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German Pages 831 [832] Year 1995
Lehrbuch für Krankenpflege
Lehrbuch für Krankenpflege Ein prinzip- und praxisorientiertes Arbeitsbuch Herausgegeben von G. Münch und J. Reitz unter Mitarbeit von F. Assa-Schaeffer, U. Beloch, M.-A. Bernardy-Arbuz, C. Bischoff, M. Braun, A. Breit, D. Cory, J. Döhlinger, J. Dornheim, R. Eckermann, E. Edenhofner-Heidinger, H. Frericks, J. Gangolf, M. Giese, M. Göbel, N. Grundhöfer, U. Hamm, E. M. Heuberger, H. Kamrath, M. Kern, O. Kirschnick, N. Koch, R. König, E. Komp, Ch. Kracht, J. Kronauer, A. Löwe, R. Markward, D. Merz, H. Mücke, W. Müller, G. Münch, S. Peter, J. Reitz, I. Resch, M. Reuter, S. Rob, M. Rostenburg, F. Rüb, M.-A. Schaeffer-Maroldt, Ch. Schierwater, Th. Scholz-Raue, S. Schulz, B. Sommer, A. v. Stösser, D. Sürth, Y. Theisen, Ch. Theisen-Mertens, W. Weymar, G. Wies, H.-R Wischnat, I. Zeeh
w G DE
Walter de Gruyter Berlin · New York 1994
Herausgeber Gerhard Münch Leiter der Krankenpflegeschule Kreiskrankenhaus Bergstraße Viernheimer Str. 2 D-64646 Heppenheim
Die Deutsche Bibliothek
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Jacques Reitz Infirmier hospitalier gradué Ecole pour Paramédicaux Hôpital de la Ville B. P. 436 L-4005 Esch-sur-Alzette
CIP-Einheitsaufnahme
Lehrbuch für Krankenpflege : ein prinzip- und praxisorientiertes Arbeitsbuch / hrsg. von G. Münch und J. Reitz. Unter Mitarb. von F. Assa-Schaeffer ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 ISBN 3-11-013615-5 NE: Münch, Gerhard [Hrsg.]; Assa-Schaeffer, Fernande
© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen etc.) mit Autoren bzw. Herausgebern große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskripterstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, daß solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind. Satz: Arthur Collignon G m b H , Berlin. — Druck: Wagner G m b H , Nördlingen. Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin. Umschlagentwurf: Rudolf Hübler, Berlin. Printed in Germany.
Geleitwort
Liebe Benutzerinnen und Benutzer des Pflegelehrbuches, Sie halten jetzt ein Buch in Ihren Händen, welches Handlungskompetenz für die in der Praxis Tätigen vermittelt. Grundidee dieses Werkes ist die Überzeugung, d a ß Pflege eine Profession darstellt, deren theoretische Fundierung erst in der Umsetzbarkeit im Pflegealltag wertvoll wird, und somit bestand das Bestreben der Herausgeber darin, Handlungsleitsätze mit allgemeiner Gültigkeit zu erstellen. Das N o v u m dieses Lehrbuches besteht desweiteren in der durchgängigen Begründung und Nachvollziehbarkeit der beschriebenen Pflegehandlungen. Durch diese fachdidaktische Konzeption werden von den Herausgebern, den Autorinnen und Autoren konkrete Handlungen für spezifische Pflegesituationen erlernbar und als Schlüsselqualifikation auch die Anwendung von Transferwissen für spezifische Situationen in unterschiedlichen Pflegekontexten gefördert. Desweiteren wird durch die durchgängige Prinziporientierung der beschriebenen Handlungskompetenzen vermieden, daß „hausspezifische" Gegebenheiten, materielle Ausstattung sowie organisatorische Strukturen Barrieren bei der Umsetzung der Pflegehandlungen darstellen. Unabhängig von den Einsatzbereichen erhält das Buch — für die Krankenpflegeschülerinnen und -schüler als Lehrbuch und für die nichtmedizinischen Gesundheitsberufe als Nachschlagewerk — seinen besonderen Stellenwert. Wie spezifische Pflegeanforderungen in komplexen Situationen gezielt und professionell angegangen werden können, wird in der Darstellung einzelner Fallstudien im 3. Teil des Buches exemplarisch dargestellt. Es wird hierbei aufgezeigt, wie Pflegeprobleme schwerpunktmäßig erfaßt und analysiert werden und welche konkreten Handlungen daraus abzuleiten sind. Gleichzeitig wird demonstriert, wie die Pflegeplanung als Arbeitsinstrument zur Problemerfassung und deren Lösung auch ohne Anlehnung an eine bestimmte Pflegevorstellung umsetzbar ist. Dieser von den Herausgebern bewußt gewählte Weg ist legitim und widerspricht den Anforderungen an ein Lehr- und Lernbuch nicht, da Pflegehandlungen — wozu auch die Pflegeplanung zu rechnen ist — in sich begründbar und damit nachvollziehbar sein müssen. D a s vorliegende Lehrbuch vermittelt pflegerelevantes Fachwissen in Reinform. Somit zeichnet es sich durch seine Praxisorientierung aus und liefert den Schülerinnen und Schülern und Praktikern der nichtmedizinischen Berufe im Gesundheitswesen eine theoretische Hilfe beim Erwerb und Vertiefen professioneller Handlungskompetenzen in der Pflege. Esch-sur-Alzette Luxemburg September 1993
Alber tine Flammang Direktorin der Krankenpflegeschule
Vorwort Zunächst ergibt sich die Frage, warum ein neues Buch über Krankenpflege notwendig ist. Als Lehrer für Krankenpflege ist uns die Unzufriedenheit bei Kollegen und Schülern mit der gängigen Literatur aufgefallen. Aus Gesprächen mit Betroffenen und unserer eigenen Erfahrung heraus muß sich ein Lehrbuch für die Krankenpflegeausbildung an folgenden Kriterien messen lassen: • An erster Stelle soll es auf den Krankenpflegeschüler abgestimmt sein: Schülerorientiert bedeutet eine klare Sprache und ein leicht überschaubarer Aufbau. Der Inhalt berücksichtigt die besondere Situation in der Schule. Wesentliches herauszuarbeiten gehört hierher, Mut, Unwesentliches zu eliminieren ebenfalls. • Das Buch muß praxisorientiert sein, damit die Inhalte für den Schüler nicht zu „theoriebeladen" werden. • Weiterhin sollte das Buch prinziporientiert sein. Der Lerninhalt wird auf Grundprinzipien reduziert, was den zu erlernenden Stoff quantitativ verringert, den Schüler zum Mitdenken anregt und motiviert, da jedes Kapitel nur Unbekanntes enthält. Ein weiterer Vorteil liegt darin, daß der Lehrstoff unabhängig von hausspezifischen, materiellen, organisatorischen Voraussetzungen transferiert werden kann und wiederkehrende Auflistungen vermieden werden. • Selbstverständlich muß das Lehrbuch pflegerorientiert sein: Inhalt dieses Buches ist daher das Wissen, das der Pflege eigen ist, die Basis unserer täglichen Arbeit darstellt und uns von Unprofessionellen unterscheidet. Lerninhalte aus anderen Fachbereichen sind zugunsten unserer Zielstellungen entfallen. Um diesen speziellen Wissensgebieten gerecht zu werden, haben sich dankenswerterweise zahlreiche Experten zur Mitarbeit an diesem Buch motivieren lassen. Bewußt haben wir Autoren gewonnen, welche sich in den jeweiligen Spezialgebieten der Pflege eine große Kompetenz erworben haben und einen engen Kontakt zur Pflegepraxis herstellen. Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen Autoren für die Bereitschaft zur Mitarbeit und zur Aufnahme neuer Ideen und Denkweisen und den inspirierenden Gedankenaustausch bedanken. Ebenso danken wir allen Kolleginnen und Kollegen für zahlreiche kritische Hinweise sowie den Schülerinnen und Schülern, bei denen Unterrichtsinhalte erprobt und diskutiert wurden. Bedanken möchten wir uns bei dem Verlag Walter de Gruyter für die offene und hilfreiche Unterstützung, besonders bei Herrn Priv. Doz. Dr. med. R. Radke, Verlagsdirektor Medizin. Ein besonderer Dank geht an unsere Familien, vor allem an Karin und Petra, deren Geduld und Verständnis dieses Projekt erst ermöglicht haben.
VIII
Vorwort
Wir hoffen, mit diesem Lehrbuch Anregungen zur Diskussion in der Pflege geben zu können. Konstruktive Kritik aus den Reihen der Pflege, die wir uns wünschen, sind für uns Ansporn und Motivation zugleich. September 1993
Gerhard Münch Jacques Reitz
Inhalt
Geleitwort
V
Vorwort
VII
Einleitung
XV
I.
Pflegekompetenzen
1.
Patient
1.1
Patient und Krankenhaus Christoph Kracht
3
1.2
Rollen Verständnis des Patienten: Kranker, Patient, Klient? . . . . Achim Breit
7
2.
Grundvoraussetzungen der Pflege
2.1
Hygiene Wolfgang
12 Müller
2.2
Gesprächsführung Renate Markward
24
2.3
Besondere Gesprächssituationen Renate Markward
40
2.4
Umfassende und geplante Pflege Adelheid von Stesser
58
2.5
Krankenbeobachtung Susann Peter
98
2.6
Aufnahme, Verlegung, Entlassung Susan Schulz
3.
Grund Versorgung
3.1
L e b e n s - u n d Arbeitsbedingungen im K r a n k e n h a u s Norbert Grundhöfer
110
3.2
Körperpflege Susann Peter
130
102
X
Inhalt
3.3
Prothesen Jürgen Kronauer
148
3.4
Ernähren Martin Göbel
165
3.5
Ausscheidungen Jürgen Döhlinger
179
3.6
Mobilisation Yves Theisen
195
3.7
Lagerung Ulrike Hamm
215
3.8
Behinderungen
3.8.1
Blindheit und Sehbehinderungen Dennis Cory
228
3.8.2
Hörschädigungen Armin Löwe
236
3.8.3
Sprachstörungen Theresia Scholz-Raue
240
3.9
Prophylaxen: Allgemeines Gerhard Münch
248
3.9.1
Pneumonieprophylaxe Jürgen Döhlinger
249
3.9.2
Dekubitusprophylaxe Olaf Kirschnick
252
3.9.3
Kontrakturenprophylaxe Olaf Kirschnick
258
3.9.4
Thromboseprophylaxe Renate König
261
3.9.5
Soor- und Parotitisprophylaxe Gerhard Münch
265
3.9.6
Intertrigoprophylaxe Jürgen Kronauer, Gerhard Münch
270
3.9.7
Obstipationsprophylaxe Renate König
271
3.9.8
Diarrhoeprophylaxe Jürgen Kronauer, Gerhard Münch
274
Inhalt
XI
3.9.9
Infektionsprophylaxe Jürgen Kronauer, Gerhard Münch
275
3.9.10
Dehydrationsprophylaxe Jürgen Kronauer, Gerhard Münch
276
3.10
Ruhen und Schlafen Renate König
277
3.11
Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden Olaf Kirschnick
282
3.12
Schmerzen Maria Kern
294
3.13
Seelische Betreuung: Krankenpflege und Religion Elisabeth Edenhofner-Heidinger
299
3.14
Sexualität und Krankenpflege Nele Koch
311
3.15
Prävention, Beschäftigung, Rehabilitation Elisabeth Komp
316
3.16
Schwangerschaft und Geburt Eva-Maria Heuberger
323
4.
Pflege bei Diagnostik und Therapie
4.1
Parameterwerte
337
Dieter Sürth, Gerhard Münch 4.2
Diagnostische Maßnahmen
4.2.1
Radiologische Untersuchungen Jacques Reitz, Gerhard Münch
347
4.2.2
Endoskopische Untersuchungen Renate Eckermann
349
4.2.3
Punktionen und Biopsien Dieter Merz, Friedbert Rüb
353
4.3
Sonden, Katheter, Drainagen Uwe Beloch
372
4.4
Radiologie Dieter Sürth
396
4.5
Operative Eingriffe Jürgen Döhlinger
405
XII 4.6
Inhalt Verbände Gerhard Münch, Jacques Reitz, Monique
411 Reuter
4.7
Physikalische Maßnahmen: Wadenwickel zur Fiebersenkung . . . Jacques Reitz
426
4.8
Arzneimittel, Sauerstoff Fernande Assa-Schaeffer
427
4.9
Injektion, Infusion, Blutentnahme, Transfusion Jacques Reitz
442
II.
Krankenpflege in spezifischen Situationen
5.
Kardiologie Marie-Anne
477 Bernardy-Arbuz
6.
Hämatologie Renate Eckermann
487
7.
Pneumonologie Hans-Peter Wischnat
489
8.
Gastroenterologie Susann Peter
502
9.
Endokrinologie Gerhard Münch
535
10.
Urologie Olaf Kirschnick
546
11.
Gynäkologie Sonja Rob
553
12.
Neurologie Michael Rostenburg
558
13.
Otorhinolaryngologic (HNO) Julian Gangolf, Jacques Reitz
571
14.
Dermatologie Gaby Wies
576
15.
Ophthalmologie Julian Gangolf
581
16.
Onkologie Christiane
585
17. 18.
Theisen-Mertens
Orthopädie, Traumatologie Christa Schierwater, Brigitte Pädiatrie Inge Resch
600 Sommer 613
Inhalt 19. 20.
Geriatrie Marie-Anne
XIII 628
Schaeffer-Maroldt
Psychiatrie Hans Kamrath, Wolfgang
650 Weymar
21.
Anästhesie, Intensivpflege Manfred Braun
III.
Fallbeispiele Gerhard Münch, Jacques Reitz, Michael
669
683 Rostenburg
22.
Frau mit Endometriose, Op.-Vorbereitung
686
23.
Mann mit Polytrauma
690
24.
Geriatrische, multimorbide Patientin
695
25.
Frau mit frischem Myokardinfarkt
699
26.
Kleinkind mit Phimose und Pseudokrupp
704
IV.
Krankenpflegeberuf
27.
Zur Geschichte der Krankenpflege Teil 1—2: Renate Markward, Gerhard Münch. Teil 3: Ingrid Zeeh
709
28.
Krankenpflege als Frauenberuf Claudia Bischoff
732
29.
Krankenpflege heute Claudia Bischoff
739
30.
Krankenpflege und Ethik Hanns Frericks
753
31.
Arbeitsbedingungen in der Pflege Michael Giese
765
32.
Entwicklungstrends in der Krankenpflege
32.1
Theoretische Weiterentwicklung Jutta Dornheim
768
32.2
Praktische Weiterentwicklung
775
Helmar
Mücke
Literaturverzeichnis/weiterführende Literatur
783
Autoren Verzeichnis
791
Sachregister
795
Einleitung
Pflege findet in einem fest umschriebenen Rahmen statt, der nicht von der Pflege bestimmt wird, sondern durch gesetzliche Vorschriften, politische Ansprüche, soziokulturelle Anforderungen und wirtschaftliche Voraussetzungen festgelegt ist. Solche Rahmenbedingungen sind ζ. B. das Krankenpflegegesetz, die Abrechnungsmodalitäten der Sozialversicherungen, Tarifverträge und Arbeitsbedingungen, vorherrschende Kultur, krankenhausinterne Hierarchie, Stellenplanbesetzung, Patientengut u. a. Innerhalb dieser äußeren Rahmenbedingungen findet Pflege immer institutionalisiert statt. Dies kann intramural, ζ. B. in einem Krankenhaus, oder extramural, ζ. B. in einer Gemeinde, sein. Innerhalb der Institutionen sind drei Größen an der Pflege beteiligt: der Pflegende mit seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten; der Patient mit seinen Erwartungen und Hoffnungen und die Pflege mit ihrem Wissen und ihren Hilfsmitteln. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
XVI
Einleitung
Sie bilden in ihrer Mitte das Interaktions- oder Begegnungsfeld der Pflege. Durch eine solche Benennung wollen wir den interaktiven Charakter der Pflege hervorheben und darauf aufmerksam machen, daß der Erfolg der Pflege stark vom kommunikativen Aspekt abhängig ist. In diesem Begegnungs- oder Interaktionsfeld finden die Pflegehandlungen statt. Pflegehandlungen sind alle Tätigkeiten, die vom Pflegepersonal bei der Ausübung seines Berufes ausgeführt werden, sie können manueller oder mentaler Art sein. Da die drei Größen variabel sind, hat jede Pflegehandlung ihren individuellen Charakter. Somit ist eine Pflegehandlung nie ganz vorher berechenbar und kann von einer der drei Größen beeinflußt werden. Der Patient und der Pflegende sind als menschliche Individuen nicht getrennt von ihrer Umgebung zu betrachten. Sie bilden zusammen mit Ihrem sozialen Umfeld ein Ganzes. Ziel der Ausbildung muß es sein, den Pflegenden eine Handlungskompetenz zu vermitteln. Kompetent sein zur Ausführung einer Pflegehandlung bedeutet — die nötige Technik zur Ausführung zu beherrschen — ausreichende Kenntnisse vom Umfeld zu haben, um die Handlungsschritte verstehen und nachvollziehen, die Konsequenzen der Handlung abschätzen und das Geschehene analysieren zu können.
I. Pflegekompetenzen
1. Patient 1.1 Patient und Krankenhaus Christoph
Kracht
1.1.1 Krankenhaus als Dienstleistungseinrichtung Zur Verbesserung der Pflegesituation im Krankenhaus sollen sowohl die von der WHO veröffentlichten Einzelziele und die „Gesundheit 2000" als auch die im Krankenpflegegesetz von 1985 geforderten Pflegestandards beitragen. • Die WHO fordert effektive Verfahren für Qualitätssicherung in der Patientenversorgung. • Das Krankenpflegegesetz beschreibt Pflege in systematisch und geplanten Kategorien, die umfassend sowohl fach- wie auch sachkundig gewährleistet werden muß. Deshalb werden heute die Patienten nach Pflegekategorien eingeteilt, um die Pflegequalität beurteilbar zu machen. Der quantitative Leistungsnachweis behandelte lediglich die Patientenzahl nach Mitternachtsbestand.
Es geht darum, die Pflege als Dienstleistung erfaßbar zu machen, um bei Verhandlungen zwischen Krankenhaus und Krankenkasse den Schlüssel Patient — Personal zu rechtfertigen. Das Landeskrankenhausgesetz Berlin vom 1. Sept. 1986 beschreibt ein Krankenhaus im § 3 wie folgt: Krankenhäuser sind Einrichtungen, in denen durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistungen Krankheiten, Leiden oder Körperschäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden sollen oder Geburtshilfe geleistet wird und in denen die zu versorgenden Personen untergebracht und versorgt werden können.
Die Patienten haben bei einer Vielzahl von Trägern und Organisationsformen die Möglichkeit zwischen verschiedenen Versorgungsangeboten zu wählen und können so durch ihre Entscheidungen zu einem patientengerechten Krankenhausangebot beitragen. Ein Schlüssel zur Verbesserung in der stationären Versorgung liegt in der Verknüpfung des Krankenhausbereichs mit anderen Versorgungsformen sowie in der Schaffung neuer Einrichtungen. Das gilt sowohl für die Vernetzung von präventiver, kurativer und rehabilitativer Versorgung als auch für eine nahtlose Anbindung an soziale Versorgungseinrichtungen. Das Zusammenwirken von Selbsthilfegruppen, Nachsorgeeinrichtungen und Sozialstationen hat sich als sinnvoll erwiesen und findet eine hohe Akzeptanz bei den Patienten.
4
Patient
Einen Vergleich von Akutkrankenhäuser mehrerer Länder hinsichtlich Bettenauslastung, Pflegeschlüssel, Verweildauer u. a. liefert Tab. 1.1-1. 13,4 Mill. Patienten mit einer Verweildauer von durchschnittlich 16,2 Tagen erhellt die Bedeutung von Krankenhäusern für die Bevölkerung in Deutschland.
1.1.2 Patient im Krankenhaus Die Aufnahme in ein Krankenhaus erfolgt in der Regel nach diesen 4 Varianten: • • • •
Einweisung durch den Hausarzt mit Rettungsdienst als akuter Notfall bei Betriebsunfall über den Durchgangsarzt stationäre Wiedereinbestellung bei bestimmten Behandlungszyklen
Die individuelle Aufnahmesituation ist immer abhängig vom Aufnahmegrund. Bereits hier in der Aufnahmestation oder Ambulanz wird ein Erwartungsmuster an das Pflegepersonal entwickelt. Grundsatz: Jeder Patient, der zur Aufnahme in ein Krankenhaus kommt, befindet sich in einer für ihn mehr oder weniger gravierenden Ausnahmesituation, die gekennzeichnet ist durch Ängstlichkeit und Hilfslosigkeit. Gleichzeitig beginnt die Erwartung auf Besserung der krankheitsbedingten Einschränkung. • Pflegerische Kompetenz unter Berücksichtigung der Individualität des Patienten muß bereits hier einsetzen. Bereits bei der Aufnahme des Patienten muß die gewandelte Rolle des Kranken vom hilflosen, unmündigen, passiven Empfänger von Pflege- und Behandlungsmaßnahmen zum aufgeklärten mit in die Pflege einbezogenen Patienten deutlich werden — soweit es die Situation erlaubt. 1.1.2.1 Aufnahme Verständliche Information und Sprache (kein Fachchinesisch!) hilft von Anfang an Ängste und Mißtrauen abzubauen. Der Patient muß über das Krankenhaus, die Station und deren Einrichtungen vertraut gemacht werden wie • Bett- und Nachttischfunktion, Rufanlage und sanitäre Einrichtungen, • markante Stationsabläufe: Blutabnahme, Visiten, Diagnostik u. a., • öffentliche Einrichtungen des Hauses wie Kiosk, Friseur, Cafeteria, Bibliothek u. a.
Patient und Krankenhaus
5
Tab. 1.1-1: Ausgewählte Indikatoren der Versorgung in Akutkrankenhäusern im Jahr 1987 (Krankenhaustag 1991, Düsseldorf)
A Β BRD CDN CH DK F (1986) GB I NL S USA (1988)
Betten je 1000 Einw.
Auslastung in %
Personal je bei. Bett
Pflegepersonal je bei. Bett
Tage je Einw.
Verweildauer
6,88 5,48 7,94 4,96 6,48 5,18 5,57 2,70 6,40 4,57 4,17 3,85
87,4 80,7 86,4 79,2 80,3 80,3 78,6 85,6 70,6 75,2 78,6 65,3
1,58 1,73 1,61 3,61 2,43 3,46 2,72 2,90 2,10 2,67 4,50 5,17
0,65 1,00 0,64 1,82 0,99 1,57 1,49 1,77 0,94 1,32 2,88 1,52
2,20 1,61 2,50 1,43 1,90 1,52 1,60 0,84 1,65 1,25 1,20 0,92
11,5 11,2 13,8 10,5 14,1 7,7 8,3 7,4 10,0 12,0 7,1 7,2
Damit wird ein reibungsloser Stationsablauf gewährleistet und der Patient in seiner Persönlichkeit nicht noch zusätzlich eingeschränkt. Nach diesen Informationen soll die Pflegeanamnese erhoben werden. Die anamnestischen Daten müssen in die Pflegedokumentation einfließen und bilden eine Basis für die Pflegeplanung bzw. können bei Entlassung im ambulanten Pflegebereich ζ. B. in einer Sozialstation genutzt werden. Bei der Pflegeanamnese sollte auch eine Vorstellung der eigenen Person erfolgen, das kann ergänzt werden durch eine Visitenkarte der Station, in der sich die Mitarbeiter vorstellen und in der die hauptsächlichen Arbeitsgebiete beschrieben werden. Folgende Checkliste dient einer Informationssammlung, um den Patienten pflegerisch optimal zu betreuen: — — — — —
Überprüfen der Vitalzeichen und Beobachtung der Haut und Schleimhaut, Ernährungsgewohnheiten, Diät und Kontrolle der Ausscheidungen, Schlaf, Schmerzäußerungen, Mobilität und Körperhaltung, persönliche Orientierung und Bewußtseinslage, sprachliche Kommunikation, soziales Umfeld, religiöse Bindungen, finanzielle Absicherung, Kostenträger des Krankenhausaufenthaltes.
Lücken bei der Patientenübergabe an die entsprechenden Dienste (Früh-, Spätu. Nachtdienst) bzw. Informationsdefizite durch Personalwechsel werden durch eine derartige Checkliste aufgefangen. 1.1.2.2 Rechte und Pflichten Rechte und Pflichten von Patienten sind in der Regel in der Krankenhausordnung beschrieben, stationsbezogene Informationen gehen auf den individuellen Stationsbetrieb ein.
6
Patient
Nach dem Krankenhausausschuß ein Recht auf:
der EG von 1979 in Luxemburg hat der Patient
— Information, Selbstbestimmung und Beschwerde, — Behandlung und Pflege sowie Informationen über Risiken, — Schutz der Privatsphäre und Ausübung von Religion und weltanschaulicher Überzeugung, — Zustimmung und Widerruf bei Einbeziehung in Lehre und Forschung. Dieses „Rechtsvolumen" soll dem Patienten im Krankenhaus helfen, situationsbedingte Besonderheiten seines Aufenthaltes abzubauen. 1.1.2.3 G e f ä h r d u n g durch das K r a n k e n h a u s Die Situation „krank durch's Krankenhaus" erfährt noch zu häufig eine Bestätigung. Heilungsverläufe werden u.a. ungünstig beeinflußt durch — Verlassen der gewohnten Umgebung und Gefährdung der familiären Bindung, — Angst vor Unheilbarkeit oder Bösartigkeit einer Krankheit, — Verlust des Arbeitsplatzes und krankheitsbedingter Berufswechsel. Nichtbeachtung von Krankenhaushygiene und Mißachtung von Arbeitsschutzvorschriften führen zu Verlängerungen von Krankenhausaufenthalten. Eine gute Organisation von Arbeitsabläufen trägt immer dazu bei, die Verweildauer zu senken und so die Risiken und Nebenwirkungen der Institution „Krankenhaus" für den Patienten niedrig zu halten.
1.2 Rollenverständnis des Patienten: Kranker, Patient, Klient? Achim
Breit
Wie wird jemand zum „Kranken" und zum „Patienten" ? Welche Erwartungen richten sich an die Rolle des Kranken und Patienten? Was impliziert der Begriff „Patient" und was für mögliche Folgen könnten aus einer anderen Begriffsverwendung, ζ. B. „Klient" resultieren?
1.2.1 Krankheit und Kranke Die Legitimation „krank" zu sein, ist abhängig davon, wie eine Gesellschaft den Krankheitsbegriff interpretiert und welche Formen „abweichenden Verhaltens" zur Krankheit erklärt werden. Je nach Bezugssystem gibt es unterschiedliche Definitionen von Gesundheit und Krankheit: • juristisch: Krankheit ist ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand, dessen Eintritt entweder die Notwendigkeit der Heilbehandlung des Versicherten oder lediglich seine Arbeitsunfähigkeit oder beides zugleich zur Folge hat. • naturwissenschaftlich: Gesundheit ist „das geordnete Zusammenspiel normaler Funktionsabläufe und des normalen Stoffwechsels". Krankheiten sind demnach Dysfunktionalitäten und Abweichungen von der Norm. • soziologisch: Gesundheit ist ein Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung von Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist (T. Parson). • anthropologisch: Das Wesen des Krankseins ist eine Not und äußert sich als Bitte um Hilfe, ich nenne den krank ... in dem ich als Arzt die Not erkenne (V. v. Weizsäcker). • psychoanalytisch: Sigmund Freud bezeichnet Gesundheit als die Fähigkeit „lieben und arbeiten zu können". • Definition der WHO: Gesundheit ist allgemein der Zustand eines völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens, und das für jeden Menschen erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ist eines seiner Grundrechte. Die soziologische Interpretation entspricht den Vorstellungen einer Leistungsgesellschaft, die für ihre Erhaltung und Entwicklung funktionsfähige Mitglieder benötigt. Auf die noch nicht (Kinder) oder nicht mehr arbeitenden Bevölkerungsschichten trifft dieser Krankheitsbegriff nicht zu. Dies wird in der Unsicherheit deutlich, Menschen, die die Gesellschaft von ihren offiziellen Aufgaben entbunden hat, in diesen Krankheitsbegriff einzuordnen. Sie sind bei zunehmender Pflegeabhängigkeit „Alte" oder „Kranke" oder „alte Kranke".
8
Patient
Die Definition der WHO orientiert sich im wesentlichen an der psychologischen Kategorie des „Wohlbefindens". Dies erscheint auch unvollständig, da das „vollkommene Wohlbefinden" eine unrealistische, wenn nicht sogar eine utopische Zielvorstellung ist. Moderne Richtungen der Medizin haben die Definition der WHO aufgenommen und auf das Krankheitsverständnis übertragen. Danach hat jede Krankheit einen biologischen, psychischen und sozialen Anteil. • Dieses neue Krankheitsverständnis wird als „biopsychosoziales Modell" im Gegensatz zum traditionellen „biomedizinischen Modell" bezeichnet: Als „Kranker" ist also derjenige zu bezeichnen, der, bei entsprechender Symptomatik, von der Gesellschaft eine formelle Krankheitsanerkennung (biologisch, psychisch oder sozial) erhalten hat. 1.2.1.1
Krankenrolle
Verbunden mit dem Kranksein ist die Übernahme von Verhaltensmustern, die unter dem Begriff „Krankenrolle" definiert werden. Die Krankenrolle ist eine unfreiwillig übernommene Rolle, deren Ausübung meist befristet ist, wenn man von chronischen Erkrankungen mit Behinderungsfolgen und von den Personen absieht, die wegen des sekundären Krankheitsgewinns an dieser Rolle gern festhalten. Die Krankenrolle umfaßt alle Erwartungen, die an das Befinden und Verhalten einer kranken Person gestellt werden. Die konkreten Rollenerwartungen sind unterschiedlich streng und lassen sich in Muß-, Soll- und Kannerwartungen einteilen: • so muß sich ein Kranker bei einer ansteckenden Krankheit isolieren lassen, • er soll die ihm verordneten Medikamente nach den Anweisungen des Arztes einnehmen und • er kann sich bei einer Erkrankung einen Arzt selbst wählen. Die Krankenrolle variiert stark nach Art, Dauer und Intensität der Erkrankung und den damit verbundenen Beeinträchtigungen. Eine psychische Erkrankung (ζ. B. eine Neurose) ist mit anderen Erwartungen der sozialen Umwelt verbunden als ζ. B. ein Beinbruch nach einem Unfall.
1.2.2 Patient Ein Kranker wird zum Patienten, wenn er sich in ärztliche Behandlung begibt oder ärztliche Behandlung anstrebt. Dabei gilt noch die Unterscheidung, ob ein Kranker zu Hause gepflegt wird oder ob eine Einweisung in ein Krankenhaus erforderlich ist. Ein Kranker, der zu Hause betreut wird, erfährt zwar eine Umstellung seiner gewohnten Lebensweise, aber er behält einen Teil seiner alten Rollen, er ist ein
Rollenverständnis des Patienten: Kranker, Patient, Klient?
9
„kranker Vater", eine „kranke Mutter", eine „kranke Schwester". Seine Identität ist weitgehend gewahrt. Ein Kranker wird zum Krankenhauspatient, wenn • sein Gesundheitszustand so bedrohlich ist, daß Gefahr für sein Leben besteht und eine intensive Therapie und Überwachung durch medizinisch oder pflegerisch ausgebildetes Personal notwendig wird, • eine medizinische Behandlung bei Pflegeabhängigkeit durchgeführt werden muß, • diagnostische Maßnahmen und medizinische Therapie nicht in der Arztpraxis durchgeführt werden können. Kommt ein Kranker ins Krankenhaus, dann wird er „Patient", ein „Arbeitsobjekt" für die medizinisch-pflegerischen Berufsgruppen, die durch ihre berufliche Zielsetzung und die Zielsetzung der Institution diesem „Patienten" zur Gesundheit verhelfen sollen. Die Identitätsfrage stellt sich in der naturwissenschaftlich orientierten Pflege und Medizin nicht. Wichtig ist eine Diagnose, die therapeutisches Handeln ermöglicht. 1.2.2.1
Patientenrolle
Der Umstellungsprozeß auf die Patientenrolle ist umfassender als der auf die Krankenrolle. An den Patienten werden außer krankheitsbedingten Rollenverhalten, Anpassungen an Regeln der Institution und der betrieblichen Organisation gestellt: • mit dem Krankenhauseintritt hat sich der Patient der Hausordnung zu unterwerfen und die Anweisungen der Ärzte und Pflegepersonen zu befolgen. • der Patient muß die notwendigen Untersuchungen über sich ergehen lassen, ohne deren Sinn immer zu erkennen. Dabei werden die im Alltag gültigen Tabugrenzen aufgehoben. • seine Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Er muß sich während der meisten Zeit im Bett oder im Krankenzimmer aufhalten. • der Patient wird primär als Träger einer Krankheit aufgenommen. Dies setzt in vielen Fällen einen Prozeß der Depersonalisierung in Gang, eine Art von Entpersönlichung, die sich besonders auch in der Kliniksprache niederschlägt. Es wird ζ. B. in extremer Form nicht mehr von „Frau X in Zimmer 13" gesprochen sondern von der „Galle auf Zimmer 13".
1.2.3 Klient Der Begriff „Klient" kommt vom lat. „cliens" und bedeutet Schutzbefohlener. Im antiken Rom war ein „Klient" eine nicht rechtsfähige Person, für die ein Patron die Vertretung vor Gericht und den Schutz in der Öffentlichkeit übernahm. Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet Klient soviel wie „Auftraggeber", meistens gebräuchlich in der Beziehung zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten (Klienten).
Wird Krankenpflege als die Erbringung einer Dienstleistung betrachtet, die sowohl arbeits- als auch kostenintensiv ist, und die die Kranken nicht als „Arbeitsobjekt"
10
Patient
sondern als „Auftraggeber" ansieht, dann bedeutet die Verwendung des Begriffes „Patient" eine Herabsetzung der Kranken. Mit dem Begriff „Patient" verbinden sich alle Eigenschaften und Rollenerwartungen, die mit einer veränderten Auffassung von Krankenpflege nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. 1.2.3.1
Klientenrolle
Im Gegensatz zur Patientenrolle ist die Rolle eines Klienten die eines aktiven Partners. Dies bedeutet, daß der Klient im Mittelpunkt des Geschehens steht, und jederzeit ausführlich um seinen Gesundheitszustand und um das weitere Vorgehen informiert ist. Der Klient ist nicht mehr „Arbeitsobjekt" oder „Träger einer Krankheit", sondern ein Mensch, der zur Wiederherstellung seiner Gesundheit eine Dienstleistung (Medizin, Pflege) in Anspruch nimmt und den Anbietern dieser Dienstleistung dazu den Auftrag erteilt. Dies kann auch bedeuten, daß der Klient, wenn er sich nicht zu seiner Zufriedenheit gepflegt fühlt, den Pflegenden den Pflegeauftrag entzieht. Dazu ist es aber erforderlich, daß er genau über Art und Umfang der Dienstleistung, die ihm zusteht, Bescheid weiß. Dies wiederum bedeutet, daß Krankenpflege exakt definiert werden muß, damit die Dienstleistung für die Klienten ersichtlich, nachvollziehbar und somit überprüfbar ist.
1.2.4 Ausblick Die wachsende Kritik an der Institution Krankenhaus, der Einbruch in das rein naturwissenschaftliche Behandlungskonzept der Medizin durch die Erkenntnis von psychosozialen Zusammenhängen und ein neues Dienstverständnis der Pflegenden führen dazu, die Stellung der kranken Menschen im Krankenhaus neu zu definieren. Dazu ist es erforderlich, von alten Begriffen, die bestimmte Denk- und Handlungsweisen implizieren, Abschied zu nehmen. Die Verwendung des Begriffes „Klient" könnte ein Schritt in diese Richtung bedeuten. Die Vorstellungen, die mit dem Begriff „Klient" verknüpft werden, sind die Bereitschaft, • • • • • •
aktiv seine Pflegeabhängigkeit zu reduzieren, bei der Aufstellung seines Pflegeplanes mitzuarbeiten, seine Befindlichkeiten zu äußern, sich die notwendigen Informationen zu verschaffen, Belastungen (durch Organisation, Personal, Regeln) anzusprechen und sich als „mündiger" Mensch zu verhalten.
Rollenverständnis des Patienten: Kranker, Patient, Klient?
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Die Umwandlung des Patienten-Pflegeverhältnisses in ein Klienten-Pflegeverhältnis wird Zeit in Anspruch nehmen, da von allen Beteiligten ein Umdenken erforderlich ist. Es sind aber bereits positive Ansätze zu erkennen ( o f f e n e Besuchszeiten, späteres Wecken, Pflegeplanung, etc.), die eine veränderte Krankenrolle in näherer Zukunft wahrscheinlich machen werden.
2. Grundvoraussetzungen der Pflege 2.1 Hygiene Wolfgang
Müller
Die Hygiene spielt im Krankenhaus eine wesentliche Rolle bei der Qualitätssicherung. Krankenhausträger und alle -mitarbeiter müssen sich deshalb unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Gegebenheit mit dem Ziel identifizieren, ein Optimum an Hygiene zu erreichen. Wichtigste Voraussetzung hierfür ist die unbedingte Einhaltung und Beachtung der allgemeinen und tätigkeitsspezifischen Grundsätze (Hygiene-, Desinfektionsplan usw.). Dies setzt verstärktes hygienisches Bewußtsein voraus. Hierfür bedarf es gezielter Schulung im Rahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung wie auch beim praktischen Handeln vor Ort.
2.1.1 Historische Aspekte Die Anfänge der Hygiene lassen sich bis in die Zeit vor Christus zurückverfolgen. Hippokrates beschrieb bereits 460 v. Chr. die Wirkung von Umwelteinflüssen auf den Menschen. Galen (129 — 199 n.Chr.) schrieb über Hygiene als Krankheitsverhütung. Bereits 1240 führte Friedrich II. von Hohenstaufen auf Sizilien eine Medizinalordnung ein. Paracelsus (1530) schrieb folgenden Satz: „Alle Dinge sind Gift und nichts ohne Gift, allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist." Nachdem Semmelweis 1847 durch Händedesinfektion mit Chlorwasser drastisch die Infektionsrate „Kindbettfieber" senkte — er konnte beobachten, d a ß die Hebammen stets ihre Hände reinigten und bei ihren Wöchnerinnen eine deutlich geringere Infektionsrate bestand als vergleichsweise bei den durch Ärzte entbundenen Wöchnerinnen — und die damit verbundene Infektionskette unterbrach, wurde mehr als deutlich, daß die Hände bei der Übertragung von Wundinfektionen eine große Rolle spielten. Die Hygiene im Krankenhaus bekam Auftrieb: 1850 v. Pettenkofer : 1867 Lister: 1868 Hoffmann·. 1878 Koch: 1881 Gaffky, Löffler\ 1884 Gram: 1929 Fleming:
Mitbegründer der modernen Hygiene, Einführung der Antisepsis, Formaldehyd zur Desinfektion, Ätiologie der Wundinfektion, Dampfdesinfektion, selektive Bakterienfärbung (grampositiv, -negativ) Penizillin (1939 eingeführt).
Das Thema „Hygiene" hat im Verlauf der letzten 100 Jahre immer m e h r an Bedeutung gewonnen.
Hygiene
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2.1.2 Hygiene und Infektionen Einer der größten Erfolge war die Einführung der Antibiotika, die jedoch einen großen Nachteil zuungunsten der Hygiene mit sich brachte. Die Hygiene wurde vernachlässigt, die Folgen dieser Fehleinschätzung war die Heranzüchtung von antibiotikaresistenten Keimen, den sog. Problemkeimen im Krankenhaus. Dadurch hat sich das Erregerspektrum von Krankenhausinfektionen in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Zunehmend werden schwerste Infektionen von Keimen verursacht, die früher als apathogen (nicht krankmachend) galten. 2.1.2.1 Ursache von Infektionen Die Entstehung einer Infektionskrankheit hängt einerseits von der Anzahl der in den Organismus eingetretenen Mikroorganismen (Infektionsdosis), andererseits von der Abwehrlage des Organismus ab. Es gibt heute nahezu keine Keimart, die nicht in der Lage wäre, eine Infektionskrankheit zu verursachen. Während in den 70er Jahren grampositive Keime (Trocken- oder Staubkeime) den Hauptteil der Erreger für Krankenhausinfektionen darstellten, hat sich ein Erregerwechsel zu den gramnegativen Keimen eingestellt (Naß- oder Pfützkeime). Die häufigsten Keime sind: grampositiv: · Staphylococcus aureus, · Staphylococcus epidermidis, · Enterokokken, · Streptokokken, · Pneumokokken gramnegativ: · Escherichia coli, · Proteus, · Klebsiella, · Pseudomonas, · Enterobacter. 2.1.2.2
Infektionsepidemiologie
Unter Epidemiologie versteht man die Lehre über die Entstehung, Verbreitung oder Verteilung einer Krankheit in Raum und Zeit in der Bevölkerung. Der menschliche Organismus steht in ständiger Wechselwirkung mit den ihn umgebenden Mikroorganismen. Seine Oberfläche, Haut und Schleimhäute, sind jeweils mit einer für den entsprechenden Körperteil typischen Mikroflora besiedelt: ζ. B. Haut-, Mund-, Darm-, Vaginalflora (Tab. 2.1-1). 2.1.2.3
Schutzkleidung
Das äußere Erscheinungsbild des Pflegepersonals wird zum größten Teil durch die Unfallverhütungsvorschriften und die Richtlinien des Bundesgesundheitsamtes (BGA) sowie durch eventuelle Dienstanweisungen des jeweiligen Arbeitgebers geprägt. Die Unfallverhütungsvorschriften schreiben das Tragen von Arbeits- bzw. Schutzkleidung vor. Unter Arbeitskleidung versteht man i. a. die weiße Kleidung. Sie muß zwei- bis dreimal wöchentlich, ggf. auch täglich gewechselt werden.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Tab. 2.1-1: Mikrobielle Besiedelung des gesunden Menschen: Auswahl von häufigen Bakterien der einzelnen Mikrobiotope (nach Brandis und Otto) Bakterien
Haut
Auge/ Ohr
Mundhöhle
Magen/ Darm
Staphylokokken Streptococcus faecalis Streptococcus pneumoniae vergrünend wachsende Streptokokken Clostridien aerobe Sporenbildner Haemophilus! Moraxella Enterobakterien Bacteroides Pseudomonas Vibrionen Aktinomyceten Spirochäten Mycoplasmen Trichomonaden
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Respir.Trakt
Genitaltrakt
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Die Schutzkleidung ist bereichsgebunden und muß beim Betreten und Verlassen einer Abteilung gewechselt werden. Schutzkleidung wird in Bereichen mit einem erhöhten Infektionsrisiko, z. B. OP, Anästhesieabteilung, Intensivstation, Früh- und Neugeborenenabteilung, Dialysestation usw., getragen.
Sie unterscheidet sich durch farbliche Kennzeichnung (blau, grün, gelb) von der üblichen Arbeitskleidung. Schutzkleidung ist täglich zu wechseln, ggf. bei Kontamination mit Sekreten oder sonstigen keimhaltigen Verschmutzungen sofort. Seit Jahren hat auch die Mode im Krankenhaus ihren Markt entdeckt! Weiße Jogginghose und Baumwoll-T-Shirt privater Herkunft, farbige Blusen oder Hemden können meist nicht über 60° C gewaschen werden und sind somit für den Kontakt mit Patienten ungeeignet.
Bei der Auswahl des Schuhwerkes im Krankenhaus müssen zwei Aspekte beachtet werden. In den Schuhen, Sandalen oder Pantoletten werden Stunden verbracht. Deshalb ist auf ein gutes Fußbett mit der dazugehörigen Stützt- und Führungsfunktion zu achten. Weiterhin muß das Schuhwerk leicht zu reinigen und zu desinfizieren sein. Die Farbe spielt hierbei eine untergeordnete Rolle. Sogar das „Äußere" bestimmt die Unfallverhütungsvorschriften mit. In allen Bereichen mit einem erhöhten Infektionsrisiko dürfen an Händen und Unterarmen keine Schmuckstücke, Uhren und Eheringe getragen werden. Neben Kleidung und Schmuck darf natürlich die persönliche Pflege nicht fehlen. Fingernägel müssen kurz geschnitten und unlackiert sein, da hier eine Verletzungsgefahr für Patient und Pflegepersonal besteht.
Hygiene
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Im Nagellack entstehen für das menschliche Auge nicht sichtbare Risse, in denen sich Bakterien festsetzen und bei der normalen Händedesinfektion nicht abgetötet werden. Ebenfalls werden bei zu langen Fingernägeln die Bakterien unter den Nagelrändern bei der Händedesinfektion nicht erreicht.
Lange Haare müssen bei Arbeitsbeginn hinten zusammengebunden werden. 2.1.2.4 Infektionsrisiken u n d -wege Bei einer „Infektion" handelt es sich immer um das Übertragen, Haftenbleiben und Eindringen von Mikroorganismen (Viren, Bakterien u. a.) in den Organismus und ihre Vermehrung. Eine Infektionskrankheit liegt erst dann vor, wenn klinische Symptome und laborchemische Veränderungen nachweisbar sind. Man unterscheidet zwischen • ex- und endogener, · lokaler und · allgemeiner Infektion, • zyklischer und systemischer Infektion und Sepsis Das Pflegepersonal im Krankenhaus wird in ganz besonderem Maße mit dieser Problematik konfrontiert, da es in besonders engem Kontakt zum Patienten steht. Patient, Pflegeperson und Arzt können zur Infektionsquelle, zum Überträger und zum infizierten Individuum werden: Voraussetzung für die Infektionskrankheit ist eine ununterbrochene Infektionskette.
2.1.2.5 Infektiöser Hospitalismus Auch für die Übertragung und Verbreitung einer nosokomialen Infektion (eine durch Mikroorganismen hervorgerufene Infektion, die in kausalem Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt steht, unabhängig davon, ob Krankheitssymptome bestehen oder nicht) gilt die Voraussetzung der kompletten Infektionskette. Gelingt es, die Infektionskette zu unterbrechen, kann eine Krankenhausinfektion verhindert werden. In den letzten Jahrzehnten hat das Infektionsrisiko in den Krankenhäusern deutlich zugenommen. Ursache hierfür sind: • die Zunahme stationärer Patienten mit geschwächter körpereigener Infektabwehr (ζ. B. Patienten mit Mehrfacherkrankungen), • die Zunahme komplizierter, zeitaufwendiger und schwieriger Operationen, • die vermehrte Anwendung komplizierter apparativer und invasiver Maßnahmen in nicht operativen Bereichen (Katheterismus, künstliche Beatmung, Endoskopien, Hämodialyse usw.),
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Tab. 2.1-2: Abgrenzung von Bereichen unterschiedlichen Infektionsrisikos (nach K. O. Gundermann) Asepsis A
Β
C
D
Besonders hohe Anforderungen an die Keimarmut
Hohe Anforderungen an die Keimarmut
Im Krankenhaus normale Anforderungen an die Keimarmut
Bereiche mit erhöhter Gefahr der Freisetzung pathogener Keime
ζ. B. Operations- und Intensivabteilung für Transplantationen, Herzoperationen, Schwerverbrannte u. ä.
ζ. B. allgemeine OPAbteilung, Entbindungs-Abteilung, Intensivstationen
normale Bettenbereiche
Infektionsabteilung, septische Stationen
Gefahren der Keimverschleppung Erforderliche Richtung der Luftströmung
• therapeutische Maßnahmen, die die körpereigene Abwehr herabsetzen (Hormon- und Zytostatikabehandlung usw.), • die qualitative und quantitative Veränderung des Spektrums an Infektionskrankheiten (HIV, Tbc, Legionellose, Hepatitis usw.). Geht man davon aus, daß ein Drittel aller Kreuzinfektionen als vermeidbar anzusehen sind, so wird deutlich, welche Bedeutung dem Pflegepersonal bei der Senkung der Infektionsrate zukommt. Das Pflegepersonal sowie alle anderen Mitarbeiter (Ärzte, Auszubildende, Praktikanten usw.) sind potentielle Träger und Überträger krankmachender Mikroorganismen und somit ein wichtiges Glied in der Infektionskette, die es zu unterbrechen gilt. Die Krankenhaushygiene betrifft nicht nur das einzelne Individuum, sondern ebenso alle Therapiebereiche, die in besondere Risikobereiche aufgeteilt werden können. Hierbei handelt es sich um Funktionseinheiten mit einem erhöhten Infektionsrisiko, an die besonders hohe Anforderungen an die Keimarmut gestellt werden (Tab. 2.1-2). Für jeden Patienten im Krankenhaus besteht ein grundsätzliches Infektionsrisiko. Besonders gefährdet sind die sog. Risikopatienten. Bei diesen ist die lokale oder allgemeine Infektionsabwehr eingeschränkt. Ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht bei: • Frühgeborenen und alten Menschen, • Grunderkrankungen wie: Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Verbrennungen, allgemein geschwächte Patienten, Polytraumen usw., • Behandlungen mit Zytostatika, Kortikoide, Intubation, Dauer-, Cystofixkatheter und Bestrahlung, bei Endoskopie, Polytrauma,
Hygiene
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Harnwegsinfektion 38,2%
Wundinfektionen 22,1%
S e p s i s 1,7% Venen-Katheterinf. 2,8% y /
Virusinfektionen 2,9% Fieber unbek. U r s a c h e 3,6%
Inf. obere A t e m w e g e 3,7% sonstige Infektionen 4,2%
Inf. untere A t e m w e g e 15%
Inf. Intestinaltrakt 5,8% A b b . 2.1-1: H ä u f i g k e i t d e r n o s o k o m i a l e n I n f e k t i o n e n
• einer operativ bedingten Anämie, längerer Operationsdauer, Verwendung medizinisch-technischer Geräte, • nichtinfektiösem Hospitalismus. Nach einer Studie der deutschen Krankenhausgesellschaft weisen Herz-KreislaufKrankheiten den häufigsten Risikofaktor auf (20% der untersuchten Fälle). Zweithäufigster Risikofaktor ist der Diabetes mellitus. Die häufigsten nosokomialen Infektionen gehen aus Abb. 2.1-1 hervor. Die vorgelegten Daten verdeutlichen die Notwendigkeit, den Hygieneaufwand zu erhöhen und vor allem sicherzustellen, daß alle im Krankenhaus Tätigen der Hygiene größte Aufmerksamkeit schenken und die geltenden Hygienevorschriften konsequent befolgt werden. Am häufigsten (90%) entsteht die nosokomiale Infektion durch Kontakt (Schmierinfektion). Generell bestehen folgende Übertragungsmöglichkeiten: • direkter Kontakt mit der Infektionsquelle als „Kreuzinfektion" (Patient, Besucher, Personal), • direkte Übertragung durch eine Kontaminationsquelle (medizinisches Instrumentarium, Infusionen) • indirekte Übertragung über eine Kontaminationsquelle (kein unmittelbarer Kontakt zum Patienten) Nosokomiale aerogene Infektionen stellen einen eher seltenen Übertragungsweg dar (10% der nosokomialen Infektionen). Eine Übertragung kann direkt aus der Zugluft kommen (Klimaanlage) oder aber durch Tröpfcheninfektion.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
• Nosokamiale alimentäre Infektion. Für die alimentäre Infektion ist die Eintrittspforte der Mund. Bei der Verbreitung dieser Infektionen stehen die Nahrung und das Trinkwasser im Vordergrund, bedingt durch schlechte hygienische Verhältnisse in der Krankenhausküche bzw. beim Transport der Speisen. • nosokomiale transmissive Infektion. Dieser Übertragungsweg spielt nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn bei Fliegen und Kakerlaken krankenhausspezifische Problemkeime nachgewiesen werden konnten. • Kontaminationsquellen (Keimreservoir). Es kann sich um eine direkte (z. B. Infusionsflaschen) oder eine indirekte (z. B. Beatmungsgerät, Vernebier, Luftbefeuchter) Übertragung handeln. Übertragen werden vorwiegend „Naßkeime". Übertragungen auf indirektem Wege vom Fußboden, Waschbeckenausläufen und Putzutensilien sind Ausnahmen.
2.1.2.6 Nicht infektiöser Hospitalismus Voraussetzung für das Wohlbefinden der Patienten im Krankenhaus ist ein persönlicher, menschlicher Kontakt zwischen Pflegepersonal bzw. Arzt und Patienten. Aus der „Einlieferung" in ein Krankenhaus können psycho-soziale Reaktionen erwachsen, die den erwünschten Heilungsverlauf, die Infektabwehr, beeinträchtigen können. Als nicht infektiöser oder psychischer Hospitalismus werden Schädigungen bezeichnet, die durch das Krankenhausmilieu, die fehlende effektive Zuwendung entstehen. Dies trifft ganz besonders auf den alten Menschen zu. 2.1.2.7 Allgemeine Maßnahmen der Infektionsverhütung Der Infektionsprophylaxe dienen: • regelmäßige Hygieneschulungen für das Pflegepersonal entsprechend ihrer Tätigkeit, • Kontrollen durch den internen oder externen Krankenhaushygieniker unter Einbeziehung der Hygienefachkraft, • regelmäßige Überprüfung potentieller Infektionsquellen (Endoskopie, Instrumente usw.), • Durchführung invasiver Eingriffe (Katheterismus, Endoskopien, Punktionen, Biopsien, chirurgische Eingriffe, Implantationen usw.) an Patienten unter strikter Einhaltung festgelegter hygienischer Regeln, • Ver- und Entsorgung unter strikter Beachtung der geltenden allgemeinen und speziellen Hygienevorschriften, • prospektive und retrospektive Infektionserfassung, • zeitnahe Feststellung einer ungewöhnlichen Häufung von Infektionen, • gezielte Suche nach Infektionsquellen bei Patienten, Personal und Umfeld.
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2.1.2.8 Allgemeine Maßnahmen der Infektionsbekämpfung • Zusätzliche Schutzbekleidung. Die Notwendigkeit einer zusätzlichen Schutzbekleidung richtet sich nach Art und Umfang der pflegerischen Maßnahmen an den Patienten. Es ist darauf zu achten, daß beim Umgang mit Stuhl, Urin und anderen keimbehafteten Ausscheidungen zusätzlich Schürzen oder Überziehkittel und Handschuhe getragen werden. • Hygienische Händedesinfektion. Ziel jeder hygienischen Händedesinfektion ist die fortlaufende Reduktion von Kontaktkeimen. Vor und nach jeder Tätigkeit am Patienten muß eine sorggfältige hygienische Händedesinfektion durchgeführt werden: Aus den in jedem Raum installierten Spendern werden 3 — 5 ml (eine Hohlhand) eines alkoholischen Händedesinfektionsmittels entnommen und bis zum Eintrocknen (mindestens 30 Sekunden) verrieben. Besondere Sorgfalt ist auf die Desinfektion der Fingerkuppen und des Nagelfalzes zu verwenden. • Kontaminierte Hände. Wurden die Hände sichtbar oder merklich mit Ausscheidungen (Eiter, Sputum, Stuhl, Urin o. ä.) kontaminiert, sollte zunächst mit einem mit Desinfektionsmittel getränktem Einmaltuch abgewischt werden. Mit einem Papierhandtuch (verhindert eine Kontamination) kann nun der Wasserhahn aufgedreht werden zum Hände waschen (Waschlotion aus einem Spender). Danach folgt eine Händedesinfektion. (Prinzip: erst reinigen dann desinfizieren.) Tendenziell scheint feststellbar, daß die Hände bei allgemeiner Verunreinigung nur gewaschen werden. Lediglich vor bestimmten Maßnahmen erfolgt eine hygienische Händedesinfektion. • „Waschmittel". Heute verwendet man anstelle herkömmlicher Stückseifen, die Nährböden für Keime darstellen, Waschlotion aus einem Spender. Waschlotionen bewirken eine mechanische Keimverminderung, sie besitzen keine antibakterielle Wirkung. Zum Abtrocknen dürfen nur Einmalhandtücher verwendet werden. Hautunverträglichkeiten durch Desinfektionsmittel kann durch Pflegelotion vorgebeugt werden.
Es ist ratsam, bei der Durchführung pflegerischer Maßnahmen, die die Gefahr einer Kontamination mit keimbehafteten Ausscheidungen bergen, Handschuhe zu tragen. Mit dieser Maßnahme wird ein zu häufiges Händewaschen und die damit verbundene Entfettung der Haut sowie die Entstehung von Hautrissen (Rhagaden) vermieden. 2.1.2.9 Spezielle Maßnahmen der Infektionsbekämpfung • bei Inhalationstherapie. Die Verneblertöpfe müssen sterilisiert sein und sind vor jedem Gebrauch mit sterilem destilliertem Wasser zu füllen. Nach Gebrauch sind die Verneblertöpfe aufzubereiten. Es dürfen nur desinfizierte Ansatzstücke (speziell: Mundstücke) und Schlauchsysteme verwendet werden.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
• Hautdesinfektion vor Injektionen. Das Bundesgesundheitsamt (BGA) schreibt vor jedem Eingriff eine Hautdesinfektion vor. Nach § 823 BGB stellt die Unterlassung eine fahrlässige Körperverletzung dar. Algorithmus: — Einsprühen des Hautareals mit einem alkoholischen Hautdesinfektionsmittel mittels einer Pumpheberflasche (nicht nachwischen !), — Abwarten der notwendigen Einwirkzeit (mindestens 30 Sekunden) und injizieren, — nach dem Herausziehen der Kanüle können zum Abtupfen von austretendem Blut industriesterile Zellstofftupfer verwendet werden. • Schleimhautdesinfektion. Algorithmus: — Aufbringen des Schleimhautdesinfektionsmittels mit sterilem Tupfer oder Kompresse, — Einwirkzeit 5 min. • präoperative Hautdesinfektion. Die Haut ist vor der Desinfektion gründlich zu reinigen. Die Desinfektion ist mindestens zweimal durchzuführen und jeweils die Einwirkzeit einzuhalten. 2.1.2.10 Instrumente und Lagerung von Sterilgut Instrumente dürfen erst unmittelbar vor Benutzung der bis dahin geschlossenen keimdichten Verpackung entnommen werden. Nicht gebrauchte Instrumente in einer geöffneten Verpackung dürfen erst nach Wiederverpackung und erneuter Sterilisation verwendet werden. Instrumente im allgemeinen Pflegebereich werden einzeln verpackt. Für den speziellen Gebrauch — ζ. B. in der Chirurgie, um Fäden zu ziehen — können eine Schere und eine Pinzette als Set verpackt werden. Lagerung von Sterilgut. Grundsätzlich soll Sterilgut an einem trockenen, möglichst staubarmen Ort gelagert und vor Nässe geschützt werden. Richtwerte für die Lagerungsdauer von Sterilgut zum Gebrauch unter normalen aseptischen Bedingungen gibt Tab. 2.1-3 an. 2.1.2.11 Isolierung und Absonderungsmaßnahmen Die Notwendigkeit der Isolierung oder Absonderung besteht bei bestimmten meldepflichtigen Erkrankungen. Grundsätzlich sollte ein Hinweisschild am Patientenzimmer Personal (ζ. B. Auszubildende), Besucher und stationsfremdes Personal (ζ. B. Reinigungsdienst) darauf aufmerksam machen, sich vor Betreten des Zimmers im Stationszimmer des Pflegepersonals zu melden. Dort erhalten die Personen entsprechende Verhaltensregeln, ζ. B. Anlegen von Gesichtsmasken, Überziehkitteln und Handschuhen. Art und Umfang der Maßnahmen richten sich nach der Erkrankung und müssen vom verantwortlichen Arzt angeordnet werden. Im Zweifelsfalle kann die Hygienefachkraft oder der Krankenhaushygieniker hinzugezogen werden.
Hygiene
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Tab. 2.1-3: Richtwerte für die Lagerungsdauer von Sterilgut Sterilgutverpackung
Sterilisierbehälter n. DIN 58 952*)
Verpackungsart
Lagerdauer Lagerung ungeschützt**)
Lagerung geschützt***)
Sterilgut Einfach-Verpackung
24 Stunden
6 Wochen
Sterilgut Zweifach-Verpackung
6 Wochen
6 Monate
Sterilgut Lagerverpackung
5 Jahre****)
*) Zum Gebrauch unter Bedingungen, bei denen besonders hohe Anforderungen an die Asepsis gestellt werden müssen, empfiehlt es sich, kürzere Lagerfristen anzuwenden oder durch andere Maßnahmen, wie eine zusätzliche Verpackung, zu vermeiden, daß die Asepsis durch auf der Verpackung befindliche Mikroorganismen beeinträchtigt wird. **) ζ. B. auf Regalen ***) ζ. B. in Schränken oder Schubladen ****) Vor dem öffnen der Sterilgut-Lagerverpackung ist diese von Staub zu befreien.
2.1.3 Hygienekommission Eine Richtlinie des B G A fordert die Installation einer Hygienekommission in jedem Krankenhaus. D a n a c h gehören der Hygienekommission folgende Personen an: — der ärztliche Leiter bzw. dessen Beauftragter als Vorsitzender, — ein Hygienebeauftragter von jeder medizinischen Fachdisziplin (Oberarzt) und der Verwaltungsleiter, — die Pflegedienstleitung, der technische Leiter und die Hygienefachkraft. — Darüber hinaus werden die Verantwortlichen für die Bereiche, deren Angelegenheiten besprochen werden sollen, hinzugezogen. Die o. g. Richtlinie fordert auch die Beschäftigung eines hauptamtlichen Hygienikers in Krankenhäusern über 400 Betten (s. u.). 2.1.3.1
Aufgaben
D i e Hygienekommission unterstützt die Betriebsleitung und die verantwortlichen Chefärzte bei der Analyse der hygienischen Verhältnisse. Sie wirkt mit bei der Erstellung von Hygiene-, Reinigungs- und Desinfektionsplänen. Weiterhin regelt sie die Hygiene in den Ver- und Entsorgungsbereichen. Weitere Aufgaben sind die Beratung bei der — Planung und Beschaffung technischer Einrichtungen,
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Grundvoraussetzungen der Pflege
— Planung baulicher Veränderungen und Aufstellung von Organisationsplänen über den Funktionsablauf in den verschiedenen Krankenhausbereichen, — Organisation der Fortbildung des Personals, — Auswahl und Verwendung einzusetzender Desinfektions- und Sterilisationsverfahren. Die Hygienekommission wird vom Vorsitzenden in regelmäßigen Abständen, erforderlichenfalls kurzfristig, einberufen. 2.1.3.2
Krankenhaushygieniker
Wie bereits oben erwähnt, fordert das BGA in allen Krankenhäusern über 400 Betten die Beschäftigung eines Krankenhaushygieniker. In Krankenhäusern mit weniger als 400 Betten kann dies durch einen externen Hygieniker geschehen (ζ. B. beratende Tätigkeit durch ein Hygieneinstitut). Die Empfehlung des BGA sieht für die Stellung eines Krankenhaushygienikers einen Mikrobiologen vor. 2.1.3.3 Hygienefachkraft Die Hygienefachkraft (Krankenschwester oder -pfleger mit einer Ausbildung zur Hygienefachkraft) findet ihre Bedeutung bei der praktischen Durchführung der Hygienemaßnahmen im Krankenhaus. Art und Umfang der in der Richtlinie des BGA (Ziff. 5.3.7) aufgeführten Aufgaben erfordern Zeit und Unabhängigkeit. Die Richtlinie fordert für • besonders infektionsrelevante Bereiche wie Pflegeeinheiten für Chirurgie, Orthopädie, Urologie, Gynäkologie und Geburtshilfe, Kinderheilkunde, Infektionskrankheiten einschließlich Tbc, Intensivmedizin, Dialyse und Maximalversorgung in der Inneren Medizin eine Fachkraft für 300 Betten, • die übrigen Bereiche der Krankenhäuser für akut Kranke einschließlich Neurologie eine Fachkraft für 600 Betten, • Sonderkrankenhäuser einschließlich Psychiatrie eine Fachkraft für 1000 Betten. 2.1.3.4 Rechtsfragen der Krankenhaushygiene Über die hygienischen Zustände in einem Krankenhaus informieren sich Patienten üblicherweise erst dann, wenn zu der eigenen Erkrankung noch eine nosokomiale Infektion hinzugekommen ist. Gelingt der Nachweis, daß in dem Krankenhaus unterdurchschnittliche hygienische Verhältnisse verantwortlich für die nosokomiale Infektion waren und kann der Patient seinen Rechtsanspruch (Schmerzensgeldforderungen) durchsetzen, so beginnt die Suche nach dem haftungsrechtlich Verantwortlichen. Jedoch dürfen auch strafrechtliche Aspekte nicht außer acht gelassen werden, da sich nicht selten der Patient gezwungen sieht, Strafanzeige zu erstatten, u m über
Hygiene
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das so in Gang gebrachte Ermittlungsverfahren sich derjeniger Beweismittel zu versichern, die er im — zivilrechtlich geführten — Haftungsprozeß benötigt. Aufgrund der Dokumentation in der Krankenakte (Fieberkurve) läßt sich sehr leicht nachvollziehen, welche Pflegekraft ζ. B. eine intramuskuläre Spritze verabreicht hat und ob die nötige Einwirkzeit des Hautdesinfektionsmittels eingehalten wurde. 2.1.3.5 Straf- und zivilrechtliche Verantwortung Strafrechtliche Verantwortung. Eine Gesundheitsschädigung, durch mangelhafte Hygiene herbeigeführt, ist unter dem Gesichtspunkt der fahrlässigen Körperverletzung (§ 230 StGB) oder der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) auch strafrechtlich von Bedeutung. Hat sich ein Patient im Krankenhaus durch fehlerhafte Hygiene infiziert und dadurch körperlichen Schaden genommen oder sogar den Tod gefunden, so kann dies ein Strafverfahren gegen die hierfür verantwortliche Person nach sich ziehen. Zivilrechtliche Verantwortung. Schadensersatzpflicht besteht nach § 823 BGB. Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Rückgriffsansprüche des Krankenhausträgers. Ist es dem Patienten gelungen, den Krankenhausträger mit Erfolg in Anspruch zu nehmen, so wird sich der Krankenhausträger seinerseits, je nach vorliegendem Verschulden, ggf. wegen Verletzung der dienst- oder arbeitsvertraglichen Pflichten an dem betreffenden Mitarbeiter schadlos halten. Pflegekräfte können sich gegenüber der zivil- und strafrechtlichen Verantwortung dadurch schützen, daß sie die erforderliche Sorgfalt beachten (ζ. B. Einwirkzeit des Hautdesinfektionsmittels vor einer Injektion).
2.2 Gesprächsführung Renate
Markward
2.2.1 Zwischenmenschliche Kommunikation Das wichtigste menschliche Verständigungsmittel ist die Sprache — vor allem die gesprochene Sprache. Durch Gespräche werden Nachrichten übermittelt und Gedanken, Meinungen, Erlebnisse und Gefühle ausgetauscht. Im unmittelbaren Verständigungsprozeß zwischen Menschen hat Sprache aber auch noch eine zusätzliche Ausdrucksfunktion: Die Art und Weise, wie etwas gesagt wird, kann unter Umständen bedeutsamer sein als der ausgetauschte Inhalt.
2.2.1.1 Informationsaustausch und soziale Handlung Zwischenmenschliche Kommunikation wird häufig in Anlehnung an Modelle aus der Technik als ein Informationsaustauschprozeß beschrieben, in dem ein Sprecher als Sender einem anderen Menschen als Empfänger eine Nachricht, die Information, zukommen läßt. Zur Beschreibung dieses Vorgangs wurde die Kurzformel geprägt: „Wer teilt wem wie was mit?". Zwischenmenschliche Kommunikation ist aber mit dem bloßen Austauschen von Informationen nicht ausreichend beschrieben. Sie ist auch eine soziale Handlung: die Gesprächspartner, die Nachricht, der Gesprächsanlaß und die gesamte soziale Situation bilden eine Einheit. Beim Kommunikationsvorgang wählt ein Gesprächspartner — als Sender einer Nachricht — gedanklich eine Information aus verschiedenen ihm verfügbaren Informationselementen aus und faßt sie in Sprache. Er möchte etwas mitteilen und dadurch etwas bewirken. Eine Mitteilung ist allerdings erst dann kommunikativ und dient dem sozialen Austausch, wenn der Empfanger sie auch wahrgenommen hat und sie bei ihm eine verhaltenssteuernde Wirkung auslöst, das heißt, wenn das Gesprochene Auswirkungen auf seine Gefühle, Gedanken und Handlungen hat. Die Wirkung muß keineswegs den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Absichten des Senders entsprechen, und sie muß auch nicht unmittelbar beobachtbar sein. Eine Mitteilung kann auch lediglich die Pläne und Vorstellungen des Empfangers beeinflussen. Beispiel. Der Empfanger kann — je nach seiner aktuellen Gestimmtheit, der Überzeugungskraft der Argumente und der Sympathie zum Gegenüber — zur Zustimmung, zur Ablehnung oder zum Überdenken und den entsprechenden Reaktionen veranlaßt werden. Er kann sofort und eindeutig reagieren — z. B. durch einen lautstarken Protest — oder aber als Reaktion in einem nicht deutbaren regungslosem Schweigen verharren.
