ende des 19. Jahrhunderts an ihre Grenzen. Den Physikern ist dies schmerzlich bewusst geworden, als ihre Experimente und Theorien so genau geworden waren, dass man – erstmals natürlich im Bereich der Atome, wo große Genauigkeit die Voraussetzung jeglicher Empirie ist – an der Erkenntnis nicht mehr vorbeigehen konnte, dass ein »Lego-Weltbild«, basierend auf der Annahme letzter, fundamentaler Teilchen, unter der Wirkung der bekannten Kräfte und deren determinierten Verhaltens, nicht weiter funktionierte. Zu diesen Erfahrungen gehört, dass bis heute bei vielen Physikern noch immer eine große Abwehr gegen die Quantentheorie zu bemerken ist. Sie befinden sich damit in guter Gesellschaft, sind doch viele der bedeutenden Entdeckungen in der Quantentheorie mit der Absicht eingeleitet worden, diese Theorie zu widerlegen. Aber auch unter den Entdeckern und Entwicklern der Quantentheorie wird eine emotionale Ablehnung deutlich, die gegen die Beseitigung eines Weltbildes des Fakten-Determinismus durch die Wirkung der Quantentheorie gerichtet ist. So schreibt Max Planck: »die Quantenhypothese, ein fremdartiger bedrohlicher Sprengkörper« im Be-
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reich der Physik, Albert Einstein spricht von »spukhafter« Fernwirkung. Erwin Schrödinger bedauert, wenn die »verdammte Quantenspringerei« wieder anfängt, dann tue es ihm leid, seine Gleichung gefunden zu haben. Am klarsten formuliert es Richard Feynman, der nach der »Vätergeneration der Quantenphysik« die bedeutsamsten Weiterentwicklungen dieser Theorie formuliert hat: »Man muß erkennen, daß dies [d.h. die Quantentheorie] eine Einschränkung unseres früheren Ideals, die Natur zu verstehen, ist. Es mag ein Schritt zurück sein, doch hat niemand eine Möglichkeit gesehen, ihn zu vermeiden.« (Feynman u.a. 1971,14) Die Kränkung, die darin gesehen werden kann, nicht mehr als Stellvertreter des Laplaceschen Dämons die Geschicke der Welt – zumindest theoretisch – zu überblicken, sondern durch die Quantentheorie auf die Offenheit und Unbestimmtheit der Zukunft verwiesen zu sein, wird hier für jederman sichtbar. Eine wichtige Folgerung aus der Quantenstruktur, die wir in der Natur hinter einem oft scheinbar vorhandenen Determinismus praktisch überall entdecken können, ist die, dass für die zeitliche Entwicklung der meisten Systeme keine determinierten Prognosen aus der Gegenwart für die Zukunft erstellt werden können. Der Grund dafür ist nicht die oft kolportierte Unberechenbarkeit chaotischer Systeme, sondern die dahinter stehende Offenheit der Zukunft, die – gemäß der Quantentheorie auch theoretisch – heute noch nicht festliegt. Die Quantentheorie hat offenbart, dass sich höchstens Wahrscheinlichkeiten in deterministischer Weise verändern, Fakten in der Regel aber nicht. Für künftige Fakten kann es ein echtes zufälliges Verhalten geben. Diese Struktur macht deutlich, dass die Gesetze der klassischen Physik mit ihrem Fakten-Determinismus nur genähert gelten, also oft ziemlich gut sind, aber keineswegs eine Basis für philosophische Grundsätze liefern können. Je genauer also ein System arbeiten muss, desto öfter wird eine eingreifende Nachsteuerung nötig sein. Damit dürfen die als Naturgesetze erkannten Regelhaftigkeiten nicht mehr so interpretiert werden, als ob sie jetzt bereits – zumindest theoretisch – die Zukunft eindeutig festlegen würden.
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BEDEUTET DIE Q UANTENTHEORIE FÜR EIN MODERNES M ENSCHENBILD
Mit den geschilderten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wird auch dem bisher so weithin propagierten naturalistischen Menschenbild eine wesentliche Stütze entzogen. Ein strenger Determinismus, der seine eigenen Thesen ernst nehmen würde, ist mit praktisch jeder Vorstellung von Freiheit unvereinbar. Wenn ein Determinismus der Fakten tatsächlich gültig wäre, wie immer noch gelegentlich behauptet wird, und nicht nur ein Determinismus der Möglichkeiten, was durch die Quantentheorie gedeckt wird, hätte dies natürlich sehr weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen als eines zu freien Entscheidungen fähigen Wesens. Was hat die Quantentheorie tatsächlich dem Menschen zu sagen? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich zuerst mit einigen Missverständnissen über diese Theorie auseinandersetzen. Das erste Missverständnis besteht in der Vorstellung, Quantentheorie sei lediglich eine Theorie der Mikrophysik, eine Physik des Kleinen. Vielmehr ist es zutreffend, dass die Quantentheorie eine universelle Gültigkeit besitzt, keine Grenze ihres Anwendungsbereiches ist bisher entdeckt worden. Damit verbunden ist das zweite Missverständnis, nämlich die schwer zu überwindende Ansicht, Quantentheorie habe etwas mit Unschärfe zu tun. Unschärfe als abwertender Begriff legt nahe, etwas Besseres, Schärferes suchen zu müssen, und diese Ansicht verhindert die Erkenntnis, dass die Quantentheorie die beste und genaueste Beschreibung der Welt liefert, die wir kennen. Allerdings ist diese Genauigkeit bei »großen Systemen« oftmals überflüssig, sie können mit der weniger genauen und dafür exakteren klassischen Physik zumeist hinreichend gut beschrieben werden. Dass die Quantentheorie keine esoterische Theorie für einige Spezialisten ist, wird leicht daran erkennbar, dass mit ihren Anwendungen etwa ein Drittel des Bruttosozialproduktes der Industrieländer erwirtschaftet wird. Nur mit der Quantentheorie ist die Herstellung all der modernen Werkstoffe möglich geworden, ohne die beispielsweise keine Handys, Computer, Laser oder Solarzellen gefertigt werden könnten. Wie oben bereits erwähnt, beinhaltet die zentrale Struktur der Quantentheorie die mathematische Erfassung der Alltagsweisheit, dass ein Ganzes oftmals mehr ist als die Summe seiner Teile. Aus dieser henadischen, auf
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Einheit zielenden Struktur der Quantentheorie lassen sich weitere Folgerungen ableiten (vgl. z.B. Görnitz 1999). Beziehungsstrukturen, wie sie der Quantentheorie zugrunde liegen, sind mehrwertig, sie erlauben verschiedene Zusammenhänge, sind also mit Möglichkeiten verbunden. Daher ist eine weitere Charakterisierung der Quantentheorie als einer Physik der Möglichkeiten zutreffend. Die Quantentheorie selbst kennt keine Fakten, daher ist es nachvollziehbar, dass für eine gute wissenschaftliche Erfassung der Realität eine »Dynamische Schichtenstruktur« von quantischer und klassischer Physik geboten ist (vgl. Görnitz/Görnitz 2006). Während die Quantentheorie echte Möglichkeiten beschreibt, also eine offene Zukunft, sind im Gegensatz dazu Möglichkeiten, die im Rahmen der klassischen Physik abgehandelt werden, der Struktur der Theorie gemäß, lediglich diejenigen Fakten, die dem Beobachter unbekannt sind. Für eine philosophische Interpretation der Welt ist es von höchster Bedeutsamkeit, dass die Quantentheorie eine Reihe von Unterscheidungen relativiert, die im Rahmen der Alltagsanschauung und der klassischen Physik unüberbrückbar erscheinen müssen. Die Quantentheorie hebt die Unterscheidung von Materie und Bewegung auf, dies ist die Bedeutung der berühmtesten Formel der Physik: E=mc². Auch der Unterschied zwischen Kraft und Stoff wird von ihr auf den marginalen Unterschied von halb- und ganzzahligem Spin reduziert, beides wird in den großen Beschleunigern von Forschungszentren wie CERN oder DESY tagtäglich ineinander überführt. Ein und dasselbe Quantenobjekt kann je nach Kontext wie eine ausgebreitete Welle oder wie ein lokalisiertes Teilchen erscheinen. Der Tunneleffekt, der damit zusammenhängt, zeigt, dass eine der heiligen Kühe der gegenwärtigen Biologie und Hirnforschung, der »Energiesatz«, nur in einer recht guten Näherung gilt, keineswegs aber so absolut ist, wie gelegentlich behauptet wird. Philosophisch bedeutsam ist auch, dass mit der Quantentheorie der Unterschied von »Fülle und Leere« relativiert wird. Die existierende Materie kann als eine lediglich etwas andere Anordnung dessen angesehen werden, was wir in der Quantentheorie als Vakuum bezeichnen. So kann Werner Heisenberg, der Entdecker der Quantenmechanik, sagen »das Vakuum ist das Ganze« (zit. nach mündl. Mitteilung von C. F. v. Weizsäcker). Diese Aussagen sind für Lehren und Lernen wohl nicht so bedeutsam wie zwei weitere. Erstens relativiert die Quantentheorie auch die Unter-
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scheidung zwischen Objekt und Eigenschaft. Ein Quantenteilchen ist ein Objekt im Rahmen der Quantenmechanik, und eine Eigenschaft eines Quantenfeldes im Rahmen der Quantenfeldtheorie. Besonders Quanteninformation kann in vielen Situationen wie eine Eigenschaft ihres Trägers erscheinen, in anderen wiederum wie ein eigenständiges Objekt. Dies ist wichtig für eine Bewertung des »Realitätsgrades« der bewussten und unbewussten psychischen Inhalte und damit auch für ein besseres Verstehen der Lernvorgänge (vgl. auch Görnitz/Görnitz 2005). Für das Verstehen des Menschen zentral wird die von der Quantentheorie eröffnete Erkenntnis, dass sich die Einsteinsche Äquivalenz von Materie und Bewegung erweitern lässt auf die Äquivalenz dieser beiden mit einer abstrakten, bedeutungsfreien Quanteninformation, die wegen ihrer Bedeutungsfreiheit mit dem Begriff »Protyposis« gekennzeichnet wird (Görnitz/Görnitz 2006; 2008). Materie kann damit als »kondensierte, verfestigte« Protyposis, als eine spezielle Form von Quanteninformation betrachtet werden, an der allerdings auf den ersten Blick der Informationscharakter ebensowenig erkennbar ist wie die Tatsache, dass die Materie gemäß E=mc² als »reine Bewegung« interpretiert werden kann. Die Wechselwirkung des Geistigen bzw. des Psychischen mit der Materie ist dann nicht mehr eine Wechselwirkung zwischen verschiedenen Substanzen, und die Einwirkungen der Psyche auf den Körper ist kein unverstehbares Rätsel mehr. Das Problem der Wirkung der Psyche, des Geistigen auf das Materielle muss demgemäß auch nicht mehr durch ein Leugnen der Realität des Geistigen einer Scheinlösung zugeführt werden. Wenn also im Zusammenhang von Lehren und Lernen von »Begehren« und »Liebe« gesprochen wird, so ist dies kein lyrisches Beiwerk, sondern verweist auf die zentrale Verbindung von Emotionen einerseits und der Aufnahme neuen Wissens andererseits. Und »eine Figurierung des Dritten« ist in erster Linie diejenige Quanteninformation, die Lehrende und Lernende zugleich zum Träger haben. Der Austausch von Information im sozialen Kontakt geschieht gemäß der Quantentheorie nicht allein durch das Verbale, was damit etwas Faktisches ist, sondern auch durch nonverbale und atmosphärische Einflüsse, deren Möglichkeitscharakter offensichtlich ist, und darüber hinaus sind auch gemeinsame ausgedehnte Zustände von Quanteninformation möglich, die Lehrende und Lernende zugleich zum Träger haben und die in eher soziologisch orientierten Texten dann als »das Dritte« bezeichnet werden.
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Auch im eigenen Leben wird man immer wieder die Erfahrung machen, dass das Wahrnehmen von Möglichkeiten ebenso wichtig ist wie das Wissen von Fakten. Nicht durch eine faktische Mitteilung der Schule sondern in einem Gespräch mit meiner jüngeren Schwester erfuhr ich nebenbei, dass in Leipzig eine Mathematikolympiade stattfindet. Ich sah es als Möglichkeit, meine mathematischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und war in deren Folge dann als DDR-Sieger der erste Deutsche, der bei einer internationalen Mathematikolympiade einen Preis erringen konnte. Im Gegensatz zu den scheinbaren Fakten der DDR-Wirklichkeit sah ich später mit meiner Frau nach der Konferenz von Helsinki die Möglichkeit, die DDR mit unseren Kindern legal zu verlassen, die sich dann nach einigen Jahren der Tätigkeit als Totengräber auch faktisch realisierte. Wenn im Umfeld der Theorien des Lernens künftig die durch die Quantentheorie auch naturwissenschaftlich offenbarte »Wirkmächtigkeit des Möglichen« deutlicher gesehen wird, kann man sich auch wieder verstärkt Wagenscheins Vorstellungen zuwenden, dass eine Konzentration des Lernens auf Fakten in Form von auswendig gelernten Formeln am Ziel des Lehrens vorbeigeht, nämlich grundlegende Zusammenhänge zu verstehen und die damit verbundene Freude zu ermöglichen. Er hatte Weizsäckers Idee, dass die speziellen Formeln, die die Spezialisten später benötigen, von diesen leicht erlernt werden können, während sie von allen anderen Menschen nach kurzer Zeit vergessen werden, in die Pädagogik übersetzt. Das angeborene Interesse am Verstehen der Welt und die Neugier auf diese, mit der jeder Mensch auf die Welt kommt, lassen die Einsicht in strukturelle Zusammenhänge, die man sich am besten in eigener Erfahrung erarbeitet hat, zu einer freudvollen Erfahrung werden. Und insofern sie unser Weltverständnis beeinflussen, bleiben sie auch erhalten.
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KANN ES WEITERGEHEN ?
An dieser Stelle reicht der Platz nicht aus, um ausführlich zu erläutern, wie mit der Protyposis ein neues und realistisches Menschenbild naturwissenschaftlich erzeugt wird, in dem beispielsweise auch die Möglichkeit freier Entscheidungen einen Platz hat. Freie Entscheidungen erfordern allerdings aus naturwissenschaftlichen Gründen eine ausreichende Zeit für Reflexion und Abwägung, denn unter Stress sind freie Entscheidungen nicht möglich,
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und sie werden natürlich in einem gewissen Rahmen durch unbewusste Einflüsse aus der Kindheit und durch die Verinnerlichung sozialer Beziehungen beeinflusst (vgl. Görnitz/Görnitz 2008). Da unsere Gedanken vor allem Quanteninformation und weniger klassische Information sind, folgt daraus eine sehr enge Beziehung zum Körper, der als ihr Träger fungiert. Diese Beziehungen zwischen Leib und Seele werden als Affekte und Emotionen sichtbar. In frühen sozialen Kontakten lernt der Mensch im Prozess der Mentalisierung, die Emotionen sprachlich zu benennen und damit auch, sich selbst zu verstehen (vgl. Fonagy et al. 2004). Der emotionale Aspekt bleibt auch später für alle Lernvorgänge wichtig, ebenso die realen sozialen Kontakte von Lehrenden und Lernenden, die durch technische Hilfsmittel nur höchst unvollkommen simuliert werden können. Wohl jederman weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig ein Lehrender ist, der mit Zuneigung zu den Lernenden und mit Liebe zur Sache eine affektiv positiv besetzte Lernumgebung schaffen kann, in der Kreativität und eigenständiges Arbeiten möglich wird. Der Quantencharakter des Bewusstseins ermöglicht, auch naturwissenschaftlich zu verstehen, dass »Immaterielles«, was oftmals unter den Begriffen »Werte« oder »Normen« zusammengefasst wird und das auch Anerkennung und Lob beinhaltet, nicht weniger bedeutsam ist, als die materiellen Rahmenbedingungen, in denen ein Lernen stattfindet. Die Quanteninformation des Bewusstseins lässt auch verstehen, wie Kreativität möglich ist und was diese befördert oder behindert. Menschen sind eben gerade keine Computer. Diese können nur ohne Selbstreflexion und nur gemäß der klassischen Logik arbeiten. In der Quantentheorie hingegen gilt diese Logik nur eingeschränkt. Wie auch oft im täglichen Leben, so gilt auch in ihr das »tertium non datur« nicht, welches aussagt, dass es zwischen »Ja« und »Nein« keine Zwischenstufen gibt, denn der Sinn von Möglichkeit besteht schließlich gerade darin, dass es möglich sein muss, dass einander logisch Ausschließendes und seine Zwischenstufen zugleich existieren können. Wie oft im Leben, so gilt auch in der Quantentheorie, dass bei der Umwandlung von Möglichkeiten in Fakten zuvor Mögliches danach unmöglich wird und dass zugleich zuvor Unmögliches danach möglich wird. Nur dann, wenn nicht vorzeitig ein Faktisch-Werden erzwungen wird, lässt sich eine Vielfalt der Möglichkeiten entfalten, aus denen dann auch Unvorhergesehenes, Neues, Kreatives hervorgehen kann. Eine Weltsicht, die für die-
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sen Teil der Wirklichkeit wenig Offenheit zeigt, wird notwendigerweise kreative Lernprozesse auf eine kurze und effiziente Ausbildung zurückstutzen. Sowohl die Tiefe als auch die Breite der Bildung, auf die die heranwachsende Generation ein Anrecht hat, wird damit verunmöglicht. Die Quantentheorie zeigt auf, wie bereits in der unbelebten Natur, in deren vielfältigen Beziehungsgeflechten aus Ausgangsteilen etwas völlig Neues entstehen kann, was mit den Ausgangsstoffen keinerlei gemeinsame Eigenschaften mehr besitzt. Man denke beispielsweise an die Verbindung der beiden Gase Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser mit seinen völlig anderen Eigenschaften und daran, dass erst die Quantentheorie es ermöglicht, diesen Vorgang tatsächlich rechnerisch nachzuvollziehen. Es liegt auf der Hand, dass die noch viel komplexeren kreativen Prozesse beim Erwerb neuen Wissens keineswegs modelliert und verstanden werden können, wenn man versucht, sie lediglich mit jenen naturwissenschaftlichen Theorien zu beschreiben, von denen klar ist, dass sie als überholt gelten müssen, weil sie unzureichend sind. Die Strukturen der klassischen Physik sind vielmehr ergänzungsbedürftig und dürfen nicht als alleingültige letzte Wahrheit missverstanden werden. Zukünftig wird kreativen Entwicklungen in Lernprozessen, dass zeigt uns die Naturwissenschaft, ein wesentlich breiterer Raum eingeräumt werden müssen, als dies heute unter dem Zwang leerer Kassen propagiert wird. Wenn die Menschen länger arbeitsfähig und oft auch arbeitswillig sind und zugleich die verfügbare Erwerbsarbeit eher ab- als zunimmt, andererseits im globalen Wettbewerb Bildung der wichtigste Entwicklungsfaktor ist, dann ist das Eintauschen von Qualität und Kreativität gegen bloße Kürze und damit Verengung nicht lange durchzuhalten. Wollen wir hoffen, dass Politiker, denen es wenig ausmacht, einige Bildungsjahrgänge von Akademikern »zu verschrotten« – wie es eine Bildungsministerin einmal formuliert hatte – in Zukunft selbst dauerhaft zum alten Eisen gehören werden. Ich hoffe, dass deutlich werden konnte, dass ein Teil des gegenwärtigen Dilemmas in Bezug auf Lehren und Lernen aus einer ungerechtfertigten Verallgemeinerung von bestimmten wissenschaftlichen Einsichten und einem ihnen entsprechenden Menschenbild herrührt, deren totalitärer Anspruch sich als nicht mehr gerechtfertigt erweist. Da sich neue Erkenntnisse, wenn sie der Wahrheit näher kommen als ihre Antagonisten, auch gegen Widerstände durchzusetzen pflegen, muss
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man die Situation des Lehrens und Lernens zwar durchaus als ernst, aber nicht als hoffnungslos ansehen.
L ITERATUR Du Bois-Reymond, E. (1912): Über die Grenzen des Naturerkennens. In der zweiten allgemeinen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872 gehaltener Vortrag. In: Ders.: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden, Bd 1. Leipzig. Einstein, A. (1953): Mein Weltbild. Hg. v. Selig, C. Zürich u.a. Feynman, R. P./Leighton, R. B./Sands, M. (1971): The Feynman Lectures on Physics Vol. III. Quantum mechanics. deutsch-englisch. München/Wien. Fonagy, P./Gergely, G./Jurist, E. L./Target, M. (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart. Görnitz, Th. (1999): Quanten sind anders. Heidelberg. Görnitz, Th./Görnitz, B. (2005a): Das Bild des Menschen im Lichte der Quantentheorie. In: Buchholz, M.B./Gödde, G. (Hg.): Das Unbewusste in aktuellen Diskursen Bd. 2. Anschlüsse. Gießen, 720-745. Görnitz, Th./Görnitz, B. (2005b): Das Unbewusste aus Sicht einer QuantenPsycho-Physik – ein theoretischer Entwurf. In: Buchholz, M.B./Gödde, G. (Hg.): Das Unbewusste in aktuellen Diskursen, Bd. 2. Anschlüsse. Gießen, 757–804. Görnitz, Th./Görnitz, B. (2006 [2002]): Der kreative Kosmos. Heidelberg. Görnitz, Th./Görnitz, B. (2008): Die Evolution des Geistigen. Göttingen. Roth, G. (2000): »Es geht ans Eingemachte«. In: Spektrum der Wissenschaft 10/2000, 72-76.
Für das Imaginäre in der Lehre Den leeren Strukturzwängen trotzen A GNIESZKA D ZIERZBICKA Der programmatische Titel der Tagung Lehren bildet – das Rätsel unserer Lehr-Anstalten lässt einen Bruch in der Bewertung und Wahrnehmung der universitären Lehre vermuten, der meines Erachtens produktiv und an der Zeit ist. Keine Frage, die Lehre ist ein ambivalentes Unternehmen im Alltagsgeschäft der Wissensproduktion und Forschung, zugleich ist sie aber jener Bereich, an dem strategische Auseinandersetzungen und Richtungskämpfe innerhalb der Institution Hochschule stattfinden und ablesbar werden. Dass sie kaum Bestandteil von Rankingklassifizierungen ist und in Wissensbilanzen keinen Posten darstellt, ist schlicht Ironie der jüngsten Entwicklung der hochschulpolitischen Reformprozesse; zumal ungeachtet ihrer Vernachlässigung ein nicht unbeträchtlicher Zeit- und Ressourcenaufwand des universitären Alltags auf das Konto der Hochschuldidaktik, der Wissensvermittlung und nicht zuletzt der Bildung geht. Im Rahmen der Lehre wird also die Begegnung zwischen den verschiedenen AkteurInnen einer Hochschule organisiert und damit maßgeblich der Verhandlungsspielraum um Inhalte, Macht, Perspektiven, Mittel, Prestige und Erfolg, aber auch Mangelverwaltung strukturiert. Dieser Handlungsund Verhandlungsspielraum ist es, der m.E. gegenwärtig eine gewisse Dynamik in der Hochschulsteuerung verspricht, sofern die Gelegenheit genutzt wird. Denn mit der Unterstellung der Universitäten unter privatwirtschaftliche Prämissen wurden auch in diesem Bereich Formen des Managements eingeführt, die sich maßgeblich an der Vereinbarungskultur orientieren – Stichwort Ziel- und Leistungsvereinbarungen (vgl. Dzierzbicka 2006). Was wird und kann im Rahmen der Lehre vereinbart werden und
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welche Handlungsoptionen ergeben sich daraus? Mit einem Rückgriff auf die poststrukturale und gouvernementale Perspektive und über ihre Verschränkung möchte ich hiermit für die Reflexion und ein »eingreifendes Mitmischen« um die Besetzung des »Platzes des Königs« (vgl. Foucault 1995) bzw. der Menschenbilder, die aufgrund der aktuellen Umstrukturierung auf dem Spiel stehen, plädieren. Die poststrukturale Perspektive ermöglicht dabei den Blick auf die Kontingenz der Konstruktion »Universität« und die Notwendigkeit, das eigene Involviert-Sein in diesem Konstruktionsprozess zu bedenken. Die Berücksichtigung der gouvernementalen Perspektive in der Untersuchung aktueller Veränderungen innerhalb von Institutionen im Allgemeinen und dem Bildungssystem im Speziellen ermöglicht es darüber hinaus, neben dem bekannten Pro und Kontra, in den bildungstheoretischen Debatten um die aktuellen Reformen im Bildungswesen, wie sie etwa angesichts des Schlagworts »Autonomie« ausgefochten werden, einen dritten Standort einzunehmen (vgl. u.a. Schirlbauer 1995; Altrichter 1999; Radtke/Weiß 2000; Ruhloff 2004; Böttcher/Terhart 2004; Dzierzbicka et al. 2005; Pongratz 2009). Mit dem Begriff Gouvernementalität benennt Foucault zu Beginn der erwähnten Vorlesungsreihe ein bestimmtes Machtsystem, das mit dem 18. Jahrhundert als installiert gelten kann und das »als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat« (Foucault 2004b, 162). 1 So lässt sich
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Wie Michel Sennelart, Herausgeber der beiden Vorlesungsbände, im Nachtrag Situierung der Vorlesungen ausführt, verschiebt sich der Begriff schrittweise von einem »präzisen, historisch bestimmten Sinn« zu einer »allgemeinen und abstrakten Bedeutung« (Sennelart 2004, 485). Sind es zunächst noch spezifische, angesichts des Problems des Staates wirksam werdende Machtverhältnisse, die mit Gouvernementalität benannt werden, so ist gegen Ende der Vorlesungsreihe von Macht im Allgemeinen die Rede: »Der Begriff der Macht selbst hat keine andere Funktion, als einen [Bereich; Einfügung Hg.] von Beziehungen zu bezeichnen, die alle analysiert werden sollen, und was ich vorgeschlagen habe die Gouvernementalität zu nennen, d.h., die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert, ist nichts anderes als der Vorschlag eines Analyserasters für diese Machtverhältnisse« (Foucault 2004b, 261). Die Auseinandersetzung mit dem Regierungsbegriff dient vor diesem Hintergrund zur Vorbe-
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die »Einschulung der Gesellschaft«, also die Institutionalisierung des Bildungswesens, in einen Kontext des vertragstheoretischen Denkens und der am Markt ausgerichteten liberalen Gouvernementalität stellen. Die »Privatisierung der Gesellschaft«, also die Entlassung der Institutionen in die Autonomie, kann im Kontext der Renaissance des vertragstheoretischen Denkens und der am Unternehmertum ausgerichteten neoliberalen Gouvernementalität betrachtet werden. Brachte die liberale Gouvernementalität aus einer pädagogischen Perspektive den per Vertrag gebundenen gebildeten Menschen der Wohlfahrtsgesellschaft hervor, so formiert die neoliberale Gouvernementalität den per Vereinbarung verpflichteten informierten Menschen der Zivilgesellschaft. Und in beiden Fällen stellt sich die gleiche Frage nach dem Standpunkt und der daraus ableitbaren Kritik: »Wie nicht dermaßen regiert zu werden?« (Foucault 1992) Aus poststrukturalistischem Blickwinkel stellt sich hier die Frage nach den Möglichkeiten, in den Struggle um die Zeichen und Gegenzeichen einzusteigen. Vom Sekretariat über die Studierenden und Lehrenden bis hin zum Reinigungspersonal ist eine Vielzahl von Personen in die Idee Lehre involviert und prägt die Vorstellungen und Auffassungen dessen, was gemeinhin unter einer Bildungsinstitution verstanden wird. Die Ausstattung der Hörsäle, die Anmelderituale eines Seminars, die ethischen Vorstellungen von Lehrenden und die Ansprüche der Studierenden – all diese Punkte kulminieren in dem, was lapidar in Semesterwochenstunden respektive ECTS-Punkte einer Lehrveranstaltung, die besucht oder gehalten wird, angegeben wird. Aus der Sicht von Studierenden wie Lehrenden scheint das Ziel von Lehre ziemlich klar und eindeutig: Vermittlung, Aneignung von und Auseinandersetzung mit Wissen und spannenden Problemstellungen sowie Kritik. Dass in der Realität diese Zeiten der Reflexion und Vermittlung allzu häufig von persönlichen Meinungen und Befindlichkeiten, nicht ausschließlich von Studierenden, sondern durchaus auch von Lehrenden, dominiert werden, ist eine Erfahrung, die lästig ist und gleichermaßen unnütz wie wichtig. Es handelt sich um eine Erfahrung, die oft Zeit und Nerven der Beteiligten kostet und gleichzeitig das ermöglicht, was nicht planbar ist: die Evozierung eines Sich-Verhaltens zu Inhalten wie Positionen.
reitung, zur Annäherung an den Gouvernementalitätsbegriff; beide Begriffe respektive ihre Ereignishaftigkeit diffundieren letztlich in die Tableaus der Macht.
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Lehren bildet – welch ein Rätsel, wie es auch so schön im Programm heißt. Eines der Rätsel war für mich daher von jeher: Was denken die Lehrenden, wenn sie das, was Lehre genannt wird »da vorne« veranstalten? Was denken die Studierenden, wenn sie sich das bieten lassen? Was denken beide, wenn sie ihre persönlichen Erfahrungen zu vermeintlich allgemeingültigen Wahrheiten stilisieren? Auch hier scheinen die Antworten kontingent, nicht immer ließen sich Studierende alles gefallen, nicht immer konnten sich Lehrende leisten, was sie sich aktuell leisten können; der Gestaltungsspielraum variiert. Heute erzählen noch ältere Kollegen von ihren Lehrveranstaltungen, die von aktivistischen Studierenden gestört wurden, die »ihren« Marx beherrschten und die kritische Theorie der christlichen Pädagogik entgegenschleuderten. Das hatte sich trotz der universitären Mitbestimmung seitens von Studierenden zu meiner Studienzeit in den 90er Jahren bereits geändert. Seminare mit TeilnehmerInnen zwischen 90 und 150 Personen waren keine Seltenheit, träge Studierendenmassen und überforderte wie bequeme Lehrende ebenso wenig. Die Empörung angesichts solcher Veränderungen wie auch der Vorwurf, mehr erwarten zu dürfen, waren wiederkehrende Motive und Gedanken meiner Bildung und Sozialisation an der Institution Universität – nicht nur Gedanken, wie die folgende Erzählung veranschaulicht. So gelang mir einst ein zweifelhafter Seminarkommentar gegenüber einem Lehrenden angesichts einer dieser Situationen, an denen man als Studierende geradezu verzweifeln muss: »Sie pflanzen sich da vor uns auf und drücken ein Gschichtl nach dem anderen >erzählen uns eine Anekdote nach der anderen, Einf. AD@, was denken sie eigentlich, wozu Sie da sitzen?« Der Lehrende war fassungslos, verwies auf Respekt und blieb mir die Antwort schuldig. Ich verstand die Welt nicht mehr, als sich meine KommilitonInnen nicht mit mir solidarisierten, sondern bei aller Kritik am Lehrenden, die sie durchaus teilten, es schlicht unfair und beängstigend fanden. Jahre später sitze ich da und »drücke selbst ein Gschichtl nach dem anderen«, könnte jemand von außen meinen. Was ist passiert? Eigentlich nicht sehr viel, auch heute frage ich mich, was denken diese Lehrenden, wenn Sie ihre Lehre abhalten – mit dem kleinen Unterschied, dass ich die Seite gewechselt habe; immer noch grüble ich. Was ist der Inhalt und wer sind die Adressaten, denkt man, denken wir, wenn wir lehren, und immer mehr komme ich zu dem Schluss, dass auch ich die Antwort schuldig bleibe. Obwohl gerade wir, die Lehrenden, zu klären und auszuweisen hätten, was und vor allem an wen wir da denken, wenn wir
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vermitteln. Wie begründen wir die Auswahl der Inhalte angesichts all der Möglichkeiten und gleichzeitig der Unmöglichkeit einer Kanonisierung, und wer sind, wer sollen die Studierende sein, an die wir diese richten? Welche Zeiten sehnen wir herbei, wenn wir strukturelle Veränderungen anprangern und Humboldt zitieren? Mag sein, dass die Gründe variieren, dass sie von jeher zwischen überhöhtem Anspruch und aufgebendem Pragmatismus angesiedelt werden können und konnten. Tatsache ist jedenfalls, dass sie unbewusst wirken und damit den Raum der Lehre strukturieren, und damit bestimmen. Wie verhält es sich also mit der universitären Lehre nach den so grundsätzlichen Umwälzungen und Strukturreformen der letzten Jahrzehnte? Welche Menschenbilder werden hier verhandelt? Und verhandelt wird definitiv und eifrig – denn in Zeiten der institutionalisierten Vereinbarungskultur stehen nicht nur Inhalte, sondern auch Rollen- und Menschenbilder zur Disposition. Konkret bedeutet das, wir kommen nicht umhin, uns als Lehrende die so wichtigen Fragen zu stellen: Welche Bilder von Studierenden haben wir vor Augen, wenn wir nun unsere Studierende als BA-Studierende adressieren? Und welchen Vorstellungen haben Lehrende, die mehr oder weniger begeistert BA- und MA-Programme durchführen, zu genügen? Diese Fragen halte ich für äußerst politisch und ihre Beantwortung können wir, wenn wir Kritik an aktuellen Umwälzungen formulieren, nicht schuldig bleiben. Aber eins nach dem anderen: Wie kommt es überhaupt zu diesen Fragen und den ihnen folgenden Behauptungen? Der Hochschullehre wird seit den institutionellen Reformen im Zeichen der Autonomie und des Drucks an den Universitäten, Drittmittel zu lukrieren, eine seltsame Beachtung zuteil. Während Forschung und Publikationstätigkeit massiv eingefordert werden und als High-Performance-Faktoren gelten, scheint die Lehre ein lästiges Anhängsel, ein kostspieliges Überbleibsel vergangener Zeiten zu sein. Dass diese Bewertung freilich unsinnig ist, da Forschungsstätten ohne Lehre schlicht keine Universitäten sein können, daran sei nur am Rande erinnert, aber darum geht es hier nicht. In diesem Zusammenhang ist eher – einerseits (I) – die ambivalente Bewertung der Lehrtätigkeit von besonderer Relevanz und der enorme Einfluss, den die Lehre auf die Umgestaltung der Universitäten hat anderseits (II). Hier möchte ich vor allem den strategischen Wert der Lehre hervorheben, der unterschätzt wird. Damit beziehe ich mich weniger auf jene Umgestaltungen, die aus der Umsetzung der Bologna-Richtlinien resultieren, sondern vielmehr auf den den universi-
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tären Raum strukturierenden Charakter der Lehre, also Lehre verstanden als Schauplatz der Machtkämpfe und Verhandlungen um den leeren Platz des Königs, es geht also um die Frage der Besetzung, der Projektion eines Zentrums, das selbst keinen Inhalt hat (vgl. Derrida 1996).
I. A MBIVALENTE B EWERTUNG
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Es ist nicht so, dass man unterstellen kann, die Lehre würde angesichts der Umstrukturierungen gar nicht beachtet, im Gegenteil: Die Autonomie und die damit einhergehenden Änderungen, wie zum Beispiel bezüglich des Dienstrechts, ermöglichten im unzumutbaren Massenbetrieb längst fällige Entscheidungen zu fällen. Die Ausschreibung von Stellen, die ausschließlich der Lehre gewidmet sind, könnten also vor diesem Hintergrund als ein beredtes Beispiel für die Aufwertung der Lehre betrachtet werden. Mit dem Bekenntnis zu Bologna rückten curriculare Herausforderungen in den Fokus, ein Umstand, der sich bei aller Kritik am Bologna-Prozess für viele Studienpläne als durchaus modernisierender Vorteil entpuppte. Doch es sind Argumente mit unbehaglichem Beigeschmack, weil sie ja nur die eine Seite in den Vordergrund stellen und die zweite vernachlässigen. Bei der vernachlässigten handelt es sich um jene Seite, die die angesprochene Ambivalenz der Aufwertung der Lehre betrifft. Es sind keine »guten« Stellen, keine vollwertigen Stellen und Bologna ist schlicht die Krise, wenn man bei universitärer Lehre an Humboldt’sche Vorstellungen anknüpfen möchte oder die Idee der kollegialen Begegnung einer an der Sache orientierten Community vor Augen hat (vgl. Liesner/Lohmann 2009). Auch sind mir von KollegInnen keine stolzen Verkündigungen bekannt, die auf die Stundenzahl ihrer Lehre anspielen und angesichts von acht, zwölf oder sechzehn Stunden Lehre in Verzückung geraten, im Gegenteil. Diese wird als Last empfunden, als das, was am eigentlichen Job, den eigentlichen Aufgaben hindert. Beim genaueren Nachdenken darüber wird deutlich, dass es dabei nicht einmal um die Lehre geht, sondern auch und vor allem um die Unmöglichkeit einer Begegnung im Suchen nach Erkenntnis und der seriösen Aufbereitung von Problemstellungen und Fragen – von Vorbereitung, Recherche, Aktualisierung und Nachbereitung der Inhalte, die es zu vermittelt gilt, ganz zu schweigen. Diese Uneinholbarkeit der Vorstellung von einer gelungenen Lehre angesichts eines von Strukturzwängen dominierten All-
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tags kann wiederum nur in einem unbefriedigenden Gefühl münden, das an den Nerven zehrt. Da nützt auch die Rückbesinnung auf den Ethos der forschungsgeleiteten Lehre wenig, denn spätestens mit der Trennung in wissenschaftliche und lehrebezogene Stellen ist es offenkundig geworden, dass es damit offensichtlich nicht sehr weit her sein kann. Dann stelle ich aber in diesem Zusammenhang doch die ernsthafte Frage: Was soll eine Lehre sein, die nicht forschungsgeleitet ist? Welches Forschungsverständnis liegt dem zugrunde? Als Entgegnung wird gern und häufig das Argument vorgebracht, man stelle die Forschungsergebnisse vor, die andere gewonnen und aufbereitet haben. So weit, so bekannt. So richtig überzeugend finde ich dieses Argument auch nicht, denn wer bitte forscht, ohne an Ergebnisse von KollegInnen anzuknüpfen? Welches Lehrendenbild liegt der Idee zugrunde, sie wären in der Lage, quasi neutral, ungefiltert und bar eigener epistemologischer Wege und Umwege, die Resultate der anderen wiederzugeben. Vielleicht ist es Haarspalterei, zu behaupten, dass doch auch Studierende forschen. Doch woher sollen all die JungwissenschaftlerInnen kommen, wenn sie bloß Lernautomaten gleich die belehrten und eben nicht gelehrten Inhalte aufnehmen? Dieses ist ein weiteres Problem der so reinen, puren Lehre, denn gibt es da eine Grenzlinie, die besagt, dass Studierende per se keine Forschung betreiben? Was sind all die ersten Versuche, wissenschaftliche Arbeiten zu verfassen, wenn nicht erste Schritte Richtung Forschung? Wenn das keine epistemologisch relevanten Größen sind, dann reden wir auch nicht über Universitäten. 2 Diese erläuternden Anmerkungen bringen mich zu meinem eigentlichen Anliegen: M.E. verdeckt und untergräbt diese ambivalente Haltung zur Lehre nämlich die strategische Bedeutung der Lehre für die Frage nach dem Verständnis von Universität heute. Deshalb sollte sie überdacht werden.
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Angeblich forschen ja auch DissertantInnen nicht, so die Aussage einer Mitarbeiterin des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung im Rahmen einer Informationsveranstaltung zur Antragsstellung für eines der angebotenen Programme.
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II. Z UR STRATEGISCHEN B EDEUTUNG : D EN S TRUKTURZWÄNGEN TROTZEN
LEEREN
Strategisch von Bedeutung scheint mir die Lehre insofern, als sie maßgeblich daran beteiligt ist, das Menschenbild zu formen, d.h. die Vorstellungen darüber, was Mensch-Sein in dieser Zeit und unter den gegebenen Umständen des kulturellen Kontextes, in dem wir uns befinden, bedeutet. Sie produziert dieses Menschenbild in vielerlei Hinsicht. Da gibt es zum Einen die Vorstellungen der Lehrenden, wer Studierende sind, die Vorstellungen der Studierenden, wer Lehrende sind, und es wird ungeachtet der Fachausrichtung ein Bild vom Menschen, der forscht, der lehrt und über den geforscht und gelehrt wird, vermittelt. Dass diese Vorstellungen jeweils in sich nochmals ausdifferenziert und äußerst schillernd sind, beinhalten sie doch auch Phantasien und Projektionen, die wiederum mehr mit den eigenen Auffassungen und Erzählungen von Welt und sich zu tun haben als mit dem Anderen, ist eine weitere Facette der Komplexität dieser Vorstellungen. Schließlich gibt es da auch noch ein Bild, das von außen, durch die Gesellschaft an die Universität herangetragen wird, sei es von dem zuständigen Ministerium, den Medien oder von anderen interessierten Akteuren der Bildungspolitik, Industrie und Wirtschaft. Interessant an diesen Einflussfaktoren ist, dass sie sich in der Regel als Zuschreibungen entpuppen, die allzu oft in der konkreten Situation bloß eigene Befindlichkeiten markieren und eher selten tatsächlich pädagogischer oder politischer Provenienz entstammen: Wer sind wohl Studierende für einen von der Lehre frustrierten Lehrenden? Wer sind Lehrende für Studierende, denen unterstellt wird, das Establishment der Universität per se zu vertreten? Das sind noch die formalen Fragen. Wie betrachten Lehrende ihre Studierenden angesichts von persönlichen Hochs und Tiefs oder gar Schicksalsschlägen und vice versa? Freilich können sich meistens alle Betroffenen zusammenreißen und in der konkreten Lehrsituation rücken diese Befindlichkeiten wohl in den Hintergrund, aber sie sind da, und nicht nur diese. Auch die eigenen Repräsentationen, also die Selbstdarstellungen zeitigen Wirkung in der Frage, wie Lehrende wahrgenommen werden, welche Bilder von Lehrenden heute kursieren, und diese sind ebenso wenig einheitlich und frei von Widersprüchen wie die Reformen, die um sich greifen. So beobachte ich seit geraumer Zeit, dass ausgerechnet die schärfsten Kritiker des neoliberalen Unternehmertums sich von einem selbstunternehmerischen Wagnis ins nächste stür-
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zen. Es scheint, als ob die gründliche Analyse und profunde Kritik direttissimo zum affirmativen Verhalten, nein, ich würde sogar weiter gehen und sagen, zur Optimierung des Verhaltens führt; mich nicht ausgenommen. Wie kommt es also dazu, dass die Versuche der Steuerung von Menschen, Beziehungen und Institutionen einerseits durchaus Gefahr laufen, aufgrund von Kritik und Widerstand der für die Umsetzung Verantwortlichen fehlzuschlagen, und anderseits in Kontexten Erfolge zeitigen, in denen es am wenigstens zu erwarten wäre? Mit dem gouvernementalen Instrumentarium lässt sich dieses Phänomen unter Berücksichtigung der darin wirkenden Macht als Subjektivierung und im Konzept der »Sorge um sich« beschreiben. Ein Gegenentwurf würde dann in der Antwort auf die Frage bestehen: »Wie nicht dermaßen, um diesen Preis regiert werden?« Aus einer poststrukturalistischen Perspektive würde die Problematisierung von Bologna als Strukturreform in den Fokus rücken. So lässt sich für die Lehre von den Poststrukturalisten lernen, dass die, die glauben, grundsätzliche Lösungen durch Strukturreformen erreichen zu können, sich immer schon auf dem Holzweg befinden, insofern nämlich, als nicht davon ausgegangen werden kann, dass soziale und komplexe Felder schlechthin einer plan- und formulierbaren oder allgemeinen Gesetzmäßigkeit folgen (vgl. Derrida 1996). Mit Blick auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Feldern lässt sich festhalten, dass diese stets pseudo-strukturiert sind, sich also immer auch als Fehlstellen erweisen, erweisen müssen. Was bleibt, ist ein Differenzsystem, das dadurch gekennzeichnet ist, dass man nicht weiß, was passiert, passieren wird. Im Falle von Bologna kennzeichnet gerade der Ansatzpunkt der Steuerungsversuche eben eine dieser Fehlstellen: Effizienz ist nicht die vornehmliche Struktur von Universitäten. Sicherlich spielten politische und wirtschaftliche Interessen stets eine Rolle in der Frage der Organisation von Hochschulen, aber sie sind nicht ihr genuines Strukturmoment. Neben vielem anderen spielte auch die Avantgarde-Funktion der Universität eine Rolle, was mit Nachdruck von den Debatten um Elitenbildung und Excellence-Cluster bewiesen wurde, die die Universität nun auch eingeholt haben. Die Verschränkung beider Perspektiven ermöglicht nun die Frage nach den Möglichkeiten der Besetzung dieser Fehlstellen, des leeren Zentrums sozusagen und den Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Subjektivierungspraxen in Form einer Verhandlung der Menschenbilder. Wenn wir so wollen, geht es genau um diesen Struggle: Lässt man sich auf die Idee ein,
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dass es bei so genannten neoliberalen Steuerungsversuchen wie Bologna unter anderem um die Schaffung »eines neuen Menschenbildes« geht – Frigga Haug spricht vom Menschentyp, der »fit, fähig, flexibel fantastisch« ist –, dann geht es um einen Kampf der Besetzung eines Zentrums mit Bedeutungen, der per se nie abschließend ausgefochten ist. Was können wir diesen Bildern entgegen setzen? (Haug 2003) Wo liegt die Gewichtung, wie verhalte ich mich zum Bild von Außen, verweigere ich es? Wenn ja, in welcher Form? Die Lehre mag ja noch frei von Zweck sein, wenn wir es wohlwollend betrachten, freilich, und so lange sie in das Modul passt, aber mit den Studierenden sieht es anders aus: Was bedeutet ein Lehrplan, der der Employability verpflichtet ist, und welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? Damit spiele ich auf die Frage an, welche Art der Affirmation muss/kann ich zulassen: Wo spiele ich als Lehrende unweigerlich mit, wie kann ich Differenzen markieren? Dabei denke ich an die Differenzen, die meine Lehre strukturieren, ohne dass Studierende fit, fähig, flexibel, fantastisch sind und auch ohne, dass ich das Bild fit, flexibel, fähig, fantastisch bediene (Stichwort Vorbildfunktion). Welche Kultur wird gepflegt, was ist das Gegenbild? Sind zum Beispiel in Stereotypen Gegenbilder vorhanden? Ich denke da etwa an die kulturellen Unterschiede, die, lokal angesiedelt, erst angesichts des globalisierten Vermessens augenfällig werden. Ein solches Beispiel wäre etwa jene berüchtigte Haltung, die vorwiegend in Ostösterreich zu finden ist und »Pomali, Pomali«, häufig euphemistisch »Wiener Gemütlichkeit« genannt wird. Typisch für diesen Zugang ist ein gewisser Gleichmut, der mit den vier »f« von oben nichts gemein hat; die Absage an solche Ansprüche, Anrufungen wäre die Antwort: »nur keinen Stress, nur keinen Stress«. Zwischen Widerstand und unmotivierter Faulheit scheint der Grad zwar sehr schmal zu sein, dennoch: eine Prüfung und Überlegung in diese Richtung scheint es mir allemal Wert zu sein und wirkt sympathischer als die ewige Sorge um sich. Zurückkehrend zur Eingangsfrage und zusammenfassend: Der nächste Schritt der Kritik wäre meines Erachtens nicht länger die Analyse, welche Konsequenzen die Neustrukturierung des universitären Raumes durch die Einführung der Pseudopartizipation und Vereinbarungskultur hat, sondern die Suche nach Möglichkeiten im Rahmen der Ausdifferenzierungen, sich dem Struggle, dem Kampf um das Zentrum zu stellen. Und ich denke eben, dass der Weg jener ist, sich darüber zu unterhalten, welche Bilder von Lehrenden und Studierenden wir parat haben, um hier in den größten Umstruk-
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turierungen, die mit einer Geschwindigkeit vor sich gehen, die unfassbar ist, etwas entgegen zu setzen. Einige mögen ältere KollegInnen belächeln, die meinen, sie würden ihre Universität nicht wieder erkennen. Nach einem Gastsemester in den USA geht es den jüngeren KollegInnen nicht anders. Studierende wissen ein Jahr nach Ihrem Abschluss nicht mehr, wovon man redet, wenn man über die Universitäten und ihren Alltag spricht, jeder zweite Begriff muss erklärt werden: das ist und bleibt ein Kampf um Zeichen und Gegenzeichen. Welche setzen wir als Lehrende angesichts der aktuell kursierenden?
L ITERATUR Altrichter, H. (1999): Veränderung der Systemsteuerung im Bildungswesen. Länderbericht Österreich. Linz. Böttcher, W./Terhart, E. (Hg.) (2004): Organisationstheorie in pädagogischen Feldern – Analyse und Gestaltung. Wiesbaden. Derrida, J. (1996): Rundgänge der Philosophie. Wien. Dzierzbicka, A./Kubac, R./Sattler, E. (2005): Bildung riskiert. Erziehungswissenschaftliche Markierungen. Wien. Foucault, M. (1992): Was ist Kritik? Berlin. Foucault, M. (1995 [1966]): Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main. Foucault, M. (2004a): Vorlesung am Collège de France 1977-1978. In: Sennelart, M. (Hg.): Michel Foucault. Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt am Main. Foucault, M. (2004b): Vorlesung am Collège de France 1978-1979. In: Sennelart, M. (Hg.): Michel Foucault. Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt am Main. Haug, F. (2003): »Schaffen wir einen neuen Menschentyp«. Von Henry Ford zu Peter Hartz. In: Das Argument 252, 606–617. Liesner, A./Lohmann, I. (2009): Bachelor bolognese. Erfahrungen mit der neuen Studienstruktur. Opladen. Pongratz, L. (2009): Bildung im Bermuda-Dreieck: Bologna – Lissabon – Berlin. Eine Kritik der Bildungsreform. Paderborn. Radtke, F.-O./Weiß, M. (Hg.) (2000): Schulautonomie, Wohlfahrtsstaat und Chancengleichheit. Opladen.
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Kein »Zurück zu Humboldt« Nietzsches Ekel-Didaktik und die Zukunft unserer Lehranstalten J ÜRGEN V OGT »Wilhelm von Humboldt, der edle Flachkopf« (Nietzsche, KSA 13, 506)
Der Untertitel des vorliegenden Bandes evoziert, wohl nicht zufällig, die Erinnerung an Friedrich Nietzsches zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Basler Vorträge von 1872 Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. In jüngeren Veröffentlichungen, die sich kritisch mit den derzeitigen Veränderungen innerhalb unserer »Bildungsanstalten« auseinandersetzen, wird gerne auf Nietzsche zurückgegriffen, um bei ihm bzw. bei einer seiner imaginären Figuren 1 eine frühe Ablehnung der Ökonomisierung von Bildung zu finden. 2 Nietzsches Kritik wird in der Regel dann dazu benutzt,
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Zur oftmals übersehenen Dramaturgie der Vorträge vgl. Thompson/Weiss 2005. Dieser Aspekt wird allerdings auch im vorliegenden Text nicht weiter berücksichtigt.
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Vor allem diese Passage: »Ich glaube bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebtesten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntniß und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß – daher möglichst viel Glück: – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der
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eine kontinuierliche Verfallsgeschichte von den ersten hellsichtigen Ahnungen des Philosophen bis hin zur endgültigen Abschaffung von Bildung durch eine Bildungstechnokratie zu konstruieren (z.B. Liessmann 2008). Sehr viel seltener wird darauf verwiesen, was Nietzsche denn auf der Grundlage dieser Kritik tatsächlich über die Zukunft unserer Bildungsanstalten sagt. Diese Abstinenz erklärt sich sicherlich auch dadurch, dass Nietzsches Vorträge sich schon aufgrund ihrer Zeitgebundenheit keines sonderlich guten pädagogischen Rufes erfreuen. 3 Der Grund, so die Vermutung, die in dem nun folgenden Aufsatz plausibel gemacht werden soll, liegt aber – bewusst oder unbewusst – wesentlich tiefer. Nietzsches Vorschläge laufen, pointiert gesagt, darauf hinaus, Bildung dadurch zu retten, dass sie abgeschafft wird. Zu einer Reform unserer Bildungsanstalten im Namen einer wie lose auch immer noch mit dem Namen Humboldt assoziierten Bildung trägt Nietzsche gar nichts bei, aber nicht aus Unvermögen oder gar aus nationalistischer Verblendung, sondern deshalb, weil diese Anstalten Institution gewordener Niederschlag all dessen sind, was Nietzsche hinter sich lassen möchte. Schon die Anstalten derjenigen Bildung, die Nietzsche in seinen Basler Vorträgen imaginiert, haben mit dem real existierenden deutschen Gymnasium und der im Bildungsgang daran anschließenden Universität kaum noch etwas gemeinsam. In Nietzsches späteren Arbeiten deutet sich dann an, dass es überhaupt keine Institutionen mehr für dasjenige ge-
Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn. Die Bildung würde ungefähr von dieser Richtung aus definiert werden als die Einsicht, mit der man sich ›auf der Höhe seiner Zeit‹ hält, mit der man alle Wege kennt, auf denen am leichtesten Geld gemacht wird, mit der man alle Mittel beherrscht, durch die der Verkehr zwischen Menschen und Völkern geht« (KSA 1, 667). 3
Etwa hier: »Aus heutiger Perspektive erweisen sich die Bildungsvorträge als fragwürdiges Dokument eines gleichermaßen demokratiefeindlichen und deutschtümelnden Autors, der als elitärer Bildungsphilosoph im WagnerUmfeld Furore machen wollte und der insofern seine Zeit gehabt hat und für die Zwecke der (Gegenwarts-)Pädagogik nicht in Betracht kommt (Niemeyer 2005, 52).
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ben kann, das Nietzsche »Bildung« nennen würde, wenn er überhaupt noch Interesse daran hätte, auf diesen Terminus zurückzugreifen. 4 In seiner »Umwertung« der Bildung bleibt Nietzsche allerdings notwendig an Denkweisen und Kategorien desjenigen gebunden, das er abschaffen möchte. Es handelt sich bei Nietzsches Andeutungen daher, wenn man so will, um seine »Didaktik«. Wie (und was) soll eigentlich in der Zukunft in welchen Institutionen gelehrt (und gelernt) werden? Und wie kann man überhaupt vom Lehren und Lernen sprechen, wenn diese Begriffe selbst schon zum Inventar der (Bildungs-) Wissenschaft gehören, die doch überwunden werden soll? Zunächst einmal kann Nietzsche nicht anders als rhetorisch verfahren, da jegliche »erziehungswissenschaftliche« Argumentation Gefahr liefe, im überkommenen Sprachspiel der Bildung zu verbleiben. Man wird also nicht allen Ernstes so etwas wie ein ausgearbeitetes didaktisches Konzept bei ihm erwarten dürfen. Darüber hinaus wird Nietzsche die Rede von Bildung radikal umcodieren: Der traditionell als »geistig« beschriebene Prozess wird wesentlich zu einem körperlichen. Eine primär physiologische Reaktion stellt das zentrale Organon von Nietzsches Didaktik dar: Der Ekel. Man könnte auch sagen: Besteht nach Humboldt Bildung darin, »soviel Welt, als möglich zu ergreifen«, so erfordert sie nach Nietzsche, soviel Welt als nötig von sich abzustoßen, und dies ist zu lehren und zu lernen. Erst später wird Nietzsche versuchen, sich von solch einer negativen Kopplung an dasjenige zu lösen, das überwunden werden soll. Die EkelDidaktik ist nicht das letzte Wort, doch die Überwindung der Negation ist
4
Dieser Befund spiegelt die Rezeption Nietzsches in der Pädagogik insgesamt wider – mit Nietzsche lässt sich schlicht keine Erziehungs-Wissenschaft betreiben. So fragte etwa Andreas von Prondczynsky: »Wieviel Nietzsche verträgt die Pädagogik?« (Prondczynsky 1998, 76), und der Blick auf die Rezeption Nietzsches produziert schon die Antwort: Die Pädagogik verträgt Nietzsche überhaupt nicht. Traditionell beschränkt sie sich darauf, »seine Initialfunktion zu registrieren ohne seine Konsequenzen nachzuvollziehen – weil dies sowohl die praktische Pädagogik untergraben wie auch die ›Wissenschaftliche Pädagogik‹ in ihren Ambitionen desavouiert hätte« (ebd., 76). »Nietzsches Lehren«, so auch der Befund von J. Oelkers, werden in der Pädagogik rezipiert, aber nicht respektiert; wäre dies der Fall, ließe sich eine Theorie der Erziehung kaum mehr begründen« (Oelkers 1998, 213).
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nicht schon Affirmation. Kann man aus den Basler Vorträgen noch die Forderung nach einer institutionalisierten Elite-Bildung herauslesen, so ist am Ende schwer vorstellbar, dass irgendwelche Bildungsanstalten noch irgendetwas zur Bildung beitragen könnten; eine ganz individuelle Diätetik des Leibes tritt an ihre Stelle. Man muss, denke ich, Nietzsche hier nicht folgen. Der eigentliche Ertrag seiner Bildungskritik liegt denn auch nicht darin, dass man aus ihr positive Schlussfolgerungen für eine Reform unserer Bildungsanstalten ziehen könnte. Aus dem angewiderten Affekt, der die Basler Vorträge durchzieht, wird beim Nietzsche der Genealogie der Moral später ein methodologischer Zugriff. Eine kritische Genealogie der Bildungs- und Lehranstalten – die Nietzsche selbst nicht durchgeführt hat – wird nicht zutage fördern, was denn Lehre »eigentlich« ist oder war, und daher in Zukunft möglicherweise wieder werden sollte, sondern zielt vor allem darauf ab, alle Bemühungen dieser Art nachhaltig zu unterlaufen. Es mag sein, dass die derzeitigen Entwicklungen im Hochschulbereich als »Humboldts Alptraum« beschrieben werden können (vgl. Schultheis u.a. 2008); es gibt aber schon bei Nietzsche keinerlei Hinweis darauf, dass wir Grund hätten, Humboldts Traum weiter zu träumen.
B ILDUNG
OHNE
S UBJEKT – M ARSCHIEREN
LERNEN
Auf die Formel, dass Bildung traditionell zumeist als Subjekt-Bildung verstanden wurde und wird, könnten sich sicherlich die meisten Bildungstheoretiker verständigen. Die berühmte Bestimmung Humboldts, das menschliche Denken ziele ebenso allein auf Selbstverstehen, wie das Handeln allein auf Freiheit, mag hier als Beleg genügen. Sobald Bildung in schulische (= staatliche) Regie genommen wird, stellt sich natürlich sogleich die Frage, wie und ob denn diese Subjekt-Bildung überhaupt organisiert werden kann. Die klassische Lösung konzentriert sich auf den Bildungsgehalt der alten Sprachen. Um 1800 steht aber mit der deutschen Literatur ein weitaus bildungsmächtigeres Instrument zur Verfügung. Der deutsche Aufsatz, nicht Griechisch und Latein, ist das Herzstück der Gymnasialbildung, auch wenn diese die Stundentafeln dominieren. Am deutschen Aufsatz, nicht in den von Humboldt angeregten linguistischen Studien (oder gar in anderen Schulfächern), kann man erkennen, ob die Schüler Subjekte (geworden) sind, oder nicht: Hier erweist sich, in welcher Weise Schüler sich »Welt«
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angeeignet haben und in der Lage sind, dies nach außen hin zu demonstrieren. Der deutsche Aufsatz übersteigt daher alle Fächer- und Fachorientierungen und wird als Medium der »freien formalen Bildung des Geistes« (Schleiermacher [1810] 1984, 145) zum Organon des Gymnasialunterrichts überhaupt. In der Textproduktion des Aufsatzes nähert der Deutschunterricht sich sogar der Dichtung an, und die Aufsätze sollen sich wiederum an Produktionen der Einbildungskraft, also Dichtung, entzünden. Und namentlich in den oberen Klassen können die Schüler lernen, »als Schriftsteller aufzutreten« und zugleich »interpretatorische Übungen von Prosaikern und Dichtern« durchzuführen (ebd., 146; zum ganzen Komplex vgl. ausführlich Kittler 1987). Ausgerechnet gegen diesen deutschen Aufsatz wendet sich Nietzsche nun in seinen Basler Vorträgen mit Vehemenz: »Das letzte Bereich, auf dem der deutsche Lehrer am Gymnasium thätig zu sein pflegt und das nicht selten als die Spitze seiner Thätigkeit, hier und da sogar als die Spitze der Gymnasialbildung betrachtet wird, ist die sogenannte deutsche Arbeit. Daran daß auf diesem Bereiche sich fast immer die begabtesten Schüler mit besonderer Lust tummeln, sollte man erkennen, wie gefährlich-anreizend gerade die hier gestellte Aufgabe sein mag. Die deutsche Arbeit ist ein Appell an das Individuum: und je stärker bereits sich ein Schüler seiner unterscheidenden Eigenschaften bewußt ist, umso persönlicher wird er seine deutsche Arbeit gestalten« (KSA 1, 678f).
Ist die eigenständige Klassiker-Interpretation der Schüler für Nietzsche schon nichts als »vorlaute Barbarei« (KSA 1, 678), so ist der autobiographisch getönte Aufsatz nichts weniger als die »pädagogische Ursünde wider den Geist« (KSA 1, 679). Der schulisch geforderte Versuch, sich so zu zeigen, wie und wer man ist, kann zu nichts anderem führen als zu einer »zu früh geforderten Persönlichkeitsarbeit« und einer »unreifen Gedankenerzeugung« (ebd.): »Dieses ›persönliche Gestalten‹ wird noch dazu in den meisten Gymnasien schon durch die Wahl der Themata gefordert: wofür mir immer der stärkste Beweis ist, daß man schon in den niedrigeren Klassen das an und für sich unpädagogische Thema stellt, durch welches der Schüler zu einer Beschreibung seines eignen Lebens, seiner eignen Entwicklung veranlaßt wird« (ebd.).
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Gleichgültig, ob der Schüler dazu angehalten wird, sein »Votum über Dichterwerke noch abzugeben [...] oder ernsthafte ethische Probleme selbständig darzustellen oder gar, mit umgekehrter Leuchte, sein eignes Werden sich aufzuhellen und über sich selbst einen kritischen Bericht abzugeben« (ebd.): die »pädagogische Ursünde« besteht für Nietzsche darin, dass sich hier Subjekte schreibend, aber auch nur schreibend, selbst herstellen sollen. Was der Schüler sieht, das ist allein sein »litterarisches Bild im Spiegel« (KSA 1, 681) des selbst produzierten Textes; die »freie Persönlichkeit« (ebd.), die solcherart imaginiert wird, ist eine Parodie – ganz abgesehen davon, dass solche »excessiven« Schülerproduktionen in der Schule gar nicht anders als negativ bewertet werden können (ebd., 680). Eine solche Verfrühung von Subjektivität, die Nietzsche anklagt, hatte nun auch schon Hegel moniert. 5 Bei Nietzsche geht es aber nicht in erster Linie um eine Korrektur curricularer Fehlkonstruktionen, die dann zur »richtigen« Bildung führen soll. Das Ziel des gymnasialen Unterrichts ist hier gar nicht mehr das Subjekt humboldtscher Prägung, sondern ein neuer Typus Mensch, der nun nicht mehr »an dem Mausoleum seines Subjekts« baut (KSA 1, 714). Didaktisches Mittel ist für Nietzsche hier, »den lächerlichen Anspruch auf Selbständigkeit des Urtheils zu unterdrücken und den jungen Menschen an einen strengen Gehorsam unter dem Scepter des Genius zu gewöhnen« (ebd., 680). Die »rechte und strenge Bildung« ist »vor allem Gehorsam und Gewöhnung« (ebd., 685). Wer diesen Bildungs-Drill absolviert hat, dem ist – zu seinem Nutzen – das vorwitzige Subjekt-Sein gehörig vergangen: »Hier muß es jedem ernsthaft sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch, etwa als Soldat genöthigt ist gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künst-
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»Dagegen [gegen das bloße Auswendiglernen] ist die Richtung auf eigenes Reflektieren und Räsonnieren der Jugend ebenso einseitig und vielmehr sorgfältig von ihr abzuhalten. [...] Denn dies ist der Hauptzweck der Erziehung, daß diese eigenen Einfälle, Gedanken, Reflexionen, welche die Jugend haben und machen kann, und die Art, wie sie solche aus sich haben kann, ausgereutet werde; wie der Wille, so muß auch der Gedanke beim Gehorsam anfangen« (Hegel [1810] 1986, 332).
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lich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist« (KSA 1, 684).
Die militärische Metapher ist kein Zufall, auch wenn es sich hier nur um die »richtige Gangart der Sprache« handelt (ebd., 685). Hier geht es anders und rabiater zu als im humanistischen Gymnasium. Schlecht passt dazu Nietzsches Beschwörung der Bildung als »zartfüßige, verwöhnte, aetherische Göttin« (ebd., 715), die sich zwar nicht in die Schulstube bannen lässt, aber die sich nun auf einmal in Soldatenstiefeln und im Gleichschritt der Kompanie wiederfindet. Die »erste Natur« geht nicht den sanften Umweg über die Selbstbespiegelung, sondern wird durch soldatischen Schliff zur »zweiten Natur« umgeformt; die sprachliche Selbstzucht gerät so zur puren Gewohnheit, die kaum auf Einsicht, sondern auf Gehorsam beruht. Die Schüler sollen wortwörtlich gezwungen werden, »auf große Denker zu hören« (ebd., 688). 6 »Hingebung an große Führer und begeistertes Nachwandeln auf der Bahn des Meisters« (ebd., 746) bilden den Königsweg zur tatsächlichen Bildung, nicht (verfrühte) Selbständigkeit und Selbstdenken. Wenn man die unguten Anklänge an Führer- und Deutschtum, an führendes Genie und zu führende Masse einmal beiseite lässt, so stellt sich die Frage, wie denn nun eigentlich der Umschlag von purem Gehorsam zur tatsächlichen Bildung vor sich gehen soll. Denn diese besteht ja eben nicht darin, dass die Edukanden lebenslänglich auf die Worte der Meister und Genies hören sollen; potentiell sollen sie selbst, oder zumindest einige wenige von ihnen, zu solch einem Führer werden können. Die »zweite Natur«, von der Nietzsche spricht, soll an die Stelle der ersten treten, bei der die Schüler ansonsten stehen blieben. Nietzsches Vorschlag besteht nun in erster Linie darin, auf einen physiologischen Reflex zu setzen, der als erste Natur ohnehin bei jedermann vorhanden ist; als zweite Natur bedarf er le-
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Die Universität ist nur eine Fortsetzung der verfehlten Gymnasialbildung: Der Professor darf »ungefähr reden, was er will«, der Student »ungefähr hören, was er will« und sogar »dem Gehörten Glaubwürdigkeit und Auktorität absprechen« (KSA 1, 740).
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diglich einer Transformation, um auf andere Gegenstände reagieren zu können. Wollte man Nietzsches Vorschlag lernpsychologisch beschreiben, so handelte es sich hier um einen Fall von klassischer Konditionierung: Aus einem ursprünglich unbedingten Reiz und einer daran gekoppelten unbedingten Reaktion sollen bedingter Reiz und bedingte Reaktion werden. Die Reaktion, um die es hier geht, ist der Ekel. Eine gelingende Erziehung zum Ekel ist für Nietzsche die notwendige Bedingung für tatsächliche Bildung. Die Analogie zur Konditionierung ist dabei nicht zufällig: Wenn der Behaviorismus meinte, von vornherein sehr gut ohne die Annahme eines lernenden »Subjekts« auskommen zu können, so ist dieses »Subjekt« für Nietzsche etwas, das überwunden werden muss, um auf einer anderen Ebene verwandelt wieder entstehen zu können.
E RZIEHUNG
ZUM
E KEL
So sehr Nietzsche die Praxis des deutschen Aufsatzes im Gymnasium ablehnt, so nachdrücklich hebt er die Bildungsbedeutung des Deutschunterrichts hervor. 7 Dieser soll aber in erster Linie Sprachunterricht sein. Keineswegs soll der Lehrende hier die Schüler dort abholen, wo sie sprachlich stehen; im Gegenteil soll ihnen das alltägliche Deutsch dauerhaft ausgetrieben werden. Zu diesem Zweck fungiert die Schule als »Glasglocke des guten Geschmacks und der strengen sprachlichen Zucht« (KSA 1, 675). Der Unterricht in der deutschen Sprache ist auch der Königsweg zum Verständnis der Antike, und dieser Weg führt weder über den freien Aufsatz, noch über grammatische Studien, sondern über Geschmacksbildung, die an sprachlich wertvoller deutscher Literatur entwickelt wird. Nietzsche setzt hier auf die Gegenüberstellung guter und schlechter Beispiele, wobei er die schlechten Beispiele der Alltagssprache entnimmt. Der Gebrauch von Wör-
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Keineswegs denkt Nietzsche ernsthaft daran, die alten Sprachen durch die sog. »Realien« zu ersetzen. Diese verweist er generös an die »Anstalten der Lebensnoth« (KSA 1, 717), in denen man lernt, »wie man die Natur sich unterjocht« (ebd., 716). Die wahren »Anstalten der Bildung« (ebd., 717) bleiben davon unberührt; dem existierenden Gymnasium wirft Nietzsche dagegen vor, dass es sozusagen die schlechtere Realschule ist (zum historischen Kontext der Basler Vorträge vgl. Oelkers 2005).
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tern wie »›beanspruchen‹, ›vereinnahmen‹, ›einer Sache Rechnung tragen‹, ›die Initiative ergreifen‹, ›selbstverständlich‹« (ebd., 676), soll den Schülern geradezu verboten werden. Auf das Verbot allein kann man aber nicht setzen. Die Arbeit des Lehrers, auch wenn dieser mit der »ganzen Sicherheit eines guten Geschmacks« (KSA 1, 676) ausgerüstet sein sollte, droht zu scheitern, wenn der Schüler »in der nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon das ekelhafte Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt« (ebd., 671). Hier ist das Stichwort gefallen: Nietzsche setzt darauf, dass die Gewöhnung an gutes Deutsch dazu führt, dass die Schüler auf Dauer gegenüber minderwertigen sprachlichen Erzeugnissen Ekel empfinden: »Mit der richtigen Gangart der Sprache aber beginnt die Bildung: welche, wenn sie nur recht begonnen hat, nachher auch gegen jene ›eleganten‹ Schriftsteller eine physische Empfindung erzeugt, die man ›Ekel‹ nennt« (ebd., 685). Diese Idee wird in den Basler Vorträgen mehrfach aufgegriffen: »Was für eine Aufgabe hätte eine höhere Bildungsanstalt [...], wenn nicht gerade die, auktoritativ und mit würdiger Strenge die sprachlich verwilderten Jünglinge zurecht zu leiten und ihnen zuzurufen: ›Nehmt eure Sprache ernst! Wer es hier nicht zu dem Gefühl einer heiligen Pflicht bringt, in dem ist auch nicht einmal der Keim für eine höhere Bildung vorhanden. [...] Erlangt ihr nicht so viel von euch, vor gewissen Worten und Wendungen unserer journalistischen Gewöhnung einen physischen Ekel zu empfinden, so gebt es nur auf, nach Bildung zu streben: denn hier, in der allernächsten Nähe, in jedem Augenblick eures Sprechens und Schreibens habt ihr einen Prüfstein, wie schwer, wie ungeheuer jetzt die Aufgabe des Gebildeten ist und wie unwahrscheinlich es sein muß, daß Viele von euch zur rechten Bildung kommen‹« (ebd., 676).
Oder: »Erst durch eine solche Zucht bekommt der junge Mensch einen physischen Ekel vor der so beliebten und gepriesenen ›Eleganz‹ des Stils unsrer ZeitungsfabrikArbeiter und Romanschreiber, vor der ›gewählten Diktion‹ unserer Litteraten und ist mit einem Schlage und endgültig über eine ganze Reihe von recht komischen Fragen und Skrupeln hinausgehoben z.B. ob Auerbach oder Gutzkow wirklich Dichter sind:
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man kann sie einfach vor Ekel nicht mehr lesen, damit ist die Frage entschieden. Glaube Niemand, daß es leicht sei sein Gefühl bis zu jenem physischen Ekel auszubilden: aber hoffe auch Niemand auf einem anderen Wege zu einem ästhetischen Urtheile zu kommen als auf dem dornigen Pfad der Sprache und zwar nicht der sprachlichen Forschung, sondern der sprachlichen Selbstzucht« (KSA 1, 684).
Was an Auerbach oder Gutzkow eigentlich so ekelhaft ist, wird von Nietzsche allerdings nicht weiter ausgeführt. Das muss er auch nicht, da er davon ausgeht oder zumindest rhetorisch beschwört, dass seine Leser bzw. die Zuhörer der Vorträge bereits das gleiche Sensorium für ekelerregende Sprachverwendung entwickelt haben. Die physiologische Reaktion des Ekels ist keine, die irgendwelcher Gründe bedürfte oder diesen auch nur zugänglich wäre; sie stellt sich ein, oder eben nicht: Wer sich bei der Lektüre von Gutzkow ekelt, erweist sich als gebildet, weil sein Geschmack ihn dazu bringt, geradezu körperlich auf die Lektüre zu reagieren. Nietzsche setzt also auf eine, wie es bei Kant heißt, »starke Vitalempfindung« (Kant 1977), 8 die zum Überleben notwendig ist: Etwas, dass als potentiell gefährlich für den Organismus eingeschätzt wird, aber aus irgendwelchen Gründen Zugang zu diesem erlangt hat, muss ihn auf schnellstem Wege wieder verlassen. Die Empfindung des Ekels sorgt dafür, dass der Organismus sich selbst schützt, in diesem Falle durch Erbrechen. Ekel als »Vitalempfindung« erscheint in einer erstaunlichen konsistenten Konstellation von »Geruch, Gesicht und Getast« (Geiger/Kolnai [1929] 1974, 137) als olfaktorischer Ekel (»Fäulnis, Verfall, Absonderung«, ebd., 137), haptischer Ekel (»Schwabbliges, Schleimiges, Breiiges«, ebd., 138) und optischer Ekel, der sich allerdings in der Regel als abgeleitet aus Geruchs- und Tastekel erweist. Zudem gibt es auch noch den Ekel aus Überdruss: auch die Aufnahme von Süßigkeiten kann zum Ekel führen, wenn man des Guten zuviel getan hat. Nun behauptet selbst Nietzsche nicht, die Lektüre von Gutzkow sei ebenso lebensbedrohlich wie die Aufnahme verfaulter Lebensmittel. Trotzdem ähnelt die Reaktion, die er einfordert, in ihrer Heftigkeit dem physiologischen Reflex. Um hier eine Brücke zu schlagen, bedient sich Nietzsche einer sprachlichen Analogisierung. So sind z.B. journalistische Texte für
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Vgl. dazu und zum Folgenden vor allem die ausführliche Studie von Menninghaus 2002, davon angeregt auch Vogt 2007a.
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ihn ekelerregend, weil sie jene »klebrige Vermittlungsschicht« (KSA 1, 671) bilden, durch welche die Fugen zwischen »allen Lebensformen, allen Ständen, allen Wissenschaften« (ebd., 671) abgedichtet werden sollen. Das Adjektiv »klebrig« verweist hier natürlich weniger auf einen festen Kitt, der gar keinen Ekel evozieren würde, sondern auf eine amorphe und wenig stabile Masse, die nicht nur ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllt, sondern darüber hinaus auch eine ekelerregende Konsistenz aufweist. Eine ähnliche Argumentationsfigur findet sich schon in Kants Anthropologie. Der Ekel fungiert hier als ästhetisches Organon, weil er eine quasinatürliche Reaktion auf geistig Unverdauliches darstellt. Jenseits aller Begründungen reagiert der Geschmack auf Widerliches, Abgestandenes und Halbverdautes, und zwar in eins, physisch, epistemologisch und moralisch. 9 Kant und Nietzsche haben hier gemein, dass sie streng genommen gar kein Kriterium für die Angemessenheit ihrer Ekel-Reaktion ausweisen. Sie können nur auf die Evidenz des »Wem nicht auch davon übel wird, dem ist ohnehin nicht zu helfen« pochen. Dies ist verwunderlich, wenn man die zentrale Rolle bedenkt, die in beiden Fällen dem Ekel zugesprochen wird. So basiert etwa bei Kant das ästhetische Urteil auf den hochgradig unzuverlässigen, weil subjektiven Gefühlen der Lust oder der Unlust an einem Gegenstande. Die (relative) Gültigkeit des Urteils wird daher bei ihm durch zwei quasi-objektive Bausteine abgestützt, wenn auch nicht endgültig gesichert: durch den Ekel (als Verobjektivierung der Unlust) und durch einen lediglich unterstellten sozialen »Gemeinsinn«, der es möglich macht, ästhetische Urteile als Urteile überhaupt formulieren zu können. Bei Nietzsche nun ist vom öffentlichen Raum eines Gemeinsinns gar keine Rede mehr. Der »sensus communis« Kants wandelt sich zur elitären Gemeinschaft der angeekelten Individuen. Diese haben einen Bildungsgang durchlaufen, der ihr Ekel-Sensorium geformt hat, dessen gewissermaßen »curriculare« Struktur bei Nietzsche aber nicht anders als zirkulär beschrieben werden
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»Weil es aber auch einen Geistesgenuß giebt, der in der Mittheilung der Gedanken besteht, das Gemüth aber diesen, wenn er uns aufgedrungen wird und doch als Geistes-Nahrung für uns nicht gedeihlich ist, widerlich findet (wie z.B. die Wiederholung immer einerlei witzig oder lustig sein sollender Einfälle und selbst durch diese Einerleiheit ungedeihlich werden kann), so wird der Instinct der Natur, seiner los zu werden, der Analogie wegen gleichfalls Ekel genannt, ob er gleich zum inneren Sinn gehört« (Kant 1977, 157f).
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kann: Wer hochwertige Literatur kennengelernt hat, der ekelt sich vor allem anderen; was aber hochwertige Literatur ist, kann nicht anders als durch die Reaktion des Sich-Ekelns bestimmt werden. Zutreffend diagnostiziert Menninghaus in diesem Zusammenhang, dass der Ekel hier nicht nur Erkenntnis ermöglichen soll, sondern ganz an die Stelle von Erkenntnis tritt (vgl. Menninghaus 2002, 252f). Das macht es schwierig bis unmöglich, das Ekelerregende mit Gründen gegenüber Schülern oder Studenten explizieren zu wollen. Nietzsche, in dessen Gymnasium dies auch gar nicht erst versucht werden soll, hat dies klarer gesehen, als etwa Adorno. So hoffte dieser z.B. knapp ein Jahrhundert nach Nietzsche, »daß ein Musiklehrer [...] Schlageranalysen macht und [den Schülern] zeigt, warum ein Schlager [...] so unvergleichlich viel schlechter ist als ein Quartettsatz von Mozart oder Beethoven oder ein wirklich authentisches Stück der neuen Musik. So daß man einfach versucht, zunächst einmal überhaupt das Bewußtsein davon zu erwecken, daß die Menschen immerzu betrogen werden [...] Ich würde eine solche Erziehung des ›Madigmachens‹ außerordentlich advozieren« (Adorno 1981, 146).
Im »Madigmachen« steckt noch das ursprüngliche Motiv des physiologisch Ekelhaften; angewidert sollen sich die Schüler vom Schlager abwenden, weil dessen Beschaffenheit ansonsten Brechreiz auslösen würde. Gute Gründe führen aber nicht zum Erbrechen; das müssen sie aber auch nicht, weil dieses sehr gut auch ohne Gründe funktioniert. Eine auf Gründen beruhende »Erziehung des Madigmachens« ist daher ein Widerspruch in sich und auch wohl wenig aussichtsreich. Dass Nietzsche, hier konsequenter als Adorno, auf das Erbrechen als Organon und als Ersatz der Einsicht setzt, deutet allerdings auf eine Krise der ästhetischen Urteilskraft hin: Offenbar ist es um die guten Gründe schlecht bestellt, wenn man ihnen nicht mehr zutraut, von sich aus zur Einsicht zu führen. Nietzsches Ekel-Didaktik ist bereits von einem tiefen Misstrauen in die Möglichkeit durchzogen, Kinder und Jugendliche zu einem »guten Geschmack« zu erziehen, und dies nicht nur aus entwicklungspsychologischen Gründen. Es mag sein, dass Schüler und Studenten altersbedingt noch gar nicht in der Lage sind, angemessen über Schönheit oder Gelungenheit zu urteilen, und dass es daher verfehlt wäre, solche Urteile zum Regulativ des Unterrichts zu erheben. Nietzsche geht aber noch einen Schritt weiter: Schüler und Studenten werden auch nie
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zu solchen Urteilen in der Lage sein, wenn sie sich weiterhin mit minderwertigen Machwerken umgeben, und dies tun sie, sofern man sie nicht in strenge Zucht nimmt und einem quasi-militärischen Drill unterwirft. Die Bildungsanstalten sind also gar nicht das Initialproblem, sondern diese sind in ihrer ganzen Struktur abhängig von den außerschulischen Bedingungen, in die sie eingelassen sind. Wenn kein Schüler mehr von den Erzeugnissen der allumspannenden Journalistik verschont bleibt, so muss die Schule nach Nietzsche zu rabiaten Maßnahmen greifen: Bildung durch Zucht. Mehr als ein halbes Jahrhundert später kann Adorno dann den Erfahrungsverlust, der untrennbar an den Zerfall des Bürgertums gekoppelt ist, nur noch melancholisch konstatieren. Das angemessene Verstehen großer Kunstmusik, so Adorno, kann durch keine musikdidaktischen Veranstaltungen bewirkt werden, die Entscheidung über den zu erwartenden Erfolg von Unterricht fällt bereits im Kindesalter aufgrund vor- und nichtbewusster Erfahrungen, die man heute der »Primärsozialisation« zurechnen würde: »Die wichtigste Voraussetzung [...] scheint [...] das Hören bedeutender und hochartikulierter Musik zu Hause, in früher Kindheit, als Objekt unbewußter, gar nicht stets voll ›verstehender‹ Wahrnehmung. Das Kind, das abends in seinem Schlafzimmer verbotenerweise eine halbe Stunde der Kammermusik zuhört, welche die Erwachsenen im Wohnzimmer machen, wird in dieser dem Schlaf gestohlener Zeit tiefer in die geheimen Zellen der Musik eindringen, als wenn es jahrelang zur Aktivität in Spielkreisen organisiert ist« (Adorno 1997, 125).
Der Hinweis Adornos, wo diese Bedingungen bedauerlicherweise nicht gegeben seien, könne man ja zu Hause auf Schallplatten zurückgreifen (ebd.), vermag kaum zu überzeugen, schon weil es sich ja in diesem Falle um eine organisierte und intendierte Form der Unterweisung handelte, welche das Szenario des kindlichen Schlafzimmers gar nicht simulieren kann. Solche Residuen ästhetischer Erfahrung, die Adorno noch heraufbeschwört, um immerhin noch die individuelle Möglichkeit von Bildung einzuräumen, tauchen bei Nietzsche nicht mehr auf. Was bleibt, das ist die rabiat hergestellte »Ordnung der Geister« und die »prästabilirte Harmonie« (KSA 1, 750) zwischen Führer und Geführten. Zur Bildung gelangt man nur noch auf diesem Wege, und es können nur einige wenige sein, die aufgrund natürlicher Dispositionen die Gemeinschaft der Angeekelten bilden.
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E KEL
VOR DEM
E KEL
Nietzsches Ekel-Didaktik erlebt in seinen späteren Texten eine Wendung, von der in den Basler Vorträgen noch nichts zu spüren ist. Kurz gesagt: Bildung ist hier nicht mehr daran abzumessen, ob und wie viel sich der wahrhaft Gebildete ekelt, sondern daran, dass er den Ekel hinter sich gelassen hat. Die Begründung dafür entspringt zuallererst einer Ökonomie des Lebens. Wer sich vor etwas ekelt, ja wer überhaupt im Wesentlichen auf etwas reagiert, was nicht er selbst ist, der verschwendet unnötig Lebensenergie. An die Stelle der Bildung tritt nun allein die pure Selbsterhaltung, und schon das Lesen von Büchern, und seien diese auch noch so gelehrt, ist pure Vergeudung von Leben: »Vieles nicht sehn, nicht hören, nicht an sich herankommen lassen – erste Klugheit, erster Beweis dafür, daß man kein Zufall, sondern eine Necessität ist. Das gangbare Wort für diesen Selbstvertheidigungs-Instinkt ist Geschmack. Sein Imperativ befiehlt nicht nur, Nein zu sagen, […] sondern auch so wenig als möglich Nein zu sagen. Sich trennen, sich abscheiden von dem, wo immer und immer wieder das Nein nöthig werden würde. Die Vernunft daran ist, dass Defensiv-Ausgaben, selbst noch so kleine, zur Regel, zur Gewohnheit werdend, eine ausserordentliche und vollkommen überflüssige Verarmung bedingen. [...] Das Abwehren, das Nicht-herankommen-lassen ist eine Ausgabe [...], eine zu negativen Zwecken verschwendete Kraft. [...] Müsste ich nicht darüber zum Igel werden? – Aber Stacheln zu haben ist eine Vergeudung, ein doppelter Luxus sogar, wenn es freisteht, keine Stacheln zu haben, sondern offne Hände« (KSA 6, 292).
Der Igel ist nicht das Sinnbild des Gebildeten. Diejenige Figur, die Nietzsche als Nicht-Neinsager entwirft, der den Ekel überwindet, ist zweifelsohne der Zarathustra, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden soll (zur Mehr- und Vieldeutigkeit von Also sprach Zarathustra vgl. z.B. Menninghaus 2002, 254ff; Klass/Kokemohr 1998). Ansonsten ist auch der späte Nietzsche alles andere als ekel-frei. Der Ekel verschiebt sich aber auf eine andere Ebene. Nicht mehr die allumfassende Journalistik löst jetzt den Primärekel aus. Der Verfall der Sprache ist lediglich ein Oberflächenphänomen, das nun gegenüber den Einsichten einer viel weiter ausholenden und tiefer bohrenden Anamnese der gesamten westlichen Kultur zurücktritt. Der Verfall der Kultur, zu der auch die Bildung gehört, ist nun nicht etwa das
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Ergebnis unglücklich verlaufender Entwicklungen der Neuzeit, sondern steckt bereits in den Wurzeln dieser Kultur selbst. Nietzsches genealogisches Verfahren zielt daher darauf ab, diese Wurzeln selbst freizulegen, weil erst aufgrund einer solchen Tiefenanamnese eine angemessene Kur verordnet werden kann. Die Genealogie entdeckt nun ausgerechnet den Ekel als zentralen Bestandteil dieser Wurzelkrankheit. Diese besteht nach Nietzsche bekanntlich darin, dass die jüdisch-christliche Kultur über eine imaginäre ritterlicharistokratische Kultur triumphierte. Dies war aber nur möglich durch eine raffinierte Um- und Entwertung aller geltenden Maßstäbe in einem gigantischen Akt des Verneinens. Die »Sklaven-Moral«, die nun vorherrscht, »bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund auf Reaktion« (KSA 5, 271). Nichts anderes tut aber der Sich-Ekelnde: Bloß auf alles reagierend, mit dem er es zu tun hat, verfährt er ebenso negativ, wie die Kultur, in der er sich nolens volens befindet. Das große Ja-Sagen, von dem Nietzsche träumt, kann aber selbstverständlich nicht in der bloßen Affirmation dessen bestehen, was ist. Nietzsches Affirmation ist daher im Wesentlichen eine doppelte Negation: Sie besteht im Ekel vor dem Ekel. Um dies verständlich zu machen, muss er einen »falschen« von einem »richtigen« Ekel unterscheiden. Falsch ist der Ekel dann, wenn es sich um eine Abstoßung all dessen handelt, was Nietzsche als »vornehm« und lebensbejahend auffasst; richtig ist der Ekel, wenn er sich angewidert von dieser Lebensverneinung abwendet, wie etwa von den moralischen Tugenden: »Schlechte Luft! Schlechte Luft! Diese Werkstätte, wo man Ideale fabrizirt – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen« (ebd., 282). Nietzsches bildungstheoretisches Programm kann daher nicht mehr darin bestehen, den Ekel vor minderwertigen Kulturerzeugnissen zu lehren und von wahren Anstalten der Bildung zu träumen. Schon die Idee der Bildung selbst muss nun dem Generalverdacht verfallen, Ausgeburt der alles überformenden Sklavenmoral zu sein. Dem Ekelreflex des Gebildeten ist fortan nicht mehr zu trauen. Zumindest auf dem Papier lässt Nietzsche keinen Stein der Kultur mehr auf dem anderen und fordert nun das Umlernen des Ekels, da sich selbst dieser scheinbar naturhafte Reflex historisch bedingter Zuschreibungen verdankt:
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»Das aesthetisch-Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut – blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide, alle jene saugenden und pumpenden Unthiere – formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den Geruch peinlich. Also weggedacht! Was davon doch heraustritt erregt Scham (Koth Urin Speichel Same) Frauen mögen nicht vom Verdauen hören. Byron eine Frau nicht essen sehen. [...] Also: Es giebt Ekel-erregendes; je unwissender der Mensch über den Organismus ist, umso mehr fällt ihm rohes Fleisch Verwesung Gestank Maden zusammen ein. Der Mensch, soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft – er tuth alles, um nicht daran zu denken. – Die Lust, die ersichtlich mit diesem innerlichen Menschen zusammenhängt, gilt als niedriger – Nachwirkungen des aesthetischen Urtheils. Die Idealisten der Liebe sind Schwärmer der schönen Formen, sie wollen sich täuschen und sind oft empört bei der Vorstellung von Coitus und Samen. – Alles Peinliche Quälende Überheftige hat der Mensch diesem innerlichen Leib zugeschrieben: um so höher hob er das Sehen Hören die Gestalt des Denkens. Das Ekelhafte sollte die Quelle des Unglücks sein! – Wir lernen den Ekel um!« (KSA 9, 460f).
Wie aber vollzieht sich ein solches radikales Umlernen? Und kann man dies auch lehren? Nun, von irgendwelchen »Bildungsanstalten« ist bei Nietzsche nicht mehr die Rede. Seine ganze Verachtung gilt nun dieser »›Bildung‹, welche von vornherein die Realitäten aus den Augen verlieren lehrt, um durchaus problematischen, sogenannten ›idealen‹ Zielen nachzujagen, zum Beispiel der ›klassischen Bildung‹« (KSA 6, 279). Was sollte dort auch gelehrt werden, abgesehen von der Lehre Nietzsches, die alle Lehren in sich zusammenfallen lässt? Wie entsteht der »zweite Geschmack« (KSA 6, 437), der notwendig ist, um den ersten Geschmack zu überwinden? Was sind die »Realitäten«, die Nietzsche nun in den Blick nehmen möchte? Die letzte, Nietzsches Lehre, ist vor allem eine Diätetik des Leibes. Die Antwort auf die selbstgestellte Frage des Ecce homo, die Frage »Warum ich so klug bin«, handelt kaum noch von Büchern, jedenfalls nicht mehr von deutschen. Nietzsches Didaktik konzentriert sich nun darauf, die eigene Biographie seinen Lesern als Muster vorzulegen. Das ist an sich wenig originell; originell ist allenfalls, dass hier nicht die Rede von großen Bildungserlebnissen ist, sondern dass die namenlose Überwindung der Bildung auf einige ganz und gar äußerliche Bedingungen zurückgeführt wird: »Ernährung, Ort, Klima, Erholung« (KSA 6, 295). Ein paar Ratschläge aus Professor Nietzsches Hausapotheke:
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Keine Suppen vor der Mahlzeit Keine fetten und mehlig gekochten Gemüse Kein Alkohol, am besten nur Wasser Fleisch essen, aber kein gekochtes Keine Zwischenmahlzeiten, keinen Kaffee Tee nur morgens trinken (manchmal ist morgens aber Kakao zuträglicher) So wenig wie möglich sitzen Orte aufsuchen, in denen trockene Luft und reiner Himmel vorherrscht (also nicht Deutschland)
Das alles ist todernst gemeint. Ob es sich bei dieser »Kunst der Selbsterhaltung« (ebd., 293), wie häufig zu lesen ist, um eine Form der Lebenskunst handelt, die nach der Antike und vor Foucault das Subjekt in postsubjektiven Zeiten neu konstituiert, mag allerdings bezweifelt werden. Nach Foucault jedenfalls geht es in der antiken »Praktik der Diät als Lebenskunst« primär darum, »wie man sich als ein Subjekt konstituiert, das um seinen Körper die rechte, notwendige und ausreichende Sorge trägt« (Foucault 1986, 140). Dies ist aber nicht das Thema Nietzsches im Ecce homo; sein Thema ist vor allem anderen das eigene Schreiben (vgl. dazu auch Kittler 1980). Die gesamte Philosophie, sofern sie »deutsch« ist, wird hier kurzerhand zu einem Verdauungsproblem erklärt. Essen, Trinken, Stuhlgang – all das ist die ganz und gar nicht transzendentale Bedingung der Möglichkeit dafür, das persönliche »Maximum an Kraft« (KSA 6, 279) zu entwickeln – was in erster Linie bedeutet, »gute Bücher zu schreiben«. 10 Es geht also nicht um die Vermeidung von Exzessen, durch die Denken und Schreiben gestört würden, sondern um Denken und Schreiben als unmittelbares Resultat eines Diät-Programmes. Voller Bauch studiert nicht nur nicht gerne, sondern der chronisch volle, der deutsche Bauch kann gar nicht anders, als ein Kuriosum wie die »klassische Bildung« zu postulieren. Was in den Bildungsvorträgen noch eine fragile Konstruktion ist – die Parallelisierung von physischem und geistigem Ekel –, wird nun ganz hand-
10 Fragen wie diejenige nach der »moralischen Wirkung der Nahrungsmittel« (KSA 3, 379) tauchen schon früher auf, allerdings noch im Rahmen einer eher kulturhistorisch konzipierten vergleichenden »Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit« (KSA 3, 379f).
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fest: Falsches Klima und falsche Kost produzieren auch falsche geistige Erzeugnisse. 11 Der »Gebildete« des Ecce homo wird sich vor diesen Erzeugnissen daher automatisch ekeln, wie vor allen Ergebnissen schlechter Verdauung. Keine Unterweisung, kein pädagogischer Drill ist dafür mehr vonnöten. Nietzsches Auflösung der Bildung führt zur »Erektion der dummen Körper« (Bolz 1980, 284), denen es in erster Linie um ihre Selbsterhaltung zu tun ist. 12 Und alle »Didaktik« schnurrt zu einem Diät-Ratgeber zusammen, dessen Glaubwürdigkeit allein durch die Biographie seines Verfassers verbürgt wird: Tut desgleichen und ihr werdet ebenso klug wie ich!
V ON N IETZSCHE
LERNEN ?
Von Bildungsanstalten und ihrer Zukunft ist bei Nietzsche zuletzt nicht mehr die Rede. Dies ist auch schwer vorstellbar: Wenn alles das, was noch für die Basler Vorträge als »Bildung« aufgefasst werden kann, sich als Irrtum erwiesen hat – sogar der Ekel vor der Journalistik –, so kann es auch keinen Ort geben, an dem Bildung gelehrt, vermittelt, mindestens angebahnt werden kann. Der Umzug der deutschen Universitäten ins Engadin oder in die Provence und eine entsprechende Umstellung der Mensa-Küche wäre sicherlich eine reizvolle Idee, würde aber nur wenig nutzen – jedenfalls solange Studieren im Wesentlichen durch Lesen und durch Verarbeitung des Gelesenen vollzogen wird. 13 Kann man ein Fazit ziehen? Zunächst vielleicht dieses: Ganz ausgeschlossen ist nach Nietzsches Analysen ein »Zurück zu Humboldt«, das
11 Das trifft im Übrigen auch für die Musik (und implizit für die Musikpädagogik) zu (vgl. Vogt 2007b). 12 Etwas gediegener formuliert: Nietzsches genealogische Bohrungen führen ihn notwendig in das »Dilemma einer selbstbezüglichen, total gewordenen Kritik der Vernunft« (Habermas 1988, 120). 13 Lesen gehört für Nietzsche nur noch »zu meinen Erholungen, folglich zu dem, was sich von mir losmacht, was mich in fremden Wissenschaften und Seelen spazieren gehen lässt –, was ich nicht mehr ernst nehme. [...] In tief arbeitsamen Zeiten sieht man keine Bücher bei mir; ich würde mich hüten, Jemanden in meiner Nähe reden oder gar denken zu lassen. Und das hiesse ja lesen« (KSA 6, 284).