Gesprächsführung
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Wie er sich auch immer verhalten mag, er kann sich dem Geschehen nicht mehr entziehen, wenn er es wahrgenommen hat, und er kann nicht nicht kommunizieren. Der Kommunikationswissenschaftler Watzlawick hat als erster diese wichtige Tatsache hervorgehoben: „Handeln oder Nichthandeln, Worte oder Schweigen haben alle Mitteilungscharakter: Sie beeinflussen andere, und diese können ihrerseits nicht nicht auf diese Kommunikation reagieren und kommunizieren damit selbst" (1971, S. 51). 2.2.1.2 Sach- und Beziehungsebene Bei jedem Informationsaustausch treffen die Gesprächspartner als ,Denksysteme' und als empfindende Persönlichkeiten aufeinander. Das bedeutet, daß Denken und Fühlen immer in den Kommunikationsvorgang eingehen, und es bedeutet weiter, daß Kommunikation immer auf einer Sach- und auf einer Beziehungsebene stattfindet. Der Sender einer Nachricht macht nicht nur sachliche Aussagen und informiert über Sachinhalte, sondern er gibt auch — meist unausgesprochene — Hinweise, wie er seine Nachricht vom Empfanger verstanden wissen möchte. Diese indirekte, verschlüsselte persönliche Stellungnahme sagt etwas über die Beziehung aus, die die Gesprächspartner miteinander verbindet und bildet gleichzeitig die gefühlsmäßige Seite einer Nachricht. Auf der Beziehungsebene können verschiedenartige Informationen des Senders zur gefühlsmäßigen Einstellung übermittelt werden, ζ. B. • zur Selbstdarstellung (er tut etwas über sich kund) oder • über die Haltung des Senders gegenüber dem Empfanger (Qualität der Beziehung: er gibt zu verstehen, was er vom anderen hält) und • über die beabsichtigte oder gewünschte Einflußnahme des Senders auf den Empfanger (Appell: er möchte ihn zu etwas veranlassen). So gesehen hat Kommunikation vier Dimensionen: eine Sachebene und eine in drei Unteraspekte gegliederte Beziehungsebene. Eine kurze Sachinformation wie „Ich weiß das nicht" kann beispielsweise bedeuten, daß auf der Ebene der Selbstdarstellung Unwissenheit über einen Sachverhalt zugestanden wird, daß im Hinblick auf die Qualität der Beziehung genügend Vertrauen besteht, diese Unwissenheit auch zuzugestehen und daß damit zugleich der Appell verknüpft wird, der Gesprächspartner möge seinerseits dazu beitragen, die Unwissenheit zu beseitigen. 2.2.1.3 Verbale und nonverbale Kommunikation Weil Gesprächsinhalte nicht unmittelbar von Kopf zu Kopf übertragen werden können, müssen sie für den Austausch an ein Kommunikationsmittel gebunden werden. Das hauptsächlich benutzte und in sozialen Beziehungen vorherrschende Kommunikationsmittel ist die gesprochene Sprache — ein verbales Mittel. Sprachliche Mitteilungen erfolgen im allgemeinen bewußt und kontrolliert: gedachte Bedeutungsinhalte werden nach bestimmten erlernten Sprachregeln und logischen Abläufen in eine innere gedankliche Sprachstruktur gebracht und dann lautsprachlich geäußert.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Immer werden dabei auch nonverbale Mittel eingesetzt: • Tonfall, Sprechtempo, Sprechrhythmus und Artikulation (als sprechbegleitende Erscheinungen der Sprechstimme), • Mimik (der Gesichtsausdruck), • Gestik (Hand- und Armbewegungen) und • Pantomimik (Ganzkörperausdruck), • Haptik (jegliche Körperkontakte wie Schlagen, Streicheln, Händeschütteln, Schulterklopfen, Händehalten usw.), • die Wahl einer bestimmten räumlichen Distanz zueinander (ζ. B. Sitzanordnung, Abstand und Nähe) und • die zeitliche Sprechabfolge (ζ. B. zögernde Antwort, Ins-Wort-Fallen). Nonverbale Mittel umfassen also alle Formen der sprechbegleitenden Merkmale des Sprechverhaltens, des Körperausdrucks und des räumlich-zeitlichen Zueinanders. Nonverbale Mittel können eigenständige Funktionen wie Bewertung oder Ersatz übernehmen, indem sie ζ. B. an die Stelle eines Wortes treten beim Kopfschütteln, Nicken oder Achselzucken. Sie können zur Modulation des Gesprochenen beitragen, wenn ζ. B. ein emotionaler Tonfall den Stellenwert einer Nachricht verändert — was dem Hörer häufig bewußter ist als dem Sprecher. Durch nonverbale Mittel kann eine Regulation des Sprechablaufs erfolgen (ζ. B. durch Zunicken, Blickkontakt und kleine Äußerungen wie ,hm', ,ah' usw.), und sie können schließlich in Verbindung mit den verbalen Kommunikationsmitteln zur Illustration benutzt werden, ζ. B. bei der gestischen Untermalung von Aussagen oder beim Einsatz von bildhaften Gesten zur Veranschaulichung von Sachverhalten. Illustrierende Gesten finden sich in reichlicher Form und zahlreichen Anwendungsweisen; die Spannbreite reicht von der anschaulichen Beschreibung einer Spirale — wo die Geste fast besser als Worte vermittelt, was gemeint ist — bis zu einer geringschätzigen Äußerung, die durch ein Fingertippen an den Kopf begleitet wird. In unserer Gesellschaft sind beim üblichen Sprachgebrauch nonverbale Mittel der gesprochenen Sprache untergeordnet und mit ihr verknüpft. Sie haben die Aufgabe, die Sprache zu unterstützen, indem sie Gesprochenes und nur Angedeutetes oder Nichtausgesprochenes ergänzen, und durch sie wird vor allem Emotionen und zwischenmenschlichen Einstellungen Ausdruck verliehen. Sie bestimmen die Art und Weise, wie etwas gesprochen wird: Während Inhalte in erster Linie verbal übermittelt werden, geben nonverbale Mittel vorrangig Hinweise auf die soziale Beziehung der Kommunikationspartner zueinander, auf emotionale Zustände und tragen zur Selbstdarstellung einer Person bei. Nonverbale Signale sind meist weniger bewußtseinspflichtig als das Sprechen und werden vielschichtiger und uneinheitlicher verwendet: Nonverbale Kommunikation ist eine ganzheitliche und vieldeutige Form des Kommunizierens. Tränen können ζ. B. sowohl Zeichen von Schmerz als auch von großer Freude sein. Eine sprechbegleitende ,wegwerfende' Handbewegung, ein Stirnrunzeln, ein Hochziehen der Augenbrauen, ein Verziehen der Mundwinkel, ein Achselzucken
Gesprächsführung
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kann einem scheinbar wertfrei geäußerten Sachverhalt einen negativen Charakter verleihen, und ein Gesprächspartner kann sich dadurch persönlich herabgesetzt fühlen. Der zunächst neutrale Satz „Ich weiß das nicht" kann durch den Einsatz nonverbaler Mittel die verschiedensten Tönungen erhalten: Eine schnelle, scharfe Sprechweise kann eine gereizte Stimmung signalisieren, ein fragender Gesichtsausdruck Ratlosigkeit, ein abgewendeter Kopf, Achselzucken und eine nicht modulierte, leise Stimme Gleichgültigkeit. 2.2.1.4 Rückversicherung und Rückmeldung Wenn sprachliche und nicht-sprachliche Informationen sich gegenseitig ergänzen und stützen, dann schließen sich der Inhalts- und Beziehungsaspekt beim Empfanger einer Mitteilung zu einer Grundbedeutung zusammen und vermitteln ihm einen stimmigen Gesamteindruck. Stehen jedoch die verbale Mitteilung und das begleitende nonverbale Verhalten im Widerspruch, so kann dieses Gesprächsverhalten eine Quelle von Mißverständnissen bis hin zu tiefgreifenden Kommunikations- und Beziehungsstörungen sein. Konflikte oder Störungen entstehen auch dann, wenn die vom Sender — meist nonverbal — übermittelte Beziehungsdefinition vom Empfänger anders entschlüsselt wird: Ein neutral gemeinter Appell wird ζ. B. als Vorwurf mißverstanden. Um Mißverständnisse dieser Art auszuschließen, können sich Sender und Empfanger über die beabsichtigten und bewirkten Prozesse gegenseitig rückversichern. Bei dieser sog. Metakommunikation wird abgehoben vom Inhalt erklärt, wie die Gesprächspartner zueinander stehen und wie sie ihre Mitteilungen verstanden wissen wollen. Anhand der Aussage „Ich weiß das nicht" könnte eventuell zu klären sein, ob dahinter tatsächlich ein Informationsunvermögen steht oder aber die Absicht, aus irgendwelchen Gründen keine Auskunft geben zu wollen — zumal dann, wenn der Empfanger der Nachricht gleichzeitig zur Äußerung einen ironischen Unterton und ein leichtes Lächeln wahrgenommen haben will. Spontane und konfliktarme Beziehungen geben meist weniger Anlaß für eine Metakommunikation als konfliktbelastete. Wenn aber die Beziehungsdefinition zum Schwerpunkt der Kommunikation wird, dann wird die nonverbale Kommunikation häufig bedeutsamer als die verbale. Gesprächspartner werden sich in solchen Situationen genau beobachten und besonders sensibel auf nonverbale Botschaften reagieren. Im privaten und beruflichen Alltag ist es wenig üblich, sich auf der Ebene der Metakommunikation zu verständigen (ζ. B. durch den einleitenden Satz „Ich möchte darüber reden, wie Ihre Aussage bei mir .angekommen' ist") und eine Rückmeldung (feed-back) darüber zu geben, wie eine Mitteilung empfunden wurde (ζ. B. durch den Hinweis „Ich mag solche Bemerkungen nicht. Ich ärgere mich darüber und fühle mich nicht ernstgenommen"). Deshalb werden viele Streitigkeiten auf der Sachebene abgehandelt, wo eigentlich die Beziehungsebene gemeint ist (z. B. „... aber Sie haben doch gesagt, daß ..." anstatt „Ich habe mich sehr darüber geärgert, als Sie vor den anderen über mich gesagt haben ...").
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Grundvoraussetzungen der Pflege
2.2.1.5 Gegenseitige Abstimmung Einige weitere Überlegungen sind für den Kommunikationsprozeß wichtig: Die Sender- und Empfangerrollen wechseln ständig. Auch wenn der Einfachheit halber zwischen diesen Rollen unterschieden wird, ist tatsächlich jeder Gesprächspartner immer zugleich Sender und Empfanger. Er muß mögliche Reaktionen des anderen voraussehen, sein Verhalten darauf ausrichten und zur Sicherstellung des Gesprächsflusses begleitende Koordinationsarbeit verrichten. Das Führen eines Gesprächs erfordert ein ständiges gegenseitiges Miteinander im Mitdenken und Einfühlen, wenn es nicht zu einem Monolog von mehreren Personen zur gleichen Zeit,verkommen' soll. Vorweggenommene Erwartungen und persönliche Voreinstellungen der Gesprächspartner spielen ebenfalls eine Rolle. Es redet nicht jeder beliebig mit jedem zu jeder Zeit und auf beliebige Art und Weise, sondern bei einer sinnvollen Kommunikation haben die Gesprächspartner einen gemeinsamen bedeutsamen Vorrat an Fragen, Problemen und Erfahrungen und stimmen ihre gegenseitigen Vorstellungen vom anderen (Fremdbild) aufeinander ab. Außerdem besitzt jeder Gesprächspartner ein ihm eigenes Repertoire an Denkinhalten, Bedeutungen, Meinungen und Ausdrucksformen, das er situationsspezifisch und auf seinen Gesprächspartner abgestimmt einsetzt. Das ist meist nur ein Ausschnitt aus seinem generell verfügbaren Repertoire. Daraus ergibt sich für beide Gesprächspartner ein gemeinsames Denk- und Sprachrepertoire und ein Überschneidungsbereich gemeinsam verfügbarer Kommunikationsmittel, durch die gegenseitige Verständigung möglich wird. 2.2.1.6
Kommunikationsstörungen
Kommunikationsstörungen sind Schranken, die den Kommunikationsprozeß einengen, beschneiden oder verhindern. Sie können physisch oder psychisch bedingt sein: • Bei physischen Kommunikationsstörungen kann die Aufnahme, die Weiterleitung oder die Abgabe der Information betroffen sein. Beispiele dafür sind Gespräche mit hörgeschädigten Menschen (ζ. B. Altersschwerhörigen), schlechte Verständigung unter Lärm oder über größere Distanzen, schlechte Verständlichkeit durch ein zu schnelles oder zu schleppendes Sprechtempo. • Psychische Kommunikationsstörungen beruhen auf einstellungsbedingten oder kognitiven Hemmnissen bei der Informationsverarbeitung. Falsche Erwartungen, verfestigte Vorurteile und die bereits genannten Widersprüche zwischen Inhaltsund Beziehungsaspekt in einer Kommunikation sind einstellungsbedingte Barrieren. Kognitive Beschränkungen liegen beispielsweise vor, wenn ein Gesprächspartner nicht über das entsprechende Hintergrund- und Erfahrungswissen zur Verarbeitung von Informationen verfügt, ζ. B. beim Gebrauch von Fremdwörtern und Fachbegriffen, beim Gebrauch von Wörtern mit Doppelbedeutungen oder anderen mitschwingenden Bedeutungen {Konnotationen) und bei einem sehr verknappten Informationsfluß — ohne die zum Mitdenken und Erfassen notwendige sprachliche Anreicherung der Grundinformation (Redundanz). Kognitive Be-
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schränkungen können sich auch bei einem unterschiedlichem Sprachniveau und einem verschiedenartigen Ausdrucksstil ergeben oder wenn die Sprachkenntnisse für eine zufriedenstellende gemeinsame Verständigung nicht ausreichen (ζ. B. bei Gesprächen mit Angehörigen anderer Muttersprachen oder anderer Dialektregionen). • Ideale Kommunikation kann stattfinden, wenn die Gesprächspartner eine umkehrbar eindeutige Beziehung zwischen abgegebenen und empfangenen Mitteilungen auf der Sach- und Beziehungsebene herstellen und sich bei einstellenden Störungen metakommunikativ verständigen können, um Mißverständnisse auszuräumen oder sonstige Kommunikationsprobleme abzubauen. Daß dieser Idealfall eher eine Ausnahme darstellt, beschreibt ein Zitat von Tolstoi: „In Worten das, was du verstehst, so auszudrücken, daß die anderen dich verstehen wie du dich selbst, ist eine sehr schwierige Sache, und immer fühlst du, daß du bei weitem nicht das erreicht hast, was du hättest erreichen müssen und können."
2.2.2 Allgemeine Hinweise zur Gesprächsführung Gespräche sind ein wesentlicher Bestandteil des Krankenpflegeberufs. Der sprachliche Austausch findet mit unterschiedlichen Personen, aus unterschiedlichen Anlässen heraus und mit verschiedenartigen Zielsetzungen statt. Zum Berufsalltag gehört ζ. B. • ein Informations- und Beratungsgespräch mit einem Patienten oder Mitarbeiter ebenso wie • ein Konfliktgespräch mit einem Besucher oder Dienstvorgesetzten. Die übliche berufliche Kommunikation kann anhand der institutionellen Rollen der Gesprächspartner verhältnismäßig überschaubar abgegrenzt werden: Gespräche werden beispielsweise mit Patienten und ihren Angehörigen und mit Mitarbeitern geführt; Mitarbeiter können dem gleichen oder einem anderen Berufsfeld zugehören und in der Hierarchie gleichgestellt oder über- bzw. untergeordnet sein. Eine Einteilung und Unterscheidung von Gesprächen nach Anlässen und Zielsetzungen ist nicht ohne weiteres möglich, weil jedes Gespräch seinen Charakter im Verlauf der Gesprächsführung ändern kann und die Grenzen in der Praxis fließend sind. Unabhängig von Anlaß und Zielsetzung lassen sich Gespräche auch nach ihrer Dauer, dem jeweils aktiven Part der Gesprächspartner und der Anzahl der Beteiligten bestimmen. Kurze persönliche ,Zweier'-Gespräche und Telefonate, die nur der Weitergabe einer Sachinformation dienen und nicht mehr als eine Bestätigung oder Rückversicherung abfordern — ζ. B. Anweisung einer Handlung, Terminabstimmung oder Nachfrage, ob eine bestimmte Aktivität ausgeführt ist — werfen im Berufsalltag meist kein Problem auf. Wenn es doch so ist, dann sind problematische Faktoren eher in der gemeinsamen Vorgeschichte der Gesprächspartner oder besonderen situativen Umständen zu suchen, und das wiederum bedarf einer besonderen Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Konfliktbearbeitung (s.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Abschn. 2.3.3). Gespräche mit mehreren Teilnehmern — als Gruppengespräche oder Teambesprechungen — werden unter einem späteren gesonderten Punkt behandelt (s. Abschn. 2.3.2). Die meisten Gespräche im Berufsalltag dienen der Information und Orientierung, und dann ist es meist nicht nötig, einen besonderen therapeutischen Anspruch zu erfüllen und die gesamte Gesprächsgrundhaltung darauf abzustimmen (auf solche speziellen Gesprächssituationen wird im Abschn. 2.2.3, ,Partnerzentrierte Gesprächsführung', eingegangen). Die folgenden allgemeinen Hinweise zur Gesprächsführung beziehen sich in erster Linie auf solche Situationen, bei denen sich ein wechselseitiges Kommunizieren über einige wenige Sätze hinaus ergibt und ein dialogisches Miteinander von zwei Personen entsteht. Jeder Gesprächspartner sollte darum bemüht sein, zugleich ein guter Redner und ein guter Zuhörer zu sein. Beide Verhaltensweisen sind erlernbar und eine Person, die beides kann — gut reden und gut zuhören — ist ein geschätzter und verhaltensbeeinflussender Gesprächspartner. Gut reden und gut zuhören können, muß geübt werden und läßt sich nicht durch Anlesen aus einem Buch erreichen. Deshalb können die nachstehenden Hinweise auch nur zum Nachdenken und zur Erprobung anregen. Nützliche Übungsfelder sind Rollenspiele in einer Mitarbeitergruppe mit entsprechenden Videoaufzeichnungen oder Tonmitschnitten. Aus dem Besprechen von Rollenspielen und dem Ansehen oder Anhören von Gesprächsszenen lassen sich wichtige Hilfen zur Verhaltenskorrektur gewinnen. 2.2.2.1
Gesprächsbedingungen
Gute Gespräche entstehen, wenn beide Gesprächspartner gut reden und zuhören können, sie brauchen dazu aber auch gute äußere Gesprächsbedingungen. Ein geschlossener, ruhiger und ansprechender Raum mit Sitzgelegenheiten soll ungebetene Zuhörer und Störungen ausschließen oder wenigstens reduzieren. Bei Gesprächen auf dem Flur, bei Gesprächen vor unbeteiligten Dritten, bei Gesprächen, die durch häufige Zwischenfragen von anderen oder durch Telefonate unterbrochen werden, ist von vornherein keine günstige Atmosphäre mit der Möglichkeit ungeteilter Aufmerksamkeit gegeben. Bei ,Zweier'-Gesprächen unter Normalsinnigen empfiehlt sich eine schräg versetzte Sitzposition (,über Eck'). Bei Sinnesbehinderungen von Gesprächspartnern — ζ. B. Hör- oder Seheinschränkungen — muß die Sitzanordnung der Behinderung angepaßt werden (ζ. B. frontale Zuspräche zum besseren Absehen oder Zuspräche zum ,besseren' Ohr und engerer räumlicher Abstand). Zur Gesprächseinleitung gehören • eine verbindliche Zeitabsprache über die mögliche Dauer eines Gesprächs (wegen anderer Verpflichtungen oder der Aufnahmebereitschaft der Gesprächspartner)
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und eine Absprache darüber, wie und wann es notfalls fortgesetzt werden kann (Gesprächsfortsetzung) und • die Festlegung des Themas oder die Klärung, wer ein Problem hat und wie es beschaffen ist (ζ. B. durch die Aussage: „Ich möchte mich mit Ihnen darüber verständigen, wie ..." oder „Ich möchte klären, warum ..."). Das Gesprächsende kann herbeigeführt werden durch einen Hinweis auf die erreichte Zeitgrenze und eine Absprache über die Fortsetzung. Ein abrupter, Unverständnis und Verstimmung auslösender Abbruch wird dadurch vermieden. Beim Versuch eines Gesprächspartners, den Zeitrahmen über Gebühr auszudehnen, kann ein Hinweis auf die eigene Zuhörbereitschaft angebracht sein (ζ. B. „Ich bin jetzt müde und kann mich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren" oder „Ich muß das Gespräch für heute beenden, weil ich jetzt andere Verpflichtungen habe"). 2.2.2.2
Gesprächsverhalten
Die Körperhaltung gehört zu den nonverbalen Signalen, die ein Gesprächspartner aufmerksam beobachtet, und sie beeinflußt auch die eigene Gesprächshaltung. Im Sitzen empfiehlt sich eine platzfüllende Position auf einem Stuhl oder Sessel mit ruhiger Armhaltung beidseits des Körpers. Ständiges Spielen mit den Händen oder mit Gegenständen (ζ. B. mit Kugelschreiber oder Papier), Scharren mit den Füßen und temperamentvolles, unrhythmisches Gestikulieren signalisieren Unruhe; es verunsichert den Gesprächspartner und beeinträchtigt die eigene Konzentration auf das Gespräch. Ein abgewendeter Oberkörper und vor der Brust verschränkte Arme werden häufig als uninteressierte Distanziertheit gewertet. Wenn es unvermeidbar ist, sich während eines Gesprächs vom Gesprächspartner abzuwenden — ζ. B. durch Aufstehen und Weggehen, um etwas im Raum zu erledigen —, dann sollte er darüber informiert und darauf hingewiesen werden, daß das Gespräch im Moment unterbrochen werden muß oder daß er trotzdem weiterreden kann (ζ. B. „Ich hole mir einen Notizzettel. Bitte reden Sie weiter, ich höre zu" oder „Bitte warten Sie einen Moment, ich ..."). Das wichtigste mimische Signal geht von den Augen aus. Blickkontakt sollte — mit Ausnahmen von Phasen des konzentrierten Wegsehens zur Sammlung und zum Nachdenken — während des gesamten Gesprächs gehalten werden. Nur wer angesehen wird, fühlt sich auch beachtet und angesprochen. In ,Zweier'-Gesprächen sollte der Blick auf das Gesicht und die Zone der Augen des Gegenübers gerichtet sein. Ein starrer Blick in die Pupillen über längere Zeit wird meist als aufdringlich und unangenehm empfunden. Neben dem Blickkontakt sollten besonders die eigenen Mund- und Augenbrauenbewegungen gut kontrolliert werden und zurückhaltend sein. Bewegungen der Mundwinkel und Augenbrauen können sehr schnell mißverstanden werden: Ein wohlwollend gedachtes Lächeln kann rasch verunglücken und als Überheblichkeit gedeutet werden; das Hochziehen der Augenbrauen wird häufig so interpretiert, daß eine Äußerung in Frage gestellt wird.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Zu den Ausdrucksweisen der Sprechstimme gehört u. a. die Höhe, die Sprachmelodie durch Höhenveränderung, die Lautstärke, das Volumen, die Klangfarbe, die Deutlichkeit der Aussprache einschließlich Sprechgeschwindigkeit, Sprechpausen und Atemrhythmus. Einige Elemente davon sind physiologisch gegeben und nicht oder nur bedingt änderbar; bei anderen sind die Gewohnheiten so eingeschliffen, daß sie sich nur schwer abstellen lassen. Deutliches Sprechen in angemessener Lautstärke läßt sich jedoch trainieren. Leises, schnelles, undeutliches und wenig melodiöses Sprechen — Nuscheln mit .Verschlucken' der Endsilben — erschwert die Verständlichkeit erheblich und macht das Zuhören anstrengend und ermüdend. Eine deutliche Aussprache in mittlerer Lautstärke, mit angemessenen Pausen und Betonungen läßt sich durch Sprechübungen mit einem Kassettenrecorder erlernen. Insbesondere hörbehinderte Gesprächspartner sind mehr auf eine mäßig rasche und sehr deutliche Aussprache als auf ein zu lautes und zerdehntes Sprechen angewiesen. Berufliche Gespräche erfordern eine Trennung von den Gepflogenheiten und Angewohnheiten privater Kommunikation. Eine lässige Ausdrucksweise mit Modewörtern oder Jargon und starkem Dialekt gilt im beruflichen Alltag im allgemeinen als inakzeptabel und gehört in Situationen mit sehr vertrautem persönlichen Umgang. Wenn sich eine starke Dialekteinfärbung nicht abstellen läßt, dann sollten wenigstens Dialektbegriffe und grammatikalische Abweichungen von der Hochsprache vermieden werden. Zu einer präzisen hochsprachlichen Formulierung gehört die Bildung kurzer verständlicher Sätze ohne lange Neben- und Schachtelsätze, die Vermeidung von Fremd- und Modewörtern, von Floskeln und Abkürzungen. Für kurze und gezielte Informationsfragen bietet sich die W-Fragen-Technik an ( = Satzbeginn mit ,wer, wie, was, wo, wann, warum' usw.) — unter Umständen mit Begründung, warum diese Frage jetzt gestellt wird (ζ. B. „Wer kann mir dabei helfen? Ich kenne mich damit nicht aus."). Zu den höflichen und respektvollen Umgangsformen im beruflichen Gespräch, die dem Gesprächspartner Wertschätzung und Achtung seiner Person vermitteln sollen, zählt auch die Vermeidung des unerbetenen Duzens und sprachlich verstümmelter Formulierungen. Ausländischen Mitbürgern und älteren oder desorientierten Personen wird manchmal eine kleinkindhaft reduzierte und grammatisch falsche Sprechform angeboten — häufig aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus und in der gutgemeinten Absicht, dadurch eine einfachere und bessere Verständigung zu erreichen. Die Tatsache, daß sich solche Personen manchmal selbst sprachlich unbeholfen formulieren, verleitet ebenfalls dazu. Hier gilt das Prinzip, andere nur so anzusprechen, wie man selbst angesprochen werden möchte. Äußerungen wie „Wo Du haben Schmerzen?" oder „Jetzt wollen wir mal schön trinken!" sind nicht besser verständlich, sondern wirken befremdlich und mögli-
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cherweise kränkend. Kurze präzise Aussagen mit einer überlegten und wohldosierten sprechbegleitenden Gestik führen schneller und angemessener zu Verständigung (ζ. B. „Wo tut es Ihnen weh. Bitte zeigen Sie es mir" oder „Bitte trinken Sie das, ich helfe Ihnen").
2.2.3 Partnerzentrierte Gesprächsführung Richtige Gesprächsführung setzt Zuhörenkönnen voraus. Zuhören ist nicht nur passive Schweigsamkeit, sondern es umfaßt bestimmte Verhaltensweisen, die der Sache und der Beziehung zum Gesprächspartner dienen. Mit den Begriffen aktives Zuhören oder partnerzentrierte Gesprächsführung werden Grundhaltungen und Techniken einer aktiven, partnerzentrierten Gesprächsführung bezeichnet, durch die vor allem psychische, einstellungsbedingte Gesprächsbarrieren vermieden werden sollen. In die partnerzentrierte Gesprächshaltung fließen Überlegungen und Erfahrungen der Gesprächspsychotherapie ein: Ein offenes, klärendes Gespräch soll dem Gesprächspartner eine Aussprachemöglichkeit über seine Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen eröffnen und ihn dadurch befähigen, seine Probleme besser zu überdenken und zu bewältigen; folglich stehen seine Person und seine Sichtweisen im Mittelpunkt des Gesprächs. Die partnerzentrierte Gesprächsführung ist für problembewältigende Aussprachen gedacht, sie ist bei sachlichen kurzen Informationsgesprächen unpassend. Wenn ζ. B. bei einer kurzen Nachfrage zum Verbleib von Unterlagen die Antwortreaktion zu einem Akt besonderer Einfühlung und Anteilnahme ausgestaltet wird, ist das in dieser Situation unangemessen und lächerlich. In einschlägigen Lehrbüchern und Ratgebern für ,helfenden Berufe' wird häufig empfohlen, eine partnerzentrierte Gesprächshaltung zum durchgängigen Verhaltensstil zu entwickeln. Das erscheint zweifelhaft, weil es häufig überflüssig oder mangels Übung und Zeitaufwand in der Praxis nicht realisierbar ist. Es muß sorgfältig abgewogen werden, ob die Zeit, die Situation und die eigene Gesprächsbereitschaft und -fähigkeit eine partnerzentrierte Aussprache zulassen. Nichtsdestoweniger können einige Techniken des partnerzentrierten aktiven Zuhörens auch in ,normalen' Alltagsgesprächen hilfreich und richtig sein. In partnerzentrierten Gesprächen sind bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen günstig, andere eher hinderlich. Vermieden oder abgebaut werden sollten vor allem die sog. Helfereinstellungen. Sie sind schwer abzustellen, weil sie gut gemeint sind, aber sie sind wenig nützlich. Problematisch ist • das Aufdrängen von Hilfe, um ein eigenes Bedürfnis nach Hilfegeben und Gebrauchtwerden auszuleben: Hilfe, die anderen aufgedrängt wird, macht sie unselbständig und unfähig, die eigenen Probleme selbst zu lösen. • die Demonstration eigener Stärke einem vermeintlich Schwachen gegenüber: Zu viele rasche Ratschläge und Trostversuche halten einen anderen ebenfalls
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Grundvoraussetzungen der Pflege
untüchtig und schwach, und wenn gutgemeinte Ratschläge nicht befolgt werden, reagiert der Helfer häufig mit persönlicher Enttäuschung und Aggression. • das Bestreben, sich die Probleme anderer zu eigen zu machen: Der Helfer neigt dazu, ein Problem schnell zu beseitigen und zu harmonisieren — vielleicht aus Unbehagen über ungelöste Schwebezustände und einem schwer auszuhaltenden Mitleidensdruck. Ein schnell aktiver Helfer drängt auf Entscheidungen und Lösungen und nimmt dadurch einem anderen die Entschlußkraft und Eigeninitiative. Am besten gewährt man Hilfe zur Selbsthilfe: „Die beste Hilfe für einen anderen Menschen ist es, ihn zu befähigen, sich selbst helfen zu können. Bei dieser Art von Hilfe stehen wir dem anderen bei und unterstützen ihn, wenn er versucht, sein Problem selbst zu lösen. Wir ermuntern ihn, alle seine Gefühle und Gedanken zu äußern, die er mit dem Problem verbindet. Diese werden ihm häufig nicht so klar und deutlich, wenn er sie nicht einem anderen anvertrauen kann und allein über das Problem nachdenken muß. Wir ermuntern ihn, selbständig Lösungsmöglichkeiten zu erwägen, bieten vielleicht selbst unsere Vorstellungen darüber an, überlassen aber dem Gesprächspartner die Entscheidung, welche Lösung für ihn und seine Situation die richtige ist. Wir drängen ihn auch nicht zu einer Entscheidung, sondern warten, bis für ihn der Zeitpunkt gekommen ist, sich selbst durch aktive Maßnahmen zu helfen. Wir vertrauen also darauf, daß der Gesprächspartner selbst spüren wird, wann für ihn die Zeit gekommen ist, Veränderungen vorzunehmen und vermitteln ihm dieses Vertrauen in seine Fähigkeiten" (Schwäbisch/Siems, 1974, S. 99). 2.2.3.1 Förderliche partnerzentrierte Verhaltensweisen Zu den förderlichen Verhaltensweisen in einem partnerzentrierten Gespräch gehört das Eingehen auf den Gesprächspartner durch Zuhören bei gleichzeitiger Zurückstellung des eigenen Mitteilungsbedürfnisses und Abstimmung der eigenen Gesprächsbeiträge auf den anderen. Das kann dann besonders schwierig sein, wenn eigene Probleme und Erfahrungen ähnlich sind und während des Gesprächs automatisch' in den Sinn kommen. Ein partnerzentriertes Gespräch verlangt gerade dann Zurückhaltung, um zu vermeiden, daß jeder Gesprächspartner nur für sich und von sich erzählt, dem anderen nicht zuhört und dessen Aussagen nur als Stichwort für weitere eigene Darstellungen nutzt. Um die Empfindungen eines anderen verstehen zu können, muß aus seiner Schilderung von Sachverhalten und Erlebnissen herausgehört werden, welche Gefühle bei ihm damit verbunden sind: Gefühle sind oft das eigentlich wichtige Thema. Die Empfindungen eines anderen zu akzeptieren, bedeutet, seine Gefühle ernstzunehmen und sie weder zu be- noch zu verurteilen — auch dann, wenn sie nicht den eigenen Wertmaßstäben und Normen entsprechen. Eine vorschnelle Stellungnahme durch das Einbringen eigener Werturteile trägt nicht dazu bei, die Gefühle, Meinungen und Einstellungen eines anderen zu verändern. Es führt lediglich dazu, daß er sich nicht verstanden fühlt und seine Gesprächsbereitschaft einschränkt. Es sei nochmals betont, daß jede Problemlösung Zeit und Geduld und unter Umständen mehrere Gespräche erfordert. Wer in einer bestimmten Situation beides
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nicht einbringen kann, ist besser beraten, ein Problemgespräch zu verschieben oder ganz zu vermeiden oder andere geeignete Personen zu Rate zu ziehen und ihnen eventuell die Aufgabe zu übertragen. Günstige Verhaltensweisen in einem partnerzentrierten Gespräch sind also das Eingehen auf geäußerte Gedanken und Gefühle, das Zuhören ohne Begleitkommentar und Wertung, die eigene offene und aktive Beteiligung und das offene Einbringen eigener Gefühle und Gedanken in Maßen. Die wichtigste Technik des aktiven, aufmerksamen und akzeptierenden Zuhörens ist die Rückmeldung von Gesprächsinhalten und Gefühlen durch Wiederholung in gleichen oder ähnlichen, umschreibenden Worten. Die Wiederholung zeigt, daß man zugehört hat, sie läßt die Prüfung zu, ob man richtig verstanden hat und vermittelt grundsätzliche Zuhör- und Gesprächsbereitschaft. Sie gibt dem anderen Gelegenheit, seine Gedanken und Gefühle eingehender wahrzunehmen und zu äußern. Diese Gesprächstechnik — häufig Spiegeln, Paraphrasieren oder Verbalisieren genannt — kann eingesetzt werden, • indem einige Worte oder Satzteile wörtlich wiederholt werden oder • indem das vorher Gesagte sinngemäß wiedergegeben wird oder • indem die Gefühle des anderen, so wie sie wahrgenommen wurden, als Vermutung nochmals angesprochen werden. Ein längerer Bericht eines anderen über einen problematischen Sachverhalt kann ζ. B. zusammengefaßt und kommentiert werden mit „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann machen Sie sich Sorgen". Solche Kommentare sollten als Feststellung und nicht als Frage (mit fragend-erhobener Stimme am Satzende) formuliert werden. Der Gesprächspartner hat dann die Möglichkeit, die Aussage zu bestätigen und weiter zu erläutern oder zu verändern und neue Gesichtspunkte hineinzutragen. Der aktive Zuhörer sollte immer nur Informationen aus den Aussagen des Gesprächspartners aufgreifen und Gesprächspausen für einen spiegelnden Gesprächsbeitrag nutzen; er sollte von sich aus kein neues Thema aufgreifen, den Gesprächspartner nicht unterbrechen und ihm nicht ins Wort fallen. Längeres Schweigen oder Weinen eines Gesprächspartners ist manchmal schwer auszuhalten und bedarf ebenfalls der Zurückhaltung und keiner vorschnellen Reaktion. Nach zu lang erscheinender Pause kann es nützen, die Gefühle des anderen aufzugreifen (ζ. B. durch Bemerkungen wie „Sie sind jetzt traurig" oder „Sie überlegen"). Längere Pausen, die durch offenkundige Verlegenheit oder Ängstlichkeit des Gesprächspartners entstehen, können durch eine kurze Zusammenfassung der letzten Gesprächsinhalte überbrückt werden und ihm die Gesprächsfortführung erleichtern. Bei Hemmungen und Zurückhaltungen zu Gesprächsbeginn kann die Ermunterung helfen, mit der Darstellung ,irgendwo' zu beginnen, um das Gespräch in Fluß zu bringen.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Das Aufgreifen von Gefühlen und die Mitteilung eigener Gefühle ist besonders schwierig und übungsbedürftig, weil es im Alltag unüblich ist. Eine vorausgehende Mitteilung kann zutreffend zusammengefaßt werden durch den Kommentar „Sie sind enttäuscht ... beunruhigt ...". Hier spielt die genaue Beobachtung und das Vermögen zur sprachlichen Variation eine Rolle; nicht jedes Gefühl ist unter dem Etikett ,Ärger' richtig erfaßt und damit zufriedenstellend rückgemeldet. Bei den vorsichtig vermutenden Äußerungen über die Gefühle anderer oder bei den Hinweisen, wie einen ein Gesprächsbeitrag selbst gefühlsmäßig anmutet, soll der Gesprächspartner weder abgewertet werden noch soll er von eigenen Ideen und Gefühlen überzeugt werden. Vorsichtige Formulierungen können sein „Ich denke ... glaube ... fühle ..." oder „Was denken ... glauben ... fühlen Sie". Das Ansprechen von Gefühlen und darüber hinaus jegliche verbale Stellungnahme setzt als spezielle Gesprächstechnik die Ich-Botschaft voraus: Eine Aussage wird mit ,Ich ...' und nicht mit dem anonymen, verallgemeinernden ,Man ...' eingeleitet. Beispielsweise ist die Äußerung „Ich denke anders darüber" oder „Ich empfinde das nicht so" verbindlicher als die schroffe Formulierung „Das macht man nicht". Grundsätzlich ist es im privaten und beruflichen Umgang angemessener, IchBotschaften anstelle der ,Μαη'-Formulierungen zu benutzen. Die Ansicht, daß es unschicklich ist, zuerst von sich zu sprechen, ist längst überholt, und die Umgehung und Vermeidung von Ich-Botschaften in Gesprächen hat bisher mehr geschadet als genutzt. Fragen sollen als Denkanstöße dienen und deshalb nach Möglichkeit in Aussagen umformuliert werden (ζ. B. „Sie denken, Sie müssen das so machen" anstatt „Warum machen Sie das?"). Nachbohrende Fragen — ζ. B. „Warum machen Sie das immer noch?" — oder solche, die als Antwort nur ein ,Ja' oder ,Nein' zulassen, sollten in einem partnerzentrierten Gespräch möglichst ganz unterlassen oder in offene Fragen umformuliert werden (ζ. B. „Und jetzt ist es immer noch so"). Es ist nützlich, in einem Gespräch vom Abstrakten zum Konkreten zu kommen, indem direkte Fragen durch die Frage nach Beispielen und Alternativen ersetzt werden (ζ. B. „Bitte nennen Sie mir ein Beispiel, damit ich das besser verstehen kann" oder „Andere Ratschläge haben Sie auch ausprobiert"). Direkte Aufforderungen (wie ζ. B. „Nun sagen Sie mal, was sie wirklich bedrückt!") sind in eigenen Gesprächsbeiträgen ebenso zu vermeiden wie einschränkende Nebensätze, die mit ,aber' beginnen (ζ. B. „Das mag ja sein, aber ..."). In einem partnerzentrierten Gespräch wird auch durch Zuhör-Signale die Bereitschaft, zuzuhören und zu verstehen, übermittelt. Dazu gehört ein freundlich zugewandter Blickkontakt, eine ruhige und kontrollierte Mimik und Gestik und eine zugeneigte, offene Körperhaltung mit leicht vorgebeugtem Oberkörper. Stimmliche Signale wie ,ja', ,hm', ,aha' o. ä. vermitteln ebenfalls Aufmerksamkeit und Zuhörbereitschaft. Mit solchen Äußerungen wird ζ. B. auch in einem Telefongespräch das Zuhören signalisiert. Ihre Bedeutung kann daran abgelesen werden, daß sich beim Wegfall der Stimmsignale ein Telefongesprächspartner sehr schnell irritiert zeigen und sich vergewissern wird, ob der andere ,noch da' ist.
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2.2.3.2 Ungünstige Gesprächsreaktionen Ungünstige und wenig förderliche Gesprächsreaktionen bestehen vor allem darin, • zu wenig auf die Gefühle eines Gesprächspartners einzugehen, sie zu verneinen oder ihm ausreden zu wollen, • den Gesprächspartner in die Rolle eines Empfängers von Ratschlägen und Rezepten, belehrenden Interpretationen, Wertungen, Diagnosen, Erklärungen und Verallgemeinerungen zu drängen und ihm dadurch das Gefühl zu geben, daß er seine Probleme nicht allein lösen kann, • dem Gesprächspartner allgemein den Eindruck der Unterlegenheit und Bedeutungslosigkeit zu vermitteln (ζ. B. durch Themenwechsel ohne Begründung oder Beendigung des Blickkontakts) und ihm nicht das Gefühl zu geben, ein gleichwertiger Gesprächspartner zu sein. Praktische Beispiele. Der Anschaulichkeit halber werden einige typische, unangemessene Formen von Antwortverhalten vorgestellt und voneinander abgegrenzt: Die Aussage eines Gesprächspartners könnte beispielsweise sein: „Ich habe immer solche Rückenschmerzen. Mal ist es besser, mal schlechter. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich habe schon alles probiert, aber es geht nicht weg." • Ein dirigistischer Zuhörer macht Vorschriften und befiehlt oder empfiehlt etwas mit Nachdruck: „Sie müssen gymnastische Übungen machen. Ich vereinbare für Sie einen Termin mit der krankengymnastischen Abteilung." Varianten des stark lenkenden, dirigistischen Verhaltens sind mit Drohungen verknüpfte Vorschläge („Wenn Sie das nicht machen, wird es Ihnen noch schlechter gehen") oder Überredungsstrategien („Das sollten Sie unbedingt machen, denn es hilft bestimmt"). Der Zuhörer bietet eine Sofortlösung und drängt den Gesprächspartner ohne Berücksichtigung seiner Empfindungen und Überlegungen in eine passive Rolle. Es kommt nicht zu selbsterarbeiteten Entscheidungen und Zielen, die meist verbindlicher und tragfahiger sind als von außen herangetragene Vorschläge und Maßnahmen. Stark lenkendes Verhalten führt entweder zur Abhängigkeit von Ratgebern oder — wegen geringer innerer Übereinstimmung — zur lustlosen und widerwilligen Befolgung von Ratschlägen oder aber die Äußerungen rufen Widerstand und Protest hervor und führen zu einem Konfliktgespräch über die Art und Weise der Beeinflussung.
Wenn von der Sache her ein lenkender und verhaltensbeeinflussender Vorschlag angezeigt ist, dann sollte er nur nach einer ausführlichen Erörterung des Problems und auch dann nur als sorgfaltig begründetes Anliegen eingebracht werden. • Ein bagatellisierender Zuhörer spielt das Problem herunter: „Das ist nicht so schlimm, und das geht vielen anderen auch so." Jemand, der sich in seinen Sorgen und Problemen mitteilt, erwartet am ehesten eine verständnisvolle Reaktion („Das ist schlimm für Sie"), die ihn als Individuum würdigt, und nicht eine allgemeine Floskel oder Lebensweisheit. Wird der Gesprächspartner oberflächlich getröstet und beruhigt, dann entsteht der Eindruck, daß seine Empfindungen nicht interessieren und daß er als Person nicht ernstgenommen wird. Er fühlt sich mit seinen Problemen
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Grundvoraussetzungen der Pflege
alleingelassen und wird sich möglicherweise nicht mehr dazu äußern. Ein bagatellisierender Zuspruch kann auch erst recht innere Unruhe und Unbehagen auslösen anstatt Trost zu bieten, wenn der Gesprächspartner die Aussage als bewußt unaufrichtig und oberflächlich interpretiert und sich nun sorgt, daß ihm wesentliche Informationen absichtlich vorenthalten werden.
Die mit Spott und Ironie durchsetzte Variante des Herunterspielens („So schlimm wird es ja wohl nicht sein") ist eine so verletzende und Ärger auslösende Äußerungsform, daß sie sich grundsätzlich im beruflichen und privaten Umgang verbietet. • Ein diagnostizierender Zuhörer gibt Erklärungen und zeigt Ursachen auf: „Das liegt nur an Ihrer verkrampften Sitzhaltung, das führt zu Verspannungen." Der Zuhörer gibt dem Gesprächspartner durch seine vordergründige Erklärung das Gefühl, eingeordnet zu werden. Das eigentliche Anliegen — Reden über die Befindlichkeit — wird ignoriert.
Selbst wenn ein fachlicher Rat angebracht ist, widerspricht es einer partnerzentrierten Gesprächshaltung, sogleich ohne Nachfrage und Berücksichtigung der Begleitumstände und Gefühle die Rolle eines sachkundigen Ratgebers einzunehmen. • Ein interpretierender Zuhörer geht noch einen Schritt weiter und versucht sich über die Diagnose hinaus an einer Deutung des angesprochenen Problems: „Wahrscheinlich treten die Beschwerden immer dann auf, wenn an Sie Anforderungen gestellt werden, denen Sie sich dann mit Hinweis auf Schmerzen entziehen können." Ohne sorgfältige Erörterung des Problems und ohne gründliche Analyse ist ein solches Interpretationsangebot nicht vertretbar und verfrüht, auch wenn es sich als zutreffend herausstellen sollte.
Bei jeder Interpretation besteht die Gefahr, daß Schlüsse aufgrund ähnlicher Erfahrungen gezogen und unzulässig verallgemeinert werden. Bei einer frühzeitigen einseitigen Interpretation kann sich der Gesprächspartner unverstanden und durch die Deutung unangenehm durchschaut oder überfordert fühlen. • Ein examierender Zuhörer fragt neugierig nach und fordert weitere Informationen: „Seit wann ist das so? Was haben Sie probiert? Wie sind die Schmerzen?".
Der Zuhörer lenkt durch seine Fragen das Gespräch in seinem Sinne. D a nur Fakten und Begleitumstände, nicht aber das Unbehagen — ζ. B. durch den Kommentar „Sie fühlen sich schlecht" — thematisiert werden, fühlt sich der Gesprächspartner letztlich nicht verstanden. Durch Frage-Antwort-Reaktionen werden seine Impulse unterbunden, auf sein Problem näher einzugehen. Statt dessen erwartet er nach Beantwortung aller Fragen auch eine
Gesprächsführung
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Lösung vom Befrager oder er fühlt sich von den Fragen überwältigt und stellt seine Gesprächsbereitschaft ein oder er schweift ab. • Ein Zuhörer, der sich identifiziert, nutzt die Äußerung, um auf eigene Probleme zu sprechen zu kommen und um von sich zu reden: „Das habe ich vor einiger Zeit auch gehabt; ich habe damals ..." D e r Z u h ö r e r k o n z e n t r i e r t sich n i c h t a u f d a s D e n k e n , F ü h l e n u n d H a n d e l n seines G e s p r ä c h s p a r t n e r s , s o n d e r n l ä ß t seine Sichtweisen gleichberechtigt o d e r a u c h ü b e r m ä c h t i g in d a s G e s p r ä c h einfließen. So wohltuend es sein kann, auf einen verständnisvollen Zuhörer mit ähnlichen eigenen Erfahrungen zu treffen, so sehr besteht die Gefahr, daß der Zuhörer seine Probleme und seine Art der Problemlösung in den Mittelpunkt rückt und seine Empfindungen nicht von denen des Gesprächspartners trennt. Das fördert unter Umständen nur den sachlichen Austausch von Erfahrungen und hindert den Gesprächspartner daran, seine Emotionen zu besprechen und zu einer eigenständigen Klärung und Lösung seines Problems zu kommen. • Ein moralisierender Zuhörer macht Vorwürfe, er kritisiert und bewertet, eventuell mit einem Unterton von Überheblichkeit: „Das ist nicht verwunderlich — so bewegungsarm wie Sie leben!" D e r Z u h ö r e r fällt a u f g r u n d eigener N o r m - u n d W e r t v o r s t e l l u n g e n sein U r t e i l ü b e r ein P r o b l e m , zieht a u f g r u n d allgemeiner M a ß s t ä b e einen S c h l u ß u n d b e t r a c h t e t d a s P r o b l e m seines G e s p r ä c h s p a r t n e r s n i c h t als individuelles, diskussionswürdiges Anliegen. Negative Kritik in dieser Form wird im allgemeinen als deutliche Mißbilligung des Verhaltens verstanden. Der Gesprächspartner fühlt sich ungerechtfertigt gemaßregelt; er reagiert mit Gefühlen von Unbehaglichkeit, Schuld und Aggression und wird häufig in eine Rechtfertigungsdebatte gedrängt. • Ein intellektualisierender Zuhörer liefert Argumente und hebt das Problem auf die inhaltliche Ebene: „Die Schmerzempfindlichkeit ist von vielen physischen und psychischen Faktoren abhängig; die müssen Sie zunächst herausfinden." Dadurch wird dem Gesprächspartner vermittelt, daß sein Problem rein sachlich anzugehen ist, die emotionale Ebene wird ausgeblendet. Das Nachdenken des Gesprächspartners über sich und seine Probleme, seine noch nicht ausgesprochenen Schlußfolgerungen und seine Empfindungen sind kein Gesprächsgegenstand mehr. D e r Z u h ö r e r reagiert n i c h t e i n f ü h l s a m u n d v e r s t ä n d n i s v o l l , s o n d e r n m i t allgemeinen Ü b e r l e g u n g e n , mit d e n e n d e r G e s p r ä c h s p a r t n e r sich s c h o n l ä n g s t auseinandergesetzt h a b e n dürfte. Eine Variante der intellektualisierenden Argumentation besteht darin, G e g e n a r g u m e n t e anzuführen: „ D a s k a n n nicht sein, d e n n . . . " . D a m i t w e r d e n die G e f ü h l e u n d E m p f i n d u n g e n eines G e s p r ä c h s p a r t n e r s völlig a b g e w e r t e t , u n d es ist sehr w a h r s c h e i n l i c h , d a ß d a s G e s p r ä c h zu e i n e m n i c h t g e p l a n t e n S t r e i t g e s p r ä c h g e r ä t o d e r a b b r i c h t .
2.3 Besondere Gesprächssituationen Renate
Markward
Unter diesem Punkt werden einige ausgewählte Gesprächssituationen behandelt, die der berufliche Alltag häufig mit sich bringt. Der Schwerpunkt liegt auf praxisnahen Hinweisen zur Gesprächsführung in verschiedenen Situationen: Kommunikation mit Patienten (Einzelgespräche mit spezieller Zielgruppe), Gruppengespräche mit Mitarbeitern (Teambesprechungen mit mehreren Mitarbeitern) sowie konfliktbewältigende Gespräche (thematisch gebundene Gesprächsform mit beliebigen Gesprächspartnern).
2.3.1 Gespräche mit Patienten Gespräche mit Patienten werden oft als einzig bedeutsame Art der Gesprächsführung im Berufsalltag abgehandelt; das ist gewiß nicht so, denn auch die Kommunikation mit Mitarbeitern nimmt einen großen Raum ein. Während sich jedoch die Gespräche der Mitarbeiter untereinander häufig auf Routinefragen beziehen und sich im Laufe der Zeit angemessene und praktikable Kommunikationsformen eingeschliffen haben, sind Patienten eine Zielgruppe, die — bei Kurzzeitpatienten — häufig wechselt und mit denen keine Vorerfahrungen bestehen durch häufige Begegnungen und gemeinsamen Austausch. Langzeitpatienten in besonderen Stationen oder Patienten mit regelmäßiger Aufnahme für eine bestimmte Zeit sind wiederum eine besondere Gruppe: sie sind den Gesprächspartnern oft gut bekannt und ihre Probleme, Einstellungen, Lebensumstände und Erfahrungen sind möglicherweise schon vertraut. Bei Gesprächen mit ihnen steht meist die Besonderheit ihres Krankheitsbildes und die weitreichenden Auswirkungen im Vordergrund. Chronisch Kranke sind außerdem in der Regel über ihre Krankheit gut informiert und benötigen weniger grundlegende Informationen und Erklärungen zu diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. 2.3.1.1 Sprachliche Umgangsformen Gespräche mit Patienten ergeben sich zwangsläufig aus sachlich begründeten Anlässen, wenn beispielsweise ihr Zimmer aufgesucht wird, um etwas im Raum zu erledigen oder wenn an ihnen Maßnahmen durchgeführt werden müssen. Zu solchen Anlässen kann Kontakt hergestellt und gepflegt werden. Patienten dürfen berechtigterweise erwarten, daß ihnen respektvolle, höfliche und verbindliche Umgangsformen entgegengebracht werden. Dazu gehört ein freundlicher Gruß beim Betreten eines Zimmers ebenso wie eine höfliche Bitte, jetzt eine bestimmte Verrichtung ausführen zu dürfen oder eine verbindlich und gut verständlich formulierte Erklärung zu notwendigen Maßnahmen. Auch wenn Abläufe und
Besondere Gesprächssituationen
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M a ß n a h m e n im Tagesgeschehen einem Patienten mittlerweile bekannt sind, sollte trotzdem nicht auf freundlich begleitende Äußerungen verzichtet werden. Diese Kurzgespräche dienen d a n n weniger der Information auf der Sachebene als der Kontaktpflege und dem Bemühen um ein gutes Verhältnis. Zeitdruck des Pflegepersonals darf nicht dazu führen, d a ß notwendige Aufgaben grüß- und kommentarlos erledigt werden; auch unter ungünstigen Bedingungen läßt sich noch ein verbindlicher Gesprächsstil aufrechterhalten. Der Grund für knappes, wortkarges und unverbindliches Gesprächsverhalten des Personals kann häufig darin gesehen werden, d a ß es einerseits Routineverrichtungen keine große Bedeutung mehr beimißt und andererseits im Laufe der Berufspraxis so etwas wie eine Hausmachteinstellung (,das ist meine Station und hier wird das so gemacht') entwickelt hat. Durch längeren Dienst in einer Institution kennt es Gegebenheiten, Notwendigkeiten und Hintergründe, um die Arbeit möglichst reibungslos zu verrichten. Dabei wird u. U. übersehen, d a ß das, was dem Personal keine Diskussionen und Kommentare mehr abnötigt und eher lästig erscheint, für den Patienten neu oder nicht gut vertraut ist und für ihn sehr wohl erklärungsbedürftig und kommentarwürdig ist. 2.3.1.2
D i s t a n z u n d Distanzlosigkeit
D a s Gegenteil von unangemessen wortkarger Reserviertheit ist eine ebenso unangebrachte Distanzlosigkeit im Gesprächsverhalten. D a ß Patienten weder geduzt noch mit vertraulichen oder saloppen Bezeichnungen angeredet werden sollten, ist selbstverständlich. Auf die Vermeidung von starkem Dialekt, Modewörtern und Floskeln, von Fremdwörtern und Fachjargon, von grammatisch vereinfachenden Falschformen und verniedlichenden Aussageformen (insbesondere desorientierten, älteren und ausländischen Mitbürgern gegenüber) wurde bereits hingewiesen (s. Abschn. 2.2.2.2). Die Wir-Form in der Ansprache (ζ. B. „Wie haben wir denn geschlafen?" anstatt „Wie haben Sie geschlafen?") ist genauso unpassend und logisch falsch wie die M a n - F o r m (ζ. Β. „ M a n könnte 'mal das Fenster ö f f n e n " anstatt „Ich möchte zum Lüften das Fenster öffnen; ist Ihnen das recht?"). Ironische Bemerkungen und Späße und Scherze zu Lasten anderer, Witze u n d Klatsch über Mitarbeiter und Mitpatienten sollten niemals zum Gesprächsinhalt im Umgang mit Patienten werden. Auch wenn das nicht nur gedankenlos und unüberlegt geschieht und der E n t k r a m p f u n g und Aufheiterung von Patienten oder der Abfuhr eigener Spannungen dienen soll, ist es nicht mit einem seriösen beruflichen Gesprächsverhalten vereinbar, die Grenzen der Intimität, des Takts und der Integrität zu überschreiten. Berufliche Gesprächsführung fordert selbstkontrollierte Disziplin ab, und im Zweifelsfall kann es hilfreich sein, sich selbstkritisch zu befragen, o b m a n selbst auf eine bestimmte Art angesprochen und mit Äußerungen bedacht sein möchte. Die eigene Beachtung angemessener Distanz im Gesprächsverhalten bietet zwar einen gewissen Schutz gegen Distanzlosigkeiten, sie verhindert aber mögliche
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Grundvoraussetzungen der Pflege
verbale und auch handgreifliche Übergriffe durch — meist männliche — Patienten (und Mitarbeiter) nicht. Beim Gefühl einer Belästigung ist sofort mit deutlichen, direkten und zweifelsfreien Äußerungen auf Unterlassung zu dringen (ζ. B. „Unterlassen Sie das bitte, ich will das nicht" oder „Ich mag Ihre Anspielungen nicht, lassen Sie das, ich fühle mich von Ihnen belästigt"). Auch weniger aggressive Formen der Distanzlosigkeit wie Befragungen nach dem Privatleben sollten als unpassend zurückgewiesen werden („Das ist meine Sache"). Mit ausforschenden und anzüglichen Bemerkungen und Witzen werden fast ausnahmslos Frauen von Männern attackiert; neuere gesetzliche Bestimmungen über Belästigungen und Nötigungen am Arbeitsplatz tragen dem Rechnung. Es kann Verblüffung und Distanz herstellen, wenn eine respektdurchbrechende, anzüglichbeleidigende Bemerkung oder ein Witz uminterpretiert werden und rückgefragt wird, ob das gleiche auch umgekehrt für Männerrollen gilt. Es erfordert allerdings viel Selbstbewußtsein, Selbstbeherrschung und verbale Schlagfertigkeit, um in einer Situation so reagieren zu können. 2.3.1.3 Umgang mit Vorwürfen und Kritik Verbale Äußerungen von Patienten, die vom Personal als Vorwürfe, Angriffe, Beschwerden und Beleidigungen empfunden werden und sich auf die Sachkompetenz beziehen, sind ein weiterer Prüfstein für selbstkontrollierte Disziplin und die Erprobung von ruhigen und gelassenen Reaktionen. Bei einer Vielzahl von Äußerungen steht nicht persönliche Sympathie oder Antipathie im Vordergrund, sondern die besondere Situation eines Patienten. Mögliche Unmutsreaktionen beziehen sich dann weniger auf die Pflegeperson bei der Ausübung ihrer Tätigkeit, sondern auf die Person als Vertreterin der Institution. Es wäre unklug, feindselige Äußerungen persönlich zu nehmen, wenn dahinter eine Institutionskritik steht. Bei sehr persönlich formulierten Anwürfen sollte zunächst im Gespräch geklärt werden, auf wen oder was die Kritik eigentlich zielt (ζ. B. „Sie sind unzufrieden mit ..." oder „Sie scheinen verärgert über ..."). Solche Gespräche erfordern sachliche und verbindliche Reaktionen und die Vermeidung von emotionalen, autoritären und rechtfertigenden Äußerungen. Selbstbeherrschung in dieser Form stellt sich wahrscheinlich erst im Laufe der Berufspraxis auf dem Hintergrund von Erfahrung und Übung ein. Sollte ein kritischer Vorwurf sehr persönlich verletzend und unverhofft angebracht werden, empfiehlt es sich bei weniger Übung, sich darauf nicht sofort und damit möglicherweise unüberlegt emotional einzulassen, sondern das Gespräch darüber auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben (ζ. B. „Ich kann jetzt nicht darauf eingehen. Darüber möchte ich später mit mehr Ruhe und Zeit sprechen"). In besonders krassen Fällen persönlicher Antipathie und Streitbarkeit kann die gesprächsweise Behebung und Ausräumung von Vorbehalten so aufwendig und so wenig erfolgversprechend sein, daß es besser ist, die Betreuung anderen Mitarbeitern zu übertragen. Sollte die Kritik eines Patienten zutreffen, dann muß ein Fehler auch zugestanden werden und eine Entschuldigung erfolgen (ζ. B. „Ja, das stimmt, ich habe ...").
Besondere Gesprächssituationen
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Ob mit der Entschuldigung gleichzeitig ein Ausdruck des Bedauerns und eine nähere Erklärung der Begleitumstände verknüpft werden soll, hängt vom Gegenstand der Kritik und der Situation ab. Es ist nicht immer angebracht, um einen Fehler sehr viele Worte zu machen. Es mag u. U. genügen, der Entschuldigung einen Hinweis auf Behebung oder Korrektur hinzuzufügen (ζ. B. „Es tut mir leid, daß ich Ihre Tabletten vergessen habe. Ich bringe sie in fünf Minuten"). Eine offensichtlich unberechtigte Kritik sollte sachlich und bestimmt zurückgewiesen werden (ζ. B. „Das stimmt nicht, denn ..." oder „Das trifft nicht zu, weil ..."). Eine indirekte Kritik kann sich beispielsweise auf den Vorwurf der Unerfahrenheit („Sie sind ja noch sehr jung") oder eine andere Vorgehensweise von Mitarbeitern beziehen („Ihre Kollegin macht das aber ganz anders"). Je nach eingeschätzter Bedeutung kann hier entweder reagiert werden, indem eine mögliche Besorgnis ausgesprochen wird (ζ. B. „Sie denken, ich bin noch sehr unerfahren" oder „Sie glauben, die Kollegin macht das besser") oder aber die Antwort kann direkter sachbezogen erfolgen (ζ. B. „Es stimmt, ich bin noch sehr jung, aber ich habe eine sehr gute Ausbildung" oder „Ich mache das so. Wie wird es von der Kollegin gemacht?"). Patienten beobachten die Arbeit des Pflegepersonals genau, tauschen untereinander ihre Erfahrungen aus und versuchen auch gelegentlich Personal auf eigennützige Art und Weise (u. U. durch ,Gegeneinanderausspielen') für sich zu gewinnen. Wenn sich der Eindruck von einem solchen Vorgehen durch mehrfach hinweisende Aussagen erhärtet, sollte zur Klärung ein Gespräch der Pflegepersonen untereinander gesucht und sodann ein klärendes Gespräch mit dem Patienten geführt werden. — Weitere Hinweise zum Umgang mit Kritik finden sich im Abschn. 2.3.3 ,Konfliktgespräche'. 2.3.1.4 Gespräche zur I n f o r m a t i o n und Wissensvermittlung Längere Gespräche mit Patienten können dann nötig werden, wenn bei ihnen Lernprozesse ausgelöst werden sollen, um sie in bestimmten Dingen zu schulen, wenn mit ihnen Verhaltensänderungen überdacht und eingeübt werden sollen, wenn ihnen Wissen und Information vermittelt werden soll (ζ. B. Insulin-Behandlung eines Diabetikers). Solche Gespräche sind zu planen und setzen eine Vorund Nachbereitung voraus: Vorher sind die beabsichtigten Gesprächsziele und das gewünschte Ergebnis festzulegen, im nachhinein ist zu überprüfen, ob und inwieweit die Ziele erreicht wurden. Informationsgespräche benötigen einen günstigen Gesprächsrahmen, angemessene situative Bedingungen und eine partnerschaftliche Kommunikationsform. Das setzt Zeit und Gesprächskompetenz voraus. Zur Vermittlung von Wissen gehört selbstverständlich die eigene Sachkundigkeit und Übung in der Übermittlung von Informationen. Informationen sollen aufgenommen, verstanden und behalten werden. U m das zu gewährleisten, muß die Übermittlung auf das Aufnahmevermögen, die Mitdenkfähigkeit und das Vorwissen abgestimmt werden. Die sprachliche Übermittlung erfordert klare, einfache und kurze Sätze ohne Fachjargon und institutsinterne Abkürzungen. Notwendige Fachausdrücke müssen erläutert werden. Wenn Vor-
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Grundvoraussetzungen der Pflege
wissen (noch) nicht gegeben ist, muß die Vermittlung in kleinen gegliederten Teilschritten mit Wiederholungen, anschaulichen Beispielen und Zusammenfassungen erfolgen; Unterstützung durch Schriften und Anschauungsmaterialien bietet sich an. Handlungsvollzüge sind ebenfalls in Teilschritten zu demonstrieren und einzuüben. Dabei ist es besonders wichtig, das Tun begleitend zu versprachlichen und zu kommentieren. Ein thematischer Wechsel oder der Übergang zu einem weiteren Teilschritt sollte durch eine Zusammenfassung des Vorausgegangenen und eine Ankündigung des Neuen erfolgen (ζ. B. „Das war jetzt ... und nun erkläre ich als nächstes ..."). In jedem Fall ist genügend Zeit für Nachfragen und Kommentare durch den Patienten vorzusehen; fragt er nicht von sich aus, sollte er dazu angeregt werden (ζ. B. „Habe ich das verständlich erklärt? Was ist für Sie noch wichtig?"). Da die menschliche Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit begrenzt ist, sollte die Menge der Information und die Zeitdauer der Übermittlung pro Gesprächseinheit geringgehalten werden. Verteilte Informationen über mehrere Gespräche mit Wiederholung und Anknüpfung an bereits Besprochenes sind günstiger als ein langes Gespräch mit einer Vielzahl verschiedener Informationen. Was von der Menge und der Dauer her richtig erscheint, läßt sich nicht grundsätzlich beantworten. • Als Anhaltspunkt kann die Regel gelten, daß höchstens sieben Informationseinheiten oder Unterpunkte zugleich gemerkt werden können und daß nach etwa einer halben Stunde die Aufnahmefähigkeit sinkt. Bei jedem Gespräch muß außerdem berücksichtigt werden, daß • erstens nicht alles Gesagte und Gezeigte auch immer umfassend wahrgenommen wird, • zweitens nicht immer alles verstanden wird und • drittens von den nur ausschnitthaft wahrgenommenen und verstandenen Informationen auch nicht alles behalten wird. Zusätzlich blockieren stärkere Emotionen — ζ. B. Ängste und Unsicherheiten — die Fähigkeit zur Informationsaufnahme, Wiederholungen und Nachfragen ergeben sich damit fast zwangsläufig. 2.3.1.5 Rechtsvorschriften zur Information Nach der gängigen Rechtsauffassung ist es ausschließlich Sache des Arztes, den Patienten über die Krankheit, über Diagnose, Verlauf, Prognose und Therapie, über Behandlungsmaßnahmen und Medikamente zu informieren. Da in solchen Gesprächen meist sehr viele Informationen in kurzer Zeit und in nicht immer leicht verständlicher Formulierung geboten werden, richten sich spätere vertiefende Nachfragen häufig an das Pflegepersonal — zumal das Personal öfter und regelmäßiger mit dem Patienten umgeht als die behandelnden Ärzte und sich emotionale Wahrnehmungsblockaden erst im nachhinein abbauen. Die deutsche Rechtssprechung gibt hinsichtlich der Aufklärung durch das Pflegepersonal derzeit folgende Richtlinien vor (Brenner 1992, S. 164 ff.):
Besondere Gesprächssituationen
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• Wenn das Pflegepersonal bei der Aufklärung über diagnostische und therapeutische Maßnahmen durch das ärztliche Personal nicht anwesend war, muß es an den Arzt verweisen, um eine andersartige oder widersprüchliche Aufklärung zu vermeiden. • Wenn das Pflegepersonal um Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärung weiß, kann es im Rahmen der ,Grundpflege' und der psychosozialen Betreuung die Angaben des Arztes verdeutlichen. Eine eigenständige Interpretation und Ergänzung der ärztlichen Informationen ist ihm jedoch nicht gestattet — es darf ζ. B. kein Hinweis auf eine vom ärztlichen Personal verschwiegene Nebenwirkung von Maßnahmen erfolgen. • Bei Ablehnung einer ärztlich angeratenen pflegerischen Maßnahme durch einen Patienten kann das Pflegepersonal zwar Überzeugungsarbeit' leisten, es muß aber bei weiter bestehender Ablehnung das ärztliche Personal hinzuziehen. • Im Rahmen der , Grund- und Behandlungspflege' darf das Pflegepersonal — in Übereinstimmung mit den Anordnungen des ärztlichen Personals und zur Gefahrenabwendung — einen unwilligen und verweigernden Patienten zu therapiegerechtem Verhalten zuraten. Es ist dem Pflegepersonal also nur bei hinreichender Vorinformation durch das ärztliche Personal und nur zu bestimmten pflegerischen Fragen gestattet, Nachfragen eines Patienten nach den Grundsätzen der einfachen, überschaubaren und anschaulichen Wiederholung zu beantworten. Irritationen bleiben nicht aus, wenn das Pflegepersonal vom Patienten befragt wird und — wegen des Informationsvorsprungs aus den Krankenakten — mehr als der Patient weiß, seinerseits nicht sicher ist, über was der Patient bereits informiert ist und selbst aus rechtlichen Gründen nicht unbefangen antworten darf. Der Informationsvorsprung des Pflegepersonals hinsichtlich Diagnose und Therapie darf nicht dazu verleiten, einem Patienten gegenüber weitergehende unzulässige Ausführungen oder Andeutungen zu machen. Ebensowenig darf sich das Personal auf Gespräche über einen ähnlichen Krankheitsverlauf von Mitpatienten einlassen und sich dazu befragen lassen. In solchen Fällen sollte zunächst geklärt werden, was vom Patienten bisher aufgenommen und verstanden wurde, wo er seine Vermutungen ansiedelt und welche Zweifel er hat (ζ. B. „Worüber sind Sie informiert worden? Wie schätzen Sie Ihre Situation ein?"). Bei Nachfragen, die über den zulässigen Auskunftsbereich hinausgehen, sollte auf die Zuständigkeit des ärztlichen Personals verwiesen werden (ζ. B. „Dazu kann ich nichts sagen, das müssen Sie mit Ihrem Arzt besprechen"), eventuell Rücksprache im Pflegeteam gesucht und ein Gesprächstermin mit dem Arzt vermittelt werden. Gespräche mit lebensbedrohlich Erkrankten und Sterbenden und ihren Angehörigen gehören zu den schwierigsten und belastendsten überhaupt und setzen in einem besonderen Maß die Fähigkeit zum partnerzentrierten, einfühlsamen Ge-
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Grundvoraussetzungen der Pflege
spräch voraus. Sie werfen besondere Probleme auf hinsichtlich der Information des Patienten über seinen Zustand, im Hinblick auf existentielle Fragen und damit einhergehende Emotionen.
2.3.2 Gruppengespräche mit Mitarbeitern Das Pflegepersonal ist in einer Einrichtung, die Kranke betreut, nur eine der unterschiedlichen Berufssparten, die dort ihre Arbeit verrichten. Arbeitsteilung und Spezialisierung führen zu zahlreichen personellen Gruppierungen. Das erfordert einen regelmäßigen gegenseitigen Informationsaustausch; Kontakt und Kommunikation findet aus dienstlichen Gründen in vielfältiger Weise zwischen den Berufsgruppen statt. Untersuchungen zur Struktur der Kommunikation im Krankenhaus haben gezeigt, daß — mit Zweidrittel und mehr — die häufigsten Gesprächskontakte zu Mitgliedern der eigenen Berufs- und Arbeitsgruppe bestehen. Das Pflegepersonal einer Station führt also untereinander die meisten Gespräche und beschränkt sich im wesentlichen auf Kontakte innerhalb der eigenen statusgleichen Gruppe. Neben den Sachzwängen trägt auch die räumliche Nähe dazu bei (Remschmidt, 1988 und Wöbcke/Pause, 1978). Gruppeninterne Mitarbeiterbesprechungen oder Teamgespräche sind eine wichtige Methode zum allseitigen Informationsaustausch und zur Problembewältigung. Gerade Institutionen wie Krankenhäuser, die häufig noch einem überholten Hierarchiedenken anhängen und in denen immer noch auf Statusabgrenzungen beharrt wird, sollten sich demokratischeren und gleichberechtigteren Umgangsformen und Arbeitsweisen öffnen. Mitarbeiterbesprechungen können ein gutes praktisches Übungsfeld dafür sein. Die Spannweite der Themen und Inhalte für ein Teamgespräch ist breit und stations- und situationsabhängig; inhaltlich kann es sich ζ. B. um Dienstplan- und Informationsfluß-Probleme, um Fallbesprechungen oder Fortbildungsfragen handeln. Da das Verhalten der Gesprächspartner in Gruppengesprächen anderen Regeln unterliegt als in Einzelgesprächen, bedürfen Gruppengespräche einer besonderen Betrachtung. Es werden Regeln formeller Diskussionsgruppen vorgestellt und zur Beachtung und Nachahmung empfohlen. Häufig haben dienstliche Mitarbeiterbesprechungen den Charakter informeller Treffen und es wird wenig Wert auf die Beachtung formaler Gesprächsregeln gelegt. Bei sehr kleinen Gruppen und sehr gut miteinander bekannten Mitarbeitern kann das zu zufriedenstellenden Abläufen und Ergebnissen führen. Sehr viel wahrscheinlicher ist es allerdings, daß diese ,halbprivaten' Treffen und Aussprachen nicht genügend sachorientiert und effektiv sind, weil sehr viel Zeit mit nicht themenbezogenen Nebensächlichkeiten verbracht und die straffe und gezielte Hinwendung zum Informationsaustausch oder Problemlöseprozeß vernachlässigt wird. — Die nachfolgenden Hinweise zum Gesprächsverhalten in Gruppen erfolgen in Anlehnung an Tillner/Franck, 1990 und Weisbach et al., 1979.