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erstaunlicherweise in Zeiten des sog. »Bologna-Prozesses« wieder häufiger zu hören ist. Ein »weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus« – mehr kann Nietzsche Humboldt ohnehin nicht bescheinigen, »bald [...] unausstehlich, bald [...] rührend und bemitleidenswert« (KSA 3, 163). Für eine Diskussion über die Zukunft unserer Bildungsanstalten bietet Nietzsche alternativ die Umwandlung in eine Kadetten-Anstalt des Geistes – die Elitetruppe der Angeekelten – oder aber ihre gänzliche Ersetzung durch eine individuelle Diätetik des Leibes an. Keine dieser beiden Möglichkeiten erscheint als sonderlich attraktiv, aber die Frage bleibt, was denn anderes noch möglich wäre. Ein »Zurück zu Nietzsche!« (Löwisch 1998, 354) kann daher einzig als ein »Gehen Sie zurück auf Los« verstanden werden, nicht etwa als eine konkrete Hilfe für eine mögliche Reform von Schule und Universität. Methodologisch gewendet heißt diese Option: Genealogie. Obwohl es übertrieben wäre zu sagen, dass Nietzsche damit eine wissenschaftliche Methode entwickelt hätte, so ist doch die Art und Weise des Zugriffs, die er in der Genealogie der Moral entwickelt, alles andere als beliebig (vgl. dazu ausführlich Saar 2009). Obwohl hier nicht der Ort sein kann, auch nur die Grundlinien und die Probleme genealogischen Arbeitens zu diskutieren (vgl. dazu etwa Honneth 2003 und die daran anschließenden Texte von Owen, Geuss und Saar), soll doch soviel dazu gesagt werden: Nietzsches Genealogie, die von Foucault später aufgegriffen wird, versteht sich nicht als Geschichtsschreibung, verfährt aber im Hinblick auf ihren Gegenstand konsequent historisierend: Ein Sachverhalt, hier die Moral, wird bis auf seine Entstehung zurückgeführt. Dadurch wird vorgeführt, dass es sich nicht um natürliche, sondern um historisch, sozial und kulturell entwickelte Sachverhalte handelt, die (a) immer auch anders hätten entstehen können und (b) im Laufe der Zeit ihre Entstehung erfolgreich so weit verschleiert haben, dass sie als quasi naturgegeben und unhinterfragbar erscheinen. Eine Genealogie ist also immer dadurch gekennzeichnet, dass sie sich einem Thema, einem Gegenstand oder einem Sachverhalt zuwendet, der – anscheinend – gar keine Geschichte hat, sondern dessen Geschichtlichkeit erst einmal ans Tageslicht befördert werden muss. Eine Genealogie dieses Typus´ ist also immer auch kritisch motiviert: Sie will aufzeigen, welche Probleme ihrem Gegenstand von Anfang an anhaften und welche Machtmechanismen sich in den entsprechenden Praktiken, Theorien und Institutionen verbergen. Von besonderem Interesse ist
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dabei die Verschränkung von Subjektivität und Macht und die damit verbundenen Möglichkeiten, Subjektivität zu bewahren, sie aber dabei doch aus ihrer Machtverbundenheit zu lösen – dass dies alles andere als einfach ist, lässt sich an Nietzsches Vorschlägen zu einer Diätetik des Leibes ablesen. Dieses historisierende Problematisieren öffnet damit aber auf jeden Fall einen Raum für andere Möglichkeiten, die sich zumindest implizit aus der Kritik ergeben. Diese anderen Möglichkeiten können aber nicht mehr sein als Vorschläge, die man annehmen oder aber auch ablehnen kann; Nietzsches eigenwillige Alternativen zur herkömmlichen Bildung sind dafür ein schlagendes Beispiel. Was eine Genealogie von einer neutralen Geschichtsschreibung unterscheidet, ist somit deutlich: Die Genealogie will überzeugen, und dazu kann sie nicht anders als rhetorisch und hyperbolisch geschrieben sein, auch da, wo sie, wie im Falle Foucaults, scheinbar nüchtern daherkommt. Sie ist immer auch ein Appell an den Leser, seine eigene, scheinbar selbstverständliche Perspektive auf einen Sachverhalt noch einmal grundsätzlich neu zu überdenken. Ihre Überzeugungskraft gewinnt die Genealogie außerdem dadurch, dass sie komplizierte Sachverhalte zu kompakten Erzählungen und starken Thesen zusammenrafft und sich dadurch immer den Vorwurf der Vereinfachung und der mangelnden wissenschaftlichen Seriosität einhandelt. In den Basler Vorträgen operiert Nietzsche noch nicht eigentlich genealogisch. Immerhin fordert er von seinem imaginären Leser, er möge »gebildet genug sein, um von seiner Bildung recht gering, ja verächtlich zu denken«, während der Autor allein »von dem Nichtwissen und von dem Wissen des Nichtwissens« aus schreibe (KSA 1, 763). Solche sokratische Enthaltsamkeit impliziert bereits das Absehen von (falscher) Bildung, um einen Begriff (wahrer) Bildung auf eine noch reichlich unklare Weise wieder zu gewinnen. Die späteren Texte operieren zwar genealogisch, können aber nicht genuin als Genealogien der Bildung und ihrer Anstalten verstanden werden. Von solch einer Genealogie sind wir trotz Nietzsche und trotz Foucaults Überwachen und Strafen (und erziehungswissenschaftlicher Anknüpfungen an seinen Begriff der »Gouvernementalität«) noch ein gutes Stück entfernt (vgl. u.a. Ricken 2006). Im Hinblick auf das Thema des vorliegenden Bandes bedeutete dies: Anstatt sich angeekelt von den Ergebnissen der letzten Bildungsreform abzuwenden, wäre besser eine Genealogie unserer Lehr-Anstalten zu schreiben, die ihren problematisierenden, historisierenden Blick auf dasjenige der Lehre richtete, was an ihr als nicht-
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entstanden erscheint, und die deutlich macht, in welcher Weise durch das Lehren Subjekte zugleich entstehen und in spezifische Machtdispositive eingebunden bleiben. Für einen bestimmten historischen Zeitpunkt hat Nietzsche vorgeführt, welche Art von Subjekten auf welche Weise in Gymnasium und Universität erzeugt wurden. Insofern bleibt die Lektüre der Basler Vorträge lehrreich, obwohl Nietzsches Konsequenzen eher abschreckend und seine Anregungen zu einer Ekel-Didaktik wenig überzeugend wirken. Aber vielleicht ist ja an Nietzsche ohnehin nichts wahr außer seine Übertreibungen.
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Szenen
Szenen des Lehrens M ARIANNE S CHULLER Als Vermittlung von gegebenem Wissen ist ›Lehre‹ nicht hinreichend beschrieben. Vielmehr kann ›Lehren‹ mit der Vorstellung einer Erzeugung von Wissen verbunden werden. Nimmt man diese Vorstellung auf, dann geht es beim Lehren um einen Prozess, der das Wissen, das er lehrt, mit erzeugt. Mit diesem Paradox taucht das Nicht-Wissen als ein dem Lehren inhärentes Moment auf (vgl. hierzu Schuller/Strowick 2001), dem zufolge nicht nur mit der Figur des unwissenden Schülers, sondern auch mit der des ›unwissenden Lehrmeisters‹ (vgl. Rancière 2007) zu rechnen ist. Was aber heißt das für die symbolische Anordnung, nach welcher der Platz des Lehrers von dem des Schülers mit Bezug auf das Wissen unterschieden ist? Die unterschiedliche und machtkonstitutive Verteilung der symbolischen Plätze ist, wie zu zeigen ist, notwendig; es geht keineswegs darum, sie aufzukündigen, sondern um den Versuch, sie neu zu denken und zu gestalten. Bei diesem Versuch erscheint es sinnvoll, sich auf Lesarten (zum Konzept der ›Lesarten‹ vgl. Nägele 1998, bes. 7f) des Brechtschen Theaters zu berufen. Nicht nur verweist schon die Genre-Bezeichnung ›Lehrstück‹ auf einen Bezug zur Lehre, sondern auch die für Brecht entscheidenden Figuren der ›Zäsur‹ und der ›Geste‹ sind für die Frage der Lehre aufzugreifen. 1 Diese Figuren fungieren bei Brecht als Medien und als Instrumente, welche die Darstellung als Redefluss, als Kontinuum der Vorstellungen und als Konsistenz der Handlung unterbrechen und dadurch Raum schaffen für das
1
Vgl. hierzu grundsätzlich: Von der Ästhetik zur Poetik: Brecht, Benjamin und die Poetik der Zäsur (Nägele 1998, 98-122). Dieser Text zumal hat bei den folgenden Überlegungen Pate gestanden.
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Auftauchen eines unvorhersehbaren Textes, eines ›anderen Schauplatzes‹, der, auch wenn wir es nicht wissen, seine Wirkungen zeitigt (vgl. hierzu auch Nägele 2008; Müller-Schöll 2002, bes. 175-187). So steht beispielsweise Sigmund Freud nicht an, die der Sexualität geltende, gleichsam wilde Gedankenproduktion der Kinder ausdrücklich als »Sexualforschung« zu qualifizieren (vgl. Freud 1972, 95f). Warum? Weil sie, so wild und phantastisch sie auch sein mag, darauf reagiert, dass in der Sichtbarkeit und Phänomenalität etwas anderes wirksam ist, das uns angeht. Diesen ›analytischen‹ Zug, der gewaltsam in die Darstellung interveniert, hat Walter Benjamin ins Zentrum seiner Lesart des Brechtschen Theaters, das auch als ›gestisches‹ zu kennzeichnen ist, gerückt (vgl. Brecht 1967, 398). Denn dieser Zug ist es, der auch Benjamins Schreiben auszeichnet. In seiner »Erkenntniskritischen Vorrede« zum Ursprung des deutschen Trauerspiels, welche das Problem der Darstellung zur Darstellung bringt, insistiert Benjamin darauf, dass es der Schrift eigen sei, die scheinhafte Kohärenz des Redeflusses gesprochener Sprache zu unterbrechen und damit Raum für eine die Chronologie aussetzende Kombinatorik zu schaffen: »Während der Redende in Stimme und Mienenspiel die einzelnen Sätze, auch wo sie an sich selber nicht standzuhalten vermochten, stützt und sie zu einem oft schwankenden und vagen Gedankengange zusammenfügt, als entwerfe er eine groß andeutenden Zeichnung in einem Zuge, ist es der Schrift eigen, mit jedem Satz von neuem einzuhalten und anzuheben.« (Benjamin 1974, 209)
Während Benjamin die Unterbrechung an das Verfahren der Schrift rückbindet, werden bei Brecht die ›Zäsur‹ und der ›Gestus‹ für das Theater konstitutiv. Das Theater ist nach Brecht eine Veranstaltung, welche die Darstellung, genauer: die Darstellbarkeit noch (im logischen Sinne) ›vor‹ der Darstellung in Szene setzt. Fällt damit Darstellung keineswegs mit Vorstellung zusammen, so heißt es schon bei Friedrich Schlegel: »Darstellen will und soll der Mensch gerade das was er nicht vorstellen kann« (Schlegel 1958, 341; zit.n. Nägele 2008, 9). Statt vorgegebene Vorstellungen wiederzugeben, muss die Darstellung diese unterbrechen und durch diesen Sprung in der Darstellung – die Zäsur – zum Sprung der Vorstellung ansetzen. Der Sprung oder die Zäsur können einen Freiraum erstellen, der, weil er noch nichts beinhaltet, Potenzial für andere Wahrnehmungs- und Denkweisen
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schafft. In seinem Aufsatz von 1939 Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen gibt Brecht ein berühmt gewordenes Beispiel für den Gestus als einem blinden Fleck in der Sprache, der zugleich die Augen für das Zeigen der Darstellung öffnet. Das Beispiel ist der Bibel, bzw. der Bibelübersetzung durch Luther entnommen: »Ich [Brecht] will ein Beispiel geben. Der Satz der Bibel ›Reiße das Auge aus, das dich ärgert‹ hat einen Gestus unterlegt, den des Befehls, aber er ist doch nicht rein gestisch ausgedrückt, da ›das dich ärgert‹ eigentlich noch einen anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich den einer Begründung. Rein gestisch ausgedrückt, heißt der Satz (und Luther, der ›dem Volk aufs Maul sah‹, formt ihn auch so:) ›Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!‹ Man sieht wohl auf den ersten Blick, daß die Formulierung gestisch viel reicher und reiner ist.« (Brecht 1967, 319)
Es ist der Doppelpunkt, der den Gestus hervorbringt. Dieses Satzzeichen trennt die beiden Satzglieder und sorgt dafür, dass sich, indem es den Ausfall der Stimme markiert, ein Augenblick der Stille einstellt, die nichts ist und zugleich, da sie Wirkung zeitigt, nicht Nichts. Genau dieses Aussetzen ist es, das den Gestus begründet. Wird Walter Benjamin ›Zäsur‹ und ›Gestus‹ ins Zentrum seiner Beschäftigung mit Brechts gestischem Theater rücken, so setzt, worauf Rainer Nägele aufmerksam gemacht hat (vgl. Nägele 1998, 115), sein Aufsatz Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht (Benjamin 1977) mit einer scheinbar gegenläufigen Forderung ein: mit der Forderung nach Einebnung einer Zäsur: »Worum es heute im Theater geht, läßt sich genauer mit Beziehung auf die Bühne als auf das Drama bestimmen. Es geht um die Verschüttung der Orchestra.« (Ebd., 519) Was ist der Grund für die Einebnung eben dieses für das traditionelle Theater geradezu konstitutiven Einschnitts? Die Orchestra ist es, welche eine Zweiteilung des Theaters in zwei sich strikt gegenüberstehende Räume von kategorial unterschiedlichem Status bewerkstelligt: in den realen Zuschauerraum einerseits und in die Bühne als den Raum der Fiktion andererseits. Nach Brecht ist nicht zuletzt diese Anordnung eine Voraussetzung für das so genannte Illusions- und Einfühlungstheater, sofern der Zuschauer den Hiat zwischen dem realen Raum und dem Raum der Fiktionen imaginär zu überwinden sucht. Dieser Illusion arbeitet das epische Theater entgegen, indem die Zäsur gleichsam beweglich wird. Nicht mehr zwischen Zuschauerraum und Bühne angesiedelt,
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trifft sie nun die Bühne und den Zuschauerraum: Während die Zäsur zwischen Bühne und Zuschauerraum die Verleugnung von Differenz durch Rausch und Illusion evoziert, eröffnet die Zäsur auf der Bühne, indem sie das Bühnengeschehen unterbricht, die Möglichkeit für Einsichten und Erkenntnis: »Daß die Schaubühne eine moralische sei, diese Feststellung hat Berechtigung nur in Hinsicht auf ein Theater, das Erkenntnisse nicht allein vermittelt, sondern erzeugt.« (Benjamin 1977, 528; vgl. Nägele 1998, 115) Diese theatrale Anordnung weist strukturelle Ähnlichkeiten mit dem von Freud etablierten psychoanalytischen Setting auf. Dieses zielt ebenfalls nicht auf die Mitteilung des vom Analysanten anzueignenden AnalytikerWissens, sondern auf die Erzeugung von Erkenntnis durch den analytischen Prozess. Nur dann kommt die Kur als talking cure (Anna O.) zur Wirkung, nur dann wird sie ›wahr‹. Auch dieser Prozess ist von Zäsuren und Unterbrechungen markiert, welche die kategorische Trennung zwischen Analytiker einerseits und Analysant andererseits verwandeln: an die Stelle zweier, kategorisch geschiedener, sich gegenüber stehender Einheiten, konstituiert sich die Eine, in sich zäsurierte Szene der Kur. Nur wo die Bruchstellen und Zäsuren nicht geglättet sind, im Paradox, dass der Diskurs in der analytischen Sitzung nur Geltung hat und Wirkung zeitigt, sofern er strauchelt, skandiert oder unterbrochen wird, ist die Möglichkeit des Bezugs auf ein Anderes eröffnet, das Freud unter dem Namen des anderen Schauplatzes zu umreißen suchte. Die Rede von der Einen, in sich zäsurierten Szene zielt keineswegs darauf, die unterschiedlichen symbolischen Plätze zwischen dem Analytiker einerseits und dem Analysanten andererseits zu verwischen. Vielmehr gilt es, diese Unterscheidungen ebenso wie die zwischen dem Lehrer und dem Schüler einzurichten und zu bewahren. Im Unterschied jedoch zu der traditionellen Aufteilung zwischen der Figur des Analysanten, bzw. Schülers als dem Nicht-Wissenden und dem Analytiker, bzw. Lehrer als dem, der weiß, kommt ein weiteres Moment ins Spiel, das Freud auf den Namen der ›Übertragung‹ getauft hat (vgl. hierzu grundsätzlich Lühmann 2006). Danach ist der Analytiker nicht so sehr derjenige, der weiß, sondern derjenige, dem vom Analysanten Wissen unterstellt wird: Das Wissen meiner Wahrheit, die, so die Unterstellung, am Ort des Analytikers zum Abrufen bereit liegt. Ist diese Unterstellung notwendig, so muss sie zugleich unterbrochen und löchrig (gemacht) werden: In den Einschnitten, Zäsuren und Entstellungen der Rede, wenn die Vorstellungsbilder fadenscheinig werden, kann
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etwas, das jenseits der Verfügungsgewalt des Wissens des Analytikers wie des Analysanten liegt, auftauchen und lesbar werden: etwas vom Text des ›anderen Schauplatzes‹, wie Freud das Unbewusste zu umschreiben suchte. Daher das Paradox, dass der Diskurs in der analytischen Sitzung Wahrheitseffekte zeitigt, wenn er strauchelt, wenn er unterbrochen wird (vgl. Lacan 1975, 175). In der Übertragung als einem fiktiven Prozess also geht es um das InSzene-Setzen eines riskanten Doppelspiels: Einerseits ist die Unterstellung, dass der Andere in Gestalt und am Platz des Analytikers ein Wissen von meiner Wahrheit, bzw. des Lehrers von der Welt, die er lehrt hat, notwendig; andererseits geht es darum, diese notwendige Unterstellung fadenscheinig werden zu lassen: dass die Unterstellung mit ihren Vorstellungen einen Mangel (vor)enthält. Wenn der Analytiker/der Lehrer der ist, dem Wissen und Verstehen unterstellt ist, so gerät beides in der Übertragung in und außer Funktion: Sie kann nur glücken, wenn sich auf Seiten des Lehrers oder Analytikers der Mangel als Mangel des Wissens und Verstehens als das zur Geltung bringt, was zwischen den unterschiedenen Plätzen von Analytiker und Analysant eine Verbindung herstellt. Es ist nicht unbedingt wesentlich, »daß der Analytiker versteht. Vielleicht muss bis zu einem bestimmten Grad einem allzu großen Vertrauen in sein Verstehen vorgezogen werden, daß er nicht versteht. Mit anderen Worten, er muß stets in Zweifel ziehen, was er versteht, und sich sagen, daß das, was er zu erreichen sucht, genau das ist, was er im Grunde nicht versteht.« (Lacan 2007, 242f) Wenn dieser Mangel auftaucht, erweist sich die Kur als eine Szene der Forschung. Jedenfalls dann, wenn Forschen heißt, niemals zur Ursächlichkeit eines letztbegründeten Referenten, der im Wissen des Forschenden liegt, vorzustoßen. Stellt sich unter diesem Aspekt eine strukturelle Äquivalenz zwischen psychoanalytischem Prozedere und dem Brechtschen Theater als Szene der Grenze der Vorstellung heraus, so ist dieser forschende Grenzgang nach Benjamin zugleich das, was Staunen und Lust auslöst: »Jedoch ist der Prozeß der Erkenntnis, von dem wir gesprochen haben, selbst ein lustvoller. Schon daß der Mensch in einer bestimmten Weise zu erkennen ist, erzeugt ein Gefühl des Triumphes und auch, daß er nicht ganz, noch endgültig zu erkennen ist, sondern ein nicht so leicht Erschöpfliches, viele Möglichkeiten in sich Bergendes und Verbergendes ist (wovon seine Entwicklungsfähigkeit kommt), ist eine lustvolle Erkenntnis. [...] Freilich nicht, wenn der Mensch als etwas Mechani-
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sches, restlos Einsetzbares, Widerstandsloses angesehen wird, wie es bestimmter gesellschaftlicher Zustände wegen heute geschieht. Das Staunen, welches hier in die aristotelische Formel von der Wirkung der Tragödie eingesetzt werden muß, ist durchaus als eine Fähigkeit zu bewerten und kann gelernt werden.« (Benjamin 1977, 530f)
Eine ähnliche Szene des Staunens tut sich auf, wenn Freud die wirren, sinnlosen Reden der Hysterikerin nicht zu entkräften, sondern zu hören, bzw. zu lesen sucht. Auch hier ist es gerade nicht die Bestätigung eines vorab gewussten Wissens, die Staunen erregt, sondern die Erfahrung, dass er ›selbst‹, ohne es zu wissen, in das gehörte Redegewirr verwickelt war: Er fühlte sich als ein das Subjekt mitkonstituierender Anderer angesprochen. Diese Erkenntnis hat Jacques Lacan in einem Vortrag an der Yale University vom 24. November 1974 konstruiert: »[Freuds] erstes Interesse galt der Hysterie [...] Er brachte lange Zeit mit Zuhören zu, und während er zuhörte, entstand etwas Paradoxales, ein Lesen. Während er Hysterikerinnen zuhörte, las er, daß da ein Unbewußtes war. Das heißt, etwas, das er nur konstruieren konnte, und in dem er selbst implizit war; er war darin impliziert in dem Sinne, daß er zu seinem großen Erstaunen bemerkte, daß er es nicht vermeiden konnte, in das verstrickt zu sein, was die Hysterika ihm sagte.« (Zit. in deutscher Übersetzung nach Felman 1993, 101)
Hier zeichnet sich nicht nur die aporetische Struktur der Übertragung ab, sondern auch die Eine, in sich zäsurierte Szene als eines rätselhaften, niemals ganz auszuleuchtenden Schauplatzes des Subjekts. Wo Freud der Hysterikerin zuhört, wird er qua Übertragung selbst zum Analysanten: Was er hört, liest sich zu seinem großen Erstaunen zugleich als sein ›eigenes‹ irgendwo woanders aufgezeichnetes Unbewusstes – als das eigene Andere, das ihm die fremde Hysterika zuspricht. Rückt im philosophischen Diskurs von Jacques Rancière ebenfalls eine für die Frage der Lehre entscheidende Verschränktheit von Wissen und Nicht-Wissen in den Blick, so steht dafür das Konzept einer »Ästhetik der (Er)Kenntnis« ein: »Von einer ästhetischen Dimension der Erkenntnis sprechen, heißt von einer Dimension der Unwissenheit sprechen, welche die Idee selber und die Praxis zerteilt.« (Rancière 2008, 81) Dabei meint ›Ästhetik‹ bei Rancière nicht die Theorie des Schönen oder der Kunst, auch
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nicht die Theorie der Sinnlichkeit, sondern einen Typ sinnlicher Erfahrung, der sich zwischen die vorgegebenen Muster und Bedingungen von Erkenntnis schiebt; der sie gleichsam entkoppelt. Während in der Regel – und ebenso in bestimmten soziologischen Theorien – zwischen dem symbolischen Platz, den die Menschen in der hierarchischen Ordnung der Gesellschaft einnehmen, und ihrer Wissensform ein unauflöslicher Zusammenhang gedacht wird, ist die Ästhetik der Erkenntnis ein Modus, diese Schleife zu durchbrechen (vgl. Rancière 2008, 87). Die ›Ästhetik der Erkenntnis‹ nach Rancière durchtrennt die Schleife, die den symbolischen Platz, den die Menschen einnehmen, unauflöslich an die diesem Platz entsprechende Seinsweise, die Art und Weise zu fühlen und zu denken, koppelt. Als Beispiel führt Rancière eine Überlegung Kants zum ästhetischen Urteil an, die dieser anhand der Wahrnehmung eines herrschaftlichen Palastes entfaltet: Nach Kant verdrängt oder vergisst das ästhetische Urteil keineswegs das Wissen um die Eitelkeit des adligen Müßiggängers, ebenso wenig wie das Wissen um den vergossenen Schweiß derer, die ihn errichtet haben. Vielmehr wird ein neuer Wahrnehmungstyp eingeführt: Die Produktion eines hinzukommenden ›als ob‹ (vgl. ebd., 82f). Nach Rancière verfährt der ästhetische Blick, der auf die Form des Palastes zielt, so als ob er sich lösen könnte von der zweifachen Beziehung des Palastes zu dem in seine Einrichtung investierten Wissen und zu dem Wissen der hierarchischen Gesellschaftsordnung, die er in Szene setzt (vgl. ebd., 90). Doch dieses ›als ob‹ verbirgt keine Realität, sondern bewirkt eine Verdoppelung von Realität: Während die Koppelung von symbolischem Platz und Denkweise darauf zielt, dass nur eine Realität gegeben ist, erlaubt der Verdoppelungseffekt des ›als ob‹, dieser Zuweisung zu entkommen. Während einer bestimmten Soziologie zufolge (Rancière hat hier vornehmlich Bourdieu vor Augen) diese Verdoppelung nur Illusion und falsches Bewusstsein sein kann, geht es in der hier avisierten ›Ästhetik der Erkenntnis‹ um die Bestimmung eines Typs von Erfahrung, der die zirkuläre Beziehung von der Kenntnis als Wissen und der Kenntnis als Verteilung der einzunehmenden symbolisch-gesellschaftlichen Plätze neutralisiert. Diese Neutralisierung unterbricht und stört eine Ordnung, welche gesellschaftliche Positionen mit Geschmäckern und Einstellungen, Wissensbereichen und Illusionen in Übereinstimmung zu bringen sucht. Mit dieser hier aufgeführten Konstellation zeichnet sich ein Schema ab, das auf die Frage des Lehrens bezogen werden kann. Danach ist Lehren an
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den Modus des ›als ob‹ geknüpft, der Raum für ein forschendes Denken öffnet. Während die feste Bindung zwischen symbolischem Platz und der Welt des Subjekts die Subjekte kalkulierbar macht, entsteht ein gleichsam leerer Raum für unvorhersehbare Veränderungsprozesse. Führt die Kalkulierbarkeit zum modularisierten Lernsubjekt der neuen Universität, so haben wir es erneut mit dem kategorial geteilten Raum zu tun: Dem Raum, von dem aus der Lehrer ein festgelegtes und gesichertes Wissenskontingent zur Vermittlung, Aufklärung und Weitergabe bereit hält (Bühne) einerseits und der Platz der aufnehmenden Schüler (Zuschauer) andererseits. Keine Stauung und kein Staunen. Vielmehr Institutionalisierung von gleichsam apparativ-instrumentellen Faktoren wie den durchkalkulierten Lehrprofessor, dem der kalkulierbare Student entspricht, der einen hohen Grad an Messbarkeit und Berechenbarkeit garantiert. So die offizielle Planung. Aber auch Pläne zur Beherrschung können nicht absolut beherrscht werden. Bezogen auf die Universität könnte das heißen: Auch wenn sie die Übereinstimmung von Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken der Studierenden mit ihrer Lage und ihrer Positionierung als BA oder MA als Berechnungsgrundlage etabliert, wird dieser Verbund doch immer wieder gestört, unterbrochen, zäsuriert. Das ist nicht nur ein luxurierender und leichtfertiger Traum, nicht nur ein frommer Wunsch. Denn trotz aller fest gefügten Formierungen sind da Worte und Diskurse, die herrenlos zirkulieren und die Subjekte von ihrer kalkulierten Bestimmung ablenken, in andere, nicht vorgesehene Richtungen. Weil das so ist, weil es Kontingenzen gibt und es unmöglich ist, Illusionen von Wahrheit, Wünsche von Realität säuberlich zu trennen, deswegen geht es nicht um Resignation als Folge der Analyse, sondern um das Offenhalten einer anderen Zukünftigkeit.
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L ITERATUR Benjamin, W. (1974): Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/1, hrsg. von Tiedemann, R./Schweppenhäuser, H.. Frankfurt am Main. Benjamin, W. (1977): Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/2, hrsg. von Tiedemann, R./ Schweppenhäuser, H. Frankfurt am Main, 519-531. Brecht, B. (1967): Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. In: Ders.: Gesammelte Werke in 20 Bdn., Bd. 19. Frankfurt am Main, 397404. Felman, S. (1993): What does a Woman want? Reading and sexuell Difference. Baltimore/London. Freud, S. (1972): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. V. Frankfurt am Main, 27-146. Lacan, J. (1975): Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Ders.: Schriften II, ausgewählt und herausgegeben von Haas, N. Olten und Freiburg, 165-230. Lacan, J. (2007): Die Übertragung. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch VIII. Wien. Lühmann, H. (2006): Schule der Übertragung. In: Pazzini, K.-J./Gottlob, S. (Hg): Einfürungen in die Psychoanalyse. Bielefeld, 97-118. Müller-Schöll, N. (2002): Das Theater des »konstruktiven Defaitismus«. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt am Main. Nägele, R. (1998): Lesarten der Moderne. Essays. Eggingen. Nägele, R. (2008): Darstellbarkeit. Das Erscheinen des Verschwindens. Basel/Weil am Rhein. Rancière, J. (2007): Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien. Rancière, J. (2008): Denken zwischen den Disziplinen. Eine Ästhetik der (Er)Kenntnis. In: Inaesthetik, Nr.0, 81-102. Schlegel, F. (1958): Kritische Ausgabe, Bd. 18., hrsg. von Behler, E.. München. Schuller, M./Strowick, E. (2001): Eröffnung. In: Dies. (Hg): Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung. Freiburg, 9-14.
Modalitäten, die man mitschreiben kann (oder nicht...) (Un-)Möglichkeit, Notwendigkeit, Kontingenz in der »Lehre der Literatur« M ARCUS C OELEN Die folgenden Ausführungen finden ihren Ausgangspunkt in einer Bemerkung Paul de Mans, in welcher sinngemäß gesagt wird, dass im classroom eines Literatur-Seminars nichts geschehe, was mit Pädagogik oder Intersubjektiven zu tun habe, sondern dass sich hier (oder »dort«) einfach nur das 1 »Notwendige« des literarischen Textes ereigne. Diese Bemerkung ist mir immer sehr rätselhaft und zugleich, im Zusammenhang der de Man’schen Texte, evident erschienen; einerseits also ein wenig ungebunden, beliebig in ihrer Unverständlichkeit und andererseits als zwingend notwendig sich einstellend: aus Notwendigkeit ableitbar aus anderem und anders Gesagtem desselben Autors. So scheint diese Bemerkung, könnte man sagen, doppelt »kontingent«, wenn man beide Bedeutungen des Ausdrucks würdigt und die eine so überdehnt, dass sie in die Nähe eines internen Widersinns gerät. Denn einerseits wäre die Bemerkung in ihrer rätselhaften Gewaltsamkeit, wie gesagt, einsam und aleatorisch, nicht an eine Notwendigkeit gebunden, aber anderseits berührt etwas in ihr das »Notwendige« eines Textes – des »Textes de Mans« – und sie gehört zum erwartbaren oder beinahe zwingend Auftretenden einer Instanz dieses Textes. Ausgehend von dieser Bemerkung und der Lektüre einer in ihr selbst e contrario genannten Modali-
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Ich verzichte in diesem Fall auf die Angabe einer etwaigen genauen Quelle und hänge den Verweis sowie alles, was darauf folgt, am Hörensagen auf.
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tät – einer Lektüre, die wiederum, in einer Bewegung, die kontingent scheint, diese Modalität gegen sich wendet, und Kontingenz als Notwendigkeit sich aussagen lässt – ließen sich nun mehr oder weniger systematische Überlegungen zur Frage der Modalitäten, wie sich diese im »lehrenden« Umgang mit Literatur aufdrängen, anstellen. Solche Überlegungen könnten Jacques Lacans Umschrift, im wörtlichen Sinne, der Modalität der Notwendigkeit (nécessité) als »das, was nicht aufhört sich zu schreiben« (ne cesse pas de s’écrire), und, abgeleitet davon, diejenigen der Unmöglichkeit und der Kontingenz mit einbeziehen. Das, was bei Lacan mit »Schreiben«, und das, was bei de Man mit »Lesen« lesbar und schreibbar wird und sich zugleich gegen die einfache Möglichkeit und schlichte Notwendigkeit sowohl des Lesens und Schreibens als diejenige, diese selbst schlicht und einfach zu lesen und zu schreiben, wendet, könnten die »Lehre der Literatur« in heftigste Bewegung, bis an die Grenze des Erträglichen versetzen. Geleitet von der Überzeugung, dass der Ausdruck »Lehre der Literatur« ein Oxymoron darstellt; dass es sich beim Umgang mit dem literarischen Text im classroom oder im Raume der Universität weder um Wissen noch um Erkenntnis handelt; und dass »Literatur« weder ein Objekt noch einen Gegenstand bezeichnet, ließen sich weitere Vorschläge zur Theoretisierung des Widerstands machen, den »Literatur« innerhalb der herrschenden Wissensökonomie und heutiger Bildungsideologien darstellt – Widerstand als die Gegenbewegung all dessen, was sich gegen jede geordnete oder wahrnehmbare Bewegung institutionalisierten Sprechens überhaupt regt, und gegen den Eintrag eines Ertrags eines solchen regt. Von all dem im Folgenden ein wenig.
E S MEHRMALS
ANDERS SAGEN
»Lehren bildet.« Aber was? Und wie? Die Unmöglichkeit, diese Frage zu beantworten – und dass es diese Unmöglichkeit gibt, möchte ich zunächst als Setzung, apodiktisch und ohne jede Erklärung, hier stehen lassen –, diese Unmöglichkeit generiert die Notwendigkeit, anstelle von Antworten etwas Anderes zu formulieren, anderes als Antworten zu praktizieren. Etwas Anderes zu formulieren, das heißt sowohl, etwas Anderes zu sagen, als auch, etwas anderes zu formen, oder, anders gesagt, etwas Anderes zu bilden. Und »anders gesagt« heißt anders gesagt bekanntlich allegorisch: das
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Anders-Sagen ist auch das Bilden von Allegorien, und solche werden somit nicht nur für die kapitalen Vergehen und Leistungen dessen, was »Kultur« Genanntes in sich abzustecken sucht (für Sünden und Tugenden), sondern für all das, was sich nicht anders als anders gesagt sagen lässt, gebildet. Hierin sind solche elementaren oder scheinbar elementaren Vorgänge eingeschlossen wie das Lesen. (Ich spiele hiermit natürlich, zumindest Literaturwissenschaftlern ist das geläufig, auf das derzeit in massive Vergessenheit geratene und heutzutage selten »gelehrte« Buch von Paul de Man: Allegorien des Lesens an.) Wenn aber die Unmöglichkeit der Antwort auf die Frage »Was und Wie bildet Lehren?« durch Allegorien ersetzt wird, und Allegorien Bildungen eines anderen Sagens und das Sagen anderer Bildungen zu sein scheinen, dann würde die Antwort nun doch lauten, dass Lehren Bildung (und sei es Bildung von Allegorien) bildet. Dass Lehren aber Bildung bilden soll, kann uns nicht überraschen, und es scheint nur weniges beizubringen. Aber es würde eine zumindest dreifache Explikation erlauben oder erzwingen, um diese kontingente Kausalität einer Autoheteroreferenz sprechend zu machen. Erstens könnte und müsste von hier aus erläutert werden, was sich im Rahmen epistemologischer Fragestellungen auf den Zusammenhang von »Allgemeingültigkeit und Begründungsaporie« bezieht. Denn von jeher scheint der Begriff der Bildung von Selbstbezug – »Bildung ist Bildung zur (Selbst-)Bildung« hört man häufig – heimgesucht. Und auch der hier formulierte Zusammenhang von Bilden und Lehren deutet dies an. Zweitens öffnet sich hier die Frage, inwieweit Bildung zu tun hat mit dem wesentlich Allegorisierenden einer Bestimmung dessen, was Wesen und Handlung einer »Sache« ist. »Bildung« – und zwar »jede« Bildung, im allgemeinen Sinne – würde bedeuten, sich dem Allegorischen, d.h. dem Wesens- und Handlungsverlust der Sachen, an dem sich zu bilden ist oder die zu bilden sind, auszusetzen. Drittens fordert die derart angerissene Verbindung von Bilden, Lehren und Allegorien-Bilden die Frage nach der Allegorie »selbst« heraus. Nicht allerdings so sehr in der Form: Was sind Allegorien? sondern: Wie sind Allegorien? Wie sind sie gemacht, wie machen sie selber etwas? Was ist ihre Performanz? Etc. Auch von dieser dritten Dimension im Folgenden ein wenig. Damit würde man nun allerdings das allgemein scheinende Terrain der Frage nach dem, was Lehren bildet, verlassen und sich fragend in einer speziell erscheinenden Disziplin – Disziplin der universitären Lehre? Bil-
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dungsdisziplin? – platzieren, nämlich mitten in der sog. »Literaturwissenschaft«, scheint diese doch besonders berufen, die Frage nach dem Was und dem Wie der Allegorien zu beantworten. Nach dem bislang Gesagten mag die Behauptung nicht überraschen, dass eine Antwort auf diese Frage, auch oder gerade unter der Maßgabe einer solchen Disziplin wie »Literaturwissenschaft«, nicht einfach möglich ist. Es ist sicher nicht zu leugnen, dass es eine Reihe von Definitionen und Bestimmungen dessen gibt, was Allegorie genannt wird; und es ist auch nicht zu leugnen, dass es viele sehr genaue Beschreibungen gibt, wie Allegorien gebildet, eingesetzt und rezipiert wurden und werden, und dass diese als zum »Kanon« literaturwissenschaftlicher Texte gehörig gezählt werden. Aber keine dieser Bestimmungen oder Beschreibungen langen hin, weder um eine Washeit – als Substanz, Wesen oder Begriff – noch eine Wieweise – als regelbestimmte Pragmatik oder Performanz – des Allegorischen zu fassen. Da jede Allegorie »selbst« eine supplementäre Figur ist – Supplement zu sich selbst und selbst darin supplementär –, und sie in einem (wesentlichen) Als-Ob (des Wesens) agiert, kann sie selbst nicht als solche bestimmt werden, sie kann noch nicht einmal eben so, als »supplementäre Figur«, deren Aktionsmodus das täuschende, irreale oder Simulakren schaffende Als-Ob wäre, definiert werden. Die Unmöglichkeit der Beantwortung der Frage nach dem Was und dem Wie der Allegorie – und diese Antwortunmöglichkeit in Bezug auf die Frage der Allegorie hatte sich qua Allegorie selbst anstelle der unmöglichen Beantwortung der Frage, was und wie Lehren bildet, gesetzt – führt nun nicht, oder nicht nur, zu einer Wiederholung eben jenes Anders-Sagens als Beantwortung, also wiederum zu einer Allegorie. Oder genauer, Sie führt genau zu dem: zur Wiederholung und zu der wiederkäuenden und nichts erwirkenden Niederschrift und hier vollzogenen verlautenden Lektüre dieser Sätze von der Unmöglichkeit einer Antwort und ihrer allegorischen Ersetzung als Allegorie. Das grenzt an Nichts, für manche sogar an Nihilismus, hat aber mit Sprache zu tun. Vielleicht ist es notwendig, in einem von Bildung und Lehren bestimmten oder zumindest heimgesuchten Sprechen, sich auf diese, genau diese eigentümliche Weise der Allegorie einzulassen. Deren a limine mögliche Formulierung könnte lauten: »Die Frage nach der Bildung des Lehrens generiert Allegorie, welche ihre eigene Frage als Wiederholung von Allegorie, sowie ihrer Schrift und Lektüre generiert.« Die Generierung der Elemente dieser zum einen in sich zurück laufenden und zum anderen
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einen Abfall mit Namen »Schrift und Lektüre« generierenden Kette ist gebildet anstelle unmöglicher und deshalb ausbleibender sprachlicher Elemente in der Beantwortungen von Fragen. Die Dinge so zu formulieren – besser: sie so zu wiederholen, zu lesen und zu schreiben – kann nun einerseits der Ausdruck eines egozentrischen Partikularinteresses sein, das mit einer institutionellen Position und disziplinären Zuordnung verbunden ist: Kein Umgang mit der Frage nach der Bildung des Lehrens ohne Umgang mit der Literaturwissenschaft (als Sonderfall der sog. Geisteswissenschaften)! Und es stimmt, dass hier die Behauptung vorliegt, dass Zugriff auf die Fragen von Lehren, Bildung und deren Zusammenhang nicht ohne den allegorischen Weg der im wiederholten Lesen und Schreiben ausgesetzten Unmöglichkeit der Antwort, also der Lektüre von Literatur und dem Lesen dieser Lektüre auskommt. Doch bleibt die Partikularkonzentration auf Literatur und Lektüre nicht allein, sondern zu ihr gesellt sich – es ist nicht sicher, ob das den gemeinen Bildungsforscher beruhigt – die Psychoanalyse. Da, wo von wiederholter Unmöglichkeit die Rede ist und dennoch etwas generiert wird, ist psychoanalytisches Denken aufgerufen. Und dies ist der Fall, wenn gesagt wird, dass die Frage nach der Bildung des Lehrens Allegorie generiert, welche wiederum ihre eigene Frage als Wiederholung von Allegorie, sowie ihrer Schrift und Lektüre erzeugt; und dass die Generierung der Elemente dieser Kette, die zum einen in sich zurück läuft und zum anderen die Namen »Schrift und Lektüre« ausscheidet, anstelle unmöglicher und deshalb ausbleibender sprachlicher Elemente in der Beantwortung von Fragen gebildet wird – dann ist das der Fall. Doch halten wir uns an die Allegorie der Sache; an die Vorstellung, dass die Verkettung elementarer Einheiten etwas mit der Bildung von Bildung zu tun hat, wie eine ministerielle Initiative es vor zwei Jahren unter dem Titel des ABC der Geisteswissenschaften auszubuchstabieren vorschlug.
E INMAL
EIN
E INMALEINS
DES
ABC BUCHSTABIEREN
Versuchen wir, diese Allegorie ihren Elementen nach zu lesen. Das Erlernen des ABC und des Einmaleins – als Allegorie des Lesens und Schreibens selbst in ihrer Hinzufügung zu dem, was sich an Antwort auf die Fra-
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ge, was und wie das Lehren bildet, nicht geben lässt – nennt nun selbst noch einmal die Buchstaben, das Elementare, vielleicht sogar noch die Atome, und nennt das, woraus der Stoff des Lernens, des Lehrens, der Literatur, der Schrift und vielleicht insgesamt diese eigentümliche Einheit, die man die »Geisteswissenschaften« nennt, zusammengesetzt sein könnte. Das Elementare nun aber zu benennen – das macht Lukrez deutlich, der in seinem Lehrgedicht Von der Natur auf eigentümliche Weise Atomlehre und poetische Fiktion ineinander gewoben und dafür die Venus, welche »sanft erregende Liebe« in alle Herzen ergießt, angerufen hatte –, dieser rhetorische Rückgriff aufs Elementare kann leichthin mit einem gewissen Maß an Pathos einhergehen. Ich möchte mich diesem Pathos nicht und auch nicht der Gefahr der Fiktion entziehen, die sich hier aufdrängen, und ich komme deshalb zu einer durchaus pathetischen Behauptung; und ich werde im Folgenden versuchen, auf nicht weniger pathetische Weise Zeugnis für meinen Glauben an diese Behauptung abzulegen. Ich wähle die Begriffe »Behauptung«, »Glauben« und »Zeugnis« mit Bedacht. Denn weder kann es um Hypothesen gehen, die zu beweisen oder zumindest wahrscheinlich zu machen wären – wie ein einfach verstandenes Modell der Natur- und der an ihnen orientierten Sozialwissenschaften vorgeben würde; noch geht es um Interpretationen, die in ein ungefragt bleibendes Verstehen münden sollten – so wie es ein ebenfalls einfaches hermeneutische Modell der Geisteswissenschaften zu fordern pflegt; und schon gar nicht geht es um Meinungen oder Überzeugungen, die in einem pragmatischen Austausch der »Kommunikation«, wie man das nennt, plausibel und akzeptabel zu machen wären. Eine Behauptung von dem Typus, um den es hier geht, ist etwas Vereinzeltes, sie ist nicht abgeleitet und auch nicht ableitbar, sie ist vielleicht generiert, aber nicht deduziert, sie ist eine ausgesetzte Sprachgeste. Ihr haftet eine gewisse Unbedingtheit an, sie ist bodenlos, im Prinzip unbegründet und geht von einer vereinzelten Empfindlichkeit aus, die sich im Grunde nicht rechtfertigen lässt. Dies ist nicht zu verwechseln mit Subjektivismus, sondern vielmehr die Affirmation einer manchmal fast, manchmal geradewegs traumatischen Berührung mit und in der Dimension des Sinns; des Sinns, der nicht nach Wahrheit »fragt«, sondern von etwas berührt scheint, dass vielleicht sich als »Wahrheit« einstellt. Und an die Wahrheit einer solchen Behauptung kann man allenfalls glauben, in einem Glauben jenseits des Religiösen, und diesen Glauben kann man wiederum nur bezeugen. Wenngleich eine endlose Infragestellung all dieser Begriffe – »Wahrheit«,
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»Glauben«, »Zeugnis« – in Fortsetzung von vielem, was zu ihnen gesagt und geschrieben wurde, einsetzen müsste, möchte ich es bei ihrer vorläufigen Unbestimmtheit belassen. Nun könnte man denken, dass man sich mit diesen Begriffen, wenn nicht weit von der Literatur, so doch zumindest weit von der Wissenschaft und weit von der Frage des Lehrens und der Bildung weg bewegt. Aber gerade darauf, auf diese Nähe zur Literatur und auf die Ferne zur Wissenschaft bezieht sich die vorhin angekündigte Behauptung. Sie lautet wie folgt: Die Literaturwissenschaft nimmt in den Geistes- und Kulturwissenschaften nicht nur eine Sonderstellung ein, sie ist vielmehr der Skandal dieser Wissenschaft. Sie hat unter den »Geisteswissenschaften« und sogar in der Universität überhaupt, und damit im Bildungssystem und -diskurs, bis in die Grundschule hinein, die dringlichste Aufgabe, an die mögliche Unmöglichkeit des Sinns von Geisteswissenschaft zu erinnern. Indem sie das tut, schreibt sie die Wege vor und nach, auf denen der Sinn im absoluten Sinne sich entzieht. Die Literaturwissenschaft hat nämlich kein Objekt, von dem sie weiß, sie hat keinen Gegenstand, der wie ein Wissen anzueignen ist, und auch weiß sie weder, was sie sagt noch was sie tut. Sie ist Ironie auf sich selbst, über jedes »Selbst« hinaus gewandt. In der Leere, die dieser doppelte Entzug reißt – Entzug des Objekts und Entzug des Wissens über den Umgang damit – in dem Loch, das hier entsteht, findet nun nicht der Nihilismus seinen Ort, für den von nun an alles Einerlei wäre, sondern in diesem Ort entstehen – und das Pathos wächst nun spürbar – Liebe und Verantwortung. »Liebe und Verantwortung« – man könnte auch sagen Kultur, denn das ist vielleicht eine mögliche Definition von Kultur – ich bin nicht sicher, ob dieser Begriff »Kultur« oder derjenige der »Kulturwissenschaft« etwas taugt – aber »Kultur«, das wären die Arten und Weisen, in denen Subjekte mit Sprache und Ähnlichem in einem ungewissen Miteinander Verantwortung für das Unbedingte zu übernehmen versuchen: das Unbedingte, auf das sie sich in einer Art von »Liebe« und im »Begehren« beziehen. Und die »Literaturwissenschaft«, bevor sie dieses Ungetüm von einem Namen erhielt, und nur erhielt in diesem Land hier – andere nennen es Kritik oder Studium – in diesem Land, das sich derzeit so viele Sorgen macht darüber, wie es das halten soll, was so benannt ist, und was es davon halten soll – die »Literaturwissenschaft«, als sie Philologie sich nannte, wusste um diese Liebe, wusste zumindest, dass sie ihrem Namen eingeschrieben ist: eine philia, die sich auf das Wort und die Rede –
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den logos – bezieht. Und sie war eine zweite also späte Liebe – sie kam nach der Liebe zur Weisheit, der Philosophie und ihr Name wurde in Analogie zu diesem gebildet – und sie hatte alle Nachteile einer solchen zweiten Liebe zu erdulden: die quälende Frage nämlich, ob eine Liebe nach dem Verlust des »ersten Objekts« überhaupt noch möglich ist; aber sie konnte auch alle Vorzüge einer solchen, frivoleren, zweiten Liebe genießen, und mit einer gewissen Nüchternheit die Frage stellen, wie solche Liebe möglich sein könnte. Die Philologie, ist sie sich dessen bewusst, fragt deshalb auch nicht »Was ist die Literatur?«, um entweder die positivistischen Einheiten aufzuzählen, die unter diesen Namen fallen oder den Wert oder das Wesen der Literatur zu bestimmen, welche eine Gesellschaft in Besitz nehmen könnte. Vielmehr fragt sie: »Wie ist Literatur möglich?« und setzt sich mutig der Möglichkeit aus, dass diese beizeiten, vielleicht für immer, oder auf bestimmte Weise, unmöglich ist – sonst könnte sie dieses Fragen auch lassen. Jedes Stück Literatur wirft notwendigerweise diese Frage danach, wie Literatur möglich sei, auf. Ich sage jedes »Stück« Literatur, weil so die Zerstückelung dieser Was-Frage bezeichnet ist, welche die Literatur darstellt. Denn Bestimmungen der Literatur anhand der Was-Frage gibt es ja durchaus, und es sind diese Bestimmungen, die mit jedem Stück auf dem Spiel stehen. Ich nenne nur, als Beispiel, einige sehr nahe liegende Elemente, mit denen man die Frage »Was ist Literatur?« beantworten könnte: Sprache, Fiktion, Erzählung, Darstellung. Aus diesen Elementen ließe sich eine Antwort auf diese Frage formulieren, die so banal wie weit verbreitet und fast unwiderlegbar scheint. Sie liest sich wie folgt: »Die Literatur ist eine besondere Form der Sprache, deren fiktionales, also nicht mit der wahren Wirklichkeit sich deckendes Sprechen eine andere Wirklichkeit darstellt, von welcher sie erzählt, und sei es in der Form der Poesie.« Die Literatur selbst aber sieht das, könnte man sagen, anders. Sie »weiß« es zwar nicht unbedingt besser, aber sie ist das Wissen davon, dass diese ihre Bestimmung unmöglich ist. Sie spricht von diesem Wissen, das sie ist, in einer Sprache, die nicht die unsere ist und manchmal gar nicht an Sprache, eher an ein Stammeln, allenfalls an ein Gemurmel erinnert. »Les 2 beaux livres sont écrits dans une sorte de langue étrangère«, sagt Marcel Proust, und er meinte damit eine Fremdsprache, die jeder Sprache fremd ist.
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»Die schönen Bücher sind in einer Art Fremdsprache geschrieben.«
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Mit dieser Sprache geht die Literatur aber klarsichtig um, sodass, wer es zulassen will, den Verlust von Sprache und mit ihr denjenigen ihres Objekts, des Wissens über es, erfährt und sich dazu verhalten muss. Prousts A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) – ein Stück Literatur – ist der Versuch, dem Diktum, dass dieser Autor über die Literatur formuliert hat, dem Satz, den ich gerade zitiert habe, die Treue zu halten.
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ETWAS ÜBER DIE
R ECHERCHE
WISSEN
Vieles ist über Prousts Werk bekannt, und ich erinnere hier nur an vier grundlegende Elemente, die alle etwas mit der Frage nach der Möglichkeit von Literatur zu tun haben: 1. Die Suche ist nicht nur ein Werk der Erinnerung, sie ist auch ein Werk über Erinnerung, sie entwickelt eine Theorie der Erinnerung, und diese Theorie hat als ihr Herzstück die Kategorie der mémoire involontaire, der unwillkürlichen Erinnerung. Diese Form der Erinnerung ist als von jeder anderen Form unterschieden präsentiert: sie stellt sich plötzlich ein, sie überrascht und sie stellt die Totalität eines Vergangenen bereit; ihr gegenüber ist jedes andere Sich-Erinnern mechanisch, kalt, tot auf gewisse Weise und wirft nur kleine Brocken der Vergangenheit ab. Die unwillkürliche Erinnerung, die wahre, und nach ihr muss gesucht werden, verspricht Zugang nicht nur zur Vergangenheit, sondern zur Wahrheit selbst, da in ihr die Zeit wie aufgehoben scheint. 2. Die Recherche ist nicht nur Literatur, sie hat auch als eines ihrer wichtigsten Themen die Literatur selbst, und dies in unterschiedlichster Weise: Vor allem handelt sie von den Schwierigkeiten, von den Unmöglichkeiten des Verfassens von Literatur, denn ihr bis auf wenige Stellen namenloser Held – einige seltene Male wird er »Marcel« genannt – versucht zu schreiben; ihm gelingt es nicht oder nur selten, zu sehr lenken ihn das Leben und die Liebe ab, und auch weiß er nicht recht, mit welchem Mittel er worüber eine Inspiration erlangen und ins Werk setzen kann. Erst am Ende des Buches stellt sich ihm, mittels der gerade genannten mémoire involontaire die überraschende Möglichkeit ein, seine Berufung umzusetzen: Er erkennt, besser gesagt: er erlebt die Möglichkeit des Schreibens, als ihm durch eine Reihe von zufälligen Sinneseindrücken – das Klingen eines
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Glases, das Gefühl einer Serviette unter seinen Fingerspitzen und zwei Pflastersteine, über die er stolpert – die Gesamtheit seines vergangenen Lebens wieder erscheint und ihm diese Vergangenheit zum Gegenstand der Literatur wird, zu deren Verfassung er strebt. Doch an diesem Moment wird aus der gerade überwundenen Schwierigkeit, aus dieser nur scheinbaren Unmöglichkeit die Bedrohung einer absoluten Unmöglichkeit. Denn jetzt fehlt es ihm an Lebenszeit, das Werk zu vollenden. Von nun an schreibt er gegen den Tod an, aber davon erfahren wir Leser nicht mehr viel, denn hier endet das Buch und die erzählte Unmöglichkeit des Todes als Ende wird zum realen Ende der letzten Seite. 3. Die Suche handelt nicht nur von der Liebe, sie ist auch ein Versuch, Liebe in der Literatur entstehen zu lassen. Sie tut dies, indem sie ein Liebesparadox erzeugt: Sie fragt danach, wie so etwas wie die Liebe in ihrer Einzigartigkeit und Absolutheit mit der Vielzahl und als Beliebigkeit erscheinenden Reihe von Begegnungen zu vereinbaren ist. So strebt die Suche einerseits immer wieder zurück zu der einen, einzigartigen und absoluten Mutter, auf deren Nachtkuss Erzähler und mit ihm die Leser unentwegt warten, und sie erzählt andererseits doch die Serie der sich wie in einer Metamorphose auseinander heraus entwickelnden Geliebten des Erzählers. 4. Die Recherche ist nicht nur – das ist auf eine gewisse Weise banal, aber es ist nicht nur das – für den Leser geschrieben, sie ist auch nicht für den Leser geschrieben, sie ist in gewisser Hinsicht geradezu gegen Leser, gegen die Lektüre verfasst. Die Literatur, sagt dieses Stück Literatur, hat letztlich nichts mit uns zu tun, sie ist autonom und lässt uns in Ruhe. Das »Wesen der Literatur«, von dem die Recherche unter dem Namen des einen »wesentlichen Buches« handelt, ist kein Buch, das dem Leser in die Hände fallen würde. »Ce livre essentiel, le seul livre vrai […] existe déjà en cha3 cun de nous.« Die Wahrheit dessen, was erzählt wird, liegt nicht in der Erzählung, sondern im Leser selbst. Mittels dieser Behauptung entzieht sich die Recherche in weite Ferne; sie ist, als Wahrheit, für den Leser auf ewig verloren.
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»Ddieses wesentliche Buch, das einzig wahre Buch ... existiert bereits in jedem von uns.«
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IN DER
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S UCHE LESEN
Aus diesen vier großen Bewegungen der Recherche ergeben sich nun für die Behandlung dieses Werkes vier Konsequenzen: Konsequenzen in Hinblick sowohl auf die eine Behauptung, dass jedes Stück Literatur die Frage nach der Möglichkeit von Literatur stellt und damit die Literatur auf ihre Unmöglichkeit verweist, als auch auf die andere Behauptung, dass es nur einer Philologie ohne Objekt und ohne Wissen über ihre Rede möglich ist, auf diese Unmöglichkeit zu reagieren. Was immer diese Konsequenzen in letzter Konsequenz sind – und sie können hier nur angerissen werden – sie sind anders als »erbaulich« und bildungsorientiert. Die erste Konsequenz ergibt sich aus der Aufwertung der mémoire involontaire und der Abwertung jeder anderen Form von Erinnerung. Alles, was auf diesen fast dreitausend Seiten erzählt wird – und alles, was dort erzählt wird, ist Erinnertes –, hat einen sehr prekären Status: Da es erzählt wird, d.h. einer gewissen mechanischen Abfolge der Ereignisse folgt, ist es möglicherweise uneigentlich und verrät die kostbare Form der spontanen, sonderbaren und besonderen unwillkürlichen Erinnerung. Die Erzählung, die alles aus der Vergangenheit wieder holt, droht, alles sich verlieren zu lassen, weil sie es in der Erzählung und als Erzählung eben wiederholt. Es sei denn: In der Erzählung arbeitet, als Riss, Fragmentierung oder Zerstörung des Erzählens, die Kraft der anderen, unwillkürlichen, plötzlichen, zusammenhanglosen, die Zeit zerreißenden Erinnerung. Die erste Konsequenz lautet also: Die Suche ist, in jedem Stück der Erzählung, zerrissen zwischen dem Zusammenhang der Erzählung und ihrem Zerrissensein selbst in atomare Einzelstücke, die unverbunden auf die Wahrheit verweisen, welche der Zusammenhang nie erreichen kann. Die zweite Konsequenz ergibt sich aus der eigentümlichen Thematisierung der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Literatur zu verfassen. Wie gesagt, der Verfasser-Erzähler erlebt am Ende des Buches, das zugleich das Ende des Lebens ist, die Möglichkeit des Schreibens, welche aber zugleich umschlägt in absolute Unmöglichkeit, schlicht deshalb, weil keine Zeit mehr bleibt, weil keine Seite mehr bleibt, auf der geschrieben und gelesen werden könnte. Wenn das nicht ein bloß harmloses, abstraktes, frivoles (im schlechten Sinne »frivoles«) Paradox sein soll, sondern etwas Entscheidendes über Literatur sagt, dann hat das eine eigenartige Konsequenz: All das, was in der Recherche steht, da es von der Möglichkeit, diese Recherche zu
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verfassen, eben bedingt ist, muss auch zugleich nicht in ihr stehen, da die Möglichkeit seiner Existenz auch dessen Unmöglichkeit ist. Diese Konsequenz lautet also: Alles, was in der Suche steht, steht auch nicht dort. Dies bedeutet zumindest, das alles, was in diesem Text steht, dort nicht in der Fülle eines Sinns, in der Präsenz einer Bedeutung vorhanden ist, sondern eben auch als etwas Verlorenes, verloren an die Unmöglichkeit der Literatur. Letzten Endes eine Unmöglichkeit von Sprache. Die dritte Konsequenz ergibt sich aus dem Liebesanspruch der Recherche, einzig die eine Einzige (die Mutter) und zugleich jede einzelne der Vielen (die Geliebten) zu lieben. Eine der Möglichkeiten, diesem aporetischen Anspruch annähernd gerecht zu werden liegt darin, gerade nicht die Vielen als besondere Fälle der einen als allgemeiner Liebe zu verstehen, sie ihr unterzuordnen, sie zu Wiederholungen der Einen zu machen. Sondern eine Möglichkeit liegt vielmehr darin, eine Reihe von nicht voneinander abhängenden oder miteinander zusammenhängenden Singularitäten zu erzeugen, die sich nicht wiederholen. Jede einzelne als die Einzige zu lieben. Dies bedeutet, dass es keine Erinnerung geben darf, die diese einzelnen für den Liebenden miteinander verbindet. In der Liebe widerstreitet die Recherche also ihrem Hauptthema, der Erinnerung. Und das beste Mittel, Erinnerung zu verhindern liegt darin, den Träger der Erinnerung zu vernichten. Dieser Träger ist das Ich desjenigen, der sich erinnert. Deshalb stirbt das Ich, das die Recherche erzählt und von dem es erzählt, in der Recherche permanent. Gerade am Ende spricht die Stimme der Suche von den »morts 4 succesives«, die das Ich erleiden muss, um die Geschichte dieser Liebe zusammenzubekommen. Diese Konsequenz lautet demnach: Um die Treue zur unmöglichen Liebe zu halten, muss das Ich unentwegt sterben, und das große Werk der Erinnerung, das die Liebe zusammenhält, enthüllt sich als ein Werk ständigen, radikalen Vergessens. Dies bedeutet auch, dass jedes Stück der Recherche, das von der Liebe handelt, von diesem Vergessen bestimmt sein und in der Lektüre dieses absolut Singuläre, das sich nicht wiederholt und nicht in ein Allgemeines einordnet, entdeckt werden muss. Die vierte Konsequenz schließt sich hier an und ergibt sich direkt aus der zitierten Behauptung, dass das wahre Buch nicht die Recherche sei, sondern in jedem Leser selbst liege. Diese Behauptung ist die Summe des
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»sukzessive Tode«
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zuvor Gesagten. Sie sagt: Wer die Recherche liest, liest nicht wirklich, liest nicht das Wahre, liest irgendetwas. Natürlich, wer die Recherche nicht liest, liest noch nicht einmal von dieser Wahrheit. Wer liest, liest nicht; und wer nicht liest, sowieso nicht. Die Konsequenz lautet also, dass nur ein anderer Begriff von Wahrheit und ein anderer Begriff von Lesen die Wahrheit dieser Behauptung bezeugen kann. Wir sind nun sehr weit von einer Bestimmung der Literatur über die Was-Frage entfernt, über eine Bestimmung, die mit einem einfachen Verständnis von Sprache, Fiktion und Erzählung auskäme. Wir sind vielmehr vollends in die Frage geraten, wie Literatur möglich sei, und wie man die unmögliche Behauptung, dass die Literatur kein Gegenstand, nichts zumindest, was man lesen könnte, aufrecht erhalten und von ihrer Wahrheit Zeugnis ablegen kann, ohne genaues Wissen darüber zu besitzen, was man da sagt und tut. Der Glaube, dass man sich von der Literatur an einen Ort führen lassen kann, wo aus der Bewegung zur Abwesenheit des Sinns die Affirmation dieser Bewegung wird, könnte eine schwache Möglichkeit sein.
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NICHT
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MEHR
Einer dieser Orte ist angedeutet in folgender Szene der Recherche: Wir befinden uns am Strand von Balbec, dem fiktiven normannischen Seebad, wo die jugendliche Erzähler-Figur eine Begegnung macht, die den Fortgang der Ereignisse der Suche strukturieren wird. In dieser berühmten Szene nimmt er eine Schar junger Mädchen war, die die metaphorische Bearbeitung des Textes von einer formlosen Zergliederung in Blicke, Stimmen, Wangen und Beine zu einem Möwenschwarm sich fortbewegen lässt, um dann zuzulassen, dass sich eine einzelne Gestalt aus diesem Gemenge herauslöst. Nun fragt er sich, ob eines der Mädchen, es handelt sich um die berühmte Albertine, ihn wohl gesehen habe, »au moment où le rayon noir 5 émané de ses yeux m’avait rencontré«. Von diesen Beschreibungen löst sich die Stimme nun, um folgenden Ausführungen Raum zu geben:
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» ... als der schwarze Strahl ihrer Augen mich traf ...«
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Si nous pensions que les yeux d’une telle fille ne sont qu’une brillante rondelle de mica, nous ne serions pas avides de connaître et d’unir à nous sa vie. Mais nous sentons que ce qui luit dans ce disque réfléchissant n’est pas dû uniquement à sa composition matérielle ; que ce sont, inconnues de nous, les noires ombres des idées que cet être se fait, relativement aux gens et aux lieux qu’il connaît – pelouses des hippodromes, sable des chemins où, pédalant à travers champs et bois, m’eût entraîné cette petite Péri, plus séduisante pour moi que celle du paradis persan –, les ombres aussi de la maison où elle va rentrer, des projets qu’elle forme ou qu’on a formés pour elle; et surtout que c’est elle avec ses désirs, ses sympathies, ses répulsions, son obscure et incessante volonté. Je savais que je ne posséderais pas cette jeune cycliste si je ne possédais aussi ce qu’il y avait dans ses yeux. Et c’était par conséquent toute sa vie qui m’inspirait du désir; désir enivrant, parce que ce qui avait été jusque-là ma vie ayant brusquement cessé d’être ma vie totale, n’étant plus qu’une petite partie de l’espace étendu devant moi que je brûlais de couvrir, et qui était fait de la vie de ces jeunes filles, m’offrait ce prolongement, cette multiplication possible de soi-même, qui est le bonheur. Et, sans doute, qu’il n’y eût entre nous aucune habitude – comme aucune idée – communes, devait me rendre plus difficile de me lier avec elles et de leur plaire. Mais peut-être aussi c’était grâce à ces différences, à la conscience qu’il n’entrait pas, dans la composition de la nature et des actions de ces filles, un seul élément que je connusse ou possédasse, que venait en moi de succéder à la satiété, la soif – pareille à celle dont brûle une terre altérée – d’une vie que mon âme, parce qu’elle n’en avait jamais reçu jusqu’ici une seule goutte, absorberait d’autant plus avidement, à longs traits, dans une plus parfaite imbibition. 6
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»Wenn wir dächten, die Augen eines solchen Mädchens seien nichts als ein blitzendes Rund aus Glimmer, wären wir nicht begierig, ihr Leben zu kennen und mit unserem zu verschmelzen. Aber wir spüren eben, dass das, was in dieser reflektierenden Scheibe leuchtet, nicht nur auf seiner materiellen Zusammensetzung beruht; dass es eben vielmehr, uns unbekannt, die schwarzen Schatten der Vorstellungen sind, die dieses Wesen sich über die Leute und die Stätten macht, die es kennt – die Rasenflächen der Reitbahnen, den Sand der Wege, auf die feld- oder waldeinwärts pedaltretend eine solche kleine Peri, verführerischer als die des persischen Paradieses, mich hätte entführen können – die Schatten auch des Hauses, in das sie zurückkehren wird, der Pläne, die sie hegt oder die die anderen mit ihr haben; vor allem aber, dass sie selbst es ist mit ihren Sehnsüchten, ihren Sympathien, ihren Abneigungen, ihrem unaufhörlich dumpf sich bekundenden Willen. Ich wusste, dass ich diese junge Radfahrerin nicht würde be-
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Zunächst ist diese Erörterung von großer Einfachheit, wenngleich von gewundener und wundersamer syntaktischer Komplexität. Der erste Satz, fast eine Sentenz, also die Formulierung eines allgemeingültigen Grundsatzes, der vom direkten Kontext und den besonderen Ereignissen, die da berichtet werden, abstrahiert, formuliert eine anti-materialistische Position und scheint einen Idealismus der Liebe zu vertreten: »Wenn wir dächten, die Augen eines solchen Mädchens seien nichts als ein blitzendes Rund aus Glimmer, wären wir nicht begierig, ihr Leben zu kennen und mit unserem 7 zu verschmelzen.« Nicht das Material, sein schöner Schein zählt, sondern etwas anderes, Ideelles, das auch in Folge durch den Begriff der idée also Vorstellung benannt wird. Die Liebe, genauer: das Begehren, den anderen zu besitzen, ist eine idealistische, keine ästhetische Angelegenheit. Aber dieses Ideal, das ich mit besitzen muss, um den anderen zu besitzen, ist von eigenartiger Machart, ein Schatten fällt, sofort nachdem das Materielle des Lichtes verabschiedet ist, auf diesen Idealismus: Es sind nämlich »die 8 schwarzen Schatten der Vorstellungen« und nicht diese Vorstellungen selbst, die in den Augen leuchten, und die die Besitznahme einschließen
sitzen können, wenn ich nicht das besäße, was in ihren Augen lag. Ihr ganzes Leben folglich flößte mir Verlangen ein, ein Verlangen, das um so verzehrender war, als ich es als unerfüllt und doch berauschend empfand, weil das, was mein Leben gewesen war, auf einmal aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, vielmehr nur noch ein kleiner Teil der vor mir liegenden Weite war, die zu durchmessen ich brennend wünschte, die aus dem Leben dieser Mädchen bestand und jene Fortsetzung und mögliche Vervielfachung seiner selbst, die das Glück darstellt. Dass es zwischen uns keine gemeinsame Gewohnheit – wie auch keine Vorstellung – gab, musste es mir schwerer machen, mich mit ihr anzufreunden und ihr zu gefallen. Aber vielleicht folgte auch gerade dank dieser Verschiedenheit, dank dem Bewusstsein, dass in der Zusammensetzung der Natur und der Handlung dieser Mädchen kein einziges Element enthalten war, das ich kannte oder besaß, in mir auf die Sättigung der Durst – gleich dem, von dem ein dürstendes Erdreich brennt – nach einem Leben, das meine Seele, gerade weil sie bislang davon keinen Tropfen zu kosten bekommen hatte, um so gieriger in langen Zögen bis zu völligem Getränktsein in sich aufsaugen würde.« 7
»Si nous pensions que les yeux d’une telle fille ne sont qu’une brillante rondelle de mica, nous ne serions pas avides de connaître et d’unir à nous sa vie ...«
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» ... les noires ombres des idées ...«
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muss, um sich zu einer vollständigen zu machen. Von diesem Schatten wird sich dieser Idealismus nicht mehr befreien können, und auch die Ideen selbst, die da in den Augen glimmern, sind wenig dazu geschaffen, die Maxime über den idealistischen Besitztum zu bestätigen. Zunächst sind es nicht eigene Vorstellungen, sondern die Vorstellungen der anderen; auch sind es nicht aktuelle Vorstellungen, sondern solche, die in die Zukunft reichen. Vor allem aber sorgt eine eigentümliche französische Syntax, etwas dem Französischen sehr »Eigenes«, dafür, dass das Ganze sehr sehr fremd wird. Die ausufernde Syntax, für die Proust bekannt ist, und die Hervorhebung des Satzsubjekts am Anfang der Periode machte, dass zugleich markiert und verdeckt wird, dass sich in diesen Augen nichts befindet als diejenige, deren Augen es sind. »Mais nous sentons ... ; que ce sont ... ; que c’est elle ... Toute sa vie 9 ...« Der erklärende Satz über das Wesen der Liebe wird Tautologie: Ich besitze sie, wenn ich sie besitze. Ich liebe sie, noch nicht einmal weil ich sie liebe. Ich liebe Sie – Punkt. Oder besser: Strichpunkt. Es sind Semikola und das aufgerissene Rund rein verweisender diese: »c’« und »ce«, an welchen das Fühlen hängt und seine Schrift skandieren: »Mais nous sentons ... ; que 10 ce ... ; que c’...«; und noch kürzer: »Mais nous sentons ... ; ...«. Dieser Eingriff in den Text ist nicht gewaltsamer oder artifizieller als das, was er als gelesenen sagt. Denn angesichts der »Wahrheit«, die hier sentenzenhaft einsetzt und sich dann buchstabiert, verliert sich das Ich an den Raum, den es umgibt: Es wird zu einem Stück Strand: »...weil das, was mein Leben gewesen war, auf einmal aufgehört hatte, mein ganzes Leben zu sein, vielmehr nur noch ein kleiner Teil der vor mir liegenden Weite 11 war, die zu durchmessen ich brennend wünschte, ...« Ein »Leben«, an dem ein »mein« hängt, und das ein Stück vom Raum wird, an dem ein »vor mir« hängt, entzieht sich der Bildung, aber verknüpft sich mit Lesen, Buchstaben und Begehren. Eigenartige Liebe, eigenartige Vorstellung von Räumlichkeit, fremdartige Objekte. Nur wir können Verantwortung für diese Liebe übernehmen,
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»Aber wir spüren ... ; dass es ... ; dass sie selbst es ist ...«
10 »Aber wir spüren ... ; ...« 11 » ... parce que ce qui avait été jusque-là ma vie ayant brusquement cessé d’être ma vie totale, n’étant plus qu’une petite partie de l’espace étendu devant moi que je brûlais de couvrir ...«
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indem wir zu einer Behauptung von Wahrheit kommen, die nicht von Gegenständen ausgehen kann, die man besitzt, seien diese Gegenstände Objekte, Artefakte, Werte oder das Gewusste des Wissens einer Wissenschaft oder das Gebildete einer Lehre. Wir müssen vielmehr Namen finden, die auf bestimmte Definitionen reagieren. Diese Definitionen sind nicht Definitionen von Dingen oder Worten, sondern von Orten, die in dem eigentümlichen Raum liegen, von dem der Strand von Balbec, zu dem das Ich wird und sich dennoch in ihm verliert, ein annäherndes Bild abgibt. Solche Namen müssen dafür sorgen, dass man die Definition von Literatur als Sprache, Fiktion, Erzählung und gegebenem Sinn, den man wissen kann und dem man einen Wert zuschreibt, vergisst – »vergisst« im Sinne des Vergessens, das Prousts Recherche zu denken sucht: Vergessen als Vergehen des Trägers von Vergessen und Erinnern; Vergessen, jemand zu sein, der vergessen kann. Diese Namen oder Namenpartikel, Namensersetzungen, Pronomen, können einen Ort definieren, an dem wir – Subjekte einer fremden Sprache, die wir, in der wir uns vergessen – auf die unbedingte Möglichkeit und die Bedingungen der Unmöglichkeit von Sinn stoßen, diese Dimension berühren. An diesem Ort, den wir ausgehend von der Literatur mit Namen – und weniger – belegen können, muss sich nicht unbedingt Literatur aufhalten, sie tut es immer weniger, zumindest nicht immer eine solche, die über Sprache, Erzählung, Darstellung und Fiktion definiert ist; vielmehr kann an diesem Ort ein Film, ein Videoclip, ein Satz auf der Straße, eine politische Handlung und irgendein Ereignis statt haben. Die Literatur ist uns fremd geworden, fremder als sie je schon war; sie ist nicht mehr das Verfahren, über das sich eine Gesellschaft mit der Verfassung ihrer symbolischen Ordnung auseinandersetzt: Eine Veranstaltung wie diese, der die Gesellschaft ihre Befremdlichkeit gegenüber der Literatur, der Literaturwissenschaft und der Geistes- und Kulturwissenschaft, die sie einst sicher zu haben glaubten, zum Ausdruck bringt, belegt dies. Was uns die Literatur auf ihrem Gang in die Fremde hinterlassen hat, ist dieser Ort, dieser unendlich zerfaserte und befremdliche Ort, an dem die Bedingungen der Möglichkeit und Unmöglichkeit der symbolischen Ordnung einer Gesellschaft infrage stehen und auf ein Wirkliches stoßen, das wir begehren, aber nicht besitzen. »Lehren bildet« lesen erlaubt, notwendige, unmögliche und kontingente Sätze an diesen Ort zu setzen und daraus ein Lehren zu bilden.
Forschendes Lernen/Forschendes Lehren Überlegungen zur Geistesgegenwart im Auditorium S IBYLLE P ETERS
I. »Tell me, and I will forget. Show me, and I will remember. But involve me, and I will understand« – dieser Laotse zugeschriebene Ausspruch findet sich auf einem T-Shirt, das man im Museums-Shop des Bremer Science Centers erwerben kann. Passend, denn was man sich da anzieht, ist der Slogan einer Art der Wissensvermittlung, die ganz auf Selbsterfahrung programmiert. Erfüllen soll sich Laotses Leitspruch vor allem in Settings des forschenden Lernens. Solche Settings erfordern ein gewisses Maß an Aktivität und Probierlaune, um das in ihnen verborgene Erkenntnispotential freizulegen. Sie sind dem wissenschaftlichen Experiment darin verwandt, Ergebnisoffenheit mit hoher Determination zu verbinden. Dabei ist es jedoch nicht in erster Linie die Dingwelt, die ›gestellt‹ wird, um auf diese Weise der Technowissenschaft Untertan zu werden; es ist vielmehr das Subjekt, das in dieser Umgebung eine intellektuelle Erfahrung machen soll und zwar eine ganz bestimmte. Man kann fragen, ob das Subjekt im Zuge solcher Akte forschenden Lernens nun seinerseits ›Untertan‹ wird und wenn ja, dann in welcher Weise. Zweifellos: Wo forschendes Lernen gefordert ist, wird Eigenaktivität gesteuert und konditioniert. Die entsprechenden Settings erscheinen damit als Inbegriff dessen, was heute unter dem Stichwort »Gouvernementalität« diskutiert wird (vgl. Bergermann 2004): Gemeint sind Formen des Regierens, die nicht über äußeren Druck wirken, sondern bereits im Verhältnis des Individuums zu sich selbst ansetzen. Forschendes Lernen stünde dem-
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nach mit vielen anderen Spielarten des Selbstmanagements und der Eigenverantwortung in einem Zusammenhang: Das alte Dispositiv der Disziplinierung wird abgelöst und durch »Techniken des Selbst« ersetzt. Vielleicht ist so zu erklären, wieso das forschende Lernen gerade in einer Zeit erneut Konjunktur haben kann, in der Forschung und Lehre in anderer Hinsicht eher weiter auseinander driften, namentlich dort, wo es um wissenschaftliche Forschung geht. Dazu trägt nicht zuletzt die derzeit durchgeführte Neugliederung der universitären Studiengänge in Bachelor und Master bei. Ihr entspricht die vermehrte Einstellung von so genannten »Lehrkräften mit besonderen Aufgaben«, Lehrkräften, zu deren besonderen Aufgaben die Forschung explizit nicht mehr zählt. Die aktuelle Reform der Universitäten, daran kann kein Zweifel bestehen, gestaltet Forschung wieder exklusiver und spricht im Zuge dessen der Mehrheit der Universitätsangehörigen die Würde des Forschers/der Forscherin, die ihr zuvor zumindest nominell zukam, ab. Paradoxer Weise steht dieser Entwicklung eine andere gegenüber, die in Abwandlung des berühmten Beuys’schen Diktums mit dem Motto ›Jeder ist ein Forscher!‹ überschrieben sein könnte. Einer ihrer prominenten Wortführer ist Bruno Latour. Seine Texte stellen die ubiquitäre Forderung nach einer stärkeren Orientierung der Wissenschaften an gesellschaftlichen Bedarfen vom Kopf auf die Füße. Hier wird gezeigt, dass die Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft gerade dort, wo sie zu funktionieren scheint, nämlich in den Natur- und Technowissenschaften, keineswegs auf einer Ausrichtung der Wissenschaft an der Gesellschaft basiert, sondern eher umgekehrt auf der historischen Ausweitung des wissenschaftlichen Experiments auf die gesellschaftliche Umwelt. Demnach wäre die vermeintliche ›Anwendung‹ von Produkten, die auf die eine oder andere Weise aus der wissenschaftlichen Forschung stammen, als eine weitere Phase des eigentlichen Experiments zu begreifen. Eine Phase, deren experimenteller Charakter jedoch als solcher nicht anerkannt ist, weil dieser Teil des Experiments sich eben nicht an den Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen und Diskurse orientiert. Allererst gestellt sind damit Fragen wie: Wie sollen die neuen kollektiven Experimente protokolliert werden? Und: Welche Art Forum sollte über ihren Fortgang und Ausgang entscheiden? Angesichts einer Forschung, die in dieser Weise inklusiver, zugleich aber auch exklusiver wird, sind wir von Antworten auf diese Fragen heute weit entfernt, denn sie zu finden, würde ja zunächst voraussetzen, alle Mit-
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glieder der Gesellschaft grundsätzlich als »Mitforscher« anzuerkennen. Die Konzepte forschenden Lernens geben nun gerade keine Antwort auf die Frage, wie ein solches allgemeines »Mitforschen« ernstlich zu organisieren wäre – im Gegenteil: Beim Mitforscher-Sein im Sinne Latours geht es darum, eine Beteiligung, die immer schon besteht, als solche zu begreifen. Die Settings forschenden Lernens tendieren dagegen dazu, eine bereits gegebene Teilhabe zu unterbrechen, um in einer kontrollierten Umgebung ein lernintensives »Involvement« zu simulieren. Das Schlagwort von der »Gouvernementalität« sollte in diesem Zusammenhang zwar nicht dazu verleiten, die Konditionierung von Eigenaktivität durch »Involvement« insgesamt zu verwerfen. Problematisch wird es jedoch dann, wenn in der Perspektive der individuellen Förderung die gesellschaftliche und politische Dimension aus dem Blick gerät, die immer dann im Spiel ist, wenn das Verhältnis von Forschung und Lehre zur Disposition steht. »Ich forsche selbst« – ein Button mit dieser Aufschrift war im vergangenen Sommer an einem Container auf dem Parkplatz eines Bremer Einkaufszentrums zu bekommen. Als Teil des Programms der »Stadt der Wissenschaften« bot der Container Passanten Gelegenheit, eigene Forschungsprojekte und Ergebnisse ins akademische Ausstellungsprogramm einzuspeisen. Zutage trat dabei jedoch vor allem der verlorene Posten, auf dem die Gruppe dfg3 mit diesem Projekt in der endlosen Reihe der wissenschaftlichen Selbstdarstellungen stand. Weit davon entfernt, das Mitforschen zu organisieren, werben die Programme der Wissenschaftspopularisierung heute in erster Linie um Sympathien für eine immer anderswo stattfindende Wissenschaft; auf dass die wachsende Exklusivität der Forschung nicht mit Vertrauensverlusten verbunden sein möge und das Interesse des qualifikationsfähigen Nachwuchses im Sinne zukünftiger Standortvorteile geweckt werde. Eine solche Art der Darstellung setzt die Wissenschaft auf der einen und die gesellschaftliche Öffentlichkeit auf der anderen Seite als unabhängig voneinander gegeben voraus, um auf dieser Basis beide Seiten ›besser‹ miteinander zu koppeln. Im Unterschied dazu haben wissensgeschichtliche Untersuchungen immer wieder unterstrichen, dass Wissenschaften und Öffentlichkeiten einander erst wechselseitig konstituieren. Gerade in jüngster Zeit hat eine Vielzahl historischer Studien in Zweifel gezogen, ob die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse an breitere Öffentlichkeiten überhaupt als etwas der eigentlichen wissenschaftlichen Entwicklung Nachge-
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ordnetes, Sekundäres betrachtet werden kann. So wird im Rückblick fraglich, ob sich die experimentelle Form, in der die naturwissenschaftliche Forschung ihre Evidenzen produziert, ohne die spektakuläre Adressierung neu entstehender Öffentlichkeiten in der frühen Neuzeit überhaupt als solche hätte durchsetzen können. Übrigens beanspruchen die Geisteswissenschaften für diese Zusammenhänge neuerdings eine besondere Expertise: In einer Publikation mit dem Titel Perspektiven geisteswissenschaftlicher Forschung reklamiert Sigrid Weigel, Direktorin des Zentrums für Literaturforschung in Berlin, für die Geisteswissenschaften »das Vermögen, die Art und Weise, wie Wissen produziert wird, zu analysieren« (Dotzler 2003). Weg von ihrer Rolle als Traditionswahrer und Kompensatoren technischen Fortschritts wären die Geisteswissenschaften demnach nun Wissenschaften vom Wissen und seiner Poiesis im Dialog mit Kunst und Technik. Damit wären sie zuständig für die Figuren der Innovation. Ob eine solche Profilbildung die Marginalisierung womöglich nur in eine andere Richtung lenkt, so dass die Geisteswissenschaften neben der Grundausbildung kultureller Dienstleister nun zusätzlich die Aufgabe übernehmen, die Geschichte der übermächtigen Naturwissenschaften ex post zu kulturalisieren, ist offen. Andernfalls müsste es eben auch gelingen, aus dieser Zuständigkeit für die Figuren der Innovation neue Aufgaben zu entwickeln, die im Rahmen dessen, was da »Wissensgesellschaft« heißt, zu übernehmen wären, und so das Verhältnis von Wissenschaften und Öffentlichkeiten zueinander zu verändern. Wären die Geisteswissenschaften beispielsweise dafür gerüstet, die mitforschende Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder an kollektiven Experimenten zu organisieren? Dafür wäre zunächst zu erkennen, dass Forschung und Lehre prinzipiell auf komplexe Weise ineinander verschachtelt sind. Die alte Formel der Einheit von Forschung und Lehre wird dem nicht gerecht, umso weniger aber die Art, in der man augenblicklich von ihr Abschied nimmt. Stattdessen erscheint das klassische humboldtsche Prinzip heute als historische Variante eines tiefer liegenden Zusammenhangs: Wissenschaftliche Disziplinen entwickeln oder verändern sich in Abhängigkeit davon, in welches Zusammenspiel Wissenschaft und Öffentlichkeit eintreten; ein Zusammenspiel, das für die Wissenschaften daher nicht weniger entscheidend ist als die Bestimmung eines Forschungsgegenstands oder die Entwicklung einer Methode; und zugleich ein Zusammenspiel, in dem die Produktion und die
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Darstellung von Wissen eben nicht zwei voneinander verschiedene Prozesse sind, sondern einander durchdringen.
II. Forschendes Lernen ist also nicht das gleiche wie forschendes Lehren. Ersteres kann hoch im Kurs stehen, während die Lehre von der wissenschaftlichen Forschung zugleich doch immer stärker separiert wird. Als die Einheit von Forschung und Lehre erstmals postuliert wurde, ging es dagegen eher um die Möglichkeiten und Chancen forschenden Lehrens. Wissenschaftspolitisch stand damals das Verhältnis zwischen den Universitäten und den Akademien auf der Tagesordnung: Auf welche Institution sollte der preußische Staat seine Hoffnungen setzen? War die Aufgabe, Studierende zu unterrichten, dem wissenschaftlichen Fortkommen der Forscher eher hinderlich, oder nicht? In seinem berühmten Entwurf zur Einrichtung der Berliner Universität beantwortet Wilhelm von Humboldt diese Frage folgendermaßen: »Wenn man die Universität nur dem Unterricht und der Verbreitung der Wissenschaft, die Akademie aber ihrer Erweiterung bestimmt erklärt, so tut man der ersteren offenbar Unrecht. [...] Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die einsame Muße des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Genossenschaft. [...] Überhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedesmal wieder selbsttätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stoßen sollte.« (Humboldt 1964, 383)
Mit dieser Idee steht Humboldt in seiner Zeit keineswegs allein; Schelling hatte schon einige Jahre zuvor ähnliches konzipiert und Schleiermacher schreibt zur selben Zeit: »Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der
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Vernunft im Hervorbringen der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden. [...] Bei keinem wahren Meister der Wissenschaft wird das auch anders sein; ihm wird keine Wiederholung möglich sein, ohne daß eine neue Kombination ihn belebt, eine neue Entdeckung ihn an sich zieht; er wird lehrend immer lernen, und immer lebendig und wahrhaft hervorbringend dastehn vor seinen Zuhörern.« (Schleiermacher 1964, 252)
Statt Wissen lediglich zu verbreiten, kann der freie Vortrag, der oft auch der ›lebendige Vortrag‹ genannt wird, Erkenntnisse produzieren und zwar indem er zu einer Art Performance wird: Die Performanz der Erkenntnis tritt auf der Bühne des Vortrags an die Stelle der reinen Wissensvermittlung. Der Lehrende soll vor Augen stellen, soll aktualisieren, wovon die Rede ist, soll nicht nur Fakten vermitteln, sondern den Prozess der Erkenntnis zur Erscheinung bringen. Wirksam wird hier jene »Verzeitlichung des Wissens«, die Foucault der Epochenschwelle um 1800 zugeordnet hat. Man kann sich aber ebenso gut an Ernst Cassirer halten, der in seiner Philosophie der Aufklärung geschrieben hat: »Das gesamte 18. Jahrhundert faßt die Vernunft [...] nicht [...] als einen festen Gehalt von Erkenntnissen, von Prinzipien, von Wahrheiten, [sondern] vielmehr als eine Energie; als eine Kraft, die nur in ihrer Ausübung und Auswirkung völlig begriffen werden kann.« (Cassirer 1973, 16) Der »wahre Meister der Wissenschaft« transzendiert also die Grenzen gegebenen Wissens, indem er gerade nicht mehr versucht, einen Wissensstand zu kontrollieren und weiterzugeben, sondern indem er sich im Zuge des freien Vortrags dem Gang der Gedanken und mithin der Kraft der Erkenntnis anheim gibt und diese an sich selbst demonstriert. In dieser Performanz der Rede wird Wissen zum Ereignis, wird der Vortragende gewissermaßen zum Medium des Geistes, wird Lehre zu Forschung. In den Augen Humboldts und seiner Zeitgenossen ist die Einheit von Forschung und Lehre also zunächst nichts anderes als eine Theorie und eine Praxis des Vortragens. Als genuin zeitliche Präsentationsform wird der Vortrag zum Format der Stunde. Selbst das Wort ›Vortrag‹ hat von diesem Moment an eine neue Bedeutung. Als Übersetzung des fünften Teils der rhetorischen Lehre, der Actio, meinte es zuvor die Ausführung, die Performanz der Rede, und konnte im übertragenen Sinne jede Art der künstlerischen Ausführung bezeichnen. Erst ab 1800 wird es mehr und mehr zur Bezeichnung der wissenschaftlichen Rede und unterstreicht damit, welche Rolle das Performati-
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ve hier neuerdings spielt: Im Unterschied zum alten Institut der Vorlesung, das im 18. Jahrhundert tatsächlich noch vielfach dem handschriftlichen Kopieren vorgelesener Lehrbücher diente, greifen im ›Vortrag‹ die Darstellung und die Produktion von Erkenntnis ineinander. Zwar hat das Ideal des freien Vortrags auf die eine oder andere Weise bis heute überdauert. Dass uns dennoch wenig vom Konzept einer solchen forschenden Lehre geblieben ist, konnte ich kürzlich in einer Art Feldversuch erproben: Unter dem Titel »Forschen für Anfänger« organisierte und inszenierte ich eine Reihe von Vorträgen, in denen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen sich in freier Rede mit der Frage »Was ist das eigentlich – Forschen?« beschäftigten und zwar vor einem Publikum im Alter von acht bis zwölf Jahren, genauer gesagt: vor einer Reihe von Grundschulklassen, die zu diesem Zweck von ihren Lehrern ins Hamburger Fundus Theater begleitet wurden. Auf der Bühne des Theaters wurden die Vorträge in Szene gesetzt, so dass die Aufmerksamkeit von den Inhalten auf die Form gelenkt und signalisiert wurde: Hier geht es nicht in erster Linie darum, alle Aussagen und Thesen zu verstehen, sondern auch darum, die Performance eines Forschers zu beobachten und sich dabei möglicherweise selbst als Forscher zu entdecken. Bald schon fand sich die Umsetzung dieses Konzepts jedoch mit Hindernissen konfrontiert und musste gründlich überdacht werden: Verständlicher Weise tendierten die Vortragenden dazu, sich angesichts des ungewohnten Publikums dann eben doch daran zu orientieren, was in welcher Weise ›rüberzubringen‹ wäre, anstatt dies zum Anlass zu nehmen, sich selbst die zentrale Frage noch einmal neu zu stellen. Vor allem aber weckte der Titel »Forschen für Anfänger« falsche Erwartungen bei den Pädagogen. Die Bezeichnung ›Vortragsreihe‹ überlesend erwarteten sie eine Performance, in der die Kinder in anderer Weise denn als Beobachter involviert wären. Gegenüber der damit offenbar assoziierten Passivität wurde gezielt gesteuerte Eigenaktivität erwartet, »forschendes Lernen« also, und damit ein Setting, das sich pädagogisch vor allem auch dadurch bestimmt, das Gegenteil des so genannten »Frontalunterrichts« zu sein. Gefragt war also eine Performativität von so anderer Art, dass jene Differenz zwischen »Frontalunterricht« und Vortragsperformance, um die es anfänglich ging, um die es aber vor allem auch Humboldt und seinen Zeitgenossen mit ihrer Vorstellung einer Lehre als Forschung ging, dagegen verblasste und schließlich kaum mehr wahrnehmbar zu sein schien. Inwiefern also könnte ein Vortrag ein Forschungsszenario sein? In dieser
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Frage scheint heute erheblicher Klärungsbedarf zu bestehen; bestenfalls – so wäre hinzuzufügen. Wenn nämlich auch dieser Bedarf nicht mehr besteht, wird für uns nicht mehr zugänglich sein, was diese spezielle Beziehung zwischen Forschung und Lehre ausgemacht hat, die sich hinter der klassischen Formel ihrer ›Einheit‹ verbirgt.
III. Woran in der Szene des Vortrags geforscht wurde – das zumindest lässt sich schnell benennen: Im freien oder lebendigen Vortrag wird das Auditorium zu einem Labor des Geistes, zu einem Ort, wo die geistigen Vermögen in ihrer Eigendynamik zur Wirkung und damit zur Anschauung gebracht werden sollen. So ein ›Vortragslabor‹ entsteht dort, wo die klassischen Traditionen rhetorischen Wissens und die neuzeitliche Philosophie des denkenden Subjekts einander kreuzen und durchdringen. In ihm verkörpert sich die rhetorische, die Mitteilung gewordene Version dessen, was im 17. Jahrhundert noch allein in der subjektphilosophischen Meditation geschah: Das Subjekt des Descartes repräsentiert sich die Welt in einem Vorstellungsraum, der es erlaubt, Wahrheit allein aus der Selbstbeobachtung des Geistes abzuleiten. In der Meditatio ganz nach innen gerichtet schaut die Vernunft sich selbst beim Denken zu und errichtet ihre Beziehung zur Welt auf dieser Differenz der Vorstellung, der inneren Anschauung. In der Folge wird auch die Rhetorik von einer Art »philosophical turn« ergriffen; die philosophische Oratorie entsteht und mit ihr eine neue Ars Inveniendi, eine Kunst ›alles durch uns selbst zu entdecken‹, oder mit den Worten Christian Wolffs: die »Fertigkeit, unbekandte Wahrheiten aus andern bekandten heraus zu bringen«, ein Prinzip, das die Selbstbeobachtung der Vernunft als grundlegende Operation voraussetzt. Im Zuge dessen wird die rhetorische Praxis stärker an das iudicium, die Urteilskraft, gebunden; nicht mehr das elegante Verfolgen privatpolitischer Interessen, sondern die Verbreitung der Wahrheit gilt nun als oberstes Ziel. So entwickelt sich aus der traditionellen Rhetorik der Affektion eine anthropologisch orientierte Wahrheitssuche, die einerseits introspektiv, andererseits aber doch auf Mitteilung hin orientiert ist. Dies ist keineswegs als Kniefall der Rhetorik vor der Philosophie zu verstehen. Im Gegenteil gelingt es der neuen philosophischen Redekunst,
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die Verbreitung der Wahrheit nun als eine Form des movere, also als affektive Bewegung, zu fassen. Traditioneller Weise verband sich mit dem movere die Aktivierung der Affekte des Publikums durch den Redner. In diesem Sinne meint ›movere‹ im Extremfall, um Kants ebenso prominentes wie vernichtendes Diktum zu zitieren, die Zuhörer »zu einem Urteile zu bewegen [...], das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muss«. Demgegenüber bereitet die neue Ars Inveniendi einer philosophischen Nobilitierung des movere den Boden: Dieselbe Art der Beobachtung, die sich zuvor auf die Bewegung der Affekte gerichtet hatte, richtet sich nun auch auf die Bewegung der Gedanken – beide erscheinen gleichermaßen als Gemütskräfte. Zudem geht es nicht mehr darum, wie sich diese Gemütskräfte quasi von außen bewegen lassen, sondern um die ihnen immer schon innewohnende Bewegtheit, die der Redner in Rechnung stellen muss. Damit wird die frühere Aufgabenteilung zwischen Philosophie und Rhetorik zugunsten der Rhetorik unterlaufen: »Dialectica docet, Rhetorica movet«, hatte Luther (1912, 360) lapidar konstatiert. Während die klassische Affektenlehre den Redner dazu befähigt, die Affekte seines Publikums zugunsten seiner Interessen anzusprechen und einzusetzen, ist es nun jedoch umgekehrt die im Konzept des movere zutage tretende Selbsttätigkeit des Erkennens, die den Einfluss des Redners beschränkt. Er kann sein Gegenüber eben nicht zu gleich welchem Schluss bewegen, da dieser eigenständig gefunden und konstruiert sein muss, um wirklich Erkenntnis zu sein. Aber wie kann Mitteilung unter diesen Bedingungen überhaupt noch gedacht werden? Das alte rhetorische Mittel der Fremdaffektion durch Selbstaffektion gibt auf diese Frage eine Antwort. Die philosophische Rede könne, so heißt es nun, nur dann erfolgreich sein, wenn der Redner den Gedanken, um dessen Vermittlung es ihm geht, nicht nur ›ergriffen‹ hat, sondern zugleich selbst von ihm ›ergriffen‹ sei (vgl. Oesterreich 1997, 59). Der Redner muss sich seiner eigenen Erkenntnis gegenüber gewissermaßen passiv zeigen, um den Vorgang selbsttätigen Denkens an sich selbst zu beobachten und beobachtbar werden zu lassen, zu teilen und mitzuteilen. Im Szenario des Vortrags wiederholt sich damit jene Spaltung, mit der das Subjekt in der Meditatio des Descartes etwas über sich selbst und seine geistige Tätigkeit in Erfahrung bringt. Indem der Redner sich beim Denken beobachten lässt, wird die Konstellation zwischen Vortragendem und Publikum zu einer Szene des sich selbst beim Denken zuschauenden Geistes. Doch im Unter-
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schied zur Meditatio, die ganz nach innen gewandt im stillen Kämmerlein vollzogen wurde, verwandelt sich die Szene des sich selbst beobachtenden Geistes im Auditorium des philosophischen Vortrags nun in ein Modell wissenschaftlicher Kommunikation.