Besondere Gesprächssituationen 2.3.2.1
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Diskussionsbeteiligung
In Gruppengesprächen mit gleichen Teilnehmern ergeben sich im Laufe der Zeit meist festgefahrene Gewohnheiten: die Gesprächsleitung ist in immer gleichen Händen, die Sitzplatzanordnung stillschweigend festgelegt und die Teilnehmer unterscheiden sich nach ,Dauerrednern' und ,Schweigern'. Ein neues oder gehemmtes Gruppenmitglied hat es unter solchen Bedingungen schwer, sich an einem Gespräch zu beteiligen und seine Argumente einzubringen. Ein wenig durchsetzungsfähiger Gesprächspartner kämpft oft mit sich, ob und wann er sich an einer Diskussion beteiligen soll und ist dann so sehr mit seinen Hemmungen beschäftigt, daß er einen Redebeitrag schließlich versäumt. Dadurch wird er immer weniger wahrgenommen und das erschwert wiederum seine aktive Beteiligung. Ein früher Beitrag erleichtert den Einstieg, verschafft Erfolgserlebnisse, vermittelt Sicherheit und stärkt das Selbstvertrauen, um sich im Verlaufe einer Diskussion weiterhin einzubringen. Jedes Mitglied einer Gesprächsgruppe ist mitverantwortlich, was diskutiert wird und wie eine Diskussion verläuft und trägt durch seine beständige Beteiligung oder seine Passivität zum Gesamtverlauf und Ergebnis bei. Teilnehmer, die dem Geschehen nur passiv folgen, die während einer Diskussion Nebengespräche führen und den Fortgang nicht aufmerksam und konzentriert verfolgen, äußern sich im nachhinein oft unbefriedigt und können sich mit Ergebnissen und Beschlüssen nicht einverstanden erklären. Sie haben es versäumt, ihren Einfluß geltend zu machen, ihre Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Meinungen zu äußern und mit dafür Sorge zu tragen, daß ein konstruktives Diskussionsklima entsteht. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich aktiv an einer Diskussion zu beteiligen. Dazu gehört • Vorschläge zu den Themen und zur Tagesordnung zu machen und auf die Einhaltung des geplanten Verlaufs zu achten, • die Problembeschreibung und -gewichtung, das Zusammenfassen von Beiträgen, das Vorbringen, Differenzieren und Verbinden von Argumenten und Standpunkten, die Äußerung von (Teil-)Zustimmung und Ablehnung, das Fragenstellen, das Überprüfen von Informationen, Schlußfolgerungen und Vorschlägen, das Abwägen von Konsequenzen. 2.3.2.2
Diskussionsbeiträge
Gesprächsbeiträge sollen kurz und präzise sein und an den passenden Stellen eingebracht werden. Das erfordert eine genaue vorherige Überlegung, was das Ziel des eigenen Beitrages ist und was damit erreicht werden soll. Langfristig zurechtgelegte Äußerungen verlieren häufig durch den fortgeschrittenen Diskussionsverlauf ihren aktuellen Bezug und stiften Verwirrung. Es trägt zur Klarheit und Überschaubarkeit von Beiträgen bei, die Absichten zu Beginn zu benennen
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Grundvoraussetzungen der Pflege
und Sätze entsprechend einzuleiten (ζ. B. „Ich will etwas vorschlagen ... meine Meinung dazu sagen ... die Situation beschreiben ... ein Beispiel nennen ... dazu auffordern ... eine Lösung vorschlagen ... ein neues Argument anführen ... widersprechen ... zustimmen und ergänzen ... informieren über ..." usw.). Wenn ein problemlösender Vorschlag gemacht wird, sollte zunächst die derzeitige Situation beschrieben werden, dann der gewünschte Zielzustand und schließlich der Weg, auf dem das Ziel erreicht werden könnte. Soll hingegen ein bestimmter Standpunkt vertreten werden, so steht am Beginn eine Behauptung, gefolgt von einigen Beispielen und Belegen dafür und abschließend eine Schlußfolgerung daraus. Gute Vorschläge und Argumente können viel von ihrer Wirksamkeit verlieren, wenn sie nicht selbstbewußt und bestimmt vorgetragen werden. Zaghaft fragende Äußerungen und zurücknehmende sprachliche Floskeln (,ich würde sagen, ich würde meinen, könnte es nicht sein, eigentlich, besser, vielleicht, nicht wahr' usw.) schwächen eine Aussage ab und geben eine Meinung oder Behauptung nicht als solche wieder. Zur direkten Formulierung gehört auch die Vermeidung von Man- und WirFormeln und der Beginn eines Satzes mit ,Ich' (ζ. B. „Ich möchte, daß ..." anstatt „Könnten wir nicht ..."). Ein Gesprächsteilnehmer, der seine Meinung konkret und selbstsicher als seine Meinung äußert, bezieht durch die Ich-Formulierung eindeutig Stellung und übernimmt die Verantwortung für seinen Beitrag. Er spricht nicht für andere mit, interpretiert sie nicht und teilt lediglich seine Meinungen und Wahrnehmungen mit. 2.3.2.3 Diskussionsleitung und -stil Ob für ein Gruppengespräch eine Tagesordnung erforderlich ist, ob Rednerlisten und ein Protokoll geführt werden und ob es nützlich ist, sich selbst stichwortartige Notizen zu machen, hängt von organisationsinternen Vorgaben ab sowie vom Thema, von der Gruppengröße und von der Lebhaftigkeit der Diskussion. Eine Diskussionsleitung sollte immer vorhanden sein, und es trägt zur Verbesserung der aktiven gleichberechtigten Beteiligung bei, wenn die Leitung reihum wechselt und jedes Gruppenmitglied einmal die Möglichkeit hat, sich in die Leitung einer Diskussion einzuüben. Die Aufgabe der Leitung kann darin bestehen, entweder nur Wortmeldungen und Redebeiträge zu steuern oder die gesamte Diskussion zu strukturieren. Dann gehört es dazu, die Tagesordnung vorzustellen oder festzulegen und Änderungsund Ergänzungsvorschläge zu erfragen, Beiträge zu sammeln und zu ordnen und durch gelegentliche Zusammenfassungen Übereinstimmungen, Widersprüche, Verbindungen und offene Fragen herauszustellen. Es ist weiterhin Aufgabe der Diskussionsleitung darauf zu achten, daß themenorientiert diskutiert wird, daß alle Teilnehmer gleichberechtigt mitreden können und daß zurückhaltende Gruppenmitglieder indirekt zum Beitrag ermuntert werden (ζ. B. „Sie wollten etwas sagen?"). Um eine Diskussion in Fluß zu halten, bieten sich Zusammenfassungen, Fragen und Erläuterungen an. Am Ende einer Diskussion sollte ebenfalls eine
Besondere Gesprächssituationen
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Zusammenfassung und eventuell ein Ausblick auf weitere Gesprächsthemen stehen. Für einen fairen Diskussionsstil sind alle Gesprächsteilnehmer verantwortlich; insbesondere die diskussionsleitende Person hat darauf zu achten, daß Redebeiträge nicht unterbrochen, nicht unangemessen beurteilt und bewertet werden und daß persönliche Angriffe unterbleiben. Störendes Gesprächsverhalten in Gruppendiskussionen besteht darin, sich gegenseitig zu unterbrechen, dazwischenzureden oder jemanden ins Wort zu fallen, selbst wenn das nicht in provokativer Absicht geschieht. Bei einem solchen Vorgehen sollte sachlich und bestimmt der Hinweis erfolgen „Bitte lassen Sie (mich) ausreden" oder „Bitte unterbrechen Sie (mich) jetzt nicht". Störungen der Diskussion, die ein Mitglied bei sich wahrnimmt (ζ. B. Konzentrationsmängel, Langeweile, Ärger, Unzufriedenheit), sollte es beizeiten anmelden und darüber reden anstatt sich zurückzuziehen. Störungen können beispielsweise dadurch eintreten, daß jemand zu häufig unterbricht oder zu viel redet. Es kann dann ein Hinweis auf die Einhaltung der Tagesordnung oder der Themen oder ein Vorschlag zur Redezeitbegrenzung erfolgen. Teilnehmer, die dazu neigen, ständig alles zu kritisieren, sollten aufgefordert werden, eigene Vorschläge einzubringen anstatt die anderer zu zerreden. Jeder Gesprächsteilnehmer hat das Recht, seine Meinungen und Sichtweisen darzustellen und Vorschläge zu machen; die anderen Gruppenmitglieder können zustimmen, ergänzen oder ablehnen, sie sind aber nicht berechtigt, einen Beitrag — noch bevor er vollständig formuliert ist — zu bewerten und zu verurteilen (ζ. B. durch „Das geht so nicht" oder „Das ist doch Unfug"). Eine solche Bewertung ist ebenso zurückzuweisen wie ein persönlicher Angriff (ζ. B. „Sie können das doch gar nicht beurteilen") mit einer Bemerkung, die darauf verweist, daß man es selbst so sieht und darstellt und den anderen bittet, sachlich zu bleiben. Besonders unpassend und störend und besonders häufig ist kritisierendes und beurteilendes Verhalten anzutreffen, wenn in einer ungeübten Gruppe nach Problemlösungen durch die Methode des brainstormings gesucht wird. In einer solchen Phase ist jedes Gruppenmitglied aufgefordert, jede beliebige Idee beizusteuern, um dann in einer weiteren Phase die Vorschläge zu ordnen und zu prüfen. Wenn diese Methode angewendet wird oder wenn zum Einstieg in ein Thema zunächst jeder aufgefordert wird, seine Meinung zu einem Sachverhalt zu äußern, dann muß verstärkt durch die Diskussionsleitung darauf geachtet werden, daß bewertende Kommentare unterbleiben und nicht unterbrochen wird (ζ. B. „Beurteilen Sie die Vorschläge anderer jetzt nicht, machen Sie Ihre eigenen Vorschläge"). 2.3.2.4 Rahmenbedingungen für Gruppengespräche Auch bei Gruppengesprächen unter Mitarbeitern sind die äußeren Rahmenbedingungen wichtig. Räumlichkeit und Sitzplatzanordnung — so, daß nach Möglichkeit jeder jeden sehen und ansprechen kann — sollen eine angenehme Gesprächsatmosphäre zulassen. Problemstellungen, Besprechungsziele und der Zeitrahmen sollten vorher formuliert und jedem Teilnehmer bekannt sein. Wenn eine Führungskraft die Leitung der Besprechung übernimmt, dann sollte sie sich in den
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Grundvoraussetzungen der Pflege
äußeren Gesprächsrahmen ohne Hervorhebung einfügen und sich nicht hinter einen autoritätsgebietenden Schreibtisch zurückziehen und die Mitarbeiter auf Stühlen vor sich versammeln. Problemlösegruppen unter vier und mit mehr als neun Teilnehmern arbeiten erfahrungsgemäß nicht effektiv. Bei größeren Gruppen sind unter Umständen Teilgruppen mit delegierten Arbeitsaufgaben zu bilden, die ihre Vorschläge in die Gesamtgruppe einbringen. Nicht jedes Thema und Problem eignet sich für eine Besprechung mit allen Mitarbeitern; auch das ist vorher zu überprüfen. Eventuell ist ein ,Zweier'-Gespräch angemessener und ausreichend, u. U. kann auch ein Mitarbeiter allein eine Entscheidung fällen oder eine Lösung herbeiführen.
2.3.3 Konfliktgespräche Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen, die sie wahren und durchsetzen wollen. Dabei können in der Begegnung mit anderen, die ihre Wünsche und Vorstellungen ebenfalls realisieren möchten, Konflikte entstehen. Auch gegensätzliche Wertvorstellungen und Überzeugungen, Unterschiede in Temperament und Lebensstil sowie das Konkurrieren um ,knappe Güter' (ζ. B. leitende oder besser bezahlte Stellungen im Beruf) können Konflikte hervorrufen. Konfliktverschärfend ist dabei häufig eine verkürzte Wahrnehmung, durch die Verhaltensweisen anderer als Persönlichkeitsmerkmal und nicht als Verhalten unter bestimmten situativen Bedingungen gewertet wird. (Wenn ζ. B. eine einer Station neu zugeteilte Krankenpflegeschülerin zu einem Zeitpunkt intensiver Arbeitsbelastung erscheint, um zuerst einmal Dienstplanänderungen wegen ihrer Freizeitwünsche zu diskutieren und dabei auf unfreundliche Gegenreaktionen durch die Stationsleitung stößt, dann ist weder die eine noch die andere Person von vornherein besonders aggressiv oder unverständig, sondern ein Anliegen wurde zur falschen Zeit und in einer unpassenden Situation vorgetragen). Häufig wird ein Konflikt als negativ empfunden, weil ungünstige Erfahrungen mit offenen Auseinandersetzungen und Streitigkeiten ohne Kompromißlösung vorliegen. Daraus resultiert eine Scheu, Konflikte auszutragen, weil daraus oft nur ,Gewinner' oder ,Verlierer' hervorzugehen scheinen. Als Folge davon werden Wünsche unterdrückt oder Argumente und Meinungen zurückgehalten; die konfliktbestimmte Beziehung erfährt keine Entwicklung und der Umgang mit den Konfliktpartnern wird zur Belastung. Das wiederum führt entweder zu distanzierten Beziehungen mit zunehmender innerer Abneigung und Ärger oder dem Versuch, dem Konflikt durch Überanpassung an die vermeintlichen Vorstellungen anderer auszuweichen. In beiden Fällen steht das eigene Denken und Fühlen nicht im Einklang mit dem gezeigten Verhalten und es ist sehr wahrscheinlich, daß das durch die nonverbal übermittelten Beziehungssignale deutlich wird. Früher oder später führen diese Strategien dann doch zu einer offenen Auseinandersetzung oder einem völligen Beziehungsabbruch.
Besondere Gesprächssituationen
2.3.3.1
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Konfliktstrategien
Ein wesentliches Mittel der Konfliktbearbeitung ist die Kommunikation, eine Lösung für einen Konflikt der abgewogene und ausdiskutierte Kompromiß. U m Konflikte durch Gespräche zu lösen, bedarf es dazu tauglicher Kommunikationsformen. Die häufig gewählte Art, einem anderen ganz pauschal Fehler anzulasten und ihm anschließend vorzuschreiben, wie er sich zu verhalten hat, ist nicht geeignet und erzeugt unfruchtbaren Streit mit Widersprüchen, Rechtfertigungen und weiteren Anschuldigungen. (Z.B. sind auf den Vorwurf „Sie kommen ständig zu spät, so geht das nicht mehr weiter" rechtfertigende Antworten zu erwarten („Aber das stimmt doch gar nicht" bzw. „Ja, aber ich habe doch nur ..." usw.). Ebenso häufig anzutreffen und untauglich ist der Versuch, Beziehungskonflikte auf die Sachebene zu heben und dort auszutragen (ζ. B. „Die Arbeit ist in dieser Zeit gar nicht zu schaffen" anstatt „Ich ärgere mich darüber, daß keine Kollegin zur Mithilfe abgestellt ist. Ich möchte das nicht allein machen".) Das richtigere Vorgehen in einem Konfliktlösungsgespräch besteht allgemein darin, zur gleichen Zeit immer nur einen strittigen Punkt zu behandeln. Zu Beginn des Gesprächs sollte die Störung benannt werden, und zwar durch direkte Äußerung der begleitenden Gefühle — mit einer Ich-Aussage — und der konkreten Beschreibung von Verhaltensweisen — ohne Pauschalurteile, ohne Abwertung der gesamten Person, ohne Vorwurf. N u r eine bestimmte Verhaltensweise, nicht die gesamte Person, soll Gegenstand einer Kritik sein. Anschließend sollten die Bedürfnisse erforscht und geklärt, Wünsche für eine Verhaltensänderung in Zukunft formuliert, Lösungen dafür gesammelt und eine Einigung auf die beste Lösung — als Kompromiß — gefunden werden. Die beste Lösung ist die, auf die sich die beteiligten Konfliktpartner unter gegebenen Umständen am ehesten nach reiflicher Überlegung und mit Überzeugung einigen können. Das kann nicht immer die sachlich beste Lösung sein, aber eine, die in der Praxis auch Aussicht auf Umsetzung hat und zugleich sozialverträglich ist. 2.3.3.2 Kritik erteilen In Konfliktgesprächen zwischen zwei Personen geht es sehr häufig um Kritik, die erteilt wird oder hingenommen werden soll. Die Kritik bezieht sich meist auf das Verhalten oder eine Leistung; inhaltlich kann es sich ζ. B. um das Vergessen von Aufgaben, Verspätungen, Sachfehler bei der Verrichtung von Aufgaben oder als unangemessen empfundene Äußerungen handeln. Solche Gespräche sollten selbstverständlich ,Vier-Augen'-Gespräche sein und weder stehend auf dem Flur oder im Vorübergehen noch vor anderen geführt werden. Kritik vor unbeteiligten Dritten ist nicht nur peinlich oder befremdlich für die Zuhörer, sondern auch persönlich herabsetzend für den Betroffenen. Sie bietet
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Grundvoraussetzungen der Pflege
ebenso wie kritische Äußerungen im Vorübergehen keine angemessene Möglichkeit zur Rückäußerung und Diskussion. Da nicht immer erwartet werden kann, daß ein kritisierender Gesprächspartner diese Grundsätze einhält, sollte die weitere Zuteilung einer Kritik unter solchen Umständen zurückgewiesen werden (ζ. B. durch „Darüber möchte ich mit Ihnen noch sprechen, aber nicht jetzt, sondern zu einem geeigneteren Zeitpunkt"). Kritik hat also nicht nur konkret und direkt sondern auch diskret zu erfolgen. Außerdem sollte Kritik zwar möglichst sofort, aber unter den Bedingungen erfolgen, die dem Gesprächspartner auch ein sachliches Gespräch über die Kritikpunkte ermöglichen. Verallgemeinernde, wütend geäußerte Kritik, in der unter Umständen moralisiert wird, in der Nebensächlichkeiten und weit zurückliegende Ereignisse zur Sprache kommen, ist destruktiv, wird als Angriff empfunden und hat keine Aussicht, überhaupt angenommen zu werden. Kritisieren setzt Sachlichkeit und Selbstbeherrschung voraus und Kritik sollte vom Kritisierenden immer so formuliert sein, daß er sie im umgekehrten Fall auch selbst akzeptieren könnte. Kritik, die mit einer ,Du'- bzw. ,Sie'-Botschaft beginnt und in der Wörter wie ,immer' und ,schon wieder' einfließen (ζ. B. „Sie sind immer unpünktlich"), enthält eine verallgemeinernde Vermutung und beschreibt kein konkretes Verhalten (wie ζ. B. „Sie kamen in dieser Woche zweimal um 10 Minuten verspätet"). Meinungen und Vermutungen sollten als solche — und nicht als behauptete Tatsachen — mitgeteilt werden (ζ. B. „Ich finde daß ..." oder „Ich habe den Eindruck, daß ..."). Außerdem sollten die Gefühle, die ein Verhalten auslöst, benannt werden (ζ. B. „Ich bin erstaunt darüber, daß ..."). Für die Formulierung einer annehmbaren Kritik empfiehlt sich nach Möglichkeit eine Dreier-Schritt-Folge: auf die genaue Beschreibung des störenden Verhaltens und die Beschreibung der Gefühle folgt die Beschreibung des erwünschten Verhaltens — möglichst auch sehr präzise und in positiver Formulierung anstatt als zu unterlassendes Verhalten. (Ζ. B. „Ich möchte, daß Sie morgens um sieben Uhr den Dienst beginnen".) Unter Umständen kann in einem weiteren Schritt noch auf die möglichen Folgen eines Verhaltens hingewiesen werden, soweit sie tatsächlich absehbar sind und keine überzogene Drohung darstellen (ζ. B. „Wenn das für Sie nicht möglich ist, müßten wir uns über eine grundsätzliche Änderung Ihres Dienstplanes verständigen"). Ein als unangemessen empfundenes Verhalten vorgesetzter Mitarbeiter ist ein häufiges Thema informeller Mitarbeitergespräche; das mag eine Entlastungsfunktion haben, ist aber nicht die geeignete Weise, ein Problem zu lösen. Direkte Kritik gegenüber einem Dienstvorgesetzten oder übergeordneten Mitarbeiter mag eventuell mehr selbstbestimmtes Auftreten erfordern, ist aber der richtigere Weg zur
Besondere Gesprächssituationen
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Konfliktlösung als passives Hinnehmen und gleichzeitig destruktive Bemerkungen über das störende Verhalten anderen gegenüber. Gemäß der Dreier-Schritt-Folge könnte ζ. B. ein Arzt, der Gesprächstermine nicht wahrnimmt, angesprochen werden durch „Die Patientin hat bereits dreimal um ein Gespräch mit Ihnen gebeten; ich habe Sie jeweils informiert. Es ist mir peinlich, wenn sie heute wieder bei mir nachfragt und ich keine Auskunft geben kann. Ich möchte, daß Sie mir einen verbindlichen Termin nennen, zu dem Sie kommen werden." Kritik eines Verhaltens gleichgeordneter Mitarbeiter, die ebenfalls nicht direkt, sondern übergeordneten oder gleichgeordneten Mitarbeitern gegenüber geäußert wird, unterliegt ähnlichen Überlegungen. Der direkte Weg einer persönlichen Aussprache ist der beste, alles andere weniger gut. Gleichgestellte Mitarbeiter oder Vorgesetzte, die mit Klagen über das Verhalten anderer Mitarbeiter konfrontiert werden, sollten die beschwerdeführende Person dazu bewegen, ihre Klagen direkt vorzutragen. Frühzeitige eigene Stellungnahmen und Solidarisierungen verbieten sich, weil sie Unfrieden stiften und das Betriebsklima stören. Eventuell kann eine vermittelnde Aussprache helfen; in schwerwiegenden Fällen sollten die vorgesehenen betrieblichen Einrichtungen (Personalrat usw.) sich der Konflikte annehmen. Tillner/Franck (1990) und Schlüter-Kiske (1987) geben zusammenfassende Hinweise zur angemessenen Äußerung von Kritik im Berufsleben: • positiven Einstieg wählen und Kooperationsbereitschaft betonen; • vorher überprüfen, ob ein kritisierter Fehler durch eigenes Verhalten mitbedingt ist und ob Arbeitsaufträge eindeutig genug waren (anderen nicht unterstellen, sie hätten wissen müssen, was zu tun sei); • Vermeiden von Pauschalierungen und Angriffen; • Kritik nur auf ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte geforderte Leistung beziehen; • konkrete Äußerung, von welchen Sollwerten und Standards abgewichen wurde; • keine Vermischung von Feststellungen und Tatsachen mit Mutmaßungen über deren Ursachen; kein Psychologisieren, keine Verwendung von Vorinformationen aus anderen Quellen; • Beibehaltung von Freundlichkeit und Gelassenheit bei verteidigenden und aggressiven Gegenreaktionen; • Besprechung von Auswirkungen und Konsequenzen des kritisierten Verhaltens; • Hilfestellung für einen an Redegewandtheit unterlegenen Gesprächspartner, um seine Einwände einbringen und formulieren zu können; • Erarbeitung gemeinsamer Lösungsmöglichkeiten; • Anbieten konstruktiver Lösungsvorschläge, die der kritisierten Person helfen, sich an die Vereinbarung zu halten; • Vereinbarung, welche Leistung oder welches Verhalten künftig erbracht werden soll; • Vereinbarung, wann ein notwendiges Nachgespräch geführt werden soll zur Überprüfung, ob die vereinbarten Schritte richtig waren; • Betonung der Wichtigkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Das Gegenteil von Kritik ist das Lob. Kritik kann um so besser akzeptiert werden, je häufiger auch ein konkretes, direktes und ,echtes' Lob erfolgt. Daß das Aussprechen einer Anerkennung und die selbstbewußte Hinnahme eines Lobs (ζ. B. „Ja, das finde ich auch, und ich freue mich, daß Sie mir das sagen") nicht ebenso wie der kritische Vorwurf zum alltäglichen beruflichen und privaten Umgang gehören, ist bezeichnend für unsere mitmenschlichen Umgangsformen und sollte zu denken geben.
2.3.3.3 Kritik annehmen Auf den Umgang mit Kritik beim Kritisiertwerden wurde schon anhand einiger Beispiele eingegangen. An dieser Stelle erfolgt eine Zusammenfassung und Ergänzung. Zutreffende Kritik von Fehlverhalten, die in geeigneter Form vorgebracht wird, sollte das Selbstwertgefühl nicht beeinträchtigen, weil sie auf ein bestimmtes Verhalten und nicht auf die gesamte Person zielt. Fehler und Irrtümer unterlaufen jedem und sie zuzugestehen — oder das zu lernen — ist ebenso Ausdruck von Selbstbestimmtheit wie das Erteilen von Kritik. Bei einer anzunehmenden Kritik sollte zwischen der inhaltlichen Richtigkeit und der angemessenen Art und Weise unterschieden werden. Eine zutreffende Kritik, die in einer akzeptablen Form geäußert wurde, ist anzunehmen und, wenn nötig, mit einer bedauernden Entschuldigung oder einer Erklärung zu beantworten. Eine inhaltlich unzutreffende Kritik sollte mit einem entsprechenden Hinweis auf die eigene andere Sichtweise zurückgewiesen werden (ζ. B. „Ich habe einen anderen Eindruck, denn ..."). Unter falschen Bedingungen angebrachte Kritik sollte mit Hinweis auf ein Gespräch unter günstigeren Umständen unterbrochen werden. Bei pauschaler Kritik sollte eine Präzisierung eingefordert werden (ζ. B. „Erklären Sie mir bitte, was Sie genau meinen"). Uberschreitet eine pauschale Kritik überdies in grober Weise die Grenzen der Höflichkeit und Rücksicht, sollte das Gespräch darüber abgebrochen werden, eventuell mit einem Hinweis auf die als unzulässig empfundene Form (ζ. B. „Darüber möchte ich mit Ihnen (so) nicht sprechen" und „Das ist mir zu unsachlich und ärgert mich"). Kritik, die teilberechtigt erscheint, aber unklar, unsachlich oder übertrieben vorgetragen wird, sollte nicht zu Rechtfertigungen oder Entschuldigungen verleiten. In diesem Falle sollte nur knapp das möglicherweise Richtige bestätigt und darüber hinaus nichts kommentiert werden (ζ. B. die Bemerkung „Sie halten wohl nichts von Pünktlichkeit" mit „Doch. Aber heute bin ich 10 Minuten zu spät"). Eine Kritik-Diskussion, die sich voraussichtlich als fruchtlos und unergiebig erweist, kann auch erfolgreich abgebrochen werden durch die Bemerkung „Ich weiß, daß Sie das so sehen" und den möglichen Zusatzkommentar „Ich sehe es anders". Wenn es scheint, daß ein Gesprächspartner eine versteckte Kritik anbringt oder Nebensächlichkeiten kritisiert und etwas anderes meint, kann es richtig sein, den eigentlichen Störungspunkt selbst zu erfragen, um eine unklare Situation zu bereinigen. Das kann auch dann sinnvoll sein, wenn einem offensichtlichen eigenen
Besondere Gesprächssituationen
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Fehler ohne Aussprache negative Konsequenzen folgen. Die Eingangsfrage zum eigenen Einfordern einer Kritik kann mit den Worten „Haben Sie den Eindruck, daß ..." beginnen; dieser Frage kann eine Erklärung vorgeschaltet werden (ζ. B. „In der letzten Woche habe ich die Erledigung einer Sache vergessen. Haben Sie den Eindruck, daß ich unzuverlässig bin?" oder „Ich habe in der letzten Zeit nur wenig Gelegenheit zu einem Gespräch mit Ihnen gehabt. Haben Sie den Eindruck, daß ich mich nicht genügend um Sie kümmere?" oder auch direkter „Sie haben meinen Dienstplan überraschend geändert. Sind Sie der Meinung, daß ich meine Arbeit nicht richtig verrichtet habe?"). Das Anbringen solcher Fragen erfordert Selbstsicherheit, weil die Antworten nicht immer schmeichelhaft ausfallen mögen und den Anfang eines längeren Kritikgesprächs darstellen können. Beschwerdegespräch. In Einzelfällen kann es unumgänglich sein, mit einem erregten und zornigen Gesprächspartner ein Beschwerdegespräch zu führen. Dabei ist auf die Tjchniken des aktiven Zuhörens besonderer Wert zu legen. Eine Problemlösung ist nur zu erreichen, wenn der Gesprächspartner ausreichend Gelegenheit hat, seine angestauten Emotionen und Beschwerden unterbrechungsfrei vorzutragen. Emotionale Gegenreaktionen, Unterbrechungen und Bagatellisierungen des Problems verschärfen das Gesprächsklima und führen meist zu (weiteren) verbalen Entgleisungen. Mit einer höflichen und verbindlichen Grundhaltung sollten Kernprobleme erfragt, Einzelprobleme herausgegliedert und Lösungsmöglichkeiten oder Alternativlösungen erörtert werden. Kompromißlösungen sollten durch Überzeugung und nicht durch Überredung erreicht werden. Entschuldigungen und Bitten um Verständnis für sachliche Gegebenheiten können angemessen sein, jedoch nicht gleich zu Beginn des Gesprächs. 2.3.3.4 Konfliktlösung in Gruppen Um Konflikte in Arbeitsgruppen durch Gespräche zu lösen, muß die Gruppe sich um kooperatives Verhalten bemühen, indem sie unterschiedliche Meinungen, Interessen und Wünsche anhört und akzeptiert und sich gemeinsam um eine Kompromißlösung bemüht, der alle zustimmen können. Kooperative Konfliktlösungsmöglichkeiten sind fast immer gegeben; nur in Ausnahmefällen wird ein einzelnes Gruppenmitglied sich der einhelligen Alternativmeinung aller anderen beugen und Abstriche an seine Interessen machen müssen oder ein einzelner wird mit seinen Argumenten alle anderen zweifelsfrei von seiner Ansicht überzeugen. Wie auch in Einzelgesprächen gilt für die Gruppe, daß die Art und Weise der Kommunikation im Konfliktlösungsprozeß entscheidend ist und daß von ihr abhängt, ob ein Kompromiß zustandekommt oder nicht. „Die meisten Menschen können es akzeptieren, wenn ihre Sozialpartner ihre Wünsche nicht auf die Weise erfüllen können, wie sie es sich wünschen. Sie können es ebenso akzeptieren, daß es ihnen durch die Umstände und durch die Interessen anderer Menschen nicht möglich ist, alles zu verwirklichen, was sie sich erträumen. Was die meisten Menschen aber nicht akzeptieren können, ist, daß man ihnen vermittelt, daß sie kein Recht auf ihre Wünsche haben oder daß sie ,falsche' Wünsche haben. Dann fühlen sie sich berechtigterweise verletzt, unverstanden, sie
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Grundvoraussetzungen der Pflege
versuchen den anderen zu erklären, wie ,richtig' sie doch liegen und versteifen sich auf ihre Forderungen. Wenn ein Gruppenmitglied mit seinem Ärger und mit seinen Wünschen erst einmal angehört wird und wenn diese verstanden und akzeptiert werden, dann ist es auch in der Lage, sich auf realistische Weise mit den Interessen der anderen Gruppenmitglieder auseinanderzusetzen. Wird aber zunächst nicht akzeptiert, daß es diese Wünsche hat, und wird versucht, sie ihm auszureden, dann ist das Gruppenmitglied so stark mit seinen Gefühlen beschäftigt, unterlegen zu sein, nicht verstanden zu werden, abgelehnt zu werden oder ,falsch' zu denken, daß ihm die realistische Auseinandersetzung mit der Umwelt unmöglich ist" (Schwäbisch/Siems, 1974, S. 135/136). Konfliktlösung in der Gruppe setzt ein verständnisvolles Klima voraus, in dem Probleme und Wünsche ohne Scheu geäußert werden können. Es ist unerheblich, ob andere den Konflikt beabsichtigt haben oder ihrerseits als bedeutsam ansehen. Ein Konflikt besteht dann, wenn ihn jemand feststellt und sich gestört, verletzt oder irgendwie beeinträchtigt fühlt. Es kann gerade für weniger durchsetzungsfähige Mitarbeiter hilfreich sein, zur Aufarbeitung von Konflikten gesonderte Besprechungen anzuberaumen, die nur diesem Ziel dienen und keine anderen Punkte enthalten. Konflikte können in der Gruppe folgendermaßen abgehandelt werden: • Ein Teilnehmer äußert einen Konfliktpunkt einschließlich der ausgelösten Gefühle ohne Vorwurfshaltung und Erregung und ohne Unterbrechung durch die anderen. • Anschließend stellen alle anderen ihre Sichtweise des Problems nebeneinander dar — ohne Wertung und gegenseitige Bezugnahme. • Im nächsten Schritt sollte jeder Gelegenheit haben, seine Hintergrundsbedürfnisse, Motive und Interessen eingehender vorzutragen und dabei die Ansichten anderer angemessen berücksichtigen. • Die Problemlösungsphase wird eingeleitet durch die Umformulierung von Konflikt- und Ärgerpunkten in konkrete Wünsche auf der Verhaltensebene — wenn möglich als positive Aussage (was getan werden soll) und nicht als Wunsch auf Unterlassung (ζ. B. „Ich möchte, daß für Übergabegespräche bei Schichtwechsel 20 Minuten Zeit zum Informationsaustausch vorgesehen wird" anstatt „Ich wünsche mir einen besseren Informationsfluß"). • Die Problemlösung wird fortgesetzt durch eine ,brainstorming-phase' mit Lösungsvorschlägen, die keiner Kritik unterzogen werden dürfen. Je mehr Vorschläge gemacht werden und je abwegiger sie unter Umständen zunächst erscheinen, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß bei entspannter Stimmung kreative Lösungen gefunden werden. • Am Ende steht das gemeinsame Bemühen um eine zufriedenstellende und realistische Kompromißlösung. Aufgeregte Gesprächsphasen, in denen Emotionen die Überhand gewinnen und durcheinandergesprochen wird, sollten durch eine kurze Pause unterbrochen werden. Bei heftigen Vorwürfen und Anklagen sollte aufgefordert werden, die Be-
Besondere Gesprächssituationen
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schwerden in Wünsche umzuformulieren, um das gemeinsame Gespräch wieder auf eine konstruktivere Ebene zu bringen. Der gesamte Austausch von Meinungen muß unter das Motto gestellt werden, daß jeder seine Meinung hat und vertritt und es dabei keine bessere oder schlechtere Meinung gibt, sondern nur andere Ansichten. Sätze, die mit ,ja, aber ...' beginnen, sind häufig ein Hinweis darauf, daß Meinungen nicht als gleichberechtigt akzeptiert werden und sollten deshalb unterlassen werden. Satzeinleitungen wie „Sie haben diese Meinung und ich denke folgendermaßen ..." sind verbindlicher und signalisieren eher Kooperationsbereitschaft (Schwäbisch/Siems, 1974, S. 137 ff). Zwei abschließende Wegweiser zur Problembewältigung bei der Gesprächsführung: • der erste bezieht sich auf allgemeine Überlegungen zur Kommunikation: „Gesagt bedeutet nicht gehört, gehört bedeutet nicht verstanden. Verstanden bedeutet nicht einverstanden. Einverstanden bedeutet nicht angewendet. Angewendet bedeutet noch lange nicht beibehalten" (Stroebe, 1980, S. 9). • der zweite ist eine eindringliche Wiederholung eines bereits genannten Prinzips: Äußerungen müssen umkehrbar sein. Reden Sie mit anderen so, wie Sie selbst angesprochen werden möchten.
2.4 Umfassende und geplante Pflege Adelheid von Stösser
Die individuelle, umfassende und ganzheitliche Pflege als „Idealzustand" ist nur über eine exakte Pflegeplanung zu erreichen: Geplantes Pflegen und Handeln ist als Gegenpol zur bislang überwiegend intuitiven und an starren Standards ausgerichteten Pflege zu verstehen, die sich zudem einseitig auf den Körper des Patienten konzentriert. Die Forderung nach Pflegeplanung ist somit eine Aufforderung der Pflegenden, sich bewußt mit der Situation und der Problematik des einzelnen Patienten auseinanderzusetzen. Nach jahrelangen erfolglosen Bemühungen namhafter Pflegepersonen, Schwestern und Pfleger am Krankenbett von dieser Notwendigkeit zu überzeugen, setzte man alle Hoffnung in eine entsprechende Gesetzesvorlage. Zur Freude vieler „Pflegetheoretiker" und zum Schrecken manch einer Pflegedienstleitung und Stationsleitung, wurde 1985 die Forderung nach umfassender, geplanter Pflege des Patienten im Krankenpflegegesetz (§ 4 KrPflG) als Ausbildungsziel verankert.
In der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege (KrPflAPrV) hat man darüber hinaus den „Pflegeprozeß" zum Bestandteil des Lehrplans erklärt. Demnach muß der Schüler vor allem in der praktischen Abschlußprüfung geplante Pflege demonstrieren und sich für diese Fähigkeit benoten lassen. Doch die Annahme, mit dieser Bestimmung ein Druckmittel zu haben, das zur Durchsetzung von individuell geplanter Pflege führt, hat sich nicht bestätigt. Inzwischen sind acht Jahre vergangen, ohne daß eine nennenswerte Annäherung der Pflegewirklichkeit an diesen ideellen und gesetzlichen Anspruch stattgefunden hat. Dabei wird die Thematik Pflegeplanung in vermutlich allen Schulen unterrichtet. Auch werden die praktischen Examina mehr oder weniger im Sinne des Pflegeprozesses gestaltet. Dennoch hat dies bislang nicht zu dem erhofften Umdenkprozeß geführt. Vielmehr scheinen die Schüler in der Ausbildung zu lernen, daß Pflegeplanung zwar wünschenswert, aber in der Praxis nicht umgesetzt werden kann. Nach dem Examen erleben die meisten Schwestern/Pfleger eine Bestätigung dieser Erfahrung, was häufig eher zur ablehnenden Haltung führt. Land auf, Land ab versucht man diesem negativen Kreislauf entgegenzuwirken. In Fortund Weiterbildungen gehören Themen wie Pflegeplanung, Pflegedokumentation, Pflegeprozeß u. ä. meist schon zu unbeliebten Pflichtveranstaltungen. Im folgenden werde ich zunächst auf den Unterschied zwischen bewußter, geplanter Pflege und intuitiver, automatistischer Situationsbewältigung eingehen. Dabei werden auch Gründe und Lösungen für die angedeuteten Umsetzungsschwierigkeiten angesprochen. Ferner wird an einem Fallbeispiel exemplarisch
Umfassende und geplante Pflege
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eine Möglichkeit vorgestellt, wie geplante Pflege und eine schriftliche Pflegeplanung in der Praxis gestaltet werden können. Hinweise für den Unterricht: Die Struktur dieses Kapitels gleicht dem didaktischen Aufbau des Unterrichts bzw. der Fortbildung, den ich zur Vermittlung dieser Thematik bevorzuge. Auf diese Weise lassen sich nicht nur alle Ebenen des Lernens (kognitive, affektive, praktische) geschickt miteinander verbinden, sondern auch ganzheitliche Pflegeansätze trainieren. Auf die Anwendungsmöglichkeiten oder besser gesagt -Schwierigkeiten von Pflegemodellen bei der Pflegeplanung wird in diesem Kapitel nicht eingegangen (s. dazu Stösser 1992).
2.4.1 Pflegen nach herkömmlichen Mustern An dem nachfolgenden Beispiel soll gezeigt werden, wie unvorhergesehene Situationen zu bewältigen sind. Dabei werden positive, d. h. wünschenswerte Verhaltensmuster vorgestellt. 2.4.1.1 Organisationsstruktur einer „inneren" Station Aufnahmesituation von Frau Holder Frau Holder wurde gestern abend, gegen 18.00 Uhr, von einer Schwester der Sozialstation bewußtlos in ihrem Haus gefunden und mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Hier wurde zunächst eine Hypoglykämie festgestellt, die erfolgreich behandelt werden konnte. Der Zustand von Frau Holder besserte sich zusehends, so daß sie gegen 20.00 Uhr bereits wieder ansprechbar war. Station 1A: Übergabebericht (mündliche Übergabe): Pfleger Artur Baum (Frühdienst) an Sr. Doris Stamm (Spätdienst) Frau Holder wurde gestern abend in hypoglykämischem Zustand eingeliefert. Sie hat die Nacht auf der Intensivstation verbracht und wurde um 11.00 Uhr, zur weiteren Abklärung, auf unsere Station verlegt: Venenkatheter und Blasenkatheter liegen, Infusion soll vorläufig noch zum Offenhalten weiterlaufen, ebenfalls soll weiterhin bilanziert werden, weil die Ausscheidung heute morgen zu gering war (positive Bilanz). Patientin habe in der Früh jedoch durchfallähnliche Verdauung gehabt. Außerdem hat Fr. Holder eine offene Stelle am rechten Bein (Ulcus cruris), soll zunächst nach Standard behandelt werden. Zudem klagt die Patientin über Schmerzen in der rechten Hüfte, wird wahrscheinlich am Nachmittag noch geröntgt. Alles weitere s. Anordnungsblatt und Kurve. Die Patientin ist ansprechbar, sie konnte sich an nichts erinnern, wußte jedoch ihren Namen und das Geburtsdatum (Jahrgang 1919). Angehörige waren bisher noch nicht da. Dr. Berg will abklären, ob Angehörige benachrichtigt sind. Frau Holder wollte sich nicht im Bett waschen, sie wollte lieber noch schlafen und später zum Waschen aufstehen. Für ein Aufnahmegespräch war bisher noch keine Gelegenheit.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Übung (Beantworten Sie bitte folgende Fragen): Wie stellen Sie sich die Patientin vor bzw. wie schätzen Sie die Situation ein, nachdem Sie diesen Übergabebericht gehört haben? (ζ. B. Welche Pflegeprobleme wurden angesprochen (evtl. schriftlich auflisten)? Wären Sie aufgrund dieser Angaben in der Lage, Frau Holder selbständig zu betreuen? Welche Informationen fehlen ihnen dazu noch?
Situation auf Station 1A: Struktur der Station: Es handelt sich um eine allgemeine „Innere" Station (Fachbereich innere Medizin), mit 22 Planbetten — aufgeteilt in 10 Zweibett- und 2 Einzelzimmer. Das Pflegeteam setzt sich zusammen aus 5 Krankenschwestern, 2 Krankenpflegern, 1 Schwesternhelferin als festes Team (wobei 3 Personen in Teilzeit arbeiten). Zusätzlich sind derzeit 2 Schülerinnen und eine Praktikantin auf dieser Station eingesetzt. Die Einrichtung und baulichen Voraussetzungen der Station entsprechen moderneren Gesichtspunkten (1985 renoviert): jedes Zimmer verfügt über Toilette und Waschecke ζ. T. mit Dusche. Hol- und Bringedienst, Speiseversorgung, zentrale Bettenaufbereitung, Reinigungsdienst u. a. zentrale Dienste entlasten die Pflegepersonen von zeitaufwendigen Nebenaufgaben. Organisation der Station: Auf Station 1A ist es seit Jahren bereits Standard (allgemein akzeptierte Norm), jedem Patienten bei der Aufnahme bzw. zum Dienstbeginn eine Pflegeperson als Bezugsperson zuzuteilen. In unserem Beispiel sind für die Pflege von Fr. Holder hauptsächlich Pfleger Artur und Sr. Doris zuständig. Nur wenn keiner von beiden Dienst hat, wird eine andere Pflegeperson benannt. Sr. Doris hat bereits 4 Jahre Berufserfahrung und leitet in ihrer Eigenschaft als stellvertretende Stationsleitung den Spätdienst. Neben ihr sind Sr. Iris, Pfleger Udo und Schülerin Heike im Dienst. Tab. 2.4-1 soll Ihnen einen groben Überblick über die Organisation der Station geben. Mit Hilfe einer Plantafel (Magnettafel) im Stationszimmer, wird jeweils bei Dienstbeginn gemeinsam die Zuordnung besprochen und festgelegt. Allgemeine Anmerkung: Für individuelle Pflege, ob geplant oder mehr intuitiv durchgeführt, ist eine Stationsorganisation im o. g. Sinne Voraussetzung. Auf einer Station, die hauptsächlich nach funktionalen Gesichtspunkten organisiert ist, ist eine individuell geplante und gestaltete Pflege hingegen kaum denkbar. Nur wenn sich Pflegepersonen für einen bestimmten Patienten zuständig (verantwortlich) fühlen, können sie auch das hierfür nötige Interesse an der Person Patient und dessen Problematik entwickeln. Nach meinen Erfahrungen läßt sich jede Station nach dem Bezügspflegesystem organisieren. Denn es ist keine Frage der personellen Besetzung sondern immer eine Frage der Einstellung und der Erfahrung der betreffenden Pflegepersonen. Schwestern/Pfleger, die bislang nur funktionale Pflege kennengelernt haben, fühlen sich darin natürlicherweise auch sicherer
Umfassende und geplante Pflege
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Tab. 2.4-1: Organisation und Struktur von Station 1A (Datum: Ol. 09. 1992) Hilde Baum Doris Stamm Udo Ast Artur Laub Sabine Obst Gabi Kern Iris Schale Christa Saft Ute Holz Heike Blatt Ellen Blüte
(Krankenschw. Stltg.) (Krankenschw. stv. Stltg.) (Krankenpfleger) (Krankenpfleger) (Krankenschwester/TZ) (Krankenschwester/TZ) (Krankenschwester/TZ) (Pflegehelferin) (Schülerin OK) (Schülerin UK) (Praktikantin)
Nachtwache: Ingrid Herbst (Krankenschwester)
Stationsarzt: Heiner Berg (Ruf: 1234) Dienstarzt: Dr. Cramer (Ruf: 1233)
A/S
FD
SD
Besonderheit
Zi. 1
Herr Held
2/2
Sabine (Ellen)
Iris (Heike)
Zi. 2
Fr. Groß Fr. Demut
2/2 1/2
Sabine (Ellen)
Iris (Heike)
Zi. 3
Fr. Adams Fr. Hoffman
3/1 1/2
Sabine (Ellen)
Iris (Heike)
Neuaufnahme
Herr Kröll Herr Pfeifer
3/2 2/2
Sabine (Ellen)
Iris (Heike)
wird morgen verlegt (Chirurgie)
Zi. 5
Herr Schmid Herr Wolf
1/2 2/1
Artur (Ute)
Doris (Udo)
evtl. morgen entlassen?
Zi. 6
Fr. Holder Fr. Maurer
3/2 2/2
Artur (Ute)
Doris (Udo)
Neuaufnahme von „Intensiv"
Zi. 7
Fr. Gleier Fr. Herrmann
1/1 1/2
Ute (Artur)
Udo (Doris)
morgen Gastroskopie bis 19.00 beurlaubt
Zi. 8
Herr Evers Herr Niedeck
2/2 1/1
Artur (Ute)
Udo (Doris)
Suizidgefahr?
Herr Scheibler
3/2
Artur (Ute)
Udo (Doris)
sterbend, Ehefrau bleibt Tag und Nacht da
Zi. 4
Zi. 9
-
Zi. 10
Herr Heinz Herr Müller
2/3 2/1
Artur (Christa)
Udo (Doris)
engmaschige Kreislaufüberw.
Zi. 11
Fr. Aidin Fr. Osai
2/2 1/2
Christa (Artur)
Doris (Udo)
Fieber
Zi. 12
Fr. Fuhrmann
2/2
Christa (Artur)
Doris (Udo)
Umkehrisolation
Die in Klammer gesetzte Pflegeperson ist entweder als Helfer mit eingeteilt oder, sofern es sich um eine examinierte Schwester/Pfleger handelt, als Hauptverantwortliche in fachlichen Fragen. Unter der Anleitung einer exam. Pflegeperson können demnach auch Schüler und Pflegehelfer Hauptbezugspersonen f ü r einzelne Patienten sein. Wenn zwei Examinierte ζ. B. U d o und (Doris) eingeteilt sind, bedeutet das, d a ß Doris im Bedarfsfalle dem U d o bei einzelnen Verrichtungen hilft, oder f ü r U d o einspringt, wenn dieser einmal verhindert ist. In der Spalte A/S ist die Einstufung nach der neuen Pflegepersonal-Regelung vorgenommen (A = Allgemeine Pflege, S = Spezielle Pflege).
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Grundvoraussetzungen der Pflege
und neigen deshalb dazu diese beizubehalten. Sie können sich oft nicht vorstellen, daß der Stationsbetrieb auch bei einer anderen Organisationsform geordnet ablaufen kann. Übung: Bewerten Sie bitte die Organisation auf Station 1A (Tabi. 2.4-1), indem Sie z. B. in der Gruppe (Klasse) darüber diskutieren: Auf welchen Stationen haben Sie eine ähnliche Vorgehensweise angetroffen? Auf welchen wird noch die sog. Funktionspflege praktiziert? Welche Unterschiede haben Sie festgestellt? Stellen Sie sich vor, sie könnten auf einer so organisierten Station (1A) mitarbeiten: Wie fanden Sie das?
Nach diesen allgemeinen Überlegungen bzw. Voraussetzungen, nun wieder zurück zu Fr. Holder. Im folgenden wird eine Begebenheit geschildert, die nicht vorweggenommen werden kann und daher spontan und intuitiv von Sr. Doris bewältigt werden muß. 2.4.1.2 Konfrontation mit unerwartetem Ereignis Nach der Übergabe ca. 14.00 Uhr, besucht Sr. Doris Fr. Holder in ihrem Zimmer. Sie möchte sich der Patientin vorstellen und nach ihrem Befinden erkundigen. Da Fr. Holder jedoch schläft, kontrolliert Sr. Doris mit geübtem Blick Infusion und Urinbeutel und verläßt dann wieder das Zimmer. Um 15.00 klingelt Fr. Holder. Als Sr. Doris das Zimmer betritt, ruft die Patientin ihr aufgeregt zu: „Kommen Sie schnell! ich muß mal — ich glaube es ist schon zu spät!" Als Sr. Doris ihr die Bettschüssel reichen will, sieht sie, daß die Patientin bereits eine große Portion dünnflüssigen Stuhl ins Bett entleert hat. Frau Holder ist sehr aufgeregt, es ist ihr offenbar sehr peinlich: „Ich wurde plötzlich wach und hatte furchtbare Bauchkrämpfe, dann wollte ich schnell zur Toilette gehen, aber ich konnte ja nicht." Sr. Doris: „Sind die Bauchschmerzen denn jetzt weg oder glauben Sie, daß noch mehr kommt?" Fr. Holder etwas ratlos: „Was haben Sie gesagt? Wissen Sie, ich höre sehr schlecht. Sie müssen mich ansehen und langsam sprechen, dann kann ich von Ihren Lippen ablesen! — Wo ist eigentlich meine Brille? — Ach, ist das alles schrecklich!" Sr. Doris findet die Brille auf dem Nachttisch und setzt sie der Patientin auf. Ihr zugewand und auf gute Artikulation bedacht, stellt sie nochmals die Frage: „Haben Sie das Gefühl, daß noch mehr kommt?" Fr. Holder: „Ich glaube ja. Ich habe versucht so gut es geht einzuhalten." Weil Sr. Doris die Bettschüssel nicht ins verschmutzte Bett stellen will, holt sie rasch einen Toilettenstuhl und bringt gleichzeitig Waschschüssel, Waschlappen, Handtuch sowie frische Unterlagen mit. Doch der Versuch, mit der Patientin aufzustehen, scheitert. „Mein Bein, mein Bein! Ich kann nicht sitzen! Legen Sie mich bitte wieder hin!" Sr. Doris hilft Fr. Holder in ihre ursprüngliche Lage zurück. Fr. Holder ist ganz außer sich: „Wieso tut das Bein denn jetzt so weh? So weh hat es doch heute morgen nicht getan. Hoffentlich ist bloß nichts gebrochen. Dann komme ich ja nie mehr auf die Beine!" Sr. Doris versucht die Patientin zu beruhigen: „Da muß nichts gebrochen sein, bei einer starken Prellung und einem großen Bluterguß können auch
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solche Schmerzen auftreten. Nachher wird eine Röntgenaufnahme gemacht, dann wissen wir mehr. — Fr. Holder, ich werde Sie jetzt vorsichtig auf die linke Seite drehen und versuche, Sie dann auf die Bettschüssel zu setzen." Als Fr. Holder auf der Seite liegt, legt Sr. Doris den trockenen Teil des Stecklakens über die verschmutzte Stelle, bevor sie die Bettschüssel unterschiebt. Doch bereits beim Zurückdrehen auf die Schüssel, stöhnt Fr. Holder wieder vor Schmerzen. Alle Versuche, die Sr. Doris unternimmt, um eine möglichst schmerzfreie Position auf der Bettschüssel zu finden, scheitern. Daraufhin dreht Sr. Doris die Patientin nochmals auf die linke Seite, nimmt die Schüssel wieder weg und legt ihr statt dessen eine Einmalunterlage vor. Anschließend bringt sie Fr. Holder in eine bequeme Rückenlage, deckt sie zu und ermuntert sie, die restliche Verdauung auf die Papierunterlage zu machen. Anschließend würde sie dann alles beseitigen und die Patientin waschen. Bevor Sr. Doris das Zimmer verläßt, reicht sie Fr. Holder die Klingel und erkundigt sich bei der Mitpatientin, ob diese sich durch den Geruch sehr gestört fühlt und lieber solange aus dem Zimmer gefahren werden möchte. Diese zeigt jedoch Verständnis für die Situation und bittet lediglich darum, das Fenster zu öffnen.
Schlußfolgerung: Es gibt Situationen, die man nicht durch Vorwegnahme planen kann, sondern jeweils situativ bewältigen muß. Aufgrund ihrer Ausbildung und praktischen Erfahrung mit ähnlichen Situationen, war Sr. Doris in der Lage, auf die unvorhersehbaren Aktionen der Patientin angemessen zu reagieren.
2.4.1.3 Intuitive Pflege In der zuvor beschriebenen Situation von Frau Holder hat Sr. Doris intuitiv angemessen reagiert. Dadurch, daß sie entsprechende Fachkenntnisse und reflektierte Erfahrung hatte, konnte sie ohne lange überlegen zu müssen, die Belastung der Patientin richtig erkennen und deshalb einfühlsam und taktvoll reagieren. Hätte die Schwester kein Gespür für die Lage der Patientin gehabt, sind auch ganz andere Reaktionsweisen denkbar. Ein Naserümpfen mit dem dazu passenden Gesichtsausdruck hätte wahrscheinlich schon gereicht, um das Selbstwertgefühl der Patientin auf den Nullpunkt zu bringen, oder die Beziehung von Anfang an zu stören. Obwohl Sr. Doris nicht viele Anhaltspunkte über den Zustand, die Fähigkeiten und Einschränkungen von Fr. Holder hatte (s. Übergabebericht), konnte sie aufgrund ihrer beruflichen und persönlichen Prägung rasch erkennen, was geht und was nicht. Als sie erfuhr, daß die Patientin schwerhörig ist, hat sie automatisch ihr Verhalten darauf abgestellt. Auf die Schmerzäußerung beim Versuch aufzustehen oder die Bettschüssel unterzuschieben, hat sie jeweils spontan eine andere Lösung angeboten. Den zuletzt gemachten Vorschlag hätte sie ohne Vertrauensverlust am Anfang gar nicht machen können. Erst als beide, Schwester und Patient, alles versucht hatten, konnten beide diese letzte — im allgemeinen
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nicht zu empfehlende — Möglichkeit akzeptieren. Zuerst wurden die beiden allgemein üblichen Maßnahmen probiert, als dies nicht ging, hat Sr. Doris sich für eine dritte Möglichkeit entschieden. Übung: Reflexion: Erinnern Sie sich an eine ähnliche Situation? Falls ja: Wie ist es dort abgelaufen? Hat die betreffende Pflegeperson angemessen reagiert? Vorwegnahme: Diskutieren Sie über das Beispiel Fr. Holder: „Hätten Sie auch zunächst einen Toilettenstuhl herbeigeholt? Was hat Sr. Doris möglicherweise dazu veranlaßt, jeweils so zu reagieren, wie sie reagierte? u. v. a. m.
Pflegerisches Handeln nach dem Reiz-Reaktionsmechanismus Jede neue Situation wird vom Gehirn unwillkürlich mit den bereits bekannten (gespeicherten) Mustern verglichen. Sobald eine vergleichbare Situation gefunden ist, läuft zunächst automatisch (intuitiv) das für diese Situation bekannte (gespeicherte) Reaktionsmuster ab. Man spricht daher auch vom Reiz-Reaktionsmechanismus. In dieser, hier stark vereinfacht dargestellten Weise, finden auf der unbewußten Ebene permanent Entscheidungs- bzw. Problemlösungsprozesse statt, die je nach dem, was gespeichert ist, für die jeweilige Reaktion (Handlung) verantwortlich sind. Wegen der unendlichen Vielfalt aller möglichen Ereignisse, mit denen Pflegepersonen konfrontiert werden können, kann es unmöglich für jede Situation, die bewältigt werden muß, ein fertiges Rezept — etwa in Form eines Standards — geben. Daher sind und bleiben Intuition, Kreativität und Improvisation Fähigkeiten, ohne die keine Pflegeperson in ihrem Beruf bestehen kann. Problematisch ist nur, wenn man glaubt, alles und jedes mittels dieser Fähigkeit bewältigen zu können. Je mehr Aktion auf einer Station und je größer das Arbeitspensum, das von einer Pflegeperson bewältigt werden muß, desto mehr ist rasches und damit intuitives Handeln gefordert. Daher neigen vor allem Pflegepersonen von „stressigen" Stationen dazu, diese Handlungsmuster, als einzig mögliche und überlebensnotwendige, zu verteidigen. An diesem Punkt stößt der Versuch, Pflegeplanung als einen bewußten Prozeß einführen zu wollen, auf den unbewußten Widerstand in den eigenen Reihen. Ζ. B. „Wozu muß ich erst aufschreiben, warum ich was tun will, ich weiß auch so, was wann zu tun ist. Wer das nicht weiß, der kann sich das ja aufschreiben. Die Zeit, die ich fürs Planen und Schreiben brauche, geht mir am Patienten verloren und da ist mir der Patient wichtiger."
Doch wie kann ich den Patienten wichtig nehmen, wenn ich nicht in E r f a h r u n g bringe, was für ihn in seiner Situation das Wichtigste ist; wenn ich mich nicht frage, ob das was ich ihm anbiete, ihm wirklich auch helfen kann; wenn ich mir keine eigene Meinung bilde, sondern jeden Unsinn bedenkenlos mitmache, nur weil das in diesem Krankenhaus, auf dieser Station, bei diesem Arzt so üblich ist oder so angeordnet wurde.
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Bewußtes versus intuitives pflegerisches Handeln Neben der Intuition, die aus dem Unbewußten kommt, besitzt der Mensch die Fähigkeit, über eine Situation oder ein Problem nachzudenken, sich bewußt damit auseinanderzusetzen, eine Erklärung dafür zu suchen und ein Handlungskonzept zu entwickeln. (Wenn von geplanter Pflege oder Pflegeplanung gesprochen wird, dann ist damit immer der bewußte und für alle nachvollziehbare Prozeß gemeint.) Der überwiegende Anteil aller Pflegehandlungen ist jedoch das Ergebnis intuitiver Entscheidungen im Sinne eines Reiz-Reaktionsmechanismus. Intuitive Prozesse laufen meist in der rechten Gehirnhälfte ab (bei Rechtshändern), wo bildhaftes, zusammenhängendes Erkennen und analoges Denken stattfindet. Die Intuition gewährleistet daher vor allem in Notfallsituationen oder bei plötzlich auftretenden Ereignissen rasches und oftmals rettendes Handeln. Hingegen wird die linke Gehirnhälfte (bei Rechtshändern) als die Verstandesseite oder die bewußte Seite bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit einem Thema, einem Problem, sowie die Reflexion oder Vorwegnahme und die Planung sind Denkprozesse, die im linken Gehirn ablaufen, wobei jedoch ein permanenter Austausch zwischen den beiden Gehirnhälften stattfindet. Da das linke Gehirn analytisch und linear arbeitet, läßt sich nur mit dem Verstand keine Situation in ihrer Ganzheit erfassen. Dazu bedarf es der Fähigkeit zur Synthese aller gefühlsund verstandesmäßig gespeicherten Eindrücke. Da jedoch Gefühle auch fehlgeleitet sein können, besteht hierbei immer die Gefahr von Fehleinschätzungen. Dieser Gefahr kann nur mit Hilfe des „Bewußtmachens" begegnet werden. Hieraus begründet sich u. a. die Notwendigkeit von geplanter Pflege.
2.4.1.4 Standardisierte Pflege und ihre Nachteile Zuviel Gefühl auf der einen Seite ist ungesund; ein striktes Befolgen von Regeln und Vorschriften erscheint jedoch nicht minder gefährlich. Von standardisierter Pflege kann immer dann gesprochen werden, wenn ein Standard dogmatisch befolgt wird, egal wie die Situation auch ist. In der Praxis kann sogar häufig beobachtet werden, daß ein Standard über die Situation gestellt wird.
Bis zu welcher Absurdität standardisierte Pflege führen kann, bezeugen die meisten Krankenhauswitze, wie ζ. B.: „Herr Maier, aufwachen; Sie müssen ihre Schlaftablette noch nehmen!" Betten machen, Blutdruck messen, Verordnungen ausführen, Diagnostiken und Therapien vorbereiten u. v. a. m. haben allzuoft eine, auf die Gesamtsituation des Patienten bezogen, völlig unangemessene Priorität in den Augen vieler Pflegepersonen. Dadurch wird der Blick für das, was dem Patienten in seiner Situation tatsächlich helfen könnte, getrübt. Da es sich bei den meisten Standards um gewohnheitsmäßig übernommene Verhaltensregeln handelt, werden von diesen
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„anerzogenen" Denkweisen die intuitiven Fähigkeiten stark beeinflußt. Hierdurch erklärt sich auch die häufig zu beobachtende höhere Sensibilität von Personen, die keine Krankenpflegeausbildung hinter sich haben und noch nicht durch die Stationsroutine „verblendet" sind, gegenüber den menschlichen Problemen von Patienten. Wenn ein Patient einer „normalen Hausfrau", die ζ. B. im Reinigungsdienst arbeitet, seine persönliche Not anvertraut, während die examinierte Schwester lediglich etwas über die Vitalwerte, die Medikamente und sonstige therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen zu berichten weiß, dann stimmt einiges nicht mehr.
Ungleichgewicht zwischen Prinzipien und Individualität Das Rollenverständnis, das vor allem examinierte Pflegepersonen zeigen, ist stark geprägt von Standards, die bereits während der Ausbildung unbewußt übernommen wurden und später ebenso unbewußt gelebt und an andere weitergegeben werden. Diese Standards haben häufig einen derart prinzipiellen Charakter, daß sie Pflegepersonen und Patienten zu einem bestimmten Verhalten zwingen. So ist es zu verstehen, • daß ein Patient, der sich mit etwas Unterstützung größtenteils selbst waschen könnte, in aller Früh von Kopf bis Fuß im Eiltempo gewaschen wird. Denn Standard ist, daß bis 9.00 Uhr alle Patienten gewaschen sein müssen, • daß ein Patient durch eine Blutdruckmessung deshalb aufgeweckt wird, weil die Pflegeperson nun mal gerade jetzt mit dem Blutdruckgerät unterwegs ist. Die Routine hat somit einen höheren Stellenwert, als der gesunde Schlaf des Patienten. Übung: Nennen und bewerten Sie ähnliche Situationen, die Sie in der Praxis selbst erlebt haben.
2.4.1.5 Problemkompensation statt Problembewältigung Probleme, die sich nicht durch intuitives Verhalten bewältigen lassen oder sich selbst erledigen, können nur gelöst werden, wenn die tatsächliche Ursache gefunden wurde. Diese allgemeine Lebensweisheit wird gerade da, wo Menschen ausschließlich deshalb hingehen, weil sie Probleme haben und Hilfe suchen, kaum beachtet. Bei den Bemühungen um Objektivierung wurden im Laufe der Zeit immer mehr Symptome beschrieben und Instrumente zur Diagnosestellung geschaffen. Gleichfalls haben sich die therapeutischen Möglichkeiten vervielfacht. Gegen jedes Sym-
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ptom (Schmerzen, Fieber, Schlaflosigkeit, Antriebsarmut, Übelkeit, Verdauungsstörungen u. v. a. m.) gibt es ein Medikament, so daß dieses vorübergehend verschwindet. Dabei sind Symptome doch immer nur Zeichen, die darauf hinweisen, daß irgend etwas nicht stimmt. Es sind Selbstschutzreaktionen, die auf eine tieferliegende Ursache bzw. auf unbewältigte Probleme desjenigen aufmerksam machen wollen. Da jedoch die Ursachen mit den heute üblichen, rein auf die Materie „Körper" bezogenen Untersuchungsmethoden meist nicht gefunden werden können, bleibt den klassischen Medizinern nichts anderes übrig, als die Symptome zu behandeln. Der Tumor bzw. das Krebsgeschwür (Symptom) wird herausgeschnitten, der Entstehung weiterer Turmoren oder Metastasen versucht man mittels Chemotherapie und Bestrahlung entgegenzuwirken, weil die Ursachen dem — naturwissenschaftlich denkenden — Arzt nicht bekannt sind. Hier haben wir es mit dem anderen Extrem zu tun, in dem nämlich versucht wird, alles Subjektive, nicht Meßbare und daher nicht Objektivierbare, auszuklammern bzw. die rechte Gehirnhälfte bewußt auszuschalten. Statt einer tatsächlichen Problemsuche werden einzelne Symptome lokalisiert und behandelt. Da der Pflegedienst sich in erster Linie an den Vorgaben der Ärzte orientiert und sich vor allem darum bemüht, die Anordnungen des Arztes gewissenschaft durchzuführen, konzentriert sich in Medizin und Pflege alles sehr einseitig auf den Körper des Patienten. Es werden keine Ursachen im ganzheitlichen Sinne gesucht und behandelt, sondern die eigentlichen Probleme lediglich kompensiert. Dieses inzwischen allgemein diskutierte Manko in unserem Gesundheitssystem wirkt sich nicht nur auf die Kosten aus, sondern auch auf Art und Umfang der Arbeitsbelastung von Pflegepersonen. Die meisten Pflegepersonen wissen oder spüren, daß sie an den eigentlichen Problemen ihrer Patienten regelrecht vorbeipflegen. Doch nur wenige sehen einen Weg, sich der zunehmenden Hektik des Stationsalltags zu entziehen und patientgerechte Schwerpunkte zu setzen. Vielmehr erleben sich Pflegepersonen als Rädchen in einem (fehlgeleiteten) Getriebe, von dem scheinbar nichts anderes als ein möglichst störungsfreies Funktionieren erwartet wird. Die Pflegenden können sich aus dieser einseitigen Körpersicht und Arztabhängigkeit jedoch befreien und zu mehr Eigenständigkeit finden, wenn sie sich mit dem, was sie tun oder wollen, endlich einmal bewußt auseinandersetzen würden, statt nur zu jammern und zu klagen oder anderen die Schuld für die Misere zu geben. Folglich taucht auch in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit von geplanter Pflege wieder auf.
Übung: Sie und Ihr Lehrer sollten sich die Zeit nehmen, um über die hier angesprochene Situation in der Pflege gemeinsam nachzudenken. Ζ. B. Wie erlebe ich den Stationsalltag? Orientieren sich die Schwestern/Pfleger in unserem Haus auch hauptsächlich an dem, was die Ärzte vorgeben, oder welche eigenen Ziele werden verfolgt? Wird tatsächlich nur an den Symptomen herumgedoktert oder kennen Sie Beispiele, wo der Patient als Mensch in seiner Ganzheit bewertet und behandelt wurde?
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2.4.2 Pflegen als Problemlösungsprozeß Unter § 4 (1) im Krankenpflegegesetz heißt es u. a. wörtlich: (Ziel der Ausbildung) „Die Ausbildung für Krankenschwestern und Krankenpfleger und für Kinderkrankenschwestern und Kinderkrankenpfleger soll die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur verantwortlichen Mitwirkung an der Verhütung, Erkennung und Heilung von Krankheiten vermitteln. Die Ausbildung soll insgesamt gerichtet sein auf • die sach- und fachkundige, umfassende geplante Pflege des Patienten, • die gewissenhafte Vorbereitung, Assistenz und Nachbereitung bei M a ß n a h men der Diagnostik und Therapie, • die Anregung und Anleitung zu gesundheitsförderndem Verhalten, • die Beobachtung des körperlichen und seelischen Zustandes des Patienten und der Umstände, die seine Gesundheit beeinflussen, sowie die Weitergabe dieser Beobachtungen an die an der Diagnostik, Therapie und Pflege Beteiligten, • die Einleitung lebensnotwendiger Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes, • die Erledigung von Verwaltungsaufgaben, sowie sie in unmittelbarem Zusammenhang mit den Pflegemaßnahmen stehen."
2.4.2.1 U m f a s s e n d e Pflege Was mit umfassender Pflege konkret gemeint ist, darüber macht das Krankenpflegegesetz keine genauen Angaben. Allerdings läßt sich aus der o. a. Auflistung die Antwort darauf ableiten. Umfassend pflegen bedeutet demnach, pflegen unter Berücksichtigung der Gesamtsituation, in der diese Pflege stattfindet (Pflegesituation). Der Begriff Pflegesituation beinhaltet: (1) Den Gesundheitszustand des Patienten, wobei Gesundheit im ganzheitlichen Sinne und nicht nur den Körper betreffend gemeint ist (s. Beispiel Fr. Holder). (2) Das Diagnostik- und Therapieprogramm, das der Arzt anordnet oder durchführt, um den Zustand des Patienten zu bessern bzw. um eine Verschlechterung zu verhindern. (3) Die Situation auf der Station. Schließlich ist eine Pflegeperson selten nur für einen Patienten zuständig; vielmehr muß sie die Pflege so organisieren und gestalten, daß sie allen Patienten gerecht werden kann (s. Tab. 2.4-1). (4) Die Fähigkeit der Pflegeperson. Wie eine Pflegeperson eine Situation einschätzt, hängt im wesentlichen von ihrer Persönlichkeit, ihrer beruflichen Qualifikation und ihren Erfahrungen ab. Entsprechend der unterschiedlichen Fähigkeiten einzelner Pflegepersonen wird es immer Unterschiede in der Pflegequalität geben.
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2.4.2.2 Geplante Pflege Wie bereits erläutert, ist mit Planung der bewußte Denkprozeß gemeint, sozusagen als Gegenpol zur Intuition. Die Frage ist nur, was soll alles geplant werden und wie soll eine solche Planung aussehen? Da im Krankenpflegegesetz hierauf keine Antwort gegeben wird, kursieren verschiedene Vorstellungen über Art und Umfang von Pflegeplanung. Denn schließlich kann ja auch jeder Handgriff geplant werden. Einig ist man sich jedoch in dem einen Punkt, daß Pflege prozeßhaft dargestellt werden soll. Daher tauchen im Zusammenhang mit Pflegeplanung häufig die Begriffe Pflegeprozeß und Problemlösungsprozeß auf. Auch herrscht innerhalb der Berufsgruppe weitestgehend Einigkeit hinsichtlich des allgemeinen Ziels, das mit Hilfe prozeßhaft geplanter Pflege erreicht werden soll. In diesem Kontext fallen dann Begriffe wie individuelle Pflege, ganzheitliche Pflege oder patientzentrierte Pflege. Da jedoch zunächst niemand ein Konzept hatte, diesen hohen Anspruch in die Wirklichkeit umzusetzen, wurde bis heute nur herumexperimentiert. Bei den sog. Pflegeplänen, die man vereinzelt in der Praxis finden kann, handelt es sich zumeist um unvollständige Maßnahmenpläne. Parallel zu der Suche nach Mitteln und Wegen zur Umsetzung von Pflegeplanung, laufen die Bestrebungen, Krankenpflege als eigenständigen Beruf und pflegen als professionelles Handeln mit Hilfe eines Pflegemodells darzustellen. Einige Pflegetheoretiker halten Pflegepläne nur dann für sinnvoll, wenn diese an einem bestimmten, nach wissenschaftlichen Kriterien erstellten Pflegemodell ausgerichtet sind. Im deutschen Sprachraum wird seit etwa 1984 das Modell der Lebensaktivitäten von Nancy Roper et al., favorisiert, wobei mittlerweile verschiedene Modifikationen vorliegen, von denen das ATL-Modell (Aktivitäten des täglichen Lebens) nach Liliane Juchli wohl das bekannteste ist. Neben den bereits beschriebenen Schwierigkeiten, ein praxisgerechtes Konzept zur Gestaltung von Pflegeplanung zu finden, ergibt sich durch die starre Struktur des Modells eine geradezu unlösbare Problematik. In mehreren Veröffentlichungen (Stösser 1992) habe ich begründet, warum das ATL-Modell und ähnliche für die Umsetzung des Pflegeprozesses ungeeignet sind.
Daher konzentriere ich mich in meinem Planungskonzept einzig auf die Probleme des Patienten unter Berücksichtigung der gesamten Pflegesituation. Um die doch z. T. großen Unterschiede hinsichtlich der Fähigkeiten und des Berufsverständnisses einzelner Pflegepersonen auf ein vertretbares M a ß zu bringen und um eine gemeinsame Verständigungsebene zu sichern, müssen die allgemeinen Richtlinien neu festgelegt werden: Für alle häufig vorkommenden Probleme m u ß festgehalten werden, was die Pflege jeweils tun will. Beispiel: Bei einem schwerhörigen Patienten ist generell dieses und jenes zu beachten (Anlage 5, S. 89). Es müssen also zunächst sog. Pflegestandards oder Standardpflegepläne erstellt bzw. Sinn und Zweck der derzeit bestehenden Standards geprüft werden. Ziel dabei sollte sein, die Situation des Patienten in den Vordergrund zu rücken und die
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Wertvorstellungen der Pflegepersonen in Einklang mit den medizinischen und betriebswirtschaftlichen Vorstellungen zu bringen. Auf dieser Grundlage ist es dann mit relativ wenig Aufwand möglich, sinnvolle individuelle Pflegepläne zu schreiben, sowie den kompletten Pflegeprozeß darzustellen: (1) individuell geplante Pflege: • Einschätzung bzw. Bewertung der Situation des Patienten: — individuelle Problemstellung und Zielsetzung unter Berücksichtigung der Ressourcen und der gesamten Pflegesituation, — individueller Maßnahmenplan unter Berücksichtigung der Ressourcen und der gesamten Pflegesituation, — Durchführung der geplanten Pflege unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation, • Beschreibung der Situation und Pflege des Patienten. (2) generell geplante Pflege: — überarbeitete bzw. erneuerte Pflegestandards, — schriftlich formulierte Standardpflegepläne (allgemeine Problemstellung, Ziele und Prioritäten, allgemeine Maßnahmen). 2.4.2.3 Generell geplante Pflege Wie bereits erwähnt, stehen einerseits die intuitiven Fehlreaktionen und andererseits die vielen starren und unzeitgemäßen Standards in einem ursächlichen Zusammenhang für die heutige Situation in der Pflege. Doch Richtlinien und Normvorstellungen lassen sich ändern, sie müssen nicht bis in alle Ewigkeit gelten. Auch wenn es mitunter schwerfallt, von gewohnten und liebgewonnenen Verhaltensmustern Abschied zu nehmen, so bleibt den Pflegenden nichts anderes übrig, als den Sinn und Zweck aller heute bestehenden Standards zu hinterfragen. Maßgebliche Pflegepersonen einer Klinik, Abteilung oder Station müssen sich regelmäßig als Arbeitsgruppe zusammensetzen, um für alle häufig vorkommenden Pflegetätigkeiten oder zur Bewältigung von speziellen Problemsituationen neue Standards zu erstellen. Falls bereits Standards vorhanden sind, müssen diese regelmäßig überprüft und wo nötig, aktualisiert bzw. verbessert werden. Diese Vorgehensweise hat zudem den Vorteil, daß man die verschiedenen Sichtweisen einzelner Pflegepersonen auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann und somit eine von allen akzeptierte Grundlage hat. Damit alle betreffenden Pflegepersonen wissen, warum dieses oder jenes geändert werden soll, bedarf es zum einen der Schriftform und zum anderen entsprechender Fortbildungsveranstaltungen. Ein positiver Nebeneffekt von schriftlich festgelegten Pflegestandards ist, daß Art und Umfang von Pflegeleistung für jedermann sichtbar dargestellt werden kann. Im Hinblick auf Pflegeplanung
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und -dokumentation bilden die auf der generellen Ebene (generell = grundsätzlich üblich, solange keine individuellen Faktoren dagegen sprechen) durchdachten Standards, die Basis: Ich muß zuerst einmal wissen, was ich grundsätzlich will, was meine eigentlichen Ziele sind und was in jedem Falle gewährleistet sein muß, bevor ich überhaupt einen sinnvollen Pflegeplan erstellen kann. Um Pflegestandards bewerten und entwickeln zu können, bedarf es neben dem entsprechenden Fachwissen auch der beruflichen Erfahrung. Mehr über Pflegestandards enthält mein Buch „Pflegestandards: Erneuerung der Pflege durch Veränderung der Standards".