IV. Der frei Vortragende gebietet nicht souverän über seine Rede und seine Gedanken, sondern unterwirft sich ihrer Dynamik und lässt sich von ihr tragen. Dies ist nicht ohne Risiko. Denn statt lediglich Wissen von Einem zum Anderem zu transportieren, wird der freie Vortrag damit zu einer Art Selbstversuch, der nur dann gelungen ist, wenn im Auditorium ein Prozess geteilten Denkens initiiert werden kann. Indem sich der Vortragende dem Gang der Erkenntnis, dem eigenständigen Fortschreiten seiner geistigen Kräfte überantwortet, überantwortet er sich zugleich dem Publikum – das eine geschieht durch das andere und teilt sich genau darin mit. Wie organisiert sich angesichts dessen die Teilhabe des Publikums? Auf Seiten der ›Hörer‹ bringt der freie Vortrag die Freiheit mit sich, zuweilen von den Aussagen und Thesen des Vortragenden abzusehen. Es geht hier eben nicht nur darum, das, was der Vortragende vermitteln will, aufzunehmen und zu verstehen, es geht auch darum, den Vortragenden als solchen zu beobachten, seinen Selbstversuch zu bezeugen. Erst das Umspringen der Aufmerksamkeit zwischen den Inhalten und der Performanz des Vortrags macht es möglich, den Prozess der Erkenntnis anzuschauen, der auf der Bühne des Vortrags Wirklichkeit werden soll. Liest man Erlebnisberichte von Hörern aus dem Auditorium, so scheint es dabei oft gerade eine gewisse Schwierigkeit, ein Hindernis zu sein, das sich der Aufnahme des gelehrten Wortes vorschaltet, und damit ein solches Umspringen der Aufmerksamkeit veranlasst. Das erklärt, warum berühmte Gelehrte selten als große Heroen der Rede geschildert werden. Selbst beim Philosophen Fichte, der wahrlich als charismatischer Redner galt, ist es gerade das Stocken der Rede, in dem sich die besondere Teilhabe des Publikums zeigt. Ein Hörer schreibt: »Daß [sein] Vortrag die gespannteste Aufmerksamkeit forderte, ist natürlich, und sie herrschte auch in der großen Versammlung in solchem Grade, daß, wenn Fichte sich einmal versprach,
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[...] eine Art von Zucken durch die Zuhörer ging.« (Friedrich Kohlrausch, zit.n. Fischer 1943, 49) Pausen, oder allgemeiner: Zäsuren in der Referenz des Vortrags öffnen einen zweiten Zugang zum Vortragsgeschehen, gerade indem sie das Verstehen unterbrechen. Während der flüssige Vortrag immer dazu tendiert, die Aufmerksamkeit auf den abwesenden Gegenstand der Rede zu lenken, rufen Zäsuren, Versprecher und Störungen aller Art die Aufmerksamkeit in das aktuelle Geschehen zurück. Sie machen auf das Risiko dieser besonderen Form der Mitteilung aufmerksam und zeugen deshalb, mehr noch als die geschliffene Rede, von Geistesgegenwart. Beschreibungen aus dem Auditorium zufolge verwandelt sich der Lehrkörper auf dem Katheder dabei in einen ›body of evidence‹, an dem Zeichen eines Denkens in Aktion ablesbar werden. So heißt es zum Beispiel über den berühmten Berliner Historiker Ranke: »Der Wechsel seines Mienenspiels, die Unruhe seiner Hände, verrieten dem Zuhörer die beständige Arbeit seines Geistes.« (Karl Frenzel, zit.n. Fischer 1943, 161) Statt lediglich Empfänger der vorgetragenen Thesen und Informationen zu sein, werden die Hörer im Auditorium zu Zeugen eines Geschehens, das sie allererst aus Indizien und Spuren herauslesen müssen und das daher nach einer anderen Art von Beteiligung verlangt: Geistesgegenwart ist hier auch eine Frage der Zeugenschaft. Der auf den ersten Blick vielleicht überraschende Akzent auf den Körperzeichen entspricht dabei ganz der noch im 18. Jahrhundert geläufigen Bedeutung des Wortes ›Vortrag‹; Vortrag nämlich sei, so ein einschlägiger LehrbuchArtikel, »das Vernehmliche der Rede, das nicht in dem Sinn der Worte, sondern in dem Ton, in den Gebehrden und in dem Gesichte des Redners liegt.« (Sulzer 1787, 409) Dies hat eine paradoxe Konsequenz: In einem solchen Vortragsszenario ist der Moment der Erkenntnis von einem Moment der Ablenkung eigentlich nicht mehr zu unterscheiden. In einem geteilten Prozess des Denkens ist eins mit dem anderen identisch. Denn im Umspringen der Aufmerksamkeit lernt das Publikum keineswegs nur vom Vortragenden, es lernt auch etwas durch ihn, lernt im Zuge seiner eigenen Beobachtung, seiner Teilhabe am Vortragsszenario. Und sicher ist dies nicht selten etwas, das gar nicht gelehrt werden sollte. Im Sinne eines glücklichen Equilibriums der Geistesgegenwart ermöglicht das Szenario des Vortrags dem Vortragenden daher zuweilen, etwas zu lehren, was er gar nicht weiß, etwas zu geben, was er nicht hat.
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Wo dieses Equilibrium zerbricht, hat eine komische Figur ihren Auftritt: Die Geburtsstunde des zerstreuten Professors hat geschlagen. Wo genau allerdings die Geistesgegenwart endet und die Zerstreuung beginnt, ist zweifelhaft. So wird beispielsweise von den letzten Vorlesungen Hegels berichtet: »Sein Vortrag gab, wenn man von allen Äußerlichkeiten absieht, den Eindruck des reinen Fürsichseins, [...] d.h. es war weit mehr ein lautes Sinnen als eine an Zuhörer gerichtete Rede. Daher die nur halblaute Stimme, die unvollendeten Sätze, wie sie so augenblicklich in Gedanken aufsteigen mögen. Zugleich aber war es ein Nachdenken, wie man wohl an einem nicht ganz ungestörten Orte dazu kommen mag, es bewegte sich in den bequemsten, konkretesten Formen und Beispielen, die nur durch die Verbindungen und den Zusammenhang, in welchem sie standen, höhere Bedeutung erhielten.« (Strauss1895, 8f)
Ein Nachdenken, »wie man wohl an einem nicht ganz ungestörten Ort dazu kommen mag« — die Figur des zerstreuten Professors könnte kaum treffender skizziert sein als in diesem Bild, und doch ist dies keineswegs die Stoßrichtung des Berichts, im Gegenteil: Hier wird ein freier Vortrag par excellence, ein »lautes Sinnen« geschildert, auf dessen lose Enden sich die Hörer gern selbst einen Reim machen. Noch drastischer sind die Symptome des alternden Berliner Philologen Moritz Haupt: »Haupt war, besonders in den letzten Jahren, nervösen Zuständen häufig ausgesetzt; darum war es ihm unmöglich, während der ganzen Zeit der Vorlesung oder einer Sitzung des Seminars einen festen Platz innezuhalten; aus diesem Grund saß er nie auf dem Katheder, sondern die ersten Plätze der vorderen Bänke wurden freigelassen, und er nahm dann einen um den anderen ein; [...] Dabei kam es manchmal vor, dass er im eindringlichsten Vortrage seinen Zuhörern den Rücken drehte [...]« (Belger 1876, 305f)
In seiner nervösen Zerstreuung nimmt Professor Haupt die Plätze der Hörer für sich in Anspruch und macht damit nolens volens deutlich, dass die professorale Zerstreuung nichts anderes als die Kehrseite einer Spaltung ist, die den Vortrag allererst zum Forschungsszenario werden lässt. Sie ist Symptom einer sich teilenden und buchstäblich im Auditorium zerstreuen-
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den Erkenntnis, die die Figur des zerstreuten Professors erst in ihrem Scheitern hervorbringt. Dann nämlich, wenn das Publikum seine Teilhabe am Forschungsszenario ›Vortrag‹ aufkündigt und die Person des Vortragenden als reines Objekt der Beobachtung zurück bleibt. Damit ist die Figur des zerstreuten Professors aber auch Zerr- und Gegenbild einer anderen Figur, der Figur des Geistesheroen, des Mandarins. Diese Figur wird auf dem Katheder inthronisiert, sobald das im Auditorium kollektiv produzierte Surplus der Erkenntnis ganz dem Vortragenden zugerechnet und als sein geistiges Genie verbucht wird. Auch in dieser anderen Figur kollabiert jenes Equilibrium, in dem es möglich war, etwas zu lehren, was man nicht weiß und etwas zu geben, was man nicht hat. Denn in der Inthronisierung des Mandarins wird die konstitutive Teilhabe des Publikums am Forschungsszenario ›Vortrag‹ zwangsläufig ausgestrichen. Gerade nicht mehr gewürdigt wird dann die Freisetzung auch der Beobachtung, die mit der forschenden Lehre einhergeht. Anstelle eines neuen Wissens um die spezifische Evidenztechnik des Auditoriums erneuert sich dann der Glaube an den großen Mann, das denkerische Genie, den würdigen Gelehrten, den ›gehört‹ zu haben zugleich den eigenen Anspruch auf den Posten des nächsten Mandarins untermauern kann. So gibt die Szene des sich selbst beobachtenden Geistes im Auditorium der Konstitution einer geistigen Körperschaft statt.
V. Allerdings geht der Wirkungskreis des lebendigen Vortrags über die Grenzen dieser geistigen Körperschaft, der Universität, hinaus. Im Unterschied zur traditionellen Vorlesung zieht sein Performance-Charakter gerade auch die bürgerliche Öffentlichkeit an. Dass der Vortrag als solcher mehr Zugangsweisen bietet, als die reine Aufnahme von Wissensstoff, öffnet ihn für ein heterogenes Publikum. Ein Beispiel: 1803 kommt der Student Friedrich Kohlrausch nach Berlin, um sich durch ein »ernstes Studium der Philosophie unter Fichte« einen »Mittelpunkt« zu erwerben, durch den er seine bisher gesammelten Kenntnisse und Neigungen »unter größere Gesichtspunkte« zu bringen hofft. Fichte, der seinerseits nach Atheismus-Prozess und anschließender ›innerer Sammlung‹ soeben erst in Berlin eingetroffen
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ist, beginnt im Winter 1803/1804 seine Vorlesungen zur Wissenschaftslehre. Kohlrausch beschreibt die sich bietende Szene: »Aber welch ein Auditorium hatte sich außer uns jungen Leuten in diesen Vorlesungen gesammelt! Da war eine Anzahl älterer Männer von den bedeutendsten Stellungen im Staate und im öffentlichen Leben. Ich nenne nur die nachherigen Minister Altenstein, Beyme, Clewitz und Ancillon, die sämtlich schon ihren nachherigen Posten nahestanden, den Staatsrat und Professor Hufeland, den Direktor der Singakademie Zelter, die Professoren Bernhardi und Erman, den damals in Berlin lebenden russischen Kollegienrat Kotzebue. Daneben strebsame jüngere Juristen, Ärzte, Offiziere, Kandidaten, Literaten, worunter z.B. Varnhagen von Ense, auch jüdische Glaubensgenossen. Es war eine, ich darf sagen, feierliche Erwartung, als dieses Auditorium versammelt war und Fichte zuerst auftreten sollte. Er kam, bestieg sein Katheder und blickte mit seinen scharfen, dunkeln Augen in die Versammlung. Sein großartiges Gesicht mit den plastischen Zügen, der Adlernase, den dunkeln Haaren und Augenbrauen, dem schöngeschnittenen Munde und kräftig vorragenden Kinne, ein Gesicht, wie zur Nachbildung in Erz oder Marmor geschaffen, imponierte den gereiften Männern nicht weniger als der lernbegierigen und gern bewundernden Jugend. Wer den Eindruck dieses Kopfes in solcher Stunde lebendig empfing, dem war er für das Leben unvergesslich eingeprägt.« (Zit.n. nach Fischer 1943, 47f)
1803 versammelt man sich also nicht allein im Auditorium, man versammelt sich als Auditorium, das als solches erst den Resonanzraum bereitstellt, in dem das Wort des vortragenden Philosophen seine Bedeutung erhält. Aus der Perspektive des Studenten scheint die feierliche Erwartung dabei nicht allein Fichte, sondern eher schon einem ganzen Zeitalter zu gelten, das soeben heraufzieht und sich der eigenen historischen Rolle doch bereits so sicher ist, dass sich der Vortragende auf dem Katheder vor dem geistigen Auge des Schülers unmittelbar in seine eigene, an antike Vorbilder gemahnende Marmorbüste verwandelt. Hier steht alles auf Anfang, und so ist eigens vermerkt, dass die versammelten Männer den Höhepunkt ihrer bedeutenden Karrieren in Staat und Öffentlichkeit noch vor sich haben. Vielleicht scheinen sie gerade deshalb wie aufgestellt zum Nachweis der These vom Mandarinentum der deutschen Gelehrten (Ringer 1983). Der historische Kontext dieser These ist weithin bekannt: Angesichts einer verhältnismäßig schleppend anlaufenden Industrialisierung bietet der Staatsdienst den aufstrebenden bürger-
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lichen Schichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts die besten Aufstiegschancen. Und so hat sich hier eine Gesellschaft versammelt, die ihre auf Wachstum ausgerichtete Teilhabe an Herrschaft in erster Linie über Bildung legitimiert. Vor diesem Hintergrund kann man Fichte und sein ›Auditorium‹ um 1803 als Speerspitze einer kulturellen Bewegung sehen, deren Emanzipation darauf zielt, nunmehr den Staat selbst als einen ›Kulturraum des Wissens‹ zu definieren, also als ein Gebilde, dem der Gebildete genau in dem Maße dient, in dem der Dienst am intellektuellen und geistigen Leben der Nation seinerseits zum Sinn und Zweck des Staates überhaupt erklärt wird. Da Bildung mithin die entscheidende Figuration ist, in der sich bürgerliche Teilhabe an der Macht organisiert, ist sie in Preußen zunächst weniger eine Voraussetzung als vielmehr eine Alternative zu demokratischen Reformen. Statt eines Parlaments wird das Auditorium zum Modell eines spätfeudalen Staatswesens, das sich seinerseits als ›Kulturraum des Wissens‹ begreift. Dieser Modellcharakter ist mit Händen zu greifen, wenn etwa Friedrich von Raumer das Auditorium, das sich zu Alexander von Humboldts berühmter Kosmos-Vorlesung von 1827/28 im Festsaal der Berliner Singakademie versammelt, einer Nationalversammlung vergleicht, die »König und Maurermeister« in der Aufnahme des gelehrten Worts vereint (vgl. Beck 1961). Tief und dauerhaft beeindruckt gründet Raumer 1841 den Verein für wissenschaftliche Vorträge in Berlin. Seine Rede zur Eröffnung lässt keinen Zweifel an den weitreichenden Hoffnungen, die sich zu dieser Zeit mit dem öffentlichen Vortragswesen verbinden: Unter den fünf die Geschicke der Welt lenkenden Mächten sei »Preußen [...] für vollgültig anerkannt, nicht um seiner, verhältnismäßig so geringen, materiellen Bestandtheile willen, sondern wegen seiner geistigen Kraft und Tätigkeit! Der Geist bewegt die Massen, und eine kleinere Masse mit größerer Tätigkeit verbunden, überwiegt und überflügelt die größere, welche ihre Kraft nicht gebraucht, oder mißbraucht. In dem Augenblicke, wo Preußen der geistigen Thätigkeit entsagte, oder auch sie unterordnete und fesselte, hätte es seine Lebensquellen aufgegeben und sich selbst das Todesurtheil gesprochen« (Raumer 1979).
Schon damals tobt also der Kampf um den ›Standortvorteil‹, und schon damals annonciert sich Preußen als Nation der Dichter und Denker – so weit, so erwartbar. Interessanter ist schon die genaue Begründung und de-
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ren Kernsatz: Der Geist bewegt die Massen. Dies gibt einen weiteren Hinweis darauf, was in jenem Labor des Geistes, das das Auditorium ist, zu dieser Zeit verhandelt wird. Wie nämlich bewegt der Geist die Massen? Dies ist eine Frage, die sich im 19. Jahrhundert quer durch alle wissenschaftlichen Disziplinen stellt: von der Physik bis zur angehenden Sozialwissenschaft, und nicht zuletzt im Rahmen dessen, was derzeit unter dem Stichwort der Experimentalisierung des Lebens wissenschaftshistorisch zur Debatte steht. So überrascht es nicht, auch das Versuchsszenario des lebendigen Vortrags in diesen Forschungszusammenhang eingebunden zu sehen. Dabei geht es ganz im Sinne der oben geschilderten Neuakzentuierung des rhetorischen movere nicht mehr um eine einsinnige Bewegung, in der das eine Subjekt, das andere lediglich Objekt wäre. Geforscht wird vielmehr an neuen bisher ungedachten Formen von Steuerung, die auf Dynamik und Eigendynamik abstellen. Entsprechend stehen sich Geist und Materie hier auch nicht mehr als einfaches Gegensatzpaar gegenüber. Wie bewegt der Geist die Massen? Diese Frage zielt auf die Beschreibung eines Ventils, einer Übersetzung, ähnlich der, die Kleist als allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden beschrieben hat – etwas zwischen mechanischem Schwung und elektrischem Funken, vergleichbar dem, was man eine Induktionsmaschine nennt. Es geht um Induktionsvorgänge in einem dynamischen sozialen Körper, der durch den Geist nur noch insofern bewegt werden kann, als dieser sich im und als sozialer Körper materialisiert, insofern also immer dann ein galvanisches Zucken durch die Menge geht, wenn der Vortragende vom Gang seiner Gedanken einen Augenblick fortgerissen scheint. In den kriminologischen Schriften des 19. Jahrhunderts liest sich das folgendermaßen: »Eine Menge ist erregt, aber die Kraft, die sie bewegt, hat noch nicht eine bestimmte Richtung gefunden; in einem Dampfkessel beginnt die Druckbildung, aber das Ventil, durch welches der Dampf ausströmen kann, ist noch nicht geöffnet; ein Pulverhaufen liegt da, aber die Lunte, die ihn zum Explodieren bringt, ist noch nicht angelegt; da erhebt sich Einer, ein Gedanke wird geäussert, ein Schrei ausgestoßen: wir wollen den Volksfeind Titus töten, oder den Cajus, den Freund der Armen, befreien und die Bewegung hat ihre Richtung erhalten, die Klappe ist geöffnet, das Pulver explodiert.« (Zit.n. Schäfer/Vogl 2004)
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Nicht zufällig werden hier berühmte Beispiele aus der Geschichte der öffentlichen Rede bemüht, denn als Technik der Affektbewegung ist die Rhetorik ja von alters her vertraut. Die explosive und zugleich industrielle Metaphorik legt den Akzent jedoch nicht mehr auf die Rhetorik und ihre diabolische Macht, sondern auf die kaum kontrollierbare Eigendynamik der öffentlichen Menge. Vor diesem Hintergrund erscheint das Szenario des lebendigen Vortrags als ein Modell, dass diese Eigendynamik steuern hilft, gerade indem es ihr Raum lässt: In der Teilhabe an der Performance des Vortrags, in der Betrachtung des Lehrkörpers als Medium des Geistes, ist die Eigenaktivität des Publikums gefragt und wird zugleich in der Figur des Vortragenden gesammelt und konzentriert. Die Heroisierung des Denkers am Katheder bindet den Geist, der die Massen bewegt – Kontrolle qua Bildung ist möglich. Aber kann das Auditorium des freien Vortrags beides sein: Forschungsszenario und Modell gesellschaftlicher (Selbst)Steuerung? Eher nicht, denn im Zuge der Inthronisierung des Mandarins wird der freie Vortrag als Manifestation eines Genies gefeiert und fetischisiert. Er wird nicht mehr als Verfahren der Forschung begriffen und als solches weiterentwickelt, oder womöglich durch weitere Verfahren ergänzt oder ersetzt, die ebenfalls in der Lage wären, die Darstellung von Wissen in die Generierung von Erkenntnis zurückzuführen. Kein Wunder also, und berechtigt allemal, dass der Kathedervortrag in den Studentenrevolten der späten 1960er Jahre so nachhaltig in Misskredit geraten ist. An die Stelle eines forschenden Lehrens, das keines mehr war, trat in den 70er Jahren das Konzept des forschenden Lernens. Dass dieses Konzept nicht dazu beigetragen hat, der wissenschaftlichen Forschung ein demokratischeres Antlitz zu verleihen, ja, dass es sich im Sinne von ›Gouvernementalität‹ seinerseits als Modell gesellschaftlicher Kontrolle eignet, ist dabei sicher nicht im Sinne der Erfinder. Vielleicht wäre angesichts dessen das Auditorium als kollektives Experiment wieder zu entdecken und zu kultivieren und zwar nicht zuletzt, um sich der Frage zu stellen, was die viel beschworene Wissensgesellschaft der Gegenwart politisch von derjenigen des 19. Jahrhunderts unterscheiden sollte.
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Zwischen desaströser Universität und Universität des Desasters – oder: Modulation als Herausforderung für universitäre Lehre und Antwort auf die Modularisierung von Studiengängen O LAF S ANDERS Wir leben im Serienzeitalter; und so setzt auch dieser Beitrag einen anderen fort, der ebenfalls auf einem Vortrag basiert. Ich hielt beide Vorträge im Abstand von zwei Wochen. Im Rahmen des Symposions Virtualität und Kontrolle sprach ich über Deleuzes Pädagogiken als Ethik des Widerstands gegen funktionale Verdummung an Universitäten. 1 Ich greife einige Elemente dieses Vortrags in diesem Beitrag wieder auf – es gibt also Wiederholungen –, akzentuiere sie die damalige Diskussion berücksichtigend aber anders und spitzte sie stärker auf die universitäre Lehre zu. 2 Es gibt also auch Differenzen. Während des ersten der beiden Hamburg-Besuche fiel mir das seinerzeit gerade erschienene Buch Paul Virilios mit dem vielversprechenden Titel Die Universität des Desasters zu. Was versteht Virilio
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Das Symposion Virtualität und Kontrolle fand vom 3. bis 8. November 2008 an der Hamburger Hochschule für bildende Künste statt. Der aus dem Vortrag hervorgegangene Beitrag erscheint unter dem genannten Titel im Tagungsband (Sanders 2010).
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Derrida fragte schon 1983 in einem Vortrag, wie man nicht über die Lehrbedingungen an der Universität sprechen solle (vgl. Derrida 2004, 59).
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unter einer Universität des Desasters? Sicher keine in mancherlei Hinsicht desaströse Universität wie die, an der ich lehre oder – treffender inzwischen wohl – zumeist eher unterrichte. Aber warum nenne ich die Universität überhaupt – und vor allem in Hinblick auf die Lehre, das sei der Redlichkeit halber ergänzt – desaströs? Was kennzeichnet den Unterricht dort? Und welche Lehre wäre an einer Universität des Desasters nötig? Wie kann universitäre Lehre dazu beitragen, von der desaströsen Universität an der Schwelle zur Kontrollgesellschaft zu einer Universität des Desasters zu gelangen? Zwischen den Universitäten herrscht eine Leere, und darin liegt eine Chance. Der Beitrag bleibt wie der Vortrag Fragment oder drei Fragmente. Es wird sicher eine Fortsetzung geben.
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Als Lehranstalt ist die desaströse Universität eine Institution in der Krise. Eine allgemeine Krise erfasse Gilles Deleuze zufolge (1993, 255 [frz. 1990, 241]) disziplinargesellschaftliche Institutionen an der Schwelle zur Kontrollgesellschaft. Bei disziplinargesellschaftlichen Institutionen handelt es sich um Einschließungsmilieus wie Gefängnisse, Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, die betrieben werden, als ob sie Schulen wären und schole nicht urspünglich »gebildeten Müßiggang« (Foucault 2004, 166) meinte. Die Krise der Universität ist also zunächst eine disziplinargesellschaftliche. Es ist den Reformen der letzten Jahre nicht gelungen, die Universität vollständig in ein kontrollgesellschaftliches Unternehmen umzubauen, obwohl es oft so aussieht, als ob sie dieses Ziel verfolgten. Eines der Kriterien, die Deleuze nennt, der das Wort »Kontrollgesellschaft« von William S. Burroughs übernimmt und zum Begriff ausbaut, ist die Ablösung des Examens durch kontinuierliche Kontrolle (vgl. Deleuze 1993, 257 [frz. 1990, 243]). BA- und MA-Studiengänge verzichten zwar tatsächlich auf punktuelle Abschlussprüfungen; und auch in den noch nicht BA-MArisierten Lehramtsstudiengängen werden Anwesenheiten, Arbeitsleistungen etc. heute engmaschiger erfasst als noch zu meiner Studienzeit. Seminare werden außerdem durch Module zu einem Parcours gruppiert und Seminarplätze online vergeben. Die Verfeinerung der Disziplinartechnologie – die Prüfung wird als produktivstes »Mittel der guten Abrichtung« exzessiver
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genutzt – und die Modularisierung – vor allem in Verbindung mit der Vergabe von Seminarplätzen durch Software – verändern die Bedingungen universitärer Lehre stark. On-line heißt wortwörtlich an der Leine; und das Chambers Concise Dictionary von 1989 – also die wahrscheinlich letzte Ausgabe vor der Erfindung des World Wide Web – verzeichnet als Bedeutung »attached to, and under the direct control of, the central processing unit«. Wer central processing unit, kurz CPU, sagt, meint heute in der Regel eine HardwareKomponente, nämlich den Hauptprozessor eines Computers; man könnte damit aber auch allgemeiner eine zentrale Steuereinheit bezeichnen. Im Hinblick auf die Lehre an der Universität zu Köln wäre dies dann die Kölner Lehr-, Informations- und Prüfungssoftware, kurz: KLIPS, deren Hamburger Pendant STINE heißt. Zentralität und Anonymität erinnern an Benthams Panopticon, das Michel Foucault als die Architektur der Disziplinargesellschaft auszeichnet. »Die Überwachung ist lückenlos.« (Foucault 1977, 252) Lückenlose Überwachung ist aber keine kontinuierliche Kontrolle, weil sie an geschlossene Räume gebunden bleibt. Die Online-Vergabe von Seminarplätzen schränkt Bewegungsfreiheit ein. 3 Paul Virilio weist darauf hin, dass Bewegungsfreiheit die erste Freiheit des lebenden Wesens sei (Virilio 2008, 112). Eingeschränkte Bewegungsfreiheit hat an der Universität zwei Effekte: Einige Studierende, die Interesse an einem Seminar haben, kommen nicht, obwohl sie Zeit hätten, weil sie keinen Platz in dem Seminar zugewiesen bekommen haben. Andere Studierende, die lieber an einem anderen Seminar teilnähmen, kommen trotzdem und bleiben, weil sie den Modulbaustein kreditiert bekommen müssen, obwohl sich ihr Interesse in engen, oft zu engen Grenzen hält. Die jungen Leute verlangen dann – wie in der Schule schon – motiviert zu wer-
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Es gibt hier eine interessante Verbindung zur Architektur, die Hegel noch als durch die Sache selbst begründeten Anfang von Kunst ansieht (Hegel 1986, 258). Während an alten Massenuniversitäten die Architektur der Lehre bisweilen Grenzen setzte, erfüllt diese Funktion heute eine offene Rechnerarchitektur. Die Abwertung der Architektur entspricht der der Mutter, die kaum noch nährt, schon gar nicht »in verrückter Mutterliebe« (Hörisch 2006, 17).
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den. Und vorbereitet – auch das ist eine Nebenwirkung der späten Seminarplatzsicherheit – ist auch so gut wie niemand mehr. 4 Obwohl unsere Universitäten nicht vollständig in die Kontrollgesellschaft übergegangen sind, ist die kybernetische Steuerung von Studierendenströmen durch Module ein wirklich kontrollgesellschaftliches Element. Und: »Die Kybernetik ist«, in den Worten des französischen Autorenkollektivs Tiqqun, »der Krieg, der gegen alles geführt wird, was lebt und eine Dauer hat.« (Tiqqun 2007, 19) Ein Ende dieses Krieges ist gegenwärtig nicht absehbar. Wie in Christian Krachts jüngstem Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) wird er zum Lebenszweck und selbst auf Dauer gestellt. Schwelend verstärkt er die Krise der Universität, gerade weil sie kein kontrollgesellschaftliches Unternehmen wird und sich mit Modulationen, also sich selbst im Gebrauch verformenden Gussformen, schwer tut. Verschärfend kommt hinzu, dass nicht nur die neueren Kontrolltechniken modulatorisch wirken. Modulatorisch ist auch ein Wissen auf dem vordersten Posten, »auf jener äußersten Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt und das eine in das andere übergehen lässt.« (Deleuze 1997, 13f [frz. 1968, 4]) Modularisierung und Modulation widerstreiten einander folglich. Eben deshalb funktioniert auch die Fiktion der Kombinierbarkeit von Modulen und Bausteinen verschiedener Universitäten nicht. Schon innerhalb einer Universität fügt sich kaum etwas zu einem Ganzen. Der entscheidende Effekt der Modularisierung scheint mir zu sein, dass die Modularisierung Studierende von Lehrenden trennt. Man studiert kaum noch bei jemandem. Seit Inkrafttreten der aktuellen Lehrerprüfungsordnung können die Studierenden in NordrheinWestfalen nicht einmal mehr halb so viele Seminare bei einer oder einem Lehrenden belegen. Nach der Hingabe an die Sache verschwindet folglich auch der meist – glücklicherweise – sublimierte Eros aus den Universitäten. Letztendlich betrifft die Krise Lehrende aber auch unmittelbar, weil sie sich noch aus einer dritten Schicht speist. Foucault zeigt in Überwachen und Strafen, wie sich die Disziplinargesellschaft aus der Souveränitätsgesellschaft entwickelt und vorherrschend wird. In Universitäten wirken
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Die Beantwortung der Emails von Studierenden, die an einer Lehrveranstaltung teilnehmen wollen, obwohl ihnen der Platz nicht zugewiesen wurde, verknappt auch Vorbereitungszeit – vor allem die des Lehrkörpers.
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auch Figuren dieses Gesellschaftstyps nach, obwohl sich der Souverän länger schon in der Krise befindet: Der König ist geköpft, Gott tot, der Vater delegitimiert. Es handelt sich also genauer genommen bei universitären Souveränen wohl nur um Wiedergänger souveräner Figuren, denen, wenn sie nicht ohnehin leblos sind, meist etwas ubueskes anhaftet. Kaum ein Professor hat noch etwas zu versprechen. Die Krise von Präsidentinnen und Präsidenten, Rektorinnen und Rektoren, Hochschullehrenden und anderen Seminarleiterinnen und -leitern ist aber auch eine Folge des immer feineren Wirkens anonymer Macht in einer Disziplinarinstitution und wird in der Krise der Institution am Übergang in die Kontrollgesellschaft zusätzlich verschattet. Die Krise der Universität ist die einer nicht mehr produktiv genug wirkenden Disziplin, aber auch mangelnder Kontrolle und delegitimierter Souveränität. Ihr desaströser Zustand ist also weder Zufall noch Wunder.
D AS A DORNO -E XPERIMENT KLIPS registriert Abwanderungen aus Seminaren unmittelbar. Man wird auf Gängen auf diese Bewegungen angesprochen. So zu Beginn des Wintersemesters 08/09, in dem ich eines meiner Proseminare zum Thema »Aufklärung und Medien« mit einem kleinen Experiment begann. Ich sagte den Studierenden, dass eine der keineswegs originellen Thesen dieses Seminars sei, dass Entwicklung und Ausdifferenzierung von Kulturindustrien immer tiefer in Unbildungen führen. Um abschätzen zu können, was in den letzten 50 Jahren geschehen sei, hätte ich ein Stück Rundfunkgeschichte dabei, einen Vortrag, den der SWR 1959 für das gebildete Radiopublikum in zwei Teilen gesendet habe. Autor und Sprecher sei Theodor W. Adorno, der Titel laute: Kultur und Verwaltung (Der Vortrag findet sich auch in Adorno 1998, Bd. 8, 122ff). Nach dem Start der CD entgleisten Gesichtszüge binnen Minuten. Nicht wenige Studierende – überwiegend zukünftige Lehrerinnen und Lehrer – begannen mit Fingerspitzen auf Tischen zu klopfen, mit Füßen zu scharren oder SMS’ zu schreiben. In der Wirkung unterschied sich der Vortrag, was Adorno wahrscheinlich gefreut hätte, nicht von der, die Schönbergs Orchestervariationen einige Semester zuvor in einem Seminar über Holzkamps Lerntheorie hervorgerufen hatten. Holzkamp beschreibt in seinem Lernen-Buch einen seiner eigenen Lernprozesse an-
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hand dieses Stücks. Weniger gefreut hätte Adorno wahrscheinlich, dass auch Jazz oder Kino, beispielsweise Leucocyte von E.S.T. (Act 2008), Godards Week-End (I/F 1967) oder Derek Jarmans Blue (UK 1993), ähnlich wirkten. Es ging mir bei diesem kleinen Experiment nicht darum, die kulturpessimistische These zu illustrieren, dass Studierende oder das gebildete Radiopublikum früher dem Vortrag beim ersten Hören bis in seine feinsten Verästelungen gefolgt wären. Derartige Kulturpessimismen finden keinen Grund. Schon Seneca kontrastiert den Homo sapiens, also den verstehenden Menschen – wie Foucault in seinen Vorlesungen über die Hermeneutik des Subjekts (Foucault 2004, 170ff) nahelegt – durch den Homo stultus, der ziellos ständig Meinung und Lebensweise ändert, unfähig, »angemessen zu wollen« (ebd., 172), und den die Stoiker durch Stiftung von Selbstsorge zu kurieren hofften. Überrascht und erschreckt hat mich, dass die Studierenden auch Steven Johnsons (2006) These, dass uns der Umgang mit populärer Gegenwartskultur smarter mache, weil wir in World of Warcraft ausdauernd Gold sammeln oder in Emergency Room wesentliche Informationen von unwesentlichen trennen gelernt haben, widerlegen, weil der Transfer aus der MMORPG – d.h. Massively Multiplayer Online Role-Playing Game – oder Fernsehserienwelt nicht gelingt. Die meisten Studierenden konnten weder Thema und Grundgedanken von Adornos Vortrag erfassen, noch die Konzentration aufbringen, ihn als Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung zu nehmen, was eine knappe Stunde Aufmerksamkeit erfordert hätte. Die »jungen Bewusstseine« scheinen tatsächlich, wie Bernhard Stiegler in Prendre Soin (2008, 16) – eine nicht immer verlässliche Übersetzung der ersten Hälfte liegt unter dem Titel Die Logik der Sorge (2008b) in der Edition Unseld vor 5 – annimmt, von der Kulturindustrie nach und nach mit allgemeinen von Hyperaktivität begleiteten Aufmerksamkeitsproblemen versehen worden zu sein. In kulturindustriell geprägten Gesellschaften erfolgt Kontrolle über Konsum. Das ist nicht neu, auch wenn sich dieser Zusammenhang durch
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Der zweite Teil erscheint im Herbst 2009 unter dem Titel Logik der Sorge 2. Von der Biopolitik zur Psychomacht in der Edition Suhrkamp. Dass dem Untertitel von Prendre soin eine Ordinalzahl voran steht, weist auf einen zweiten und womöglich weitere Bände hin. Auf Amazon.fr ist Prendre soin 2 bereits angekündigt.
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neue Unterhaltungstechnologien womöglich verschärft und ausdifferenziert. Neu ist, dass der Beitrag, den Universitäten zur Kontrolle über Konsum leisten, durch ihre Orientierung am Unternehmen erheblich und rasant wächst. Deleuze (1993, 257 [frz. 1990, 243]) schreibt im Postscriptum über die Kontrollgesellschaften, dass das Unternehmen (l’entreprise) in der Kontrollgesellschaft die Fabrik (l’usine) ersetze. Während also Fabriken und Schulen in der Industrie- oder Disziplinargesellschaft Universitäten als – irgendwie idealiter wenigstens – unbedingte entgegen standen, ist eine Universität, die agiert als ob sie ein Unternehmen wäre, im Begriff die Sphäre der Kultur, deren subjektive Zueignung Adorno (1998, Bd. 8, 94) in der Theorie der Halbbildung Bildung nennt, in die der Kulturindustrie zu verlassen. Kerncurricula, Grundkurse, rote Fäden und vielfältige Medieneinsätze sorgen zusehends dafür, dass ihre Produkte, zumindest diejenigen der Produktlinie »Lehre«, »darauf rechnen [können], selbst im Zustand der Zerstreuung alert konsumiert zu werden.« (Adorno 1998, Bd. 3, 148) Widerstrebendes findet oft keinen Eingang in Modulhandbücher, und Evaluationen stabilisieren die Orientierung am alles andere als eigensinnigen oder gebildeten Massengeschmack, so dass Lehrveranstaltungen schlussendlich auch leicht konsumiert werden können müssen. Es wirkt manchmal, als wiederholte die Universität gerade den Verfall des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nach Einführung des privaten. Dummheiten werden immer offensichtlicher, und Wunschmaschinen laufen oft nicht einmal mehr als gestörte (vgl. Deleuze/Guattari 1977 [frz. 1972], 14). Als kulturindustrielle setzt die Universität der Verdummung nicht nur nicht genug entgegen, sondern hat durch ihre Orientierung am Kurzfristigen aktiv an ihr Teil. Die Orientierung am Kurzfristigen produziert bekanntlich schnell gute Zahlen, die fehlende Qualität in große Quantität verwandeln, Intensität in Ausdehnung und Maßloses in Vermessenes. Das hat die Banken-Krise gezeigt. Das Kurzfristige bedient außerdem das Lustprinzip, das sich die lästigen Umwege, die einem das Realitätsprinzip aufzunötigen versucht, gern erspart. Insofern kürzt man die mit Fragen der Lehre und des Studiums befassten Ausschüsse an Fakultäten in Hamburg, Köln und sicher auch anderswo inzwischen zutreffend als Lust-Ausschüsse ab. Stiegler erinnert auch daran, dass es laut Deleuze die Dummheit (la bêtise) sei, die uns zum Denken zwinge, und bezieht sich vermutlich auf eine Passage aus Differenz und Wiederholung (1997, 344 [frz. 1968, 353]), in der Deleuze die Dummheit, die nicht mit Fehler oder Irrtum verwechselt werden dürfe,
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als »die größte Ohnmacht des Denkens« und als »Quelle seiner höchsten Macht« bestimmt. Die Dummheit lasse uns, so Stiegler (2008, 62), »nach einer spezifischen Modalität, Aufmerksamkeit [oder Achtsamkeit] herzustellen [faire attention], denken« (Übersetzung O.S.). Mangelnde Rücksicht auf diese spezifische Modalität zersetzt hingegen die Sorge oder Verantwortung für die nachwachsende Generation, die auch durch Kulturindustrien zersetzt wird, deren Ziel zugleich in der Herstellung von Aufmerksamkeit besteht, aber eben einer anderen, die sich nicht auf das Anomale oder auf kleinste Abweichungen richtet, sondern durch Effekte auf Stereotype gerichtet wird.
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Wahrscheinlich ist die ökonomische Krise nur Vorbotin einer bisher weitgehend ignorierten Bildungskrise und einer sich deutlich abzeichnenden ökologischen Krise – Klimawandel, Klimakriege, Artensterben –, die sich gegenseitig verstärken werden, bis das bisher ungekannte Ausmaß den Namen Desaster rechtfertigt. Virilio (2008) fordert vor diesem Horizont die Gründung einer »Universität des Desasters« (ebd., 133), die zugleich eine »Universität des angekündigten Desasters« (ebd., 134) und eine »Universität des vollendeten Desasters« (ebd., 135) sein muss. Einsatz dieser Universität sind der rasant »wachsende Misserfolg des Erfolgs der big science« (ebd., 133), der »vollständig selbstmörderisch zu werden« droht, und der Wiedergewinn an Glaubwürdigkeit von Wissenschaft, durch ihren Wiederanschluss an Ethik und Philosophie. Was Virilio »big science« nennt, heißt bei Deleuze und seinem Ko-Autoren Félix Guattari »königliche Wissenschaft«, der sie eine mindere Wissenschaft entgegen und beiseite stellen. Zu dieser Wissenschaft gehört eine Pädagogik. Pädagogik erfährt in den Spätwerken von Deleuze und Deleuze/Guattari ohnehin eine erhebliche und in philosophischen Zusammenhängen der jüngeren Vergangenheit ungewöhnliche Aufwertung. In den Arbeiten nach 1975 speisen drei Pädagogiken die höchste Macht des Denkens: die Pädagogik des Begriffs aus Was ist Philosophie?, die Pädagogik der Wahrnehmung, die Deleuze vor allem als Pädagogik des Kinos in den Kino-Büchern – insbesondere in Das Zeit-Bild – entwickelt, und schließlich eine Pädagogik minderer Wissenschaft, die meines Erachtens Tausend Plateaus und seinem Leibniz-Buch Die Falte
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zugrunde liegt. Gemeinsam haben die Pädagogik des Begriffs, der Wahrnehmung und der minderen Wissenschaft ihren kritischen Impuls. Sie sollen verhindern, dass das vergangene Zeitalter der Enzyklopädie – gemeint ist Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften – von einem Zeitalter kommerzieller Begriffsbildungen nach Muster des Marketings, professioneller Bildungen des Auges und – mit Abstrichen – anderer Sinne »für eine Welt der Kontrolleure und der Kontrollierten« (1993, 107 [frz. 1990, 103]), sowie in erster Linie ökonomisch orientierter Forschung und kybernetisch konzipierter wissenschaftlicher Ausbildungen abgelöst wird. Die drei Pädagogiken eröffnen die Option auf ein drittes Zeitalter zwischen dem enzyklopädischen und einem desaströsen. Sie sind Ausgangspunkte von Fluchtlinien, Praktiken des Widerstands und insgesamt Ethik – und zwar im Sinne Spinozas, als eine Ethik des Denkens und der Erkenntnis. Die Pädagogik des Begriffs lässt sich als ein weiterer Versuch lesen, von Spinozas zweiter Erkenntnisgattung, der Erkenntnis durch Gemeinbegriffe, nicht in die erste Gattung, die Meinung, zurück zu fallen, sondern zur dritten Gattung, zur Intuition, d.h. zur unmittelbaren Auffassung von Singularitäten in ihrem Eigensinn, fortzuschreiten. Spinoza zeigt einen Weg auf, weist aber am Ende der Ethik zugleich darauf hin, dass dieser schwer und nur mit großer Anstrengung zu finden sei (vgl. Spinoza 1999, 585). Die drei Pädagogiken Deleuzes und Deleuze/Guattaris sind wie die drei Ihnen korrespondierenden symbolischen Formen Philosophie, Wissenschaften und Künste und ähnlich den Lacan’schen Registern in einer Art Borromäischem Knoten verbunden. Denken ereignet sich an den Verbindungen. Löst man sie, verflüchtigt es sich. 6 Bei Deleuze und Guattari verbindet jeweils eine Gemeinsamkeit zwei der Formen, die durch eine Differenz von der jeweils dritten getrennt werden. So gehören die Künste und die Wissenschaften zur Sphäre des Aktuellen, die Philosophie erschließt hingegen auch die des Virtuellen. Die Wissenschaften und die Philosophie arbeiten begrifflich, wenn auch mit unterschiedlichen Begriffen, die Künste nicht. Sie bearbeiten wie die Philosophie Unendliches, das sie aktualisieren, während Wissenschaften nur Endliches mit Referenz versehen. Dazu brem-
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Ernst Cassirer entfaltet den Begriff der symbolischen Form in einem Vortrag in der Bibliothek Warburg in Anschluss an Humboldt als »Energie des Geistes« (Cassirer 1994, 175).
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sen sie die unendliche Geschwindigkeit philosophischer Begriffe unter eine Schwelle, die zugleich eine erste Konstante bildet. Big science und königliche Wissenschaften brechen den Kontakt zu Künsten und Philosophie ab, mindere Wissenschaft hingegen sucht ihn, um das Unendliche, das Virtuelle und Affektive nicht aufzugeben. Der Kern einer Pädagogik minderer Wissenschaft wäre demnach der Wiederanschluss an das Denken als ein Denken, das sich selbst entflieht, ein Flackern und Neuverketten. Dieses Denken kann sich nur ereignen; beibringen lässt es sich nicht. Ereignisse setzen Zwischenräume voraus. Diese muss man allerdings schaffen, z.B. durch Unterbrechung des Betriebs. In Bezug auf eine an der Content-Vermittlung orientierten Lehre hätte Leere insofern die Funktion einer Botte, wäre also Mittel zur Sabotage. Unterbrechung und Diskontinuität wirkte auch gegen die Kontrolle. In einem Gespräch mit Toni Negri, das den Titel Kontrolle und Werden trägt, fragt Deleuze selbst danach, was in der Kontrollgesellschaft wirken könnte wie der Holzschuh in der Industriegesellschaft: »Nötig ist eine Umleitung von Rede [parole]. Kreieren war immer etwas anderes als kommunizieren. Die Hauptsache wird vielleicht sein, Vakuolen von Nicht-Kommunikation zu erschaffen, Unterbrecher [interupteurs], um der Kontrolle zu entkommen.« (1993, 252 [frz. 1990, 238], Übersetzung modifiziert) Wenn die Lehre phasenweise einer Leere weicht, wird unter der Organisation wieder ein Leben wahrnehmbar. Deleuze greift mit der Vakuole sicher nicht zufällig ins zellbiologische Vokabular. Ein Leben steht bei Deleuze für Mannigfaltigkeit in abweichender Bewegung, die auch Modularisierungen wieder zu Modulationen verflüssigen kann, und für den Widerstand gegen das Primat der Kybernetik. Wie es wirkt, wenn man Rede umleitet in Stille, zeigt der zweite Teil des letzten Stückes der letzten CD des Esbjörn Svensson Trios. Das Stück heißt wie die CD Leucocyte, der zweite Teil Ad Interim. Er dauert wie eine Trauerschweigeminute eine Minute. Zu betrauern wäre der Untergang des enzyklopädischen Zeitalters und seine Ersetzung durch Marketing. Musikalisch ist nichts Langweiligeres denkbar als Stille. Aber seit John Cages 4’33 wissen wir, dass Stille ein guter Grund für Ereignisse ist. Stille hat einen ähnlichen Effekt wie das Rauschen, das Information und Signifikanz schluckt und dadurch ihren Fluss und ihre Macht unterbricht. Sie muss nicht leise sein, und Unterbrechung allein genügt nicht.
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Wieder sichtbar werden – Sichtbarkeit war die Signatur souveräner Herrschaft – muss schließlich ein minderer Wissenschaftler oder eine mindere Wissenschaftlerin als eine Lehrkraft, die keine Beibringerin mehr ist – also gerade keine für besondere Aufgaben –, sondern eine Art »ignoranter Meister« im Sinne Jacques Rancières (2007), ein »lebender Meister« mit Sinn für die Gefahr der Lehre, wie George Steiner (2003, 118) ihn beschreibt, oder ein »Lehrmeister«, der Foucault (2004, 168) zufolge »durch Verunsicherung und Entdeckung« vorgeht und zu einem »Wirkelement in der Umbildung des Individuums« (ebd. 169) wird, von sich selbst und von anderen. So ließe sich der Krise der Universität als Lehranstalt in allen drei eingangs genannten Schichten begegnen und den singulären Werken, die Jacques Derrida in Die unbedingte Universität als Ereignisse des Denkens und als Resultate universitärer Forschung anführt, eine angemessene Lehrpraxis hinzufügen.