Pflegestandards Zunächst stelle ich Ihnen nun einige Pflegestandards vor, die im weiteren Verlauf, bei der Pflege bzw. in den individuellen Pflegeplan von Fr. Holder einbezogen werden. Es handelt sich dabei um Standards, die auf Station 1A eingeführt sind. Alle Schwestern/Pfleger kennen den Inhalt und die Bedeutung dieser Standards. Falls jemand nicht mehr genau weiß, was ein bestimmter Standard beinhaltet, so kann er diesen nachlesen. In einem Karteikasten auf dem Schreibtisch im Stationszimmer befinden sich alle eingeführten und derzeit gültigen Standards (s. Anlagen 1 — 5, S. 84 ff.).
Bezogen auf die Pflege beinhaltet der Problemlösungsprozeß folgende Schritte: (1) Situationseinschätzung:
Was liegt vor?
(2) Problemstellung:
Was ist das Problem?
(3) Zielsetzung:
Was soll erreicht werden?
(4) Maßnahmeplan:
Was soll getan werden?
(5) Durchführung:
Was wird getan?
(6) Bericht, Dokumentation
Was liegt vor? Was wurde getan? Was wurde erreicht? Was liegt vor?
2.4.2.4 Individuell geplante Pflege Situationen bzw. Probleme, die aller Voraussicht nach über einen längeren Zeitraum bestehen werden und nicht mit einigen Sofortmaßnahmen gelöst werden können, sollte man prozeßhaft zu lösen versuchen. Diese lineare Schrittabfolge ist eigentlich nicht korrekt, denn ein Problemlösungsprozeß muß als Regelkreis gesehen werden, indem jeder Schritt mit allen anderen in ständiger Verbindung steht und nur im Zusammenhang verstanden werden kann. Wenn Sie ζ. B. nur die Maßnahmen lesen, ohne die Situation, das Problem und das Ziel zu kennen, dann können Sie nicht begründen, warum diese Maßnahmen erforderlich sind.
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A m Beispiel F r . H o l d e r sollen n u n die einzelnen S c h r i t t e n ä h e r e r l ä u t e r t w e r d e n . (1 ) Situationseinschätzung D i e B e w e r t u n g einer S i t u a t i o n ist a u f d e r u n b e w u ß t e n E b e n e ein p e r m a n e n t e r V o r g a n g . D a b e i w i r d j e d e r n e u e E i n d r u c k , j e d e kleinste V e r ä n d e r u n g w a h r g e n o m m e n (gespeichert) u n d in d a s bereits b e s t e h e n d e Bild e i n g e f ü g t . U n b e w u ß t f i n d e t i m m e r a u c h eine B e w e r t u n g des B e o b a c h t e t e n , G e h ö r t e n bzw. W a h r g e n o m m e n e n s t a t t , die j e n a c h P e r s o n sehr u n t e r s c h i e d l i c h a u s f a l l e n k a n n . H i e r d u r c h k a n n es n e b e n F e h l e i n s c h ä t z u n g e n zu V e r s t ä n d i g u n g s s c h w i e r i g k e i t e n k o m m e n . M i t „ S i t u a t i o n s e i n s c h ä t z u n g " ist die bewußte und gezielte Erfassung bzw. Bewertung g e m e i n t . M a n w a r t e t also nicht a b , bis sich die einzelnen B e s t a n d t e i l e e i n e r S i t u a t i o n z u e i n e m G e s a m t b i l d v e r d i c h t e t h a b e n , s o n d e r n v e r s u c h t diese m ö g l i c h s t f r ü h z e i t i g zu e r k e n n e n . N e b e n einer gezielten B e o b a c h t u n g d e s P a t i e n t e n u n d I n f o r m a t i o n d u r c h d e n A r z t o d e r a n d e r e , k o m m t d e m A u f n a h m e g e s p r ä c h eine b e s o n d e r e B e d e u t u n g zu. D i e Ziele, die d a m i t generell a n g e s t r e b t w e r d e n sollen, sind im Standard a u f g e f ü h r t (s. A n l a g e 1, S. 84). • Aufnahme-/Pflegegespräche (s. A b s c h n . 2.6.2.2, S. 104) D a s n a c h f o l g e n d e Aufnahmegespräch, d a s Sr. D o r i s m i t F r a u H o l d e r f ü h r t , soll die B e d e u t u n g sowie die G e s t a l t u n g eines solchen G e s p r ä c h s v e r d e u t l i c h e n . Inzwischen liegt Frau Holder wieder frisch und sauber in ihrem Bett. Dank des Einfühlungsvermögens von Sr. Doris konnte sich die Patientin einigermaßen beruhigen und das peinliche Ereignis mehr oder weniger akzeptieren. Zu ihrer Beruhigung hat sicher auch das Ergebnis der Röntgenaufnahme beigetragen. Als Frau Holder von der Röntgenabteilung zurück gebracht wird, lächelte sie Sr. Doris zu und berichtet, daß ihr Bein zum Glück nicht gebrochen sei. Sr. Doris nutzt die gelöste Stimmung und die letzte Gelegenheit, bevor das Abendessen kommt, um das Aufnahmegespräch zu führen. Sie nimmt sich einen Stuhl und setzt sich ans Bett von Frau Holder. Dabei achtet sie darauf, daß diese ihr von d e n Lippen ablesen kann. Sr. Doris: „Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt!? Ich bin Schwester Doris und bin in dieser Woche immer nachmittags für Sie da." Fr. Holder: „Freut mich. Nachdem ich Ihnen bereits soviel Umstände gemacht habe." Sr. Doris: „Sie haben seit gestern ja auch schon einige Aufregung hinter sich! Wie fühlen Sie sich denn jetzt?" Fr. Holder: „Ich weiß eigentlich gar nicht, wie das passiert ist. Man hat mir gesagt, daß ich bewußtlos gefunden worden sei. Wahrscheinlich von Sr. Ellen, die jeden N a c h m i t t a g kommt, um das Insulin zu spritzen und mein Bein zu verbinden. Sonst kommt ja niemand." Sr. Doris: „Wohnen Sie dann ganz allein?" Fr. Holder: „Ja. Mein Mann ist vor 10 Jahren ganz plötzlich gestorben. Er ist umgefallen und war tot. Seitdem bin ich allein in unserem Haus. Die Kinder haben ihre eigene Familie und eigene Häuser. Meine Tochter wohnt in Köln, der Sohn wohnt im Nachbarort. Eine Enkelin hat ein Jahr lang bei mir gewohnt. Aber dann hat sie einen Studienplatz in Heidelberg bekommen und mußte leider wegziehen." Sr. Doris: „Wie sind Sie denn bisher alleine zurechtgekommen?" Fr. Holder: „Ach wissen Sie, das Haus ist mir eigentlich viel zu groß. Vor zwei Jahren hatte ich einen kleinen Schlaganfall, seitdem kann ich nicht mehr selbst putzen und nicht mehr
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nalleine einkaufen. Meine Schwiegertochter kommt dreimal die Woche und macht alle groben Hausarbeiten". Sr. Doris: „Mit Hilfe Ihrer Schwiegertochter kommen Sie also einigermaßen zurecht?" Fr. Holder: „Am meisten stört mich, daß ich nicht mehr selbst kochen kann. Ich kann einfach mit der rechten Hand keine Kartoffeln schälen oder Gemüse putzen. Deshalb kommt Freitags immer so ein junger Mann vorbei und bringt mir „Essen auf Rädern", extra für Diabetiker. Da kann ich mir jeden Mittag ein Menü aus dem Gefrierschrank nehmen und warm machen. Das ist ja alles ganz praktisch, aber es schmeckt eben doch nicht so gut wie frisch gekocht. Manchmal hebt sich mir schon der Magen, wenn ich das Essen nur rieche." Sr. Doris: „Wie sind Sie denn mit Ihrer Zuckerkrankheit bisher zurechtgekommen?" Fr. Holder: „Meinen Sie das Spritzen oder das Essen?" Sr. Doris: „Beides. Sie sagten vorhin, daß eine Sr. Ellen jeden Tag kommt." Fr. Holder: „Ja, seit dem Schlaganfall damals kann ich leider nicht mehr selbst spritzen. Deshalb kommt eine Schwester oder manchmal auch ein Pfleger von der Sozialstation. Im letzten Herbst habe ich schon mal — allerdings wegen zu hohem Blutzucker — hier im Krankenhaus gelegen. Seitdem muß jetzt auch noch nachmittags gespritzt werden. Einerseits ist das zwar lästig, aber andererseits freue ich mich auch, daß dann nochmal jemand vorbeikommt. Sr. Ellen kommt meist nur nachmittags, die badet dann auch mein Bein und verbindet es. Ich freue mich immer, wenn sie kommt. Meist koche ich uns dann einen Tee, und während mein Bein im Wasser steht, erzählen wir uns was. Donnertags ist Badetag, dann hilft mir Sr. Ellen in die Badewanne und wäscht mir die Haare. Auch sonst, wenn mir mal ein kleines Malheur passiert ist, dann bezieht Sr. Ellen mir schnell noch das Bett und steckt die Wäsche in die Waschmaschine. Wissen Sie, meiner Schwiegertochter sag' ich so was nämlich nicht gerne. Die kommt dann immer gleich damit an, daß ich doch wohl besser im Pflegeheim aufgehoben wäre. Deshalb sag ich ja auch nichts wegen dem Essen, obwohl ich das Gefühl habe, daß es mir nicht mehr bekommt. Seit Tagen habe ich schon leichten Durchfall und zwinge mir das Mittagessen widerwillig rein. Aber wegen dem ,Zucker' kann ich doch nicht den ganzen Tag nur von Brot leben oder mir immerzu Nudeln kochen. Außerdem würde meine Schwiegertochter bestimmt bald dahinter kommen." Sr. Doris: „Apropos Schwiegertochter: Wissen Ihre Angehörigen Bescheid, daß Sie hier sind?" Frau Holder: „Keine Ahnung. Am liebsten wäre mir, sie würden gar nicht erfahren, d a ß ich hier liege." Sr. Doris: „Warum?" Fr. Holder: „Seit dem Schlaganfall hängen mir meine Kinder sowieso bei jedem kleinen Wehwehchen in den Ohren: daß ich doch in ein Altenheim umziehen soll. Aber da will ich unter keinen Umständen hin!" Sr. Doris: „Was schreckt Sie denn bei dem Gedanken an ein Heim so ab?" Fr. Holder: „Ich will mir einfach keine Vorschriften mehr machen lassen. Als damals mein Mann starb, da dachte ich, jetzt lohnt es sich nicht mehr weiterzuleben. Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber ich habe sogar versucht, mir das Leben zu nehmen. O mein Mann war sehr despotisch. Die Kinder und ich hatten eigentlich nie viel zu sagen. Aber jetzt will ich mir einfach von keinem mehr etwas vorschreiben lassen. Wenn ich fernsehen will, dann gucke ich! und zwar so lange, wie ich will und vor allem was ich will."
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Sr. Doris: „Wenn ich Sie recht verstehe, dann sind Sie lieber einsam, als nochmals von irgendjemandem abhängig?" Fr. Holder: „Ach wissen Sie, im Prinzip ist doch jeder einsam. Manche müssen sich eben ständig mit irgendwas betäuben und fühlen sich nur wohl, wenn sie pausenlos etwas unternehmen. Theater, Reisen oder sonstwas. Ich brauche das nicht mehr. Ich will meine Ruhe haben. Mir reicht es, was ich in der Zeitung lese oder im Fernsehen sehe. Ich mache mir meine eigenen Gedanken über Gott und die Welt und da kenne ich auch keinen, mit dem ich diese Gedanken teilen könnte. Und dadurch, daß ich so schlecht höre, verstehe ich auch meistens nur die Hälfte. Vor dem Schlaganfall habe ich mich mit zwei Frauen, die ich vom Friedhof her kenne, ab und an mal zum Kaffee getroffen. Aber ich komme mir immer so blöd vor, wenn ich ständig nachfragen muß ,Was haben Sie gesagt?' Richtig unterhalten kann ich mich doch gar nicht mehr. Entweder rede ich — so wie jetzt — und der andere hört zu, oder der andere redet und ich tue so, als ob ich alles verstehe." Sr. Doris: „Ich habe jedoch das Gefühl, daß Sie mich bisher ganz gut verstanden haben." Fr. Holder: „Ja das stimmt. Sie sprechen allerdings auch nicht so wie die meisten. Wenn ich denen sage, daß ich schwerhörig bin, dann fangen die gleich an loszubrüllen. Und wenn ich etwas nicht verstanden habe, dann brüllen die noch lauter." Sr. Doris: „Welche Erfahrungen haben Sie denn mit Hörgeräten gemacht?" Fr. Holder: „Ich glaube, ich habe schon alle Hörgeräte durchprobiert, die es gibt. Anfangs dachte ich immer, es hilft. Mein Sohn hat mich auch schon zu verschiedenen Ohrenärzten und Spezialisten geschleppt. Angeblich soll das eine seltene Form von Schwerhörigkeit sein. Ich habe allerdings auch nicht ganz verstanden, was es genau ist. Jedenfalls habe ich mich damit abgefunden, daß mein Gehör eher schlechter als besser wird." Sr. Doris: „Haben Sie denn irgendeinen speziellen Wunsch, den wir Ihnen erfüllen können?" Fr. Holder: „Glauben Sie denn, daß ich wieder nach Hause kann oder raten Sie mir etwa auch in ein Heim zu gehen?" Sr. Doris: „Da ich jetzt weiß, wie wichtig es für Sie ist, wieder nach Hause zu können, werde ich alles versuchen. Allerdings müßte ich mit Ihren Angehörigen und Schwester Ellen über die weitere Versorgung zu Hause sprechen. Vielleicht finden wir auch eine bessere Regelung mit dem Essen. Das scheint mir doch ein großes Problem zu sein." Fr. Holder: „Ist es auch. Wenn ich schon nur ans Essen denke, dann könnte ich mich schon wieder übergeben." Sr. Doris: „Wir haben eine gute Küche hier. Die bietet auch Vollwertkost für Diabetiker an. Ich werde die Diätassistentin informieren, dann können Sie morgen mit ihr zusammen den Speiseplan besprechen." Fr. Holder: „Schön." Sr. Doris: „Worauf hätten Sie denn momentan Appetit? Gleich gibt es nämlich Abendessen." Fr. Holder: „Am liebsten würde ich gar nichts essen. Aber wegen dem Zucker muß ich wohl irgendwas essen." Sr. Doris: „Haben Sie denn heute überhaupt schon etwas gegessen?" Fr. Holder: „Ja, heute morgen ein halbes Brötchen und heute mittag ein paar Kartoffeln. — Aber Sie haben es ja gesehen: sobald ich was esse, kann ich 'drauf gehen, daß kurze Zeit später die Bauchkrämpfe wieder anfangen. Das geht jetzt schon seit Tagen so." Sr. Doris: „Ich werd' mal mit Dr. Berg überlegen, was wir da am besten tun. Solange die Infusionen noch laufen und der Blutzucker regelmäßig kontrolliert wird, kann eigentlich nicht viel passieren."
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Fr. Holder: „ M u ß ich denn nicht unbedingt was essen?" Sr. Doris: „Wahrscheinlich ist es besser, wenn Ihr Magen und Darm sich erst einmal erholen können. Solange müssen wir halt sehen, wie wir Ihren Blutzuckerspiegel mit Infusionen und Insulin stabil halten können. Wissen Sie, wie sich das anfühlt, wenn der Blutzucker zu hoch oder zu niedrig ist?" Fr. Holder: „Ja, natürlich. Ich hab' doch schon seit 20 Jahren Diabetes. Mir wäre das gestern wahrscheinlich auch nicht passiert, wenn ich mich nicht schon seit Tagen so komisch gefühlt hätte. Da hab' ich gedacht, es kommt vom Magen." Sr. Doris: „Also melden Sie sich rechtzeitig, sobald Sie den Verdacht haben, daß Ihr Zuckerspiegel zu stark absinkt oder ansteigt. Das ist ganz wichtig." Fr. Holder: „Ja, mache ich. Die Klingel hängt ja da." Sr. Doris: „Ich denke, wir haben für's erste alle wichtigen Punkte geklärt. Jedenfalls kann ich mir ihre Situation jetzt in etwa vorstellen. Ich werde nachher noch einen Zettel an Ihr Bett hängen. Auf dem steht, daß Sie schwerhörig sind und was jeder, der mit Ihnen spricht, beachten soll. Sind Sie damit einverstanden?" Fr. Holder: „Was ist das für ein Zettel? Ich möchte erst mal sehen, was da drauf steht." Sr. Doris: „Klar. Ich bringe ihn nachher vorbei." Sr. Doris steht auf, stellt den Stuhl zurück und beendet das Gespräch. „So, jetzt muß ich mich zunächst einmal um das Abendessen kümmern. Schließlich können ja nicht alle (mit Blick auf die Mitpatientin) nur von Infusionen leben. Bis später Fr. Holder." Fr. Holder: „Und vielen Dank, daß Sie sich soviel Zeit für mich genommen haben. Ich bin jetzt doch irgendwie beruhigt. Vielleicht wird es doch noch mal werden." Sr. Doris lächelt und nickt bestätigend, und geht dann aus dem Zimmer. Übung (zur Bearbeitung in der Gruppe): Beziehung Patient — Schwester: Welche Bedeutung hat dieses Gespräch einerseits für Fr. Holder und andererseits für Sr. Doris? Situationseinschätzung: Wird die Patientin wieder nach Hause gehen können? Und: Wie können die Pflegepersonen im Krankenhaus mit dafür sorgen, daß die Entlassung nach Hause sichergestellt werden kann? (Ζ. B. über Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Angehörigen und ambulanten Pflegediensten nachdenken, entsprechende Erfahrungen austauschen) Qualität des Gesprächs: Dies ist eines von vielen möglichen Beispielen für ein Aufnahmegespräch. Können Sie sich ein ähnliches Gespräch in der Praxis vorstellen? Was fallt Ihnen an diesem Gespräch im Vergleich zu Gesprächen, die Sie kennen, besonders auf? Hätten Sie an der einen oder anderen Stelle anders reagiert als Sr. Doris? Was ist alles inhaltlich zur Sprache gekommen? (Gedächtnisübung: Jeder soll aus dem Gedächtnis heraus, ohne nachzulesen, die inhaltlichen Schwerpunkte aufschreiben, und anschließend mit den Aufzeichnungen der anderen vergleichen.) Was schätzen Sie, wie lange hat dieses Gespräch gedauert?
Allgemeines zum Gesprächsverhalten Will man eine Situation möglichst ganzheitlich erfassen und nicht bloß einige gezielte Informationen erhalten, dann ist es wichtig, die Fragen so zu stellen, daß
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Grundvoraussetzungen der Pflege
der Patient alles das erzählen kann, was ihm von Bedeutung ist. Daher sollte sich auch die Pflegeperson mit persönlichen Bewertungen zurückhalten u n d den Patienten nur d a n n unterbrechen, wenn er nicht weiter weiß oder a n f ä n g t sich zu wiederholen. Geht m a n hingegen mit einem Fragebogen (Pflegeanamnesebogen) zum Patienten, besteht die Gefahr in einen Frage-Antwort- Wortwechsel zu geraten, wobei es mehr um das lückenlose Sammeln von Fakten geht, als um das Erfassen der tatsächlichen Situation des Patienten (s. Abschn. 2.6.2.2 „Pflegeanamnesebogen", S. 104). Es fällt vielen Schwestern und Ärzten heute leichter, ein kompliziertes Ü b e r w a chungsgerät sicher zu bedienen, als ein gutes u n d hilfreiches Gespräch mit dem Patienten zu führen (s. Abschn. 2.2, 2.3, S. 24, 40). (2) Probleme erfassen Situationseinschätzung, Problemstellung sowie das Erkennen von Ressourcen laufen als gedankliche Prozesse immer parallel ab. Bei der bewußten Bewertung einer Situation m u ß deshalb gefragt werden: Wann wird eine Situation zum Problem für den Patienten: Wenn der Patient aus eigener Kraft mit dieser Situation nicht fertig werden kann und sich d a d u r c h seine Situation zwangsläufig verschlechtert. Was ist ein Problem im Sinne des Pflegeprozesses: Eine Situation, mit der der Patient nicht aus eigener K r a f t fertig werden kann und deshalb die Pflegeperson um Hilfe bittet. Beispiel: Probleme von F r a u Holder 1. Angst, in ein Heim zu müssen. Diese Angst ist deshalb ein Problem, weil sie die gesamte Situation der Patientin überlagert und weil diese sich m o m e n t a n nicht in der Lage fühlt, aus eigener K r a f t etwas dagegen zu tun. (Hinweis: Diese Angst kann jedoch gleichzeitig auch als Ressource gesehen werden, da sie K r a f t freisetzt, um möglichst wieder nach Hause zu kommen.) Ein Pflegeproblem ist dies ebenfalls, denn F r a u Holder bittet Sr. Doris regelrecht darum, ihr zu helfen, daß sie wieder nach Hause entlassen werden kann. 2. Schlecht eingestellter Diabetes. Ein Problem, weil sie dadurch relativ rasch in einen lebensgefährlichen Zustand kommen kann. Sie ist offenbar nicht in der Lage, aus eigener K r a f t eine relativ stabile Stoffwechsellage aufrechtzuerhalten. Rolle der Pflege bei diesem Problem·. F r a u Holder wird als Notfall m i t einer Hypoglykämie ins Krankenhaus eingeliefert. D a die Patientin zu diesem Z e i t p u n k t nicht in der Lage ist, ihren Willen zu bekunden, entscheidet der Arzt in seiner Fachkompetenz und aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen, was gemacht wird. Die Pflege ist ebenfalls im Sinne der gültigen Rechtslage tätig, indem sie zunächst die vom Arzt angeordneten M a ß n a h m e n durchführt. Sobald die Patientin bewußtseinsklar ist, m u ß sie jedoch in alle Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Sie hat das Recht zu bestimmen, ob ein Therapievorschlag oder eine Pflegemaßnahme durchgeführt werden soll oder nicht. D a F r a u Holder im vorliegenden Falle daran interessiert ist, wieder nach Hause gehen zu können, bittet sie indirekt
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sowohl den Arzt als auch die Pflege, ihr zu helfen, den ursprünglichen Gesundheitszustand wieder zu erreichen. 3. Gestörte Verdauung und Appetitlosigkeit. Da dieser Zustand wahrscheinlich die Entgleistung des Diabetes verursacht hat und die Einstellung erschwert, muß dieses Problem auf jeden Fall gelöst werden, damit sich der Stoffwechsel überhaupt stabilisieren kann. Zudem führt dies auf Dauer zu weiteren Mangelerscheinungen und verstärkt die Kraftlosigkeit. 4. Einschränkung durch Schmerzen in der rechten Hüfte, Gangunsicherheit im re. Bein und Funktionseinschränkung der re. Hand. Fr. Holder kann weder sitzen noch auf der rechten Seite liegen. Die Schmerzen fesseln sie ans Bett. Sie kann sich dadurch nicht selbst waschen, nicht an- und ausziehen, nicht zur Toilette gehen und wahrscheinlich benötigt sie auch Hilfe beim Essen und Trinken. Aufgrund des Bewegungsmangels ist sie außerdem thrombose- und evt. dekubitus- und pneumoniegefährdet. Außerdem ist die Patientin bei allen Tätigkeiten, die sie nicht alleine mit der linken Hand ausführen kann, auf fremde Hilfe angewiesen. Aufgrund dieser Einschränkungen erklärt sich ihre Angst vor dem Verlust der Selbständigkeit mit der möglichen Konsequenz, in ein Pflegeheim zu müssen. (Diese Problempunkte wurden deshalb zusammengefaßt, weil es sich dabei um 3 verschiedene Bewegungseinschränkungen handelt, die insgesamt betrachtet, eine spezielle Art von Hilfsbedürftigkeit deutlich macht. Allerdings kann man diese 3 Probleme auch gesondert aufführen, was jedoch zur Folge haben wird, daß spätestens bei den Maßnahmen Wiederholungen auftreten.)
5. Ulkus am linken Schienbein. Dies ist deshalb für Fr. Holder ein Problem, weil durch die offene Wunde eine erhöhte Infektionsgefahr gegeben ist. Ein Pflegeproblem ist es außerdem, weil die Patientin bei der Versorgung der Wunde auf fremde Hilfe angewiesen ist. 6. Schwerhörigkeit. Die Schwerhörigkeit ist für Frau Holder ein Problem, weil sie sich in ihren Kommunikationsmöglichkeiten stark eingeschränkt fühlt und soziale Kontakte erschwert sind. Eine Hörbehinderung ist immer auch ein Pflegeproblem, weil jeder Hörbehinderte darauf angewiesen ist, daß die anderen sich so verhalten, daß er möglichst alles verstehen kann. Hierzu gibt es einige allgemeine Richtlinien, die generell beachtet werden müssen (s. Anlage 5, S. 89). Hinweis: In der Pflegedokumentation (Anlage 6, S. 91) wird dieses Problem im Stammblatt — Rubrik „Behinderungen" — aufgeführt und nicht nochmals auf dem Planungsblatt. Da ein allgemeiner Standard zum Umgang mit dem hörbehinderten Patienten existiert, muß man davon ausgehen, daß dieser auch beachtet wird. Wenn keine zusätzlichen individuellen Maßnahmen erforderlich sind, reicht der Eintrag auf dem Stammblatt m. E. aus, um alle Pflegepersonen darauf aufmerksam zu machen. Allerdings können Sie diese Behinderung auch in der Planung zusätzlich vermerken. (3) Ressourcen erkennen Ressourcen sind Kräfte, Fähigkeiten oder Möglichkeiten, die der Patient selbst einbringt, um ein bestimmtes Problem zu bewältigen. Die Ressource ist sozusagen das Gegengewicht zum Problem.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
— Problem: Der Patient kann aus eigener Kraft mit seiner Situation nicht fertig werden, wodurch sich seine Gesamtsituation zwangsläufig verschlechtert. — Ressource: Vorhandene Kraft (Willen, Wissen, Fähigkeiten, Möglichkeiten), die der Patient oder Angehörige zur Bewältigung des Problems einbringen können. Die größte Ressource ist der Wille des Patienten: „Wenn der Patient nicht mehr will, ist der Arzt mit seinem Latein am Ende!" Die Pflegeperson sollte herausfinden, was dem Patienten besonders wichtig ist, was er selbst wieder erreichen möchte bzw. welche Interessen er hat. Da es bislang im Pflegealltag aber auch in der Therapie allgemein unüblich ist, gezielt nach den vorhandenen Kräften, Fähigkeiten und dem Willen des Patienten zu suchen, bietet die Pflegeplanung endlich die Möglichkeit, den Ressourcen den Stellenwert einzuräumen, der ihnen zukommt. Beispiel Fr. Holder. Ressource: Frau Holder möchte auf jeden Fall wieder nach Hause und sich so selbständig wie möglich versorgen. Ihr größtes Problem ist gleichzeitig ihre größte Ressource. Denn die Angst vor dem Heim verstärkt den Willen, wieder so gesund zu werden, daß sie relativ selbständig zuhause klar kommen kann. Sie wird ihre Kräfte mobilisieren, um dieses Ziel zu erreichen. Hätte sie hingegen Angst vor dem Heim, aber gleichzeitig auch keine Lust darauf, weiter in ihrem Haus leben zu müssen, dann sähe die Gesamtsituation bedenklicher aus. In solch einem Falle müßte man gezielt nach anderen Ressourcen suchen.
(4) Pflegeziele setzen Ein Pflegeziel bezieht sich auf ein bestimmtes Pflegeproblem und beschreibt die Situation des Patienten, die durch pflegerisches Handeln erreicht werden soll. Für die Beschreibung von Pflegezielen gelten folgende Regeln: • Das Pflegeziel ist aus der Sicht des Patienten zu stellen und in Soll-Form (so kurz wie möglich) zu formulieren. • Das Pflegeziel erhält die gleiche Nummer, wie das Problem, auf das es sich bezieht. • In bezug auf Rehabilitationsziele gibt das Ziel den Schritt an, der zunächst erreicht werden muß, bevor ein weiterer Schritt (Ziel) gesetzt werden kann. Beispiel: Pflegeziele Frau Holder Problem: Ziel:
1 1.1 1.2
Angst, in ein Heim zu müssen Patientin soll wieder nach Hause entlassen werden können bessere Lösung für zu Hause finden
Umfassende und geplante Pflege
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Problem:
2
schlecht eingestellter Diabetes mellitus
Ziel:
2
s. Standard Diabetes mellitus (Anlage 2, S. 85)
Problem: Ziel:
3 3
gestörte Verdauung, Appetitlosigkeit s. Standard Diarrhoe (Anlage 3, S. 86)
Problem:
4
Ziel:
4
Einschränkung durch Schmerzen in der rechten Hüfte, Gangunsicherheit im re. Bein u. Funktionsstörung der re. Hand keine Folgeschäden, maximale Selbständigkeit
Problem: Ziel:
5 5
Ulkus am linken Schienbein s. Standard Ulcus cruris, Ziel 1—3 (Anlage 4, S. 88)
Problem: Ziel:
6 6
Schwerhörigkeit s. Standard Hörbehinderung (Anlage 5, S. 89)
Ziel 1.1: Patientin soll wieder nach Hause entlassen werden können. Mit diesem Ziel wird allen Pflegepersonen bekannt gemacht, daß alles getan werden soll, damit Fr. Holder wieder nach Hause entlassen werden kann. Da Sr. Doris durch das Gespräch weiß, daß Fr. Holder auf keinen Fall in ein Pflegeheim möchte, sollte auch alles daran gesetzt werden, daß die Patientin in ihrem Haus zurecht kommt. Der Wille der Patientin ist gleichzeitig auch eine wichtige Ressource und muß deshalb sowohl bei der Zielsetzung als auch bei den Maßnahmen berücksichtigt werden. Ziel 1.2: bessere Lösung für zu Hause finden (Ernährungssituation). Da es nicht darum geht, daß alles wieder so wird, wie es vor der Einlieferung war, gibt man mit diesem Ziel bekannt, daß eine bessere Lösung angestrebt wird. Dies bezieht sich insbesondere auf die Ernährungssituation. Ziel 2: s. Standard Diabetes mellitus (Anlage 2). Darin sind allgemeine Pflegerichtlinien oder -prinzipien aufgeführt, die bei allen Patienten mit einem Diabetes meli, grundsätzlich beachtet werden sollten. Die Pflegepersonen von Station 1A haben diesen Standard zur allgemein gültigen Norm erklärt. Wenn Sr. Doris im schriftlichen Pflegeplan in der Rubrik Ziel, auf diesen Standard verweist, so bedeutet das, daß die Ziele, die im Standard angeführt sind, auch bei Frau Holder angestrebt werden. Ziel 3: s. Standard Diarrhoe (Anlage 3). Da die Station auch in diesem Falle über einen Standardpflegeplan verfügt, überprüft Sr. Doris lediglich, ob die Zielsetzung im Standard auch auf das Problem von Fr. Holder paßt. Was die Appetitlosigkeit betrifft, kann man davon ausgehen, daß sich der normale Appetit wieder einstellt, sobald sich die Verdauungsstörung reguliert hat. Außerdem bleibt hinsichtlich der Ernährung die Anordnung des Arztes abzuwarten. Erfahrungsgemäß ist eine kurzzeitige Nahrungskarenz bzw. parenterale Ernährung in dieser Situation angezeigt. Wenn sich der Magen-Darm-Trakt und der Stoffwechsel wieder erholt haben, wird wahrscheinlich eine individuelle Aufbaudiät angeordnet.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Ziel 4: keine Folgeschäden, maximale Selbständigkeit. Hierbei handelt es sich um ein typisches Erhaltungsziel. Die Pflegepersonen müssen dafür sorgen, d a ß die Patientin keine körperlichen, seelischen oder sozialen Schäden dadurch erleidet, daß sie sich momentan nicht selbst versorgen kann. Wenn sich die Schwellung im Bereich von Hüfte und Oberschenkel wieder zurückgebildet hat, werden wahrscheinlich die Schmerzen auch wieder verschwinden und die frühere Beweglichkeit hergestellt werden können. Bis dahin muß man versuchen, die Situation für die Patientin so erträglich wie möglich zu gestalten und darüber hinaus dafür zu sorgen, daß keine durch diese Situation bedingten Schäden, wie ζ. B. ein Dekubitus entstehen, die dann den allgemeinen Genesungsprozeß zusätzlich behindern. Da Fr. Holder wahrscheinlich am besten weiß, was sie wie mit ihrer rechten Hand tut bzw. was sie besser mit links macht oder wie sie ihre Gehschwäche kompensieren kann, sollten die Pflegepersonen sich zunächst an den Erfahrungen der Patientin orientieren (,Selbständigkeit erhalten'). Wenn man dann später evt. feststellt, daß Fr. Holder durch den Einsatz eines ihr unbekannten Hilfsmittels oder einer gezielten Übung bestimmte Handhabungen vereinfachen könnte, ist es selbstverständlich, ihr diese zu zeigen oder auf die entsprechenden Hilfsangebote zu verweisen (,Situation verbessern'). Um sinnvolle Rehabilitationsziele erstellen zu können, muß man die Ausgangssituation genauer kennen. Ziel 5: s. Standard Ulcus cruris, Ziel 1—3 (Anlage 4). Bei der Pflege des offenen Beins von Fr. Holder werden von den 4, im Standard aufgeführte, hauptsächlich die ersten 3 Ziele angestrebt. Das 4. Ziel ist nach Einschätzung von Sr. Doris in der vorliegenden Situation unrealistisch. Ziel 6: s. Standard Hörbe (Anlage 5). Das allgemein gültige Ziel: „Der hörbehinderte Patient soll uns verstehen können und sich verstanden fühlen", ist grundsätzlich bei allen Patienten anzustreben. (5) Geplante Pflegemaßnahmen (Maßnahmenplan) Definition. Der Pflegeplan benennt und beschreibt die Pflegemaßnahmen, von denen die Pflegeperson denkt, daß sie geeignet sind, ein angestrebtes Ziel zu erreichen. Im Rahmen der Pflegeplanung ist der Maßnahmenplan der eigentliche Handlungsplan, in dem die geplante Pflegeleistung festgehalten ist. Deshalb spricht man im allgemeinen auch vom Pflegeplan, was häufig jedoch auch mit der Pflegeplanung verwechselt wird. Ein Pflegeplan, der sowohl Handlungsanweisung (1, 2) als auch Leistungsnachweis sein soll, muß folgende Fragen beantworten können:
(3)
1. Wie heißt die Maßnahme und was beinhaltet sie? 2. Welche Materialien und Arbeitsmittel werden eingesetzt und wann und wie oft werden diese Maßnahmen durchgeführt? 3. Aus Gründen der Sicherheit für die Pflegeperson: Wer ist für die korrekte Durchführung der Maßnahme verantwortlich und worauf wird besonders geachtet? (Priorität — Vereinbarung — Abgrenzung)
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Die schriftliche Erstellung eines Pflegeplans ist ohne entsprechende Pflegestandards für die Praxis undenkbar. Stellen Sie sich bloß einmal vor, was bei der Pflegeplanung von Fr. Holder alles geschrieben werden müßte, wenn keine Standards einbezogen werden können.
Den Maßnahmenplan für Frau Holder sehen Sie auf dem Planungsblatt (s. Anlage 7, S. 92). Übung: Bewerten Sie diesen Maßnahmenplan möglichst zusammen mit Ihrem Lehrer. Die aufgeführten Standards sowie die im Bericht beschriebenen Maßnahmen sind dabei natürlich einzubeziehen. Bei Standards, die hier nicht abgebildet sind, bleibt es Ihnen überlassen, sich diese inhaltlich vorzustellen oder, noch besser, diese selbst zu erstellen.
(6) Durchführung Natürlich ist ein Plan eben nur ein Plan und nicht bereits Realität. Der Plan ist nur so gut, wie sein Planer in der Lage war alle Aspekte zu berücksichtigen. Wie sie bereits gesehen haben, können jedoch auch unvorhersehbare Situationen eintreten, die dann situative Sofortentscheidungen verlangen oder eine Abweichung vom geplanten Vorgehen erfordern. Ob sich eine Situation rasch oder langsam oder gar nicht verändert und in welche Richtung sie sich verändern wird, kann man anhand von Erfahrungswerten prognostizieren aber nicht mit Sicherheit vorhersagen. Wir haben also auf der einen Seite einen Plan, der von bestimmten Annahmen ausgeht, und auf der anderen Seite die tatsächlichen Ereignisse, auf die es jeweils adäquat zu reagieren gilt. Betrachten wir dazu den weiteren Verlauf des Krankenhausaufenthaltes von Fr. Holder. Da dieser jedoch nicht in allen konkreten Einzelheiten wie etwa das Situationsbeispiel auf S. 59 ff. dargestellt werden kann, müssen Sie aus dem Pflegebericht herauslesen, wie sich die Situation von Fr. Holder bis zu ihrer Entlassung entwickelt hat und was die Pflegepersonen geplant oder situativ getan haben. (7) Pflegedokumentation: Pflegestammblatt, -planungsblatt, -bericht Im folgenden sollen einige Vorschläge zur Pflegedokumentation erläutert werden: • Pflegestammblatt/Stammdaten (Anlage 6, S. 91). Das Stammblatt ist als Deckblatt gedacht, das jeder Pflegeperson, die den Patienten zeitweise pflegen muß, einen schnellen Überblick über alle wichtigen Informationen gibt. Dadurch kann auch ζ. B. eine Nachtwache, ohne erst den ganzen Pflegebericht lesen zu müssen, erfahren, was im wesentlichen vorliegt. So füllt Sr. Doris das Stammblatt nicht etwa für sich aus, denn sie hat die Daten ermittelt und kennt deshalb besser als alle anderen die Situation der Patientin. Sie hält diese Informationen vielmehr für ihre Kollegen fest, die während des stationären Aufenthalts an der Pflege von Frau Holder beteiligt sein werden.
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Grundvoraussetzungen der Pflege
Im Vergleich zum Pflegebericht und zur Pflegeplanung hat das Stammblatt hauptsächlich Informationscharakter. Es soll somit in erster Linie eine Orientierungshilfe sein, indem alle aktuellen und pflegerelevanten Eckdaten kurz und übersichtlich dargestellt werden. Doch beurteilen Sie selbst: Stellen Sie sich vor, Sie kommen auf eine neue Station mit Ihnen noch völlig unbekannten Patienten und finden zusätzlich zur Übergabe solche Stammblätter bei jedem Patienten vor. In einigen Einrichtungen findet man statt des Stammblattes ein sog. Pflegeanamneseblatt. Dabei dienen das Aufnahmegespräch und die anfänglichen gezielten Beobachtungen der Erhebung einer Pflegeanamnese, die der Arztanamnese gleichen aber andere inhaltliche Schwerpunkte haben sollte. Inzwischen sind jedoch aus den meisten Pflegeanamnesebögen, ATL- oder AL-Checklisten geworden (s. S. 69). Wobei 9 oder 12 Lebensaktivitäten oder -elemente (je nach Interpret des Lebensmodells von N. Roper) aufgelistet sind, zu denen dann gezielt Informationen gesucht und eingetragen werden sollen. Häufig findet man auch Kombinationen aus Ankreuzfragen (z. B. Zahnprothese OK 0, Zahnprothese U K 0) und Rubriken für die freie Formulierung von Antworten. Jedenfalls hat jedes Haus und manchmal sogar jede Abteilung ihre eigenen, selbstgestrickten Formulare für die Pflegedokumentation. • Pflegeplanungsblatt (Anlage 7, S. 92). Ähnlich wie bei den Stammblättern sehen auch die Formulare, auf denen die Pflegeplanung festgehalten werden soll, in jeder Einrichtung anders aus. Bei der Gestaltung dieser Formblätter schlagen vor allem die unklaren Vorstellungen über Art und Umfang von Pflegeplanung und -dokumentation zu Buche. Das hier vorgestellte Planungsformular (Anlage 7, S. 92) ist als Produkt einer längeren Entwicklungskette zu sehen, dem folgende Erfahrungswerte zugrunde liegen: — Wenn die Problemerfassung in der dargestellten Weise stattfindet, werden ganz selten mehr als 6 Pflegeprobleme ermittelt, so daß die Vorgabe von 6 Rubriken ausreicht. Der Umfang der handschriftlichen Pflegeplanung sollte eine DIN A4-Seite nicht überschreiten, da sie sonst unübersichtlich und uneffektiv wird. Dies kann nur erreicht werden, wenn man sich bei allen häufig vorkommenden Tätigkeiten oder Problemen auf schriftlich festgelegte Pflegestandards beziehen kann. — Auf dem Planungsformular sollen vor allem die Probleme, Ziele und Maßnahmen aufgeführt werden, die über einen längeren Zeitraum von allen Pflegepersonen beachtet werden müssen. Maßnahmen, die vom Arzt angeordnet wurden bzw. auf dem Kurvenblatt stehen, brauchen hier nicht nochmals aufgeführt zu werden. Z. B. die Vorbereitung und Verabreichung von Medikamenten, Untersuchungen oder speziellen Therapien. Ein venöser Zugang oder ein Blasenkatheter ist normalerweise auf dem Kurvenblatt dokumentiert. Welche Tätigkeiten die Pflege im Zusammenhang mit einem Venenkatheter, einer Infusionstherapie, bei der Bilanzierung, bei einer Untersuchung, bei einem Blasenkatheter u. a. m. durchführen soll, müßte in den entsprechenden Standards festgehalten sein.
Umfassende und geplante Pflege
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• Pflegebericht (Anlage 8, S. 94). Der Pflegebericht ist Hauptbestandteil der Pflegedokumentation. Im Bericht sollte im Zweifelsfall nachgelesen werden können, in welchem Gesundheitszustand sich der Patient während seines Krankenhausaufenthalts befunden hat, welche pflegerischen Hilfen in der jeweiligen Situation angeboten bzw. durchgeführt wurden und wie der Patient auf diese reagiert hat. Beispiel: 3.10 Uhr, Pat. wachte schweißgebadet auf, BZ 45mg%, Dr. C. informiert, lt. Anord. Tee mit 40 g Traubenzucker gegeben, 4.00 Uhr BZ 90mg%.
Problemsituationen, die aller Voraussicht nach in einem absehbaren Zeitraum behoben sind, sollten berichtet werden. Hingegen kann der Schreibaufwand deutlich reduziert werden, wenn die Probleme, Ziele und Maßnahmen, die über mehrere Tage, Wochen oder Monate bestehen bleiben, auf einem separaten Blatt hervorgehoben werden. Dadurch braucht man diese nicht in jeder Berichtsequenz aufzuführen. Das Herausheben solcher langfristigen Planungen aus dem allgemeinen Bericht hat in erster Linie den Vorteil, daß alle wichtigen und von allen Pflegepersonen zu beachtenden Punkte übersichtlich zusammengefaßt sind. Da die Pflegeplanung gleichzeitig auch als verbindliche Handlungsanweisung verstanden wird, reicht es aus, wenn im Bericht lediglich die Abweichung von dem Geplanten geschrieben und begründet werden. Zur schnelleren Übersicht kann man dabei jeweils die Problemnummer angeben (s. B. (1) usw.). Ein Pflegebericht sollte folgende Kriterien erfüllen: • Situationsbericht: Beschreibung der jeweiligen Patientensituation • Dokumentation der Pflegemaßnahme in der jeweiligen Situation • Übergabefunktion/Informationsinstrument • Erfassung und Darstellung der Pflegeleistung (s. auch Eingruppierungsspalte A/S nach der neuen Pflege-Personalregelung) Übung: 1. Bewerten Sie den Pflegebericht „Fr. Holder" anhand dieser Kriterien. 2. Vergleichen Sie diesen Bericht mit einigen Berichten aus Ihrem Hause. Falls Sie deutliche Abweichungen feststellen: versuchen Sie, die Ursachen hierfür herauszufinden.
Übung: Welche Fähigkeiten und Kenntnisse muß eine Pflegeperson haben, um eine Pflegeplanung und -dokumentation, wie im Beispiel „Fr. Holder" gezeigt, leisten zu können? Welche Voraussetzungen müßten nach Ihrer Meinung geschaffen werden, damit umfassendes und geplantes Pflegen in der Praxis durchgeführt werden kann? Was können Sie persönlich dazu beitragen?
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G r u n d v o r a u s s e t z u n g e n der Pflege
Anlage 1: Pflegestandard Aufnahmegespräch AUFN2 Krankenhaus X Station 1A
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AUFNAHMEGESPRACH/PFLEGEGESPRACH
Das Aufnahmegespräch ist Voraussetzung für die — frühestmögliche — individuelle Einschätzung der Situation von Patient und ggf. Angehörigen. Zudem ist dieses Gespräch für die Vertrauensbildung zwischen Pflegeperson und Patient von entscheidender Bedeutung und hat somit meist bleibende Auswirkungen auf dessen Kooperationsbereitschaft. Die unten aufgeführten Gesprächsziele und die Gesprächsmethode sollten die Basis eines jeden Pflegegespräches darstellen. Gesprächsziele: — Vertrauensbasis und Beziehung herstellen — besondere Belastungen und Probleme erkennen — Erwartungshaltung des Patienten erfassen — der Situation entsprechende Prioritäten erkennen — geplante Hilfestellung (pflegerische Maßnahmen) erläutern Gesprächsmethode und Grundhaltung: 1. Offene Fragen stellen Fragen zu seiner Person, zu seiner Situation, seinem Empfinden, seiner Einschätzung eines Problems oder seinen Erwartungen an die Therapie und Pflege stellen, auf die der Patient jeweils das antworten kann, was er antworten möchte. Beispiele: — Was belastet Sie an dieser Situation am meisten? — Wie fühlen Sie sich jetzt, nachdem ...? — Was erhoffen Sie sich von diesem Eingriff (Klinikaufenthalt)? — Was können wir Gutes für Sie tun? — Was möchten Sie auf jeden Fall selbst tun? — Was möchten Sie wieder selbst tun können? 2. Aktives Zuhören und Akzeptieren der Person bzw. des Problems
Mit Blickkontakt zum Patienten hinsetzen, nach jeder Frage die Reaktion und Antwort abwarten, aussprechen lassen — nur unterbrechen, wenn der Patient nicht weiter weiß oder sich seine Antworten wiederholen — Zurückhaltung bei der Bewertung von Problemen üben! Störfaktoren möglichst ausschalten. 3. Antworten bzw. Reaktionen paraphrasieren Die Pflegeperson soll dem Patienten mitteilen, wie sie seine Antworten bzw. Äußerungen verstanden hat, indem sie diese entweder mit eigenen Worten wiederholt oder aus dem Sinngehalt der Antwort eine gezielte Frage entwickelt (evtl. direkte Frage). (Bedarf einiger Übung, sollte aber zumindest versucht werden, auch wenn man sich noch nicht so sicher fühlt.) 4. Auf Fragen des Patienten einfühlsam und offen antworten Evtl. auch den Aussagegehalt der Frage paraphrasieren, darauf achten, d a ß der Gesprächsfaden nicht verloren geht und man dadurch von einem Thema zum anderen springt 5. Orientierung geben durch gezielte Information Über das zunächst geplante Vorgehen informieren, Was? Wann? Wie? Zuständigkeit u. ä. klären.
Hinweis: Die Pflegeperson entscheidet, welche Informationen sie schriftlich dokumentiert (Stammblatt/Bericht), welche sie mündlich berichtet (Übergabe) und welche sie vertraulich behandelt. Das Gespräch sollte erst dann erfolgen, wenn der Patient mit der für ihn neuen Umgebung schon vertraut ist, und die zuständige Pflegeperson mindestens 10 Min. Zeit (in Ruhe) erübrigen kann. Kann sich der Patient selbst nicht äußern, sollte ein vergleichbares Gespräch mit den Angehörigen oder Vertrauenspersonen geführt werden.
U m f a s s e n d e und geplante Pflege
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Anlage 2: Pflegestandard Diabetes mellitus DIABM Krankenhaus X Station 1A
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DIABETES MELLITUS: PRINZIPIEN
PFLEGERISCHE
GRUND-
Das klinische Bild des Diabetes mellitus, die damit verbundenen Gefahren sowie der chronische Charakter dieser Erkrankung prägen den gesamten Lebensweg des Betroffenen. Insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch für den Erwachsenen bedeutet dies, lebenslang Entbehrungen hinnehmen und ständig Selbstdisziplin aufbringen zu müssen, damit die überlebensnotwendige Balance zwischen Ernährung, Belastung und Insulinzufuhr gewährleistet bleibt. Pflegeziele: 1. Sicherheit im Umgang mit dem Diabetes
Information Akzeptanz
Ernährung Diät
Antidiabetika Insulin
2. Blutzuckerschwankungen/Entgleisungen frühzeitig erkennen und vermeiden
Belastung Bewegung
Kontrolle Selbstschutz
Pflegemaßnahmen: 1. Informationsstand erfassen: Aufnahmegespräch, gezielte Beobachtung, Fragen 2. Informationslücken ggf. schließen helfen: Informationsgespräch führen oder Gespräch mit Arzt vermitteln, ggf. auf entsprechende Literatur oder Diabetesschulung verweisen 3. situationsbezogene Belastungen offen ansprechen (Verständnis und Einfühlung zeigen) 4. Diät nach Anordnung (BE) bestellen und kontrollieren: Verwechslungen ausschließen, wenn Patient nicht alles aufißt, nachfragen; auf Einnahmen der Zwischenmahlzeiten achten 5. beobachtete Ernährungsfehler offen und sachlich ansprechen: pädagogisch einfühlsam vorgehen, Verständnis zeigen, nicht mit „erhobenem Zeigefinger" (s. auch Standard DiabmE) 6. Insulin oder orales Antidiabetikum pünktlich (ζ. B. 30 Min. vor der Mahlzeit) wie angeordnet verabreichen: (s. Standard Diabml) 7. wenn Patient die Technik der Insulininjektion nicht beherrscht (s. Standard DiabmA) 8. diesbezügliches Verhalten des Patienten gezielt beobachten, ungünstige Verhaltensweisen jeweils mit dem Patienten und evtl. mit dem Arzt besprechen (ζ. B. Patient liegt tagsüber zuviel im Bett, sollte/könnte sich mehr belasten) (s. auch Standard DiabmK) 9. bei BZ-Schwankungen: Ursachensuche in Zusammenarbeit mit dem Arzt, Patient/Angehörigen und evtl. Diätberatung 10. BZ- und HZ-Kontrollen nach Anordnung, bei plötzlicher Unpäßlichkeit: BZ-Schnelltest (Reflochek), gezielt auf hyper- und hypoglykämische Zeichen achten und ggf. Sofortmaßnahmen einleiten (s. Standards Hypergly, Hypogly), Kenntnisstand und evtl. Erfahrungen bezüglich Blutzuckerentgleisungen beim Patienten erfragen, Informationslücken ggf. schließen. Fortsetzung S. 86
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Grundvoraussetzungen der Pflege
3. Selbständigkeit und Eigen Verantwortung aufbauen oder behalten können
Die Bedeutung der eigenen (Pat./Angehörigen) Fachkompetenz immer wieder herausstellen: Jede Frage fachlich korrekt und für den Patienten verständlich beantworten. Wo immer möglich zum selbständigen Entscheiden und Handeln ermuntern. Ist der Patient/Angehörige bereits mehr Fachmann als die ihn betreuende Pflegeperson, sollte diese ihn als Experten akzeptieren (kein Konkurrenzverhalten aufbauen). Beim Kind, Jugendlichen und dem älteren Diabetiker sollte mindestens eine angehörige Bezugsperson zum Fachexperten werden.
Anlage 3: Pflegestandard Diarrhoe DIARR Krankenhaus X Station 1A
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DIARRHÖE/ENTERITIS
Als Diarrhoe (Durchfall) wird die gehäufte Entleerung von dünnen bis wässrigen Stühlen bezeichnet. Bei schweren Formen kommt es bis zu 20 und mehr Entleerungen pro Tag. Die häufigsten Ursachen sind akute Entzündungen des Darms (Enteritis) aufgrund infektiöser Darmerkrankungen oder chronisch entzündliche Prozeße (ζ. B. Kolitis, M. Crohn) sowie Nahrungsmittelunverträglichkeit, Vergiftungen, Störungen der Magen-, Dünndarm-, Pankreas-, Gallenund Leberfunktion. Je nach Art und Schwere der Grunderkrankung leidet der Patient unter krampfartigen Bauchschmerzen, Übelkeit und Brechreiz (Brechdurchfall), Fieber, Appetitlosigkeit und allgemeiner Schwäche. Anhaltende Durchfälle können zu bedrohlichen Wasser- und Elektrolytverlusten führen (Exsikkose, Hypokaliämie, Azidose). Pflegeziele: 1. Ausschaltung des schädlichen Agens und Beruhigung des Magen-Darm-Traktes
PflegemaBnahmen: In der Akutphase: 1. Bettruhe, Wärme evtl. warme Bauchwickel, zusätzliche Aufregung vermeiden, Ernährung s. u.: 1.Tag: reichlich Tee: schwarzer Tee (5 — 7 Min. ziehen), Pfefferminz, Kamille (ungesüßt) 2. Tag: 3 — 5 χ Wasserschleimsuppe (ohne Milch u. Butter, ausreichend gesalzen) Tee, Zwieback, evtl. auf der Glasreibe geriebener Apfel (mit Zitronensaft beträufeln) 3 — 5 Portionen 3. Tag: je nach Befinden: wie am 2. Tag oder allmählich Übergang zu Schonkost 2. Medikamente nach Anordnung verabreichen (ζ. B. Absorbentien (Kohle), Spasmolytika (Busocopan, Imodium, Reasec, Opium Tropfen u. a.) oder Antibiotische Therapie)
Umfassende u n d geplante Pflege
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2. Kein Ernährungs- und Flüssigkeitsdefizit
bei anhaltender Diarrhoe: 3. Unverträglichkeit bestimmter Nahrungsmittel prüfen, diese ggf. weglassen (ζ. B. Milch bei Laktasemangel, glutenfreie Kost bei Zöliakie) 4. schlackenarme, eiweiß-, vitalstoff-, kohlehydratreiche Vollwertkost je nach Situation und Anordnung (evtl. Astronautennahrung, trinkfertige Sondennahrung, spezielle Heilnahrung) 5. Flüssigkeitszufuhr je nach Laborwerten und Anordnung: a) über Infusion b) über Getränke wie: Tee, Fleisch-, Hühner-, Gemüsebrühe (keine Brühwürfel), Heilwasser (meiden: Alkohol, Kaffee, Milch, sehr süße und sehr kalte Speisen und Getränke)
3. Komplikationen vermeiden
Kontrollen und Beobachtung von: 1. Stuhl: Häufigkeit, Menge, Geruch, Farbe, Beschaffenheit, 2. Temp. 3 χ tägl. ax od. oral messen, 3. RR und Puls je nach Einschätzung, 4. Gewicht 1 χ tgl. (bei Aufstehpatient)
4. Beschwerden ertragen können
Beschwerden und Wünsche erfragen, Hilfestellung und Unterstützung je nach Befinden: Toilettengang, Steckbeckenbenutzung, Intimpflege, sonstige Körperpflege u.a. Schutz und Pflege des Analbereichs: weiches Toilettenpapier, häufig abwaschen, sorgfältig und vorsichtig trocknen, Vaseline oder Penatencreme als Feuchtigskeitsschutz auftragen
Hinweis: Kinder, alte und behinderte Patienten leiden in besonderem Maße unter den Strapazen eines länger anhaltenden Durchfalls (Kreislaufschwäche, unkontrollierter Stuhlabgang, psychische Belastung). Sie benötigen daher besonders viel Zuwendung, Verständnis und Unterstützung.
G r u n d v o r a u s s e t z u n g e n der Pflege Anlage 4: Pflegestandard Ulcus cruris UCRUVA Krankenhaus X Station 1A
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U L C U S C R U R I S VARICOSUM
Mehr oder weniger ausgedehnter Hautdefekt, der meist im medialen Knöchelbereich lokalisiert ist. Kausalkette: Varikosis — Stauungsödem — Ernährungsstörung — Ulzeration, Erosion und Nekrose der Haut. Aufgrund der chronisch schlechten Ernährungssituation des betroffenen Hautbezirks, die sich therapeutisch meist wenig beeinflussen läßt, müssen manche Patienten über Wochen, Monate oder Jahre mit einem „offenen Bein" behandelt werden. Entsprechend groß ist die Gefahr von Wundinfektionen, wodurch die Heilung zusätzlich erschwert wird. Bei der Behandlung des Ulkus sind folgende Ziele anzustreben: 1. Vermeidung von Stauungsödememen: 2. Vermeidung, Behandlung von Infektionen: 3. Förderung der Wundheilung: 4. Patienten zur Selbstständigkeit befähigen: Material: • Händedesinfektionsmittel • Plastikwanne für Beinbad, evtl. Fußbänkchen • Badezusatz: (Kamillosan oder Kaliumpermanganat) • 2 frische Handtücher (1 Frottee, 1 Baumwolle) • Einmalhandschuh • Abwurf für schmutzigen Verband • 1 sterile Pinzette • sterile Watteträger, evtl. steriler Spatel Durchführung:
— Blutrückfluß durch Kompressionsverband, Bewegung und Hochlagerung fördern — 1 χ täglich Wundreinigung und Wundpflege unter aseptischen Bedingungen — Wundbehandlung nach ärztlicher Anordnung durchführen — gezielte Anleitung des Patienten oder eines Angehörigen s. indiv. Pflegeplan • evtl. Öl für Wundrandreinigung (ζ. B. bei Verwendung von Zinksalbe) • Wundsalbe und evtl. Hautschutzsalbe nach Anordnung (s. Verordn. Kurve) • sterile Fettgaze (damit Verband nicht anklebt) • sterile Mullkompressen, bei suppender Wunde sterile Saugkompressen • Spezialschaumgummi (sollte im 0 ca. 3 cm größer als die Wunde sein) • 1 elastische Einmalbinde, 2 — 3 elastische Kompressionsbinden (möglichst neu)
Dem Patienten den Sinn jeder Maßnahme erklären und das Vorgehen zeigen. Entsprechend seiner Fähigkeit soll er zunächst unter Kontrolle und später selbständig die Versorgung seines Beines vornehmen.
Händedesinfektion Bein abwickeln und Beinbad vorbereiten (Wassertemperatur 36 — 38 °C) alten Verband abnehmen und abwerfen (b. Bed. Handschuh anziehen), verklebte Verbände im Wasser lösen lassen 4. Beinbad in bequemer Position ermöglichen (15 — 20 Min., evtl. warmes Wasser nachgießen) 5. Bein abtrocknen (Wundumgebung mit Baumwolltuch), 1 Handtuch als Bettschutz unterlegen Händedesinfektion, ggf. Wundrand mit Öl reinigen und Hautschutz neu auftragen
8. Wundsalbe mit Watteträger oder Kompresse steril einbringen 9. Wunde mit Gazestreifen abdecken (Gaze mit Pinzette steril entnehmen) 10. Wunde und Wundrand mit Kompressen steril abdecken 11. Schaumstoff auf den Verband auflegen, alles mit Einmalbinde fixieren 12. Kompressionsverband im Liegen anlegen: Bein vorher ca. 5 Minuten zur Entstauung hochlagern (Fußende hochstellen): Bein von den Zehen bis zur Leiste in Kreis- oder Achtertouren mit 2/3 Überlappung und mit leicht abnehmendem Kompressionsdruck wickeln. Ferse mit einwickeln.
Hinweis: Jede Veränderung im Wundbereich muß im Pflegebericht dokumentiert werden. Die Behandlung kann nach Anordnung von der erfahrenen Pflegekraft selbständig durchgeführt werden. Zur eigenen Sicherheit sollte jedoch darauf geachtet werden, daß der Arzt mind, lmal wöchentlich die Wunde inspiziert (Zeitabsprache erforderlich).
U m f a s s e n d e und geplante Pflege
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Anlage 5: Pflegestandard Schwerhörigkeit HÖRBE Krankenhaus X Station 1A
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H Ö R B E H I N D E R T E R / S C H W E R H Ö R I G E R PATIENT
Schwerhörig sein bedeutet: Gesprochenes nicht vollständig verstehen zu können; antworten zu müssen ohne Sicherheit, die Frage „verstanden" zu haben. Gespräche zu meiden, um sich Peinlichkeiten zu ersparen, durch häufige Mißverständnisse mißtrauisch und aggressiv zu werden, sich zurückzuziehen, einsam zu sein, in der Angst zu leben, wichtige akustische Signale und Geräusche nicht rechtzeitig wahrzunehmen, mitunter verwirrt oder gar desorientiert zu wirken und entsprechend behandelt zu werden. Diese Kommunikationseinschränkung und die damit verbundenen Verhaltensstörungen bringen viele schwerhörige Patienten in den Ruf, „schwierige Patienten" zu sein. Pflegeziel: Der Patient soll uns verstehen können und sich verstanden fühlen
Pflegemaßnahmen: Hören helfen durch richtiges Sprechen und Handeln
Regeln für den Umgang mit schwerhörigen Patienten: 1. sichtbar sprechen:
2. deutlich sprechen:
Erst dann sprechen, wenn der Patient mich wahrgenommen hat, mich ansieht Den Patienten beim Sprechen ansehen, damit er Lippenbewegung und Wortklang miteinander verbinden kann Auf entsprechende Beleuchtung achten, nicht ins Gegenlicht (ζ. B. ans Fenster) stellen Durch körperliche Zuwendung, Mimik und Gestik das Gesprochene unterstützen Gut artikulieren = Worte akustisch und optisch eindeutig mitteilen
3. langsam sprechen:
Zeit zum Hören lassen!
4. laut sprechen:
Voller Wortklang bei mittlerer Stimmlage (hohe Tonfrequenz vermeiden)
Auf keinen Fall den Patienten anschreien! Schreien löst das Gegenteil von Verstehen aus, auch wenn der Patient, um Ruhe zu haben, zustimmend nickt. Vorhandene Hörhilfen sachgerecht benutzen: siehe Standard „Hörge" Umgang mit Hörgeräten Hinweis: Um Selbstvertrauen aufbauen und Mißtrauen abbauen zu können, ist es für jeden schwerhörigen Patienten von besonderer Bedeutung, daß er feste Bezugspersonen in der Pflege hat. Er braucht dann seine Behinderung nicht ständig aufs neue zu demonstrieren. Hierzu siehe auch Pflegevorschlag auf der Rückseite (Kärtchen fürs Krankenbett). Einfühlungsvermögen und Taktgefühl sind Voraussetzung für diese Pflege. Schwerhörigkeit ist nicht sichtbar und daher nicht sofort erkennbar. Damit jeder, der ans Krankenbett eines Schwerhörigen tritt, sich von anfang an richtig verhalten kann, empfiehlt die Evang. Schwerhörigenseelsorge, diesen Text gut sichtbar am Patientenbett anzubringen. Der Patient sollte jedoch vorher gefragt werden, ob er damit einverstanden ist. Fortsetzung S. 90
90
Grundvoraussetzungen der Pflege
Ich bin hörbehindert bitte,
helfen Sie mir beim Hören
bitte,
sprechen Sie deutlich, langsam und laut, aber nicht zu laut!
bitte,
sehen Sie mich beim Sprechen an!
Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Kärtchen fürs Krankenbett, entwickelt von der Evang. Schwerhörigenseelsorge (Originalgröße 105 χ 75 mm, Farbe orange)
91
Umfassende und geplante Pflege U ^ ' S :0 υ • cd dû C . 2 « S O cd bû r o C > e 3 ce 3 υ3 C/5 Ν M 'δ Λ α - •H ω ÜP U ce tí S 3 e oa 13 g * « . "o « is á -s •-η •S c . s «a £ Ê 2 G Ûl Jad Ο «β LL h ΟΛ O flj ^ ~ =a ω
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Grundvoraussetzungen
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2.5 Krankenbeobachtung Susann
Peter
2.5.1 Allgemeine Beobachtung Beobachtung ist die allgemeine Bezeichnung für die aufmerksame und planvolle Wahrnehmung und die Registrierung von Vorgängen an Gegenständen, Ereignissen oder Mitmenschen in Abhängigkeit von bestimmten Situationen. Der gezielten Beobachtung vorgeschaltet ist die Wahrnehmung. Als Wahrnehmung werden die Prozesse der Informationsgewinnung aus Umwelt- und Körperreizen (äußere und innere Wahrnehmung) bezeichnet. Dazu zählen auch die damit verbundenen emotionalen Prozesse und die durch Erfahrung (Lernen) erfolgende Modifikation des Wahrgenommenen. Wahrnehmen läßt sich von der Funktion her definieren als komplexe, aus Sinnesempfindungen und Erfahrungskomponenten bestehende psychische Erscheinung, deren Inhalt im Raum lokalisiert wird und dadurch zur Auffassung von Gegenständen der Außenwelt führt.
In der Wahrnehmungstheorie werden 2 Hauptbestandteile beschrieben: Selektion und Strukturierung. • Selektion. Mit Hilfe der Selektion gelingt es uns, ein angenehmes Beobachtungsfeld zu schaffen, d. h. wir sortieren das Unwichtige aus und konzentrieren uns auf das für uns Wesentliche. Einerseits hilft die Selektion, uns vor einer Reizüberflutung zu bewahren; andererseits besteht die Gefahr, Wichtiges zu übersehen oder Dinge, die wir nicht wahrhaben wollen, auszublenden. • Strukturierung. Durch Strukturierung und den Vergleich mit gespeicherten Informationen kann ein „Bild entstehen" und adäquat eingeordnet werden. Die Gefahr hierbei liegt im engen Zusammenspiel mit der Interpretation, d. h. wir geben dem Wahrgenommenen eine Bedeutung und setzen so Prioritäten. Die Beobachtung ist dagegen ein (beabsichtigter) Prozeß, • der die Wahrnehmung einer gezielten Verarbeitung unterzieht. Dies geschieht im Sinne der gewollten Strukturierung und Selektion, der immer wieder zum gleichen Ablauf führt: Wahrnehmen, Erkennen, Analyse (Überprüfen), Verwertung bzw. Handeln. Die Beobachtung erfährt Beeinflussung durch fördernde und hemmende Faktoren: • fördernde Faktoren: Interesse am zu beobachtenden Menschen, Freude an der Arbeit, Ausgeglichenheit, ausreichend Zeit u. a.
Krankenbeobachtung
99
• hemmende Faktoren: eigene Probleme, Zeitmangel, Unausgeglichenheit, Überforderung, Vorurteile u. a. Grundsätzlich ist die Beobachtungsfähigkeit eine Gabe, die jeder Mensch schon bei der Geburt besitzt. Sie verkümmert häufig, weil durch die heutige leistungsorientierte Gesellschaft und den sich explosiv entwickelnden Medienmarkt schon im Kindesalter die Ablenkung groß ist. Die Entdeckungsmöglichkeiten bleiben ungenutzt. Ein chinesischer Weiser führte einmal vor den Augen seiner Schüler 4 Blinde zu einem Elefanten. Den ersten führte er zum Rüssel, den zweiten zu den Beinen, den dritten zum Bauch und den vierten zum Schwanz des Tieres. Sie sollten das Tier betasten und daraufhin beschreiben. „Ein Elefant", sagte der erste, nachdem er den Rüssel sorgsam betastet hatte, „ein Elefant ist wie ein langes, weiches, bewegliches Rohr so dick wie mein Oberarm." „Unsinn", sagte der zweite, „ein Elefant ist viel dicker; etwa wie ein Baum, den ich mit beiden Armen gerade noch umfassen kann." „Ein Baum?" sagte der dritte, der am Bauch des Elefanten stand, „eine Tonne, so groß, daß ich mit ausgestreckten Armen noch nicht einmal ihren halben Umfang ermessen kann." „Ihr irrt alle", sagte der vierte, „ein Elefant ist vielmehr wie ein kurzer biegsamer Stock, an dessen Ende ein Büschel Reisstroh befestigt ist." Der Weise lächelte — die Schüler schwiegen.
Für jeden Menschen bietet sich jedoch durch die Schulung der Beobachtungsfähigkeit die Chance, sich selbst und seine Umwelt bewußter wahrzunehmen. Für das Krankenpflegepersonal wird die Schulung und Verbesserung der Beobachtungsfähigkeit zur Pflicht. Immerhin geht es dabei um die Sicherheit und das Wohlbefinden der Patienten auf der Station. Hier einige Übungsbeispiele: • Optischer Sinn. Auf einem Tisch werden eine Anzahl von Gegenständen gerichtet und abgedeckt. Für eine festgesetzte Zeit wird das Tuch von den Gegenständen entfernt. Die Teilnehmer sollen versuchen, sich möglichst viele Gegenstände einzuprägen, ohne Notizen zu machen. Anschließend werden die Gegenstände wieder abgedeckt und die Teilnehmer sollen alle Gegenstände, an die sie sich erinnern, notieren. Als Abschluß dieser Übung werden die Gegenstände wieder aufgedeckt und mit den Notizen der Teilnehmer verglichen. • Akustischer Sinn. Die Teilnehmer schließen die Augen und achten nun auf alle Geräusche, die zu hören sind. Sie sollen versuchen, diese Geräusche zu beschreiben. • Haptischer Sinn (Tastsinn). Die Augen der Teilnehmer werden verbunden. Ihnen werden verschiedene Gegenstände in die Hände gegeben, die sie versuchen sollen zu beschreiben bzw. zu identifizieren.
2.5.2 Bedeutung Die Krankenbeobachtung gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Pflegepersonals.
100
Grundvoraussetzungen der Pflege
Beobachtung heißt in der Krankenpflege die aufmerksame Begegnung mit den kranken Menschen und dabei die Erfassung der Summe seiner körperlichen und seelisch-geistigen Äußerungen. Die fachgerechte Krankenbeobachtung ist die Grundlage für die: • adäquate Hilfe bei der Befriedigung der Grundbedürfnisse des kranken Menschen, • Erhaltung und Förderung der Ressourcen des Patienten, • gezielte, individuelle pflegerische Versorgung des Patienten, • rechtzeitige Erfassung von Komplikationen und Gefahren und deren Verhütung, • Überwachung der ärztlich angeordneten Therapie. Um die Beobachtung des kranken Menschen fachgerecht durchführen zu können, ist das Wissen über die „gesunden" Verhältnisse die entscheidende Grundlage. Ohne dieses Basiswissen kann die Pflegekraft Veränderungen und Abweichungen nicht rechtzeitig erkennen bzw. spricht ihnen nicht die notwendige Wertigkeit zu.
2.5.3
Beobachtungsmöglichkeiten
2.5.3.1 Womit wird beobachtet? Grundsätzlich können die Beobachtungsmöglichkeiten in natürliche und technische Möglichkeiten unterteilt werden. • Die natürlichen Möglichkeiten der Beobachtung entsprechen der Funktion unserer Sinnesorgane. Durch sie können wir wichtige Informationen über den physischen und psychischen Zustand des Patienten erhalten: Augen\ Ohren: Nase: Hände: Zunge:
ζ. B. Gesichtsausdruck, Haltung, Hautfarbe, ζ. B. Atemgeräusche, Herztöne, Klang der Stimme, ζ. B. Geruch von Ausscheidungen, Wunden, ζ. B. Hautbeschaffenheit, Körpertemperatur, ζ. B. wurde früher der Zuckergehalt von Urin durch Geschmacksproben ermittelt.
• Die Zuhilfenahme von technischen Hilfsmitteln ermöglicht die Überprüfung der persönlichen Beobachtung und nötigenfalls deren Präzisierung. Ein Ersatz für die natürlichen Beobachtungsmöglichkeiten sind sie jedoch nicht. Technische Hilfsmittel für die gezielte Beobachtung eines Patienten sind ζ. B.: — — — —
Blutdruckmanschette, Stethoskop und Fieberthermometer, Pulsuhr oder Uhr mit Sekundenzeiger, Teststreifen für die Urin- oder Blutzuckerbestimmung, elektrische Überwachungsgeräte (ζ. B. für Atmung, Puls, Blutdruck, Körpertemperatur ...)
Krankenbeobachtung
101
2.5.3.2 Was kann beobachtet werden? Beobachtet werden können u. a. Körpertemperatur, Puls, Blutdruck, Atmung, Ausscheidungen (Urin, Stuhl, Erbrechen, Schweiß, Wund- und Vaginalsekrete), Haut (Farbe, Beschaffenheit, Sensibilität), Augen, Stimme, Sprache (Mimik, Gestik), Körperhaltung, Bewegung, Bewußtseins-, Ernährungszustand, Schlaf, Schmerzen, Stimmungslage. 2.5.3.3 Wann kann beobachtet werden? Bei jedem Kontakt mit dem Patienten wird beobachtet! Die Gelegenheiten dafür sind so vielfältig wie die Krankenpflege selbst. Hier sollen nur einige Beispiele genannt werden: — bei der Körperpflege des Patienten und der Verabreichung von Mahlzeiten, — während das Bett des Patienten bezogen wird oder er über die Station geht, — während der Kontrolle von Puls, Blutdruck, Körpertemperatur u. a., — die Unterhaltung bietet wohl die beste Beobachtungsmöglichkeit. Hier lassen sich viele Bedürfnisse erkennen, die der Patient sonst vielleicht nicht äußern würde.
2.5.4 Weitergabe der Beobachtung Zur Beobachtung gehört auch ihre Weitergabe an die Schichtleitung, die Ärzte und andere an der Pflege beteiligte Personen. Alle wichtigen Beobachtungen müssen schriftlich niedergelegt werden (Pflegedokumentation, s. Abschn. 2.4.2.3, S. 70). Die Pflegedokumentation soll: — präzise und kurz formuliert sein, — für alle leicht verständlich und wahrheitsgetreu sein, — vollständig, sachlich also objektiv sein. Hierzu 3 Beispiele über die Dokumentation einer Beobachtung: • Schwester Gerda schreibt: „Herr K. ist heute sehr kraftlos. Er sieht aus, als ob er eine schwere Last zu tragen hätte. Dr. M. hat mit ihm gesprochen." • Bernd schreibt: „Herr K. erzählte mir, daß er starke Rückenschmerzen habe und sich kaum richtig bewegen könne. Jetzt mache er sich Gedanken, ob die Schmerzen wohl wieder zurückgingen. Er ist ja noch relativ jung. Ich habe mich mit ihm unterhalten und glaube, daß es ihm sehr gut getan hat, über seine Schmerzen reden zu können. Dr. M. hat auch noch mal mit ihm gesprochen und möchte, daß die Wirbelsäule erneut geröntgt wird." • Schwester Mathilde schreibt: „Herr K. hat starke Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule, er erhielt auf Anordnung von Dr. M. eine Ampulle ... subcutan (10.30 Uhr). Schmerzen wurden danach besser. Morgen BWS-Röntgen und anschließend Fango und Massage (angemeldet)."
2.6 Aufnahme, Verlegung, Entlassung Susan
Schulz
2.6.1 Abhängigkeit vom „Pflegemodell" Welchen Stellenwert Aufnahme, Entlassung und Verlegung haben und wie sie durchgeführt werden, hängt wesentlich davon ab, auf welche Weise die Patienten im Krankenhaus angesehen und gepflegt werden.
2.6.1.1
Funktionspflege
In Deutschland ist es üblich, von fest vorgegebenen, arbeitsteilig organisierten Aufgaben der Krankenschwestern/-pfleger auszugehen. Das bedeutet, d a ß der Patient von einer Vielzahl von Krankenschwestern/-pflegern betreut wird, die jeweils andere Funktionen für ihn haben, ζ. B. die eine richtet die Medikamente, eine andere teilt sie aus, eine dritte macht das Bett usw. Der Patient wird dabei nicht als Person, sondern vorrangig von seinem erkrankten Organ her betrachtet (Funktionspflege). Aufnahme, Entlassung, Verlegung sind hier bloße Verwaltungsakte, um Personalien zu erfassen, für die es beliebig ist, wer sie aufnimmt, für die eigentliche Pflege sind sie kaum relevant. 2.6.1.2 Personenorientierte Pflege Im Gegensatz dazu steht eine personenorientierte Pflege, bei der der Patient ganzheitlich als Mensch gesehen wird. Dieses Pflegemodell, zu dem die Schaffung einer persönlichen Beziehung zwischen Krankenschwestern/-pfleger und Patienten gehört, hat jedoch auch organisatorische Konsequenzen. Eine Organisationsform der Pflege, bei der dies praktiziert wird, ist das Modell des „Primary Nursing" — die Verfasserin hat nach diesem Modell selbst in Saudi-Arabien gearbeitet — das im deutschsprachigen Raum nicht ganz zutreffend als „Bezugspflege" bezeichnet wird. „Primary nursing" bedeutet eine ganzheitliche Betrachtung der Patienten, so daß diese als Individuen mit ihren Lebensgewohnheiten gesehen und akzeptiert werden. Sie werden dabei nicht wie in der Funktionspflege nach Zimmern gepflegt, bei der die Krankenschwestern/-pfleger nach einer Woche die Zimmer wechselt und damit nicht mehr für die gleichen Patienten zuständig ist, sondern jeweils in einer bestimmten Gruppe von Patienten, ganz gleich ob diese in Zimmer 1, 2 oder 7 liegen. Bestimmt wird diese Gruppe durch die „primary nurse". Sie ist für die gesamte Zeit des stationären Aufenthaltes im Krankenhaus, von der A u f n a h m e bis zur Entlassung, verantwortlich und die direkte und zentrale Ansprechpartnerin
Aufnahme, Verlegung, Entlassung
103
für alle an der Pflege beteiligten, nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Angehörigen, die Ärzte, die Krankenhausverwaltung usw. Eine solche Pflege stellt hohe Anforderungen. Für die Krankenschwestern/-pfleger bedeutet das: Sie müssen eigenständig entscheiden und handeln, denn sie sind verantwortlich für die Planung der Pflege entsprechend der Schritte des gesamten Pflegeprozesses. Dazu gehört: • die Einschätzung der Patientensituation in Form einer Pflegeanamnese (s. Abschn. 2.4.2.3, S. 70), • das Erkennen der Probleme und Ressourcen der Patienten (s. Abschn. 2.4.2.3, S. 70), • das Aufstellen von Pflegezielen und die Planung sowie die Durchführung und Überwachung der Pflegemaßnahmen (Evaluation). Für die Patienten bedeutet das: Sie wissen, wer für sie zuständig ist und an wen sie sich wenden können, daß ihre Probleme, Bedürfnisse und Ängste ernstgenommen sowie ihre Erwartungen, Vorstellungen und Wünsche berücksichtigt werden. Darin liegt eine wichtige Voraussetzung, sich geborgen zu fühlen und dem Krankenhausbetrieb nicht so ausgeliefert zu werden. Auf diese Weise ist es möglich, eine Beziehung zum Patienten aufzubauen, die es erlaubt, sie mit ihren Ressourcen an der Zielsetzung und an der Planung aktiv am Genesungsprozeß zu beteiligen. Unter Umständen bedeutet das auch, das Umfeld oder die Angehörigen miteinzubeziehen. Aufnahme, Entlassung, Verlegung sind wichtige Schritte im Prozeß der Pflege von Patienten und von großer Bedeutung für einen erfolgreichen Verlauf der Pflege im Krankenhaus.
2.6.2 Aufnahme Für eine personenorientierte Pflege ist die Aufnahme eines Patienten von grundlegender Bedeutung für seine Genesung. Der Patient verläßt seine vertraute Umgebung und kommt im Krankenhaus in eine andere Welt, in der er in Gefahr ist, seine Person oder sein Ich abzugeben und sich dem Krankenhausbetrieb auszuliefern. Krankenschwestern/-pfleger sollten dies verhindern, zumindest zu mildern trachten. Dazu gehört die ganze Art und Weise der Aufnahme, wie er behandelt, nicht nur wie mit ihm geredet wird. 2.6.2.1 Aufnahmeziel Ein wesentliches Ziel der Aufnahme besteht darin, die Selbständigkeit des Patienten zu erhalten, denn die wichtigste Ressource für eine Genesung ist die Person des Patienten selbst. Er muß sich selbst an der Pflege beteiligen und seine Genesung wollen. Erst unter dieser Voraussetzung kann eine Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten entstehen und nur dann ist eine personenorientierte Pflege möglich.
104
Grundvoraussetzungen der Pflege
2.6.2.2 Durchführung Bei der Durchführung der Aufnahme ist eine gründliche Vorbereitung unerläßlich. So muß die Zuständigkeit der Krankenschwestern/-pfleger möglichst schon morgens nach der Übergabe geklärt sein und nicht irgendwann zwischendurch. Weiter müssen das Zimmer vorbereitet und die Mitpatienten informiert sein. Folgendes muß besonders berücksichtigt werden: • Zu Beginn der Aufnahme sollten sich die Krankenschwestern/-pfleger erst einmal vorstellen, sich nach dem Befinden und nach besonderen Bedürfnissen des Patienten erkundigen und dann mit ihm einen Termin für das Aufnahmegespräch festlegen (s. Abschn. 2.3.1, S. 40). • Das Aufnahmegespräch sollte nicht in Gegenwart anderer Patienten, sondern möglichst in einem eigenen Raum stattfinden, weil so eine persönliche Beziehung zu den Patienten besser möglich ist und die persönlichen Daten zu schützen sind. • Die Krankenschwestern/-pfleger sollten beim Gespräch möglichst Zeit haben und nicht unter Druck stehen, damit sie selber keine Unruhe ausstrahlen. • Sie erklären, daß sie neben ihm noch für eine Gruppe von Patienten zuständig sind, nicht für bestimmte Zimmer (Zimmerpflege) und versuchen dem Patienten einen Überblick zu verschaffen, wer noch zum Team gehört und welches der zuständige Stationsarzt ist. • Hinzu kommen die Station und ihr Tagesablauf, ihre Räumlichkeiten und speziell ihm sein Zimmer zu zeigen und ihn seinen Mitpatienten vorzustellen. Das Ziel des Aufnahmegesprächs im engeren Sinne ist es • eine partnerschaftliche Beziehung zum Patienten aufzubauen und • mit Hilfe eines Pflegeanamnesebogens, der auf den Stationen verfügbar ist, die pflegerelevanten Informationen zu bekommen, die es möglich machen, die Probleme aber auch die Ressourcen und Gewohnheiten der Patienten zu erfassen, die für eine erfolgreiche personenorientierte Pflege erforderlich sind. Dazu gehören nicht nur seine physischen Beschwerden, sondern es kommt auch darauf an, die psychischen und sozialen Aspekte zu erfassen (s. Abschn. 2.4.2.3, Anlage 1, S. 84).
2.6.3 Entlassung Mit der Entlassung endet zunächst einmal die Pflege des Patienten im Krankenhaus, entweder weil der Genesungsprozeß abgeschlossen ist oder aber weil er vom Hausarzt, einem Facharzt, in einem Pflegeheim oder auch ambulant im Krankenhaus weiterbehandelt werden kann. Für den Patienten bedeutet die Entlassung, daß er in seine gewohnte Umgebung zurückkehrt. Er ist also jetzt mehr auf sich selbst gestellt, auch wenn er noch auf Hilfe angewiesen ist, ζ. B. die seiner Angehörigen oder einer Gemeindeschwester.
Aufnahme, Verlegung, Entlassung
105
Kommt er aber in ein Pflegeheim, muß er sich auch auf eine neue Umgebung einstellen. Wie die Aufnahme ist auch die Entlassung kein bloßer Verwaltungsakt. Ganzheitlich betrachtet bedeutet die Entlassung für die Patienten wie für die Krankenschwestern/-pfleger auch das Beenden einer persönlichen Beziehung. Die Krankensch western/-pfleger geben ihre Verantwortung an den Patienten ab. Die Aufgabe der Krankenschwestern/-pfleger besteht deshalb auch darin, den Patienten auf die Entlassung vorzubereiten. Gemeinsam mit ihm wird festgelegt, wohin er entlassen wird. Der genaue Entlassungstermin wird dann zwischen der Krankenschwestern/-pfleger und dem Patienten vereinbart und ggf. den Angehörigen mitgeteilt. Zu den Aufgaben der Krankenschwestern/-pfleger gehört auch, die Patienten darüber zu informieren oder sie darin zu unterweisen, wie einzelne Pflegemaßnahmen selbständig weitergeführt werden können. Ein Entlassungsbogen dient dazu, den „Ist-Zustanä' der Patienten festzuhalten und ist Grundlage für die weitere Pflege (Tab. 2.6-1). Voraussetzung für eine optimale Weiterführung der Pflege ist ein Pflegebericht, der dem Patienten ausgehändigt wird. Notfalls kann dieser durch eine Kopie des Pflegeprozesses ersetzt werden. Die Mitteilung der Entlassung an die Patienten erfolgt durch den Arzt. Dieser bestimmt auch, wie der Patient nach Hause kommt, wann er seinen Hausarzt aufsuchen soll, welche Medikamente er weiter einzunehmen hat, ob und wann er unter Umständen in das Krankenhaus zu einer Kontrolluntersuchung erscheinen muß.
2.6.4 Verlegung Eine Verlegung ist erforderlich, wenn die Behandlung auf einer Station abgeschlossen und für die Genesung der Patienten noch eine fachspezifische Weiterbehandlung notwendig ist. Im Unterschied zur Entlassung verlassen die Patienten aber nicht das Krankenhaus, sondern kommen zur Behandlung auf eine andere Station. Dabei soll es hier um die Verlegung innerhalb desselben Krankenhauses gehen. Auch wenn sich an der grundsätzlichen Situation der Patienten nichts ändert, denn sie bleiben im Krankenhaus, so müssen sie sich doch von den bisherigen Bezugspersonen trennen und sich auf eine neue Umgebung und neue Krankenschwestern/-pfleger einstellen. Es bleibt die Ungewißheit, wie es weitergeht: Im Ablauf unterscheidet sich die Verlegung grundsätzlich nicht von der Entlassung, dennoch gibt es Unterschiede: Zunächst besprechen die Stationsärzte untereinander die Notwendigkeit und den Zeitpunkt der Verlegung. Wenn die Patienten ihr Einverständnis erklärt haben, erhalten sie im Beisein der Krankenschwestern/-pfleger die für ihre Verlegung notwendigen Informationen.
106
Grundvoraussetzungen der Pflege
Tab. 2.6-1: Entlassungsbogen Adress-Abdruck
Datum Zeit Art und Weise der Entlassung ( ) Rollstuhl ( ) Tragbahre ( ) Gehend Operations Verfahren Bestimmungsort Begleitung bei
Patient unterrichten Spezielle Diät: ( ) Anweisung von der Diätassistentin erteilt ( ) Angehörige wurden informiert Medikamente: (Dosis —Häufigkeit): ( ) Anweisungen wurden erteilt Spezielle Ausrüstung: ( ) Anweisungen wurden erteilt Erforderliche Pflegemaßnahmen die der Patient selbst ausführen kann:
Ist Zustand des Patienten
Datum
Unterschrift der/s Krankenschwester/-pflegers
Eventuell werden auch die Angehörigen mit einbezogen. Nach Absprache mit der neuen Station wird mit Einwilligung der Patienten die genaue Uhrzeit der Verlegung festgelegt. Indem die Krankenschwestern/-pfleger die Patienten genau über den Ablauf der Verlegung informieren, können sie den Übergang erleichtern, mögliche Ängste mildern und so die Ressourcen der Patienten erhalten. Die jeweils zuständigen Krankenschwestern/-pfleger helfen ihren Patienten beim Packen und begleiten sie auf die neue Station, wo sie sich von ihnen verabschieden.
A u f n a h m e , Verlegung, Entlassung Tab. 2.6-2: Verlegungsbogen Adress- Abdruck
Datum
Von Station
Zur Station _
Zeit
(
) Rollstuhl
Allergie
(
) Tragbare
Beruf
(
) Bett
Telefon
(
) zu Fuß
Adresse der Angehörigen/sonstige Kontaktpersonen
Staatsangehörigkeit Konfession/Seelsorger Diagnose Operationsverlauf
Ist Zustand des Patienten Puls
Medikation: _
RR
Letzte Gabe: .
Temp
Nächste Gabe:
Gewicht Größe Situation des Patienten
Beschwerden
Schmerzen
Atmung
Kommunikation Sprachstörung Fremdsprache Sprachbehinderung Schwerhörigkeit (
) Hörgerät
(
) Sonstiges
_
107
108
Grundvoraussetzungen der Pflege
Sehbehinderung (
) Brille/Linsen
(
) Sonstiges
Zahnprothese (
) oben/unten
Herzschrittmacher Schlaf
Ausscheidung (Urin, Stuhlgang, Erbrechen, Schweiß)
Nahrungsaufnahme
Mobilität/Lagerung
Ankleiden
Körperpflege
Katheter, Drainagen
Ressourcen des Patienten
Persönliche Wünsche
Entlassungsprobleme
(
) Angehörige wurden informiert
Bei der Verlegung wurden folgende Unterlagen mitgenommen ( ) Verlegungsbogen ( ) Pflegeprozeß ( ) Kardex ( ) Medikamente ( ) Röntgenbilder
( ) Datum
Unterschrift der/s Krankenschwester/-pflegers
Aufnahme, Verlegung, Entlassung
109
Bei der Übergabe an die neue Bezugsschwester/-pfleger wird auch der von ihnen zuvor dokumentierte „Ist-Zustand" (Verlegungsbogen) überreicht (Tab. 2.6-2). So ist es möglich, daß die neue Bezugsperson gemeinsam mit dem Patienten die Verantwortung für die weitere Pflege anhand des Pflegeprozesses direkt weiterführt. Die Krankenhausverwaltung wird informiert, damit die Verlegung im Krankenstandsnachweisbuch mit Datum, Ort und Station dokumentiert wird.
3.
Grundversorgung
3.1 Lebens- und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus Norbert
Grundhöfer
Die Ziele moderner, ökonomischer Krankenhausführung umfassen: • die medizinische Diagnostik und Therapie und • die pflegerische Versorgung, Unterkunft und Verpflegung der Patienten. Ein Krankenhaus wird damit zum Dienstleistungsunternehmen, welches sich durch die Qualität seines Angebotes um den „Kunden" bemüht. Mehr noch als in herkömmlichen Dienstleistungsbetrieben kommt es im Krankenhaus darauf an, durch die äußere Erscheinung der Architektur, sowie eine helle, freundliche Innenausstattung die mehr oder weniger eingeschränkten Lebensbedingungen der Patienten auszugleichen. Das Krankenhaus als vorübergehender Lebens- und Wohnbereich des Patienten unterscheidet sich wesentlich von seiner gewohnten häuslichen Umgebung. Während die Einrichtung in den eigenen vier Wänden individuell anspruchsvoll gestaltet ist, stehen beim Krankenhaus wirtschaftliche und funktionale Gesichtspunkte im Vordergrund. Zuhause kann sich der Patient in seine gemütliche Ecke zurückziehen — im Krankenhaus ist alles öffentlicher, weniger geschützt. Hinzu kommt, daß der Patient sich in der Regel „unfreiwillig" im Krankenhaus befindet. Da es jedem Menschen zunächst schwerfällt sich in ungewohnter Umgebung zurecht zufinden, ist es beim Kranken um so wichtiger, daß neben der medizinischpflegerischen Betreuung, die räumliche Ausstattung eine wohltuende Atmosphäre ausstrahlt. Unbestritten ist darüber hinaus, daß sich ein ansprechendes Ambiente auf den Patienten nachhaltig gesundheitsfördernd auswirkt. In gleicher Weise, wie den sich wandelnden Patientenansprüchen Rechnung getragen werden muß, sind aber auch die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter im Krankenhaus zu berücksichtigen und zwar sowohl bauplanerisch als auch die Einrichtung und Ausstattung betreffend. Nur dort, wo die Bedingungen am Arbeitsplatz optimiert werden, wo eine Entlastung des Pflegenden auch aus ergonomischer Sicht gegeben ist, kann die physische und psychische Belastung nachhaltig gemindert werden.
Lebens- und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus
3.1.1
111
Krankenzimmer
Ein Krankenzimmer weist verschiedene Funktionen auf: • für begrenzte Zeit Wohn-/Schlafbereich des Patienten, • Arbeitsbereich des Personals für Pflege und Behandlung, • Aufenthaltsbereich von Besuchern. Standard ist heute das 2-Bett-Zimmer grierter Sanitätseinrichtung.
oder das 3-Bett-Zimmer jeweils mit inte-
Sauberkeit und hygienische Gesichtspunkte spielen eine bedeutende Rolle. Es genügt aber nicht, daß das Krankenzimmer nach rein funktionalen und technischen Planungsgrundsätzen ausgerichtet ist. Ein Krankenzimmer muß so gestaltet sein, daß es alle Funktionen berücksichtigt. Es ist auch davon abzuraten, Krankenzimmer gleichzeitig als intensiv (regelmäßig) genutzte Untersuchungs- und Behandlungszimmer zu verwenden. 3.1.1.1 Lage, Größe, Fußboden, Wände, Türen Hinsichtlich der Lage gelten folgende Bedingungen: • Südost- oder Südwestlagen schaffen helles, sonniges Licht Südlage ist im Sommer wegen starker Sonneneinstrahlung ungünstig. Bei großen Fenstern muß auf guten Sonnenschutz geachtet werden. • die ruhige Lage dient einem physiologischen Wach-Schlaf-Rhythmus • die funktionale Anordnung der Zimmer ermöglicht eine bessere Anbindung an Nebenräume und Verkürzung der Wege • zur Versorgung schwerkranker oder unruhiger Patienten müssen einzelne Zimmer so gelegt werden, daß sie vom Pflegestützpunkt direkt eingesehen werden. • Die Größe der Zimmer ist abhängig vom Versorgungscharakter des Krankenhauses und der Bettenzahl • Beispiele: Normalpflegezimmer mit — 2 Bettenplätzen 20,5 m2 + 3,5 m2 Nebenfläche, - 4 Bettenplätzen 41,0 m2 + 5,0 m2 Nebenfläche Intensivpflegezimmer mit - I Bettplatz 15 m2, — 2 Bettenplätzen 28 m2
Bei der rehabilitativen Pflege ist wegen rollstuhlabhängigen Patienten eine entsprechend größere Grundfläche notwendig. Die Grundfläche eines Krankenzimmers darf sich nicht ausschließlich am Bettenplatz orientieren. Ausreichende Nebenflächen für Sitz- und Eßplätze, sowie Rangierflächen gehören in jedes Zimmer. Das Krankenbett muß sich frei verschieben und hinausfahren lassen ohne Nachbarbetten zu bewegen (Abb. 3.1-1).
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Grundversorgung
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o Abb. 3.1-1: Patientenzimmer mit eigenem Sanitärraum. Die Anordnung der Betten mit Ausrichtung zum Fernseher behindert das Gespräch der Patienten miteinander. Die Patienten erkennen auch nicht gleich, wer das Zimmer betritt
Beim Fußboden ist auf Schalldämmung und Sauberkeit zu achten. Fugenlose Bodenbeläge aus hellem PVC, die an den Wänden einige Zentimeter hochgezogen werden, erleichtern die Reinigung und hygienischen Arbeiten. Kanten und Ritzen sind Schmutzfänger. Besser sind abgerundete Ecken. Die Wände sind mit wasserabweisender Farbe behandelt und abwaschbar. Zum Schutz vor Putz- und Tapetenschäden dienen Holzleisten, die in mittlerer Betthöhe angebracht sind. Die Zimmertiiren müssen breit und hoch genug sein, daß ein Bett mit Aufrichtebügel oder Extension ohne anzustoßen durchkommt. Übergänge aus Krankenzimmern in Flure sind ohne Absätze. Bei integriertem Sanitärraum muß auf rollstuhlgerechte Türen geachtet werden. Die Wände und der Fußboden im Sanitärraum sind gefliest. 3.1.1.2
Heizung
Die Temperatur im Krankenhaus beträgt 18 — 20 °C. Eine Absenkung in der Nacht muß ohne großen Aufwand direkt im Zimmer möglich sein. Flache Heizkörper
Lebens- und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus
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unter dem Fenster angebracht nehmen wenig Platz in Anspruch und schützen vor Verletzungen bei Stürzen. Eine Fußbodenheizung ist raumsparend und eignet sich besonders für den Sanitärraum. Beachte: Aus lufthygienischen Gründen werden Heizkörper grundsätzlich nicht als Ablage benutzt. Von der Belüftung und Temperaturregulierung über Klimaanlage ist allgemein abzuraten. Sowohl Patienten als auch Personal empfinden eine bedürfnisgerechte anpassung von Frischluft und Temperatur als angenehmer. Reizungen der Augen und Schleimhäute, sowie häufige Kopfschmerzen sind in vollklimatisierten Räumen vielfach auftretende Unannehmlichkeiten. Als weitere Nachteile der Klimaanlage sind hygienische Probleme und die zentrale Steuerung zu nennen. 3.1.1.3 Licht und Farbgebung Grundsätzlich ist natürliche Belichtung (Tageslicht) vorzuziehen. Ein Fenster mit schöner Aussicht stellt den Kontakt zur Außenwelt her. Die zusätzliche Belichtung des Krankenzimmers vom Flur her — bei natürlicher Belichtung des Flures — leuchtet das ganze Zimmer aus. Die Fenster können geöffnet werden; damit wird eine natürliche Belüftung erzielt. Beachte: Auf Kinderstationen besteht Unfall-, in der Psychiatrie Suizidgefahr. Künstliche Lichtquellen sollten indirektes Licht erzeugen und können hinter Blenden angebracht werden. Die Farbgestaltung eines Raumes hat Einfluß auf Körper und Psyche — sowohl für Patienten wie für Personal. Die Farbgebung ist auch von der Funktion des Raumes abhängig. Das gilt für Krankenzimmer ebenso wie für Neben- und Arbeitsräume einer Station. Grundsätzlich gilt: • dunkle Farben wirken eher bedrückend, kalt und entmutigend; • helle Farben wirken freundlich, warm und aufheiternd. Da helle Farben weniger Licht absorbieren, wirkt ein Raum auch heller. Helle Farben verpflichten überdies zu größerer Hygiene. Neben der psychologischen Wirkung erfüllen Farben weitere Funktionen: Orientierungshilfe, Sicherheitssymbole, Farbkontraste zur Arbeitserleichterung. Zur besseren Orientierung können bestimmte Räume, Stationen oder ganze Abteilungen eigene Farbakzente erhalten. Sie erleichtern es Patienten, Besuchern und Personal, sich zurecht zu finden. Durch „Leitfarben" in Verbindung mit Kennzeichen findet der Patient beispielsweise nach einer Untersuchung leichter in sein Zimmer zurück. Eine unterschiedliche Farbgebung erleichtert es dem Personal Arbeits- und Pausenbereiche zu trennen. Für gemeinsam genutzte Einrichtungen, ζ. B. Lager, Bet-
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Grundversorgung
tenzentrale, Materialausgabe u. a. können Farben als ordnendes Medium verwendet werden. Internationale Bedeutung haben Farben als Sicherheitssymbole: • Rot warnt vor einer Gefahr • Gelb (mit Schwarz kombiniert) mahnt zur Vorsicht • Grün weist auf Notausgänge und Fluchtwege hin. Den meisten Menschen sind die Bedeutung der Sicherheitsfarben bewußt und lösen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen aus. 3.1.1.4 Einrichtung und Raumgestaltung Zur Ausstattung eines Krankenzimmers gehören: Krankenbett, Nachttisch, Patientenschrank, Tisch und Stühle, Installationen fìir Wasser und Strom, Licht- und Rufanlage, Anschlüsse fìir medizinische Gase. Zusätzliche Installationen gehören heute weitgehend zu einem gewünschten Standard. Hierzu zählen beim Patienten der Telefonanschluß und ein Fernsehapparat — obgleich diese Einrichtung automatisch zu einer speziellen Aufstellung der Betten verpflichtet. Für das Personal sollen zusätzliche Schränke/Schubfächer mit Pflegematerialien, Spender für Desinfektionsmittel, Seife und Einmalhandtücher sowie variable Trennwände oder -vorhänge angebracht werden. Sämtliches Mobiliar soll wesentliche Merkmale aufweisen, wie hohe Funktionalität, leicht zu reinigen, keine Kanten und Ecken, bedienungsfreundlich für Personal und Patienten insbesondere für diejenigen, die Bettruhe einhalten müssen. Jeder Patient hat einen verschließbaren Einbauschrank zur Aufbewahrung seiner Garderobe und eines Koffers oder einer Reisetasche. Die Schränke reichen bis zur Decke und verhindern so Staubablagerungen. Zusätzliche Vorrichtungen gestalten den Aufenthalt merkbar angenehmer und wirken sich stimulierend auf den Gesundungsprozeß aus. Der Patient fühlt sich nicht entfremdet, sondern durch eine wohnliche Ausstattung aufgemuntert. Wünschenswerte Vorrichtungen, die in den meisten Krankenzimmern ohne großen Aufwand angebracht werden können, sind: — Magnetleisten an der Wand, dem Bett gegenüber, dienen als Halterung für Bilder oder Fotos von Angehörigen und schaffen „Vertrautheit", — aktuelle Kalender mit großer Datumsanzeige erleichtern dem verwirrten Patienten die zeitliche Orientierung, — eine Klappwand, am Kopfende des Bettes angebracht, kann sowohl als Pinnwand wie auch als Sichtschutz zum Nachbarbett verwendet werden, — vielfach reicht der Nachttisch als Ablagefläche nicht aus: eine zusätzliche Konsole über dem Bett kann als Ablage für Zeitschriften, Bücher u. a. dienen, — freundliche Vorhänge oder Jalousien, die sich leicht bedienen lassen, schützen vor großer Sonneneinstrahlung und störenden Blicken bei Pflegeverrichtungen — insbesondere bei beleuchteten Zimmern
L e b e n s - u n d A r b e i t s b e d i n g u n g e n im K r a n k e n h a u s
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Beachte: Außenjalousien sind wirkungsvoller als Innenjalousien! — bei festinstallierten Fernsehern sollte durch Kopfhörer sichergestellt werden, daß der Bettnachbar durch das Programm nicht gestört wird, — schwenkbare und verstellbare Wandlampen eigenen sich als zusätzliche Beleuchtung bei Pflegeverrichtungen und können vom Patienten als Nacht- oder Leselampe benutzt werden, — Einzahlstrahler über dem Tisch schaffen anstelle der Ganzraumbeleuchtung eine wohltuende Atmosphäre. Vor allem dort, wo Patienten keine Möglichkeit haben in Aufenthaltsräume oder gemeinsame Speisezimmer auszuweichen, sollten die gestalterischen Möglichkeiten genutzt werden. 3.1.1.5
Sanitärbereich
Jedes Krankenzimmer soll eine eigene „Naßzelle" haben: Waschplatz, Dusche und WC. Wo dies nicht möglich ist, sollte die Anzahl der Patienten pro Dusche oder WC ein günstiges Verhältnis aufweisen, z. B. 4 — 6 Patienten pro Dusche und WC. Bei der Abtrennung in der Naßzelle muß auf starre Wandunterteilungen verzichtet werden. Die Abtrennung mittels Duschvorhang ermöglicht jederzeit die Unterstützung des Patienten durch das Pflegepersonal und schafft größere Rangierflächen für Dusch- oder Rollstuhl. Der Sanitärraum ist voll gefliest und fußwarm. Damit er auch in nassem Zustand rutschsicher ist, sollen Gummi- oder Kunststoffbeläge mit Profil verwendet werden. Die Dusche ist einer Badewanne vorzuziehen. Zusätzlich gehört auf jede Station ein zentrales Badezimmer mit freistehender Badewanne. Empfehlenswert und in vielen Fällen notwendig, ist eine Sitzgelegenheit in der Dusche. Es eignen sich fest montierte, hochklappbare Kunststoffsitze oder, bei ausreichender Stellfläche, ein stabiler Duschhocker. Ein oder zwei richtig piazierte Haltegriffe erlauben es auch älteren Patienten sicher zu stehen (Abb. 3.1-2). Der Brausekopf soll an einer Stange, in der Höhe verstellbar und als Handbrause abnehmbar sein. In der Mischbatterie sollte eine Schutzvorrichtung eingebaut sein, um Verbrühungen zu vermeiden (Abb. 3.1-3,4).
falsch
richtig
Abb. 3.1-2: Griffe an W C und Dusche sollten wegen Rutschgefahr im rechten Winkel angebracht werden
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Grundversorgung
Das Waschbecken kann mit einem Rollstuhl unterfahren werden und bietet auch sitzenden Patienten ausreichend Beinfreiheit (vorausgesetzt die Abläufe sind nach hinten verlegt). Das Becken soll eine körpergerechte Form aufweisen, d.h. vorne leicht eingebuchtet und abgerundet. In gleicher Höhe wie das Waschbecken befinden sich rechts und links Abstellflächen, damit auch sitzende Patienten leicht an die Waschutensilien gelangen. Zusätzlichen Platz für die Toilettenartikel bietet ein Spiegelschrank. Der Spiegel soll möglichst tief herunterreichen und nach vorne kippbar sein. Unter dem Spiegel befindet sich eine Sicherheitssteckdose für Elektrogeräte (Fön, Rasierapparat). Am Waschbecken kann sich der Patient nur unter fließendem Wasser waschen. Das Waschbecken hat aus hygienischen Gründen keinen Verschluß. Sensorgesteuerte Mischbatterien erleichtern besonders Patienten mit Gelenkerkrankungen die Handhabung. Für jeden Patienten befinden sich im Sanitärraum mindestens 2 separate Leisten für Handtücher und Waschlappen. Auch neben dem Waschbecken montierte Stützgriffe können zusätzlich als Handtuchhalter verwendet werden. Beim WC ist auf eine Halterung zu achten, die dem Patienten das Hinsetzen und Aufstehen erleichtert (Abb. 3.1-5). Toilettenpapier soll möglichst gut erreichbar neben oder vor dem Patienten hängen. Die WC-Spülung kann mit einer großen Taste betätigt werden, die durch entsprechende Vorrichtung in die Wand eingebaut
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ist. Toilettensitze, die körpergerecht geformt sind und sich bei entsprechender Polsterung warm anfühlen, sind besonders bei längerem Sitzen angenehm. Bei fensterlosen Sanitärräumen sollten entsprechende Luftabsaugvorrichtungen angebracht sein. Für die Sicherheit der Patienten ist wichtig, d a ß der Sanitärraum an die zentrale Rufanlage angeschlossen ist. Entsprechende Spender mit Flüssigseife, Desinfektionslösung und Einmaltüchern erleichtern dem Pflegepersonal hygienisches Arbeiten. Bei fehlendem Sanitärraum m u ß der Waschplatz durch variable Wandschirme, Trennwände oder einen Vorhang vom Krankenzimmer abtrennbar sein. Patientenbad sowie -toiletten sind in diesen Fällen an zentraler Stelle eingerichtet.
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Grundversorgung
Die Ausstattung der Zimmer mit Dusche und WC bietet neben besserem Komfort zusätzliche Vorteile für Patienten und Pflegekräfte: — Die Patienten können sich unter Wahrung der Intimsphäre ungestört waschen oder duschen. — Sie stehen selten vor einer besetzten Duschkabine. — Der Wohncharakter des Krankenhauses bleibt gewahrt. — Viele Patienten können nicht alleine zu einem zentralen Bad oder einer zentralen Toilette gehen. Sie müßten dann von einer Pflegekraft begleitet werden. Da dies aufwendiger ist, werden viele Patienten im Bett gewaschen, obwohl das nicht notwendig wäre. — Der integrierte Sanitärraum trägt zur aktiven Mobilisierung der Patienten bei. Der Heilungsprozeß wird beschleunigt, und Sekundärerkrankungen wird vorgebeugt.
3.1.2 Versorgungseinheit und Rufanlage Am Kopfende jedes Bettenplatzes (bei parallel stehenden Betten durchgehend) verläuft die Versorgungseinheit. Neben integrierter Leselampe befinden sich hier Anschlüsse für Ruf- und Klingelanlage, elektrische Geräte, Steckdosen mit Notstrom, Telefon, medizinische Gase (02, Druckluft), Vakuum. Beachte: Notstromanschlüsse sind besonders gekennzeichnet.
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Bei erweiterten Versorgungsschienen finden sich zusätzliche Vorrichtungen für Monitor- und Überwachungsanlagen, sowie Steckkartenhalter als Steuergeräte für Telefon und Fernseher. Die Anschlüsse müssen für Pflegepersonal übersichtlich und leicht zugänglich angebracht sein. Steckanschlüsse im rechten Winkel lassen sich gegenüber vertikalen Anschlüssen ohne großen Kraftaufwand bedienen. Aus Sicherheitsgründen dürfen die Blenden der Versorgungsschiene nicht als Ablage benutzt werden. Die Ruf- und Klingelanlage ist ein Handbedienungsgerät, das am Bett oder am Nachttisch variabel befestigt wird (Abb. 3.1-6). Mit ihr kann der Patient — — — —
klingeln und die Gegensprechanlage bedienen Zimmerlicht und Leselampe einschalten zwischen verschiedenen Radioprogrammen wählen „seine" Radio- und Fernsehsendung hören ohne die Mitpatienten zu stören.
Im Bereich der Zimmertür und im Sanitärraum befinden sich kleinere Versorgungseinheiten mit Anwesenheitstasten (Schwester/Pfleger; Arzt), Notruf, Lichtschalter, Gegensprechanlage. Von hier aus kann das Personal mit dem Pflegestützpunkt sprechen, und in Notfällen kann durch Alarmsignale rasch Hilfe gerufen werden. Bei Aufleuchten des Anwesenheitslichtes müssen Besucher vor der Zimmertür warten. Die Nachtbeleuchtung wird durch einen zusätzlichen Lichtschalter betätigt.
3.1.3 Krankenbett Das Krankenbett ist die wichtigste Einrichtung im Krankenzimmer. Komfort und technische Ausstattung müssen sowohl den Bedürfnissen des Patienten entsprechen, als auch den Anforderungen pflegerischer Maßnahmen gerecht werden.
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Grundversorgung
Abb. 3.1-7: Normales Krankenbett. Liegefläche dreigeteilt und durch hydraulische F u ß p u m p e auf beiden Seiten höhenverstellbar (Hersteller: Joh. Stiegelmeyer & Co. G m b H , Herford)
3.1.3.1 Grund- und Zusatzausstattung Zum Krankenbett gehören (Grundausstattung): Fahrgestell mit Kugellagerrollen (Material: Stahlrohr; seltener: Holz), Liegefläche mit Metallgitterrost und Matratzenschoner. Matratze: ein- bis dreiteilig und Matratzenschutz, der luftdurchlässig und wasserabweisend sein soll, Laken (Spannbezug), Querlaken, Kopfkissen (1 großes und 1 kleines), Bettdecke. Zusatzausstattung (je nach Patientensituation): Einmalunterlage, Bettgummi, -feil (Abb. 3.1-7). 3.1.3.2 Form, Maße, Technik Form, Maße und Technik des Krankenbettes unterscheiden sich vom Privatbett. — Maße: 2 m lang, 1 m breit, 40 — 80 cm hoch, — Einzelbett (zu Hause: Einzel- oder Doppelbett), das Bett ist fahrbar (zu Hause: feststehend), — Betthöhe und Liegefläche sind verstellbar — Bettzubehör: Bettbügel mit Haltegriff, Fußstützen, Infusionshalter, Bettgitter, evtl. elektrischer Bedienungsschalter, Halterungen für Urinflasche, Sekretbeutel, Rufanlage u. a.
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Die Maße entsprechen der Größe eines normalen Krankenbettes. Die Liegefläche muß sich für größere Patienten verlängern lassen. An den meisten Betten kann das Fußende in der Länge verstellt werden. Bei sehr großen Patienten muß auch das Kopfteil in der Länge verstellbar sein, um ein unphysiologisches Abknicken im Brustbereich zu vermeiden. Einzelbett. Die gelegentliche Notwendigkeit, bei pflegerischen Handlungen von drei Seiten an das Bett herantreten zu können, muß nicht immer dazu führen, daß alle Betten frei im Zimmer aufgestellt werden. Die Gefahr, aus dem Bett zu fallen, ist besonders bei verwirrten und desorientierten Patienten hoch. Gefährdete und ängstliche Patienten sollen mit einer Längsseite zur Wand stehen; zum Schutz wird auf der zugänglichen Seite ein Bettgitter angebracht. Fahrbarkeit. Außer zum Transport oder Rangieren muß das Krankenbett mit einer Feststellbremse gesichert sein. Die Rollen sollen geräuscharm, zentral feststellbar und wartungsfreundlich sein. An Kopf- und Fußende sind gute Greifmöglichkeiten (Griffe oder Rundstangen) für den Transport angebracht. Beim Transport im Bett blickt der Patient in Fahrtrichtung. Ausnahmen sind möglich, ζ. B. wenn das Bett nur von einer Pflegeperson geschoben wird oder der Patient während des Transports beobachtet werden muß. Ruckartige Bewegungen und Anstoßen an Türen und Wände sind zu vermeiden. Die Betthöhe kann durch hydraulische Fußpumpe (oder durch Elektromotor) verändert werden. Kleinere Patienten brauchen zum Aufstehen einen Schemel. Die Absenkung auf 35 cm (nicht bei allen Betten möglich) kann dazu beitragen, daß Bett und Sitzmöbel die gleiche Ebene einnehmen können. Aufstehen, Überwechseln auf Nacht- oder Rollstuhl oder das Gespräch mit dem Besucher werden damit erleichtert. Die Liegefläche soll mindestens 2teilig sein. Sie wird unterteilt in Kopf- und Fußteil. Noch besser sind 3teilige Liegeflächen: Oberkörper-/Becken-/Unterschenkelteil; sie lassen sich individuellen Körpermaßen besser anpassen. Die Liegefläche kann als ganzes oder in ihren Teilen verstellt werden. Für den Kopfteil gilt als optimal: — Länge 90 — 100 cm, Stellung zwischen 70 — 90° möglich (Gelenkbereich des Bettes sollte in Höhe des Hüftgelenkes liegen), — Bettgestell kann entfernt werden und schafft damit freie Arbeitsmöglichkeiten für Haarwäsche, Bettverlängerung, Intensivbehandlung u. a., — Halterungsmöglichkeiten für Bettbügel, Infusionsständer, Handtuchhalter, — die Verstellung soll eigenständig durchführbar sein: Der Patient soll den Kopfteil auch in flacher Lage gut erreichen, von beiden Seiten bedienen und schonend und kontinuierlich verstellen können. Der Fußteil soll längenverstellbar sein (Abb. 3.1-8), versenkbare Ablagefläche für Bettzeug (Abb. 3.1-9) ebenso enthalten wie Halterungsmöglichkeiten für Fußstützen, Extensionsgestell, Gehstock. Der Oberschenkelteil hat eine Länge von 50 — 60 cm, ermöglicht eine bequeme Sitzstellung (beim Hochstellen des Kopfteiles soll eine Anhebung des Knieknicks
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Grundversorgung
Abb. 3.1-8: Bettverlängerung am Fußende. Normalstellung wird durch Einschieben und seitliches Fixieren erreicht. Die Bettverlängerung erfordert den Einsatz eines zusätzlichen Matratzenteiles. Abknicken im Brustbereich und das „Rutschen nach unten" werden durch Bettverlängerungen am Kopfteil vermieden (Hersteller: Joh. Stiegelmeyer & Co. G m b H , Herford)
Abb. 3.1-9: Ausziehbare Ablage für Bettzubehör am Fußende (Hersteller: Joh. Stiegelmeyer & Co. G m b H , Herford)
Lebens- und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus
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Stellmöglichkeiten am Krankenbett
tiefste Stellung a) der Liegefläche
^
gestreckte Beinhochc) läge bis zu 18°
d
3
)
Höchste Stellung b) der Liegefläche
cf
d
gestreckte Beintiefd) läge bis zu 14°
Liegefläche in bequemer f) Sitzstellung
abgeknickte e) Beinhochlage
Kopfteil läßt sich im Bereich des Hüftg) gelenks verstellen
Ο
~cT
I Kopftieflage h) "Trendelenburg-Lage"
Ο
Abb.3.1-10: Stellmöglichkeiten am Krankenbett
um ca. 10 cm verhindern, daß der Patient nach unten rutscht) und eine abgenickte Beinhochlage. Die Liegefläche insgesamt garantiert die Flachlagerung, gestreckte Beintieflage bis zu 14° und die gestreckte Beinhochlage bis zu 18° (Abb. 3.1-10). 3.1.3.3
Bettzubehör
Grundsätzlich sollen sämtliche Zubehörteile so angebracht sein, daß weder Patient noch Pflegekraft behindert werden. Der Bettbügel mit Haltegriff erleichtert dem immobilen Patienten das Aufrichten (mobile Patienten brauchen ihn nicht). Bei der rehabilitativen Pflege sollte der Haltegriff entfernt werden, um die Selbsthilfe des Patienten zu trainieren. Teilweise können am Bettbügel zusätzliche Halterungen für Infusionen oder Extensionen angebracht werden. Alternativen zum Bettbügel sind: Haltegriff oder Strickleiter am Fußende. Das Bettgitter soll so konstruiert sein, daß es den Patienten schützt (abgepolstert), ihn nicht behindert, sein Blickfeld nicht einschränkt und ihm Sicherheit gibt (Abb. 3.1-11).
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Grundversorgung
Abb. 3.1-11: Seitengitter kann durch Herausziehen oder Haltestifte herabgelassen werden. Praktisch sind mehrteilige Seitengitter, die zusätzlich als Ablage benutzt werden können (Hersteller: Joh. Stiegelmeyer & Co. GmbH, Herford)
Verwendet werden durchgängige (herablaßbar, ausklappbar) oder mehrteilige Seitengitter, die bei Bedarf an Seitenschienen des Bettes in beliebiger H ö h e befestigt werden k ö n n e n .
Zusatzhalterungen befinden sich seitlich am Bett, bestehen aus Schienen mit arretierbaren Stützen (Infusionsständer, Seitenablage, Bettbogen, Urinflaschenhalter, Rufanlage) oder eignen sich zum Einhängen am Bettgestell (Sekretbeutel, Urinauffangbeutel, Redonflasche, Urinflasche), Halterungen werden so angebracht, daß sie beim Transport oder bei maximalem Absenken des Bettes nicht behindern. Die Urinflasche muß im Liegen gut erreichbar sein. 3.1.3.4 Pflegerische Anforderungen Folgende Kriterien sind am Krankenbett aus der Sicht des Pflegenden zu beachten: • Die Lageverstellung soll manuell-hydraulisch (Fußpumpe) oder elektro-hydraulisch (Elektromotor) erfolgen. Die Arbeitshöhe beträgt 75 —80 cm (nach Beendigung der Pflege Bett wieder herablassen). Der Bedienungsschalter ist in Reichweite des Patienten anzubringen. Die Bedienung des Kopf-/Fußteils soll kräfteschonend und an beiden Bettseiten möglich sein.
Lebens- und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus
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• Der Betttransport erfolgt immer von 2 Pflegepersonen. Beide Bettachsen sollen frei beweglich sein. Bei „Zwischenstopp" Bremsen feststellen! • Die Aufstellung im Krankenzimmer geschieht entweder frei zugänglich oder seitlich an der Wand (je nach Zustand des Patienten). Der Abstand zum Nachbarbett beträgt mindestens 80 cm. • Die Bettgröße beträgt bei sehr großen Patienten mehr als 2 m.: Ggf. wird ein übergroßes Bett verwendet oder das Fuß- bzw. Kopfteil verlängert. • Die Aufbereitung erfolgt in der Bettzentrale. Bei Langzeitpatienten ist das Bett nach 4 Wochen komplett auszutauschen. 3.1.3.5 Speziai betten Spezialbetten, die sich in Form, Funktion und technischer Ausstattung unterscheiden, dienen der Druckentlastung, Intensivtherapie, der Behandlung von Verbrennungen und Querschnittslähmungen. Man verwendet folgende Spezialbetten: • Herz-/Intensivbett: Lagerung bei Herzinsuffizienz und zur Durchführung von Herzmassagen bei Herz-Kreislauf-Stillstand. Neuere normale Krankenbetten verfügen am Kopfende über einen Arretierungshebel, der es erlaubt, die gesamte Unterlage zu fixieren. Dadurch wird verhindert, daß das Bett bei der Herzmassage zu stark nachgibt.
• Drehbett („Sandwich-Bett"): ermöglicht die schonende Umlagerung von Patienten mit Querschnittslähmung oder Verbrennungen. Das Bett besteht aus einem Gestell und zwei getrennten Liegeflächen. Mittels Drehvorrichtung kann der Patient entweder in Rücken- oder Bauchlage gedreht werden. • Pack-Bett: gewährleistet die Freilagerung von dekubitusgefährdeten Körperpartien bei querschnittsgelähmten Patienten. Drei bis vier würfelförmige „Packs" aus festem Schaumstoff können variabel auf dem Bettenrost verteilt werden. Dadurch bleiben Knochen vorspränge druckentlastet. • Clinitron-Bett: dient der Vorbeugung und Behandlung von Dekubitus und der Behandlung großflächtiger Verbrennungen. Der Patient liegt auf einem Spanntuch in einem sog. „Wannenbett". Eine darunterliegende Turbine wirbelt feinen Quarzsand auf, der nur einen minimalen Druck auf die Körperoberfläche ausübt. • Egerton-Stoke-Mandville-Bett: sichert die Druckentlastung bei extrem dekubitusgefährdeten Patienten. Das Bett kann elektrisch bedient werden. Kopf- und Fußteil können als ganzes in der Höhe gehoben und gesenkt werden. Seitliche Neigungen nach rechts oder links sind bis maximal 60° möglich.
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G r u n d Versorgung
Abb. 3.1-12: Nachttisch mit höhenverstellbarer und ausgeklappter Zusatzfläche. An der Vorderseite der Nachttischtür befindet sich eine Halterung für kleine Abfallsäckchen. An der Innenseite der Tür ist eine weitere Halterung für Getränkeflaschen angebracht (Hersteller: Joh. Stiegelmeyer & Co. GmbH, Herford)
3.1.4 Nachttisch Der Nachttisch ist für den Patienten einerseits Ablage für Telefon, Trinkglas, Lesestoff und Medikamente, andererseits Aufbewahrungsort (abschließbares Fach!) für persönliche Gegenstände. Beachte: Der Nachttisch ist kein Tresor für größere Geldbeträge oder Wertgegenstände. Die Krankennachttische sind häufig als Ablage zu klein. Abhilfe können teilweise zusätzlich installierte Konsolen schaffen. Eine höhenverstellbare und ausklappbare Fläche eignet sich zum Essen, Schreiben oder als Leseauflage (Abb. 3.1-12). Größtenteils besitzen Nachttische im unteren Teil Halterungen für Bettschüsseln. Diese Einrichtung hat sich als unpraktisch und hygienisch fraglich erwiesen. Gelegentlich wird der Nachttisch vom Pflegepersonal auch als Arbeitstisch oder zur Ablage von Pflegeutensilien verwendet.
Lebens- und Arbeitsbedingungen im Krankenhaus
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Da der Nachttisch „persönlicher" Bereich des Patienten ist, sollen Pflegeartikel grundsätzlich auf separaten Vorrichtungen (ζ. B. Verbandwagen u. ä.) angerichtet werden. Anforderungen an einen Nachttisch: — — — — — — —
leichtgängige Rollen, trotzdem stabil und standfest, abwaschbar, große, gut sichtbare Griffe, abgerundete Kanten, leichtgängige Arretierung der Klappfläche, Haltevorrichtung für Schublade, damit sie beim Öffnen nicht herausfällt, Halterung für kleine Abfallsäcke.
3.1.5 Nachtstuhl Patienten mit Bewegungseinschränkungen oder ausgeprägter Orthostaseneigung, denen die Benutzung des WC nicht möglich ist, verwenden einen fahrbaren Toilettenstuhl (sog. „Nachtstuhl"). Mit dem Nachtstuhl kann der Patient direkt über das WC-Becken gefahren und — wo dies nicht möglich ist — kann der Nachtstuhl durch Einschieben eines Auffangbehälters als Toilette benutzt werden (Abb. 3.1-13). Der Nachtstuhl soll grundsätzlich nicht im Krankenzimmer, sondern in einem Arbeitsraum (ζ. B. Spülraum, Lager) bereitgestellt werden. Er wird nach jeder Benutzung desinfiziert und gründlich gereinigt. • Beachte: Da die Verwendung des Nachtstuhles im Krankenzimmer sowohl für den Patienten, als auch für die Bettnachbarn eine starke psychische Belastung darstellt, sollte er bedacht eingesetzt werden. Nach einer Untersuchung des DBfK soll der Nachtstuhl folgenden Kriterien gehorchen: farbig, abgerundete Kanten, wartungsfreundlich, robuste, dauerhafte Mechanik, geringe Unfallgefahr, gut lenkbar, Halterungsmöglichkeiten für Deckel und Toilettenpapier, Sichtverkleidung des Eimers, vielseitig verwendbar: Transportmittel, Duschstuhl, hautfreundlich gepolstert, abnehmbare, abklappbare, standfeste Fußstützen, einfache, kräfteschonende Bedienung, für Patienten eigenhändig benutzbar.
3.1.6 Tische, Stühle und Sessel Der Wohncharakter eines Krankenzimmers wird im wesentlichen durch Möbel erreicht, die es dem mobilen Patienten erlauben, sich bequem außerhalb seines Bettes aufzuhalten. Als zweckmäßig haben sich ein bis zwei rechteckige Tische
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Grundversorgung
Abb. 3.1-13: N a c h t s t u h l aus Stahlrohr. Hinten offen. Rückenteil und Sitz gepolstert. Bei Entfern u n g des Auffangeimers und bei Z u r ü c k k l a p p e n des seitlichen Polsters, k a n n d e r N a c h t s t u h l auch als Transportstuhl benutzt werden. Sämtliche Materialien sind a b w a s c h b a r u n d wasserresistent; d a m i t k a n n der N a c h t s t u h l auch als Duschstuhl verwendet werden (Hersteller: L. & C. Arnold G m b H , Kempen)
erwiesen, mit dazugehörigen Stühlen — je nach Bettenzahl. Sämtliche Stühle sind gepolstert. Je nach Patientensituation besitzen ein Teil der Stühle seitliche Armstützen. Sitzplätze dieser Art erlauben es dem Patienten — entspannt zu sitzen und Speisen außerhalb des Bettes einzunehmen (fördert den Appetit), — sich gegenübersitzend zu unterhalten, zu lesen oder zu schreiben und gemeinsam ein Spiel zu spielen. Schließlich soll gerade auch der ältere Patient möglichst oft aufstehen. Regelmäßiges Sitzen entlastet Haut und Rücken, regt den venösen Rückfluß an und stabilisiert den Kreislauf. Darüber hinaus bekommt ein sitzender Patient eine völlig andere Perspektive. Für ältere oder teilmobile Patienten eignen sich spezielle Sessel oder Lehnstühle (Abb. 3.1-14). Die Sitzhöhe beträgt bei diesen Sesseln mindestens 40 — 45 cm und erleichtert damit das Hinsetzen und Aufstehen. Eine schmale Fußbank ermöglicht auch kleineren Patienten ihre Füße bequem aufzustellen. Die gepolsterte Sitzßächeg neigt sich leicht nach hinten, damit der Rücken
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Abb. 3.1-14: Lehnstuhl für ältere Patienten (Hersteller: L. & C. Arnold G m b H , Kempen)
an der Lehne anliegt. Die Rückenlehne soll nach Möglichkeit verstellbar sein oder sich zumindest im oberen Teil etwas nach hinten neigen. Auch die Armlehnen sollen gepolstert sein und weit nach vorne reichen, damit sich der Patient beim Aufstehen abstützen kann. Verdickte Enden regen zu gymnastischen Fingerübungen an. Die meisten Sessel sind massiv und schwer. Deshalb soll der gewünschte S t a n d o r t — Blick zum Fenster, am Tisch mit anderen Patienten oder in der N ä h e des Bettes — bereits vor der Benutzung ausgewählt werden.
3.2 Körperpflege Susann
Peter
Die Pflege des Körpers ist ein individuelles, von Mensch zu Mensch stark variierendes Grundbedürfnis, das verschiedenen inneren und äußeren Einflüssen unterliegt. Die Körperhygiene beinhaltet nicht nur die Reinigung von Haut, H a a r e n und Nägeln, sondern umfaßt ebenso die Bekleidung (Modestil) und die Psyche. Alle 3 Bereiche sind eng miteinander verknüpft. Durch die Körperhygiene kann es dem Einzelnen gelingen, sich von anderen abzuheben, seine momentane Stimmung auszudrücken oder ein bestimmtes Lebensgefühl zu vermitteln. Auch die Religionszugehörigkeit wird für andere sichtbar dargestellt.
3.2.1 Beeinflussung der Körperhygiene Die Körperhygiene wird durch soziokulturelle, toren beeinflußt. 3.2.1.1
-ökologische und biologische
Fak-
Soziokulturelle F a k t o r e n
Ebenso wie ζ. B. die Architektur und Musik unterliegt auch die Körperhygiene dem Wandel der Zeit. G a b es früher öffentliche Badehäuser, die neben der „äußeren" Reinigung auch eine wichtige Funktion für die „innere" Reinigung hatten (Kommunikationsstätte), so wurde die Körperpflege mit wachsender Zivilisierung immer mehr zu einer privaten Angelegenheit. Eine Wandlung im Umfang der Körperpflege und den dazu verwendeten Materialien war auch bei der Bekleidung festzustellen. Im Rokoko-Zeitalter waren die Kleider der Frauen mit Bändern und anderem Zierat versehen, in der Renaissance bevorzugte man den klassischen, schlichten Stil. Entscheidend für das Ausmaß der Körperpflege und die Art der Kleidung sind: • die Finanzlage, die familiären Gewohnheiten, das Sozialprestige, der Beruf, • die Religionszugehörigkeit. So sind in der Bibel und im Koran rituelle Reinigungs- und Hygienevorschriften erwähnt, die zum Teil bis in die heutige Zeit Anwendung finden. Im islamischen Kulturkreis gehört dazu ζ. B. die Waschung der Füße vor dem Betreten einer Moschee.
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3.2.1.2 Sozioökologische Faktoren Bedingt durch die unterschiedliche konkrete Umwelt sind dem Einzelnen unterschiedliche Erfahrungsmöglichkeiten geboten. Die psychosoziale Entwicklung geht eng mit der individuellen Umwelt einher. Die Wahl der Kleidung entspricht zum großen Teil den geographischen Bedingungen, die der Lebensraum aufweist. So sind Stöckelschuhe im Gebirge ebenso fehl am Platz wie am Strand. In den Städten gehören Stöckelschuhe dagegen zum üblichen Bekleidungsstil. Ein zweiter Aspekt des sozioökologischen Bereichs ist das Klima. Entsprechend den Wetterverhältnissen (Temperatur, Feuchtigkeit, Wind, Sonneneinstrahlung) ist auch die Kleidung. Die Modeveränderungen sind im städtischen Bereich ausgeprägter als in ländlichen Gegenden. Die direkte Wohngegend (ζ. B. Villenviertel, Wohnsilos) beeinflußt — bedingt durch den sozialen Status — den Stil der Kleidung und das Ausmaß der Körperpflege. In vielen Gegenden ist eine Uniformierung zu erkennen. 3.2.1.3 Biologische Faktoren Dieser relativ stark auf das Verhalten Einfluß nehmende Bereich beinhaltet: Das Alter, die körperliche und geistige Verfassung, den Hautzustand. • Das Alter beeinflußt die gesamte Körperhygiene insofern, als es in den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsstufen eine verschieden stark ausgeprägte Hilfsbedürftigkeit, individuelle Entscheidungsfreiheit und besondere Gewohnheiten gibt. So sind Säuglinge und Kleinkinder nicht selbständig in der Lage, für eine angemessene Körperpflege zu sorgen. Kinder und Jugendliche bedürfen bei der eigentlichen Körperreinigung und der Auswahl der Kleidung wenig Hilfe. Wichtig ist jedoch häufig eine Beratung bei der Wahl der Pflegemittel. Der Erwachsene kann seine Körperhygiene entsprechend seinen individuellen Vorstellungen und Wünschen selbständig ausführen. Er hat Vorlieben für bestimmte Pflegeartikel und Kleidung entwickelt. Alte Menschen können aufgrund physischer und zum Teil auch psychischer Veränderungen ihre Körperhygiene oft nicht mehr ohne Hilfe durchführen. Sie bedürfen einer ihrer Verfassung angepaßten Unterstützung durch andere. • Das Geschlecht eines Menschen ist für die Körperpflege durch die anatomischen Unterschiede von Bedeutung, ζ. B. bezüglich der Intimhygiene, der Körperbehaarung. • Bei körperlicher Unversehrtheit ist die selbständige Körperpflege eine individuelle Angelegenheit, jedoch schon bei geringer Behinderung kann eine Unterstützung durch andere notwendig werden. Die Hilfestellung darf nicht einer Entmündigung gleichkommen. Es muß auf die Wünsche des Betroffenen eingegangen werden. • Die psychische Verfassung kann einen starken Einfluß auf das Verhalten bei der Körperhygiene haben. So kann durch die Kleidung viel vom derzeitigen Gemüts-
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zustand vermittelt werden. Gerade psychisch Kranke müssen häufig an die Reinigung des Körpers und regelmäßiges Wechseln der Kleidung erinnert werden. • Der Hautzustand ist individuell unterschiedlich und bedarf daher auch einer individuellen Pflege und eines individuellen Schutzes.
3.2.2 Haut Die Haut ist das größte Organ des Menschen. Sie bedeckt mit ca. 1,6 m 2 die gesamte Oberfläche des Körpers und hat zahlreiche, lebensnotwendige Aufgaben zu erfüllen. Die Haut schützt den Organismus vor schädlichen Einflüssen aus der Umwelt, scheidet über die Schweiß- und Talgdrüsen schädliche Substanzen aus, wirkt bei der Regulation des Wärmehaushalts mit. Sie ist an der Atmung in geringem Maße beteiligt, dient als Fett- und Wasserspeicher und hat Einfluß auf den Stoffwechsel. Desweiteren vermittelt die Haut über Rezeptoren Sinneseindrücke wie Wärme und Kälte, Druck, Schmerz und Tastempfindungen zu den verschiedenen Teilen des Nervensystems. Ebenso bestehen indirekte Verbindungen zwischen den sensiblen, von den inneren Organen zum Rückenmark ziehenden Nervenbahnen und den Hautnerven. Dies führt dazu, daß Erkrankungen der inneren Organe auf die Haut projeziert werden können und dort als erhöhte Sensibilität oder Schmerzen in Erscheinung treten (Head-Zonen). Durch die Größe der Hautfläche und die Vielzahl der darin enthaltenen Kapillaren ergibt sich die enge Verbindung mit dem Wärmehaushalt. Längere Bettlägerigkeit vermindert die Fähigkeit des Körpers, sich den unterschiedlichen Umgebungstemperaturen anzupassen. Ein wichtiges Ziel der Pflege ist es daher, die Anpassungsfähigkeit zu trainieren. Dies geschieht durch Temperaturreize, die mit dem Waschwasser vermittelt werden können. Durch Streichungen von der Peripherie in Richtung Körperstamm kann der Rückfluß des venösen Blutes und der Lymphe unterstützt werden. Die damit erzielte bessere Füllung des Herzens wirkt sich auf die Sauerstoffversorgung des gesamten Körpers aus. Bei der Berührung der Haut werden Energien zum Fließen gebracht, die in verschiedenen Qualitäten auftreten und ihren Weg in beide Richtungen (vom Pflegenden zum Patienten und umgekehrt) nehmen. Ist der Pflegende ruhig und ausgeglichen, überträgt sich diese Ruhe auch auf den Patienten. Ebenso verhält es sich mit Hektik und Unsicherheit und allen anderen Empfindungen. Indem der Patient seine Haut als Körpergrenze erfährt, bewahrt er seine individuelle Identität, die aufgrund der Bettlägerigkeit häufig eingeschränkt ist. Beim Waschen helfen Berührung, Druck, Reibung, Kälte, Wärme und der Geruch des Waschzusatzes dem Patienten, sein Körperschema wieder zu entdecken. Besondere Bedeutung kommt der basalen Stimulation beim Fehlen von anderen sensorischen
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Eindrücken, wie bei Seh- und Hörschäden, zu. Durch Waschungen, Einreibungen und Streichungen kann dieser Mangel über die Haut kompensiert werden. Die Hautpflege erfüllt mehrere Aufgaben: • Hautreinigung und Erhaltung des Fett- und • Erhaltung der Hautfeuchtigkeit.
Säureschutzmantels,
Um die Haut von Schmutz, Talg, geruchsbildendem Schweiß, unerwünschter Hautflora und anderen Auflagerungen zu befreien, soll die Reinigung mit Wasser und einem Waschzusatz erfolgen. Jede Hautreinigung greift den Fett- und Säureschutzmantel an. Bei der Pflege ist zu beachten, daß die Haut einen unterschiedlichen Fettbedarf in den einzelnen Körperregionen hat. Er ist am größten an den Füßen und Unterschenkeln. Durch die äußeren Einflüsse (ζ. B. intensive Sonneneinstrahlung) und die inneren Veränderungen (z.B. der natürliche Alterungsprozeß) verliert die Haut ständig Feuchtigkeit, die ersetzt werden muß. Für die Erhaltung des Fett- und Säureschutzmantels sowie der Hautfeuchtigkeit spielen die Hautpflegemittel eine große Rolle: • Die normale Haut verträgt zur Reinigung alle Waschsubstanzen. Zur Unterstützung der Rückfettung sollte sie mit einer Creme, die frei von Emulgatoren und Konservierungsstoffen, duftneutral, rückfettend und feuchtigkeitsspendend ist, versorgt werden. • Die fette Haut sondert vermehrt Talg ab und bindet mehr Wasser. Sie ist daher feuchter als die normale Haut. Empfehlenswert ist hier die Verwendung eines milden, nicht rückfettenden Syndets (sjwthetisches Deíergens) mit einem der Haut entsprechenden pH-Wert. Nach der Reinigung sollte nur bei Bedarf eine Rückfettung erfolgen. Hierfür empfehlen sich Produkte auf Öl-in-Wasser-Basis. Sie lassen die Haut aufquellen und sorgen dadurch für eine vermehrte Wasserverdunstung. Gleichzeitig wird eine Kühlung erzielt. Nach der Verdunstung verbleibt ein abdeckender Lipidmantel auf der Hautoberfläche. • Bei sehr trockener Haut reicht unter Umständen das Abspülen mit kühlem Wasser. Bei stärkeren Verschmutzungen kann die Verwendung eines rückfettenden Syndets (z. B. mit Oliven- oder Sojaöl) in Erwägung gezogen werden. Nach der Reinigung muß die Haut auf jeden Fall mit einer Fettsalbe eingerieben werden. Hierfür eignen sich Emulsionen vom Wasser-in-Öl-Typ. Diese verhindern Feuchtigkeitsverluste und garantieren gleichzeitig eine ausreichende Luftdurchlässigkeit. Eine zu starke mechanische Belastung durch starkes „Rubbeln" und alkalische Seifen bzw. stark entfettenden Waschlotionen sollte vermieden werden.
3.2.3 Beobachtung der Haut Die gesunde Haut ist elastisch, geschmeidig, gut durchblutet und hat eine rosige Farbe.
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Neben dem natürlichen Spannungs- und Elastizitätsverlust durch Alterungsvorgänge können auch Krankheiten Ursachen für die Veränderung der Haut sein. 3.2.3.1 Hautspannung (Turgor) Eine erhöhte Spannung kann durch Entzündungen, Hämatome oder Ödeme entstehen. Verminderte Spannung, trockene Haut, die sich ggf. in Falten abheben läßt, beobachtet man bei Diarrhoe oder anhaltendem Erbrechen (s. Abschn. 3.9.6, S. 270). 3.2.3.2 Hautfarbe Eine extreme Blässe kann Symptom einer Anämie sein. Tritt die Blässe lokal begrenzt an einer oder mehreren Extremitäten auf, muß an eine arterielle Durchblutungsstörung gedacht werden. Die akut auftretende Blässe, in Zusammenhang mit Kaltschweißigkeit, Tachykardie und Schwächegefühl, ist häufig das Zeichen eines Kreislaufversagens. Zyanose (die Blaufärbung der Haut) ist ein Hinweis auf einen Sauerstoffmangel, ζ. B. bei Herzerkrankungen. Die ersten Zeichen sind an den Lippen und Nägeln zu sehen. Der Ikterus (Gelbfärbung) der Haut ist ein Zeichen für Störungen der Leberfunktion·. Bilirubin tritt in das Blut und dann in die Haut über. Die ikterische Verfärbung zeigt sich zuerst an den Skleren (Sklerenikterus). Rötungen der Haut treten bei Aufregungen, Hitze, hohem Fieber, Hypertonie oder Entzündungen auf. Eine besondere Gefahr bei bettlägerigen Patienten besteht in der Bildung eines Dekubitus (s. Abschn. 3.9.2, S. 252) oder bei zusätzlich bestehender Inkontinenz in der kontinuierlichen Reizung der Haut durch Feuchtigkeit und die Zersetzungsprodukte des Urins bzw. Stuhls und so einer starken Beanspruchung der Haut am Gesäß und im Genitalbereich. Auch hier kann durch die Pflege die Zerstörung des Fett- und Säureschutzmantels eingeschränkt werden.
3.2.4 Reinigung des Körpers Bedeutung. Die Körperpflege dient nicht nur der Hygiene und dem Wohlbefinden, sondern erfüllt auch weitreichende prophylaktische Aufgaben, um Folgeerkrankungen zu verhindern. Deshalb muß sie sorgfältig und gründlich durchgeführt werden. Die tägliche Körperpflege ist gleichzeitig eine gute Gelegenheit, den Patienten unauffällig zu beobachten. Krankheiten können so frühzeitig erkannt und vom Arzt therapiert werden. Voraussetzungen für eine individuelle Körperpflege sind:
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• Berücksichtigung der Situation des Patienten und seiner Ressourcen, • Gewährleistung der Sicherheit für den Patienten und den Pflegenden, • Beachtung der Wünsche und Vorlieben des Patienten, soweit sie sich mit der Erkrankung in Einklang bringen lassen, • adäquate Auswahl von Pflege- und Hilfsmitteln. 3.2.4.1 Ganzkörperwaschung des bettlägerigen Patienten Um die Belastung für den Kranken so gering wie möglich zu halten, ist eine zügige und sichere Durchführung der Ganzwaschung anzustreben. Daraus ergeben sich folgende Handlungsprinzipien: • Alle Hautfalten müssen besonders gründlich gewaschen und abgetrocknet werden, um Reizungen durch auftretende Feuchtigkeit zu vermeiden (s. Abschn. 3.9.6, S. 270). • Zum Schutz des Bettes vor Nässe wird ein Handtuch unter den zu waschenden Körperteil gelegt. Gleichzeitig ist dies eine Erleichterung beim Abtrocknen. • Generell von der Körpermitte zur Peripherie hin arbeiten („Entfaltung"). • Orientiert man sich an der Wuchsrichtung der Körperbehaarung, führt das Waschen in Wuchsrichtung auch zur Entspannung des Patienten. • Überhastete Arbeitsweise vermeiden. Der Patient erhält durch zu flüchtiges Arbeiten ungenaue Informationen, und es entsteht eine unnötige Verwirrung. • Die Ressourcen des Patienten sollen soweit wie möglich genutzt werden. Der Kranke kann erst alle Körperteile soweit wie möglich selbst waschen, ehe der Pflegende Hilfestellung leistet. • Der Schutz der Intimsphäre muß zu jedem Zeitpunkt der Ganzwaschung gewährleistet sein. • Die Berührung ist ein wichtiges Element in der Krankenpflege: — Vermeiden von punktuellen Berührungen — Vermeiden von oberflächlichen, streifenden Berührungen — Vermeiden von fliehenden, zerstreuten Berührungen Die Berührung soll ruhig, mit flach aufgelegter Hand deutlich beginnen und enden. Vorübergehend kann auch mit konstantem Druck gearbeitet werden. • Die Ganzwaschung geht einher mit einem hohen Maß an Haut- und Körperkontakt zwischen dem Kranken und dem Pflegenden. Gleichzeitig wird dem Patienten auch eine extreme Abhängigkeit vermittelt. Einfühlungsvermögen von Seiten des Pflegenden ist erforderlich, um die Gefühle des Kranken nicht zu verletzen. Die Ganzwaschung sollte geplant werden: Sie wird einmal täglich durchgeführt. Bei Bedarf, ζ. B. stark schwitzenden Patienten, kann sie auch mehrmals am Tag wiederholt werden. Alle Maßnahmen müssen gut vorbereitet werden, um die Belastung für den Patienten so gering wie möglich zu halten.