L ITERATUR Adorno, Th. W. (1998): Gesammelte Schriften. Darmstadt. Cassierer, E. (1994): Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: Ders.: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt, 169-200. Deleuze, G. (1968): Différence et répétition. Paris. Deleuze, G. (1990): Pourparlers 1972–1990. Paris. Deleuze, G. (1993): Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt am Main. Deleuze, G. (1995): Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main. Deleuze, G. (1997): Differenz und Wiederholung. München. Deleuze, G.(1999): Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main. Deleuze, G./Guattari, F. (1972): L’Anti-Œdipe. Capitalisme et schizophrénie. Paris. Deleuze, G./Guattari, F. (1977): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1. Frankfurt am Main. Deleuze, Gilles und Félix Guattari (1996): Was ist Philosophie? Frankfurt am Main. Deleuze, Gilles und Félix Guattari (1997): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin.
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Übergänge
Die Schule, das Lehren und die Übertragung H INRICH L ÜHMANN Heute dominiert in den erziehungswissenschaftlichen, bildungspolitischen und bildungsadministrativen Diskursen die empirisch-pädagogische Forschung. Eine ihrer Aufgaben ist es, die Unterrichtsqualität zu messen und in Zahlen darzustellen. Damit befriedigt sie das öffentliche Interesse an einem Ranking der Schulleistungen im nationalen und internationalen Vergleich. Sie spielt einer auf Sparsamkeit bedachten Finanzpolitik in die Hände, die betriebswirtschaftliches Denken und Handeln im Bildungsbereich verlangt und dafür Daten braucht. Der Bildungspolitik ist sie unentbehrlich: Erfolge ihrer Reformen lassen sich nur nachweisen, wenn sie in Zahlen ausgedrückt werden können. So ist eine flächendeckende Ökonomisierung in Gang gesetzt worden: die zweckrationale Durchdringung der Schulen nach Organisationsprinzipien der Wirtschaft mit dem Ziel einer kostengünstigen, im Hinblick auf Aufwand und Ertrag effizienten und in Zahlen darstellbaren Steigerung der Unterrichtsqualität. Diese Zweckrationalität erstreckt sich auf die Organisation, auf die Unterrichtsinhalte und auf das allgemeine Ziel der Schulen, nämlich eine bereits dort zu sichernde Berufs- und Arbeitsmarktbefähigung unserer Schüler. Vor diesem Hintergrund wird Unterricht sub specie des als Ziel definierten »Outputs« geplant und durchgeführt. Damit wird die den Gegenständen eigene Komplexität zugunsten abfragbarer Eindeutigkeiten aufgegeben. Fragen, deren Antworten nicht eindeutig zu antizipieren sind, stören, weil sie auf Abwege führen könnten; zur Messung ungeeignete Fächer und Themen geraten in den Hintergrund.
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In den Hintergrund gerät auch der Lehrer mit seinem je eigenen Wissen, seinen Interessen, seiner Erfahrung, seinem pädagogischen Eros. Von der Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler und ihrer Entfaltung, von ihren individuellen Fragen, Nöten, Möglichkeiten ist nicht die Rede. Mit der Ausblendung der Subjekte verbinden sich methodische Strömungen, die den Lehrer auf die Rolle eines sich zurücknehmenden Organisators reduzieren, der nicht mehr lehrt, sondern selbstständiges Lernen der Schüler begleitet. Formen des Lehrervortrags oder des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs gelten als unprofessionell und veraltet. Dieses Streben nach zweckrationaler Regulierung ist nicht nur durch das Bedürfnis motiviert, die Berufsfähigkeit der Schüler zu sichern, Schulen effektiver zu machen und Kriterien für das politische Handeln zu liefern. Ihm liegt vielmehr, vermute ich, eine Furcht vor dem Unberechenbaren zugrunde, vor dem, was als »irrational« gilt und sich keiner eindeutigen Zweckbestimmung fügt. Noch schärfer und auf das Lehrer-SchülerVerhältnis bezogen: hier wirkt Angst vor dem Unberechenbaren der Affekte, vor offener Aggressivität sowohl der Schüler als auch der Lehrer und vor sublimierter Sexualität – Aspekte, die nun einmal mit Lehren und Lernen verbunden und deshalb in der Schule allgegenwärtig sind. Unbegriffen, unverstanden, selten thematisiert können sie in einer als zweckrational aufgefassten Schule nur als Störung wahrgenommen werden, für die dann entweder Fehler der Methodik oder außerschulische Ursachen verantwortlich gemacht werden. Als Unterrichtstechniker eingesetzte Lehrer sind auf sie nicht vorbereitet. Mehr oder weniger offen begleiten Affekte jeden Unterricht – ob der Lehrer darum weiß oder nicht. Das wird keine noch so rationale und lernpsychologisch geschickte Organisation verhindern können. Sie zu unterbinden wäre auch töricht; denn Affekte sind Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas nachhaltig gelernt wird. Im Folgenden soll versucht werden, diese Lehren und Lernen durchdringenden intersubjektiven Vorgänge besser zu verstehen und ihre Bildungsrelevanz herauszuarbeiten. Ich werde dabei den aus der psychoanalytischen Erfahrung gewonnenen Begriff »Übertragung« nutzen. 1
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Zur ausführlicheren Analyse der Figuren des Lehrens in der Übertragung vgl. Lühmann 2006.
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Der wirksame Andere Die Psychoanalyse kennt »Übertragung« als einen »Irrtum in der Zeit« (Greenson 1973, 163), insofern Triebimpulse, Affekte und Abwehrhaltungen, Wünsche, die sich auf eine Person der Vergangenheit beziehen, auf eine Person der Gegenwart verschoben werden – eine Wiederholung infantiler Konstellationen in der Gegenwart. Für Sigmund Freud ist Übertragung entscheidend für die Wirksamkeit psychoanalytischer Deutungen: »Bei diesem Erziehungswerk spielt die bessere Einsicht des Arztes [des Psychoanalytikers] kaum eine entscheidende Rolle; er weiß ja in der Regel dem Kranken nichts anderes zu sagen, als was diesem sein eigener Verstand sagen kann. Aber es ist nicht dasselbe, etwas bei sich zu wissen und dasselbe von anderer Seite zu hören; der Arzt übernimmt diese Rolle dieses wirksamen Anderen; er bedient sich des Einflusses, den ein Mensch auf den anderen ausübt [...]; der Arzt bedient sich bei seinem Erziehungswerk irgend einer Komponente der Liebe.« (Freud 1916, 365f, Hervorhebung im Original) 2 »Ohne solche Übertragung [...] würde er [der Patient] den Arzt und dessen Argumente nicht einmal zu Gehör kommen lassen. [...] Argumente ohne solche Stütze [...] gelten bei den meisten Menschen niemals im Leben etwas. Der Mensch ist also im Allgemeinen auch von der intellektuellen Seite her nur insoweit zugänglich, als er der libidinösen Objektbesetzung fähig ist.« (Freud 1916/1917, 463)
Nur wenn »irgend eine Komponente der Liebe«, eine »libidinöse Objektbesetzung« im Spiel ist, wirken »Argumente«, nur so wird der Arzt zum »wirksamen Anderen«, wird das, was er dem Patienten mitteilt, von diesem akzeptiert – aber nicht deswegen, weil er ihn durch kluges Argumentieren überzeugt hat. Dies ist eine Aussage, die der aufgeklärte Mensch sehr ungern hört – insbesondere dann, wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass Freud diese Abhängigkeit unseres Urteils vom Anderen nicht auf das Verhältnis von Arzt und Patienten beschränkt. Damit diese Wirkung möglich ist, muss das Subjekt vor aller Argumentation dem »wirksamen Anderen« einen bedenkenlosen Kredit einräumen, nämlich den, dass er über das von ihm erwartete Wissen verfüge. Er besetzt
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Hervorhebung im Original.
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das ihm fehlende Objekt, das er im Anderen vermutet. Der dabei auftretende Affekt ist Verliebtheit. »Im Grunde liebten wir sie sehr« Freud begrenzt das Konzept der Übertragung nicht auf die psychoanalytische Kur. Übertragung tritt überall dort auf, wo dem Anderen ein Wissen oder Können unterstellt wird, das dem Subjekt wichtig ist – zum Beispiel in der Politik, in Sekten, in religiösen Gemeinschaften, in der ärztlichen Praxis und überall dort, wo gelehrt wird, also auch in Universität und Schule. Ein kleiner Text Freuds illustriert diese These: Von seiner alten Schule, dem Leopoldstädter Kommunalreal- und Obergymnasium, aufgefordert, einen Beitrag zu einer Festschrift zum 50jährigen Bestehen dieser Anstalt zu verfassen, schrieb er den Aufsatz Zur Psychologie des Gymnasiasten (1914). Darin untersucht er das Verhältnis der Schüler zu ihren Lehrern: »Wir bewarben uns um sie oder wandten uns von ihnen ab, imaginierten bei ihnen Sympathien oder Antipathien, die wahrscheinlich nicht bestanden, studierten ihre Charaktere und bildeten oder verbildeten an ihnen unsere eigenen. Sie riefen unsere stärksten Auflehnungen hervor und zwangen uns zur vollständigen Unterwerfung; wir spähten nach ihren kleinen Schwächen und waren stolz auf ihre großen Vorzüge, ihr Wissen und ihre Gerechtigkeit. Im Grunde liebten wir sie sehr, [...] ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies bemerkt haben. [...] Wir waren von vornherein gleich geneigt zur Liebe wie zum Hass, zur Kritik wie zur Verehrung gegen sie. [...] Diese Männer, die nicht einmal selbst Väter waren, wurden uns zum Vaterersatz. Darum kamen sie uns, auch wenn sie noch sehr jung waren, so gereift, so unerreichbar erwachsen vor. Wir übertrugen auf sie den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater unserer Kindheitsjahre und dann begannen wir, sie zu behandeln wie unsere Väter zu Hause. Wir brachten ihnen die Ambivalenz [d.h. Liebe und Hass] entgegen.« (Ebd., 205f)
Auch in der Schule steht Übertragung demnach im Zusammenhang mit einem unterstellten Wissen des »wirksamen Anderen«: »Erwartungen von dem allwissenden Vater« werden auf den Lehrer übertragen. Uns mögen die Formulierungen Freuds hinsichtlich eines allwissenden Vaters zeitgebunden–patriarchalisch erscheinen. Sehen wir von dieser Personifizierung ab, gilt gleichwohl: Das Kleinkind ist Erfahrungen ausgesetzt, die wirken,
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ohne dass sie von ihm sprachlich gefasst wurden, und die deshalb im Nachhinein nur umkreist, nie ganz getroffen werden können. Dieses Verfehlen macht uns zu Wunschwesen. Der Wunsch richtet sich zunächst an die Eltern. Sie sollen Garanten dafür sein, dass die undurchschaubare und zersplitterte Welt des eigenen Körpers und der Dinge um uns herum zu benennen und zu erklären, in Zusammenhang und Form zu bringen sind. In der Rede der Eltern wird ein Mea res agitur erwartet, als das, was ihm, dem werdenden Subjekt (noch) fehlt – und wonach es hungert. 3 Nicht nur Liebe ist der begleitende Affekt. Verzweiflung, Hass und Aggressivität überfluten das Kind, wenn es Wissen erlangen will und dabei seine hilflose Abhängigkeit von dem Anderen und die Unzureichenheit der Sprache erfährt. Zur Struktur des Subjektes wird fortan gehören, dass es von der Erfahrung der letztlichen Unzureichenheit des Sprechens und der Unausdrückbarkeit des ersehnten Wissens geprägt ist. Ihm bleiben die Erfahrung einer Leerstelle und das vergebliche Begehren, sie zu füllen. Diese fundamentale Abhängigkeit des Infans von seinen Eltern, das noch zur Sprache kommt, lebt in Übertragungssituationen, von Affekten begleitet, wieder auf. Nun hatte Freud mit Breuer bereits vor seiner Entdeckung der Übertragung erkannt, dass das erwartete Wissen nicht beim Analytiker bereitliegt, sondern bereits in der Rede des Patienten enthalten ist. Ist eine Psychoanalyse in Gang gekommen, verschiebt sich damit der »Ort« des erwarteten Wissens. Beim Analytiker bleibt als notwendige Unterstellung, er könne die entscheidenden Signifikanten wahrnehmen, sie hervorheben und für Konstruktionen verwenden, die er auch aus seiner Erfahrung speist. Deshalb spricht der Analysant und der Analytiker hört zu. Unterschiede Aus dem bisher Gesagten darf keine Gleichsetzung von Unterricht und Psychoanalyse abgeleitet werden. Zwar arbeiten Lehrer und Psychoanalytiker unter den Bedingungen der Übertragung, aber Handhabung und Ausrichtung ihrer Arbeit sind grundverschieden. Der Analytiker schweigt in der Kur; er ist, von seltenen Interventionen abgesehen, nur Hörender. Es gibt kein Wechselgespräch mit der Absicht einer »Klärung«. Anders der Lehrer:
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Dies ist eine Quelle der alten Gleichsetzung von Wissen und Nahrung, wie z.B. im Begriff der alma mater, »nährende Mutter«.
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Seine Aufgabe ist es, Wissen vorzutragen, es zu erklären, die Beiträge der Schüler zu klären und sie so anzuleiten, dass sie Einsichten artikulieren. Wo der Analytiker schweigt und in »gleichschwebender Aufmerksamkeit« wartet, muss der Lehrer fordern und drängen oder ein Wechselgespräch fördern, in dem der Schüler seine Einfälle vorbringt. Wo der Analysant frei assoziieren soll, muss der Schüler kohärent formulieren; das in der Analyse unerwünschte schnelle »Begreifen«, ein frühes, rationalisierendes Schließen der Einfallskette angesichts einer einleuchtenden Lösung, ist hier erwünscht. Gleichwohl kann der Unterricht vom Phänomen der Übertragung und ihrer Produktivität profitieren. Wenn im Schüler die Erwartung entstanden ist, es gebe durch den Lehrer oder mit seiner Hilfe etwas zu wissen, führt dies in der Übertragung dazu, dass er »an seinen Lippen hängt« oder selbst um die Artikulation eigener Einsichten ringt. Insofern dieses Ringen, dieses Schließenwollen, von den Mechanismen des Psychischen gespeist wird, unterliegt es auch dessen Mechanismen (Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit) und tritt oft als überraschende Einsicht, weder deduktiv noch induktiv erschlossen oder vermittelt, »plötzlich« zu Tage. Das dann in Rede und Wechselrede gewonnene Wissen ist eine momentane Verknüpfung, ein plötzliches Zusammenschießen in einer Situation, für die Friedrich Copei (1960) den Begriff »fruchtbarer Moment« geprägt hat. Seine Bedeutung erhält dieses plötzlich zu Tage getretene »neue« Wissen dadurch, dass es vorläufiger Platzhalter eines fehlenden, ersehnten Wissens ist. Da dieses nie zu haben ist, wird ein solcher Diskurs nie enden und immer wieder neu einsetzen müssen. Voraussetzung dafür ist, dass der Lehrer erkennen lässt, dass das Lehrbuchwissen, das er präsentieren muss, kein letztes Wort ist, sondern überschritten werden kann und dass er an dieser Grenze weiterdenkt. Er zeigt damit sein eigenes Nichtwissen, sein Wissen um die Unabgeschlossenheit des Symbolischen. Aufscheinen kann dieses Nichtwissens in der ansteckenden Begeisterung eines Lehrers für sein Fach, in der nicht ermattenden Fähigkeit zum Staunen und zum Suchen neuer Antworten. Dann kann der Schüler etwas von ihm zu erwarten hoffen, das über das definierte Wissen und über die Welt der eindeutigen Informationen hinausgeht. Dies ist auch dann wirksam, wenn der Lehrer einen Stoff zu vermitteln hat, der wenig Freiraum für Einfälle und Spekulationen lässt und bei dem es immer nur »falsche« oder »richtige« Lösungen gibt. Auch hier kann der Lehrer zum
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Übertragungsobjekt werden, wenn die Schüler bei ihm erfahren, dass er selbst, jenseits dieses durchdefinierten Stoffes, noch von weiter gehenden Fragen seiner Wissenschaft affiziert ist. Ist dem Lehrer der Schulstoff nur wichtig unter dem Gesichtspunkt einer fachgerechten Portionierbarkeit (aber nicht als Thema seines eigenen Wissensbegehrens), wird dem Schüler das, was er hört, nicht wichtig; es verspricht ihm nichts und er verspricht sich nichts davon. »Wir studierten ihre Charaktere und bildeten […] an ihnen unsere eigenen« Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen und vermuten, dass dies ein Ort der Bildung des Subjektes ist. Übertragung ist kein Akzidens, keine Komplikation, die zu einem simplen, technisch aufzufassenden Lehrverhältnis hinzutritt, es verwirrt oder befruchtet. Sie ist die entscheidende Gegebenheit der schulischen Arbeit, die Voraussetzung ihrer Wirkung, in ihr vollzieht sich die Bildung des Subjekts. Aus der Psychoanalyse wissen wir, dass Deutungen ein Subjekt verändern können. 4 Ich nehme an, dass dies nicht nur unter den besonderen Bedingungen der psychoanalytischen Kur, sondern in jeder Übertragungssituation der Fall sein kann. Etwas in der Rede des Lehrers greift in das Korpus der Signifikanten des Schülers ein und beeinflusst es durch eine neue Ausrichtung. Dadurch kann sich die Position des Individuums in Bezug auf die Teilnahme und Teilhabe an einem symbolischen und imaginären Universum verändern; die aufgetauchte Einsicht kann es neu ausrichten, sein Interesse für neue Zusammenhänge wecken, kann es aus Dogmen befreien. Wir sind hier dem Bildungsbegriff Humboldts sehr nahe. Für ihn wirkt die Begegnung mit dem Wissen auf die Person zurück und hat Teil an ihrer Entwicklung.
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»Dans son essence, le transfert [...] c’est tout simplement l’acte de la parole. Chaque fois qu’un homme parle à un autre d’une façon authentique et pleine [...] il se passe quelque chose qui change la nature des deux êtres en présence.« (Lacan 1975, 127)
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»Wir waren von vornherein gleich geneigt zur Liebe wie zum Hass« Dieser Vorgang setzt Affekte frei. Die in Freuds Aufsatz Zur Psychologie des Gymnasiasten dargestellte Ambivalenz der Schüler im Verhältnis zu ihren Lehrern ist auch heute mit den Händen zugreifen. Jeder wird für die ersten Schuljahre bestätigen, dass Kinder ihre Lehrer »lieben«. Mit zunehmendem Alter der Schuljugend, in dem Maße auch, wie sich die Zahl der Lehrer vermehrt, denen der einzelne Schüler begegnet, werden solche Äußerungen seltener, sie bleiben aber nicht aus – konventionell als schwärmende Bewunderung dieses oder jenes Lehrers, um dessentwillen man ein Fach »liebt«, es später vielleicht studiert. Affekte wie Abneigung, Hass, Aggressivität sind genauso vertreten. In dem Maße, wie diese Affekte unbegriffen wirksam sind und nicht als zwingend notwendiger Teil des Bildungsgeschehens verstanden werden, können sie nicht im Unterricht, in Gesprächen oder in Ritualen »gebunden« werden und vagieren zum Beispiel als diffuse Aggressivität. Gegenübertragung Nun beobachten wir Liebe und Aggression nicht nur auf Seiten der Schüler, sondern auch bei den Lehrern. Denn auch sie »übertragen« – auf ihre Schüler. Eine Art Verliebtheit treibt die Pädagogen an. Gilt es doch, das entwickeln zu helfen, was »in« den Schülern als zu entfaltendes Potenzial ruht; sie sollen unter der Hand des Lehrers ein Ideal erreichen, das er in ihnen sieht und realisieren helfen will – auch dies eine Unterstellung, auch dies eine notwendige Täuschung. Dieses Liebes-Verhältnis von Lehrern zu ihren Schülern ist als »pädagogischer Eros« gesellschaftlich akzeptiert – auch wenn dieser Ausdruck nur noch selten zu hören ist. Es gibt dabei durchaus auch den Aspekt eines den Schülern unterstellten Wissens (vgl Platon 1982, 39-44; interpretiert in Lühmann 2006, 105), an dem der Lehrer teilhaben will. Hier hat der Lehrer eine andere Rolle im Spiel der Übertragung. Er ist nicht der Wissensgarant, nicht der Meister, der vorgibt, über ein sicheres Wissen zu verfügen, das er austeilen will. Vielmehr: der Lehrer lässt zu und setzt ins Werk, dass er selbst jemand ist, der Wissen sucht und hofft, dass es bei den Schülern, von ihnen vielleicht artikuliert, im gemeinsam geteilten Diskurs aufscheint. Dies sind Stunden,
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von denen er sagen wird, er habe mit oder sogar von seinen Schülern gelernt. Grenzen Dies also können die produktiven Wirkungen der Übertragung sein: Interesse, Bildung des Subjektes, Wissensproduktion, fruchtbare Momente im Sinne Copeis. Wenn dies so ist, muss der Lehrer sie ansteuern und nutzen. Viele tun dies instinktiv, indem sie um die Liebe der Schüler werben, sich als »Meister« in Szene setzen oder einen Diskurs führen, in dem das aufkommende Wissen der Schüler nicht als »falsch« oder »richtig« abgestempelt, sondern geachtet wird. Wenn wir von solcher Fruchtbarkeit der Übertragung und von ihrer bildenden Wirkung sprechen, muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass sie zwar willkommene Begleiterscheinung des Unterrichtes ist, dass sie aber kein Dauerzustand sein darf und immer wieder aufgehoben werden muss. Geschieht dies nicht, friert sie gleichsam ein und man sitzt dem Irrtum auf, das Wissen sei in der bestehenden Konstellation, sei bei einem »Meister« zu erhalten – Quelle allen Dogmatismus, Verharren in einer imaginären Welt, in der alles geklärt oder erklärbar zu sein scheint. Es ist Aufgabe der Schule, die Eltern-Kind-Übertragung durch schulische Übertragungen abzulösen. Und desgleichen müssen die in der Schule wirkenden Lehrer-Schüler-Übertragungen aufgelöst werden. Der Lehrer muss den Schüler fortschicken, dorthin, wo es andere Orte, Personen, Quellen für sein Wissenwollen gibt. Diese Aufhebung von Übertragunskonstellationen ist eine elementare Erfahrung, die junge Menschen machen müssen, damit sie jede neue Übertragung, die entstehen wird, unter dem Gesichtspunkt ihrer Auflösbarkeit und nicht als fatales Lebenslänglich erfahren. Die große Versuchung jeder Übertragung ist es, dass der Lehrer sie persönlich nimmt und dass er sie genießt – sei es, dass er sich für einen Meister hält, dem die Schüler zu Füßen liegen, sei es, dass er ihnen liebend mehr zumutet, als sie einlösen können und dürfen. Aber er wird für seine Leistung bezahlt und nicht dafür, dass er genießt: Auch in der Sublimation ist er weder Erastes noch Eromenos seiner Schüler. Auch hier gilt das Inzestverbot.
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Deshalb ist es das Ethos des Lehrers, die Übertragung zu nutzen, sie in der Schwebe zu halten und dann aufzulösen – das heißt: letztlich die angebotene Meisterrolle abzulehnen und sich ihr zu entziehen. Die Institution Schule ist auch aus diesem Grunde entstanden und notwendig: damit es keine »wilde« Übertragung gibt, keine Gurus und keine klebende Verliebtheit. Die Institution gibt der Übertragung einen Rahmen, hebt ihre Privatheit auf, begrenzt sie von vornherein. Dadurch, dass der Lehrer qua Amt und nicht aus persönlicher individueller Zuneigung handelt, wird die Übertragungsliebe vor einen anderen Horizont gestellt. Benotung, tagtägliche organisatorische Strukturierungen bis hin zur Skandierung im 45-MinutenTakt, aber auch die Organisation im Klassenverband, schließlich die großen Prüfungen wie zum Beispiel das Abitur – all das entprivatisiert. Der Lehrer ist damit in einer Doppelrolle, die eine Unmöglichkeit seines Berufes ausmacht: Er ist in Übertragungsverhältnisse involviert, die er provoziert und ermöglicht hat und eine Zeit lang nähren muss, und ist zugleich der Dritte, der als Sachverwalter und Repräsentant der Institution die Übertragung begrenzen und aufheben muss. Die Schüler tun dies irgendwann ohnehin; früher in den oft verletzenden Abiturzeitungen, jetzt häufiger mit den zum Ritual gewordenen Abiturstreichen; altbewährte Möglichkeiten, mit den Lehrern abzurechnen und die Übertragung loszuwerden. Professionalität Zur neuen Schule gehört auch die Forderung, dass die Lehrer endlich »professionell« werden müssten – als hätten sie einige tausend Jahre nur dilettiert. Professionalität wird hier als Tauglichkeit verstanden, in der zweckrationalen Struktur zielführend zu handeln. Zu diesem Zweck werden neue Methoden entwickelt, alte wiederbelebt und in den Lehrerseminaren gelehrt. Aber: Eine Ausbildung, die unsere jungen Lehrerinnen und Lehrer in der Illusion der zielgerichteten Manipulierbarkeit des Lehrens wiegt, vermittelt ihnen eine falsche »Professionalität«, treibt sie in Situationen, in denen sie ein Misslingen der Stunden, Langeweile, Störungen oder Aggressivität nur als Folge eigener technischer Fehler oder als Fehlverhalten ihrer Schüler auffassen können. Das mindeste, was in den pädagogischen Seminaren gelehrt werden sollte, ist ein Wissen um ungewollte »Nebenwirkungen in der Erziehung« (Spranger 1962). Das Wissen, dass der Lehrer in ein
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Netz von Übertragung und Gegenübertragung verwoben ist, ermöglicht ihnen, besser zu verstehen, was in ihren Stunden geschieht, und gibt ihnen die Chance, sich zu den Effekten der Übertragung zu verhalten, deren unbegriffenes Wirken einen großen Anteil am frühen Burn out hat.
L ITERATUR Copei, F. (1960): Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. Phil. Diss.: Leipzig 1924. Heidelberg. Freud, S. (1914): Zur Psychologie des Gymnasiasten. In: Ders.: GW X, 203-210. Freud, S. (1916): Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. In: Ders.: GW X, 363-392. Freud, S. (1916/1917): Die Übertragung. In: ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XI. Greenson, R.R. (1973): Technik und Praxis der Psychoanalyse. Stuttgart. Lacan, J. (1975): Les écrits techniques de Freud. (Le séminaire 1). Paris. Lühmann, H. (2006): Schule der Übertragung. In: Pazzini, K.-J./Gottlob, S. (Hg.): Einführungen in die Psychoanalyse II. Setting, Traumdeutung, Sublimierung, Angst, Lehren, Norm, Wirksamkeit. Bielefeld, 97-118. Platon (1982): Menon. hg. von K. Reich. Hamburg, 39-49. Spranger, E. (1962): Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung. Heidelberg.
Die Bedeutung der Arbeit an der Übertragung in der Lehrerbildung Psychoanalytisches in der Lehrerbildung J EAN -M ARIE W EBER Die Frage nach der Neugestaltung der Lehrerbildung ist während der letzten Jahre zum pädagogischen Dauerbrenner geworden. Von der Hirnforschung über sozialpsychologische und soziologische Ansätze bis zur sozialkognitiven Lern- und Lehrforschung entwickelten sich immer neue Aspekte welche für zukünftige Lehrer von Bedeutung sein können. Dabei stellt sich natürlich auch die Frage, welchen Nutzen die wissenschaftlichen Konzepte überhaupt für die Praxis haben können. In diesem Kontext möchte ich ansatzweise der Frage nachgehen, inwiefern psychoanalytische Konzepte in der Lehrerbildung von Bedeutung sein können. Auf die Frage, was Lehrer als Wissen zur Ausübung ihres Berufes brauchen, könnte man die Antwort zusammenfassen unter den Stichworten dialogieren, demonstrieren und taktieren. Marilia Amorim (2008) spricht in dieser Beziehung vom mythischen oder narrativen Wissen, dem LogosWissen oder dem demonstrativen Wissen und dem technischen Wissen. Spricht man vom demonstrativen Wissen, dann denkt man vor allem an die Fachdisziplin als Art und Weise an die Welt heranzugehen, Realitäten und Wissen zu konstruieren, zu argumentieren und die Schüler ebenfalls zu befähigen, das Wissen für sich zu (re)konstruieren. Das technische Wissen umfasst die Strategien und Taktiken (Michel de Certeau) um den schulischen Alltag in einer Klasse zu gestalten, Lernsituationen zu organisieren und Schüler zu motivieren damit Wissen vermittelt und konstruiert werden kann. Bei dem mythischen und narrativen Wissen geht es darum, im Dialog dem Anderen als Du, als Subjekt zu begegnen. Dadurch entsteht soziale
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Beziehung, Kollektivität, Klassenklima, Gruppendynamik und letztlich Sinn für den Einzelnen. Diese drei Arten von Wissen hängen zusammen, artikulieren sich verschiedenartig und beschränken sich dementsprechend auch je nach Subjekt, Kontext und Zeitalter. Im Kontext von Lehrerbildung scheint es, vielen Autoren zufolge, zunächst und prioritär um technisches Wissen zu gehen, d.h. um Kompetenzen, Strategien und Taktiken (Michel de Certeau), vor allem auch bezüglich einer »guten« und transparenten Kommunikation und einer optimalen Motivierung im Klassenraum. Gegen diese Position kämpfen natürlich die Fachdisziplinen vielfach an, um die Bedeutung des demonstrativen Wissens zu erhalten. Der Vorrang des Technischen, also der Metis, zeigt sich auch daran, dass generell Bildung heute eher eine Prozedur ist, sich eigenständig und vertiefend mit Wissen, mit diskursiven Praktiken, aber auch mit einer Reflexion über den Mangel zu beschäftigen, aber nicht mehr eine Ansammlung kultureller Güter, die Persönlichkeit im Sinne einer bestimmten Vernunft oder Tugend, vor allem nicht in ausgewiesener Sittlichkeit für alle umfassend formen kann (vgl. Reich 2006, 97). Der Bildungsbegriff hat eine reflexive Form bekommen. Wie Ernst von Glaserfeld anmerkt, besteht die eigentliche Autorität des Lehrers nicht darin, dass er aufgrund eines Kanons von Wissenswertem viel Wissen gespeichert hat und viele Antworten geben kann, sondern bessere Methoden hat, um Probleme anzugehen, Wissen zu konstruieren und die Qualität von Wissen bemessen kann (vgl. Herzog 2006, 559). Ein solcher Bildungsbegriff bedingt eine bestimmte Form von Lehrerbildung. Praktische und theoretische Ausbildung müssen so geplant werden, dass ihre Artikulation in Form einer Wechselwirkung geschehen kann. Reflexivität als Habitus (vgl. Perrenoud 2001, 76) wird zum zentralen Moment. Es geht darum, die eigene Praxis aber auch die inhaltlichen, methodischen und curricularen Vorgaben reflektieren zu können. Mit dieser Hervorhebung des Methodischen, der Strategien und Techniken besteht allerdings die Gefahr, dass der generationelle Bezug minimiert wird, womit teils auch das narrative Wissen hintenangestellt wird. Gerade der asymmetrische Bezug zwischen den Generationen scheint aber wichtig, damit sowohl der Lehrer Verantwortung übernimmt als auch der Educand Verantwortung übernehmen kann. Die Diagnose des Autoritäts-
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verlustes durch Ablehnung der Verantwortung drückte Hannah Arendt hervorragend aus in ihrem1958 in Bremen gehaltenen Vortrag über Die Krise der Erziehung: »Die Autorität ist von den Erwachsenen abgeschafft worden, und dies kann nur eines besagen, nämlich daß die Erwachsenen sich weigern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hereingeboren haben.« (1994, 271) Die Gründe hierfür sieht Arendt darin, dass »moderne Menschen ihre Unzufriedenheit mit der Welt, ihr Unbehagen in dem Bestehenden gar nicht kundgeben [konnten,] als durch die Weigerung, ihren Kindern gegenüber die Verantwortung für all das zu übernehmen. Es ist, als ob sie ihnen täglich sagten: in dieser Welt sind auch wir nicht sehr verläßlich zu Hause, und wie man sich in ihr bewegen soll, was man dazu wissen und können muss, ist auch uns nicht bekannt. Ihr müßt sehen, wie ihr durchkommt; uns jedenfalls sollt ihr nicht zur Verantwortung ziehen können. Wir waschen unsere Hände in Unschuld.« (Ebd., 272)
Aufgrund ihrer Analysen kommt Hannah Arendt zu dem Schluss: »In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne die Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chance, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgabe der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten« (ebd., 276).
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Aufgrund der von Hannah Arendt, aber auch von Psychoanalytikern wie Jacques Lacan, Pierre Legendre, oder Jean-Pierre Lebrun und Charles Melman erstellten Diagnose zu den Wandlungs- und Auflösungsprozessen der sozialen und generationellen Bezüge, scheint mir der Platz und die Funktion des Mentors oder Tutors von immer größerer Bedeutung zu sein. Das Tutorat gilt als Scharnierstelle zwischen Theorie und Praxis wie auch
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zwischen den Generationen. Der Tutor soll natürlich die Entwicklung professioneller Gesten und deren Reflexion durch den Referendaren unterstützen, aber eben auch den generationellen und institutionellen Bezug fördern. Denn, wie Hannah Arendt zeigt, besteht die Qualifikation des Lehrers darin, »daß er die Welt kennt und über sie belehren kann, aber seine Autorität beruht darauf, daß er für diese Welt die Verantwortung übernimmt. Gegenüber dem Kinde nimmt er es gleichsam auf sich, die Erwachsenen zu repräsentieren, die ihm sagen und im Einzelnen zeigen: Dies ist unsere Welt.« (Arendt 1994, 270)
Diesen Platz als Lehrer zu besetzen und auf diese Art zu begleiten, stellt aber ein schwieriges konfliktreiches Unterfangen dar. Letztlich geht es ja auch um die Weitergabe, die Transmission des Lehrerberufes. Die Weitergabe des Berufes beschränkt sich nicht auf Wissensvermittlung, sie hat auch mit etwas zu tun, was nicht direkt erlernbar ist. Es geht dabei einerseits um den teils unbewussten libidinösen Bezug zum Beruf (vgl. Freud 1999, 438), in unserem Falle also um das Begehren des Referendaren und des Tutors. Dies erfordert und ermöglicht aber auch, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft »libidinös und aneinander« gebunden werden: Es entwickeln sich Identifizierungen und Übertragungsbeziehungen (Freud 1999, 467). Von hieraus ist absehbar, welche starken Herausforderungen und Gefahren die Begleitung eines Referendaren für einen Tutor darstellt. Bevor die weiteren Voraussetzungen zur Weitergabe des Berufes entwickelt werden, sollen im Folgenden zunächst die Schwierigkeiten aufgezeigt werden.
II. P ROBLEMATIK
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T UTORATS
Tutoren empfinden die Situation des Begleitens der Referendare zunächst einmal als Spiegelsituation. Sie umschreiben ihre Funktion metaphorisch als die eines Spiegels. Andererseits empfinden sie auch den Referendaren als Spiegel für ihre eigene Praxis als Lehrer. Eine solche Situation kann allerdings leicht in eine imaginäre Sackgasse führen, wenn beide als Akteure in einer narzisstischen Dualitäts-Beziehung funktionieren.
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In unseren Untersuchungen zum Tutorat (Weber 2007) konnten wir etliche Symptome und Dysfunktionen aufgrund der gegenseitigen imaginären Identifizierungen feststellen: •
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Der Kontext des Tutorats, wie der jeder Ausbildung, beinhaltet immer das Risiko, von Allmachtsgefühlen begleitet zu werden. Das Phantasma des Pygmalion, Gleiches zu produzieren und sich in dasselbe zu verlieben, findet sich immer wieder. In der komplizierten und konfliktreichen Situation des Referendariats wird oft die Liebe, die Seduktion als Motor gebraucht. Narzisstische Komponenten können dabei einen übermäßigen Wunsch nach Anerkennung und nach Einheit bei beiden Akteuren hervorbringen. Somit sollen unter anderem auch Aggressivitätsgefühle abgewehrt werden. Alienation und Konfusion sind allerdings die möglichen Konsequenzen einer vorwiegend imaginär und narzisstisch geprägten Beziehung. Aber eben auch Angst kann sich in der imaginären Dualitäts-Beziehung entwickeln, wenn zum Beispiel Referendare Kritik an dem Spiegel des Tutors formulieren oder nicht so reagieren, wie es erwünscht ist. Die eigene Suche des Tutors nach Anerkennung läuft dann Gefahr, zur Enttäuschung zu führen. Nach dem Motto »Entweder Ich oder Du« entwickeln sich Eifersucht sowie andere Formen von Aggressivität als Reaktion. Die Verkennung des Mangels führt zu Frustrationen und Selbstbeschuldigungen, aggressivem Verhalten und narzisstischen Befürchtungen um ihre professionelle sowie individuelle Identität.
Insgesamt kann man sagen, dass die narzisstische Selbstliebe, die Seduktion und das narzisstische Sich-Vergleichen zu Fusion und Konfusion führt. Ausbildung ist so nicht boykottiert. Sie bleibt in der Imitation stecken. Evaluation wird nicht mehr als symbolischer Akt möglich sein. Auch Weitergabe des Berufes wird so schwierig. Letztendlich findet man sich in einem Übertragungsverhältnis vor, das bearbeitet werden muss.
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III. D IE B EDEUTUNG DER A RBEIT AN DER Ü BERTRAGUNG Was geschieht eigentlich bei all dem unter dem Blickwinkel der Übertragung? Der Mechanismus der Übertragung setzt dort ein, wo das unbewusste Wissen, dem etwas fehlt – nämlich das Wissen um die Ursache seines Begehrens – unbewusst versucht, sich diesem Mangel – der Wahrheit – zu nähern, um zu genießen. Diese Spannung stellt den eigentlichen Motor eines jeden bewussten Lernens und Lehrens dar. In der Übertragung wird einem anderen das mangelnde Wissen unterstellt, das ein Mehr an Genießen ermöglichen soll. Die imaginäre Ebene der Übertragung Zunächst zeigt sich sowohl beim Referendaren als auch beim Tutor der Anspruch nach Unterstützung, ein Diplom zu bekommen, nach praktischen Tipps und nach Anerkennung, letztlich auch bezüglich seiner Berufswahl. Auch das Handeln des Tutors kann stark von dieser Suche nach Anerkennung geprägt sein. Bleibt es allerdings nur bei dieser imaginären Dualität, dann kommt es, wie wir gesehen haben, zur Fusion und Konfusion. Beide gelten als typische Resistenzen innerhalb einer psychoanalytischen Kur, aber auch innerhalb eines Lern- und Bildungsprozesses. Der Motor des Begehrens kann zwar so angetrieben werden. Auch Wissen aufgrund von Imitation kann sich entwickeln. Aber auch Hass und Aggressivität können die Folge solcher dualen Situationen sein. Die symbolische Ebene der Übertragung Aufgrund unseres unbewussten Wissens, welches sich durch die Verdrängung entwickelt, suchen wir nach dem Anderen in uns, nach demjenigen, der unser Begehren antreibt. Dieses Begehren wird umso mehr angetrieben, je mehr der Tutor dem Referendaren auch in seiner symbolischen Funktion begegnet und ihn an die Stelle des Subjektes setzt; an die Stelle dessen, der im eigenen Namen sprechen und auch seinen Weg in den Beruf selbst suchen darf. Um diese Funktion wahrzunehmen, muss ebenfalls der Tutor sich seiner symbolischen Funktion bewusst werden und von seiner Nennung an von dem Platz des Subjektes her sprechen, so wie auch von seinem
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Ich-Ideal und nicht lediglich aus dem Ideal-Ich. Die Ausbildung als institutionelles Element hilft ihm diese Position einzunehmen. In diesem Fall, wo der Referendar an die Stelle des Subjektes durch seinen Tutor genannt wird, verändert sich auch der Lernprozess. Er bewegt sich damit von der imaginären Imitation zur symbolischen Identifikation. Neue Signifikanten kommen ins Spiel, welche eine gewisse Transformation, das heißt Bildung herbeiführen. Wie im universitären Diskurs ist der Referendar als »Produkt« symbolischer Identifikationen nie assimilierbar. Er bleibt also Subjekt. Die reale Ebene der Übertragung Der Tutor respektive der Mentor und der Referendar erleben sich immer auch in Bezug zum Realen, das heißt, zu dem symbolisch nicht Fassbaren. Es kommt zum Beispiel zu symptomatischen Wiederholungen, welche einen Tutor oder einen Pädagogen insgesamt fast zum Verzweifeln bringen oder es kommt zu kritischen Ereignissen in der Klasse, die nicht zu verstehen sind, zu Momenten, welche Angst einflössen, da man zu nahe am Objekt ist. Da das Begehren des Menschen das Begehren des anderen darstellt, werden Objekte des Genießens, eigentlich Dinge der Unmöglichkeit, »Objekte a«, in den Mentor gelegt. Das von Lacan so genannte »Objekt a« stellt das »Band Nabelschnur« zum anderen dar. Es geht dabei aufgrund unserer Triebbestimmtheit letztlich um das Begehren des Phallus. Dies erklärt auch die verschiedenen, äußerst heftigen Affekte, welche innerhalb der Übertragung auch im pädagogischen Kontext vorkommen können. So zum Beispiel, wenn ein Referendar sich konsequent taub gegenüber seinem Tutor stellt, oder wenn ein männlicher Referendar einer Tutorin sagt, nichts von ihr als Frau annehmen zu wollen, da sie ja sowieso eine Null sei. Man kann diese Übertragung zwar nicht innerhalb eines Tutorats analysieren. Aber auch ohne den Weg des Analysierens zu gehen, darf der Referendar vom Tutor erwarten, dass er um die Zusammenhänge, in denen diese starken Affekte auftreten können, weiß und damit in der Realität umgehen kann. Da das Reale letztlich hermeneutischen Prozessen resistiert, ist es wesentliche Funktion des Tutors, den Referendaren begleitend zu einem gewissen Nicht-Wissen als Antrieb für das Begehren, zu einer Haltung der »docta ignorantia« zu verhelfen wie auch Prozesse der Sublimierung zu un-
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terstützen. Nur so können neue Signifikanten diesen tragen und ihm Energie vermitteln.
IV. V ORBEREITUNG
AUF EINEN UNMÖGLICHEN
B ERUF
Im Bildungsprozess und konkret in der Begegnung mit dem Tutor geht es eigentlich um eine Umwandlung, mit Platon und Heidegger gesprochen, um eine périagogè, eine Umwendung des Menschen, eine Art Subversion des Subjektes (vgl. Heidegger 1967, 19). Von daher ist es die Aufgabe des Tutors, den Referendaren im Prozess der Umwendungen und den Weg des Studenten zum »Ausnahme-Platz« (Marchal 2008) des Lehrers zu unterstützen, welcher dem Mangel, dem Gesetz des Sprechens und dem Verbot des absoluten Genießens einen Stellenwert im pädagogischen Kontext gibt. Somit begleitet der Tutor den Referendaren zu dem, was Freud (2005) die »unmöglichen Berufe« nennt. Letzen Endes geschieht Weitergabe, wenn der Referendar auf die eigene Art und Weise die drei Arten von Wissen wie bei einem boromäischen Knoten singulär immer neu verbinden kann und sich dabei vom Wissen, der Kultur und der Institution als Dritten her versteht. Dies geschieht, wenn der Tutor auch fähig ist, sich vom »Namen-desVaters« leiten zu lassen, den asymmetrischen Platz der Ausnahme zu übernehmen und den Referendaren von daher an die Stelle des Subjektes seiner eigenen Bildung nennt. Für beide gilt, dass sie verdrängen können, sich unter das dreifache Wissen (S 2) zu stellen vermögen sowie schwierige Situationen im Bereich der Bildung zu durchlöchern und über die Determiniertheiten hinaus einen Akt zu wagen, um so mit neuen Signifikanten an kritische Situationen herangehen zu können und neue Perspektiven zu eröffnen. Die Arbeit an diesen verschiedenen Übertragungen gelingt dem Tutor nur durch eine eigene Kur oder Supervision. Ein Institut für Lehrerbildung muss deshalb Orte und Zeiten der Mediation anbieten, welche sowohl dem Tutor wie dem Referendaren die Möglichkeit bieten, aus der Dualität auszusteigen, das heißt: zu Triangulieren. In unserer postmodernen, vom »kapitalistischen Diskurs« (Lacan) geprägten Gesellschaft kann es allerdings sein, dass sich die Übertragung als »Liebe« zum Tutor nicht entwickelt, was sicherlich nicht ohne Konsequenzen für den Bildungsprozess ist.
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V. S CHLUSSFOLGERUNG Die Psychoanalyse bearbeitet die Frage der Wahrheit, d.h. die Frage nach dem Begehren unter der Voraussetzung des Realen, als dem, was nicht durch die Sprache vorstellbar ist. In einem ersten Moment arbeitet sie eher de-konstruktiv und hat nicht zum Ziel, imaginäre und symbolische Konstruktionsprozesse in der Realität zu unterstützen. Der Psychoanalytiker kann aber aufgrund der eigenen Erfahrungen in der Kur und in der Begleitung von Referendaren Aussagen machen, welche für die Erziehungswissenschaften von Bedeutung sind. Er kann helfen, die unbewussten und libidinösen Bezüge zum Lehrerberuf zu bearbeiten. Er kann dem Pädagogen helfen, die Übertragung, wenn nicht zu analysieren, so doch zu bearbeiten.
L ITERATUR Aichhorn, A. (1977): Verwahrloste Jugend. Die Psychanalyse in der Fürsorgeerziehung. Wien/Bern/Stuttgart. Braun, C. (2008): Die Stellung des Subjektes. Lacans Psychoanalyse. Dortmund. Arendt, H. (1994): Die Krise der Erziehung. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München/Zürich. Freud, S. (1999): Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV. Frankfurt am Main. Freud, S. (1937) : Analyse terminée et analyse interminable. In: Résultats, idées, problèmes II. Paris (2005). Heidegger, M. (1967): Platons Lehre von der Wahrheit. Frankfurt am Main. Herzog, W. (2006): Zeitgemäße Erziehung. Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit. Weilerswist. Kues, N.v. (1964): De docta ignorantia. In: Ders.: Philosophisch-theologische Schriften. Lateinisch-Deutsch. Erster Band. Wien. Lacan, J. (2005): Des Noms-du-Père. Champ freudien dirigé par Jacques Alain Miller et Judith Miller. Paris.
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Marchal, P. (2008): Pourquoi l’exception ? Pourquoi l’idéal démocratique? In: Le Bulletin Freudien. Revue de l’Association Freudienne de Belgique Marilia, A. (2007): Raconter, démontrer, …survivre. Ramonville SaintAgne. Perrenoud, P. (2001): Développer la pratique réflexive dans le métier d’enseignant. Issy-les-Moulineaux. Reich, K. (2006): Konstruktivistische Didaktik. Lehr und Studienbuch mit Methodenpool. Weinheim/Basel. Weber, J.-M. (2008): Le tutorat comme métier impossible et de l’impossible. Les apports de la psychanalyse et les moyens institutionnels du tuteur dans le cadre d’une formation initiale d’enseignants. Thèse présentée pour obtenir le grade de Docteur de l’Université Louis Pasteur Strasbourg I Discipline: Psychologie, Soutenue publiquement le 2 juillet 2008.
Projet Supposé Savoir T ORSTEN M EYER Die Überschrift über diesem Beitrag unterstellt dem, der lesen soll, 1 ein Wissen. Neben dem Wissen um die drei französischen Vokabeln unterstellt der Titel ein Wissen um jene Redewendung vom »Sujet Supposé Savoir«, die wesentlich ist für die poststrukturale Psychoanalyse und für ein entsprechend inspiriertes Nachdenken über Lehren und Lernen. Das »Subjekt das wissen soll«, wie es in der deutschen Übersetzung von Jacques Lacans Seminar über die »Grundbegriffe der Psychoanalyse« (Lacan 1996c, 242ff) heißt, das ist ursprünglich der Analytiker in der Psychoanalytischen Kur. Das »Subjekt das wissen soll« wird aber auch verkörpert zum Beispiel durch einen Lehrer, einen Professor, einen Pfarrer. Es markiert einen bestimmten Platz in der symbolischen Ordnung, der »die Unterstellungen des Wissens« erleichtert (Pazzini 2008, 223). Der Analysand muss dem Analytiker ein Wissen unterstellen, das der Analysand selbst nicht hat, damit das, was wesentlich ist für das Gelingen der analytischen Kur, die Übertragung nämlich, zustande kommen kann. Auch ein Student muss seinem Professor ein Wissen unterstellen, das er selbst nicht hat, damit das, was wir Lehre nennen, zustande kommt. Die Unterstellung von Wissen ist eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen von Übertragung. Der Empfänger muss unterstellen, dass der Sender etwas zu senden hat, sonst kommt keine Übertragung zustande. Das gilt für den Lehrer, den Professor, den Pfarrer, den Psychoanalytiker, für den symbolischen »Vater« im Allgemeinen – also auch für den Bundes-
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Selbstverständlich sind hier grundsätzlich alle Geschlechter gemeint, der Übersichtlichkeit wegen wird nur die männliche Form verwendet.