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Rechtzeitig vor Beginn der Ganzwaschung wird die Raumtemperatur angenehme Wärme reguliert.
auf eine
Folgende Materialien sind bereitzustellen: — Waschschüssel mit warmem Wasser für die Körperwaschung, — zweite Waschschüssel für die Intimhygiene, — Seife oder Waschzusatz, 2 Waschlappen, einen für Gesicht und Körper, einen für den Intimbereich. Textilwaschlappen werden möglichst täglich gewechselt, da sie ein guter Nistplatz f ü r Keime sind. Bei stuhl- oder urininkontinenten Patienten empfiehlt sich die Benutzung von Einmalwaschlappen, die nach dem Gebrauch verworfen werden.
— 2 Handtücher, eines für Gesicht und Körper, das zweite für den Genitalbereich, — bei Bedarf individuell für den Patienten ausgewählte Pflegemittel. Für die Anordnung des Arbeitsplatzes ergibt sich: — möglichst große Arbeitsfläche in Reichweite des Bettes richten, — Drehungen um 45 Grad vermeiden, um den Rücken zu schonen, — das Bett möglichst in Arbeitshöhe bringen, um rückenschonendes Arbeiten zu gewährleisten. 3.2.4.2 Vorgehen bei Ganzwaschung Der Patient soll vor dem Beginn der Ganzwaschung genügend Zeit zum Wachwerden erhalten, damit er entsprechend seinen Fähigkeiten mithelfen kann. Therapeutisch notwendige passive oder aktive Bewegungsübungen lassen sich gut vorher durchführen. Der Patient wird mit dem Oberkörper hochgelagert, damit er das Geschehen um ihn herum mit den Augen verfolgen kann. Außerdem erleichtert diese Lagerung die Atmung. Das Nachthemd wird ausgezogen (ohne die Intimsphäre zu verletzen); danach wird er mit einem großen Handtuch oder Laken bedeckt. Anschließend wird der Patient angehalten, sich soweit wie möglich selbst zu waschen. Er wird dadurch entspannter, wacher und motivierter. Waschen des Gesichts: • Je nach Wunsch des Patienten wird das Gesicht mit oder ohne Seife gewaschen. Wird Seife verwendet, sollen die Augen vorher mit klarem Wasser vom äußeren zum inneren Augenwinkel hin gereinigt werden (physiologischer Tränenabflußweg). Waschen der Arme: • An der Hand beginnend wird die Innenseite des Armes bis zur Achselhöhle gewaschen, es werden dabei durch leichten, kontinuierlichen Druck die Venen und Lymphgefäße in ihrer Transportfunktion unterstützt. Dann die Außenseite des Armes bis zur Hand hin waschen.
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• Die Achselhöhle mit reichlich Flüssigkeit reinigen, um eine unangenehme Geruchsbildung durch den Schweiß zu vermindern. Anschließend muß gut abgetrocknet werden. Waschen von Brust und Bauch: • Von der Mitte ausgehend in kreisenden Bewegungen seitlich zum Brustkorb waschen. Orientiert man sich an der Wuchsrichtung der Behaarung, führt das Waschen auch zur Entspannung des Patienten. • Beim Waschen des Bauches kann die Transportfunktion des Darmes durch kreisende Bewegungen in dessen Verlauf unterstützt werden. • Der Bauchnabel bedarf normalerweise keiner besonderen zusätzlichen Reinigung. Waschen des Rückens: • Ist der Kranke in der Lage sich aufzusetzen, wird der Rücken in großen kreisenden Bewegungen vom Kreuzbein die Wirbelsäule entlang bis zum Hals und an den Seiten abwärts gewaschen. • Muß der Patient in Seitenlage gebracht werden, wird das Bett flachgestellt und der Kopf zur Atemerleichterung mit einem Kissen unterstützt. Waschen der Beine und Füße: • Entsprechend den Armen auch hier durch leichten Druck den Rückfluß des venösen Blutes und der Lymphe unterstützen. • Beim Abtrocknen besonders die Zehenzwischenräume beachten, da im feuchten Milieu leicht Erkrankungen entstehen können (Fußpilz!). Waschen des Genitalbereichs: • Das Waschen des Genitalbereichs ist ein massiver Eingriff in die Intimsphäre des Kranken. Wenn möglich sollte der Patient die Intimpflege selbst durchführen. • Durch die Stuhl- und Urinausscheidungen ist der Genitalbereich besonders von Geruchsbildung betroffen, und es besteht eine Gefährdung durch Entzündungen, wenn die tägliche Intimhygiene unterbleibt. • Mit frischem Wasser, Waschlappen und neuem Handtuch wird zuerst der vordere Schambereich gereinigt. • Bei der Frau ist auf das Einhalten der Waschrichtung von der Symphyse zum Anus hin zu achten, um die Verschleppung von Keimen aus der Analgegend zu vermeiden. Die Gefahr einer Keimverschleppung über die Urethra in die Harnwege ist sehr groß. • Beim Mann erfolgt die Reinigung des Penis, nachdem die Vorhaut zurückgestreift wurde, von der Eichel zum Schaft hin. Nach dem Trockentupfen wird die Vorhaut wieder vorgestreift, um Abschnürungen zu verhindern. • Zum Waschen des Gesäßes lagert man den Patienten zweckmäßigerweise auf die Seite und reinigt die Gesäßfalten und den After gründlich. Zum Abschluß der Ganzwaschung wird das Bett gerichtet und bei Bedarf bezogen. Der Patient wird bekleidet und seinen Wünschen oder dem Krankheitsbild entsprechend gelagert.
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Besonderheiten des Patienten, Beobachtungen der Pflegekraft können zur Umorganisation Anlaß geben: • Stellt der Pflegende fest, daß der Kranke sehr kalte Füße hat, sollte vor der Ganzwaschung ein Fußbad erfolgen, um das Wohlbefinden zu fördern. • Bei erhöhter Körpertemperatur können kalte Teilwaschungen von Gesicht, Armen und Beinen dem Kranken Linderung verschaffen. Anschließend ist eine längere Ruhepause indiziert. • Bei inkontinenten Patienten wird im Falle des Einnässens oder Einkotens mit der Intimpflege begonnen. Starke Stuhlverschmutzungen können vor dem Waschen mit einem speziellen Pflegeschaum oder Öl entfernt werden. Der Pflegende sollte Einmalhandschuhe tragen, um sich selbst vor Infektionen zu schützen. • Bei starkem vaginalen Ausfluß sollten ebenfalls zum Selbstschutz Einmalhandschuhe getragen werden. • Reagiert der Patient auf die Berührung des Gesichts sehr empfindlich, wird mit der Ganzkörperwaschung an den Armen begonnen. • Bei eingeschränkter Sehleistung des Patienten sollte eine Hand des Pflegenden immer am Patienten bleiben, um den Kontakt nicht abzubrechen. 3.2.4.3
Duschen
Duschen erfrischt nachhaltiger als eine Ganzwaschung und ist weniger belastend als ein Vollbad. Wenn der Zustand des Patienten es erlaubt, sollte er täglich anstelle der Ganzkörperwaschung abgeduscht werden. Handlungsprinzipien: • Notwendige Hilfsmittel (z.B. Hocker) werden mit einem Tuch bedeckt. Der Kranke soll nie mit nackter Haut auf Kunststoff sitzen, da ein Festhaften darauf leicht möglich ist. • Kann der Patient noch selbst duschen, wird die Tür des Badezimmers nicht verschlossen, um bei Gefahr gleich Zutritt zu haben. Der Pflegende hält sich am besten in Rufweite auf. Auch für das Duschen erfolgt eine „Planung": — vor dem Duschen die Badezimmertemperatur auf ca. 22 °C regulieren, — Material vor dem Duschen zurechtlegen, um einen zügigen Ablauf zu gewährleisten. Folgende Utensilien (Material) werden benötigt: — Badehandtuch oder 2 Handtücher und 2 Waschlappen, — Seife oder Waschlotion, Hautpflegemittel und frische Wäsche. Vorgehen: — Mit körperwarmem Wasser von den Füßen beginnend langsam nach oben vorangehen. — Ist der Kranke naß, zentral vom Körperstamm ausgehend die Körperformen betonen. — Einseifen findet, wie bei der Ganzkörperwaschung beschrieben, statt.
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— Beim Duschen des Gesichts wird der Wasserstrahl nur schwach eingestellt. Augen, Nase und Mund werden mit einem Waschlappen geschützt. — Zur Anregung der Blutzirkulation kann mit unterschiedlichen Wassertemperaturen gearbeitet werden. Der Unterschied soll jedoch 10 °C nicht überschreiten. Zum Abschluß wird körperwarm geduscht. — Nach dem Beenden der Dusche wird der Kranke gut abgetrocknet. Dabei wird die Hand ganz aufgelegt, und das Abtrocknen erfolgt in eine Richtung. — Anschließend erfolgt, wenn nötig, die Rückfettung der Haut mit einem individuell ausgewählten Pflegemittel. — Zum Abschluß wird der Kranke mit einem frischen Nachthemd bekleidet. 3.2.4.4
Vollbad
Für das Vollbad ergeben sich folgende Handlungsprinzipien: Das Vollbad ist belastend für den Kreislauf und sollte deshalb nicht länger als 15 Minuten dauern. Es soll nach folgenden Handlungsprinzipien durchgeführt werden: • Vor dem Beginn des Bades werden alle benötigten Materialien bereitgelegt (s. „Duschen"). • Während des Badens ist die Beobachtung von Atmung und Kreislauf wichtig, um einen drohenden Kollaps rechtzeitig zu erkennen. • Die Wassertemperatur soll ca. 37 °C betragen. Liegt sie höher, wirkt das Bad ermüdend, erschwert aber auch das Einschlafen. Ein kühles Bad dagegen erleichtert das Einschlafen und wirkt erfrischend. • Hilfsmittel werden nach den Bedürfnissen des Patienten ausgewählt und eingesetzt. Einfache Hilfsmittel sind: — Einstiegsgriffe und rutschfeste Bodenmatten, — Badewannenverkürzer und Dusch- oder Badewannensitze. — Bei besonderer Hilfebedürftigkeit kann auch der Patientenheber zum Einsatz gebracht werden.
• Ein warmes Bad sollte mit einer kühlen Dusche enden. • Nach dem Bad ist eine Ruhepause von 1—2 Stunden angebracht. Planung: Ein Vollbad kann einmal wöchentlich erfolgen, wenn es den Patienten nicht zu stark belastet, ggf. mit dem behandelnden Arzt Rücksprache halten. Vorgehen: • Das Bad als Teilbad beginnen, d. h. der Wasserspiegel soll anfangs nur bis zum Nabel reichen. • Hat der Kranke in der Wanne Platz genommen, wird die Wassermenge allmählich gesteigert. Achtung: Das zulaufende Wasser soll nicht heiß sein, um eine Verbrühung zu vermeiden.
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• Durch unterschiedliche Badezusätze kann die positive Wirkung des Bades noch gesteigert werden, ζ. B. stimuliert Kohlensäure (in Form von Tabletten zugegeben) Herz und Kreislauf; Kamille hat eine desinfizierende und entzündungshemmende Wirkung und kann bei schlecht heilenden Wunden angewendet werden, ζ. B. beim Ulcus cruris. • Kann der Kranke selbst aus der Wanne steigen, wird vorher das Wasser abgelassen. • Anschließend abtrocknen und Hautpflege wie beim Duschen. Der Kranke erhält ein frisches Nachthemd. Umorganisation: Ist ein Vollbad für den Kranken zu belastend, kann ein Halbbad durchgeführt werden. Die Durchführung entspricht dem Vollbad, jedoch reicht das Wasser nur bis zur Nabellinie. 3.2.4.5 Frisieren und Bartpflege Die Haarpflege beginnt mit dem täglichen Kämmen, Bürsten und Frisieren, beim Mann auch mit der Rasur des Bartes. Die Haarpflege dient dem Wohlbefinden des Patienten, zur regelmäßigen Inspektion der Kopfhaut und der Haare auf Dekubiti oder Parasiten. Handlungsprinzipien: • Ressourcen und Wünsche des Patienten bezüglich der Frisur müssen vom Pflegepersonal berücksichtigt werden. Das Kämmen oder Bürsten erfolgt mindestens einmal täglich. Bei längeren Haaren einzelne Strähnen umfassen und an den Haarspitzen beginnend bis zum Haaransatz durchkämmen, um nicht zu ziepen. Mit Zöpfen umgeht man Verfilzungen von langem Haar. Klemmen und Haarspangen möglichst vermeiden oder bei der Lagerung wegen der Dekubitusgefahr berücksichtigen. • Die Wünsche des Patienten bezüglich Naß- oder Trockenrasur berücksichtigen, wenn es aufgrund der Erkrankung möglich ist. Die Rasur an Kinn und Wangen mit leichtem Druck in Richtung des Bartwuchses durchführen. Halsbereich bei leicht nach hinten gebeugtem Kopf rasieren. Für die Rasur der Oberlippe den Patienten um Mithilfe bitten: Zunge unter Oberlippe schieben lassen. Bei der Naßrasur zwischen den einzelnen Rasierzügen den Rasierer mit warmem Wasser abspülen. Naßrasierer nach dem Gebrauch unter fließendem Wasser gründlich ausspülen und bei Bedarf die Klinge erneuern. Elektrorasierer nicht für mehrere Patienten nacheinander benutzen, sondern zwischendurch reinigen und desinfizieren, um Keime nicht zu verschleppen. Material: Elektro- oder Naßrasierer, Rasierschaum, Einmalwaschlappen, Handtuch, Schüssel mit warmem Wasser. Vorgehen (Naßrasur): — Patienten in sitzende Position bringen und Bart vor der Rasur gut anfeuchten und einschäumen,
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— einzelne Bartbereiche entsprechend den Handlungsprinzipien rasieren, — Seifenschaumreste gründlich vom Kinn des Patienten entfernen, — entsprechend dem Wunsch und dem Hautzustand des Patienten After Shave oder Hautpflegemittel auftragen, — Material nach der Benutzung entsprechend den Handlungsprinzipien entsorgen. 3.2.4.6
Haarwäsche
Neben der Förderung des Wohlbefindens ist die Haarwäsche notwendig, um Talgabsonderungen, Staubpartikel und abgestoßene Hautzellen, die einen guten Nährboden für Keime abgeben würden, zu entfernen. Die Häufigkeit einer Haarwäsche richtet sich nach dem physischen Zustand und der Erkrankung des Patienten, sollte jedoch mindestens alle zwei Wochen durchgeführt werden. Handlungsprinzipien: • Die Ressourcen des Patienten müssen berücksichtigt und die benötigten Hilfsmittel, ζ. B. ein Haarwaschbecken fürs Bett, entsprechend eingesetzt werden. • Die Belastung muß für den Patienten so gering wie möglich gehalten werden, deshalb ist ein zügiges und sicheres Arbeiten notwendig. • Die Pflegemittel werden entsprechend dem Haartyp des Patienten ausgewählt. • Bei der Haarwäsche im Bett wird ein Bettschutz unter den Kopf des Patienten gelegt. • Das Shampoo muß immer gründlich ausgespült werden, damit ein Angreifen der Haare und Schuppenbildung vermieden wird. • Die Augen durch einen Waschlappen vor dem Eindringen von Shampoo schützen. • Während des Waschvorgangs die Haare und die Kopfhaut auf Veränderungen, ζ. B. Dekubiti, Parasiten, Alopezie, inspizieren. • Nach dem Haarewaschen den Patienten vor Zugluft schützen. Material: — — — —
Shampoo, das auf den Haartyp des Patienten abgestimmt ist, nach Wunsch des Patienten sonstige Pflegemittel, ζ. B. Haarfestiger, Kamm oder Bürste und Spiegel, Fön, Lockenwickler, Lockenstab, mindestens 2 Handtücher und bei Bedarf 2 Schüsseln oder Haarwaschbecken, Schöpfgefäß und Bettschutz.
Vorgehen: — Material auf ausreichend großer Arbeitsfläche in der Nähe des Betts bereitstellen, — den Patienten entsprechend der vorgesehenen Arbeitstechnik lagern, — die Haare gut anfeuchten und Shampoo auf die Hand geben, etwas verreiben und die Haare damit reinigen. Die Kopfhaut während des Waschens in leichten kreisenden Bewegungen mit den Fingerkuppen massieren,
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— Shampoo ausspülen und den Vorgang bei Bedarf wiederholen (ζ. B. bei sehr fettigem Haar), — Haare mit einem Handtuch umwickeln und gut frottieren. — Haare vorsichtig kämmen oder bürsten und nach Wunsch frisieren. Die Haare müssen gut mit dem Fön getrocknet werden. — Um die noch verbleibende Feuchtigkeit aufzufangen, wird dem Patienten für ca. 1 Stunde ein frisches Handtuch unter den Kopf gelegt. 3.2.4.7 Mund- und Zahnpflege Speisereste, die nicht nach jeder Mahlzeit durch die mechanische Reinigung von Zähnen und Zahnfleisch entfernt werden, bilden die Grundlage — gemeinsam mit den im Mund angesiedelten Bakterien — für Zahnbelag (Plaque). Dort wirken die Bakterien weiter, indem sie die Speisereste vergären. Es entsteht eine Säure, die den Zahnschmelz auflöst und zur Zahnfäule (Karies) führt. Ebenso kann das Zahnfleisch angegriffen werden, was zu einer Entzündung (Gingivitis) führt, verbunden mit einem möglichen Zahnfleischschwund (Parodontopathie) und einer Beteiligung der Knochen. Handlungsprinzipien: • Die Zahnbürste soll einen kurzen Kopf und einen biegsamen Stiel haben und insgesamt biegsam sein. Sie wird mindestens alle 6 Wochen oder wenn die Borsten ausgefranst sind gewechselt. • Die normale Mund- und Zahnpflege wird mindestens zweimal täglich mit Zahnbürste und Zahnpasta durchgeführt, besser wäre nach jeder Mahlzeit. • Stark behaftete Zahnzwischenräume können vorsichtig mit Zahnseide gereinigt werden. • Dem Patienten nur die notwendige Hilfestellung geben, Ressourcen und Wünsche berücksichtigen. • Bett und Nachthemd vor Nässe schützen und beim Zähneputzen in kleinen kreisenden Bewegungen arbeiten. • Die Zahnreinigung an den Kauflächen beginnen, dann die Außen- und Innenflächen putzen; von hinten nach vorn arbeiten. • Zahnprothesen werden ebenfalls nach jeder Mahlzeit mit Bürste und Zahnpasta gereinigt. Wenn der Patient es wünscht, werden die Prothesen über Nacht in eine spezielle Reinigungslösung eingelegt. Vor dem Einsetzen ist darauf zu achten, daß die Reinigungslösung gründlich unter fließendem Wasser abgespült wird (s. Abschn. 3.3.1, S. 148). Material: Becher mit Wasser zum Mundspülen, Nierenschale, Zahnbürste, -pasta, evtl. -seide, evtl. Bettschutz und Handtuch. Vorgehen: — Patienten mit erhöhtem Oberkörper lagern, und Zahnbürste mäßig mit Zahnpasta bestreichen, leicht anfeuchten und die Zähne vorsichtig reinigen.
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— Das Zahnfleisch beim Putzen leicht massieren und anschließend dem Patienten die Gelegenheit geben, den Mund gründlich auszuspülen. — Zahnbürste unter fließendem Wasser von Zahnpastaresten reinigen. Umorganisation: Bei entzündetem Zahnfleisch oder Blutungen des Zahnfleisches den Arzt benachrichtigen und auf Anordnung eine spezielle Mundpflege durchführen (s. Abschn. 3.9.5, S. 265, 3.12, S. 294). 3.2.4.8 H a n d - und Fußpflege Für den Patienten trägt die regelmäßige Pflege von Händen und Füßen zum Wohlbefinden bei. Außerdem wird dadurch die Verletzungsgefahr für Patienten und Pflegepersonal gemindert und Infektionen können rechtzeitig erkannt werden. Handlungsprinzipien: • Vor dem Kürzen der Fuß- und Fingernägel empfiehlt sich ein Hand- bzw. Fußbad von ca. 10 Minuten Dauer, um die Nägel weicher zu machen. Die Wassertemperatur des Bades sollte 34 — 35 °C nicht überschreiten, um die Verbrühungsgefahr zu reduzieren. • Die Instrumente zur Nagelpflege müssen nach jeder Benutzung desinfiziert werden, um ein Verschleppen von Keimen zu verhindern. • Instrumente zur Nagelpflege dürfen keine spitzen Ecken haben, um die Verletzungsgefahr so gering wie möglich zu halten. • Die Hornhaut soll vom Pflegepersonal nur entfernt werden (mit einer Raspel), wenn sie sich problemlos lösen läßt. Sonst vor dem Entfernen mit 1—3%iger Salicylvaseline bestreichen, abdecken und ca. 12 Stunden einwirken lassen. Anschließend kann die Hornhaut leicht durch Abraspeln entfernt werden. • Die Nägel beim Schneiden durch Vorhalten eines Fingers am Wegspringen hindern. Material: Nagelschere, Nagelfeile, evtl. -zange, -reiniger, evtl. Fettcreme, Salicylvaseline. Vorgehen: Nach dem Handbad werden die Fingernägel rund geschnitten bzw. gefeilt. Die Fußnägel sollten gerade geschnitten werden, die Ecken leicht abgerundet, um ein Einwachsen der Nägel ins Nagelbett zu vermeiden. Umorganisation: • Bei starker Hornhaut oder Hühneraugen muß die Fußpflege von einer entsprechend ausgebildeten Fachkraft durchgeführt werden. • Besondere Vorsicht vor Verletzungen ist geboten bei: Diabetikern, Patienten mit arteriellen Durchblutungsstörungen, Kindern, unruhigen oder desorientierten Patienten. Dann evtl. zu zweit arbeiten oder eine entsprechend ausgebildete Fachkraft zur Maniküre oder Pediküre heranziehen.
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3.2.4.9 Augen-, Nasen-, Ohrenpflege Handlungsprinzipien: • Die Augen vorsichtig von außen nach innen mit klarem Wasser reinigen, das Auge ist sehr empfindlich. (Spezielle Augenpflege s. Abschn. 15, S. 582.) • Die Nasenreinigung erfolgt am einfachsten durch ein Ausschneuzen ggf. mit einem Watteträger. • Die Ohrmuschel und der äußere sichtbare Gehörgang werden bei der Ganzkörperwaschung mit klarem Wasser und einem Waschlappen vorsichtig gereinigt.
3.2.5 Kleiden Neben dem Schutz gegen äußere Einflüsse (Wärme, Kälte, Zugluft) bietet die Kleidung auch die Möglichkeit, seine Individualität zu demonstrieren. Auch alte, kranke oder behinderte Menschen können einen großen Teil des Tages außerhalb des Bettes verbringen und sollten dann auch ihre normale Kleidung tragen. Man fühlt sich gesellschaftsfähiger und ist offener für soziale Kontakte, als wenn man den ganzen Tag im Nachthemd und Bademantel verbringen muß. Bei bettlägerigen Patienten ist jedoch das Nachthemd oder der Schlafanzug die Bekleidung der Wahl. Gerade ältere Menschen sind oft kälteempfindlich und bedürfen deshalb zusätzlich eines Bettjäckchens oder Schultertuchs. Handlungsprinzipien: • Die Kleidung muß bequem, gut zu reinigen und sauber sein und dem Anlaß entsprechend ausgewählt werden. • Die Kleidung soll möglichst aus Naturfasern bestehen, da diese gut wärmen, Feuchtigkeit aufnehmen ohne die wärmende Wirkung zu verlieren, nicht zu elektrostatischer Aufladung neigen und daher auch schmutzabweisend sind. • Unterschiedliche Kleidung für Tag und Nacht kann desorientierten Patienten die zeitliche Orientierung erleichtern. • Die Hilfestellung beim Bekleiden richtet sich nach der Abhängigkeit des Patienten. Die Ressourcen müssen auf jeden Fall genutzt werden. • Für Patienten, die sich in der Rehabilitation befinden, gibt es vielfältige Hilfsmittel, um das An- und Auskleiden zu erleichtern (ζ. B. Knöpfhilfen, Strumpfanzieher u. a.). • Beim Wechseln der Kleidung muß auf jeden Fall die Intimsphäre des Patienten geschützt werden. Vorgehen: — Zum Ausziehen des Nachthemdes werden zuerst alle Knöpfe u n d Bänder geöffnet.
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— Der Patient kann beim Hochschieben des Nachthemdes helfen, indem er sein Gesäß etwas anhebt, so daß die Pflegekraft das Nachthemd soweit wie möglich nach oben schieben kann. — Bei angehobenem Oberkörper wird das Nachthemd bis zum Nacken hochgeschoben und über den Kopf nach vorn gezogen. Anschließend wird das Nachthemd von den Armen gestreift. — Zum Anziehen eines Nachthemdes wird ein Ärmel gerafft. Die Pflegekraft greift von vorn in den Ärmel, umfaßt die Hand des Patienten und streift den Ärmel über den Arm. Ebenso mit dem zweiten Ärmel verfahren. — Das Nachthemd anschließend über den Kopf streifen und über Rücken und Gesäß hinweg glattziehen. Umorganisation: • Ist ein Patient dazu in der Lage, sollte er möglichst viel selbst erledigen. • Muß ein Patient aus medizinischen Gründen über längere Zeit hinweg Krankenhausnachthemden tragen, können nach Rücksprache auch die eigenen Nachthemden an der rückwärtigen Naht aufgetrennt und flach umsäumt werden. • Bei einer Allergie muß vom Arzt abgeklärt werden, auf welche Materialien diese entsteht. Notfalls muß auf Bekleidung aus synthetisch hergestellten Chemiefasern zurückgegriffen werden. Neben den Vorteilen (hohe Reißfestigkeit, pflegeleicht) haben sie jedoch den Nachteil, daß sie feuchtigkeitsabweisend sind und dadurch die Hautatmung beeinträchtigen. • Bei halbseitig gelähmten Patienten wird zuerst der gesunde Arm entkleidet. Beim Anziehen verfährt man genau umgekehrt: Zuerst den gelähmten Arm bekleiden.
3.2.6 Betten Für Patient und Pflegekraft bedeutet das tägliche Bettenmachen die Kontaktaufnahme schlechthin. Es bietet sich die Gelegenheit zu einem Gespräch, zur Beobachtung des momentanen Befindens, zur nonverbalen Kommunikation. Gerade für den überwiegend bettlägerigen Patienten ist das Bettenmachen eine gute Möglichkeit zum Aufstehen und mit Hilfe des Pflegenden ein paar Schritte umherzugehen. Eine routinierte Durchführung gibt ihm das Gefühl der Sicherheit. Daher ist es wichtig, daß sich der Pflegende einige Handgriffe aneignet und nach zielgerichteten Überlegungen vorgeht. Handlungsprinzipien: • Um Rückenbeschwerden zu vermeiden, soll das Pflegepersonal entsprechend den Richtlinien für das rückenschonende Arbeiten vorgehen.
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Grundversorgung
• Eine gute Koordination untereinander ist gerade beim Bettenmachen unerläßlich. • Das Vorgehen muß auf den physischen und psychischen Zustand des Patienten abgestimmt werden. • Den Patienten zur Mithilfe motivieren. Wenn die Möglichkeit besteht, kann der Patient das Bett zum Beziehen des Bettes verlassen. • Die hygienischen Aspekte müssen berücksichtigt werden: — Starkes Ausschütteln der Kissen und Decken muß unterbleiben, um nicht unnötig Staub aufzuwirbeln. — Zur Ablage für Kissen und Decken sollte eine spezielle Ablagefläche vorbereitet werden. — Bei der bezogenen Bettdecke ist darauf zu achten, daß sie gefaltet wird: Innenseite auf Innenseite und mit der Außenseite auf die Ablagefläche legen. — Schmutzige Wäsche wird sofort in den Wäscheabwurf entsorgt. — Es sollte darauf geachtet werden, daß Schmutzwäsche nicht mit dem Kittel in Kontakt kommt, um eine Übertragung von Keimen auf andere zu vermeiden. • Die Intimsphäre des Patienten ist während des gesamten Vorgangs des Bettens zu wahren. • Zum faltenfreien Einspannen von Bettlaken und Stecklaken wird das Kopfteil des Bettes flachgestellt. • Alle Lagerungshilfsmittel sollten nach Möglichkeit vor dem Bettenmachen aus dem Bett entfernt werden. • Die Häufigkeit des Bettenbeziehens richtet sich nach der Notwendigkeit. Das Glattziehen von Laken und Stecklaken sollte jedoch mindestens einmal täglich erfolgen, bei Bedarf auch häufiger. Vorgehen (Patient kann sich aufsetzen): — Nach dem Entfernen von Kopfkissen und Bettdecke wird der Patient aufgesetzt. Wenn er dazu in der Lage ist, kann er sich selbst am Patientenaufrichter festhalten, sonst benötigt er Unterstützung durch die Pflegekraft. — Das Laken wird am Kopfende nachgespannt. — Der Patient kann sich wieder hinlegen, wird gebeten das Gesäß etwas anzuheben, um den mittleren Teil des Lakens glattzuziehen. — Die Füße werden leicht angehoben, und der untere Teil des Lakens fest eingespannt. • Zum Schluß erhält der Kranke das Kopfkissen und die Bettdecke wieder und wird evtl. gelagert. Vorgehen (Patient kann sich zur Seite drehen): — Der Patient wird gebeten, sich auf eine Seite zu drehen, der Kopf wird durch das Kopfkissen unterstützt. Um ein Herausfallen aus dem Bett zu vermeiden, kann eine Pflegekraft sich davorstellen. Als Alternative ist das Hochklappen eines Bettgitters möglich, woran sich der Patient festhalten kann. — Das Laken wird an der freien Stelle nachgespannt.
Körperpflege
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— Der Patient dreht sich auf die andere Seite, und die Pflegekraft spannt an der zweiten Seite das Laken fest nach. — Der Patient wird gelagert und erhält sein Kopfkissen und die Bettdecke zurück. Umorganisation: • Zum Wechseln des Lakens und des Stecklakens wird wie oben beschrieben verfahren. Das Laken und Stecklaken werden eingerollt, dabei ist darauf zu achten, daß die schmutzige Wäsche nur mit der Unterseite der neuen Bettwäsche in Berührung kommt. Das Laken und Stecklaken müssen immer faltenfrei eingespannt werden, um die Bildung eines Dekubitus zu vermeiden. Ebenso ist bei Bettwäsche, die Knopfverschlüsse hat, darauf zu achten, daß die Knopfleisten keine Druckstellen verursachen. • Bei stark schwitzenden Patienten kann ein Bettwäschewechsel mehrmals am Tag nötig werden.
3.3 Prothesen Jürgen Kronauer
Eine Prothese (gr. „setze vor") ist ein künstlicher Ersatz von fehlenden Körperteilen (Arme, Auge, Zähne u. a.). Ziel der prothetischen Versorgung ist die körperliche „Unversehrtheit wiederherzustellen" und die täglichen Aktivitäten zu ermöglichen.
3.3.1 Zahnprothese Man unterscheidet Zahnvoll- und Teilprothesen. Zahnprothesen werden zum Reinigen aus dem Mund entfernt. 3.3.1.1 Herausnehmen, Reinigen, Einsetzen • Entfernen der Zahnprothese. Zuerst wird die obere, dann die untere Prothese aus dem Mund genommen. Beide Teile werden in einen Zahnprothesenbehälter oder in eine Nierenschale gelegt. Der Patient kann jetzt den Mund ausspülen, ζ. B. mit Mundwasser oder mit Salbeitee. • Reinigung der Zahnprothese. Eine Zahnprothese wird unter fließendem Wasser abgespült, damit Nahrungsreste, die sich an der Prothese festgesetzt haben, eliminiert werden. Um ein Zerbrechen der Zahnprothese zu vermeiden, füllt man das Waschbecken mit Wasser auf, damit dieses den Aufprall der Zahnprothese dämpft, falls sie aus der Hand gleiten sollte. Die Reinigung wird mit Reinigungspulver und Zahnbürste durchgeführt. Dabei wird die Prothese kräftig gebürstet, um festgesetzte Nahrungsreste und Zahnbelagbildung zu entfernen. • Einsetzen der Zahnprothese. Nach der Reinigung wird die Prothese unter fließendem Wasser abgespült, um Reinigungspulver oder -lösung gründlich zu entfernen. Bei schlecht sitzenden Prothesen kann man ein Haftpulver auf die Haftschalenoberfläche auftragen. Dadurch wird ein Verrutschen verhindert. Dem Patienten wird die Zahnprothese in der Prothesenschale gereicht, der sie in den Mund einsetzt. Die untere Zahnprothese wird zuerst eingeführt, sitzt diese gut, wird die obere Prothese an den Gaumen fixiert. Der Prothesenträger soll den Mund auf und abbewegen, dies dient als Kontrolle, ob die Prothese richtig sitzt und paßt. Die Prothese darf nicht drücken, um die Nahrungsaufnahme nicht zu behindern.
Prothesen
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• Zu beachten ist: — bei der Prothesenreinigung keine Zahncreme verwenden (Scheuergefahr an der Prothese), — bei Zahnprothesenbehälter mit Reinigungspulver oder Tabletten ist unbedingt auf die Vorschriften des Herstellers zu achten, — keine aggressiven oder scheuernden Reinigungsmittel bei der Reinigung verwenden, — Zahnprothesen sollen ständig getragen werden, da sich sonst der Kiefer verformt und die Prothesen nicht mehr passen, — Zahnprothesen sollen nach jeder Mahlzeit gereinigt werden, — eine Intimsphäre ist auch hier zu beachten. — ein Vertauschen der Prothesen vermeiden!
3.3.1.2 Entfernen Zahnprothesen müssen entfernt werden bei: • Pat., die unter Narkose stehen (die Prothese kann bei Intubation des Patienten beschädigt werden oder die Intubation erschweren), • locker gewordene Prothesen: sie können die Luftröhre verschließen bzw. aspiriert werden, • Teilprothesen, ζ. B. Zahnbrückenersatzprothesen, Gaumenplatte mit nur einem oder zwei daran befestigten Zähnen, müssen immer vor dem Schlafengehen entfernt werden (Gefahr der Aspiration!).
3.3.2
Extremitätenprothesen
Aufgaben der Krankenpflege bei Arm- und Beinprothesen sind: — allgemeine Stumpfpflege, -bandagierung, Schaftpflege, — richtige Lagerung des Amputationsstumpfes in der postoperativen Phase und Erkennen von Stumpfproblemen. 3.3.2.1
Armprothesen
Wir unterscheiden passive, aktive und myoelektrisch gesteuerte Prothesen. • passive Armprothesen. Mit diesen Prothesen wird nur das äußere Erscheinungsbild wieder hergestellt. Sie dienen meist als kosmetischer Ausgleich des fehlenden Gliedmaßenabschnittes. • aktive Armprothesen. Es handelt sich um eine Eigenkraft-Prothese mit direkter und indirekter Kraftquelle. Der Patient lernt seine Prothese gezielt zu kontrollieren und sinnvoll einzusetzen. Funktion: Festhalten von Gegenständen, ζ. B. ein Glas.
150
Grundversorgung
• myoelektrisch gesteuerte Armprothese. Der Prothesenträger kann diese Prothese in sein Körperschema integrieren. Steuerung: Elektrische Aktionspotentiale an der Stumpfmuskulatur für die Betätigung der Prothese werden dabei genutzt. Die Potentiale entstehen bei der Kontraktion eines Muskels. Diese werden von der Hautoberfläche aufgenommen, verstärkt und als Steuersignale zu den Funktionselementen geleitet. Als Energiespender dient ein aufladbarer 6 V-Akku. Dieser befindet sich im Prothesenschaft und kann nach der Entladung beliebig ausgewechselt werden.
3.3.2.2
Beinprothesen
Man unterscheidet Prothesen in Schalenbauweise, die aus Holz oder Kunststoff hergestellt sind und Modularprothesen (Abb. 3.3-1,2): hier übernimmt eine Rohrkonstruktion die tragende Funktion. Die äußere Form bildet eine flexible Ummantelung aus Schaumstoff. Stumpfbettung/Prothesenschaft. Wesentlich für die Qualität der Prothese ist u. a. die Stumpfbettung, da sie die Verbindung zwischen dem Körper des Amputierten und dem distalen Bauabschnitt herstellt. Ihre Paßform entscheidet über die Führung der Prothese, das Gangbild und über den Tragekomfort der angepaßten Prothese. Der individuell geformte Innenschaft aus Polyurethan ersetzt bei der Oberschenkelprothese das bisher notwendige Einziehen mit Trikotschlauch. Der Innenschaft wird direkt auf den Stumpf gerollt. Ein Spezialgel erleichtert das Einsteigen in die Prothese und verstärkt die Haftung zwischen Stumpfoberseite und dem Prothesenschaft. Prothesen-Paßteile/Module. Bei Prothesen mit Schalenbauweise kommen Fußund Knie-Waden-Paßteile zum Einsatz. Modular-Beinprothesen werden mit Adaptern und Gelenkmodulen (Fuß, Knieund Hüftgelenk) je nach Amputationshöhe zusammengefügt. Prothesenfuß. Der Prothesenfuß ist sehr hohen Beanspruchungen ausgesetzt, da statisches und dynamisches Verhalten beim Stehen und Gehen gewährleistet sein muß. Prothesen-Kniegelenk. Diese Prothese muß Stabilität beim Gehen und Stehen gewährleisten sowie die Pendelbewegungen des distalen Prothesenschaftes während der Schwungphase steuern. 3.3.2.3 Stumpfbandagierung und deren Fehler Unmittelbar nach dem operativen Eingriff wird damit begonnen, den Amputationsstumpf richtig zu bandagieren, um ihn für die Prothese vorzubereiten. In der Regel wird der Stumpf während mehreren Monaten bandagiert, besonders auch in der Zeit, in der die Prothese nicht getragen wird. Ziel der Stumpfbandage • Eine postoperative Schwellung im unteren Stumpfbereich muß verhindert werden. Sie ist eine wesentliche Ursache für Wundheilungsstörungen.
Prothesen
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Abb. 3.3-2: Oberschenkelprothese Abb. 3.3-1: Unterschenkelprothese (Modularprothese) (Modularprothese) (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. OTTO BOCK G m b h & Co., Duderstadt)
• Das Stumpfvolumen wird verkleinert. Auch nach dem Abklingen der postoperativen Schwellung nimmt das Stumpfvolumen noch wesentlich ab. • Das Stumpfvolumen wird in der ersten Zeit nach der Prothesenversorgung konstant gehalten. Dies ist besonders wichtig, da nach der Anlage der Prothese eine Stumpfzunahme verhindert werden muß. Wickeltechniken. Durch das Bandagieren wird die Stabilität erreicht (Abb. 3.3-3,4):
des
Stumpfendes
— Weichteile am Ende des Unterschenkelstumpfes nach vorne bandagieren, — beim Oberschenkelstumpf Weichteile nach außen bandagieren, — Druckwirkung der Bandage soll am Stumpfende (distal) immer höher sein als proximal,
152
Grundversorgung
Abb. 3.3-3: Wickeln eines Oberschenkelstumpfes (nach M. Weiss)
— Touren der Bandage gehen beim Unterschenkelamputierten über d a s Knie, beim Oberschenkelamputierten über die Hüfte hinaus. — Wickeltouren so anlegen, daß sie die Kniefunktion (Beugung) nicht behindern. — Hüfte daher nicht in Beuge- und Abspreitzungsstellung bringen.
Prothesen
153
Abb. 3.3-4: Verbinden eines Unterschenkelstumpfes, a. Die Bandage beginnt an der Rückseite des Stumpfes und wird nach vorn gezogen, wobei die Nahtränder zusammengedrückt werden, b, c. Dann wird der Verband in Achterwicklungen fortgesetzt, wobei die Spannung ein wenig vermindert wird. d. Der Verband endet über dem Knie, wo er sicher befestigt wird (nach M. Weiss)
Material • Elastische Binden müssen bei der Elastizitätsprüfung auf Zug mindestens die doppelte Länge ausweisen. Dabei dürfen sich im Gewebe keine Unregelmäßigkeiten oder Stränge zeigen. Durch Waschen verlieren die Binden zunehmend an Elastizität und müssen durch neue ersetzt werden. • Die Größe der Binden richtet sich nach der Größe des Stumpfes (s. „Verbände", 4.6.2.1, S. 414). • Die Befestigung erfolgt mit Verbandklammern oder mit einem Netzverband. • Hauptfehler bei der Stumpfbandage. Der Prothesenträger soll die Prinzipien des Bandagierens selbst erlernen. Damit kann er die zwei häufigsten Fehler vermeiden: • Am oberen Ende der Bandage werden zirkuläre Touren zu fest angezogen, um ein Abrutschen zu verhindern. Auf diese Weise werden Stauungen am Stumpfende hervorgerufen. • Der Stumpf wird nur halbhoch bandagiert in der Meinung, dies genüge schon, um einen guten Halt im Prothesenschaft zu erreichen. Auf diese Weise entwickeln sich Randwülste im oberen Stumpfbereich, welche eine paßgerechte Stumpfform im oberen Stumpfbereich verhindern. Rutscht während des Tragens die Stumpfbandage ab, muß sie abgenommen und wieder neu angelegt werden. Es ist besonders darauf zu achten, daß in der
154
Grundversorgung
Kniekehle keine Bindenwülste entstehen (s. „Verbände"). Wenn die Bandage Schmerzen verursacht, muß diese abgenommen und der Amputationsstumpf neu bandagiert werden. 3.3.2.4 Allgemeine Stumpfpflege, postoperative Lagerung Allgemeine Stumpfpflege. Die Haut des Amputationsstumpfs wird im Prothesenschaft durch Reibung und Druck stark beansprucht. Im Schaft bildet sich infolge der Körperwärme und Schweißsekretion eine feuchte Kammer, wodurch ideale Bedingungen für ein schnelles Wachstum von Bakterien oder Pilzen an der Hautoberfläche begünstigt wird. Entzündungen sind die Folge. Daher sind täglich ein- bis zweimal durchzuführende Pflegemaßnahmen: • Waschen des Amputationsstumpfes mit einer milden oder alkalifreien Seife. • Massieren der Haut mit einem Frottierhandtuch oder einer weichen Bürste. Dadurch wird die verspannte Muskulatur gelockert, die Blut- und Lymphzirkulation gefördert, die lokale Hautdurchblutung verbessert und eine mechanische Reinigung und Abhärtung der Haut bewirkt. • Eincremen der Haut mit Hirschtalgstift, -Creme oder Olivenöl. Bei dieser Maßnahme wird eine Hautgerbung erreicht, so daß eine Abhärtung der Haut am Stumpfende erfolgen kann. Diese Maßnahme kann bei allen Prothesenträgern angewendet werden. Besonderheiten der Lagerung in der postoperativen Phase Der elastisch gewickelte Stumpf soll mögichst in Streckstellung gelagert werden, um eine Beugekontraktur zu vermeiden. Bei Oberschenkelstümpfen wird eine Abspreizhaltung verhindert, wenn von außen seitlich ein Sandsack angelegt wird. Das Unterlegen von Kissen oder Sandsack unter den Amputationsstumpf oder die Hüfte ist kontraindiziert. Dies würde eine Beugekontraktur verstärken. Der Amputationsstumpf soll nicht aus dem Bett hängen, um ein Stumpfödem vermeiden.
zu
Beim Sitzen im Rollstuhl wird der Amputationsstumpf in Streckstellung gelagert. 3.3.2.5 Stumpfprobleme Stumpfprobleme, die man erkennen sollte, sind: Ödem, Dermatitis, Blauverfärbung, Druckstellen, Infektionen.
Randknoten,
Stumpfodeme können allgemeine, lokale und äußere Ursachen haben: — allgemeine (generalisierte) Ursachen sind z. B. Herz/-Kreislaufinsuffizienz oder Eiweiß- und Elektrolytstörungen, — lokale Ursachen sind ζ. B. Entzündungen (durch Fremdmaterial, Nekrosen, Abschnürungen und Eiter), Abflußbehinderungen (durch Varitzen, Thrombosen, Narben und falsche Lagerung), — äußere Ursachen sind z. b. Narben, äußere Kompression und Strangulation.
Prothesen
155
Neben den bekannten Zeichen eines Ödems kann man eine Verhärtung des Gewebes im Amputationsstumpf, eine bläulich dunkle Hautverfärbung und ein Aufbrechen der Haut feststellen. Man behandelt hier mit korrekter Wickelbandage und Lagerung des Amputationsstumpfes. Eine Kontaktdermatitis entsteht durch Kontakt der Haut mit chemischen Produkten wie ζ. B. Hautpflegemitteln, oder Materialien der Prothesen. Prothesenrandknoten entstehen durch Verstopfung der Hautporen. Diese entleeren sich meist mit einer eitrigen trüben Flüssigkeit. Maßnahme: — Verbesserung der Stumpfeinbettung durch den Orthopädietechniker. — Einlegen einer dünnen Plastikfolie zwischen Prothesenschaft und Haut. — Bei oberflächlichen Randknoten kann man die Haut desinfizieren und einen hautfreundlichen Pflasterverband anlegen.
Ursachen der Blauverfärbung des Stumpfendes sind ein fehlender Kontakt des Stumpfendes mit der Prothesenschaftwand sowie eine Abschnürung des Stumpfendes durch den Prothesenschaft oberhalb des Stumpfendes. Als Folge tritt eine Stauung des venösen Blutes am Stumpfende auf. Tritt eine Blauverfärbung plötzlich auf, während sonst der Prothesenschaft immer gut paßte, kann sie durch eine momentane Schwellung des Amputationsstumpfes erklärt werden. Als Maßnahme bietet sich eine Stumpfbandage vor dem Anlegen der Prothese an. Die Bandagierung bleibt solange angelegt, bis die Blauverfärbung nicht mehr zu sehen ist. Druckstellen sind gerötete Stellen, die wie umschriebene Hautentzündungen aussehen. Sie treten auf, wenn durch Veränderung des Stumpfvolumens die ideale Prothesenschaftpaßform nicht mehr gegeben ist. Stumpfstrümpfe können beginnende Druckstellen ausgleichen. Ursachen von Follikulitis, Pilzinfektionen sind mangelhafte Hygiene von Prothesenschaft und Amputationsstumpf sowie starkes Schwitzen durch Wärme und Feuchtigkeit. Vorbeugend ist eine gute Stumpfpflege (s. Abschn. 3.3.2.4). 3.3.2.6 Schaftpflege Auch der Prothesenschaft muß durch tägliches Reinigen von Schweißrückständen und anderen Verunreinigungen befreit werden. Schäfte mit harter Wand (Holz oder Kunststoff) können jeden Abend mit Waschlappen und milder Seife ausgerieben werden. Anschließend sind Seifenrückstände zuverlässig zu entfernen und der Schaft zu trocknen.
156
Grundversorgung
Gelegentlich kann der Prothesenschaft mit einer Desinfektionslösung oder mit 70%iger Alkohollösung ausgewaschen werden. Schäfte mit weicher Wand (Kunststoff oder Leder) müssen über Nacht trocknen können (evgl. Fön benutzen). Die Fönbehandlung darf jedoch nicht oft angewendet werden, da das Material spröde wird und aufbrechen kann oder hart und weniger geschmeidig wird. Handelt es sich um Innenschäfte, müssen diese aus der Prothese herausgenommen werden. Die weichen Kunststoffschäfte können mit milder Seife gewaschen werden. Stumpfstriimpfe können in der Waschmaschine gewaschen werden.
3.3.3
Augenprothese
Die Augenprothese kann am Tag und in der Nacht getragen werden. Beim Einsetzen der Prothese ist zu beachten: — zunächst wird die Prothese mit Wasser angefeuchtet. — Der Patient blickt dann nach unten, das Oberlid wird mit dem Mittelfinger hochgezogen. — Die Prothese wird zwischen Daumen und Zeigefinger gefaßt und dann in die obere Übergangsfalte eingelegt. — Der Patient blickt nach oben, und das Unterlied wird mit dem Mittelfinger nach unten gezogen. Die Prothese wird in die untere Übergangsfalte piaziert. Beim Herausnehmen der Prothese ist zu beachten: — Patient blickt nach oben, und das Unterlid wird nach unten gezogen (s. o.) — Ein Plastikstäbchen wird von der Schläfenseite her unter den Rand der Prothese eingeschoben und diese mit einer Hebelbewegung herausgedrückt. Beachte, daß vor dem Einsetzen bzw. Herausnehmen der Prothese eine weiche Unterlage unter das Auge gelegt werden muß, damit die Prothese beim Abrutschen nicht beschädigt wird (s. Haftungsrecht) und Beschädigungen der Prothese zu Reizungen des Bindehautsackes führen können. Aufbewahrung. Die Prothese kann über Nacht in ein spezielles Augenprothesenaufbewahrungsschälchen, trocken oder mit einer Reinigungslösung aufgefüllt, gelegt werden. Pflege. Die Augenprothese wird täglich mit lauwarmen Wasser oder mit einer desinfizierenden Speziallösung gereinigt und mit einem weichen Tuch abgetrocknet. Die Augenhöhle wird nach dem Herausnehmen der Augenprothese mit einer mit Aqua dest. getränkten Kompresse (darf nicht fussein) ausgewischt. M a n kann, damit die Augenhöhle nicht austrocknet, einige Tropfen Pflegeöl auf die Kompresse geben.
Prothesen
157
3.3.4 Kontaktlinsen Kontaktlinsen dienen der Korrektur von Fehlsichtigkeit, der Optimierung des Sehvermögens und als kosmetische Korrektur. Vor dem Umgang mit Kontaktlinsen werden die Hände immer gründlich gereinigt. Dadurch soll vermieden werden, daß an den Fingern haftende Stoffe, Schmutz oder Krankheitserreger ins Auge gelangen. Seifenreste müssen gut abgespült werden, da diese Reizungen an der Netzhaut hervorrufen können. Umgang mit Kontaktlinsen erfordert folgendes Material: Kontaktlinsenbehälter, Spiegel, Kontaktlinsenflüssigkeit. 3.3.4.1 Entnahme und Aufsetzen Die Entnahme der Kontaktlinse aus dem Aufbewahrungsbehälter (Abb. 3.3-5). Aufsetzen. Zuerst wird eine Kontaktlinse für das sehschwächere Auge aus dem Behälter genommen (Verbesserung des räumlichen Sehens) und mit der empfohlenen Lösung abgespült. Danach wird sie auf die Fingerkuppe eines Zeigefingers gelegt. Danach nochmalige Überprüfung, für welches Auge die Kontaktlinse bestimmt ist. Anmerkung: Bei der phototechnischen Kennzeichnung muß die entsprechende Linse für das entsprechende Auge von innen lesbar sein.
Beim Einsetzen den Kopf über den Spiegel beugen. Mit dem Mittelfinger der Hand, die die Kontaktlinse hält, wird das Unterlid nach unten, mit dem Zeigefinger der anderen Hand wird das Oberlid nach oben gezogen. Die Kontaktlinse leicht mit dem Zeigefinger zentriert auf die Hornhaut aufsetzen. Anmerkung: Um die Linse im Auge richtig zu zentrieren, werden bei geschlossenem Auge Blickbewegungen durchgeführt.
Beim Öffnen der Augen ist die Kontaktlinse auf der Hornhaut richtig piaziert.
a
b
c
Abb. 3.3-5: Aufsetzen von Kontaktlinsen, a. Linse aus dem Behälter nehmen, b. Die Kontaktlinse aufsetzen. Mit der 2. Linse ebenso verfahren, c. Den Kontaktlinsenbehälter mit warmem Leitungswasser ausspülen. (Mit freundlicher Genehmigung der CIBA Vision Vertriebs-GmbH, Groß-Ostheim)
158
3.3.4.2
Grundversorgung
Herausnehmen
Methode 1: Zum Auffangen der Kontaktlinse wird die geöffnete Hand unter das Auge gehalten, das weit geöffnet wird. Zeigefinger am äußeren Lidwinkel ansetzen und in Richtung Ohr ziehen. Mit dem Auge blinzeln, die Kontaktlinse fallt in die geöffnete Hand. Methode 2: Die Zeigefinger ergreifen jeweils die Lidkante des Ober- und Unterlides und ziehen sie etwas auseinander. Mit dem Zeigefinger wird das Oberlid (unter leichtem Druck auf die Lidkante) nach unten geschoben. Die Kontaktlinse löst sich, wenn gleichzeitig Druck auf das Unterlid ausgeübt wird. 3.3.4.3 Pflege, Gegenanzeige für das Tragen Pflege. Problemloses Tragen von Kontaktlinsen erfordert regelmäßige Reinigung und Desinfektion der empfindlichen Linsen. Rückstände aus dem Tränenfilm und anhaftende Fremdpartikel, ζ. B. von Kosmetikprodukten, müssen von der Linsenoberfläche entfernt werden. • Nach der Abnahme wird die Kontaktlinse auf die Handfläche gelegt. Einige Tropfen einer empfohlenen Reinigungslösung werden auf die Handinnenfläche aufgetragen. Die Kontaktlinsen werden nun mit den Fingerkuppen ca. 30 Sekunden gründlich auf beiden Seiten abgerieben. • Vor dem Aufsetzen werden die Kontaktlinsen mit einer empfohlenen Aufbewahrungs- bzw. Abspüllösung gründlich von beiden Seiten abgespült und bei guten Lichtverhältnissen auf absolute Sauberkeit kontrolliert. Schmutzpartikel und Reinigungsreste dürfen auf gar keinen Fall ins Auge kommen. Gebrauchte Lösungen werden entfernt. Um eine optimale Pflege der Kontaktlinsen, den sicheren Gebrauch und die Wirksamkeit der Pflegemittel zu garantieren, muß nach jeder Anwendung die benutzte Lösung erneuert werden. • Kontaktlinsenbehälter werden mit warmem Wasser gründlich ausgespült. Zur Aufbewahrung werden die sauberen Kontaktlinsen in den ebenfalls gereinigten Linsenbehälter gelegt (rechte Linse in das Fach „R", linke Linse in das Fach „L"). Diese Kammern werden nun bis zur Markierung mit einer Aufbewahrungslösung aufgefüllt (Abb. 3.3-6). Gegenanzeigen für das Tragen von Kontaktlinsen sind: • Entzündungen und Infektionen des Auges und Liddefekte, • Veränderte Hornhautsensibilität und mangelnder Tränenfluß, • Allgemeinerkrankungen, soweit sie mit geschwächter Abwehrlage verbunden sind.
Prothesen
a
b
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c
Abb. 3.3-6: Pflege der Linse, a. Linse mit der Aufbewahrungs- bzw. Abspüllösung von beiden Seiten abspülen, b. Zum Aufbewahren saubere Kontaktlinsen in den Linsenbehälter legen, c. Kammer mit Aufbewahrungs- bzw. Abspüllösung füllen, bis die Linse untertaucht, Kammer verschließen. (Mit freundlicher Genehmigung der CIBA Vision Vertriebs-GmbH, Groß-Ostheim)
3.3.5 Brille Tragekomfort. Das Brillengestell muß gut auf dem Nasenrücken sitzen und darf bei der Kopfbewegung nicht verrutschen. Der Brillenbügel darf hinter den Ohren nicht drücken. Pflegehinweise. Die Brillengläser sollen mindestens einmal täglich mit einer Seifenlösung unter fließendem Wasser abgespült und anschließend mit einem weichen Tuch abgetrocknet werden. Das Brillenputztuch ist ein Papiervlies, das mit einer desinfizierenden Flüssigkeit getränkt ist. Aufbewahrung. Die Brille muß möglichst in einem stabilen staubfreien Brillenetui aufbewahrt werden. Allgemeine Hinweise. Das Pflegepersonal muß darauf achten, daß die Brille des Brillenträgers in Reichweite liegt.
3.3.6 Hörgeräte und Hörhilfen 3.3.6.1 Hinter-dem-Ohr-Gerät (HdO-Gerät) HdO-Geräte sind die meistverwendetsten Hörgeräte (ca. 80%). Diese Geräte sind der Ohrmuschelform nachempfunden und werden mit einem Winkelstück bzw. Tragehaken hinter dem Ohr befestigt (Abb. 3.3-7). Das HdO-Gerät und ein Ohrpaßstück (Otoplastik) sind durch einen Schallschlauch aus durchsichtigem Plastik miteinander verbunden. Ein individuelles Ohrpaßstück wird maßgerecht angefertigt. Dieses dichtet das Ohr gegen ein unbeabsichtigtes Entweichen des Schalles aus dem Ohr ab und verhindert somit das Rückkopplungspfeifen. Je nach technischer Ausstattung, Hörverlust und Schallverstärkung fallt das HdOGerät größer oder kleiner aus.
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Grundversorgung
Abb. 3.3-7: Hörgeräte. Vorn links: HdO-Geräte, vorn Mitte: IdO-Geräte, Bildmitte: ein Kastengerät, hinten: 2 Knochenleitungshörbrillen (Abb. 1—47, S. 94, aus „ H N O . . . " )
Es wiegt nur wenige Gramm, bietet viel Bedienungskomfort und läßt sich durch kleine Steller an die persönliche Hörfähigkeit anpassen. Das Mikrophon der HdO-Geräte befindet sich dicht oberhalb der Ohrmuschel, während der verstärkte Schall über Winkelstück, Schallschlauch und Ohrpaßstück austritt. 3.3.6.2
I m - O h r - G e r ä t (IO-Gerät)
IO-Geräte sind in den letzten Jahren immer weiter entwickelt worden. Sie werden vor allem bei jüngeren Patienten verwendet. IO-Geräte finden in der inneren Ohrmuschel (Concha) oder im Gehörgang Platz, was ein entscheidender Vorteil bedeutet. Durch ihre Nähe zum Trommelfell werden Frequenzen oberhalb 4 kHz wesentlich besser und natürlicher übertragen. Außerdem bieten sie einen festeren Halt im Ohr und werden von außen kaum wahrgenommen. Die Anfertigung des Gehäuses wird auf den Gehörgang des Prothesenträgers maßgefertigt. Die Wirkung der Ohrmuschel bleibt im Gegensatz zum HdO-Gerät erhalten. 3.3.6.3
Hörbrille
Die Hörbrille ist eine Hörgeräte-Bauform, die mit einer Sehhilfe, d e r Brille, kombiniert ist.
Prothesen
161
In die Brillenbügel werden 1 oder 2 Hörgeräte eingebaut, die über einen kleinen Schlauch (aus Kunststoff) und einer Otoplastik mit dem jeweiligen Ohr verbunden sind. Die Schallaufnahme erfolgt wie beim HdO-Gerät oberhalb der Ohrmuschel. Brille und Hörgerät mit Ohrpaßstück müssen jedoch immer zusammen abgenommen werden. Mit einem kleinen Adapter lassen sich auch HdO-Geräte an Brillenbügeln, auch an modernen schmalen Metall- oder Kunststoffbügeln, befestigen. 3.3.6.4 Einsetzen des Ohrpaßstückes und Fehlermöglichkeiten Das HdO-Gerät muß hinter dem Ohr angehängt werden (Abb. 3.3-8). Dabei wird das Ohrpaßstück (Otoplastik) mit Daumen und Zeigefiner angefaßt. Der Gehörgangszapfen zeigt in Richtung Kopf und wird schräg von hinten nach vorn in die Ohrmuschel eingeführt. Durch leichte Rückwärtsdrehung wird der zweite abschließende Zapfen in die Fossafalte eingeführt. Durch vorsichtigen Druck am unteren Teil der Otoplastik kommt diese in der Ohrmuschel zu liegen. Sie muß die Ohrmuschel vollständig ausfüllen und den äußeren Gehörgang abschließen. Bei unkorrekter Lage kann dies zum Rückkopplungspfeifen im Ohr führen. Fehler beim Einsetzen sind: • Das Ohrpaßstück wird in das falsche Ohr eingesetzt oder es sitzt nicht vollständig in der Ohrmuschel. • Der obere Zipfel des Paßstückes liegt auf dem vorderen Schenkel des Ohrmuschel-Randwulstes auf, was zu Druckstellen führen kann.
a
b
Abb. 3.3.-8: Einsetzen eines Ohrpaßstückes. a. Aufliegen des oberen Zipfels des Ohrpaßstückes auf dem vorderen Schenkel des Ohrmuschelrandwulstes. b. Korrekt eingesetztes Ohrpaßstück
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Grundversorgung
3.3.6.5 Fehlerhafte Handhabung • Hörgerät pfeift im Ohr. Mögliche Ursachen sind: — falsches Einsetzen der Otoplastik oder Ohrschmalzpfropf (wird nur vom Arzt entfernt), — Otoplastik ist zu klein (aufgrund physiologischer Veränderungen, was sich besonders bei Kieferbewegungen ζ. B. beim Kauen bemerkbar macht). Deshalb sollte der Prothesenträger ca. alle 2 — 3 Jahre eine neue Otoplastik angepaßt und nach ca. 5 — 6 Jahren ein neues Hörgerät bekommen. — Kunststoffverbindungsschlauch ist zu hart (führt zu Schallrückkopplungspfeifen). • Prothesenträger hört nichts. Mögliche Ursachen sind — Otoplastik ist durch Ohrschmalz verstopft oder Batterie des Hörgerätes ist falsch eingelegt, — Hörwinkel bzw. Winkelstück mit Mikrophon ist durch Staubablagerungen verschlossen. Das Mikrophon kann daher den Schall nicht weiterleiten. — Das Gerät ist defekt. 3.3.6.6 Bedienungsanleitung für Hörgeräte Einlegen der Batterie. Es ist darauf zu achten, daß die Plus- und Minuspole richtig piaziert werden. Schalter am Hörgerät. Steht das Hörgerät auf „M" (meist Mittelstellung), so ist ein Hören über Mikrophon möglich. Die Stellung ,,T' eignet sich besonders zum telefonieren und ζ. B. zum Hören über Induktionsanlagen (in Kirchen, Theater usw.). Dies ermöglicht ein Hören ohne störende Nebengeräusche. Auf der „O"Stellung ist das Gerät ausgeschaltet. Lautstärkeregler. Mittels eines Drehrädchens am Hörgerät kann die Lautstärke geregelt werden (nach oben lauter, nach unten leiser). Wahl-Schalter. Einige Geräte besitzen statt kombiniertem MTO-Schalter einen Wahl-Schalter (MT). Das Batteriefach dient dabei als Ein- und Ausschalter, indem sich das Gerät durch Ausrasten bzw. Öffnen ausschaltet und durch Einrasten bzw. Schließen einschaltet. Funktionsprüfung des Hörgerätes. Das Gerät auf Stellung „M" und maximale Lautstärke stellen und dann in die hohle Hand legen. Das Hörgerät gibt bei ausreichender Leistung einen mehr oder weniger gut hörbaren Pfeifton von sich. Ein Ablaufdiagramm zum Überprüfen der Funktion eines Hörgerätes gibt Abb. 3.3-9 wieder. Umgang mit Hörgeräten. Das Hörgerät muß geschützt werden vor Stoß, Fall, Nässe und Feuchtigkeit, direkter, praller Hitzeeinwirkung, Bestrahlungen im medizinischen Bereich (ζ. B. nicht in den Bestrahlungsraum nehmen). Bei Nichtge-
Prothesen
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Abb. 3.3-9: Ablaufdiagramm: Überprüfen der Funktion eines Hörgerätes (Deutsche Krankenpflegezeitschrift 7/1990)
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Grundversorgung
brauch sind sie auszuschalten. Bleiben sie längere Zeit ausgeschaltet, ist die Batterie zu entfernen. Pflege des Ohrpaßstückes. Das Wandern (Migration) des Ohrschmalzes aus dem Gehörgang ist durch das Tragen eines Hörgerätes beeinträchtigt. Dadurch kann sich das Ohrschmalz ansammeln und den Austritt des Schalls aus der Bohrung der Otoplastik behindern oder sogar verstopfen. Eine geringe Menge kann bereits zur verminderten Schallaufnahme führen. Vor der Reinigung der Otoplastik muß diese vom Hörgerät entfernt werden, da keine Feuchtigkeit in das Hörgerät eindringen darf (rechte und linke Seite nicht verwechseln). Die Otoplastik wird samt Schallschlauch vom Hörwinkel des Hörgerätes abgezogen. Ist der bewegliche Schalleitungsschlauch im Laufe der Zeit hart geworden und läßt sich nicht vom Hörwinkel ablösen, sollte ein HörgeräteAkustiker aufgesucht werden. Es besteht die Gefahr, daß der Hörwinkel am Hörpunkt abbricht. Ist die Otoplastik mit Ohrschmalz verstopft, kann man diesen mit einem speziellen Reinigungsmittel lösen. Die Otoplastik kann dann über Nacht ζ. B. in einen mit einem Reinigungslöser gefüllten Zahnprothesenbecher eingelegt werden. Die Reinigungslösung ist aus hygienischen Gründen nur einmal zu verwenden. Die Otoplastik wird nach dem Reinigen mit einer Pinzette aus der Reinigungslösung entnommen. Ein normales Abtrocknen oder Durchblasen der Otoplastik reicht nicht aus, da immer noch Wasserrückstände in den Bohrungen verbleiben können. Folge: Das Hörgerät wird naß und der Schallweg würde unterbrochen. Im Akustik-Fachhandel kann man einen Schallschlauchpuster kaufen. Damit können alle Teile der Otoplastik sorgfältig durchgepustet werden. Anschließend wird der Schallschlauch mit der Otoplastik wieder kräftig auf den Hörwinkel des Hörgerätes geschoben.
3.4 Ernähren Martin
Göbel
Ernährung bedeutet für jedes Lebewesen die Aufnahme von Stoffen in den Organismus, welche für die Erhaltung des Lebens, für Wachstum, Bewegung und Fortpflanzung notwendig sind.
3.4.1 Zusammensetzung der Nahrung Die vom Menschen benötigten Grundnährstoffe setzen sich zusammen aus energieliefernden und nicht energiebereitstellenden Nährstoffen. 3.4.1.1
Energieliefernde N ä h r s t o f f e
Hierzu gehören Eiweiße, Kohlenhydrate und Fette. • Eiweiße (Proteine): Bildung von Hormonen und Enzymen, Wasserbindung und zum -transport, werden als Gerüst- oder Stützsubstanz, für den Betriebsstoffwechsel und als Puffersubstanz im Blut benötigt. • Kohlenhydrate: liefern Energie, werden in Form von Glykogen gespeichert und dienen als Gerüstsubstanz sowie als Bestandteile bei Proteinen und Lipiden. • Fette: liefern besonders viel Energie und haben Funktion als Speicher- und Baufett. 3.4.1.2 Nicht energieliefernde N ä h r s t o f f e Zu diesen Nährstoffen gehören Vitamine, Mineralien und Spurenelemente. • Vitamine üben eine ganze Reihe von Schutzfunktionen im Organismus aus; bei Vitaminmangel kann es zu Krankheitssymptomen kommen (z. B. Skorbut bei Vitamin C-, perniziöse Anämie bei Vitamin B 12 -Mangel). • Mineralien und Spurenelemente: werden für elektrochemische sowie hormonale Funktionen benötigt. Sie sind ebenfalls lebensnotwendig. Ferner benötigt der Mensch Wasser sowie Salze; diese Stoffe sind unerläßlich für Osmose und Diffusion, und dienen als Transport- und Lösungsmittel. Die Ernährung des Menschen hat nicht nur eine lebenserhaltende, sondern auch eine kulturelle Bedeutung·. Die Nahrungsaufnahme bestimmt den Tagesablauf. Sie ist ein Zeichen der Gemeinschaft und dient zur Kommunikation bzw. als Kommunikationshilfe. Dabei ist zu beachten, daß durch das Überangebot an Nahrungs- und Genußmitteln in der westlichen Industriegesellschaft Zivilisationskrankheiten signifikant angestiegen sind, deren Folgen zu den häufigsten Todesursachen zählen.
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Grundversorgung
3.4.2 Gesunde Ernährung Eine gesunde Ernährung bedeutet eine ausreichende, jedoch nicht übermäßige Zufuhr von Nahrungsstoffen, wobei auf folgendes zu achten ist: • richtiges Verhältnis der Grundnahrungsstoffe: 55% Kohlenhydrate, 30% Fett, 15% Eiweiße. • notwendige Menge an Nahrungsstoffen (Gesamtumsatz). Sie ergibt sich aus der Summe von Grundumsatz (Energiemenge, die zur Erhaltung der Organfunktionen notwendig ist) und Energieumsatz (Energiemenge pro Zeiteinheit bei bestimmter Arbeitsleistung). Faustregel für den Gesamtumsatz: 30 — 40 kcal ( = ca. 125 bis 167 kJ) pro kg Körpergewicht bei „durchschnittlicher" körperlicher Betätigung in 24 Stunden. • notwendige Menge an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen: Eine gemischte Kost aus 55% Kohlenhydraten, 30% Fett und 15% Eiweiß enthält in der Regel alle vom Körper benötigten Vitamine, Mineralien und Spurenelemente. Ein Drittel der täglichen Nahrung sollte aus roh zubereiteter Pflanzenkost bestehen. Hierdurch werden dem Körper auch die zur Verdauung benötigten Ballaststoffe zugeführt. • gleichmäßige Verteilung der Nahrung. Frühstück: ca. 30% —35%, Mittagessen: ca. 4 0 % - 4 5 % , Abendessen: ca. 2 0 % - 3 0 % der Nahrungsstoffe. Grundsätzlich ist eine Verteilung auf 5 — 6 Mahlzeiten am Tage anzustreben (Tab. 3.4-1). • auf die Art der Nahrungsaufnahme: langsam essen, gründlich kauen, ausreichende Bewegung nach dem Essen. • besondere Begleitumstände: körperliche Veränderungen (Schwangerschaft), Krankheiten, Gewohnheiten, Tradition, Kultur, Religion. • eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr: Diese sollte 1,5 1/Tag betragen (Einschränkungen oder Mehrbedarf ergibt sich aus der konkreten Situation, ζ. B. weniger bei schwerer Herzkrankheit, mehr bei Fieber). Tab. 3.4-1: Vorschläge für die Aufteilung des Tagesbedarfes mit und ohne Zwischenmahlzeit (Wirths, Max-Planck-Institut, Ernährungsphysiologie, Dortmund) Leichtarbeiter 2600 kcal mit Zwischenmahlzeit
Frühstück 650 kcal
ohne Zwischenmahlzeit
Frühstück 820 kcal
Zwischenmahlzeit 260 kcal
Mittagessen 780 kcal Mittagessen 960 kcal
Zwischenmahlzeit 260 kcal
Abendessen 650 kcal Abendessen 820 kcal
Ernähren
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• das Alter: bei Kleinkindern und Kindern verursachen Wachstum und Entwicklung eine andere Zusammensetzung der Grundnahrungsstoffe (Eiweiß 25%, Fett 15%, Kohlenhydrate 60%). Beim alten Menschen wirken sich ein verringerter Grundumsatz sowie eine Einschränkung an Bewegung und körperlicher Arbei bei oftmals gleichzeitigem Mangel an Eiweiß aus, daher Eiweiß 20%, Fett 25%, Kohlenhydrate 55%. • sachgerechten Umgang mit den Nahrungsmitteln: — Vor jedem Umgang mit Nahrungsmitteln, werden die Hände gründlich gereinigt, um eine Kontamination zu vermeiden. — Nahrungsmittel werden verworfen, wenn das Aussehen auffallend verändert ist, das Verfallsdatum überschritten ist, die Verpackungen beschädigt oder Deckel gewölbt sind (ζ. B. Joghurt). — Warme Speisen und Getränke werden sofort verteilt, ein neuerliches Aufwärmen führt zu einem Verlust an Nährstoffen und Geschmack. — Aufzubewahrende Nahrungsmittel müssen vor Kontamination, Beschädigung und Austrocknung (Folie) geschützt werden.
3.4.3 Unangepaßte exzessive Ernährung Unter unangepaßter exzessiver Ernährung versteht man eine zu reichhaltige, einseitige und damit unausgewogene, nicht den Erfordernissen angepaßte Zufuhr von Nahrungsmittel sowie den übermäßigen Gebrauch von Genußmittel. 3.4.3.1
Folgen
Die Folgen einer unangepaßten Ernährungsart sind mannigfaltig und treten meist erst nach Monaten bis Jahren auf. Sie äußern sich in organischen, systemischen und psychischen Störungen. Exzessive Ernährung geht einher mit einer Minderung von Lebensqualität und Lebenserwartung. Durch Aufklärung und Information kann das Pflegepersonal dazu beitragen, einen weiteren Anstieg der Zivilisationskrankheiten zu vermeiden. 3.4.3.2 Eiweiß Chronischer Mangel an Eiweiß löst Hungerödeme, Stoffwechselstörungen, Abnahme der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit, allgemeine Abwehrschwäche aus. Zu hohe Eiweißzufuhr kann zu Überernährung führen und ζ. B. eine Gicht (durch übermäßige Purinzufuhr) verursachen.
168
3.4.3.3
Grundversorgung
Kohlenhydrate
Mangel an Kohlenhydrate kann den Säure-Basen-Haushalt verschieben und schwere Stoffwechselstörungen bedingen. Zu hohe Zufuhr von Kohlenhydraten führt zu Adipositas mit den Folgeschädigungen, erhöhter Vitamin-Bi-Bedarf, Zahnkaries (vor allem bei übermäßigem Genuß von Zucker). 3.4.3.5
Fett
Zu geringe Fettzufuhr kann zu Störungen des Stoffwechsels, der Hautfunktion und der Fortpflanzungsfähigkeit führen und löst u. a. Vitaminmangelerscheinungen (fettlösliche Vitamine: A, D, Ε, K) aus. Zu hohe Fettzufuhr ist die Hauptursache für die Überernährung. 3.4.3.6 Vitamine, Mineralstoffe Zu geringe Vitaminzufuhr kann diese Folgen haben: Nachtblindheit (Vit. A), Rachitis (Vit. D 3 ), Skorbut (Vit. C), Beriberi (Vit. Β,) sowie Pellagra (Vit. B); Herabsetzung der Abwehrkräfte gegen Infektionen; verminderte Leistungsfähigkeit; Verschlechterung des Allgemeinbefindens. Zu hohe Vitaminzufuhr bei wasserlöslichen Vitaminen (B, C) stellen keine Gefahr für den Organismus dar, da sie bei einem Überschuß mit dem Harn ausgeschieden werden. Durch fettlösliche Vitamine (A, D, E, K) kann es zu einer Schädigung der Nieren kommen (D-Hypervitaminose führt zu einem Anstieg des Blut-Kalziums, daraus resultiert die Verkalkung der Nieren), durch eine A-Hypervitaminose können Leberschädigungen auftreten. Zu geringe Mineralstoffzufuhr führt zu Störungen des Säure-Basen-Haushalts, der Muskel- und Nervenzellenerregbarkeit, sowie Wachstums- und Entwicklungsstörungen. Zu hohe Mineralstoffzufuhr (s. o.).
3.4.4 Ernährungszustand Bei der Beurteilung des Ernährungszustandes müssen folgende Kriterien herangezogen werden: • Körpergröße: ein großer Mensch wiegt mehr als ein kleiner, • Körperbau: durch schwere körperliche Arbeit wird die Muskelmasse vergrößert, • Alter: alte Menschen nehmen durch Wasserverlust ab, • Ernährung: eine veränderte Zusammensetzung der Nahrung verändert auch das Gewicht, • Geschlecht: Frauen haben normalerweise einen schwächeren Knochen- und Muskelbau.
Ernähren
3.4.4.1
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Idealgewicht
Die am häufigsten angewandte Methode, den Ernährungszustand — und damit das Körpergewicht — festzustellen, geht auf eine Formel nach „Broca" zurück: Normalgewicht = Größe in cm — (minus) 100. Das Idealgewicht beim Mann ist nochmals um 10%, bei der Frau nochmals um 15% geringer (bei sehr großen und sehr kleinen Menschen ist die Berechnung ungeeignet). Beispiel: bei einer Größe von 180 cm beträgt das Normalgewicht 80 kg. Das Idealgewicht beim Mann verringert sich um 10% also um 8 kg auf 72 kg, bei der Frau 15% also 12 kg auf 68 kg. In jüngster Zeit ist die Diskussion um das „Idealgewicht" vor allem in den USA neu entflammt, wo man von dieser „Idealvorstellung" anscheinend gerne Abstand nehmen möchte.
3.4.4.2 Unter- und Übergewicht Abweichungen vom Idealgewicht nach unten bezeichnet man als Untergewicht, vom Normalgewicht nach oben als Übergewicht. Bei einem Untergewicht kann man beobachten: tiefliegende Augen, feingliedrige Finger, stärker hervortretende Knochen im Gesicht, am Becken, an der Wirbelsäule, den Rippen. Vermißt werden Fettpolster an typischen Körperstellen. Die Extremitäten sind dünn. Bei einem Übergewicht kann man beobachten: rundes Gesicht, der Bauchumfang ist größer als der Brustumfang, überlappende Fettschürzen am Bauch und unklare Konturen der Gelenke (Ellenbogen, Handgelenk, Knie, Sprunggelenk). Die Extremitäten haben einen großen Umfang. Organische Veränderungen, soziale Bedingungen und psychischer Streß sind Ursachen für Abweichungen vom Normalgewicht. Sie wirken sich unmittelbar auf den Appetit aus, der von weiteren Faktoren beeinflußt wird: Sinneseindrücke, Bewegungsabläufe des Magens und Sekretion der Drüsen (s. Physiologie des Verdauungstraktes), Blutzuckerabfall, gewohnte Essenszeiten. Um das Körpergewicht festzustellen bzw. regelmäßig zu kontrollieren, müssen stets die gleichen Bedingungen geschaffen werden: — — — —
wird immer die gleiche Waage benutzt, sie wird austariert, wird immer zur gleichen Tageszeit gewogen: üblicherweise morgens nüchtern, entleert der Patient unmittelbar vorher die Harnblase, ggf. auch den Darm, trägt der Patient möglichst wenig Kleidung (nur Nachthemd oder Schlafanzug).
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Grundversorgung
3.4.5 Ernährungsstörungen 3.4.5.1 Störungen der Nahrungsaufnahme Wir unterscheiden Störungen von Nahrungsaufnahme, -transport, Resorption und Verdauung. Nahrungsaufnahme und Verdauung beginnt am Anfang des Verdauungssystems, in der Mundhöhle. Veränderungen dort führen daher zwangsläufig zu Störungen der Nahrungsaufnahme und der Verdauung. Die Zunge ist ein äußerst beweglicher Muskel mit vielfältigen Funktionen beim Sprechen, Mischen und Schlucken der Nahrung, beim Reinigen der Mundhöhle. Sie ist „sauber", besitzt eine mattrosa Farbe, fühlt sich samtig weich an und glänzt feucht. Bei geschlossenem Mund füllt sie nahezu die gesamte Mundhöhle bis auf einen kleinen Spalt aus. Erkrankungen der Atemwege, des Verdauungstraktes, des Blutes, der harnableitenden Organe sowie der Hypophyse führen gelegentlich zu deutlich sichtbaren Veränderungen der Zunge, ζ. B. Beläge, Rötung. Zähne. Bereits bei jungen Erwachsenen, noch häufiger im fortgeschrittenen Alter, findet man Zahnkronen, Stiftzähne, Teil- und Vollprothesen (Abschn. 3.3, S. 148). Ein nicht unerheblicher Anteil der älteren Patienten besitzt einerseits nur noch wenige eigene Zähne, verfügt andererseits jedoch nicht über einen geeigneten Zahnersatz, was bei der Nahrungsaufnahme zu Einschränkungen führen kann. Hier ist nicht etwa eine bestimmte Diät anzustreben, sondern die normale Kost muß — nach Absprache mit dem Patienten — in veränderter Konsistenz (ζ. B. passiert) angereicht werden. Mundschleimhaut. Die mit einer Schleimhaut ausgekleidete Mundhöhle besitzt eine rosarote Farbe und erscheint durch die Schleimproduktion stets feucht. Erkrankungen der Atemwege und des Verdauungssystems führen besonders häufig zu Veränderungen der Mundhöhle ähnlich wie bei der Zunge. Schmerzhafte Entzündungen, nicht selten mit Blutungen der Schleimhaut einhergehend, findet man häufig als unerwünschte Begleiterscheinung einer Zytostatikatherapie (Abschn. 16). Besonders mit Schmerzen einhergehende Veränderungen in der Mundhöhle können dazu führen, daß der Patient nur flüssige oder breiige Kost zu sich nehmen kann. Eine Bilanz der aufgenommenen Nahrung und Flüssigkeit kann hier notwendig werden. 3.4.5.2 Störungen des Nahrungstransportes Der Nahrungstransport beginnt mit dem Schluckakt (beim sog. „Verschlucken" liegt eine Transportstörung vor). Ursachen liegen grundsätzlich in einer Einschränkung der Motilität oder in einer Verlegung der Nahrungswege. Für einen Patienten hat dies meist zur Folge, daß er keine feste Nahrung essen und nur kleine Mengen zu sich nehmen kann, die Zusammensetzung der Nahrung
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171
nicht der gesunden Ernährungsweise (s. Absch. 3.4.2, S. 166) entspricht oder er ggf. keine Nahrung zu sich nehmen kann. Daraus resultiert, daß — die Nahrung in passierter oder flüssiger Form angeboten und — die gesamte Menge auf 6—8 Mahlzeiten am Tag verteilt wird, — die Nahrung teilweise oder ganz auf Fertigprodukte umgestellt (ζ. B. Sondenkost), oder ein Teil der zuzuführenden Nährstoffe in Form von Infusionen verabreicht wird, — die Ernährung vollständig über Infusionen stattfindet. 3.4.5.3 Störungen der Verdauung und der Resorption Akute oder chronische Erkrankungen sowie operative Eingriffe im Verdauungstrakt führen häufig zu Resorptions- oder Verdauungsstörungen. Die Aufgabe des Pflegepersonals liegt darin, in Kenntnis um die Situation und nach Absprache mit einer Diätassistentin dem Patienten die Bedeutung einer veränderten Ernährungsweise klar zu machen.
3.4.6 Anrichten der Nahrung Das Anrichten der Nahrung übt einen bedeutenden Einfluß auf das Eßverhalten aus. Daher soll(en) — ein Wahlessen angeboten werden, — die Nahrung „schön" anzusehen und richtig temperiert sein, — der Patient in geeigneter Weise gelagert sein und einen guten Überblick über sein Essen besitzen, — die Gegenstände auf dem Eßtablett mühelos erreicht werden, — das Geschirr so ausgewählt werden, daß der Patient damit zurecht kommt (ζ. B. Schnabeltasse anstatt einer Tasse), — die Nahrung entsprechend vorbereitet sein, wenn der Patient dies allein nicht kann (ζ. B. Öffnen der Marmelade, Bestreichen der Brote, klein Schneiden von Fleisch usw.), — der Patient eine Stoffserviette erhalten und in Ruhe essen können.
3.4.7 Bilanzieren der Nahrung Liegt im Organismus eine Diskrepanz zwischen Aufnahme und Verbrauch von Nährstoffen und Flüssigkeit vor, so kann dies u. a. durch Bilanzieren der Nahrungszufuhr erkannt werden.
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Grundversorgung
Besonders von Bedeutung ist die Beziehung zwischen der Zufuhr von energieliefernden Nährstoffen zur Veränderung des Körpergewichts und von Flüssigkeit zur Urinmenge. • Ist die Einfuhr E (Aufnahme von Nahrung oder Flüssigkeit) größer als die Ausfuhr A (Verbrauch bzw. Ausscheidung), so spricht man von einer Plusbilanz: E > A = + . • Ist E kleiner als A, so spricht man von einer Minusbilanz: E < A = —. • Ist E gleich A, so spricht man von einer ausgeglichenen Bilanz: E = A = + /-. Soll eine Zunahme oder Abnahme des Körpergewichts erfolgen, so wird dies durch entsprechende Messungen überwacht (s. Abschn. 3.4.4.2, S. 169). Gleichzeitig kontrolliert das Pflegepersonal das Eßverhalten des Patienten, ob dieser evtl. die vorgesehene Nahrung verweigert oder zusätzliche Nahrung aufnimmt. Bei einer Flüssigkeitsbilanz müssen exakte Zeitintervalle berücksichtigt werden. Diese reichen von einer Stunde bis zu 24 Stunden. Eine Tagesbilanz wird dabei immer zur gleichen Uhrzeit durchgeführt.
3.4.8 Hilfen bei der Nahrungsaufnahme Grundsätzlich ist ein Patient in der Lage allein zu essen, wenn er bei vollem Bewußtsein ist, funktionstüchtige obere Extremitäten besitzt, die Kau- und Schlucktätigkeit intakt ist und er einen guten Überblick über das Essen besitzt. 3.4.8.1 Überblick ermöglichen, Anrichten, feste, flüssige Nahrung Im allgemeinen soll der Patient außerhalb des Bettes an einem Tisch essen. Nur wenn dies nicht möglich ist, muß er im Bett essen. In Rückenlage wird der Oberkörper des Patienten in eine 45° oder höhere Lage gebracht. Der Ausziehtisch des Nachttisches wird dabei in möglichst tiefer Stellung direkt vor den Oberkörper piaziert, ohne die Beinfreiheit zu beeinträchtigen. Dadurch erhält der Patient einen guten Überblick und ist gleichzeitig in der Lage, seine Nahrung zuzubereiten. • Anrichten, Piazieren der Nahrung. Es ist wichtig zu wissen, ob der Patient Rechts- oder Linkshänder ist. Rechtshänder stellen ihre Gläser und Tassen vorzugsweise auf die rechte Seite, Linkshänder umgekehrt (gleiches gilt für die Messer). Dabei zeigen die Henkel stets nach außen. Auf dem Servierbrett steht niederes Geschirr (z. B. Teller) vorne, hohes Geschirr (z. B. Gläser, Tassen usw.) hinten.
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Dadurch wird verhindert, daß Kleidungsstücke versehentlich in das Essen gehängt oder Gegenstände auf dem Tablett umgeworfen werden. Zum Schutz erhält der Patient eine Serviette. Feste, flüssige Nahrung. Es ist darauf zu achten, daß in Reichweite des Patienten etwas zu trinken steht. Die Passage und Verdauung der Nahrung wird durch Flüssigkeitsaufnahme während des Essens gefördert und das Eßverhalten positiv beeinflußt. Der Patient soll wenigstens eine halbe Stunde ungestört essen können. Dadurch wird unnötiger Zeitdruck vermieden, was einer besseren Nahrungsaufnahme förderlich ist. 3.4.8.2 Behinderung der Nahrungsaufnahme (1) Patient liegt flach auf der Seite oder auf dem Rücken und darf sich nicht aufsetzen. Mögliche Lösungen: — das Bett (ggf. nach Rücksprache mit dem Arzt) unter Beibehaltung der Ebene am Fußende tiefer und gleichzeitig am Kopfende höher stellen (Anti-Trendelenburg-Lage), — Schnabeltasse oder Trinkbecher mit Mundstück verwenden oder mittels eines Strohhalmes trinken lassen (Abb. 3.4-1), — in Seitenlage Wird man das Essen wohl immer mundgerecht vorbereiten, da der unten liegende Arm deutlich in der Bewegung eingeschränkt ist, dagegen ist in Rückenlage die Zubereitung des Essens für den Patienten oft zumutbar — kann das Bett nicht verstellt werden, muß die Nahrung durch das Pflegepersonal mundgerecht vorbereitet werden.
Abb. 3.4-1: Schnabelbecher (a) und Glas mit Strohhalm (b).
(2) Patient hat nur einen funktionstüchtigen Arm. Mögliche Lösungen: — die Nahrung wird mundgerecht vorbereitet (Brötchen und Brot werden belegt, Fleisch wird in kleine Stücke geschnitten usw.),
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(3) Patient hat keinen funktionstüchtigen Arm. Mögliche Lösungen: — die Nahrung wird mundgerecht vorbereitet und ihm zum Essen in den Mund gegeben, — die Größe der Nahrungsstücke soll ein gutes Kauen ermöglichen, — die Pflegeperson soll sich hinsetzen, d. h. gleiches Niveau wie der Patient. (4) Patient kann nur unzureichend kauen (schlechte oder fehlende Zähne, fehlende Zahnprothese, Erkrankungen im Mund usw.). Mögliche Lösungen: — in Absprache mit dem Patienten passierte Kost (keine Diät!) bestellen, — Brötchen u. a. einweichen. (5) Patient hat Schluckstörungen (Lähmung, Narkose usw.). Mögliche Lösungen: — passierte Kost oder Nahrung einweichen und nur kleine Portionen in den Mund geben, — beim Trinken Geschirr mit Mundstück benutzen, — bei erheblichen Störungen (Patient verschluckt sich mehrmals hintereinander) muß das weitere Vorgehen mit dem Arzt abgesprochen werden.
3.4.9 Ernährung im Krankenhaus Eine stationäre Aufnahme in ein Krankenhaus bringt zwangsläufig eine Umstellung der Ernährung mit sich. Diese Umstellung zeigt sich — — — —
in einer anderen Zubereitung der Nahrung und der Menüwahl, in der absoluten Fremdbestimmung des Speiseplanes, in der Festlegung der Essenszeiten, ggf. in einer durch die Erkrankung notwendigen Umstellung der Ernährung (kurzfristig oder auf Dauer), — in teilweise ungewohnt langen Essenspausen (vom Abendessen bis zum Frühstück bis zu 15 Stunden), — in der festgelegten Menge (Volumen, Kalorien) pro Mahlzeit.
Sofern eine Umstellung der Ernährung aufgrund von Erkrankung oder Therapie notwendig wird, liegt die Aufklärungspflicht beim Arzt. Darüber hinaus ist das Pflegepersonal gehalten, den Patienten auf die besonderen Ernährungsumstände im Krankenhaus aufmerksam zu machen und diese ggf. zu erläutern. Dabei kann die Pflegeperson das Wohlbefinden steigern. — durch einzeln verpackte Gewürzpäckchen kann die Zubereitung einer Großküche individuell verbessert werden,
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— durch die Menüwahl meist doch ein passendes Essen ausgesucht werden, — durch zusätzliche Bestellung einer Zwischenmahlzeit, die lange Pause zwischen Abendessen und Frühstück behoben werden, — die Menge pro Mahlzeit durch einen Vermerk auf der Essenskarte i. a. nach oben oder unten korrigiert werden. Bei Umstellung auf eine besondere Diät, die auf Dauer angezeigt ist, soll eine Ernährungsfachkraft hinzugezogen werden.
3.4.10 Sondenkost Ob eine „Sondenernährung" erfolgen soll, entscheidet der Arzt, da eine Ernährungssonde gelegt werden muß (Abb. 3.4-2). Die häufigsten Indikationen sind: — Bewußtseinsstörungen und neurogene Schluckstörungen, — mechanische Behinderungen der Nahrungspassage, — respiratorische Insuffizienz und psychiatrische Krankheiten
Am häufigsten wird Sondenkost über eine Magensonde verabreicht (s. Abschn. 4.3.2, S. 373). Sondenkost, auch Formuladiät, Flüssignahrung oder Astronautenkost genannt, enthält die gleichen Nährstoffe wie feste Nahrung, wodurch eine ausreichende Ernährung gewährleistet ist. Sie wird als fertige Trink- und Sondennahrung angeboten und kann bei unzureichender Nahrungsaufnahme auch zusätzlich ohne Sonde „getrunken" werden. 3.4.10.1
Magensonde
Bei Verabreichung von Sondenkost über eine Magensonde (Abb. 3.4-2 a, d) (orale, nasale, perkutane Lage) ist auf folgendes zu achten: • Auswahl. Der Arzt bestimmt Name und Art der Kost (ζ. B. eine besondere Diät oder ballaststoffarm), die Pflegeperson wird danach dem Patienten die Möglichkeit geben, die Geschmacksrichtung zu bestimmen. • Menge. Der Arzt legt die Nährstoffmenge (Kalorien) und das Gesamtvolumen (Flüssigkeitsmenge) fest. Die Pflegeperson setzt dann die Menge pro Mahlzeit, Anzahl der Mahlzeit und Zeitintervalle fest. Die Menge pro Mahlzeit orientiert sich einerseits an dem unter Abschn. 3.4.2 Ausgeführten, andererseits daran, ob der Patient zum ersten Mal diese Kost erhält. Beim ersten Mal erhält der Patient nur kleine Mengen von 30—50 ml Sondenkost pro Stunde über einen Zeitraum von bis zu 4 Stunden. Bleiben Verträglichkeitsstörungen aus, werden die Portionen um jeweils 50 ml erhöht bis auf max. 500 ml pro Mahlzeit. Unter Berücksichtigung der ärztlichen Anordnung sind dabei 6—8 Mahlzeiten in 2—3 stündlichen Abständen anzustreben.
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• Zubereitung. Hier sind die Herstellerangaben strikt einzuhalten. Keinesfalls darf die Sondennahrung gekocht werden. Allenfalls ist eine schonende Erwärmung auf 30 —35°C möglich (ζ. B. im Wasserbad). Aus Verträglichkeitsgründen ist eine Kühlschranktemperatur Erwärmung in einem Mikrowellenherd sollte unterbleiben.
ebenfalls auszuschlagen. Eine
• Patient. Wenn möglich, wird der Patient mit erhöhtem Oberkörper gelagert. Bewußtlose liegen auf der Seite. Eine Serviette wird vorgelegt. • Lagekontrolle der Sonde. Bevor man durch die Sonde etwas verabreicht, muß die korrekte Lage festgestellt werden: — Injizieren von ca. 20 ml Luft durch die Magensonde. Über ein Stethoskop hört man in Höhe des Zwerchfells pfeifende und blubbernde Geräusche und — Aspirieren von Magensaft. Über ein Indikatorpapier kann man ein saures Milieu feststellen (pH-Wert < 7). Gleichzeitig kann man dabei erkennen, ob noch Nahrungsreste im Magen waren. • Verabreichen der Sondenkost. Zunächst wird die Sonde mit einer Klemme abgeklemmt. Ein Zylinder einer 50 ml Spritze (der Kolben ist entfernt) wird mit der Sondennahrung gefüllt und in einer Höhe von 50 — 60 cm über dem Patienten gehalten. Dabei fließt die Sondennahrung in den Magen. Es wird also keinerlei Druck ausgeübt. Bevor der Zylinder ganz leer ist, wird die Magensonde mit der Klemme wieder abgeklemmt. Dies verhindert, daß Luft in den Magen gelangt. Erst wenn der Zylinder wieder gefüllt ist, wird die Klemme geöffnet und der Vorgang beginnt von neuem. • Spülflüssigkeit. Nach Verabreichen der Sondenkost wird die Sonde mit 20 bis 50 ml ungesüßtem Tee durchgespült, um die Sonde zu leeren und Verklebungen zu verhindern. Die vorgesehen Spülmenge muß bei der zu verabreichenden Gesamtmenge berücksichtigt werden. • Abschluß. Nach Verabreichen der Sondennahrung bleibt der Patient möglichst noch eine halbe Stunde in der Position liegen, um ein Erbrechen zu vermeiden. Mit Resten der Sondennahrung wird entsprechend den Herstellerangaben verfahren. 3.4.10.2 Probleme bei der Sondenernährung (1) Sonde ist nicht durchgängig. Mögliche Lösungen: — kontrollieren, wie weit die Sonde im Körper liegt (Graduierung), — mit einer 2 ml Spritze aspirieren,
Abb. 3.4-2: Transnasale Sonden, a. Nasogastral (Magen), b. Nasoduodenal (Duodenum), c. Nasojejunal (Jejunum), d. PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie), e. PEJ (perkutane endoskopische Jejunostomie). Diese Sonden werden durch die Nase (-naso), den Rachen und die Speiseröhre in den Magen (-gastral), in den Zwölffingerdarm (-duodenal) oder in den Lehrdarm (-jejunal) gelegt. Bei der PEG liegt die Sonde im Magen. Bei der PEJ wird die Sonde bis in den Dünndarm vorgeschoben.
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Grundversorgung
— bei Sonden mit einem Kontrastmittelstreifen kann eine Röntgenaufnahme Aufschluß über die Lage geben, — bei korrekter Lage mit einer 2 ml Spritze unter Druck durchspülen. (2) Sonde liegt im Duodenum/Jejunum. Mögliche Lösungen: — Sonde bis zur Markierung zwischen 50 und 55 cm zurückziehen, — aspirieren und über Indikatorpapier den pH-Wert bestimmen (s. o.). (3) Sonde liegt in der Speiseröhre. Mögliche Lösungen: — Sonde bis zur Markierung zwischen 50 und 55 cm vorschieben, — aspirieren und pH-Wert bestimmen. (4) Sonde liegt intratracheal. Mögliche Lösungen: — Sonde entfernen und Arzt informieren. (5) Bei Aspiration werden Nahrungsreste gefördert. Mögliche Lösungen: — zukünftig keine Nahrung verabreichen, erst Arzt informieren, — die Magenentleerung über Aspiration zwischenzeitlich kontrollieren. (6) Patient bricht auf Sondennahrung. Mögliche Lösungen: — Arzt informieren, — ggf. Umstellung der Nahrung, Sonde ins Duodenum/Jejunum vorschieben, pumpenassistierte kontinuierliche Applikation der Sondennahrung. (7) Patient bekommt Durchfalle auf Sondennahrung. Mögliche Lösungen: — Arzt informieren, ggf. Umstellung der Nahrung, pumpenassistierte Applikation, ggf. nach Anordnung Antidiarrhoikum, — Temperatur der Sondennahrung überprüfen, — ggf. Medikation nicht mit der Sondennahrung verabreichen. (8) Stoffwechselstörungen (ζ. B. Hyperglykämie, Glukosurie, Ödeme, Elektrolytverschiebung). Mögliche Lösung: — Arzt informieren. Weitere Informationen im Umgang mit einer Magensonde enthalten unter Abschn. 4.3.1 und 4.8.
3.5 Ausscheidungen Jürgen
Döhlinger
3.5.1 Urin Urin (Harn) ist das Ausscheidungsprodukt der Nieren. Er entsteht durch Filtration des Blutes im Nierengewebe und wird über die ableitenden Harnwege (Harnleiter, -blase und -röhre) ausgeschieden. Urin enthält Wasser, organische und anorganische Substanzen. Die Blasenentleerung wird über das vegetative Nervensystem gesteuert.
Die Beobachtung des Urins umfaßt: • Menge, Farbe, Geruch, Beimengungen, • spezifisches Gewicht, pH-Wert.
3.5.1.1
Urinmenge
Die Urinmenge ist abhängig von: • der aufgenommenen Flüssigkeit sowie von den extrarenalen Ausscheidungen (Atmung, Stuhl, Schweiß), • den Kreislaufverhältnissen und der Nierenfunktion. In der Regel werden in 24 Stunden 1500 bis 2000 ml Harn ausgeschieden. Dies geschieht in 4 bis 6 Miktionen. Der Kontrolle der Urinmenge dient der 24-Stunden-Sammelurin (Tab. 3.5-1).
Tab. 3.5-1: Ungefähre Harnmengen bei normaler Flüssigkeitszufuhr Alter
Ausscheidung pro Tag (24 Stunden) (ml)
Neugeborene 3. bis 10. Tag bis 3 Monate bis 12 Monate bis 5 Jahre bis 10 Jahre bis 14 Jahre Erwachsene
2050 1 0 0 - 300 2 5 0 - 450 4 0 0 - 500 6 0 0 - 800 800-1000 1000-1400 1500-1800
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G r u n d Versorgung
Durchführung: — Sammeluringlas mit Deckel, versehen mit Namen und Zimmernummer, bereitstellen, — Sammelzeit festlegen, normalerweise von 7.00 — 7.00 Uhr des darauffolgenden Tages, — vor Beginn und am Ende der Sammelzeit soll der Patient seine Blase entleeren, — genaue Menge ablesen und notieren, — nach vorherigem Umrühren spezifisches Gewicht mit Zylindergefäß und Urometer bestimmen und ggf. Urinprobe für das Labor abnehmen. 3.5.1.2 Spezifisches Gewicht Das spezifische Gewicht ist das Eigengewicht des Harns. Der Normalwert beträgt 1015 — 1025. Die Schwankungsbreite liegt zwischen 1005 und 1030. Das spezifische Gewicht ist abhängig von der Flüssigkeitsaufnahme und der Ernährung. Eine Erhöhung wird bei verminderter Flüssigkeitsaufnahme oder vermehrter Flüssigkeitsabgabe, bei vermehrtem Eiweißabbau (ζ. B. Fieber), bei Ausscheidungen von Protein, Glukose oder Medikamenten beobachtet. Ein niedriges spezifisches Gewicht findet man infolge reichlicher Flüssigkeitszufuhr, bei ungenügendem Konzentrationsvermögen der Nieren sowie bei Einnahme diuretisch wirkender Medikamente. Bestimmung des spezifischen Gewichts (Abb. 3.5-1): — Das Urometer ist meist auf 15 °C geeicht. Beachte: bei jeweils 3 °C unter 15 °C = 1 Teilstrich abzählen, bei jeweils 3 °C über 15 °C = 1 Teilstrich zuzählen, — den gemischten Urin in den Meßzylinder gießen und das Urometer hineingeben, das den Innenrand des Meßzylinders nicht berühren darf, — evtl. Schaum entfernen, — spezifisches Gewicht am unteren Rand des Flüssigkeitsspiegels in Augenhöhe ablesen.
Urometer (Senkspindel)
Meßzylinder
Abb. 3.5-1: Bestimmung des spezifischen Harngewichts mit einem Urometer
Ausscheidungen
181
3.5.1.3 Reaktion des Urins Die Reaktion des Urins (Säuerungsgrad) wird in Form des pH-Wertes angegeben. Er liegt zwischen 5,0 und 7,0 und ist abhängig von der Ernährung und der Tageszeit. In eine Urinprobe wird ein Schnellteststreifen eingetaucht und anschließend die Verfärbung des Streifens mit einer vorgegebenen Skala verglichen. 3.5.1.4 Urinfarbe, Geruch, Beimengungen Farbveränderungen. Im Normalfall ist der Urin klar bis bernsteingelb. Die HellDunkel-Färbung ist beim Gesunden abhängig von der Flüssigkeitszufuhr und dem -verlust: — dunkler, bierbrauner Urin bei Leber- und Gallenwegserkrankungen, — roter, lackfarbener Urin bei Hämo-/Myoglobulinurie, — roter, deckfarbener Urin bei Blutungen in den Nieren und ableitenden Harnwegen (ζ. B. in der Harnblase), — andere Verfärbungen durch ζ. B. Medikamente. Geruchsveränderungen: — normalerweise leichter Geruch nach Ammoniak, — übelriechend bei Infekten der Harnorgane, nach Azeton beim Coma diabeticum Beimengungen: vermehrt durch Schleim, Eiter, Bakterien, Epithelien, Harnkristalle, Koagula. Nachweis von Beimengungen: Gelöste Bestandteile werden mit Schnelltests nachgewiesen: • • • •
Eiweiß: Albustix, Uristix, Combur-Test, Albym-Test, Glukose: Diastix, Glukotest, Chilistix, Ketonkörper: Ketur-Test, Ketostix, Keto-Merchognost, Gallefarbstoffe: Icotest.
Feste Bestandteile sind mikroskopisch mit Sedimentationskammern (Tab. 3.5-2) und durch bakteriologische Urinuntersuchung nachweisbar.
Tab. 3.5-2: Zelluläre (feste) Harnbestandteile Bestandteile
Normalbefund
pathologisch
Epithelien Leukozyten Eryhtrozyten Bakterien Zylinder
vereinzelt 0-5 0-2 0 0
massenhaft größer 5 größer 2 größer 0
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3.5.1.5
Grundversorgung
Miktionsstörungen
Störungen der Blasenentleerung können auf Krankheiten hinweisen: • Polyurie: vermehrte Urinausscheidung, oft gekoppelt mit starkem Durstgefühl und verstärkter Flüssigkeitszufuhr. • Oligurie: Urinausscheidung ist auf weniger als 500 ml Urin/24 Std. vermindert. • Anurie: fehlende Urinausscheidung, weniger als 100 ml Harn/24 Std. Weitere Störungen und ihre Definitionen: • Pollakisurie: Harndrang, gehäufte Miktionen in kleinen Portionen. Auftreten bei Angst, Nervosität, Infektionen, • Algurie oder Strangurie: schmerzhafte Harnentleerung, • Dysurie: erschwerte Miktion bei Einengung der ableitenden Harnwege unterhalb des Blasenhalses, Zuhilfenahme der Bauchpresse, • Inkontinenz: unwillkürlicher, unfreiwilliger Abgang von Urin, ständiges Harnträufeln, • Ischuria paradoxa: ständiger, unwillkürlicher Urinabgang bei maximal gefüllter Blase (Überlaufphänomen), • Enuresis: Einnässen, Urin wird im Gegensatz zur Inkontinenz in Portionen entleert. Nächtliches Einnässen: Enuresis nocturna, Einnässen tagsüber: Enuresis diurna, besonders im Kindesalter, • Harnretention: Harnverhaltung. Blase kann nicht oder nur unvollständig entleert werden, • Hämaturie: Blutharnen. Sehr wichtiges Symptom! Eine gleichmäßige Vermengung von Blut und Urin (totale Hämaturie) ohne subjektive Beschwerden (symptomlose Hämaturie). In der terminalen Hämaturie tritt am Ende einer Miktion Blut auf. Beachte: Bereits wenige Tropfen Blut können einen Wassereimer „rot" färben!
3.5.1.6
Uringewinnung
Die Gewinnung des Urins erfolgt durch Spontanentleerung, Blasenkatheterismus (s. Abschn. 4.3.3, S. 383), Punktion der Blase (s. Abschn. 4.2.3.14). Spontanentleerung: — Strahlurin: Auffangen des Urins in einem sauberen, für bakteriologische Untersuchungen in einem sterilen Gefäß. Vorher erfolgt die Reinigung und Desinfektion der äußeren Harnröhrenmündung. • Mittelstrahlurin: Auffangen des Urins aus der Mitte des Strahlurins. — Morgenurin: erste Blasenentleerung am Morgen. Eine besondere Bedeutung hat der Mittelstrahlurin: • für bakteriologische Untersuchungen·. Urinkultur, Resistenzbestimmung, • zur Vermeidung einer Keimverschleppung durch das Katheterisieren.
Ausscheidungen
183
Prinzip. Bei der Gewinnung von Mittelstrahlurin geht es darum, einen Urin aus der Blase aufzufangen, der nicht kontaminiert wird ζ. B. durch die Schleimhaut der Harnröhrenöffnung bzw. den Scheidenvorhof oder die Haut. Inwieweit ein Patient diese Handlung ohne direkte Aufsicht einer Pflegeperson durchführen kann, muß im Einzelfall entschieden werden.
Mittelstrahluringewinnung bei der Frau: — die Desinfektion erfolgt wie beim Katheterismus, — mit einer Hand müssen die Schamlippen gespreizt gehalten werden, bis der Mittelstrahlurin aufgefangen ist, — die Frau kann sich zum besseren Auffangen des Urins rittlings (verkehrt herum) auf die Toilette setzen. Mittelstrahluringewinnung beim Mann: — Desinfektion wie beim Katheterismus und Vorhaut zurückziehen. Zur Desinfektion der Genitale werden Haut- und angewendet.
Schleimhautdesinfektionsmittel
3.5.1.7 Blasenspülungen, -instillation Blasenspülungen dürfen nur nach ärztlicher Anweisung durchgeführt werden. Vorbereitung: sterile Spülflüssigkeit in steriler Blasenspritze (ζ. B. physiologische Kochsalzlösung 0,9%, 0,l%ige Chinosollösung, Chlorhexidin) oder Infusionsflasche mit steriler Infusionslösung (phys. Kochsalzlösung). Die Durchführung erfolgt mit Blasenspritze oder
Infusionssystem.
Mit der Blasenspritze findet folgendes Material Verwendung: sterile Blasenspritze mit Ansatzstücken, sterile Spülflüssigkeit, Nierenschale, Handschuhe. Durchführung: — Spülflüssigkeit auf Körpertemperatur anwärmen (außer bei Blutungsgefahr), — Flüssigkeit abziehen, dabei Ansätze aseptisch halten, — Nierenschale zwischen die gespreizten Beine legen und evtl. Urin über Katheter ablaufen lassen, — Spülung beginnen mit kleinen Mengen (20 — 30 ml), sie wird mehrfach wiederholt, bis Spülflüssigkeit klar erscheint, — Katheter mit frischem Ableitungssystem verbinden. Mit Infusionssystem benötigt man diese Materialien: Infusionsflasche mit steriler Spülflüssigkeit, Infusionsbesteck, steriles Y-Stück, Infusionsständer, 2 Klemmen, Urinbeutel. Durchführung (Abb. 3.5-2): — Infusionsflasche im Wasserbad auf Körpertemperatur vorwärmen (außer bei Blutungsgefahr) und Urin abfließen lassen.
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Grundversorgung sterile Spülflüssigkeit
Abb. 3.5-2: Prinzip der Blasenspülung mit Infusionssystem
— System richten: Schlauch unterhalb des Katheters abklemmen, 20 —30 ml Spülflüssigkeit einlaufen lassen, Schlauch oberhalb des Katheters abklemmen, Klemme unterhalb des Katheters öffnen. Spülflüssigkeit auslaufen lassen. — Vorgang wiederholen, bis Spülflüssigkeit keine Beimengungen mehr enthält und klar erscheint. Indikationen für eine Blaseninstillation sind chemotherapeutische Behandlung von Blaseninfektionen und Instillation von Zytostatika bei Blasenkarzinom. Vorbereitung. Medikament im Spezialapplikator im Wasserbad erwärmen, Nierenschale bei liegendem Verweilkatheter oder Material wie beim Einmalkatheter. Durchführung bei Einmalkatheter: Katheter einführen, Harn abfließen lassen, Instillation durch Zusammendrücken des Applikators, Medikament verbleibt bis zur nächsten Entleerung in der Blase. Durchführung bei Verweilkatheter: Nierenschale zwischen gespreizten Beinen, Urin abfließen lassen, Instillation durch Zusammendrücken des Applikators, Medikament bleibt 30 — 60 min durch Abklemmen des Katheters in der Blase, Katheter mit frischem Ableitungssystem verbinden.
Ausscheidungen
185
3.5.2 Stuhl Der Stuhl (Kot, Fäzes, Exkrement) ist das Ausscheidungsprodukt des Verdauungstraktes. Zusammensetzung. Stuhl setzt sich zusammen aus: 75 — 80% Wasser, Verdauungssäfte, Abfallprodukte der Nahrung, Mineralstoffe, Colibakterien. Die Stuhlmenge ist abhängig von der Nahrung und Nahrungsbestandteilen. Die tägliche Stuhlmenge beträgt 100—300 g. Größere Stuhlmengen können bei kohlehydratreicher und kleinere Mengen bei eiweißreicher Kost vorkommen. Die Stuhlentleerung (Defakation) erfolgt auf Grund des Stuhldranges willkürlich. Die Defäkation im eigentlichen Sinne ist jedoch eine unwillkürliche Aufeinanderfolge von Reflexen: Kontraktion der Muskulatur des Enddarmes, Erschlaffung der Schließmuskulatur bei gleichzeitiger Unterstützung durch die Bauchpresse. Die Konsistenz ist abhängig von der Beschaffenheit der Nahrung und von der Darmpassage. Sie ist normal breiig bis fest. Bei Kindern in den ersten Lebensmonaten immer breiig. 3.5.2.1 Störungen der Stuhlentleerung Störungen der Stuhlentleerung können auf bestimmte Erkrankungen hinweisen. • Diarrhoe: Durchfall; akut oder chronisch vermehrte, dünnflüssige Darmentleerung. Vorkommen: ζ. B. bei entzündlichen Darmerkrankungen (Bakterien, Viren, Colitis ulcerosa, Enterokolitis), nervale Einflüsse, Tumoren, Nebenwirkungen von Arzneimitteln, humorale Störungen, toxisch-allergische Reaktionen. • Obstipation: Verstopfung; verzögerte Stuhlentleerung, Kot kann sehr hart und trocken sein (harte Kotballen). Vorkommen: bei Tumoren, Hämorrhoidalleiden, Strikturen, häufig bei Peristaltikstörungen, Fehlernährung und mangelnder Bewegung. • Stuhlinkontinenz: Stuhl kann willkürlich nicht zurückgehalten werden. Vorkommen: bei Tumoren, Hirn- und Rückenmarkerkrankungen. • Tenesmus: ständiger, schmerzhafter Stuhldrang. Beim Tenesmus ani werden Schließmuskelkrämpfe durch entzündliche Reizung des Mastdarmes hervorgerufen. Die Stuhlentleerung ist mengenmäßig gering oder fehlt. 3.5.2.2 Stuhlfarbe Die Farbe des Stuhles ist durch die Umwandlung von Gallefarbstoffen (Sterkobilin) im Darm dunkelbraun. In Abhängigkeit der Nahrungszusammensetzung und evtl. Einnahmen von Medikamenten kann sich die Stuhlfärbung ändern. Nachfolgend einige Beispiele: • • • •
braunschwarzer Stuhl: durch Fleisch, Rotwein, Blaubeeren, rotbrauner Stuhl: durch Rote Beete, gelbbrauner Stuhl: durch Eier, überwiegend stärkereiche Kost (Brot, Kartoffeln, Nudeln), weißer Stuhl: durch Kontrastmittel,
186
Grundversorgung
• grünbrauner Stuhl: chlorophyllreiche Kost, ζ. B. Spinat, • grauer, fettig glänzender Stuhl: bei Störungen der Fettresorption, • lehmfarbener Stuhl: bei entzündlichen Veränderungen der Leber mit Störungen der Gallesekretion oder -abflußbehinderungen, • Teerstuhl (Melaena): bei Blutungen aus dem oberen Magen-Darm-Trakt. Aussehen wie „Teer" im ggf. zu schwarzem Stuhl bei schwefeleisen- und wismuthaltigen Medikamenten, • erbsbreiähnlicher Stuhl: bei Typhus abdominalis, • Stuhl mit Blut-, Eiter- und Schleimbeimengungen: bei Erkrankungen des Dick- und Dünndarms, ζ. B. Colitis ulcerosa, M. Crohn, • Stuhl mit Blutauflagerungen: bei Blutungen aus dem Mastdarm, häufiger bei Hämorrhoidalblutungen, • reiswasserähnlicher Stuhl: bei Cholera, • dünnflüssig, breiig, schaumige Stühle: bei Gärungsdyspepsie.
3.5.2.3 Beimengungen, Geruch Beimengungen sind Schleimhautfetzen, unverdaute Nahrungsbestandteile, Parasiten oder -eier (Spul-, Band-, Madenwürmer), Blut (okkultes Blut muß chemisch nachgewiesen werden). Der Geruch des Stuhles ist abhängig von Nahrung und Verweildauer im Darm. Der Geruch kann Hinweise auf Erkrankungen oder Ernährungsstörungen geben, ζ. B. Fettstuhl bei chronischer Pankreatitis. Normalerweise ist Stuhl nicht besonders übelriechend. Ein faulig, gäriger Stuhl riecht aashaft, stechend oder ranzig. 3.5.2.4 Regulation der Darmtätigkeit Rektale Verabreichung von Flüssigkeit lockert einen verfestigten Stuhl auf — Obstipationen sind bei Bettlägerigen sehr häufig (!) — und provoziert eine Stuhlentleerung. Verwendet werden: Suppositorien (Zäpfchen), Klistiere, Einlaufe (Reinigungseinlauf, hoher Einlauf, Schwenkeinlauf), Darmspülung. Stuhlentleerungen sind erwünscht bei (Indikation): — Entleerung des Darmes bei Verstopfung und prä- und postoperative Behandlungsmaßnahmen, ζ. B. bei Darmatonie, — Vorbereitungen zu röntgenologischen und endoskopischen Untersuchungen (Kolonkontrast-Darstellung, Rektoskopie, Koloskopie), — Spülung unterer Darmabschnitte bei Verstopfung oder entzündlichen Veränderungen des Dickdarms (ζ. B. Colitis ulcerosa, Proktitis), — Verabreichung von Arzneimitteln (ζ. B. Klistiere mit Prednisolonzusätzen). Das Abführen beruht auf mechanischen, thermischen und chemischen Wirkungsmechanismen: Die mechanische Reizung durch Darmrohr und Druck der einlaufenden Flüssigkeit. Richtwerte: Säuglinge 30 — 50, Kleinkinder 100 — 300, Schulkinder 300 — 500, Erwachsene 1000-2000 ml.
Zur thermischen Reizung sind Einläufe wirkungsvoll, die 2 — 3 °C über der Körpertemperatur liegen (von körperwarmen Einläufen geht eine geringe Reizwirkung aus) — nicht bei Fieber.
Ausscheidungen
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Die chemische Reizung erfolgt durch Zusätze: — Glyzerin (20 ml/1), stark reizende und flüssigkeitsentziehende Wirkung, — Kamillosan!Kamillan (3 — 5 ml/1), hat schleimhautberuhigende Wirkung, — hyper tone Kochsalzlösung (5% ig), 1 Eßlöffel/l, stark flüssigkeitsentziehende Wirkung, starke Reizwirkung, — Öle (20 ml/1), weichen Stuhl auf und machen ihn gleitfähig, — medikamentöse Zustände haben eine luftbindende und peristaltikanregende Wirkung (ζ. B. X-Prep. Verpaque).
3.5.2.5 D a r m e i n l ä u f e u n d -Spülungen, Klistiere Materialien für den Darmeinlauf sind: Irrigator mit 1 — 1,5 m Schlauch und Glaszwischenstück, 0,5 —2 1 Flüssigkeit, je nach Art des Einlaufes, Darmrohr, meist kurz und dick, Schlauchklemme, Gleitmittel (meist Vaseline zum Einfetten des Darmrohres), Handschuhe, zum Selbstschutz, Bettschutz, Nierenschale, Steckbecken oder Nachtstuhl. Materialien für die Darmspülung sind: 5 1 Spülflüssigkeit, Darmrohr, meist lang und dünn, Y-Glasstück, Abflußrohr, 2 Schlauchklemmen, Auffangeimer. Vorbereitung des Patienten (beachte die Intimsphäre): — informieren über Zweck und Vorgehen und vor Blicken schützen — Lagerung: möglichst auf der linken Seite, so daß die Flüssigkeit im D a r m besser aufwärts läuft, oder auf dem Rücken und Becken und Kopf leicht erhöht lagern, — die Atmung erfolgt ruhig und tief, das Ausatmen durch den Mund, — Möglichkeiten der anschließenden Darmentleerung besprechen, — Patient vor Auskühlung und Zugluft schützen. Der Reinigungseinlauf wird wie folgt durchgeführt (Abb. 3.5-3): — Spülflüssigkeit in den Irrigator füllen, evtl. Zusätze zugeben (Irrigator vorher abklemmen), — Schlauchsystem entlüften, mit Schlauchklemme abklemmen, — Einfetten des Darmrohres, auf Öffnung achten (nicht mit Salbe einschmieren), — Darmrohr vorsichtig unter leichter Drehbewegung ca. 8 —10 cm einführen, — Darmrohr mit dem Schlauch des Irrigators verbinden, — Klemme öffnen und den Irrigator ca. 50 cm über den Patienten halten, — ist die Flüssigkeit in entsprechender Menge eingelaufen, Schlauch abklemmen und Darmrohr entfernen. Beachte: Sollte der Druck für den Patienten zu groß sein, dann zwischenzeitlich den Schlauch abklemmen, — Patienten auffordern, die Einlaufflüssigkeit 5 Minuten zu halten. Beim hohen Einlauf kniet der Patient mit aufrecht gestellten Oberschenkeln und stützt sich auf die Ellenbogen (Knie-Ellenbogen-Lage). Dadurch wird das Gesäß angehoben und der Oberkörper tief gelagert. D a n n wird wie Reinigungseinlauf verfahren.
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Grundversorgung
Der Schwenkeinlauf wird wie der Reinigungseinlauf durchgeführt. Wenn der Druck im Darm für den Patienten zu groß wird bzw. der Irrigator fast geleert ist, wird dieser 30 — 40 cm unterhalb des Patienten positioniert. Sobald die Flüssigkeit zurückläuft, Irrigator erneut bis 50 cm über den Patienten halten und Spülflüssigkeit einlaufen lassen. Dieser Vorgang ist zu wiederholen bis die Flüssigkeit eingetrübt oder stuhlbraun ist bzw. genügend Darmgase abgegangen sind. Pulskontrollen durchführen! Der Einlauf ist für den Patienten eine Kreislaufbelastung. Die Darmspülung entspricht ζ. T. dem Ablauf bei Reinigungseinläufen (s. o.) (Abb. 3.5-4): — 400 ml Spülflüssigkeit einlaufen lassen, Zuflußschlauch abklemmen, Abflußschlauch öffnen und Spülflüssigkeit in den Eimer laufen lassen, — Spülung wiederholen bis saubere Flüssigkeit abfließt. Nachbereitung von Einlauf und Spülung: — abgeklemmtes Darmrohr entfernen, Handschuhe überstülpen, — Patient hält Einlaufflüssigkeit solange wie möglich zurück bzw. ausruhen lassen (Spülung), — Patient unterstützen auf Steckbecken, Nachtstuhl oder WC und evtl. behilflich sein beim Säubern — Stuhl bzw. Spülflüssigkeit beurteilen und dem Arzt demonstrieren.
Ausscheidungen
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Das gebrauchte Material ist als infektiös zu betrachten und so zu behandeln. Klistiere erweichen den obstipierten Stuhl im Rektum mit geringen Flüssigkeitsmengen. Materialien: Einmal-Klistier (ζ. B. Microklist, Practo-Clyss) oder Glyzerinspritze, Handschuhe, Zellstoff, Nierenschale, Gleitmittel, Steckbecken oder Nachtstuhl. Durchführung: Klysmen im Wasserbad erwärmen und Patienten in linke Seitenlage bringen, — Handschuhe anziehen und Kappe von der Plastikflasche entfernen, Ausflußrohr einfetten, — Ausflußrohr 7 —10 cm in den Mastdarm einführen und Behältnis durch Ausdrücken oder Aufrollen entleeren, — vor Entfernung des Rohres, dieses mit 2 Fingern abklemmen, herausziehen und verwerfen, — Patient auffordern, die Darmentleerung möglichst lange hinauszuzögern. Nachbereitung: s. Einläufe/Spülung.
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Grundversorgung
Medikamentöse Einläufe und Klistiere dienen der Instillation von Medikamenten in den Darm und sollen auf dessen Schleimhaut einwirken. Sie sind bei Entzündungen im End- und Dickdarmbereich ζ. B. Proktitis, Colitis ulcerosa, indiziert. Zur Vorbereitung informiert man den Patienten und führt einen Reinigungseinlauf durch. Die Durchführung entspricht dem Klistier, jedoch langsamer verabreichen. Der Patient soll so lange wie möglich anhalten. Anwendungsbeispiele: Corti-Clyss oder Salofalk-Klysma bei Colitis ulceraosa, Resonium-A-Einlauf bei Kaliumintoxikationen oder akutem Nierenversagen mit Hyperkaliämie, Bykomyein-Einlauf bei Leberkoma, Rektionlen in der Kinderkrankenpflege, Neomycin-Einläufe (Bykomycin) bei Magen-Darm- und Ösophagusvarizenblutungen werden diskutiert. Orthograde Darmspülung Diese Darmreinigung kann vor diagnostischen oder therapeutischen Eingriffen an Dünn- und Dickdarm vom Arzt angeordnet werden. Das Ziel ist eine totale Reinigung des Darmes. Prinzip: Die Darmspülung wird 1 Tag vor dem Eingriff durchgeführt. Sie kann sich bis zu 6 Stunden hinziehen, ist jedoch meist nach 3 — 4 Stunden beendet. Unmittelbar vor der Spülung sollen keine festen Nahrungsbestandteile verabreicht werden. Vor der Spülung wird eine Gewichtskontrolle durchgeführt, um nach der Spülung zu erkennen, ob Flüssigkeit im Körper verblieben ist. Die Spülflüssigkeit wird auf Körperwärme angewärmt. Es handelt sich um eine kreislaufbelastende Maßnahme, die eine 1 — 2stündliche Kontrolle erfordert. Eine Toilette muß freigehalten werden. Morgens beginnen, damit die Nachtruhe gewährleistet ist. Durchführung: Nach dem Legen einer Dünndarmsonde (s. Abb. 4.2-2, S. 349) Spüllösung anhängen, mit einer Geschwindigkeit von ca. 1/2 1/15 min einlaufen lassen. Treten keinerlei Komplikationen ein, wird die Durchßußrate maximal erhöht. Der Patient soll möglichst umhergehen. Nach einer Einlaufmenge von 2 — 2,51 wird der Spülvorgang gestoppt, bis der Patient Stuhlgang hat. Danach wird der Spülgang bis zum Ende weitergeführt. Am Ende muß der Patient wäßrige Stühle absetzen. Die Dünndarmsonde wird wieder entfernt.
Ausscheidungen
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Komplikationen: Die Sonde liegt nicht im D u o d e n u m sondern im Magen. D e r Patient reagiert mit Völlegefühl, Übelkeit und Erbrechen. Der Arzt m u ß informiert werden und eine Entscheidung über die weitere Vorgehensweise treffen. Bei erfolgloser Stuhlentleerung nach 2 — 2,51 Spülflüssigkeit wird die Spülung ebenfalls unterbrochen und der Arzt informiert. Liegt nach Abschluß der Spülung und etwa eine Stunde danach das K ö r p e r gewicht mehr als 2 kg über dem vor der Spülung festgestellten Körpergewicht, so ist der Arzt ebenfalls zu informieren.
3.5.3 Sputum Die Schleimhäute der Nase, des Rachens, der Luftröhre sowie des Bronchialsystems sorgen für eine ständige Feuchthaltung der Atemwege und Anfeuchtung der Atemluft. Die in der Schleimhaut enthaltenen Becher-Zellen sondern hierfür ein Sekret ab, das bei pathologischen Prozessen vermehrt sein kann. Wird dieses Sekret bei der Expektoration abgehustet, so spricht m a n vom Sputum oder Expektorat. Über den Einfluß von pathogenen Noxen wie Abgase, Nikotin, Infektionen der Atemwege, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, k a n n es zu verstärkten Sekretabsonderungen mit Beimengungen von Bakterien, Eiter, Zellen und Blut kommen. Im Rachen befindliches Sekret kann durch Hüsteln oder Räuspern nach außen befördert werden. Sekret im Tracheobronchialsystem — hierauf k o m m t es an (!) — wird abgehustet. 3.5.3.1
M e n g e , Z u s a m m e n s e t z u n g , Konsistenz, F a r b e , G e r u c h
Die Sputummenge ist abhängig von der Ursache der vermehrten Sekretion. Es kann sich u m wenig bis zu „maulvollem" (ζ. B. bei Bronchiektasen) Abhusten handeln. Der größte Teil des Sputums wird am Morgen abgehustet, d a durch den Lagewechsel ein reflektorischer Hustenreiz ausgelöst wird. Von der Zusammensetzung kann das Sputum homogen, klumpig, geschichtet, dünn- bis dickflüssig sein. Nach Konsistenz und Farbe des Sputum kann unterschieden werden: — rein schleimig bei Erkältungsinfekte, Bronchitis, — blutig, frischrot, schaumig bei Tuberkulose, Lungenabszeß, Bronchialkarzinom, Lungeninfarkt, plötzlichem Herzversagen, — gelbrot bis rostbraun bei Pneumonie, Bronchialkarzinom, — zähes, fadenziehendes bei chronisch eitriger Bronchitis, Bronchiektasen. Dreischichtiges Sputum ist typisch für Patienten mit Bronchiektasen. Hierzu wird in einem durchsichtigen Spitzglas, mit Graduierung zur Mengenbestimmung,
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Grundversorgung
Sputum gesammelt. Entsprechend der Schwereanteile des Expektorates setzen sich die einzelnen Anteile ab. Geruch. Sputum ist im allgemeinen geruchlos. Bei zerfallendem Lungengewebe (selten!) durch pathologische Prozesse kann der Auswurf jedoch übelriechend bis stinkend sein. Bei längerem Stehenlassen nimmt Sputum einen süßlichfaden Geruch an. 3.5.3.2 Pflegerische M a ß n a h m e n Patienten mit Auswurf sind mit Sputumbecher zu versorgen, die zu einem Viertel mit Desinfektionslösung zu füllen, mehrmals täglich zu entleeren bzw. zu entsorgen sind. Sputum stellt eine hochinfektiöse Ausscheidung dar. Jede sichtbare Veränderung des Sputums ist dem Arzt mitzuteilen.
3.5.4 Erbrechen Erbrechen (gr. Emesis, lat. Vomitus) wird durch das Brechzentrum im verlängerten Rückenmark ausgelöst. Es entsteht durch krampfartige Kontraktionen des Magens und des Zwölffingerdarmes, unterstützt durch Kontraktion der Bauchmuskulatur. 3.5.4.1
Symptomatologie
Das Erbrechen wird von mehreren Symptomen begleitet: Übelkeit, vermehrte Schweißsekretion, vermehrter Speichelfluß, verlangsamte Atmung, Beeinflussung der Herzfrequenz. Das Pflegepersonal sollte in der Lage sein, folgende Angaben zu machen: Tageszeit, Häufigkeit, Menge, Aussehen/Beschaffenheit, Begleiterscheinungen. Weitere Aufschlüsse können nachfolgende Beobachtungen geben: — zeitliche Abhängigkeit des Erbrechens von der Nahrungsaufnahme, — die Art des Erbrechens (explosivartig, schwallartig, vorwiegend fließend), — Zusammenhänge mit einzelnen Nahrungsmitteln.
3.5.4.2 Aussehen des Erbrochenen • Hämatemesis, Bluterbrechen: dunkelrotes Blut, teils geronnen, spricht für eine größere Blutung im oberen Magen-Darm-Trakt, kaffeesatzartiges Aussehen ist ein Zeichen dafür, daß das Blut mit Magensaft in Berührung gekommen ist, • galliges Erbrechen (gelblich-grün) wird hervorgerufen durch Erkrankungen im unteren Teil des oberen Verdauungstraktes;
Ausscheidungen
193
• Miserere, Koterbrechen: Erbrechen von Darminhalt als bräunlich-kotige Masse bei Darmverschluß, • Erbrechen nicht gelöster Arzneimittel oder von Nahrungsresten (unverdaut, angedaut — säuerlich riechend). Vom Bluterbrechen muß Bluthusten (Hämoptoe) unterschieden werden. Beim Bluthusten tritt vorwiegend hellrot, schaumiges Blut infolge Zerstörungen von Blutgefäßen bei Lungenerkrankungen auf. Beachte: Während des Brechvorganges muß dem Patienten eine taktvolle und angepaßte Hilfe zuteil werden. Bei bewußtlosen Patienten ist eine stabile Seitenlagerung oder Kopfseitenlagerung notwendig, da Aspirationsgefahr besteht. Bei ansprechbaren Patienten ist der Oberkörper hoch zu lagern und der Kopf zu stützen. Brechschale und ausreichend Zellstoff sind bereit zustellen. Beengende Kleidungsstücke sind zu lockern und der Patient zum tiefen Durchatmen aufzufordern. Nach dem Erbrechen sollte sich der Patient ausruhen können.
3.5.5 Schweiß Schweiß (Sudor) ist die ausgeschiedene Flüssigkeit aus den Schweißdrüsen. Zusammensetzung: 99% Wasser, 1% gelöste und feste Bestandteile (Kochsalz, flüchtige Fettsäuren, Harnstoff, Harnsäure, ätherische Öle, Zellbestandteile).
Die Schweißabsonderung unterstützt die Regulation der Körpertemperatur, indem durch Wasserverdunstung Wärme abgegeben wird. Schweiß wird ständig über die Haut abgesondert. Dies wird als Perspiratio insensibilis bezeichnet. Bei normaler Außentemperatur beträgt die Schweißabsonderung ca. 500 ml/24 Stunden. 3.5.5.1 Beobachtung der Schweißabsonderungen Bei der Schweißsekretion beachtet man deren Menge, die Tageszeit des Schwitzens, Beschaffenheit und Geruch des Schweißes. Bei der Menge unterscheiden wir: — Anhydrosis: Fehlen der Schweißproduktion; seltene Störung, kann zum Wärmestau führen, — Hypohydrosis: verminderte Schweißproduktion; Haut ist stark gerötet und heiß, kann zum Wärmestau führen, — Hemihyperhydrosis: einseitig vermehrte Schweißproduktion, betrifft nur eine Gesichts- oder Körperhälfte, — Hyperhydrosis: vermehrte Schweißproduktion; kann anlagebedingt sein, besonders an Händen, Füßen, in der Genitalgegend sowie den Achselhöhlen. Hinsichtlich der Tageszeit unterscheidet man:
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Grundversorgung
— Nachtschweiß: vermehrte nächtliche Schweißsekretion bei Lungenerkrankungen und Störungen im Hormonhaushalt, — bei erhöhter Außentemperatur oder vermehrter körperlicher Tätigkeit ist das Schwitzen (Transpiration) physiologisch. Die Schweißbeschaffenheit kann sein: — warm und großperlig (Hyperhydrosis, körperliche Tätigkeit), — kalt, klebrig und kleinperlig (Nachtschweiß, Erbrechen, Kreislaufstörungen), — fettig infolge erhöhter Talgsekretion. Der Geruch erscheint: — azetonämisch: fruchtähnlicher Schweißgeruch bei Stoffwechselerkrankungen, — urinös, urinähnlicher Schweißgeruch infolge Nierenerkrankungen, — säuerlich bei Lungenerkrankungen und unangenehm (Bromhydrose) durch bakterielle Zersetzung bei mangelnder Körperpflege. Langanhaltende oder heftige (hohes Fieber!) Transpiration kann zum Kochsalzverlust und somit zur Störung des Säure-Basen-Haushaltes führen. 3.5.5.2 Pflegerische Maßnahmen Maßnahmen in der Pflege bestehen in folgendem: • Patienten vor Abkühlung und Zugluft schützen, da durch Schweiß Wärmeabgabe an die Umwelt erfolgt, • erfrischende Maßnahmen (Abtupfen des Schweißes, Wechsel von Kleidung und Wäsche führen zum subjektiven Wohlbefinden), • ausreichende Flüssigkeitszufuhr (leicht gesalzen), zum Ausgleich des Salzverlustes, • Dekubitusprophylaxe bei bettlägerigen Patienten.
3.6 Mobilisation Yves Theisen
Für die Mobilisation ist zunächst der Grad der Selbständigkeit eines Patienten festzulegen. Dies gilt für die Zeit nach der Hospitalisation, für eine qualifizierte Behandlung und für eine optimale Zusammenarbeit in der Pflegegruppe, um die Mithilfe des Patienten zu erreichen. Selbständig oder autonom ist jener Patient, der nicht auf eine Hilfe angewiesen ist, der seine Mobilisation aus eigenen Kräften ausführen kann. Durch eine qualitative resp. quantitative Analyse versuchen wir das aktive Potential des Patienten zu umschreiben (Tab. 3.6-1).
3.6.1 Beobachtung: Erfassen der Autonomie des Patienten Die Bilanz muß für eine bestimmte Person an einem gegebenen Moment während einer bestimmten Handlung konkret ergeben, wozu diese Person fähig ist und wozu nicht. Hierzu ist erforderlich, diese Person die angegebene Situation soweit wie möglich erleben zu lassen. Ein Frage- und Antwortspiel allein genügt nicht. Situationen, die dennoch nicht aktiv ausgeübt werden können, müssen unbedingt subjektiv bewertet werden. Gleichzeitig kann man während dieser Bewertung den Patienten schon auf gewisse Ungereimtheiten hinweisen; Verbesserungen und Anpassungen können evtl. sofort vorgenommen werden. Die nachfolgenden Tabellen (1 — 5) geben Auskunft über den Grad der Autonomie des Patienten, welche Tätigkeiten er allein ausführen kann, wo er Hilfe benötigt usw.
3.6.2 Aktive und aktiv-passive Mobilisation Aktive Mobilisation. Der Patient führt seine Mobilisation aus eigener Kraft durch, also ohne Hilfe. Das Pflegepersonal ist nur behilflich bei zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen (s. u.). Verschiedene Kriterien gelten als Anhaltspunkte für eine mögliche aktive Mobilisation (Tab. 3.6-1-5): • der Zustand des Patienten und seine Fähigkeiten sich aktiv zu beteiligen, • das Erlernen einer neuen Mobilisationstechnik oder das Wiederholen einer bekannten Mobilisation oder Situation.
196
Grundversorgung
Tab. 3.6-1: Allgemeiner Grad der Autonomie und Hilfsbedürftigkeit eines Patienten Autonomie
allein möglich
gelegentliche Hilfe
ständige Hilfe
• im Bett (s. Tab. 3.6-2) • beim Positionswechsel (s. Tab. 3.6-3) • beim Gehen (s. Tab. 3.6-3) • beim Transport (s. Tab. 3.6-4)
Tab. 3.6-2: Grad der Autonomie im Bett Autonomie im Bett • • • • •
allein
mit technischer Hilfe
Ausführung
Hochheben im Bett Seitenlagerung Bauchlagerung Rückenlagerung seitliches Verlagern
Tab. 3.6-3: Grad der Autonomie beim Wechseln einer Position Autonomie beim Wechseln einer Position
allein
mit technischer Hilfe
Ausführung
• Bett - Stuhl (ohne Vertikalstellung) • Liegen — Bettrand • Sitzen am Bettrand • Aufstehen u. Stehen • Stehen u. Hinsetzen • Stuhl -
Bett
• in den Rollstuhl • auf das W C • Bad, Dusche
Aktiv-passive Mobilisation. Diese Mobilisation nennt man auch assistive Mobilisation. Sie besteht darin, daß der Patient alles durchführt, was im Bereich seiner Kapazitäten liegt. Falls er aus eigener Kraft nicht mehr vorankommt, greift das Hilfspersonal ein, um die Mobilisation zu Ende zu führen.
3.6.3 Passive Mobilisation In diesem Falle ist der Patient auf Hilfe von außen angewiesen; aus eigener Kraft kann oder darf er nichts tun.
Mobilisation
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Tab. 3.6-4: Grad der Autonomie beim Gehen Autonomie beim Gehen
allein
mit technischer Hilfe
Ausführung
• Gehen • mit Eulenburg • parallele Barren • mit Gehbock • mit 1 Krücke • mit 2 Krücken • mit 1 Hilfsperson • mit 2 Hilfspersonen • Treppensteigen: auf • Treppensteigen: ab
Tab. 3.6-5: Grad der Autonomie beim Tragen uñd Transport Autonomie beim Tragen, Transport • • • •
Transport Transport Tragen in Tragen in
allein
mit techischer Hilfe
Ausführung
im Bett im Rollstuhl Sitzposition Liegestellung
Erläuterungen zu den Tabellen: — allein bedeutet: Der Patient ist absolut auf keine Hilfe angewiesen. — mit technischer Hilfe bedeutet: Hiermit schafft der Patient es alleine oder er benötigt noch 1 oder 2 Hilfspersonen. — Ausführung bedeutet: Wie stellt sich der Patient bei einer bestimmten Tätigkeit an? Was beobachten wir? Was fällt uns auf? Ζ. B.: Sitzen im Stuhl: wie sitzt er? kippt er nach seitlich? Lagerung der Gliedmaßen? usw.
3.6.3.1
Maßnahmen
Unabhängig von der angewandten Technik m u ß für die passive Mobilisation beachtet werden: • Zustand des Patienten: Seine Krankheit, ζ. B. die Wunden und deren Behandlung und Prognose, der physische, psychische, intellektuelle Zustand und das soziale Milieu. • Beteiligung des Patienten: Im Extremfall kann er nichts tun, soll aber immer aufgefordert werden, sich zu beteiligen. • Vertrauen des Patienten: Mit pädagogischem Geschick erklären, was wir vorhaben, was wir von ihm erwarten.
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Grundversorgung
• Respektieren der Schmerzgrenze: Sie gilt als Alarmgrenze bei der passiven Mobilisation und ist nicht zu überschreiten. • Progressive Steigerung der Mobilisation: Achten auf bereits erfolgte medizinische Maßnahmen·. Urin- und Magensonden, Thoraxdrainagen, Sauerstoffzufuhr, Infusionen, künstliche Beatmung u. a. • Praktische Maßnahmen: Bereitstellen von Gehhilfen, Stuhl, Rollstuhl, Nachtstuhl, 2. Bett, Bahre usw., Bereitliegen des Bademantels, der Pantoffel u. a.
3.6.4 Mobilisation im Bett Die Mobilisation im Bett ist die häufigste Mobilisation, die das Pflegepersonal durchführt. Für das Hochheben im Bett existieren verschiedene Methoden: passives und aktives Hochheben mit Hilfen. 3.6.4.1 Passives Hochheben mit Hilfen Ausgangsposition (Abb. 3.6-1). Patient liegt auf dem Rücken, hält die Hände auf dem Bauch und die Knie angewinkelt. Die Pflegepersonen stehen seitlich am Bett, dort wo das Becken des Patienten hinkommen soll, Beine in Spreizstellung. Ein Arm befindet sich am Schultergürtel, Schulter des Patienten in Ellenbogengelenk legen, der Unterarm wird unter das Schulterblatt, längs der Wirbelsäule geschoben. Der 2. Arm in Beckenhöhe, der Unterarm befindet sich unter dem Oberschenkel des Patienten, die Hand am Sitzbein. Die Köpfe der Pflegepersonen stehen in engem Kontakt auf Stirnhöhe. Bewegung. Das Heben geschieht als Schaukelbewegung. Der Patient hebt den Kopf an und fixiert ihn. Die Beine der Pfleger befinden sich in Spreizstellung (Abb. 3.61), die Arme anheben und den Patienten hochrutschen.
Mobilisation
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Beachte: Der Patient muß seinen Kopf stets fixieren, ist dies nicht möglich, blockiert man ihn mit den eigenen Ellenbogen. Die Köpfe der Pfleger müssen bis zum Abschluß der Bewegung in engem Kontakt bleiben, dann erst loslassen. Die Arme der Pfleger bleiben stets in Kontakt mit dem Bett. Den Kopfteil des Bettes anheben, dies vermeidet ein Anstoßen mit dem Kopf.
3.6.4.2 Aktives Hochheben mit zwei Hilfen Hier werden Varianten A und Β unterschieden: Variante A Ausgangsposition (Abb. 3.6-2). Die Griffe am Oberschenkel bleiben unverändert. Mit dem anderen Arm bilden die Pfleger einen Bogen durch Auflegen ihrer Hand auf die Schulter des gegenüberstehenden Pflegers. Die Beine stehen in Spreizstellung an der Stelle, wo das Becken des Patienten gelangen soll. Der Patient hält sich mit seinen Händen in Supinationsstellung an den Armen der Pfleger fest. Bewegung. Der Patient hebt den Kopf, zieht an seinen Armen und gleitet automatisch hoch. Beachte: Der größere Pfleger paßt sich dem kleinen an. Die Betthöhe soll so sein, daß in der Ausgangsposition die Arme des Patienten gestreckt sind. Variante Β Mobilisation wie in Variante A. Zusätzlich hält sich der Patient am Bettbügel fest, und die Pfleger stützen sich mit der freien Hand auf dem Bett auf.