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kanzler und den lieben Gott. (Hier ist die Funktion des Vaters gemeint, nicht sein Geschlecht. Das »Subjekt das wissen soll« ist also auch die Lehrerin, die Professorin, die Psychoanalytikerin, die Bundeskanzlerin.) Vereinfacht lassen sich die Strukturen der Übertragung bei Lehr-/Lernprozessen mit Modellen von Diskursstrukturen aus Vilém Flussers »Kommunikologie« darstellen (2000, 16ff.). Im Fall des Frontalunterrichts und der akademischen Vorlesung zeigt sich die Kommunikationsstruktur als »Theaterdiskurs«. Der Professor hat ein Wissen, das er in der Vorlesung an die Studenten verteilt. Damit das funktioniert, müssen die Studenten ihrerseits das Wissen beim Professor unterstellen. Abb. 1: »Subjekt das wissen soll« im Theaterdiskurs, veranschaulicht am Beispiel der akademischen Vorlesung. Der Student links ist unaufmerksam und surft während der Vorlesung im Internet, der in der Mitte misstraut dem Fachwissen des Professors, nur der Student rechts projiziert das »Subjekt das wissen soll« auf den Professor in der Lehrkanzel.
Der Theaterdiskurs empfiehlt sich, wenn es darum geht, gesichertes Wissen im Modus one-to-many zu verteilen. Um das zu inszenieren, wird eine Menge Aufwand getrieben: Ein Pult wird aufgestellt, manchmal eine ganze Bühne, die Sitz- bzw. Stehposition des »Subjekts das wissen soll« wird über die der Empfänger des Wissens gehoben, manchmal werden Lautsprecher verwendet, die auch die Stimme des Vortragenden über die des Publikums erheben usw. Das ganze Setting des Lehr- oder Vortragsraums dient
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dazu, das »Sujet Supposé Savoir« zu inszenieren. Dieses Setting ist seit Jahrhunderten (sogar Jahrtausenden) bestens erprobt und wird immer weiter verfeinert – bis in die Architektur der Schulen, Universitäten und Kirchen hinein. Der Aufwand wird nicht ohne Grund betrieben. Der Student/Schüler muss Wissen wollen, damit der Lehr-/Lernprozess gelingt. Und darum muss es – das scheint seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden klar – jemanden geben, auf den dieses Wissen-Wollen projiziert werden kann: ein »Subjekt das wissen soll«. Supposed to Not Know Im Winter 2008/09 kam Danny Boyles Film »Slumdog Millionaire« in die Kinos. Der Film erzählt die Geschichte eines Straßenjungen in Mumbai, der in einer Quizshow im indischen Fernsehen auftritt und dort – entgegen allen Erwartungen und Unterstellungen – Antwort auf alle Fragen weiß. Abb. 2: »The Subject Supposed to Not Know« – Slumdog Millionaire.
Der 18-jährige Jamal Malik ist ein Subjekt, dem das Wissen gerade nicht unterstellt wird. Zusammen mit seinem älteren Bruder ist er als Waise in den Slums der indischen Metropole aufgewachsen, er hat keine Schulbildung und auch sonst nicht sonderlich viel Glück in seinem bisherigen Leben gehabt. Trotzdem hat er es bis zur letzten Frage geschafft bei »Who wants to be a Millionaire?« Und er weiß auch die Antwort auf die letzte,
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die »Millionenfrage« – »Slumdog Millionaire« ist ein Globalisierungsmärchen: zu schön, um wahr zu sein. Inspiriert wurde »Slumdog Millionaire« durch einen Besuch des Autors der Romanvorlage »Q & A«, Vikas Swarup, bei einer Lernstation des Bildungsprojekts Hole-in-the-Wall Education Ltd (HiWEL). Er berichtet: »My book is about hope, optimism and triumph of the human spirit. I was inspired by the Hole-in-the-Wall project, where a computer with an internet connection was put in a slum in Delhi. When the slum was revisited after a month, the children of that slum had learnt how to use the worldwide web without any supervision. That got me fascinated and I realised that there`s an innate ability in everyone to do something extraordinary, provided they are given an opportunity.« (Reuters 2009) Hole in the Wall 1999 startete Sugata Mitra mit seinen Kollegen vom National Institute of Information Technology (NIIT Ltd.) ein erstes »Hole in the Wall« Experiment. Sie schlugen ein Loch in die Mauer zwischen dem Firmensitz in New Delhi und einem angrenzenden städtischen Slum, installierten darin einen Computer mit einer High-Speed-Internet-Verbindung und ließen diesen dort – abgesehen von einer versteckten Kamera, die die Umgebung filmte – unbeaufsichtigt stehen. Die Kinder näherten sich zunächst vorsichtig dem »Hole in the Wall«, begannen dann in der Regel, an dem Touchpad herumzufingern und bemerkten dabei schnell, dass die Bewegung der Finger auf dem Touchpad eine analoge Bewegung auf dem Bildschirm zur Folge hatte. Der oben abgebildete 13- jährige »Slumdog« aus Shivpuri zum Beispiel erzählte später, er habe noch nie ein »Television« gesehen, »where you can do something.« Es dauerte etwa zwei Minuten, bis er herausfand, dass er selbst die Dinge im »Television« bewegte. Auf dem Computer lief ein Webbrowser, voreingestellt auf die damals größte Internet-Suchmaschine Altavista.com. Als er dann kurze Zeit später zufällig auf das Touchpad tippte und dabei einen Maus-Klick auslöste, veränderte sich die Web-Seite im Browser plötzlich. Acht Minuten später – so berichtet Mitra – hatte er offenbar gelernt, sich interaktiv im Internet zu bewegen. Als er das realisierte (ohne allerdings zu wissen, dass es oder auch nur was das Internet ist), begann er die Kinder aus der Nachbarschaft zu rufen, um ihnen zu zeigen, was er ent-
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deckt hatte. Am Abend des Tages konnten Mitra und Mitarbeiter 70 Kinder im durch das »Hole in the Wall« vermittelten Umgang mit dem Internet beobachten (Mitra 2007). Mit der Gründung der HiWEL Ltd. im Jahr 2001 wurde ein nationales Forschungsprogramm mit 23 Lernstationen in Indien nach diesem Vorbild gestartet. 2004 wurde die Idee des »Hole in the Wall« zunächst nach Kambodscha exportiert, inzwischen gibt es HiWEL-Projekte auch in Uganda, Ruanda, Mosambik, Sambia, Swasiland, Botswana und Nigeria. 2008 hatten weltweit bereits mehr als 300.000 Kinder von 300 »Holes in the Wall« profitiert. 2009 wird sich die Zahl der Lernstationen weltweit fast verdoppelt haben. Abb. 3: Video-Dokumentation »Hole in the Wall«, Shivpuri 1999.
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Abb. 4-10: »Hole in the Wall« Lernstation, Jaipur 2008.
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Digital Divide Abb. 11: Hole in the Wall, schematische Darstellung.
In der Begleitforschung zeigte sich, dass die HiWEL-Lernstationen, neben dem zu erwartenden Effekt des Erwerbs funktionaler Computerkenntnisse, bei den Kindern auch positiven Einfluss hatten auf das Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, die Kollaborationsfähigkeit, auf die Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne, auf die allgemeine Problemlösekompetenz und die schulischen Leistungen insgesamt (Mitra 2006). Die Forschungsergebnisse und der bislang erreichte Verbreitungsgrad, nicht zuletzt die diversen Preise und Auszeichnungen – vom »Digital Opportunity« Award bis zum TEDtalk »Ideas worth spreading« – lassen das Projekt überaus erfolgreich erscheinen. Die von Mitra so genannte Methode der »Minimally Inversive Education« (ebd.) kann und muss allerdings auch als echte Herausforderung für traditionelle (formale) Bildungskonzepte gesehen werden. Das »Hole in the Wall« Projekt zeigt, dass auch ohne direkten Anstoß durch einen Lehrer als »Subjekt das wissen soll« ganz offenbar ein Wissen-Wollen stimuliert werden kann, das zu einer ganz effektiven Form von selbstorganisiertem Lernen führt. Mitra versichert zwar, dass »such facilities are not meant to replace schools and teachers, they are meant to supplement, complement and standby for those areas of the earth where good schools and good teachers are, for whatever reason, absent.« (Ebd.) Umso mehr stellt sich aber die Frage, ob hier trotz Abwesenheit eines Lehrers, auf den das »Subjekt das wissen soll« projiziert werden kann, dennoch so etwas wie ein »Sujet Supposé Savoir« wirksam ist.
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Abb. 12: Hole in the Wall, Version Platons: Ausgang aus der Höhle der Unwissenheit.
Abb. 13: Hole in the Wall, NIIT-Experiment: Eingang in den globalen Wissensraum.
Abb. 14: Wo/Wer/Was ist das »Sujet Supposé Savoir«?
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Communities of Practice In gewisser Weise kann das »Hole in the Wall« wohl verstanden werden wie die Bühne in Flussers Theaterdiskurs. Die Abbildungen 4 bis 10 machen deutlich, wie das »Publikum« sich um die kleinen interaktiven Löcher in der Wand drängelt wie die Fans eines Pop-Events um den Star live on stage. Dazu trägt auch hier sicherlich das Setting bei, zum Beispiel dadurch, dass die Klappen vor den Computern zeitweise auch geschlossen sind (und wohl auch, dass diese so niedrig angebracht sind, dass Erwachsene gerade nicht darunter passen), dass man also nicht immer und ununterbrochen Zugriff hat auf das, was Gegenstand des Wissen-Wollens ist. Wesentlich für das Funktionieren der »Minimally Invasive Education« ist hier aber wohl die Selbstorganisation innerhalb der kleinen »Communities of Practice« (Wenger 1998), die sich um die einzelnen »Holes in the Wall« bilden. Die Kinder helfen einander, erklären sich gegenseitig, was wie zu tun, zu verstehen, zu interpretieren ist und übernehmen wechselseitig temporär die Rolle des »Subjekts das wissen soll« wie auch des »Subjekts das wissen will«. Die Kommunikationsstrukturen innerhalb dieser selbstorganisierenden Gruppen sind vielfältig und lassen sich sicher nicht allein mit dem Theaterdiskurs beschreiben. Besser geeignet für die Veranschaulichung sind vermutlich die weniger linearen und monodirektionalen Formen der Kommunikation und Unterstellung von Wissen innerhalb dieser »Communities of Practice«, die Flusser neben dem Theaterdiskurs nennt. Abb. 15: Flussers Kommunikationsstrukturen: Amphitheaterdiskurs, Kreisdialog, Netzdialog.
Der Amphitheaterdiskurs (Flusser 2000, 27ff) ist gegenüber dem Theaterdiskurs durch eine gewisse Grenzenlosigkeit gekennzeichnet, weil der Sen-
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der nicht durch eine Wand abgeschirmt wird und von einem beliebigen Ort »funkt«. Der Empfang geschieht zufällig, indem der Empfänger sich auf den »Kanal« einstellt (vgl. Rundfunk). Im Kreisdialog (ebd. 29ff) wird nicht wie im (Amphi-)Theaterdiskurs vornehmlich Wissen verteilt, sondern bestehende Informationen werden zu neuen Informationen synthetisiert. Im Dialog werden unter den hinsichtlich Vorwissen, Kompetenzen und Perspektive heterogenen Teilnehmern Bedeutungen ausgehandelt und nach gemeinsamen Nennern für zu lösende Probleme gesucht. Es entsteht neues Wissen. Auch der Netzdialog (ebd. 32ff) spielt nach den Prozessbeschreibungen Mitras (Mitra 2006 und 2007) eine Rolle innerhalb der selbstorganisierenden Gruppenbildungsprozesse vor den »Holes in the Wall«. Es ist die archaischste Form der Kommunikation: Klatsch, Tratsch, Flurfunk, Schulhof, Gerüchteküche und Internet sind typische Beispiele. Jeder Beteiligte ist als Knotenpunkt im Netz ein potentieller Sender und potentielles »Subjekt das wissen soll«. Der Dialog kann sich ohne Einschränkungen und Regeln in alle Richtungen ausbreiten. Durch Zerstreuung und äußere Einflüsse kann bestehende Information transformiert und dadurch (nicht notwendigerweise absichtlich) neue Information geschaffen. One Laptop Per Child Abb. 16: Multidirektionale Unterstellung von Wissen in vernetzten Kommunikationsstrukturen.
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Der XO, auch bekannt als »100$-Laptop«, ist ein Projekt der »One Laptop per Child« Initiative (OLPC). Ziel des vom MIT Media Lab in Cambridge ausgehenden Projekts war es, einen Laptop-Computer für Kinder zu entwickeln, der speziell auf die Bedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern zugeschnitten ist. Das Gerät ist extrem robust, witterungs- und hitzebeständig, es arbeitet selbst unter schwierigsten Bedingungen. Es verbraucht sehr wenig Strom und kann auch abseits eines Stromnetzes mit Energie versorgt werden (solarbetriebenes Ladegerät, Fußpedal, Handkurbel). Es arbeitet mit freier (Open Source) Software und kann für nahezu 100 US-$ in Masse produziert werden. Dahinter steckt, wie beim HiWEL-Projekt, die Idee, die wachsende digitale Kluft der Industrieländer gegenüber den Entwicklungs- und Schwellenländern langfristig zu schließen, indem unterprivilegierten Kindern weltweit massenhaft Zugang zum Internet und dadurch – so die Voraussetzung – Zugang zu Bildung ermöglicht wird. Der XO-Laptop soll dabei als Arbeitsgerät für den regulären Schulunterricht dienen, aber auch als allgemeines Kommunikationsmedium. Das Gerät kann zum Lesen eines Buches (eBook-Reader) verwendet werden, als Rechen-, Schreib- und Malmaschine, es erlaubt aber auch netzbasierte Telefongespräche und Videokonferenzen, Chat, eMail, social networking usw. Abb. 17: XO-Laptop für Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren.
Anders als beim HiWEL-Projekt spielt die Schule im OLPC-Projekt eine wesentliche Rolle. Die Laptops werden über die Schulen an die Kinder
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ausgegeben und im Schulgebäude soll auch die notwendige technische Infrastruktur, Strom- und Internetzugang, zur Verfügung stehen. Die Geräte werden allerdings fest und dauerhaft an die Kinder vergeben. Jedes Kind soll »Eigentümer« eines Laptops sein und das Gerät nach Schulschluss mit nach Hause nehmen. »Ownership« ist eines der »core principles« des Projekts (OLPC 2009). Wesentlich ist dabei der freie Gebrauch der Geräte auch außerhalb der Schule. Dadurch wird der XO zu einer Art »mobiler Schule«, die auch die Familien zuhause erreicht. Abb. 18: OLPC in einer Projektschule in Galadima, Nigeria, Sommer 2007.
Was die Kinder mit dem XO aus der Schule mit nach Hause nehmen, ist aber nicht nur ein neues, ungewöhnliches Gerät, sondern vor allem auch eine neue soziale Umwelt und ein neues »Sujet Supposé Savoir«: Mehrere Geräte können sich untereinander zu einem mobilen, kabellosen MeshNetzwerk verbinden. Der Laptop hat dafür eine integrierte WiFi-Karte mit einer Reichweite von bis zu 2 Kilometern. So können sich die Kinder auch über weitere Strecken untereinander lokal vernetzen und außerschulische Communities bilden. Vor allem aber haben alle Laptops, die über ein solches Ad-hocNetzwerk miteinander verbunden sind, Zugang zum Internet, sofern mindestens ein Gerät (zum Beispiel im Schulgebäude) mit einem InternetRouter verbunden ist. So ist die gesamte Community untereinander und potentiell mit der Welt vernetzt. Dieses »Sujet Supposé Savoir« lässt sich, sobald die Kommunikationspotentiale und Wissensressourcen des Internet wirklich genutzt werden, nur noch schwerlich dauerhaft auf einzelne Personen projizieren. Vielmehr muss vielleicht das ganze Setting, die technische Infrastruktur und die sich in deren Folge entwickelnde Medienkultur und
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Sozialstruktur als ein Sujet verstanden werden, das die Produktion und Distribution von Wissen ganz neu regelt. Abb. 19: Darstellung des Funknetzes in der Benutzeroberfläche des XO »Sugar«: Übersicht über alle Teilnehmer als XO-Figuren. Durch Anklicken eines Personen-Icons wird Kontakt hergestellt.
Projet als Sujet Die Person des Lehrers als ein konkret greifbares »Subjekt das wissen soll« rückt ebenso in den Hintergrund wie das spezifische Sujet einer lokalen Kulturtradition, wenn jedes »Subjekt das wissen will« (»wollen soll«) über einen eigenen Laptop mit Internetanschluss verfügt. Es entwickelt sich dann ein anderes Sujet. Die neue technische Infrastruktur begünstigt ein Kommunikationsverhalten, das mit dem des Empfängers der (MassenPropaganda-)Sendemedialität der Theaterdiskurse nichts mehr gemein hat. In den Netzwerkkulturen ist nicht mehr von vornherein klar, wer das Wissen hat und wem es noch fehlt. Das ergibt sich erst aus dem jeweiligen Anlass heraus. Manfred Faßler spricht von »Communities of Project«: Die neuen kommunikations- und informationstechnologischen Infrastrukturen fördern das Entstehen von »episodischen Momentgemeinschaften«, in denen Menschen zusammen spielen, lernen, lehren, Forschung koordinieren und Wissen produzieren – oft nur temporär, mit »Verfallsdatum«, auf Projektabschluss zielend. Mit dem weltweiten Computernetzwerk entstehen Neue Medien im Sinne neuer Trägersysteme »menschlicher Selbstorganisation« (Faßler 2008, 141ff). Sozialität verändert sich, es bilden sich nun tatsäch-
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lich – wie J.C.R. Licklider vor 40 Jahren prognostizierte – »comunities not of common location, but communities of common interest«, weil die Netzwerkinfrastruktur es nahe legt. In den »Communities of Project« ist das Wissen auf einen konkreten Anlass bezogen und insofern an einer Praxis orientiert. Es wird zusammengetragen oder spontan generiert in der Kommunikation derer, die sich gemeinsam über das aktuelle Problem beugen, eher zwischen als in den Köpfen der Projektbeteiligten. Es zirkuliert, wächst, wird (an-) gewendet, verwandelt, verflüssigt. Das hat Folgen für den Status des Wissens, vielleicht sogar für das unseren Bildungstheorien zugrunde liegende Verständnis von Wissen, – in jedem Fall und ganz unmittelbar hat es Folgen für das Selbstverständnis der Lehrenden wie auch der Lernenden: Wenn das WissenWollen, wie anfangs skizziert, zu tun hat mit der Übertragung und mit einem Subjekt, dem das Wissen unterstellt wird, wie kann Lehren funktionieren in einer »Wissensgesellschaft«, die das Wissen nicht mehr in, sondern zwischen die Köpfe denkt? Oder, wenn wir das Funktionieren voraussetzen, anders gefragt: was müssen wir – eingedenk dessen – unter »Lehren« verstehen in Netzwerkkulturen, die den Erwerb von Wissen und die Bildung des Geistes nicht mehr unmittelbar zusammendenken? (Lyotard 1999, 19ff) Das mag bei den genannten Beispielen HiWEL und OLPC zurzeit nur optional angelegt und eher (für die der jetzt betroffenen folgende Generation) erahn-, denn erkennbar sein. Jenseits des Digital Divide aber haben die Netzwerkkulturen eine Realität erreicht, die als soziale Wirklichkeit stattfindet: Annähernd eine Milliarde Nutzer und weltweit täglich mindestens 100 Millionen Informationsanfragen allein an Google zeigen nicht nur, dass es so etwas wie »Weltwissen« tatsächlich gibt, sondern auch, dass es um dieses herum echte, reale Handlungsfelder gibt, die nichts mehr mit dem irgendwie jenseitig gedachten »Cyberspace« der 1980er und 1990er Jahre zu tun haben. Insgesamt lässt sich in der gerade anbrechenden digitalen Mediosphäre beobachten, dass das Verhältnis zwischen den Medien der Verbreitung von Wissen im Raum (Ubiquität) und den Medien der Verbreitung von Wissen in der Zeit (Historizität) zunehmend prekär wird. Die digitalen Infrastrukturen vergrößern die territoriale Reichweite (Globalisation, Internet), verkürzen aber die chronologische (Paideia, Schule, Hochschule, Museum usw.). Die Folge, ganz im Sinne des »Form follows Project« (Faßler 2008, 143ff): Das »fließende Wissen« (KnowHow, projektgebunden) ersetzt das
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»bewahrte Wissen« (Weisheiten, systematisches). Während die Gestalt der Zeit für die Graphosphäre (Buchdruck, Aufklärung), den »großen Erzählungen« gemäß (»Geschichte«, »Fortschritt«), noch als teleologische Linie beschreibbar war, strebt die Gestalt der Zeit in der digitalen Mediosphäre zum Punkt: Der Event, seine Aktualität und seine Performanz bestimmen die Gültigkeit von Wissen (Debray 2003, 11ff, 64f). Mit den Erzählungen von der Aufklärung und der Emanzipation, der Geschichte, dem Fortschritt, dem Diskurs der Wahrheit und der Vorstellung vom Wissen schaffenden Subjekt als kartesischem cogito hat das immer weniger zu tun. Das gilt ebenso auch für das »Subjekt das wissen soll« in der Figur des einen disziplinären Wissensbesitzstand wahrenden Experten. Wenn aber in der Folge der »Communities of Project«, den »lernenden Gemeinschaften« und deren »kollektiver Intelligenz« das Individuum als erkenntnistheoretisches Paradigma an Bedeutung verliert zugunsten des Wissen schaffenden Projekts und der sich darum bildenden Community, kann dann der Prozess der Übertragung, ausgelöst nun durch das Projekt, dem das Wissen unterstellt wird, als »Lehre« bezeichnet werden? Kann eine Community in diesem Sinn »belehrt« werden? Von wem? Welchem Subjekt kann das »kollaborative Wissen« unterstellt werden, das die aktuelle informations- und kommunikationstechnologische Infrastruktur produziert? Projekt Ausbruch Abb. 20: Gefangenensophisma als Höhlengleichnis.
Pädagogik wird oft mit der Metapher des »Ausgangs« in Verbindung gebracht. Der paidagogos war im antiken Griechenland zunächst ein Sklave,
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der die Kinder heraus aus dem Haus der Eltern hin zur Schule, vom Privaten ins Öffentliche (agora) führte. Platon schrieb von der paideia und meinte damit den Ausgang aus der Höhle. Seit Kant geht es auch um den »Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit«. In diese Reihe passt auch Jacques Lacans »Gefangenensophisma«, wenn man es als eine pädagogische Geschichte, nämlich als eine Geschichte der Bildung der Community liest. Das »Gefangenensophisma« kann näheren Aufschluss bringen über die eben aufgeworfene Frage nach dem »Sujet Supposé Savoir« in den »communities of project« und es gibt zugleich Hinweise auf die Art des Wissens, das in solcherlei Lehrsituationen unterstellt wird. Der Gefängnisdirektor lässt drei ausgesuchte Häftlinge vorführen und teilt ihnen mit: »Meine Herren, aus Gründen, über die ich Ihnen jetzt nicht Aufschluss zu geben habe, soll ich einen von Ihnen frei lassen. Um zu entscheiden wen, stelle ich das Schicksal einer Prüfung anheim, die sie ablegen werden, wenn’s Ihnen beliebt. Sie sind hier zu dritt. Hier sind fünf Scheiben, die sich nur durch ihre Farbe voneinander unterscheiden: drei sind weiß und zwei sind schwarz. Ohne ihm zu erkennen zu geben, welche Wahl ich getroffen haben werde, werde ich jedem von Ihnen eine dieser Scheiben zwischen den Schultern befestigen, das heißt außerhalb der direkten Reichweite seines Blicks, wobei gleichermaßen jede indirekte Möglichkeit, sie mit den Augen zu erreichen, hier durch das Fehlen jeglichen Mittels, sich zu spiegeln, ausgeschlossen ist. Folglich wird Ihnen in aller Ruhe Gelegenheit gegeben werden, Ihre Gefährten und die Scheiben, als deren Träger jeder von ihnen sich erweisen wird, zu betrachten; aber, wohlgemerkt, ohne dass es Ihnen erlaubt ist, einander das Ergebnis Ihrer Inspektion mitzuteilen. Was Ihnen ohnehin schon Ihr eigenes Interesse verbieten würde. Denn der erste, der daraus auf seine eigene Farbe schließen kann, soll in den Genuss der Maßnahme der Freilassung kommen, über die wir verfügen. Überdies wird seine Schlussfolgerung auf Beweggründen der Logik und nicht lediglich der Wahrscheinlichkeit beruhen müssen. Zu diesem Zweck sei vereinbart, dass sobald einer von Ihnen bereit sein wird, solch eine Schlussfolgerung zu formulieren, er durch jenes Tor gehen wird, damit er beiseite genommen, gemäß seiner Antwort beurteilt werde.« (Lacan 1996b, 103f)
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Im Anschluss befestigt der Gefängnisdirektor je eine weiße Scheibe auf dem Rücken der drei Gefangenen, ohne von den schwarzen Scheiben Gebrauch zu machen. Wie können die drei Betroffenen das Problem lösen? Common Interest Die drei Gefangenen bilden hier so etwas wie eine »community of common interest«, allerdings auch – zu Beginn des Projekts wenigstens – eine »community of common location«. Das Problem, mit dem die drei bezüglich jener »common location« zu tun haben, kann keiner von ihnen allein, ohne Zutun eines anderen, lösen. Das Problem lässt sich nicht rein logisch lösen. Eine Anleitung, mit Hilfe derer man sich vorher schlau machen könnte, gibt es nicht. Keiner der drei hat ein Wissen, das zur Lösung des Problems führt. Keiner ist »Subjekt das weiß«, in den Augen der anderen ist sogar jeder »Subjekt das nicht wissen soll« – und zwar im Gegensatz zum anfangs eingeführten »subject supposed to not know« (Slumdog Millionaire) mit ausdrücklichem Appellcharakter. Dennoch gibt es eine ideale Lösung des Problems, an der alle drei Subjekte gleichermaßen beteiligt sind. Lacan beschreibt, wie die drei Subjekte, nachdem sie sich gegenseitig eine gewisse Zeit gemustert haben, gemeinsam einige zögernd entschlossene Schritte tun, die sie letztlich gleichzeitig das Tor zur Freiheit durchqueren lassen. Jedes für sich wartet dort mit einer ähnlichen Antwort auf, die zeigt, dass alle drei »kraft derselben Gründe des Schließens« gleichzeitig zögernd hinausgegangen sind. Der Lösungsweg lässt sich anhand drei wesentlicher Schritte nachvollziehen: Evidenz, Intuition und Assertion (Lacan 1996b, 111f). Abb. 21: Evidenz: »Unter der Voraussetzung, dass meine Gefährten Weiße waren, habe ich mir gedacht ...«
Von den drei möglichen Konfigurationen von Scheiben auf den Rücken der Mitgefangenen führt nur eine zur sicheren Lösung durch Evidenz. Sieht eines der Subjekte zwei schwarze Scheiben, dann kann es sicher sein, selbst
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eine weiße zu tragen. Im Falle der zweiten und dritten Möglichkeit lassen sich aufgrund der offenliegenden Gegebenheiten jedoch keine eindeutigen Schlüsse ziehen. Das ist der Fall, wenn eine weiße und eine schwarze, oder zwei weiße Scheiben sichtbar sind. Dann muss das Subjekt versuchen, die Gedanken der anderen beiden nachzuvollziehen, den beiden anderen Subjekten also ein Wissen unterstellen, um daraus weitere eigene Schlüsse zu ziehen und eigenes Wissen zu generieren. Abb. 22: Intuition: »... dass wenn ich ein Schwarzer wäre, jeder von ihnen dies hätte folgern können: ›Wenn auch ich ein Schwarzer wäre‹ ...«
Zwei Möglichkeiten verbleiben: Sieht das Subjekt eine schwarze und eine weiße Scheibe, so kann es sagen: »Angenommen, der andere denkt wie ich, dann wird der Weiße, für den Fall, dass auch ich eine schwarze Scheibe trage, also zwei schwarze Scheiben sehen und schließen, dass er selbst ein Weißer ist. Er würde dann gehen. Daran, dass er geht, könnte ich erkennen, dass ich ein Schwarzer bin. Geht er nicht, bin ich ein Weißer und kann aufgrund dieses Wissens gehen.« Für den Fall, dass das Subjekt zwei weiße Scheiben auf den Rücken der anderen sieht, wird es sich sagen können: »Angenommen, die anderen denken wie ich, dann werden sie, für den Fall, dass ich ein Schwarzer bin, sich gegenseitig beobachten und dabei jeder für sich den anderen ein Wissen unterstellen: ›Angenommen, der andere denkt wie ich, dann wird der Weiße, für den Fall, dass auch ich eine schwarze Scheibe trage, also zwei Schwarze Scheiben sehen und schließen, dass er selbst ein Weißer ist. Er würde dann gehen. Daran, dass er geht, könnte ich erkennen, dass ich ein Schwarzer bin. Geht er nicht, bin ich ein Weißer und kann aufgrund dieses Wissens gehen.‹ Folglich würde einer von beiden gehen. Daraus, dass einer
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von beiden geht, könnte ich erkennen, dass ich ein Schwarzer bin und aufgrund dieses Wissens gehen.« Gehen die beiden anderen in der vorherigen Konfiguration nicht, dann kann das Subjekt daraus schließen, dass es selbst ein Weißer ist und genau aus diesem Grund gehen. Das gilt dann aber für alle drei und so würden sie nach einem Moment des Zögerns, einer Zeit zum Begreifen, alle drei hinausgehen. Das individuelle Wissen entsteht durch das Unterstellen von Wissen über die Unterstellung von Wissen der anderen. Eine weitere Ebene der Antizipation von möglichen Gedanken der anderen über die Gedanken der jeweils anderen. Jedes Subjekt muss annehmen, dass der andere annimmt, dass der andere denke und wisse wie er selbst. Dann funktioniert es. Schlagartig. Abb. 23: » ... dann wäre der andere, weil er angesichts dessen unmittelbar erkennen musste, dass er ein Weißer ist, sogleich hinausgegangen; also ...« – Assertion (Lacan ebd., 104).
Dass es ein Weißer ist, erkennt das Subjekt aber genau betrachtet nicht daran, dass die anderen hinausgehen, sondern daran, dass sie zögern, dass auch sie gerade nicht sicher wissen, dass auch sie nur vermuten, dass auch das den anderen unterstellte Wissen ein unsicheres ist. Das führt unmittelbar zu der Frage, welches Subjekt hier eigentlich wirklich weiß, was los ist. Wer oder was ist das »Sujet Supposé Savoir«?
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Subjekt des Wissens Abb. 24: Wer oder was ist Subjekt der kollektiven Intelligenz?
Beim Gefangenensophisma ist die Lacansche Anthropologie mitzudenken (vgl. Meyer 2002, 124ff). Für Lacan ist das Bild des Nachrichtensklaven der griechischen Antike Sinnbild für die menschliche Situation überhaupt. Dem Sklaven wird die zu überbringende Botschaft aus Sicherheitsgründen unter die Stirnlocken geschrieben, er selbst kennt »weder Sinn noch Text [...], noch in welcher Sprache es geschrieben ist, noch schließlich, dass man es auf seine blankgeschabte Haut tätowierte, als [er] schlief.« (Lacan 1996a, 178) Der Träger der Botschaft kann »seine« Botschaft selbst nicht lesen. Er ist verwiesen auf die andern, die sich ihrerseits mit der gleichen Frage an ihn wenden. Es zeigt sich, »dass jedes Subjekt zum Symbol wird – zum Symbol, dessen Botschaft es in den anderen zu entziffern sucht.« (Widmer 1997, 44) Das Gefangenensophisma ist also nicht zu wörtlich oder bildlich zu nehmen. Es geht hier nicht wirklich um ein Gefängnis, etwa ein Benthamsches Panoptikon o.ä., in dem ein Gefängniswärter als »Subjekt das sehen kann« die Gefangenen beherrscht (Foucault 1994, 256f). Das ist nicht gemeint. Lacan schreibt vom Gefängnisdirektor, es geht um die Leitungsetage! Mit dem »Sujet Supposé Savoir« ist Abstrakteres gemeint. Es geht um einen bestimmten Platz in der symbolischen Ordnung. Das Wissen, das dem »Sujet Supposé Savoir« unterstellt wird, ist ein Grund legendes, substantielles. »Es soll etwas wissen, dem niemand entfliehen kann, sobald er es formuliert – es ist nichts anderes als die Bedeutung [signification, besser: »der Sinn«, T.M.]« (Lacan 1996c, 266).
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Collective Intelligence Die französische Formulierung des »Sujet Supposé Savoir« ist mehrdeutig. Das ist bei Lacan so üblich. Während in der deutschen Übersetzung stets das »Subjekt das wissen soll« zu finden ist, gibt es in der englischen Version neben dem »subject supposed to know« auch das »supposed subject of knowledge«. Damit bekommt das Ganze einen anderen Dreh. Und die Figur des Gefängnisdirektors als das dem Wissen um den Sinn (signification) unterstellte Sujet löst sich ganz und gar von jeder nur vorstellbaren Person (den lieben Gott ausgenommen). Die Frage ist nun: Kann dieses »Subjekt des Wissens« in Zusammenhang gebracht werden mit der »kollektiven Intelligenz«, die sich im Gefangenensophisma systematisch und in den netzbasierten Wissensmanagementsystemen praktizierend zeigt? Nicht zuletzt mit Projekten wie dem »Hole in the Wall« und »One Laptop per Child« beginnt sich eine neue Form des Verhältnisses zum Wissen zu etablieren, die mit »SubjektWissen«, »Mensch-Wissen«, »Buch-Wissen«, »Bibliotheks-Wissen« und »Schul-Wissen« nur noch marginal zu tun hat. »In den guten alten Zeiten sprachen die Philosophen von ›Vernunft‹ und ›Verstand‹. Heute [spricht z.B. Pierre Lévy] von der symbolischen Kollektivintelligenz, um die Rolle der konventionellen Systeme, aber auch von Technologien und Institutionen in das menschliche Denken mit einzuschließen. Somit ist die Kollektivintelligenz eine grundlegende Tatsache des menschlichen Lebens.« (Lévy 2008, 72) Kann die aus den »Communities of Projetcs« und den social media Praktiken emergierende »kollektive Intelligenz« als ein Projekt verstanden werden, dem das Wissen unterstellt werden kann? – Vielleicht so, wie man die Aufklärung als ein Projekt gesehen hat, dem das Wissen zu unterstellen ist? Denen, auf die das »Sujet Supposé Savoir« zuvor projiziert wurde, kämen neue Aufgaben zu – vielleicht alte Aufgaben im neuen Verständnis: Lehrer und Professoren (zum Beispiel) – das wären diejenigen, die dafür Sorge tragen, dass dem Wissen ein Subjekt unterstellt werden kann, diejenigen, die dafür sorgen, dass etwas – nun aber ein neues Sujet – Sinn macht. Jetzt also entgegen den derzeitigen Gepflogenheiten nicht trotz, sondern wegen kultureller Globalisierung und vernetzter Signifikation. Aber das ist ein langwieriges Projekt...
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Überschreitung des Individuums durch Lehre Notizen zur Übertragung K ARL -J OSEF P AZZINI Lehren bildet »Lehren bildet«, die Behauptung im Titel unseres Buches, bindet zwei Konzepte, Lehren und Bildung, zusammen, die durchaus in unterschiedlichen Sphären anzusiedeln sind. Sie finden weder im selben Raum noch zur selben Zeit statt, jedenfalls nicht notwendiger Weise. Sie unterliegen einer topologischen Differenz, können wirksam auch einmal am gleichen Ort und zur selben Zeit stattfinden. Wenn wir es in Lehrprozessen mit mindestens zwei Individuen zu tun haben, meist mit mehr, also einer Gruppe, dann heißt das, dass das Lehren im Wesentlichen für alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort stattfindet, Bildungen aber womöglich anders, woanders und zu einer anderen Zeit. Es werden topologisch und temporal 1 Grenzen überschritten. Lehrend hofft man, zu mehr hat man nicht die Macht, dass es in einer Situation zu Ereignissen kommt, die Übersprünge zwischen beiden Sphären wahrscheinlich machen, vielleicht hier und jetzt, angelegt damals am anderen Ort oder vielleicht ganz woanders in der Zukunft. Erst der Zwang zur Beobachtbarkeit, zur Sichtbarkeit veranlasst durch Evaluation nach naturwissenschaftlich empirischen Maßstäben, eskamotiert das Moment der Bildung aus der Vorstellung vom Lehren. Gelingen kann das nicht.
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Eigentlich müsste es »temporalogisch« heißen.
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Lehren intentional, bilden medial Lehren wird spontan meist verstanden als intentionale Tätigkeit. Bildung findet statt oder nicht, liegt zwischen Aktivität und Passivität im Medium (vgl. Pazzini 2010, 43-59). Sie zeichnet sich dadurch aus, dass man sie nicht wollen kann. Mehr noch: Auf Bildung setzen, heißt, Intentionalität umzuleiten, aber nicht aufzugeben. Bildung kann ein Effekt intentional ausgerichteten Lehrens sein, nicht aber ein direkt anzielbarer. Er tritt gleichzeitig oder nachträglich ein, verändert als erwarteter die Wirkung des Lehrens, macht verflossenes Lehren jetzt wirksam oder später. Richtet man Lehren auf Bildung aus, heißt das, dass man Intentionalität um ihrer Wirkung willen fiktionalisieren muss. Der Lehrer tut dann so, als ob sein Lehren bestimmte Wirkungen habe. Dieser Fiktionalität dient auch Beurteilung, Überprüfung und eventuell Benotung. Sie sind aber nur als Ausdruck des Willens und der vielleicht gemeinsamen Hoffnung zu verstehen und zu rechtfertigen, dass es gewirkt haben möge. Ein wunderbares Spiel, wenn es denn gelingt, darin mit allen Beteiligten Einverständnis zu erzielen. Darum zu ringen ist Ergebnis und Herstellung der Glaubwürdigkeit des Lehrers. Der Brückenkopf von der Lehre zur Bildung ist eine Unterstellung. Die Beschulbarkeit von Schülern entscheidet sich an der Bereitschaft und der Möglichkeit zu dieser Unterstellung, beiderseits, also auch vom Lehrer her. Die Wirksamkeit und Professionalität des Lehrers entscheidet sich daran, dass er glaubhaft vorgeben kann, dass sich eine solche Unterstellung lohne. In diesem Satz schwankt »vorgeben« zwischen Vorschuss, Überredung und Täuschung. Zeugnis Intentionalität darf nicht verschwinden, sondern verschiebt und verdichtet den Abschluss in einer Koinzidenz von Lehre und Bildung an ungewissem Ort zu ungewisser Zeit. Beide Ungewissheiten werden ersetzt durch ein Zeugnis über das Erreichte, das in seinem Selektionscharakter wirksam wird. Darin, so müsste gelernt werden können, liegt im günstigen Fall eine Herausforderung zum Widerspruch, zum Widerstand, zur Überwindung oder zur Bestätigung der Bewertung, auf dass Bildung nicht zum Beschluss kommt, obwohl der Lehr- und Lernprozess an ein vorläufiges Ende gekommen sein kann. Lehren kommt mit einer von Dummheit emanzi-
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pierenden Bildung am ehesten in Berührung, wenn es die Fehlbarkeit dessen, der ein Zeugnis gibt, der Noten gibt, erfahrbar machen kann. Das kann nicht gelingen, wenn nach »gerechten«, »objektivierbaren«, abzählbaren Punkten gewertet wird. Das ist viel eher zwingend, die Ergebnisse der Feststellung betonierend. Das heißt nicht, dass es harmlos sei, jemandem persönlich ein Zeugnis zu geben, weil er dagegen protestieren kann, kreativ etwas daraus machen könnte. Es ist nur die mühsame und ziemlich unvollkommene Kultivierung einer Gewalt zwischen Generationen, ein Kompromiss. Prüfung Bewertungen auszusprechen und zu empfangen heißt, sich damit abzufinden, dass ein Erfolg, also die zurechenbare Folge einer Aktivität, bestenfalls etwas ist, das man zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrnehmbar machen kann (Prüfung), es ist aber eine Konstruktion, kein als automatisches Datum heraus fallender Output, sondern der vorläufige Versuch, die Unterstellung zu beenden. Vom zu Prüfenden wird erwartet, dass er sich intentional, also mit dem, was er im Moment beherrscht, auf den an ihn gerichteten Anspruch antwortet. Die Antwort fällt auf den Prüfenden zurück, weil er ja der Lehrer war. Hier beginnt, ähnlich wie in der psychoanalytischen Kur bei der Aufteilung von Übertragung und Gegenübertragung, oftmals der abwehrende Versuch insbesondere unerwünschte Ergebnisse nicht als Bildungen von Relationen zu fassen, sondern in Form von Kompetenzen wie Eigenschaften den Beteiligten zuzuschreiben. Versetzung Beiderseits, von Seiten des Lehrers wie von Seiten des Schülers, muss sich Intentionalität mit Blick auf Bildung in räumlich und zeitlich unkalkulierbare Abfolgen versetzen lassen. Bildung braucht versetzte, verschobene, verdichtete Ausrichtung. Dies kann nur eine Art Liebe tragen, eine Liebe zum Gegenstand, wie zu den Schülern und von diesen zum Lehrer und zu den Sachen. Das kann nicht für alle und für alles, auf jede erdenkliche Art jederzeit gelingen. Insofern ist der Lehrerberuf unmöglich, er vermag das nicht zu beherrschen. Man kann versuchen, diesen Sprung durch allerlei Verführung möglichst klein zu halten, bis zur Verhinderung einer doch
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noch beabsichtigten Bildung. Es resultiert dann leicht Abhängigkeit, Anpassung, Verletzung. Überschreitung Nur wenn etwas offen bleibt, nicht alles immer schon anschließbar ist, wird das Individuum genötigt, seine räumliche und zeitliche Fixierung zu überschreiten. Es überschreitet seine bisherigen Gewissheiten in der Einfädelung einer Beziehung zum Inhalt, zum Gegenstand, zum Lehrer, zu den anderen Gruppenmitgliedern, über den Ort hinaus und die Zeit hinweg. Von vielen Lehrenden oder Didaktiken wird dies mit Bedauern festgestellt. Sie wollen statt dessen die Einheit von Raum, Zeit und Handlung sowie deren Effekten herstellen, sei es in der Lehrerbildung (gemeint ist Ausbildung), indem auf dauernden Praxisbezug fixiert wird, sei es in der Schule, in der jeder Inhalt an seine Alltagsanschlussfähigkeit gebunden wird, sei es durch einen gewaltsamen Übergriff, auch sexueller Art, der Gewissheit und Erleichterung erzwingen will. Begehren Eine bildende Öffnung als Überschreitung kann nicht bewusst geschehen. Was hilft, ist ein Begehren zu lehren als eines, das keinen Abschluss finden kann. Geht es hingegen um einen Anspruch zu lehren, also ausgehend von einer geprüften Berechtigung hin zu einem Anspruch auf Aufmerksamkeit für das zu Lehrende oder das Gelehrte, kombiniert mit einer Überzeugung, dass sich dies herstellen lasse, entweder methodisch auf Seiten des Lehrers oder mit gutem Willen auf Seiten des Schülers, dann erscheint Bildung fast als eine unerwünschte Nebenwirkung. Es sei denn, sie wird als Ausbildung verstanden. Da Bildung oft, wenn nicht sogar meistens, nicht zu der Zeit und an dem Ort, an dem das Lehren stattfindet, erfolgt, da es etwas ist, das die Befangenheit in Raum und Zeit und individueller Hülle überschreitet, ist Bildung so etwas wie ein wundersamer Mehrwert, so erstaunlich wie die Tatsache einer Schwangerschaft, also der Zunahme durch Wachsen von etwas eigenwillig anderem, oder einer Erektion als Erhebung gegen die Schwerkraft, die nicht immer ganz im Willen des solchermaßen Erigierten liegt,
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das auch und vielleicht gerade, wenn die Erektion ausbleibt. Es ist ja schon fast im Wort enthalten, dass da etwas aus der Regierung läuft. Es ist natürlich nicht beabsichtigt, dass im Lehrerberuf Leute Unterschlupf finden, die anderswo unfruchtbar sind oder die auf eine fast fetischistische Art der Abhängigen bedürfen, um sich ihrer Potenz zu versichern. Jenseits Lehren und Bildung werden zwar in der Vorstellung topographisch zunächst aufeinander bezogen, sie entfalten aber ihren Bezug aufeinander durchaus im Jenseits genau bestimmbarer, räumlicher und zeitlicher Konstellationen, getragen durch eine Beziehung. Die Verschiebungen und Verdichtungen, Bildungen genannt, haben nicht einen Ort in Individuen und können auch so nicht zum Eigentum oder Besitz werden, wie das etwa fälschlich immer wieder von Kompetenzen angenommen wird, sondern sie werden wirksam in Situationen des Sprechens in den unterschiedlichsten Sprachen, den verbalen Sprachen, der Mimik, der Gestik, den Sprachen des jeweiligen zu lehrenden Diskurses. Schutz vor Missbrauch Man könnte nun sagen: Wenn weder die Effekte des Lehrens genau bestimmbar sind, noch genau gesagt werden kann, wann und wie Bildung stattfindet, dann haben sie genau darin ihre Berührung, das eine ist der Zweck des anderen und kann nur so vor einer Verzweckung und Instrumentalisierung des Schülers durch einen Angehörigen der älteren Generation schützen, ihn schützen vor einem Missbrauch oder einem Gebrauch zur Erfüllung der Bedürfnisse und Ansprüche der älteren Generation. Es muss zwar das Risiko einer gewissen Nähe eingegangen werden, damit die Borniertheiten der jeweiligen Beschränkungen überschritten werden können, so dass die dabei auftretende Berührung und Reibung eine Energieaufladung zur Umsetzung am anderen Ort zur anderen Zeit werden kann. Zur Schaffung einer Schutzvorkehrung als einer Haltung dient die Unterscheidung der beiden Konzepte: Bildung und Lehren. Sie müssen beide subjektiviert
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werden; vielleicht kann man auch sagen inkarniert 2 werden, das aber ist ein allmählicher, unbewusster Prozess, das sind Bildungen des Unbewussten (vgl. Lacan 1998/2006). Die Unterscheidung ist deshalb hilfreich, weil so, über die Herstellung einer kunstvollen Fiktion, zwei Bewegungen deutlich werden können. Die Unterscheidung verhilft zu einer Fiktion, ohne die der Pädagoge handlungsunfähig werden könnte und sich stattdessen zum lüsternen Übergriff hinreißen ließe, der sich sowohl in einem sexuellen Missbrauch äußern kann wie in der Realisierung der Fiktion eines direkten Durchgriffs zum Zwecke der Veränderung von Kompetenzen als Eigenschaften (Nürnberger Trichter). Die handlungsbegleitende und -ermöglichende Fiktion der Lehrbarkeit, die Überzeugung, anderen etwas Bestimmtes beibringen zu können, wird dann zur Gewalt. Gewalt Die erste Bewegung, das Lehren, will eine Konstellation der Tradition von Wissen, Fertigkeiten, Techniken an eine nächste Generation weitergeben, 3 um die Möglichkeiten zu eröffnen, dass die Differenzierungen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, beispielsweise der Kultur, der Arbeitsteilung, der Darstellungsformen weitergegeben werden, nicht zuletzt auch aus Gründen der Selbsterhaltung im Alter, bei Schwäche und Krankheit, also auch im Sinne einer fortwährenden Bindung auch nach der Entbindung. Hier kann sich auch eine Art Rachemotiv als Inhalt ansiedeln. Der kommenden Generation wird ähnlich Gewalt angetan, wie man es selbst erlebt hat, oder ein Zwang weitergegeben, wie man ihn gegen sich richtet oder gerichtet hat, um dazu zu gehören. Auch ein solches unbemerktes Motiv wäre eine Bildung des Unbewussten. Die in diesem Symptom erinnerten Narben erlittener Gewalt sind gleichzeitig Orientierungs- und Stabilisierungspunkte der Erinnerung. Die im Lehren liegende Gewalt und Aggressi-
2
Dies im Sinne eines Umschlags etwa vom Hören in eine körperliche Verände-
3
Es gibt sicher auch andere Lehr- und Lernkonstellationen. Man müsste dann von
rung auch in der Umgebung. einer logisch anderen Generation sprechen, die sich nicht durchs Alter unterscheidet, sondern durch die unterschiedlichen symbolischen Plätze von Schülern und Lehrern.
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vität, auch die kultivierte, schaffen Kristallisationskerne für Bildung. Diese Gewalt darf aber nur moderiert und verwandelt tatsächlich ausgeübt werden. Eine solche Kultivierung bindet an die Standards der Gesellschaft, verallgemeinert. Verallgemeinerung geht nicht ohne Ausschluss von Singularität. Teil einer solchen Kultivierung ist die Einräumung bestimmter symbolischer Plätze für Schüler und Lehrer. Das wäre die Voraussetzung dafür, dass die gegenseitige Abhängigkeit sich so wandeln ließe, dass ein differenzierendes Spannungsgefüge Öffnung und Schließung der individuellen Grenzen möglich macht, ein Jenseits der aktuellen Unterrichtssituation eröffnet wird, eines, das man nicht in den Unterricht hineinholen kann, was nicht einmal repräsentierbar ist. Schmerz, Trennung und Trauer Symbolische Umhüllung anstelle einer kruden körperlichen Begrenzung des Individuums ermöglicht Verallgemeinerung, damit tendenziell Gleichheit und Unabhängigkeit von den je besonderen, von allen Beteiligten in die Situation mitgebrachten Macken und Narben. Gleichzeitig sind es die Macken und Narben, die vermutlich die Voraussetzung bilden, ein Begehren zu lehren zu entwickeln und nicht auf der Realisierung einer Gutmachung oder Herstellung von Ganzheit zu bestehen (vgl. Kirchhoff 2010). Die mit den symbolischen Plätzen verbundenen Rechte und Pflichten, bestimmte Riten und Sprechweisen, schützen z.B. vor der je individuellen Rache für anderswo erlittene Gewalt oder erlittenes Unrecht. Die Einnahme solcher Plätze bedeutet die partielle Aufgabe singulärer Ansprüche, manche Aspekte der Besonderheit von Lehrern und Schülern müssen ausgeschlossen werden. Dies ist Trennung, Eingriff in die mitgebrachte Gestalt der Individualität; das öffnet, kann auch schmerzen und macht traurig. Ein Verständnis von Lehre, das Ganzheit oder alles will, kann verstanden werden als Vermeidung dessen, als Gewaltanwendung, als Misslingen und als Ausdruck eines Anspruchs, mit einem bestimmbaren und überprüfbaren Effekt zu arbeiten. Lust und Neugier Durch Lehren wird eine Tendenz zur Symbolisierung gefördert, ein Aufbrechen der individuellen Grenzen, einfach aus Lust an der Überschreitung
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des Gewohnten bis hin zur Ekstase, also im Sinne des über sich Hinausgehens. Dies sozialisiert, stellt eine Verbindung zwischen je individuellen Vorstellungen her, durch ein Bekanntmachen der Möglichkeiten und der Grenzen der Darstellbarkeit. Insofern wird Lehren eine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit. Implizit oder explizit zu lehren, ist eine der Bedingungen der Möglichkeit des Lebens in einer Gesellschaft. Lehren wäre so verstanden Vorsatz und bewusste Tätigkeit bei der Konstitution von Gesellschaft, deren Kitt und Produktionsbasis die Bildungen des Unbewussten sind. Nur über Lehren, das mit Begehren und Lust verbunden bleibt, kann eine arbeitsteilig differenzierte Gesellschaft existieren. Es ist notwendig, gerade für die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts in der Differenzierung der Gesellschaft, dass der je einzelne einen individuellen Weg finden können muss, weil anders die komplexe Struktur je einzigartiger Verbindungen nicht erreicht werden kann. Differenzen erzeugen Spannung, Spannung tendiert zur Entladung, Entladung, war sie lustvoll, drängt zur Wiederholung, Wiederholung hemmt den Trieb, dieser – wenn man denn so anthropomorph schreiben darf – drängt da heraus zu neuer Differenz, gleich Neugier. Der je Einzelne muss in relativer Freiheit und Autonomie einen Platz, der nicht seiner, im Sinne eines Eigentums, ist, seine Gestalt finden können. Gelingt das nicht, tritt an die Stelle der Funktion der intellektuellen wie praktischen Kritik eine metaphysisch begründete Autorität. Kritik ist nicht Ablehnung oder Verneinung, sondern die Öffnung eines leeren Platzes, eines Spannungszustandes zur Entscheidung, die den ethischen Einsatz des je Einzelnen provoziert und zu ermuntern hilft. Gleichheit Diese Rahmenbedingungen des Lehrens treten seit der Renaissance, definitiv seit der Reformation in Erscheinung. Seitan werden Didaktiken im Sinne der Überkreuzung von Besonderem und Allgemeinem entwickelt. Die moderne demokratische Gesellschaft lebt nur von der Unterstellung, dass die Menschen gleich seien, also – fiktiv – sich je voraussetzungslos erziehend erschaffen, ohne durch Vererbung, von Geburt her, durch Veranlagung, durch Begabung, durch Erwählung an einen bestimmten Platz gestellt zu sein. Jeder Platz in einer Gesellschaft muss prinzipiell auch von jemand anders eingenommen werden können, wenn er bestimmte Voraussetzungen
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erfüllt oder durch Wahl an den Platz gestellt wird. Dazu müssen in demokratischen Gesellschaften Voraussetzungen errungen werden. Lehren hat also mit dem Versuch zu tun, gleiche Chancen zur Verfügung zu stellen, Bestandsaufnahmen des Möglichen zu extrahieren und weiterzugeben. Lehren zielt zunächst und dann immer wieder auf spezialisiertem Niveau auf eine Verallgemeinerung, auf etwas, dass allen gemeinsam sein könnte, auch wenn es sich zunächst nur auf die Situation der gemeinsam erfahrenen Lehre reduziert. 4 Auch das Erleben gemeinsamer Erfahrungsräume schafft Gleichheit und dadurch differente Bezugsweisen auf dasselbe. Die Einzelnen sind so außer sich und darin dann vergleichbar. Macht Mit der Rede von der Bildung wird die Freiheit in der Gleichheit, bzw. aus der Gleichheit heraus, zur Differenz betont. Bildung »verzichtet« auf Funktionalisierung, auf die Ausrichtung auf einen Zweck. Dieser Verzicht stammt allerdings aus der Einsicht, dass eine Ab- oder Ausrichtung auf einen Zweck kaum ohne Gewalt und auch dann nicht zu erreichen wäre, weil entsprechende Gegenkräfte mobilisiert würden. Bildung setzt zwar auf Macht, sie macht etwas, es entsteht etwas, das sich dem steuerbaren Einfluss entzieht. Lehren ist dagegen ein anderes Moment des Prozesses auf der Grenze zwischen Macht und Gewalt, um den notwendigen und unverzichtbaren Einfluss auf die kommende Generation zu nehmen. Lehren zielt auf die Herstellung symbolischer Identität, wird von dieser angezogen, versucht, bestimmte, erwartbare, für alle am Lehrprozess Beteiligten in gleicher Weise zu realisierende Qualifikationen zu erreichen. Es operiert, psychoanalytisch gesprochen, mit der Installation eines Ich-Ideals und eines Über-Ichs, das dann unbewusst wirkt. Auf fassbarer Ebene wird das Ergebnis in einem Zeugnis bestätigt. Dieses Ergebnis stimmt aber zunächst nie überein mit der je individuellen Identität, der psychischen Identität und Realität des Individuums.
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Hierin ist wohl ein Ausgangspunkt für spätere Erzählungen aus der Schule zu sehen.
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Lehren als Effekt von Bildung Lehren scheint eine der Tätigkeiten zu sein, die geradezu die Kluft erzeugt, durch die Bildung möglich wird. Lehren arbeitet daran, eine Lücke zu schaffen. Sie produziert einen Unterschied zwischen dem, was der Adressat der Lehre unmittelbar ist, und dem, was er sein könnte, bzw. zwischen dem, was er kann und was er könnte. Lehre macht so aus »Natur« Kultur. Dieser Prozess ist das, was etwa bei Lacan mit symbolischer Kastration beschrieben ist. Lehren ist ein Effekt der Bildung, gegen deren Beunruhigung. Solche Spaltung in Natur und Kultur lässt eine Sehnsucht nach Identität erst entstehen, die auf den anderen verweist – vielleicht hat der ja, was mir fehlt? – und der Anerkennung durch den Anderen bedarf – vielleicht erkennt sie oder er mich, auch im biblischen Sinne. Lehren ist eine solche Form der Anerkennung, die einerseits vielleicht brauchbare Ergänzungen und Füllungen liefert, andererseits Kanäle für die zukünftige Ankunft möglicher Anerkennung einrichtet und die Vorstellungs- und Urteilskraft für symbolische Differenzierung anbietet. Lehre eröffnet, so verstanden, die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Dabei wird klar, dass es da um ein Selbst aus und in der Fremde geht. Das Individuum kann sich dann allerlei fragen: Warum ist es nicht mit sich identisch? Warum wird es als eines angesprochen, das sich selber nicht sicher ist, ob es ein Unteilbares sei? Eigentlich weiß es ja, dass es so nicht ist. Es erfährt sich als eine Maske tragend, durch die es anders angesprochen wird, als es sich selber wahrnimmt. Daraus kann das Motiv zur Forschung, zu weiterer Neugier entstehen, zu immer neuen Maskeraden, zur Suche nach Darstellungsformen. Aber es kann auch zur Aufgabe der Suche führen, zu einer Sehnsucht nach Identität, Selbstgleichheit, zum Kollaps der Neugierde, zur Dummheit, gerade dann, wenn eine definierbare Identität des Individuums gefordert wird und eine sichere Identifizierbarkeit dessen, was es wahrnimmt und gelernt hat. Lehren ist eine Form der Anerkennung der Neugierde, des Spaltes, des Fehlens der Ganzheit; es verspricht, Unkenntnis zu überwinden, Unfähigkeit in Potenz zu verwandeln. Es ist wie der »Vater«, notwendig versagend. Lehren ist das Dritte, was die Illusion einer Selbstbildung als Aktivität eines Robinson, eines Münchhausen oder eines Autisten durchkreuzt.
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Kämpferische Selbstbildung Wenn Humboldts Bildungsbegriff auf Selbstbildung zielte, dann war das historisch eine Formulierung, die auch kämpferischen Charakter hatte: Das Individuum sollte nicht mehr Material eines Formationsprozesses seitens derer sein, die zu wissen meinten, wie ein Individuum auszusehen habe, was es können müsse, was es dürfe, um ein brauchbares Mitglied eines Staates oder einer Kirche zu sein. Humboldts Theorien sind deutlich gekennzeichnet von einem Individualisierungsschub, der garantieren sollte, dass die Verantwortung für den Staat und im Staat auf mehrere Schultern verteilt würde, der entsprechend Ergebnis eines Diskussions- und Einigungsprozesses sein müsse. Es war auch die Einsicht in die fehlende Planbarkeit sehr differentieller Prozesse. Vielleicht muss es auch so verstanden werden: Als die Erlaubnis öffentlicher Selbstbildung, die vorher im Geheimen stattfand und abgespalten werden musste, jedenfalls von den meisten. Bildung ist nur insofern Selbstbildung, als sie aus der Perspektive eines kontrollierenden und evaluativen Blicks hinter der Rätselhaftigkeit und der Undurchschaubarkeit des Anderen sich abspielt, ohne transparent für eine messbare Bewertung zu sein. Dabei darf man das nicht dahingehend missverstehen, dass diese Bildung auf der individuellen Ebene intentional ablaufe. Sie erkennt sich erst durch den Anderen, etwa in der Schule, aber auch zeitlich und räumlich jenseits der Institutionen. Man könnte das als Fragen so formulieren: Was ist an mir so merkwürdig, so liebenswürdig, so interessant, so abstoßend, so sympathisch, so unerträglich, dass Du lehrend auf mich reagierst, dich einlässt, mir etwas sagen, raten oder beibringen willst? Warum, wie und wohin willst Du, dass ich mich verändere, wer bin ich jetzt für dich? In der Beantwortung dieser Fragen geschieht dann unter zur Hilfenahme des Gelernten Bildung (vgl. dazu Žižek 2008, 44ff) als unabschließbares Projekt. Unabschließbar, weil durch die Intransparenz des Anderen immer neue Differenzen auftauchen, wenn die Bilder nicht erstarren. Wenn ein erster Schritt mittels einer anfänglichen Unterstellung gelungen ist, dann kann ein Lehrprozess beginnen. Unterstellungen geben vorläufige Antworten auf offene Fragen. Es entstehen Gefälle, auf denen die bisher sortierenden Signifikanten ins Rutschen geraten können, auf beiden Seiten. Denn die Unterstellung wirkt nur, wenn sie von der Unterstellung gehalten wird, dass da jemand möglicherweise etwas für einen hat, ganz persönlich auch, das man selbst nicht hat – wie eine Wette. Das ist das, was
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man Eros nennt, eher die struppige Variante. Und durch diesen angeregt kann das Lernen eine Ausrichtung erhalten. Die Ausrichtung beginnt mit der Anerkennung in einer symbolischen Ordnung im allgemeinen, so wie ihrer Konkretion z.B. in der Schulklasse, die aktualisiert wird durch eine Ausweitung des bisher Formulierbaren. Sie wirkt dabei metaphorisierend, ein Signifikant wird zum Subjekt für den anderen. Signifikanten brauchen, dass man sich ihnen unterzieht, nicht einfach sich unterwirft. Die Identitäten als abgegrenzte gehen verloren, die Einbildungen schmelzen partiell ab und verändern sich. Symbolische Plätze Um diese dauernde und sich möglicherweise selbst verstärkende Oszillation, entstanden aus dem nicht Selbstverständlichen, zu einem erträglichen Halt zu bringen, werden symbolische Plätze notwendig, die einen Spielraum erzeugen für Besonderheit in allgemeiner Hülle. Solcher Art sind Lehrer Personen, die ihre Einzigartigkeit unter dem Schutz der Position zur Wirkung kommen lassen können. Eben dahin müssen auch Schüler geführt werden. Durch diese Hüllen werden Überschreitungen der individuellen Bornierung möglich. Lehren misslingt z.B. dann, wenn in Cliquen von Schülern, animiert durch Eltern, die Schule als Institution abgewertet oder durch die soziale Lage entwertet wird. Ohne die Spaltung durch die Einnahme symbolischer Plätze ist in der Schule nichts zu machen, es sei denn durch direkte Verführung. So kann man versuchen zu definieren: Lehren hat genuin mit der Einrichtung symbolischer Plätze und der Einführung in die symbolische(n) Ordnung(en) der jeweiligen Gesellschaft zu tun. Lehren spaltet alle daran Beteiligten. Die Bearbeitung dieser Spaltung ist eine Frage der Kultur der Institutionen, die mit Erziehung und Bildung befasst sind. Es lässt sich mit einigem Geschick dabei Gewalt vermeiden oder zumindest mildern. 5 Benjamin spricht davon, Gewalt durch List zu ersetzen.
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»In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. [...] Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist. Der histori-
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»Psychologie und Ethik sind die Pole, um die sich die bürgerliche Pädagogik gruppiert. Man soll nicht annehmen, sie stagniere. Es sind in ihr beflissene und bisweilen auch bedeutende Kräfte am Werk. Nur können sie nichts dawider, daß die Denkungsart des Bürgertums hier wie in allen Bereichen auf eine undialektische Weise gespalten und in sich zerrissen ist. Auf der einen Seite die Frage nach der Natur des Zöglings: Psychologie der Kindheit, des Jugendalters, auf der anderen das Erziehungsziel: der Vollmensch, der Staatsbürger. Die offizielle Pädagogik ist das Verfahren, diese beiden Momente – die abstrakte Naturanlage und das chimärische Ideal – einander anzupassen, und ihre Fortschritte liegen dabei in der Linie, zunehmend List an Stelle der Gewalt zu setzen«. (Benjamin 1972, S.206f)
Es entsteht ein Unbehagen in dieser Art von Kultivierung. Unbehagen erst wird Anlass zu weiterer Bildung. Und: Mit der List wandert auch über das Lehren die Täuschung ins pädagogische Verhältnis. Übertragung und Liebe in der Anstalt Es geschieht dabei möglicherweise etwas, das mit den bisherigen Mitteln der Beteiligten nicht formulierbar ist. Dies kann aus den beteiligten Personen entspringen oder durch den Gegenstand ausgelöst werden. Solche Bewegung ist zwar ein gewünschter Effekt, aber zuweilen wird dabei in einem oder mehreren der Beteiligten oder dem Gegenstand des Lehrens etwas »gesehen«, ein undefinierbares Etwas, das den einen oder anderen Beteiligten, vielleicht sogar alle in Anspruch nimmt, vielleicht sogar »Liebe« hervorruft, etwas, das nirgendwo festzumachen ist, vielleicht gar nicht existiert, nur ein Anlass für weitere Suche ist. Liebe ist traumhaft und so nicht weit vom Psychotischen weg. Der Traum hat den Vorteil, dass er nicht an die Motilität angeschlossene Imaginationen zulässt. Lehren findet in Anstalten statt, die vielleicht aus diesen Gründen von der Motilität einer direkten Einwirkung der umgebenden Gesellschaft partiell abgekoppelt sind, von deren Zwecken und Handlungsketten, vom Markt. Die Liebe im Wachen ist da nicht so abgesichert. Das ist verstörend. Von der Liebe weiß man in der Regel nicht genau, was sie hervorruft, we-
sche Materialist rückt daher nach Maßgabe des Möglichen von ihr ab. Er betrachtet es als seine Aufgabe, Geschichte gegen den Strich zu bürsten.« (Benjamin 1974, 253f)
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der an einem selbst, noch an einem anderen, außer dass es im ersten Moment wie ein Übergriff erscheint, grandios, eine Auflösung von Gewissheiten, die an der Einschätzung der individuellen Grenzen verankert waren. Abgeklärt kann man das mit der Psychose vergleichen. Im Extrem ist das eine Erlösung und ein Gewaltakt, eine Verunsicherung und eine Gewissheit. Das kann nur ausgehalten werden im Schutz begründender Rede, die auch die symbolischen Plätze wieder deutlich macht, den Platz des Lehrers und die Plätze der Schüler, die genau zur Erfahrung dieses anderen Zustandes zusammen gekommen sind, der nur möglich wurde dadurch, dass diese Positionen auch eingenommen wurden. Verantwortung Verantwortung kann nur von einem (symbolischen) Platz aus übernommen werden. Mit Žižek kann man das auch ein wenig dramatisch so formulieren: »Die Hauptfunktion der symbolischen Ordnung mit ihren Gesetzen und Pflichten besteht darin, unsere Koexistenz mit anderen minimal erträglich zu machen: Etwas Drittes muss zwischen mich und meinen Nächsten treten, damit unsere Beziehungen nicht in mörderischer Gewalt explodieren« (Žižek 2008, 66). Die mörderische Gewalt, von der hier die Rede ist, ist Effekt der nicht kulturell im Zwischenraum zwischen den Menschen gebundenen rivalisierenden Vergleichung, die sich in imaginarisierter Ganzheit, Geschlossenheit, Vollkommenheit anderswo oder am anderen zu zeigen scheint oder in einem Angriff von eben dort befürchtet wird. Sie kann sich auch äußern als Folter, Quälerei und Mord von und an Nebenmenschen, im Amoklauf. Es ist eine Auswirkung von Kultur oder eine glückliche Konstellation, wenn die Gewalt gezähmt werden kann. Lehren ist folgerichtig der Versuch einer kultivierenden Gesellschaft, imaginäre Ganzheiten zu öffnen und die Öffnung in Beziehungen zu stabilisieren, die für eine bestimmte Zeit an einem Ort etabliert werden. Lehren ist, und die Personen, die es ausüben, sind demnach selber aggressiv. Genau das darin steckende Risiko ist einer der großen Herausforderung des Lehrens. Kippen kann das Risiko des so verstandenen Lehrens zum Prügeln, zur Sexualisierung oder methodisch abgesichert, scheinbar effektiv zur Überprüfbarkeit von außen, zu einem gut gemanagten Unterricht, um zu simulieren, dass nichts Schlimmes passieren kann, friedlich, kontrolliert,
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kognitiv orientiert, neurodidaktisch abgesichert. Es passiert dann aber auch sonst wenig. Aufbruch der Individuen Das mit dem Lehren Intendierte, nicht unbedingt in seiner Erscheinung Sichtbare ist auch spannungsvoll zerrissen und zerreißend, aufreißend und braucht zumindest als Vorstellung die Mäßigung durch Übereinstimmung, Akzeptanz, Gemeinsamkeit, Dankbarkeit, Harmonie. In der psychoanalytischen Klinik, sowohl mit Schülern als auch mit Lehrern, weniger mit Studenten, ist zu erfahren, dass immer wieder Differenzen so bedrohlich wurden, dass die vermutlichen Verursacher oder Träger dieser Differenzen und der aus diesen sich ergebenden körperlichen und seelischen Spannungen physisch ganz, zeitweise oder partiell eliminiert werden mussten (Krankheit, Schwänzen, Schläge, Diskriminierung, Ausschluss, ...). In solchen Situationen versiegte der Zugang zu den vielfältigen Arten des Sprechens, der es ermöglicht hätte, Aufenthaltszeit und –raum zu haben, in denen dieses Gezerre hätte aus Spannung in Produktion umgewandelt werden können. Individuen, so wie wir sie unterstellen, sind kulturell diesen Spannungen, der Stückelung abgewonnene fiktive Einheiten, die etwa als Metaphorisierung ihrer äußeren Grenze, die Umschließung durch Haut einsetzen, ein anderes Mal einen persönlich mehr oder weniger groß definierten Umraum, den niemand ungefragt durchkreuzen sollte, jedenfalls nicht, ohne dass dafür ritualisiert eine Erlaubnis vorläge. Die Errungenschaften der Individualität und deren Autonomie sind verletzlich. Deshalb, so könnte man sich vorstellen, ziehen Lehrer sich zurück ins Moderieren und Beraten, machen sich gerne auch einmal überflüssig, weniger gegenständlich, ohne Ecken. Gegenwärtig scheint es verpönt und schwierig, leidenschaftlich zu sein, im liebenden wie im hassenden Sinn, im begeisterten wie im ablehnenden Modus, am besten weder für die Personen noch für die Sache. 6
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Die sensationslüsterne, moralisch natürlich auf der richtigen Seite befindliche Behandlung der tatsächlich skandalösen Missbrauchsgeschichten in Internaten, Schulen, Klöstern, Kirchen bilden die geeignete Begleitmusik zur sogenannten
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»Ist es nicht offensichtlich, dass etwas schrecklich Gewalttätiges darin liegt, einem anderen Menschen seine Leidenschaft für ihn offen zu zeigen? Leidenschaft verletzt per Definition sein Objekt, und selbst wenn der Empfänger sich glücklich zeigt, diese Position einzunehmen, kann er es trotzdem nie ohne ein Moment von Scheu und Überraschung tun« (Žižek 2008, 134).
Fügungen In der Psychoanalyse werden die Partikel, die zu einer solchen Einheit geworden sind, die ihre Rede im Sprechen vom Ich und als Ich finden, an den zusammengefügten Stellen untersucht. Analyse löst auf, zerlegt in Einzelteile. Die Voraussetzung dafür ist ein Übertragungsgeschehen. Das heißt, dass strukturell ähnliche interpersonelle Bezugnahmen immer wieder geschehen, die die Zusammenfügung der Teile ermöglicht haben. Es können dabei nicht alle Vorannahmen oder Voreinnahmen mit dem Gegenwärtigen zur Deckung gebracht werden. Hier und da steht etwas über oder füllt die Form nicht aus. Dass geahnt wird, dass auch andere Fügungen möglich wären, wird Chance und Bedrohung. Die Zusammenfügungen des Individuums entwickeln sich in Interaktion, man könnte auch sagen als Interaktion: »Psychiatrische Diagnosen und Nomenklatur, die auf einer äußeren Beobachtung beruhen, anders als medizinische Diagnosen, sind hauptsächlich Erfindungen, keine Entdeckungen. Es braucht nur eine Person für eine Lungenentzündung, es braucht aber zwei Personen für Paranoia: Das Vorurteil der einen Person kann zur Paranoia der anderen werden. Der Sinn von ›Symptom‹ liegt in der Interaktion« (Lothane 2009, 5).
Übertragung Mit dem Beginn des Lehrens als instruktiver Tätigkeit bildet sich auch zwischen dem Lehrer und den Schülern eine Beziehung, die eine Übertragung ist; das verändert mehr oder weniger lange und manchmal auch nur auf den
Professionalisierung des Lehrberufs als effizienten Managements mit einem Schuss Einfühlung sozialtechnologisch garniert.
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Ort des Zusammenseins beschränkt alle Beteiligten, und zwar durch den Austausch im Symbolischen. »In ihrem Wesen ist die wirkungsvolle Übertragung, um die es geht, ganz einfach ein Akt des Sprechens. Jedesmal, wenn ein Mensch zu einem anderen in authentischer und voller Weise spricht, gibt es Übertragung im eigentlichen Sinn, symbolische Übertragung – es geschieht etwas, das die Natur der beiden anwesenden Menschen verändert« (Lacan 1953/1978, 143).
Man kann sich nach der Qualität dieser Beziehung fragen: Ist Beziehung hier so zu verstehen, dass einfach noch etwas zwischen zwei abgeschlossenen Entitäten hinzukommt, das wie ein Seil oder ein Kanal zeitweise beide verbindet? Oder geht es um die Öffnung der Grenzen und eine zeitweise Konfusion, die neue Wünsche nach Abgrenzung, Anhänglichkeit, vielleicht Abhängigkeit, Zusammengehörigkeit, aber auch Abgrenzung, Isolation, Einsamkeit, Selbstbestimmung erzeugt, die entsprechend Ängste und Lüste beim Verlust von Konturen oder dem wieder auf sich Zurückgeworfensein erzeugen? Gruppe Fast immer findet Lehren in Gruppen statt. Die Gruppe kann als Öffnungs-, vielleicht auch als Eröffnungsraum des Individuums gesehen werden. Sie bietet vielleicht eine Zeit und einen Raum der Erholung von den Restriktionen des Individualismus, von der Anspannung der Abgrenzung. Sie eröffnet das Individuum in eine ungewohnte Zeit- und Raumdimension hinein. Es ergibt sich die Frage, wie man sich denn dann wieder als selbständiges Individuum zusammenraufen können wird. Freilich kann man dies auch gerade gegenteilig bewerten: Die Gruppe wird zur Bedrohung der Festung Individuum, zur Angst vor dem Über- und Eingriff. 7 Alle Beteiligten sind in der Gruppe auch außer sich, sind nicht nur Gestalter eines Prozesses, sondern werden durch diesen überindividuellen Prozess gestaltet. Der Prozess der Bildung bedeutet eine Öffnung, die zu einem Leck führt, zu einer anderen Füllung.
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Die Hauslehrersituation zu zweit oder dritt ist da nicht wesentlich anders .
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Übertragung ist nicht intentional zu veranstalten, sie geschieht und ist unbewusst. Sie ist bemerkbar an den Bildungen des Unbewussten, bedarf einer Deutung, einer Konstruktion oder eines Erratens (vgl. hierzu Rath 2008, 29-58). Gemeinsam ist dem Bilden im Lehren und der Übertragung beim Lehren das strukturale Merkmal, dass sie der Intentionalität nicht direkt zugänglich sind. Man verfügt eventuell über Erfahrungen, die man nachträglich etwa als Bildungsprozesse rekonstruieren kann, ähnlich ist es mit den Übertragungen. Sie sind vielleicht ein wenig näher der jeweiligen Präsenz, indem man bemerkt, dass man einem Übertragungsprozess ausgesetzt ist, aber analysiert ist er damit noch nicht. Vielleicht ist es gerade Lehrern ein Ärgernis, da sie es mit dem Wissen und dessen Vermittlung und der Haltung dabei zu tun haben, sich damit anzufreunden, was Freud in der Traumdeutung schreibt: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (Freud, 1900/1972, 580). Die Übertragung scheint genau diese Brücke zu sein, die das Psychische und das Reale der Außenwelt, das genau so unbekannt ist, verbindet. Es sitzt mitten im Lehrprozess eine Ungewissheit. Die Haltung zu dieser Ungewissheit ist wohl der mächtigste Erzieher und dann auch Bildner. Für und durch das Lehren wird eine Raumzeit geschaffen, die eine psychophysische Realität 8 schafft, die sich von anderen Realitäten unterscheidet, keineswegs unwirklich ist und so artifiziell wie die anderen. Thematisch ist dabei gerade die Möglichkeit der Umwandlung und des Transfers zwischen unterschiedlichen Zeiträumen.
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Das ist zu unterscheiden von einer Rede vom »psychophysischen Parallelismus«. Siehe hierzu den Exkurs zum Psychophysischen Parallelismus (Wegener2004, 162-169).
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L ITERATUR Benjamin, W. (1972): Gesammelte Schriften. Bd III. Kritiken und Rezensionen. .Frankfurt am Main. Benjamin, W. (1974): Über den Begriff der Geschichte. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Bd. I. Frankfurt am Main. Freud, S. (1900/1972): Die Traumdeutung. Studienausgabe II. 4.Auflage. Frankfurt am Main. Kirchhoff, B. (2010): Ich schämte mich glühend. Der Spiegel 15. März 2010. http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,683572,00.html (16.3.2010). Lacan, J. (1953/178): Freuds technische Schriften. Das Seminar von Jacques Lacan Buch I. Übers. v. Hamacher, W.. Olten/Freiburg. Lacan, J. (1998/2006): Das Seminar, Buch V. Die Bildungen des Unbewussten. Übers. v. Gondek, H.D. Wien. Lothane, H. (2009): Im Anfang war das Wort: oder gäbe es eine Psychoanalyse, wenn Freud ein Philosoph bzw. Soziologe geworden wäre?. http://www.bbpp.de/Zvi-Lothane.htm (03.08.09). Pazzini, K.J.(2010): Bildung von Gesellschaft als Bildung von Generationen. In: Liesner, A./Lohmann, I. (Hg.): Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung. Eine Einführung, 43-59. Rath, C.-D. (2008): Überraschung. Kritik der Weitergabe. In: Michels, A. u.a. (Hg.): Jahrbuch für klinische Psychoanalyse. Bd 8. Wie ist Psychoanalyse lehrbar? Tübingen, 29-58. Wegener, M. (2004): Neuronen und Neurosen. Der psychische Apparat bei Freud und Lacan. Ein historisch-theoretischer Versuch zu Freuds Entwurf von 1895. München. Žižek , S. (2008): Lacan. Eine Einführung. Frankfurt am Main.
Autorinnen und Autoren
Bergermann, Ulrike, Dr., geb. 1964, Prof. für Medienwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig • Arbeitsschwerpunkte: Medientheorie, Wissenschaftsforschung, medien- u. kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Globalisierung, Gender Studies • Publikationen: Das Planetarische. Kultur - Technik - Medien im postglobalen Zeitalter,̘ hg. mit Isabell Otto und Gabriele Schabacher, München 2010; Motive Heft 1 der Zeitschrift für Medienwissenschaft,̘ hg. von der Gesellschaft für Medienwissenschaft/Schwerpunktred.: zus. m. C. Pias, Berlin Okt. 2009; Programmatische Un-Orte: Comparative Media Studies, ̘in: J. Paech et al. (Hg.), Programm(e) der Medien. Erstes medienwissenschaftli-ches DFGSymposium, Berlin (im Druck). Coelen, Marcus, Dr., Prof. für Literaturwissenschaft an der LMUMünchen (Romanistik u. Komparatistik); Psychoanalytiker • Publikationen: Die Tyrannei des Partikularen. Lektüren Prousts, München, 2007; Hrsg: Die andere Urszene. Texte von Maurice Blanchot, Philippe LacoueLabarthe, Michael Turnheim et al.; Hrsg.: Maurice Blanchot, Das Neutrale. Texte und Fragmente zur Philosophie, Berlin/Zürich 2010. MitHerausgeber der Reihe »subjektile« im Diaphanes-Verlag, Berlin/Zürich. Mit-Gründer von »pli – Psychoanalyse nach Lacan in München / Hamburg / Berlin«. Dzierzbicka, Agnieszka, Dr., Prof. für Kunst- und Kulturpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Allgemeinen Erziehungswissenschaft am Institut für das künstlerische Lehramt, Akademie der bildenden Künste Wien • Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie und Erziehungsphilosophie
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mit besonderer Berücksichtigung der Themenkomplexe Differenz, Kultur und Macht • Publikationen: Pädagogisches Glossar der Gegenwart. Von Autonomie bis Zertifizierung, hg. mit A. Schirlbauer, Wien 2008; Vereinbaren statt anordnen. Neoliberale Gouvernementalität macht Schule, Wien 2006; In bester Gesellschaft. Einführung in philosophische Klassiker der Pädagogik, hg. mit J. Bakic und W. Horvath, Wien 2008; Herausgeberin der Reihe Arts & Culture & Education. Euler, Peter, Dr., geb. 1953, Prof. für Allgemeine Pädagogik mit dem Schwerpunkt Pädagogik der Natur- und Umweltwissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt • Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, Sozialgeschichte u. Philosophie der Bildung, Kritischer Bildungstheorie; Naturwissenschaftliche Bildung im kulturellen u. politischen Kontext; Bildung zur nachhaltigen Entwicklung • Publikationen: Pädagogik und Universalienstreit. Zur Bedeutung von F.I. Niethammers pädagogischer Streitschrift, Weinheim 1989; Nachdenken in Widersprüchen. Gernot Koneffkes Kritik bürgerlicher Pädagogik, hg. mit H. Bierbaum, K. Feld, A. Messerschmidt und O. Zitzelsberger, Wetzlar 2007; Heydorn lesen!, hg. mit C. Bünger, A. Gruschka und L.A. Pongratz, Paderborn 2009. Görnitz, Thomas, Dr., geb. 1943, von 1994 bis 2009 Prof. für Didaktik der Physik an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Erster deutscher Preisträger bei einer internationalen Mathematik-Olympiade, Studium (Physik und Mathematik), Promotion und Forschungstätigkeit in Leipzig, 1976 Stellung eines Ausreiseantrages, danach Tätigkeit als Totengräber und Friedhofsarbeiter, 1979 Übersiedlung mit der Familie nach München • Arbeitsschwerpunkte: Grundlagen der Quantentheorie und der Kosmologie, des Leib-Seele-Problems und der naturwissenschaftlichen Erklärung des Bewusstseins sowie philosophische und didaktische Fragen der modernen Naturwissenschaft • Publikationen: Carl Friedrich v. Weizsäcker, Freiburg i.B. 1992; Quanten sind anders, Heidelberg, 1999; gemeinsam mit Dr. Brigitte Görnitz: Der kreative Kosmos – Geist und Materie aus Quanteninformation, Heidelberg, 2002; Die Evolution des Geistigen – Quantenphysik, Bewusstsein, Religion, Göttingen 2008. Kokemohr, Rainer, Dr., geb. 1940, Prof. em. für Allgemeine Erziehungswissenschaft; Honorarprofessor der National ChengChi Universität Taipeh,
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Taiwan • Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Bildungsprozesstheorie; historisch-systematische Erziehungswissenschaft; Struktur und Dynamik von Lehr-Lern-Prozessen in verschiedenen Kulturen; interkulturelle Kooperation im Bereich der Lehrerausbildung; seit 1986 erziehungswissenschaftliche Feldforschung in Kamerun, dort Mitinitiator u. Wiss. Berater für den Aufbau einer Reformschule (ab 1991) u. eines Instituts wissenschaftlicher Lehrerbildung (ab 1999) • Publikationen: Zukunft als Bildungsproblem. Die Bildungsreflexion des jungen Nietzsche, Ratin-gen/Kastellaun/Düsseldorf 1973; Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden. Eine theoretischempirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie. In: Koller, H.Ch./Marotzki, W./Sanders, O. (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007; Entwicklungszusammenarbeit. In: Straub, J./Weidemann, A./Weidemann, D. (Hg.): Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz, Stuttgart/Weimar 2007 (mit K. H. Gabriel); Interpretation – Lektüre – Interkulturalität. In: Straub, J./Cappai, G./Shimada, Sh. (Hg.): Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse, Bielefeld (voraussichtlich 2010). Lehberger, Reiner, Dr., geb. 1948, Prof. für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, Leiter des Zentrums für Lehrerbildung Hamburg (ZLH) und Wiss. Leiter des Bucerius Lern-Werks der ZEIT-Stiftung • Arbeitsschwerpunkte: Schulpädagogik und Schulentwicklung, Lehrerbildung, Schul- und Unterrichtsgeschichte • Veröffentlichungen: Zahlreiche Beiträge und Bücher zu Schulpädagogik, -entwicklung und -geschichte, Didaktik, Unterricht, Lehrerbildung, zuletzt: Schüler fallen auf. Heterogene Lerngruppen in Schule und Unterricht, hg. U. Sandfuchs, Bad Heilbrunn 2008; Schule in Hamburg. Ein Führer durch Aufbau und Geschichte des Hamburger Schulwesens, Hamburg 2006; Lehrerbildung in der Entwicklung. Das Bachelor-Master-System: Modelle – Kritische Hinweise – Erfahrungen, hg. mit J. Bastian und J. Keuffer, Weinheim/Basel 2005. Siehe auch http://www2.erzwiss.uni-hamburg.de/personal/lehberger/lehberger.htm Lühmann, Hinrich, Dr., geb. 1944, Oberstudiendirektor i.R., Psychoanalytiker in eigener Praxis; Gründungsmitglied der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse, der Freud-Lacan-Gesellschaft und des Psychoanalytischen Kollegs; Übersetzungen von Schriften Lacans • Arbeits-
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schwerpunkte mit Veröffentlichungen: Zwangsneurose, Aggressivität, Psychoanalyse und Literatur, Psychoanalyse und Pädagogik. Meyer, Torsten, Dr., geb. 1965, Prof. für Kunst u. Ihre Didaktik an der Universität zu Köln • Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Medientheorie, Bildung im Neuen Medium, Globalisierung & Digitalisation, Lehren nach dem Ende des Durchblicks, medieninduzierte Wissenformationen und -formatierungen, Mediologie der Bildung • Publikationen: Interfaces, Medien Bildung, hg. mit M. Scheibel u.a., Bielefeld 2002; Bildung im Neuen Medium. Wissensformation und digitale Infrastruktur. Education Within a New Medium. Knowledge Formation and Digital Infrastructure, hg. mit A. Sabisch, Münster/New York/München/Berlin 2008; Kunst Pädagogik Forschung. Aktuelle Zugänge und Perspektiven, Bielefeld 2009; On the Database Principle: Knowledge and Delusion, in: Sonvilla-Weiß, S. (Hg.): Mashup Cultures, Wien/New York 2010. Näheres siehe www.medialogy.de Pazzini, Karl-Josef, Dr., Prof. für Bildende Kunst & Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, Psychoanalytiker in eigener Praxis; Mitbegründer der »Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse«, des »Psycho-analytischen Kollegs« u. des Jüdischen Salons im Grindel (Hamburg) • Arbeitsschwerpunkte und Publikationen: Mitherausgeber der Reihen »psychoanalyse« u. »Theorie Bilden« (transcript), »Kunstpädagogische Positionen« (Hamburg University Press), zus. mit M. Schuller u. M. Wimmer: Wahn-Wissen-Institution; in Arbeit: Bildung vor Bildern, Psychoanalyse & Lehren, Setting in der Psychoanalyse, Unschuldige Kinder. Siehe auch http://mms.uni-hamburg.de/blogs/pazzini Peters, Sibylle, Dr., Projektemacherin zwischen Kulturwissenschaft und Theater. Studium der Literaturwissenschaft und der Philosophie in Hamburg. Seit 1997 in Forschung und Lehre an den Universitäten in Hamburg, München, Wales, Basel und Berlin (FU) tätig. Derzeit Projektleitung in der Forschergruppe »Interactive Science« am ZMI Universität Gießen. Leitung des Forschungstheaters im FUNDUS THEATER Hamburg. Als Performerin und Regisseurin hat sie zahlreiche Projekte realisiert – u.a. mit der geheimagentur • Arbeitsschwerpunkte: Vortrag als Performance, der mediale Gebrauch der Zeit, kollektive Forschungsprozesse, Theatralität und Evidenz, Theorie des Unwahrscheinlichkeitsdrives • Publikationen: Szenen des
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Vorhangs – Schnittflächen der Künste, hg. mit G. Brandstetter, Freiburg 2008; Prognosen über Bewegungen, hg. mit G. Brandstetter und K. van Eikels, Berlin 2009. Sanders, Olaf, PD Dr., geb. 1967, unterrichtet Erziehungswissenschaft an der Universität zu Köln u. der Kölner Hochschule für Musik und Theater • Arbeitsschwerpunkte: Bildungsphilosophie mit Akzent auf neuerer französischer Philosophie, Filmbildung, Theorie populärer Kultur und radikale Schulkritik • Publikationen: Romantik, Zerstörung, Pop. Studien zu einer Theorie der Selbstbildung. Opladen 2000; Deleuze Pädagogiken. Eine Auslegung der Spätwerke Deleuzes und Deleuze/Guattaris (Veröffentlichung der Habilitationsschrift in Vorberetung); gemeinsam mit H.-Ch. Koller und W. Marotzki (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007. Schäfer, Alfred, Dr., geb. 1951, Prof. für Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg • Forschungsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Konstitutionsprobleme von Erziehungstheorien, Bildungsethnologie • Veröffentlichungen: Zahlreiche Aufsätze und Bücher, u.a.: Das Unsichtbare sehen, Münster u.a. 2004; Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit (Hrsg.), Paderborn u.a. 2007; Die Erfindung des Pädagogischen, Paderborn u.a. 2009. Schmidt, Tim, Dipl. Päd., Wissenschaftl. Mitarbeiter an der Universität Osnabrück • Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, Medientheorie und Psychoanalyse • Publikation: Angst – Augen – Blick (zus. mit T. TredeSchicker u. G. Wulftange). In: Koller, H.-Ch./Marotzki, W./Sanders, O. (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007. Schuller, Marianne, Dr., Prof. für Literaturwissenschaft, Em. an der Universität Hamburg; Prof. an der HafenCityUniversität Hamburg • Arbeitsschwerpunkte: Neuere Deutsche Literatur (18. Jahrhundert bis zur Gegenwart), Literatur und Wissen, Literatur und Wissenschaften (Medizin, Psychiatrie), Literatur und Psychoanalyse • Publikationen: Moderne. Verluste. Literarischer Prozeß und Wissen, Frankfurt am Main 1997; Mikrologien. Philosophische und literarische Studien zum Kleinen, zus. mit G. Schmidt,
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Bielefeld 2003; Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung, zus. mit Elisabeth Strowick, Freiburg i. Br. 2004; zahlreiche Beiträge zu einzelnen Autoren (u.a. Kleist, Kafka, Keller, Stifter, Else Lasker-Schüler) und Herausgeberschaften, zuletzt: Wissen/Nicht-Wissen, zus. mit H. Schmale und G. Ortmann, München 2009; Mitherausgeberin der Reihe Psychoanalyse im transcript Verlag. Vogt, Jürgen, Dr., Prof. für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Musikpädagogik an der Universität Hamburg • Arbeitsschwerpunkte: Musikpädagogische Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Systematische Musikpädagogik • Publikationen: Der klingende Kosmos. Studien zu den wissenschaftlichen und bildungsphilosophischen Grundlagen der Musikpädagogik bei Rudolf Steiner, Mainz 1995; Der schwankende Boden der Lebenswelt. Phänomenologische Musikpädagogik zwischen Handlungstheorie und Ästhetik, Würzburg 2001; zahlreiche Aufsätze und Herausgeberschaften, zuletzt: Inhalte des Musikunterrichts, zus. mit F. Heß und Chr. Rolle, Münster 2010. Weber, Jean-Marie, Dr., geb.1953, arbeitet als Lehrer u. Forscher in der Lehrerbildung an der Universität Luxemburg • Arbeitsschwerpunkte: Beziehung zwischen Psychoanalyse und Pädagogik, Entwicklung der Reflexivität und Analyse der eigenen Praxis als Lehrer, Supervision und Mentorat, Subjektiver Wissensbezug • Publikationen: Le projet de formation et développement des compétences, zus. mit G. Bentner, V. Jovanovic. In: transfert, Automne-hiver 2008; Soutenir un processus d’autonomisation de l’enseignant – stagiaire un enjeu d’ordre pratique, théorique et éthique. In Ch. Berg, L. Kerger, N. Meisch, M. Milmeister (S.L.D): Savoirs et engagements, Luxembourg: Scientiphic-Editions PHI 2009; Lernziele versus Kompetenzen? Zus. mit V. Jovanovic, Transfert, automne-hiver 2009; De la nécessité de l’observation dans la construction du savoir-faire de l’enseignant. Essai sur une approche intégrée. Transfert, automne-hiver 2009. Wimmer, Michael, Dr., geb. 1951, Prof. für Systematische Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg • Arbeitsschwerpunkte: Erziehungsund Bildungsphilosophie im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse; Differenzphilosophie und Erziehungswissenschaft; Psychoanaly-
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se, Medientheorie und Kulturwissenschaft; Ethik, Politik und Pädagogik • Publikationen: Der Andere und die Sprache. Vernunftkritik und Verantwortung, Berlin 1988; Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, zus. mit J. Masschelein, St. Augustin/Leuven 1996; Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik, Bielefeld 2006; zahlreiche Beiträge und Herausgeberschaften, zuletzt: Medien, Technik und Bildung, zus. mit R. Reichenbach und L. Pongratz, Paderborn u.a. 2009. Wulftange, Gereon, Dipl. Päd., geb. 1975, Promotionsstudent am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg • Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, Psychoanalyse, Interkulturelle Bildung • Publikationen: Angst – Augen – Blick, zus. mit T. Schmidt und T. Trede-Schicker. In: Koller, H.-Ch./Marotzki, W./Sanders, O. (Hg.): Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld 2007; Rezension: Inszenierung der Suche. Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung. In: Zeitschrift für qualitative Forschung (ZQF), Magdeburg 2008; Identität. In: Hedinger, J./Gossolt, M./Centre Pasque Art Biel/Bienne (Hg.): La réalité dépasse la fiction. Lexikon zur zeitgenössischen Kunst von Com&Com, Biel 2010.
Theorie Bilden Stefan Dierbach Jung – rechts – unpolitisch? Die Ausblendung des Politischen im Diskurs über Rechte Gewalt Juli 2010, 298 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1468-8
Peter Faulstich Vermittler wissenschaftlichen Wissens Biographien von Pionieren öffentlicher Wissenschaft 2008, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-878-0
Hans-Christoph Koller, Winfried Marotzki, Olaf Sanders (Hg.) Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-588-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Figurationen von Adoleszenz Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II 2009, 216 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1025-3
Jenny Lüders Ambivalente Selbstpraktiken Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs 2007, 280 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-599-4
Michael Wimmer Dekonstruktion und Erziehung Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik 2006, 420 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-469-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theorie Bilden Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem 2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-324-2
Stephanie Maxim Wissen und Geschlecht Zur Problematik der Reifizierung der Zweigeschlechtlichkeit in der feministischen Schulkritik 2009, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1030-7
Frank Elster Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung Zur (berufs-)pädagogischen Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit
Torsten Meyer, Andrea Sabisch (Hg.) Kunst Pädagogik Forschung Aktuelle Zugänge und Perspektiven
2007, 362 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-791-2
2009, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1058-1
Peter Faulstich (Hg.) Öffentliche Wissenschaft Neue Perspektiven der Vermittlung in der wissenschaftlichen Weiterbildung
Andrea Sabisch Inszenierung der Suche Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Entwurf einer wissenschaftskritischen Grafieforschung
2006, 196 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-455-3
Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze 2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9
Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Grenzgänge Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane 2005, 178 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-286-3
Andrea Liesner, Olaf Sanders (Hg.) Bildung der Universität Beiträge zum Reformdiskurs 2005, 164 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-316-7
2007, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-656-4
Bettina Suthues Umstrittene Zugehörigkeiten Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband 2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-489-8
Simone Tosana Bildungsgang, Habitus und Feld Eine Untersuchung zu den Statuspassagen Erwachsener mit Hauptschulabschluss am Abendgymnasium 2008, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-798-1
Katharina Willems Schulische Fachkulturen und Geschlecht Physik und Deutsch – natürliche Gegenpole? 2007, 314 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-688-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de