Abb. 3.6-2: Aktives Hochheben
200
Grundversorgung
3.6.4.3 Aktives Hochheben mit einer Hilfe Diese Methode ist identisch mit der Variante Β (s. o.). Der Patient benötigt nur die Hilfe eines Pflegers, um das kranke Bein zu unterstützen. Letzterer befindet sich an der kranken Seite des Patienten und geht vor wie in der Variante B. 3.6.4.4 Passives Hochheben mit 4 Hilfen Besondere Situationen erfordern ggf. 4 Pfleger. Ausgangsposition. An jeder Bettseite stehen 2 Pfleger. Dem Patienten Arme und Hände auf den Bauch legen. Der Pfleger am Rumpf des Patienten legt einen Arm unter das Schulterblatt längs der Wirbelsäule und kann zusätzlich den Kopf mit dem Ellenbogengelenk fixieren. Zusammen wird der Patient angehoben und die zweite Hand gleitet unter die Lendenwirbelsäule. Der Pfleger an den unteren Gliedmaßen schiebt einen Unterarm unter die Unterschenkel, hebt diese mit dem gegenüberstehenden Pfleger zusammen an und begibt den anderen Unterarm unter die Oberschenkel des Patienten. Beinhaltung wie Abb. 3.6-1. Bewegung. Köpfe in Stirnhöhe in engen Kontakt bringen. Klares Kommando geben und wie in Abschn. 3.6.4.1 den Patienten, ohne ihn zu heben, im Bett hochrutschen. Beachte: Den Kontakt der Köpfe bis zum Schluß der Mobilisation halten. Schaukelstellung. Der Pfleger in Kopfgegend des Patienten gibt immer das Kommando. 3.6.4.5 Drehen vom Rücken auf den Bauch Bei dieser Mobilisation ist zu beachten, daß sich der Patient in der Ausgangsposition stets am äußeren Bettrand befindet. Der Pfleger hält sich an der zu beschützenden Seite auf. • Aktives Drehen Ausgangsposition (Abb. 3.6-3). Das kranke Bein des Patienten über das gesunde legen und seine kranke Hand auf den Bauch legen, mit seiner gesunden Hand umfaßt der Patient den oberen Bettrand. Der Pfleger legt eine Hand an die kranke Schulter des Patienten und bringt die andere unter der kranken Hüfte hindurch auf die gesunde Hüfte. Bewegung. Den Patienten auffordern, den Kopf anzuheben, auf die gesunde Seite zuschauen und kräftig am gesunden Arm ziehen. Der Patient dreht sich, der Pfleger kann evtl. leicht an der kranken Schulter nachhelfen. • Passives Drehen Ausgangsposition (Abb. 3.6-4). Identisch mit obiger, nur piaziert der Patient allein oder mit Hilfe des Pflegers den gesunden Arm oberhalb des Kopfes. D e r Pfleger
Mobilisation
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bringt einen Arm unter dem kranken Schulterblatt hindurch auf die gesunde Schulter, die andere Hand wird wie an den Hüften angebracht (s. o.). Bewegung. Der Pfleger zieht die Ellenbogen zum eigenen Rumpf, klappt sie seitlich hoch und bringt den Patienten ins Rollen. 3.6.4.6 Aktives Drehen vom Bauch auf den Rücken Ausgangsposition (Abb. 3.6-5). Der Patient liegt am Bettrand, das kranke Bein ist über das gesunde geschlagen, die kranke Hand befindet sich unter dem Becken. Das Gesicht wird vom Pfleger weggedreht und der gesunde Arm unter dem Kopf piaziert. Der Pfleger führt eine Hand unter der kranken Hüfte hindurch auf die gesunde, die andere Hand hält er vor das Gesicht des Patienten.
Abb. 3.6-5: Aktives Drehen
202
Grundversorgung
Bewegung. Den Patienten fragen, ob er die Hand des Pflegers sieht und auffordern, sie zu ergreifen. Im gleichen Moment umkreist der Pfleger mit seiner Hand den Kopf des Patienten so, daß dieser ihr folgen muß, um sie zu erwischen, automatisch dreht sich der Patient auf den Rücken. 3.6.4.7 Passives Drehen vom Bauch auf den Rücken Ausgangsposition. Völlig identisch mit Abschn. 3.6.4.6, nur schaut der Patient den Pfleger an. Die Pflegeperson bringt eine Hand an der Hüfte an (s.o.), mit der anderen erfaßt er — der Daumen befindet sich in Opposition zum Mittelfinger (in Form eines Trichters) — den Unterarm des Patienten. Bewegung. Mit dem Trichtergriff am Handgelenk zieht der Pfleger dieses nach oben. An den Hüften bringt der Pfleger durch ein seitliches Klappen des Armes den Patienten ins Rollen. Beachte: Die Seite, über die der Patient sich drehen soll, muß immer zuerst freigelegt werden. Bei jeder Mobilisation kann und soll der Pfleger die Drehbewegung mit einer Hand verfolgen, dies ergibt ein Sicherheitsgefühl für den Patienten und man kann ihn zurückhalten. Das Bett soll bei passivem Drehen immer tief genug sein, damit man genügend mit dem Arm ausholen kann.
3.6.4.8
Seitenlagerung
Die oben beschriebenen Mobilisationen können verwendet werden, um den Patienten in die Seitenlagerung zu bringen. Hierzu legt man 1 oder 2 Kissen in Mobilisationsrichtung, um die Drehbewegung zu bremsen und gleichzeitig den Patienten zu stabilisieren. 3.6.4.9 Seitliches Verlagern Das seitliche Verlagern — aktiv oder passiv — entspricht einem Rutschen oder Gleiten des Körpers auf dem Bett. Zur Ausführung dieser Mobilisation teilen wir den Körper in 4 Bereiche: Kopf, Schultergürtel, Becken, Beine. Der Patient verlagert die Teile, wo er es schafft, allein. Beschrieben wird hier der Fall, in dem der Patient nicht helfen kann. Ausgangsposition. Der Patient liegt auf dem Rücken. Zuerst den Kopf, dann die Beine zur Seite rutschen. Die Pflegeperson legt eine Hand und Unterarm unter die Hüftgelenkgegend, die andere unter die Lendenwirbelsäule. Mobilisation. Der Pfleger stützt sich mit den Knien gegen das Bett, drückt sich vom Bett weg und bewegt den Oberkörper nach hinten. Automatisch rutscht der Patient auf den Unterarmen des Pflegers zur Seite. Das gleiche wiederholt man am Schultergürtel, wo eine Hand unter die Schulterblätter, die andere unter den Schulter-Nacken-Bereich zu liegen kommt.
Mobilisation
203
Beachte: Die oben beschriebenen Techniken können und sollten mit Hilfe einer zweiten Person ausgeführt werden, falls es sich um einen schweren Patienten handelt. Der erste Pfleger positioniert sich in Höhe des Schultergürtels, der zweite im Beckenbereich. Kopf und Beine kann man allein verlagern.
3.6.5 Sitzen am Bettrand Zunächst muß der Patient in eine sitzende Position gelangen. Hierzu existieren verschiedene Methoden: aktives, „assistives" und passives Setzen. Analoge Verfahren stehen beim umgekehrten Vorgang zur Verfügung. 3.6.5.1 Aktives Setzen Kann sich der Patient allein hinsetzen, so soll er dies immer über die Seitenlagerung tun (Abb. 3.6-6): Er dreht sich vom Rücken auf die Seite, winkelt Hüften und Knie an, so daß er die Füße aus dem Bett nehmen kann. Mit der freien Hand stützt er sich in Kopfhöhe auf dem Bett auf und hebt den Oberkörper. Das Hinlegen geschieht genau umgekehrt.
Abb. 3.6-6: Aktives Aufsetzen
3.6.5.2 Setzen mit Hilfestellung („assistives" Setzen) Im Bett liegend wird der Patient durch das Anheben des Kopfendes schon in eine Sitzposition gebracht. Ausgangsposition (Abb. 3.6-7). Das kranke Bein wird über das gesunde geschlagen, die kranke Hand kommt auf den Bauch. Der Pfleger legt eine Hand unter die kranke Schulter, die andere über das kranke Knie auf das gesunde Knie.
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Grundversorgung
Abb. 3.6-7: Setzen mit Hilfestellung
Bewegung. Den Patienten anregen, den Kopf zu heben und in Drehrichtung zu schauen, mit der gesunden Hand soll er nach unserer Schulter greifen. Der Pfleger zieht nur noch die Beine aus dem Bett. Beachte: Durch das Greifen nach der Schulter der Pflegeperson kommt der Patient schon fast allein in die Sitzposition. 3.6.5.3 Passives Setzen Ausgangsposition (Abb. 3.6-8). Der Patient wird schon im Bett in eine sitzähnliche Haltung gebracht, die Hände werden auf den Bauch und das kranke Bein über das gesunde gelegt. Der Pfleger schiebt eine Hand unter das kranke Schulterblatt hindurch zur gesunden Schulter, die andere legt er über das kranke Knie auf das gesunde. Bewegung. Den Patienten auffordern, den Kopf zu fixieren und auf den Brustkorb zu schauen. Der Pfleger zieht ihn am Schultergürtel hoch und nach außen, die
r
Abb. 3.6-8: Passives Aufsetzen
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205
Beine werden ebenfalls aus dem Bett gerutscht und auf die Knie der Pflegeperson gelegt. Der Rücken muß stabilisiert werden. Beachte: „Sitzen am Bettrand" können nur Patienten, die dies alleine schaffen, so z. B. zum Essen oder vor dem ersten Aufstehen. Man beachte dabei stets: • Die Betthöhe sollte den Bodenkontakt mit dem gesunden Bein ermöglichen, • das kranke Bein muß ordentlich gelagert werden, ebenso der kranke Arm. Gilt diese Mobilisation als Ausgangsposition für ein erstes Aufstehen, so möge man die im Abschn. 3.6.3.1 beschriebenen Maßnahmen respektieren.
3.6.5.4 Hinlegen mit Hilfestellung Ausgangsposition (Abb. 6.3-9). Der Patient sitzt am Bettrand, die Hände auf dem Schoß, das kranke Bein befindet sich über dem gesunden. Der Pfleger legt eine Hand auf die gesunde Schulter.
Bewegung. Man ziehe den Patienten an der Schulter zurück ins Bett, reflexartig streckt er seine Knie durch und hebt die Beine hoch. Der Pfleger erfaßt die Zehen oder Füße und begleitet sie ins Bett. 3.6.5.5 Passives Hinlegen Ausgangsposition. Der Patient sitzt am Bettrand wie in Abschn. 3.6.5.4. Der Pfleger steht in Gewichtheberposition, trägt die Beine des Patienten mit einer Hand und stützt sich dabei gleichzeitig auf seine eigenen Knie, mit der anderen Hand umfaßt er die gesunde Schulter des Patienten.
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Grundversorgung
Bewegung. Der Patient wird an der Schulter rückwärts ins Bett gezogen, und seine Beine werden, unter steter Begleitung, ins Bett „geschleudert". Beachte: Die Bewegung, die unter Abschn. 3.6.5 beschrieben wurden, sollten bei schweren Personen durch 2 Pfleger ausgeführt werden. Der erste stellt sich an den Oberkörper, der zweite erfaßt die unteren Gliedmaßen.
3.6.6 Mobilisation vom Bett in den Stuhl Zunächst muß geklärt werden, ob sich der Patient beteiligen kann oder ganz auf unsere Hilfe angewiesen ist. Aus den Beobachtungen heraus hat man festgelegt, ob der Patient am Bettrand zu sitzen vermag, ob er stehen kann oder ob man ihn in einen Stuhl gleiten oder tragen muß. Dementsprechend gestalten wir die Mobilisation (Tragen, s. Abschn. 3.6.9, S. 210). 3.6.6.1 Aktives Umsteigen Sind die Bedingungen aus den Abschn. 3.6.5.1, 3.6.5.2 erfüllt, so kann sich der Patient selbst, mit seiner Gehhilfe (s. Abschn. 3.6.8, S. 208) oder mit Hilfe einer zweiten Person zum Stuhl hindrehen und hinsetzen. Das Hinsetzen geschieht wie folgt: — den Patienten vor den Stuhl bringen und den Rücken zum Stuhl drehen, — rückwärts gehen bis er den Stuhl mit seinen Beinen berührt, — Gehhilfe immer ablegen und mit den Händen nach den Stuhllehnen greifen und sich abstützen lassen, — sich hinsetzen und das kranke Bein evtl. nach vorne strecken lassen. Richtiges Sitzen im Stuhl: — — — —
mit dem Becken und Rücken bis gegen die Rückenlehne setzen, nach Wunsch ein Kissen unter dem Becken resp. hinter dem Rücken anbringen, den kranken Arm in eine funktionelle Position lagern, das kranke Bein auf einen Hocker lagern, aber stets die Knieüberstreckung vermeiden, — falls der Patient seitlich zu kippen droht, ζ. B. weil er Hemiplegiker ist, soll man ihn seitlich mit Kissen, evtl. gegen das Bett abstützen, — bei Patienten, die nach vorne rutschen oder überkippen, kann man den Nachttisch vor sie rücken.
3.6.6.2 Passives Gleiten Diese Mobilisation wird immer mit Hilfe von 2 Pflegepersonen durchgeführt. Ausgangsposition (Abb. 3.6-10). Den Patienten an den Bettrand verlagern, die Hände auf den Bauch legen, das Kopfende hochheben. Der erste Pfleger stellt
Mobilisation
207
sich hinter den Patienten, faßt mit flachen Händen am Brustkorb an und legt den Kopf gegen den des Patienten, zur Bettseite hin. Der zweite Pfleger stützt sich mit den Unterarmen auf das Bett und trägt die Beine unter dem Unter- und Oberschenkel. Bewegung (Abb. 3.6-10). Der erste Pfleger kippt den Patienten mehr und mehr aus dem Bett zum Stuhl, so daß er zu rutschen beginnt. Der zweite Pfleger nutzt diese Gelegenheit und zieht die Beine aus dem Bett. Beachte: Stets den Stuhl nahe ans Bett setzen. Die Bettmatratze muß höher sein als die Stuhllehnen, um nicht daran hängen zu bleiben oder gar den Stuhl wegzudrücken. Diese Mobilisation ist anwendbar, um den Patienten in einen Stuhl, Rollstuhl, Liegestuhl, Nachtstuhl usw. zu setzen.
3.6.7 Aufstehen
Ein Aufstehen ist nur möglich, wenn der Patient allein auf beiden Beinen oder auf einem Bein mit Hilfsmittel stehen kann. Zugleich ist dies Grundlage der Gehschule. Es hat keinen Sinn, einem Patienten das Gehen beibringen zu wollen, wenn er weder allein aufstehen kann noch zu stehen vermag.
208
Grundversorgung
3.6.7.1 Aufstehen vom Bett Nach den erlernten Methoden wird der Patient an den Bettrand gebracht und hingesetzt. Ausgangsposition. Die Betthöhe wird so eingestellt, daß der Patient den Boden mit den Füßen berühren kann. Der Pfleger stellt einen Fuß vor den gesunden des Patienten, um ein Wegrutschen zu vermeiden. Bewegung. Der Patient soll sich immer mit den Händen auf dem Bett abstützen, den Kopf nach vorne über die Knie bringen, die Knie durchstrecken und sich hochdrücken. Falls er nicht weiterkommen sollte, ergreift der Pfleger die Hand des Patienten, seinen Unterarm entlang dem des Patienten führend. Beachte: Den Patienten nicht unter die Achselhöhlen fassen und ihn so hochziehen! 3.6.7.2 Aufstehen vom Stuhl Das Aufstehen vom Stuhl gleicht dem Aufstehen vom Bett. Der Patient soll sich auf den Stuhllehnen abstützen. Das Hinsetzen auf einen Stuhl oder ein Bett erfolgt wie im Abschn. 3.6.6.1 beschrieben.
3.6.8 Gehhilfen, Gehschule Das Gehen oder die Gehschule kann erst dann beginnen, wenn sich der Patient beim Aufstehen und beim Stehen vollkommen sicher fühlt. Das Gehen erleichtern verschiedene Hilfsmittel. Die Auswahl überläßt man der Krankengymnastik. Gehen ohne Hilfe. Der Patient benötigt zum Gehen keine Hilfe. Man beachte nur, daß er normale, gleichgroße Schritte macht und studiere seine Haltung. 3.6.8.1 Gehen mit einer Hilfe Beachte: Nicht vor den Patienten stellen und ihn mit 2 Händen halten wollen. Die seitliche Stellung — links oder rechts entscheidet der Patient — wird bevorzugt. Der Patient kann so gehalten werden: — Hand in Hand, Unterarm gegen Unterarm oder — der Pfleger umfaßt den Rücken und hält den freien Unterarm. Mit der zweiten Hand faßt er die andere Hand des Patienten. 3.6.8.2 Gehen mit zwei Hilfen Vorgehen wie oben beschrieben: Hand in Hand, Unterarm gegen Unterarm.
Mobilisation
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3.6.8.3 G e h e n a m Barren Zwei parallel verlaufende Stangen geben dem Patienten einen sicheren und festen Halt. Die Technik der Gehschule kann umgehend erlernt werden. 3.6.8.4 G e h e n mit dem Eulenburg Dieses Hilfsmittel sollte man nur gebrauchen, wenn der Patient aufrecht stehen kann, aber noch auf eine Unterstützung im Schulterbereich angewiesen ist. Falls er sich im Eulenburg hängen läßt, sollte man auf ihn verzichten. Ein Schleppen und Ziehen ist nicht der Sinn der Übung. Eingestellt wird das Hilfsmittel folgendermaßen: Die Achselpolster werden bei aufrecht stehendem Patienten nur bis gegen die Schulterachseln gebracht. Falls die Höhe für die Handgriffe verstellbar ist, vorgehen wie bei den Krücken (s. u.). 3.6.8.5 Gehen mit dem G e h b o c k oder Gehmeister Hier gibt es 2 Modelle·, den starren und den mobilen Gehbock. Die Höhe dieser Hilfsmittel ist stets verstellbar. Man geht vor wie bei den Krücken (s. u.). 3.6.8.6 G e h e n mit Krücken Bei diesen Hilfsmitteln, zu denen auch Stöcke und Vierfußkrücken gehören, achte man stets auf die Qualität (Alter, Schrauben, eventuell abgebrochene Teile, G u m mipfropfen). Einstellen der Krücken. Der Patient steht aufrecht, die Füße stehen auf einer Linie, er schaut geradeaus. Die Arme läßt er frei hängen, das Handgelenk ragt genau bis auf die Höhe des Handgriffs der Krücke. Beim Halten der Krücke kann eine zusätzliche Kontrolle durchgeführt werden: das Ellenbogengelenk soll sich in Beugestellung (30°) befinden. Die gleichen Einstellungen gelten für den Stock und die Vierfußkrücke. Falls sich der Patient mit einer Krücke mobilisieren darf, sollte er diese immer an der gesunden Seite halten. 3.6.8.7
Gehschule
Bei der Gehschule unterscheidet man 3 Fortbewegungsarten punktgang.
: Zwei-, Drei-, Vier-
• Zweipunktgang: Ein Aufsetzen des kranken Beines auf den Boden ist nicht möglich. Ablauf: Beide Krücken werden zuerst bewegt, dann mit dem gesunden Bein nachspringen, aber nicht zu weit über die Krücken hinweg. • Dreipunktgang: Das kranke Bein kann auf den Boden aufgesetzt werden, entweder ohne Belastung, aber mit Abrollen des Schrittes oder mit Teilbelastung. Ablauf: zunächst die Krücken, dann das kranke und schließlich das gesunde Bein.
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Grundversorgung
• Vierpunktgang: Bei älteren Patienten ist die Methode von großem Nutzen, da sie ggf. länger mit Krücken laufen müssen. Ablauf: Krücke an der gesunden Seite, krankes Bein, Krücke an der kranken Seite, gesundes Bein. 3.6.8.8
Treppensteigen
Für das Treppensteigen sollen Geländer und Gehhilfe (1 Krücke, 1 Stock, 1 Pfleger) benutzt werden. Hierbei soll auf die Situation von zu Hause vorbereitet werden, d. h. die Seite des Geländers entspricht den häuslichen Verhältnissen. Ablauf beim Steigen: gesundes, dann krankes Bein, gefolgt von der Krücke und der Hand am Geländer. Ablauf beim Heruntergehen: zunächst die Krücke und die Hand am Geländer bewegen, dann das kranke, schließlich das gesunde Bein. Beachte: Begleitet ein Pfleger einen Patienten, ohne ihm behilflich zu sein, so stellt er sich beim Hochgehen hinter, beim Hinabgehen vor den Patienten.
3.6.9 Tragen von Patienten Tragen ist für die Pflegeperson äußerst belastend. Kurze Wege und eine geeignete Bettenstellung reduzieren die Belastung (Abb. 3.6-11).
\
Möglichkeit I
Möglichkeit II
Möglichkeit III
k
Möglichkeit IV
b
Abb. 3.6-11: Optimale Bettenstellung, a: Ausgangsposition, b: Ankunftsposition, k: Kopf des Patienten
Mobilisation
211
Beachte: • Völlig immobile Patienten (ζ. B. von Intensivstationen) werden „angehoben" und 1 Schritt rückwärts bewegt, um das Bett schnell auswechseln zu können. • Die Betten werden immer auf die gleiche Höhe gebracht. • Das Fußende evtl. abnehmen, die Aufzugstange und Bettbügel zur Seite drehen oder wegnehmen, die Bremsen blockieren. • Auf Urin-, Magensonden, Respirator usw. achten! • Für die Pflegepersonen gilt: Das Bett genügend hochstellen, der Stärkste zur Mitte des Patienten, der Größte zum Kopf.
3.6.9.1 Tragen mit Hilfe des Patienten Ausgangsposition (Abb. 3.6-12). Der Patient klammert sich mit den Armen um den Hals des Pflegers, der einen Arm unter die Schultern und den Hals des Patienten und den anderen Arm unter den Lendenbereich begibt, indem er ihn vorher kurz anhebt. Der zweite Pfleger schiebt die Arme — wie oben beschrieben — unter die Hüften und Unterschenkel. Bewegung. Den Patienten zu sich rollen, von den Unter- auf die Oberarme. In der Hocke stehen und Oberarme auf dem Bett lassen. Der Patient möge sich gut festhalten. Man drücke ihn fest an sich und stemme ihn aus der Hocke hoch. 3.6.9.2 Tragen ohne Hilfe des Patienten Der Patient wird zu dritt getragen. Ausgangsposition. Der Patient liegt auf dem Rücken im Bett, die Hände befinden sich auf dem Bauch. Die erste Pflegeperson hält den Kopf des Patienten im Ellenbogengelenk, der andere Arm gleitet unter die Schulterblätter. Die zweite
Abb. 3.6-12: Tragen eines Patienten
212
Grundversorgung
Pflegeperson begibt einen Arm unter den Lendenbereich, den anderen unter die Hüftgelenke, das Becken. Die dritte Pflegeperson hat einen Arm unter der Hüfte und einen Arm unter den Unterschenkeln. Bewegung (s. Abschn. 3.6.9.1). Beachte: Zum Hinlegen des Patienten umgekehrt vorgehen: in die Hocke zurückkehren — Oberarme auf das Bett auflegen und sich gut abstützen — den Patienten von den Ober- auf die Unterarme rollen lassen.
3.6.9.3 Tragen mit Gurten Patienten werden nicht immer in Liegestellung, sondern auch in Sitzposition getragen. Hierzu verwendet man Gurte wie bei der Sifam-Methode, wobei ein einfacher gerader und ein Sitzgurt unterschieden werden (Abb. 3.6-13). Es handelt sich um solide Nylonriemen von ca. 8 cm Breite, die angefertigt werden können.
adhesives Band
Abb. 3.6-13: Einfacher, gerader Gurt und Sitzgurt
Ausgangsposition (Abb. 3.6-14): Der Patient sitzt am Bettrand, die Hände auf dem Schoß haltend. Mit dem Gurt bildet man einen Sitz, der das Becken umfaßt. Der Pfleger legt den Gurt über seine patientennahe Schulter, führt in entlang den Schulterblättern unter die andere Schulter hindurch, dann unter die Oberschenkel des Patienten und händigt ihn dem gegenüberstehenden Kollegen aus. Bewegung: in der Hocke stehen — fester Griff am Gurt am Oberschenkel, mit der anderen Hand den Gurt hinter dem Rücken des Patienten fassen. Die Pfleger bringen ihre Stirnen aneinander und heben den Patienten an. Sie drehen sich zum Stuhl hin, gehen wieder in die Hocke und setzen den Patienten ab. Die Gurte bleiben unter dem Patient liegen, so sind sie bereit zum Rücktransport. Beachte: Kann der Patient mit den Armen noch behilflich sein, so legt er diese auf die Schultern der Pflegepersonen und stützt sich beim Tragen ab.
Mobilisation
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3.6.10 Transport von Patienten Der Patient im Bett oder Rollstuhl schaut beim Transport immer in Fahrtrichtung! Transportvorsichtsmaßnahmen sind: entsprechende Lagerung und Kleidung des Patienten, sanftes Rollen, vorsichtiges Fahren um die Ecken, durch Türen, über Schwellen (Lift). Der Zustand des Patienten ist zu beobachten und beim Anhalten sind stets die Bremsen festzustellen.
3.6.11 Hebehilfen, Krankenheber Hebehilfen, sog. Krankenheber, sind ziemlich uniform konstruiert. Folgendes ist zu beachten: — genau wissen, wie man mit dem Krankenheber umgeht, bevor ein Patient mobilisiert wird und den Patienten informieren, — auf die Sauberkeit der Tragriemen achten und das System öfter überprüfen, — Riemen richtig anbringen und nur kurze Strecken zurücklegen.
3.6.12 Bettpfanne, Nachtstuhl, Baden, Duschen Die zu diesen konkreten Anwendungen notwendigen Mobilisationstechniken ergeben sich aus den vorigen Abschnitten. Man muß sich allerdings den lokalen Gegebenheiten anpassen: • Bettpfanne: über die Seitenlagerung — über das Hochheben im Bett (verschiedene Techniken), • Nachtstuhl: über die Bett-Stuhl-Mobilisation — das Tragen — die Hebehilfen,
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Grundversorgung
• Baden: das Tragen — Stuhl-Badewanne-Mobilisation entspricht der Mobilisation vom Bett in den Stuhl, • Duschen: das Aufstehen und das Sitzen — das Tragen — das Gehen. Beachte: Ziel jeder Mobilisation ist ein für den Patienten schmerzloses und angenehmes Arbeiten.
3.7 Lagerung Ulrike
Hamm
Die optimale Lagerung stellt eine zentrale Aufgabe in der Krankenpflege dar. Wird ein Patient, der bettlägerig ist oder der der Ruhigstellung einzelner Körperteile bedarf, nicht richtig gelagert oder nicht in regelmäßigen Abständen umgebettet, so besteht die Gefahr, daß zu der primären Grunderkrankung des Patienten eine sekundäre Schädigung eintritt, die den Krankenhausaufenthalt, die Rehabilitation deutlich verlängern kann. Die Lagerung ist nicht isoliert zu sehen. Sie ist zugleich Prophylaxe (ζ. B. Dekubitusprophylaxe etc.). Es ist daher wichtig, daß das Pflegepersonal Kompetenz in der Auswahl und im Einsatz der verschiedenen Lagerungsmaterialien besitzt. Dazu gehören Kenntnisse über: Wirkung, Auswahl, Eigenschaften, Umweltverträglichkeit und Hygiene.
3.7.1
Lagerungsmaterial
Wirkung. Lagerungsmaterial wirkt druckentlastend am ganzen Körper oder an einzelnen Körperteilen. Bei der Druckverteilung ist darauf zu achten, daß diese großflächig erfolgt. Älteres Material, welches im Inneren Klumpen aufweist, ist gegen neues Material zu ersetzen. Klumpiges Material bewirkt keine gleichmäßige Druckverteilung, da die Klumpen eine punktuelle Druckbelastung ausüben. Die Folge wäre eine Mangeldurchblutung in dem belasteten Bereich und damit eine erhöhte Gefahr eines Druckgeschwüres. Weiterhin ist neben der Druckentlastung auch auf die Stützung zu achten. Der Patient darf nicht im Lagerungsmaterial „versinken". Dadurch würden Gelenkversteifungen begünstigt und Spontanbewegungen behindert. Für die Auswahl des Materials stehen viele Lagerungshilfsmittel zur Verfügung, die patientenspezifisch ausgewählt werden. Diese Materialien bewirken eine optimale Hilfe, um ζ. B. Druckgeschwüre zu verhindern bzw. um bereits vorhandene Druckgeschwüre zu behandeln (s. Abschn. 3.9.2, S. 252). Eigenschaften. Eine Vielzahl der heute erhältlichen Lagerungsmaterialien weisen Eigenschaften auf, die auf die zahlreichen Bedürfnisse der Patienten abgestimmt sind. Material mit variabler Elastizität dient dazu, den unterschiedlich schweren Patienten so zu lagern, daß einzelne Körperteile gestützt sind und eine optimale Lagerung gewährleistet ist.
216
Grund Versorgung
Auch wird bei der Herstellung auf die Luftdurchlässigkeit des Materials geachtet. Es ist so beschaffen, daß Feuchtigkeit direkt abgeleitet wird. Sie entsteht nicht nur bei Inkontinenz, sondern auch bei starkem Schwitzen und normaler Körpertranspiration, bei der der Körper bis zu 900 ml Flüssigkeit täglich verlieren kann. Besteht ein längerer, direkter Kontakt mit der Haut, können sich Bakterien ansiedeln und Druckgeschwüre begünstigen (Abschn. 3.9.6, S. 270). Ein Beispiel hierzu sind die früher verwendeten Matratzenschoner aus Vollgummi. Die vom Körper abgesonderte Flüssigkeit konnte nicht abgeleitet werden, der Patient mußte oft frisch gebettet werden.
Umweltverträglichkeit. In der modernen Krankenpflege wird auch auf die Umweltverträglichkeit geachtet. Die Herstellerfirmen von Lagerungsmaterialien haben ihre Produkte darauf abgestimmt und stellen ζ. B. Schaumstoffe in FCKW-freier Produktion her. Dasselbe gilt für andere Füllmaterialien, die ζ. B. bestimmte Körperteile stützen sollen. Diese werden ebenfalls umweltschonend hergestellt. Verbrauchtes Material kann zum Teil wieder recycelt werden und stellt eine Grundlage für andere Verwendungszwecke dar. Hygiene. Alle Materialien erfüllen den hohen Anspruch der Krankenhaushygiene. Sie sind kochwaschbar (95 °C), desinfizierbar und können im Tumbler getrocknet werden. Lediglich das Entwässern durch eine Presse muß bei einigen Materialien unterbleiben. Die Herstellerfirmen geben zu ihren Materialien eine ausführliche Information über die Handhabung. Diese Informationen liegen jeder Krankenhauswäscherei vor oder können, auf Wunsch durch die einzelnen Stationen angefordert werden. Lagerungshilfsmittel s. Abschn. 3.7.6, S. 224.
3.7.2 Lagerung einzelner Körperteile Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Patienten unter Berücksichtigung seiner Bedürfnisse sachgerecht zu lagern und dabei jedes Körperteil zu unterstützen. Grundsätzlich gibt es 2 Unterscheidungsmerkmale·. Lagerung zur Druckentlastung und zum Stützen oder Ruhigstellen. 3.7.2.1 Lagerung des Kopfes Prinzip und Ausführung: Sie dient der Weichlagerung des Kopfes und der Brustwirbelsäule. Auf das große Kissen kann zusätzlich ein kleines Nackenkissen gelegt werden. Der Kopf wird in der Mitte des Kissens gelagert. Besonderheiten: Das Kinn darf bei dieser Lagerung nicht zu weit auf den Brustkorb gesenkt werden. Auf Wunsch des Patienten kann auch nur das kleine Kissen verwendet werden. Alternativ zu den herkömmlichen Kopfkissen k a n n eine Nackenrolle eingesetzt werden. Diese unterstützt den Nacken zwischen Kopf- und Brustansatz. Material: Kopfkissen 80 χ 80 cm, kleines Kopfkissen 40 χ 40 cm, 40 χ 80 cm, Nackenrolle.
Lagerung
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3.7.2.2 Lagerung der A r m e Prinzip und Ausführung: Jeweils 1 Arm wird vom Schulterblatt bis zu den Fingerspitzen mit 1 (oder 2) Kissen unterstützt. Das Kissen wird mit dem oberen Ansatz unter das Schulterblatt gelegt und der ganze Arm locker auf dem Kissen piaziert. Das Ellenbogengelenk wird leicht angewinkelt, damit die Muskulatur entspannt ist. Besonderheiten: Der Kissenabschnitt unter der Schulter darf diese nicht in eine unnatürlich hohe Stellung bringen, sondern diese nur leicht unterstützen, damit sie nicht nach hinten durchhängt. Dies wird erreicht, indem man mit der Hand das Füllmaterial etwas am oberen Ansatz ausstreicht, oder das Kissen vorher aufschüttelt. Zusätzlich kann ein kleines Kissen unter der jeweiligen Hand piaziert werden, um einer Fallhand vorzubeugen. Die Finger werden dabei leicht um den Kissenrand gelagert. Material: großes Kopfkissen mit weicher Füllung 80 χ 80 cm, kleines Kopfkissen 40 χ 40 cm. 3.7.2.3 Lagerung der Gesäßregion Prinzipien und Ausführung: Sie dient der Weichlagerung der Gesäßregion, um Druckgeschwüren vorzubeugen. Dabei werden Kreuzbein- und Steißbeinbereich entlastet. Der Patient liegt in Rückenlage von der Lendenwirbelsäule bis etwa zur Mitte der Oberschenkel (je nach Größe) auf einem Kissen. Besonderheiten: Es ist darauf zu achten, daß der Bezug keine Falten schlägt, da diese in das Gewebe der gelagerten Gesäßregion drücken und somit eine Mangeldurchblutung bewirken können. Das Kissen darf keine unnatürliche Erhöhung des Beckenbereiches verursachen. Deshalb ist bei der Auswahl der Kissen darauf zu achten, daß diese nicht so prall gefüllt sind. Ein Schaffell (Natur- oder synthetisches Fell) kann eingesetzt werden. Es dient ebenfalls der Weichlagerung der Gesäßregion und besitzt einen Massageeffekt durch die Fellhaare, welche die Durchblutung der Haut fördern. Das Fell muß glatt auf der Matratze aufliegen und darf keine Falten bilden. Keine luftundurchlässige Unterlage zwischen Fell und Gesäß legen, da diese den Massageeffekt des Felles aufhebt! Es wird empfohlen, den Patienten ohne Nacht- und Unterbekleidung mit dem Gesäß direkt auf dem Fell zu lagern.
Material: großes, nicht so prall gefülltes Kissen 80 χ 80 cm, Natur- oder Synthetikfell. 3.7.2.4 Lagerung der unteren Extremitäten Prinzipien und Ausführung: Sie dient ebenfalls der Weichlagerung. Beide Beine werden in Rückenlage auf 1 (bis 2) Kissen gelagert, welches im Oberschenkelbereich ansetzt und bis kurz vor die Fersen reicht. Die Fersen selbst liegen nicht mehr auf dem Kissen. Es bestehen 3 Möglichkeiten·.
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Grundversorgung
In der Seitenlage des Patienten können 2 Kissen zur Extremitätenlagerung eingesetzt werden. Dabei wird das untere Bein von der Hüfte her gerade und im Knie leicht gebeugt im Bett gelagert. Das obenliegende Bein wird leicht angezogen und ebenfalls auf ein Kissen gelagert. Eine weitere Lagerungsmöglichkeit ergibt sich mit dem Einsatz der Beinschiene. Sie dient der Stützung und Ruhigstellung eines Beines. Die Schiene wird nach Arztanordnung dem Patienten in Rückenlage angelegt. Sie muß auf die Beinlänge und ggf. -dicke angepaßt sein. Sie setzt am Oberschenkel an, besitzt eine Mulde für die Fersenfreilagerung, sowie eine integrierte Fußstütze. Eine dritte Möglichkeit stellt die Lagerung der Beine auf einem Beinkeil dar. Diese fördert den venösen Rückfluß aus den Beinen (s. Abschn. 3.9.4, S. 261). Der Beinkeil setzt wie das Kissen im Oberschenkelbereich an und reicht bis kurz vor die Ferse. Der Beinkeil kann bei Bedarf auch für beide Beine gleichzeitig verwendet werden. Besonderheiten: Es ist besonders auf die Freilage der Fersen zu achten. Sie sind stark druckgefährdet und sollen nicht direkt auf der Matratze aufliegen (s. Abschn. 3.9.2, S. 252). In Rückenlage wird zwischen Fußsohle und Bettende ein Kissen gelegt, so daß die Fußsohlen gerade am Bettende piaziert werden (Fußzehen zeigen Richtung Decke) und nicht abknicken können. Dieses zusätzliche Kissen dient der Spitzfußprophylaxe (s. Abschn. 3.9.3, S. 258). In Seitenlage ist darauf zu achten, daß die Lendenwirbelsäule nicht verdreht wird. Dies wird durch das angezogene obenliegende Bein erreicht. Zusätzlich verhindert diese Lagerung eine punktuelle Druckbelastung im Knie- und Fußgelenkbereich, da die Beine nicht direkt aufeinanderliegen. Material: Kissen 80 χ 80 cm, Beinkeil, Beinschienen (je nach Arztanordnung).
3.7.3 Lagerungsvarianten Man kann 8 Grundlagerungsmöglichkeiten unterscheiden. 3.7.3.1 Flache Rückenlage Sie dient der allgemeinen Entspannung und Entlastung der Wirbelsäule und des Beckens. Ausführung: Der Kopf wird auf ein Kopfkissen gelagert, je nach dem Bedürfnis des Patienten. Durch die leichte Unterstützung des Kopfes und des Nackens wird die Atmung erleichtert. Die Arme liegen leicht gebeugt seitlich neben dem Körper. Die Beine können mit einem nicht so prall gefüllen Kissen ab dem Oberschenkelbereich gelagert werden. Ein Kissen wird zwischen Füße und Bettende piaziert. 3.7.3.2
Oberkörperhochlagerung
Sie wird eingesetzt während der Nahrungsaufnahme, der Unterhaltung (Besuch, Lesen, Fernsehen), zur Kreislaufbelebung und Atemerleichterung. Ausführung (Abb. 3.7-1): Das Kopfteil des Bettes wird zur Unterstützung des Rückens in die gewünschte Höhe gebracht. Der Oberkörper wird, wie beim Sitzen
Lagerung
219
auf einem Stuhl, in der Hüfte abgewinkelt. Auf keinen Fall darf die Brustwirbelsäule abgeknickt werden, da dies die Wirbelsäule belastet und die Atmung deutlich behindert. Kopf und Rücken werden je nach Bedürfnis mit einem Kopfkissen unterstützt, mindestens aber mit einem Nackenkissen. Die Unterarme werden links und rechts des Körpers auf gut gefüllte Kissen gelagert. Ein Kissen unterstützt jeweils einen Arm vom Ellenbogen bis zu den Fingern. Die Oberarme liegen entlang des hochgestellten Kopfteiles. Zwischen Fußsohle und Bettende wird ein Kissen piaziert, um die Füße abzustützen. 3.7.3.3
Schräglagerung
• 30-Grad-Schräglagerung. Diese Lagerungsvariante ist die risikoärmste. Kreuzbein und Trochanter werden entlastet. Diese Stellen des Körpers sind bei längerer Bettlägerigkeit besonders dekubitusgefährdet (s. Abschn. 3.9.2, S. 252). Ausführung (Abb. 3.7-2): Der Kopf wird mit einem kleinen Kissen unterstützt. Zwei weitere große Kissen 40 χ 80 oder 80 χ 80 cm werden in gerader Linie ab dem Schulterblatt bis zum Fußknöchel unter die Seite des Körpers gelegt, die entlastet werden soll. Bei dieser Lagerungsvariante muß die Schulter auf gleiche
Abb. 3.7-2: Die 30-Grad-Schräglagerung entlastet Kreuzbein und Trochanter und ist ausgesprochen risikoarm
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Grundversorgung
Höhe wie das Becken angehoben werden, die Wirbelsäule bildet eine gerade Linie, sie darf nicht verdreht werden. Der hochgelagerte Arm liegt, im Ellenbogenbereich leicht angewinkelt, auf dem Kissen, welches die Schulter und den Thorax stützt. Das höher gelagerte Bein liegt ebenfalls leicht gebeut auf dem zweiten Kissen, welches die Hüfte stützt. Die Ferse des gelagerten Beines liegt frei. Arm und Bein der anderen Körperseite liegen, in den Gelenken leicht gebeugt, auf der Matratze. Die Lagerung ist richtig ausgeführt, wenn die Pflegeperson die flache H a n d leicht unter Kreuzbein und Trochanter schieben kann. • 90-Grad-Lagerung. Hier liegt ein Hauptteil des Körpergewichtes auf dem Trochanter. Somit ist die Gefahr sehr groß, daß es hier zu einem Druckgeschwür kommt. Aus diesem Grund sollte diese Lagerungsvariante nicht mehr eingesetzt werden, alternativ ist die wesentlich risikoärmere 30-Grad-Schräglagerung einzusetzen.
3.7.3.4
135-Grad-Lagerung
Diese Lagerungsvariante ersetzt die für viele Patienten unangenehme rung.
Bauchlage-
Ausführung (Abb. 3.7-3). Der Kopf wird auf ein kleines Kopfkissen gelagert 40 χ 80 oder 40 χ 40 cm. Der Brustbereich wird bis zum Beckenkamm mit einem großen weichen Kopfkissen 80 χ 80 cm gestützt. Es ist darauf zu achten, d a ß der Beckenkamm gut abgestützt ist und nicht schwer aufliegt, da Druckgeschwüre drohen. Das obenliegende Bein wird, leicht gebeugt, ab dem Oberschenkel auf ein großes Kissen gelagert, der Fuß liegt auf dem Kissen. Das untenliegende Bein von der Hüfte aus gerade lagern und im Kniegelenk leicht beugen.
Abb. 3.7-3: Die 135-Grad-Lagerung ersetzt vielfach die Bauchlagerung
3.7.3.5
Fünf-Kissen-Methode
Diese Lagerung wird bei hoher Dekubitusgefa.hr eingesetzt. Sie verbindet die Weichund Freilagerung gefährdeter Körperstellen in der Rückenlage. Ausführung (Abb. 3.7-4): Das erste Kissen wird am Kopfende piaziert u n d dient als Kopf- und Nackenkissen. Das zweite Kissen wird von der Schulter bis zur Lendenwirbelsäule piaziert. Das dritte Kissen setzt am unteren Gesäßbereich an
Lagerung
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Abb. 3.7-4: Fünf-Kissen-Methode, besonders zur Dekubitusprophylaxe geeignet
und reicht bis an die Knie. Das vierte Kissen unterstützt die Waden. Das fünfte Kissen dient dem Abstützen der Füße. Die Anordnung der Kissen ermöglicht eine Freilagerung der Schultern, des Kreuzund Steißbeines sowie der Fersen. Ebenso ermöglicht diese Lagerung Spontanbewegungen des Patienten, da kein Gelenk durch das Kissen behindert wird. Außerdem kann ohne großen Aufwand eine 30-Grad-Schräglage hergestellt werden, ζ. B. kann eine zusammengerollte Decke auf der betreffenden Längsseite unter die Matratze gelegt werden. Bei der Auswahl der Kissen ist die Größe des Patienten zu berücksichtigen. Zu empfehlen sind Kissen mit den Maßen 40 χ 80 cm oder 45 χ 80 cm. 3.7.3.6 Sechs-Kissen-Methode (Kissenbett) Das Kissenbett bietet zusätzlich eine Freilagerung der Wirbelsäule bei besonders gefährdeten Patienten. Ausführung (Abb. 3.7-5): Fünf-Kissen-Methode. Von den Schulterblättern bis zum Steißbein werden 2 Kissen 40 χ 80 cm parallel gelegt.
Abb. 3.7-5: Sechs-Kissen-Methode oder Kissenbett zur Dekubitusprophylaxe und Freilagerung der Wirbelsäule
3.7.3.7
V-Lagerung
Die V-Lagerung wird angewandt, um die Wirbelsäule frei zu lagern, ζ. B. bei schon vorhandenen Schädigungen der Dornfortsätze.
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Grundversorgung
(Atmungserleichterung)
Gleichzeitig wird der Oberkörper gut überdehnt, so daß die Atmung erleichtert wird. Ausführung (Abb. 3.7-6): Zwei ältere, nicht so prall gefüllte Kopfkissen, werden zu Schiffchen geformt (ein Teil des Kissçns in den anderen Teil stülpen), Endgröße 80 χ 20 cm. Die Kissen werden so gelegt, daß sie an den oberen E n d e n in VForm übereinander liegen (a). Der Patient liegt etwa in Höhe des dritten Halswirbels auf dem oberen Ende, Hals und Kopf liegen frei. Der Kopf liegt a u f einem separaten Kissen. Die Arme liegen seitlich auf Kissen (b). 3.7.3.8
T-Lagerung
Die T-Lagerung wird ζ. B. bei Hautschädigungen im Bereich der Schulterblattspitzen oder am unteren Rippenrand des Rückens angewandt. Bedingt durch die Lage der Kissen liegen die gefährdeten oder geschädigten Bereiche frei. Ausführung (Abb. 3.7-7): Zwei ältere, nicht so prall gefüllte Kopfkissen werden zu Schiffchen geformt und zu einem Τ angeordnet. Die Wirbelsäule des Patienten liegt auf einem Kissen, Schulterblattspitzen und Rippenrand liegen frei. D e r Kopf liegt auf einem separaten Kopfkissen. Diese Lagerung besitzt einen positiven Einfluß auf die Atmung. Diese Kissenanordnung kann auch beim sitzenden Patienten angewandt werden.
3.7.4 Streck- und Beugestellung Wie im Abschn. 3.7.3 beschrieben, werden bei den Lagerungen die Gelenke zur Entlastung der Muskulatur in eine leichte Beugestellung gebracht. Regelmäßiges Wechseln der Lagerungsvarianten bewirkt dabei ein abwechselndes Strecken und Beugen aller Gelenke. Für die Arme besteht zusätzlich durch eine Überkopflagerung die Möglichkeit, auch im Schultergelenk einen Stellungswechsel vorzunehmen.
Lagerung
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Abb. 3.7-7: T-Lagerung, angewandt bei Hautschädigung im Bereich des Rückens
Bei stark gefährdeten Patienten (ζ. B. Patienten mit Gelenkerkrankungen, Nervenschädigungen oder Verbrennungen im Bereich der Gelenke) muß besonderer Wert auf die richtige Streck- und Beugestellung gelegt werden, um einer Versteifung vorzubeugen: • Kopf- und Nackenbereich. Der Patient muß so gelagert werden, daß er diesen Bereich frei bewegen kann. Dabei darf der Kopf nicht in dem Kopfkissen versinken. • Schulter-, Arm- und Handbereich. Der Oberarm soll etwa 30 Grad vom Thorax abgewinkelt sein. Der Unterarm wird im Ellbogen nur leicht angewinkelt und in Richtung Oberschenkel gelagert. Der Arm wird auf ein Kissen (s. o.) so gelagert, daß Unterarm und Hand höher liegen als die Schulter. Die Hand wird nochmals mit einem kleinen Kissen unterlegt, die Finger werden leicht gespreizt und um den Kissenrand gelegt. Damit wird das Handgelenk in eine gerade Stellung gebracht (Abb. 3.7-8). Physiologische Stellung des Handgelenkes: • Hüftbereich. Das Bein wird aus der Hüfte heraus gerade gelagert.
a
falsch
b
richtig
Abb. 3.7-8: Physiologische Stellung des Handgelenkes: a. falsch, b. richtig
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Grundversorgung
• Knie- und Fußbereich. Die Kniegelenke werden gestreckt gelagert. Ist dies für einen Patienten unangenehm, kann ein kleines, flaches Kissen unter die Kniekehle gelegt werden. Achtung: Das Kissen darf nicht zu hoch sein, da sonst der Winkel des Kniegelenkes zu groß wird und so der Muskelentspannung entgegengewirkt wird. Die Füße werden am Bettende mit der Fußsohle an ein weiches Kissen gestellt, die Bettdecke wird locker über die Fußspitzen gelegt, damit kein Druck auf die Füße kommt und evtl. die Fersen auf die Matratze drückt. • Kontraktur. Werden die Gelenke nicht richtig in die entsprechende Beugeund Streckstellung gebracht, äußern sich Schmerzen und Behinderungen beim Bewegen. Aus der Bewegungsbehinderung kann eine vollständige Versteifung der Gelenke, eine Kontraktur, entstehen (s. Abschn. 3.9.3, S. 258).
3.7.5 Be- und Entlastungslagerung Jeder Bereich des Körpers ist beim Liegen mehr oder weniger belastet. Werden Bereiche des Körpers längerer Belastung ausgesetzt, ohne daß der Patient selbständig eine neue Lage einnehmen kann, besteht sehr schnell die Gefahr einer Minderdurchblutung der belasteten Körperstellen. Diese Mangeldurchblutung hat zur Folge, daß das betroffene Gewebe nicht mehr ausreichend ernährt und entsorgt wird. Die Folge einer Mangeldurchblutung, die längere Zeit andauert, ist ein Druckgeschwür (s. Abschn. 3.9.2, S. 252).
3.7.6 Lagerungshilfsmittel Prinzipiell muß jedes Lagerungshilfsmittel individuell auf Patientenbedürfnisse abgestimmt werden. Die Herstellerfirmen verfügen über ein reichhaltiges Angebot an Lagerungshilfsmitteln. Umfangreiches Informationsmaterial ist den Hilfsmitteln beigelegt und sollte eingesehen werden. 3.7.6.1 Weich- und Freilagerungskissen Hierzu gehören: — Kissen in verschiedenen Größen (Abb. 3.7-9 a) und Ellenbogenmanschetten (Abb. 3.7-9 b), — Fellschuh und Unterschenkelmanschette (Abb. 3.7-10), — Schaffelle (echtes und synthetisches Fell) und Weichlagerungsmatratze.
Lagerung
225
Abb. 3.7-9: Kissen (a) und Ellenbogenmannschette (b)
Weich- und Freilagerungsmaterialien wirken druck-, und feuchtigkeitsableitend.
temperaturausgleichend
Weiterhin kommen zur Weich- und Freilagerung im Krankenhaus Schaumstoffblöcke und Schaumstoffmatratzen zum Einsatz. Sie haben jedoch den Nachteil, daß sie sehr schlecht Feuchtigkeit ableiten. Daher sollen Schaumstoffe nicht bei Patienten eingesetzt werden, die stark schwitzen oder inkontinent sind. 3.7.6.2 Stütz- und Fixierungskissen Stütz- und Fixierungskissen sind: — Lagerungskissen (mit speziellen Füllungen je nach Hersteller) in verschiedenen Größen, — Rollen ζ. B. Nackenrollen, Knierollen usw., in verschiedenen Größen, — Bein- (Abb. 3.7-11) und Armrampen, und Schienen für die Extremitätenlagerung, ζ. B. Keelschiene (Abb. 3.7-12) sowie Sand- und Bleisack. Sand- und Bleisäcke werden nur nach Anordnung des Arztes verwendet. Sie dienen der speziellen Stützung (ζ. B. bei Gipsbehandlung) oder Kompression von Einstichwunden nach bestimmten Punktionen (ζ. B. Nierenbiopsie, Arteria femoralis usw.).
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G r u n d Versorgung
Abb. 3.7-11: Beinrampe. Hier angewandt bei venösem Gefaßverschluß rechts
Abb. 3.7-12: Beinlagerung mit der Keelschiene
Ein weiteres Lagerungshilfsmittel ist der Bettbogen (Abb. 3.7-13). Er wird eingesetzt, wenn ein Bereich des Körpers vom Druck der Bettdecke entlastet werden soll, ζ. B. bei Verbrennungen, großflächigen Verletzungen der Beine, AVK usw.
Abb. 3.7-13: Bettbogen, entlastet den Körper vom Druck der Bettdecke
3.7.6.3 Weitere Lagerungshilfsmittel: Sitzring, Gelkissen Neben den schon erwähnten Lagerungshilfsmitteln kommen in der Krankenpflege noch viele andere Hilfsmittel zum Einsatz, die eine Sonderstellung einnehmen: Sitzring mit Schaumstoffüllung und Gelkissen. • den Sitzring gibt es in geschlossener und offener Ausführung. Er sollte in der Krankenhauspflege nicht mehr als Freilagerungshilfsmittel eingesetzt werden, da er für diesen Einsatz nur Nachteile mit sich bringt:
Lagerung
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Der Druck wird auf die aufliegende Körperfläche übertragen. Zwar wird die momentan gefährdete Gesäßregion entlastet, der aufliegende Teil des Körpers aber um so stärker belastet, da kein weiterer Druckausgleich stattfindet. Es treten Mangeldurchblutungen auf, die nicht nur die aufliegenden Körperteile schädigen können, sondern in Folge auch die freiliegende Gesäßregion. Ein weiterer Nachteil ist die durch den Sitzring bedingte Immobilität des Patienten. Führt der Patient noch Spontanbewegungen durch, wird er immer Angst haben, von dem Sitzring zu „kippen". In der Hauskrankenpflege findet der Sitzring dennoch Anwendung. Er wird überdies von Wöchnerinnen bevorzugt, da sie ζ. B. beim Stillen bequemer sitzen können und dabei das äußere Genitale entlasten. Gleiches gilt für Patienten, die an Hämorrhoiden leiden, oder im Analbereich operiert wurden. • Das Gelkissen enthält synthetische Inhaltsstoffe, die eine ähnliche Konsistenz wie das menschliche Fettgewebe besitzen sollen. Es soll eine ungleichmäßige Druckverteilung stattfinden, wodurch bei Verlagerung des Gewichts auf eine Gesäßhälfte der Druck auf dieses Hautgebiet vergrößert und der Auflagedruck auf die andere Gesäßhälfte verringert wird. Gelkissen beugen Druckgeschwüren nur dann vor, wenn der Patient noch Eigenbewegungen durchführen kann. Kachektische Patienten, die sich spontan bewegen, profitieren besonders vom Gelkissen, das ein künstliches Fettpolster bildet. Ein Patient, der nicht mehr in der Lage ist, von sich aus Bewegungen durchzuführen, muß auf andere Lagerungshilfsmittel gebettet werden, ζ. B. Weichlagerungsmatratze.
3.8 Behinderungen 3.8.1 Blindheit und Sehbehinderungen Dennis
Cory
Blindheit. Als blind gelten Menschen, die gar nichts mehr sehen oder nur noch einen geringen Sehrest bis zu 1/50 haben. Blinde im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes
sind „Personen,
(1) deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, (2) bei denen durch Nummer. 1 nicht erfaßte, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, daß sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleichzuachten sind."
Hochgradige Sehbehinderung. Im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes ist die Voraussetzung für „wesentlich sehbehindert" bei den Personen erfüllt, „bei denen mit Gläserkorrektion ohne besondere optische Hilfsmittel 1.) auf dem besseren Auge oder beidäugig im Nahbereich bei einem Abstand von mindestens 30 cm oder im Fernbereich eine Sehschärfe von nicht mehr als 0,3 besteht oder 2.) durch Nummer 1. nicht erfaßte Störungen der Sehfunktion von entsprechendem Schweregrad vorliegen".
3.8.1.1 Auswirkung von Blindheit und Sehbehinderung Auswirkungen der Blindheit. In wesentlichen Lebensbereichen sind spürbare Einschränkungen deutlich zu erkennen, nämlich bei der selbständigen Fortbewegung, bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben und in der Kommunikation. Auswirkung der Sehbehinderung. Wenn das Restsehvermögen in bestimmten Situationen noch eingesetzt werden kann, sind die Einschränkungen von einer ganz anderen Art als bei blinden Menschen. Abhängig von Beleuchtung, Kontrast und Farben kann der Betroffene mal gut oder mal weniger gut die Aufgaben des Alltags visuell bewältigen. Dies führt sehr oft zu Mißverständnissen mit Menschen im Umfeld des Betroffenen. Die Praxis zeigt, daß die blindheit- und sehbehinderungsbedingten Einschränkungen durch schulische, rehabilitative und berufliche Maßnahmen gemindert werden können. Allerdings entsteht eine weitere Einschränkung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit, wenn die Menschen im Umfeld des Betroffenen eine schützende, überbehütende Haltung einnehmen. Diese Art der Einschränkung läßt sich schwer abbauen. Daher ist es wesentlich, daß Pflegepersonen den korrekten Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen beherrschen.
Blindheit und Sehbehinderungen
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3.8.1.2 Einsatz der verbliebenen Sinne Die meisten Wahrnehmungen der Menschen erfolgen durch das Sehen. Bei sehgeschädigten Menschen ist diese wichtige Informationsquelle stark eingeschränkt oder fehlt. Daher spielen für Blinde und Sehbehinderte die Schulung und der Einsatz der verbliebenen Sinne eine wichtige Rolle. • Taktile Informationen. Durch Finger, Hände und Füße werden Teilinformationen über Beschaffenheit, Größe, Form, Temperatur und Art von Gegenständen wahrgenommen. Diese Teilinformationen müssen dann kognitiv verarbeitet und zu einer Ganzheit zusammengesetzt werden. Diese Wahrnehmung von Gegenständen ist wesentlich zeitaufwendiger als die visuelle. Der Mehrbedarf an Zeit ist ein Hauptmerkmal der Sehschädigung. • Akustische Informationen. Das Gehör gibt dem sehgeschädigten Menschen die Möglichkeit, einige Merkmale von Schall für die Orientierung auszuwerten. Die Geschwindigkeit der Wahrnehmung ist bei Schallereignissen sehr schnell; die Genauigkeit, ζ. B. bei der Entfernungsmessung ist geringer als die visuelle Wahrnehmung. Eine automatische Verbesserung der Hörleistung ist bei sehgeschädigten Menschen nicht gegeben. Die Schulung des Gehörs hat daher in den Rehabilitationsprogrammen bei späterblindeten Menschen einen hohen Stellenwert. • Olfaktorische Informationen. Die Gerüche der Umgebung können oft sehr aufschlußreiche Informationen über Abläufe, Gegenstände und Personen geben. Da diese Informationen sehr von Wind, Belüftungs- und Klimaanlagen abhängig sind, geben sie selten die Grundlage für die Orientierung im Raum. • Visuelle Informationen. Da auch diejenigen Menschen, die die gesetzliche Definition der Blindheit erfüllen, sehr oft über ein Restsehvermögen verfügen, ist es sehr wichtig, die elementaren Faktoren des Sehens wie Farben, Formen, Größe, Kontrast und Helligkeit als Informationsgeber für den einzelnen Betroffenen zu prüfen. Die passende Beleuchtung kann unter Umständen die Sehleistung deutlich verbessern.
3.8.1.3 Orientierung und Fortbewegung Obwohl viele Blinde sich ohne fremde Hilfe unter Anwendung eines Führhundes, eines Langstocks oder elektronischer Hindernismelder fortbewegen, bleibt die übliche Art der Fortbewegung das Gehen mit sehender Begleitung. Daher ist für Pflegepersonal, die mit blinden Patienten zu tun haben, die Beherrschung eines sicheren Begleitungssystems unerläßlich.
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Grundversorgung
Die Pflegeperson (folgend als Ρ bezeichnet) muß ebenfalls in der Lage sein, einem blinden Menschen (folgend als Β bezeichnet) die Fertigkeiten für die selbständige, sichere und effektive Fortbewegung innerhalb eines bekannten Gebäudes zu vermitteln. Diese Fertigkeiten dienen dazu, daß Β so sicher wie möglich zum Ziel kommt, ohne daß dabei Zusammenstöße, Stolpern oder Verletzungen entstehen. Der Blinde muß Fertigkeiten für das Gehen entlang einer Leitlinie (Gleiten) beherrschen. Ferner muß er geradeaus gehen können (Ausrichten: im 90° Winkel und parallel) und die Wahrnehmung von Gegenständen durch das Gehör oder durch Schutzhaltungen (Gesicht, Oberkörper- und Unterkörperschutz) eingeübt haben. Diese Fertigkeiten bieten Schutz und taktile Orientierungshilfen über Gegenstände der Umwelt innerhalb der Reichweite des Körpers. Sie werden in einer Umgebung, in der sich Β frei bewegen möchte, angewendet, um sich zu schützen und um Gegenstände und Zielpunkte zu erkennen. Folgende Fertigkeiten, die gleichzeitig angewendet werden können, sind besonders wichtig: • Gesichtsschutz. Die Hand wird mit der Handinnenfläche nach vorn vor das Gesicht gebracht. Die Finger sind gebeugt und der Handballen ist weiter vorgestreckt als die Finger. • Oberkörperschutz. Β bringt den Arm in Schulterhöhe waagerecht vor die Brust mit der Handinnenfläche nach vorn, die Fingerspitzen in einer Linie mit der gegenüberliegenden Schulter und der Handballen weiter vor als der Ellenbogen. • Unterkörperschutz. Β streckt einen Arm nach unten diagonal vor den Körper mit dem Handrücken nach vorn und die Hand in Körpermitte. So kann man die Gegenstände wahrnehmen, die in dieser Höhe sind. • Ausrichten. Um sich auszurichten, steht Β mit dem Rücken zur Wand neben der Tür und bringt mindestens 2 Körperteile in Kontakt mit der Wand (beide Fersen, Schulter oder Gesäß). • Gleiten. Der „Wandarm" wird mit der Hand in Gürtelhöhe nach vorn gestreckt. Der Handrücken berührt die Wand; mit leicht gebeugten Fingern gleitet Β an der Wand entlang. Bei Öffnungen, ζ. B. Türrahmen, kann die Haltung für Gleiten mit Oberkörperschutz kombiniert werden. • Orientierung im Raum. Anhand der Informationen, die über die verschiedenen Sinneskanäle gesammelt worden sind, kann ein blinder oder sehbehinderter Mensch sich sehr oft selbständig im Raum orientieren. Grundelemente der Orientierung im Raum sind: • Markante Punkte, Hinweise, Messungen, • Numerierungssysteme, Kompaßrichtungen, System für
Vertrautmachen.
Das Erlernen dieser Elemente bildet den Kern des Orientierungs- und Mobilitätstrainings für blinde und sehbehinderte Menschen.
Blindheit und Sehbehinderungen
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• Vertrautmachen mit Zimmer. Es ist sehr wichtig, daß man im Zimmer einen markanten Punkt festlegt. Dabei ist es für die meisten Zimmer logisch, einen Punkt neben der Tür zu nehmen, durch die man den Raum betreten hat. Man muß sich dann ausrichten, um von diesem Punkt aus in eine bestimmte Richtung gehen zu können. Um taktile Informationen über Form und Größe des Zimmers und über die Gegenstände im Raum zu bekommen, können die oben beschriebenen Fertigkeiten (Körperschutz, Gleiten) eingesetzt werden. Β macht sich mit dem Zimmer vertraut und beschreibt dann die markanten Punkte an den Wänden. Dabei wird besonders die Lage der Punkte in Relation zum Ausgangspunkt betont. Die Benennung der Wände (entweder mit Himmelsrichtungen oder mit Nummern) ist hier sehr hilfreich.
3.8.1.4 Techniken für sehende Begleitung Grundposition Um Kontakt mit dem blinden Menschen (B) aufzunehmen, kann die Pflegeperson (P) mit ihrem Arm den Arm des blinden Menschen direkt berühren, oder Β kann den Arm der Ρ finden, indem er die Position der Ρ akustisch ortet. Β stellt sich neben P, so daß beide die gleiche Gehrichtung haben und legt die zur Ρ näherliegende Hand auf den eigenen Bauch. In dieser Höhe führt Β den Handrücken zur Ρ hin bis Kontakt hergestellt worden ist. Β faßt den Arm der Ρ direkt oberhalb des Ellenbogengelenks an. Der Daumen des Β liegt außen am Arm der P, und die Finger liegen innen. Der Ellenbogen des Β ist gebeugt, der Oberarm liegt am Oberkörper an; der Arm der Ρ ist entweder angewinkelt oder gestreckt. Β sollte eine Position einen halben Schritt hinter und seitlich von Ρ einnehmen, so daß seine Schulter direkt hinter der Schulter der Ρ ist. Es ist wichtig, daß Β die Position des Oberarms einhält — vor allem bei Drehungen. So vermeidet er, daß er aus dem Schutzbereich der Ρ herauskommt. Enge Stellen Ρ bringt den gestreckten Begleitarm nach hinten zur Rückenmitte gestreckt; Β streckt ebenfalls den Arm, so daß er einen ganzen Schritt direkt hinter Ρ ist. Beim Passieren von engen Stellen soll Β darauf achten, der Ρ nicht in die Fersen zu treten. Dies kann erreicht werden, wenn er den Haltearm richtig streckt. Wenn Ρ wieder die normale Armposition einnimmt, weiß B, daß der Weg wieder breiter ist. Er geht dann wieder halb hinter und seitlich von der P. Β soll darauf achten, daß er nicht „überkorrigiert" und dadurch auf die andere Seite der Ρ „herausschwingt". Türen Die Verhaltensweisen für das Passieren von Türen sind von der Art der Tür und von der Öffnungsrichtung abhängig. Es gibt 4 Grundmöglichkeiten für die Rieh-
232
Grundversorgung
tung: Drücken, Türbänder rechts; Drücken, Türbänder links; Ziehen, rechts; Ziehen, Türbänder links.
Türbänder
Für den Anfanger sind die Lernschritte weniger kompliziert, wenn man zuerst mit Türen übt, die zu drücken sind und zu der Seite der Ρ sich öffnen. Wenn die Tür erreicht wird, soll Ρ anhalten und Β sagen, in welche Richtung die Tür öffnet. • Tür rechts, drücken: Ρ drückt die Tür mit der freien Hand auf. Gleichzeitig gibt sie dem Β das Zeichen für enge Stellen. Β nimmt die Oberkörperschutzhaltung an. Die Fingerspitzen der Schutzhand berühren dabei die Schulter oder den Oberarm der P. Ρ passiert die Tür; beim ersten Schritt der Ρ vorwärts, führt Β seinen Arm zur Tür hin, wobei die Finger gebeugt sein müssen. Wenn die Tür sich nicht selbsttätig schließt, muß Β den Türdrücker suchen, um die Tür zu schließen. • Tür rechts, ziehen: Die Position und die Fertigkeiten sind die gleichen wie oben, mit der Ausnahme, daß es evtl. nötig sein wird, daß beide (P und B) zuerst einen Schritt zurück machen müssen, um die Tür aufmachen zu können. Bei „Tür rechts, ziehen" wird auf der Türfläche nie mit der Hand geglitten, da man leicht mit den Fingern in die Türbänder kommen kann. Sollten Ρ und Β die Tür so anlaufen, daß Β nicht auf der Seite der Türbänder ist, muß Β die richtige Position einnehmen, indem er den Führarm mit der freien Hand anfaßt und mit der dadurch freigewordenen Hand die Tür lokalisiert (wiederum mit der Schulter oder mit dem Oberarm der Ρ als Ausgangspunkt für die Oberkörperschutzhaltung). Nach Passieren der Tür nimmt man die Grundposition wieder ein. Wenn Β die Tür für Ρ aufmachen möchte, muß er auf der Seite der Türbänder sein. Ρ hält dann vor dem Türdrücker an und legt die Führhand auf den Drücker. Β fahrt mit der Hand am Arm der Ρ zum Türdrücker hin und öffnet die Tür. Ρ passiert die Tür zuerst und Β kommt nach und schließt die Tür. Treppen • Beim Treppensteigen aufwärts nähert sich Ρ den Treppen im 90° Winkel und sagt die Treppe an. Β richtet sich neben der Ρ aus. Ρ beginnt die Treppe aufwärts zu gehen. Β geht stets eine Stufe hinter der Ρ her. Dabei sollte das Gewicht vom Β leicht nach vorne verlagert werden, um das Gleichgewicht besser halten zu können. Am Ende der Treppe bleibt Ρ stehen, als Zeichen für den B, daß die Treppe zu Ende ist. Β muß also noch eine Stufe gehen und kann durch dieses Zeichen einen „Luftschritt" vermeiden. • Bei der Treppe abwärts geht Ρ im 90° Winkel auf die Treppe zu und hält an. Β richtet sich neben Ρ aus. Ρ beginnt die Treppe abwärts zu gehen und Β geht wieder stets eine Stufe hinter der P. Das Gewicht des Β soll jetzt leicht nach hinten verlagert werden.
Blindheit und Sehbehinderungen
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Am Ende der Treppe bleibt Ρ stehen, als Zeichen für den B, daß die Treppe zu Ende ist. Β muß also noch eine Stufe gehen und kann durch dieses Zeichen einen „Extraschritt nach unten" vermeiden. • Nachdem Β mit diesen Fertigkeiten sicher ist, kann man ohne anzuhalten hinaufoder hinabgehen; man verzögert lediglich das Schrittempo etwas als Zeichen für die kommende Treppe. Β muß dann die Bewegung des Ellenbogens der Ρ richtig ausdeuten. Auch oben oder unten angekommen verzögert man nur noch oder nimmt einen langen Schritt als Zeichen für das Ende der Treppe. Ein vorhandener Handlauf oder ein Geländer dürfen benutzt werden, vor allem wenn zusätzliche Behinderungen das Gehen erschweren. Genaues Gehen Das genaue Gehen seitens der Ρ erleichtert die Orientierung des Β beim Zurücklegen von Strecken. Dabei sind genaue Drehungen besonders wichtig. Wenn Ρ sich mit genauen Viertel- oder 90-Grad-Drehungen dreht, kann Β diese Drehungen leicht verfolgen. Am sich sich und
deutlichsten ist die Innendrehung, also Β dreht sich auf der Stelle und Ρ dreht mit einem Schritt um 90° zum Β hin. Dann mit Außendrehung, also Ρ dreht auf der Stelle vom blinden Menschen weg. Die Drehungen sollen gleichmäßig nicht zu schnell gemacht werden.
Genauso ist es bei der 180-Grad-Drehung oder Richtungswechsel. Ρ sagt die Drehung an. Ρ und Β bleiben stehen und drehen sich zueinander (Gesicht zu Gesicht), also um 90°. Bei diesem ersten Teil der 180°-Drehung wechselt Β den Führarm. Nach dem Umgreifen drehen sich beide weiter um 90°. Ρ stellt die Grundposition für das Weitergehen durch einen Vorwärtsschritt wieder her. Platznehmen Beim Platznehmen werden Blinde oft unnötig, falsch oder ungeschickt „behandelt". Der Blinde kann selbständig feststellen: Form, Größe, Typ und Stabilität der Sitzgelegenheit und ob sie frei ist. Eine sehende Begleitung erfolgt also nur bis an die Sitzgelegenheit heran; ab dann ist Β zuständig! Wenn Ρ mit dem Β vor der Sitzgelegenheit steht, führt sie den Β bis einen halben Schritt vor den vorderen Rand des Stuhles und informiert ihn über Position und Entfernung des Stuhles. Β geht langsam nach vorn, um so durch seine Beine Kontakt mit dem Stuhl herzustellen. Β untersucht die Sitzfläche des Stuhls mit der Hand im Kreuzmuster, um feststellen zu können, ob die Fläche frei ist und ob der Stuhl Arm- und Rückenlehnen hat. Dabei nimmt er die Haltung für Gesichtsschutz mit der freien Hand ein. Β richtet sich mit den Waden am Sitz aus. Β kann beim Hinsetzen den Stuhl halten und sein Gleichgewicht kontrollieren, indem er sich entweder am Sitz oder an vorhandenen Lehnen festhält.
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Grundversorgung
• Ausgangspunkt hinter dem Stuhl: Ρ führt Β bis einen halben Schritt hinter den Stuhl und informiert ihn über dessen Position und Entfernung. Β geht mit der Unterkörperschutzhaltung langsam nach vorn, um so durch seine Hand Kontakt mit der Rücklehne des Stuhles herzustellen. Β untersucht den Stuhl, richtet sich aus und nimmt Platz wie oben beschrieben. • Ausgangspunkt hinter dem Stuhl am Tisch: Diese Fertigkeit ist eine Variation „Ausgangspunkt — Hinter dem Stuhl". Wichtig wird jetzt das Verhältnis vom Stuhl zum Tisch — dazu kommen noch die Gegenstände, die sich evtl. auf dem Tisch befinden. Ρ führt den Β bis einen halben Schritt hinter den Stuhl und informiert ihn über dessen Position und Entfernung, sowie über die Position des Tisches. Β geht mit der Unterkörperschutzhaltung langsam nach vorn, um so durch seine Hand Kontakt mit der Rücklehne des Stuhles herzustellen. Β stellt mit der freien Hand Kontakt zum Tisch her und untersucht den Stuhl wie oben beschrieben. Er zieht ihn so weit wie nötig vom Tisch ab und nimmt Platz. Er behält mit dem Handrücken den Kontakt zur Tischunterkante. Nachdem er sitzt, richtet sich Β mit dem Handrücken an der Tischunterkante aus.
3.8.1.5 Lebenspraktische Fertigkeiten Der blinde Mensch, der sich durch Erfahrung oder gezieltes Training lebenspraktische Fertigkeiten wie Anziehen, Essen mit Messer und Gabel, Flüssigkeiten eingießen usw. angeeignet hat, wird diese Fertigkeiten anwenden wollen. Er wird sich gegen das Angezogen und Gefüttert werden sicherlich wehren. M a n sollte aber fragen, ob er Hilfe für bestimmte Aufgaben braucht.
3.8.1.6 Umgang mit sehgeschädigten Patienten • Verbale Ankündigungen. Beim Betreten oder Verlassen des Zimmers; über Position von Teller, Glas und Besteck; über Veränderung der Position von Möbelstücken; vor dem Anfassen und bei vorzunehmenden Handlungen soll zuerst eine verbale Ankündigung erfolgen. Überraschungen sollte man dem Blinden ersparen. • Ansprechen. Die verbalen Ankündigungen sollten immer mit dem Namen des Betroffenen beginnen, so daß er sich angesprochen fühlt. • Türen. Türen sollten grundsätzlich entweder ganz aufgemacht werden oder geschlossen sein. Türen, die halboffen stehen sind gefährlich und erschweren die Orientierung. • Beschreibungen und Anweisungen. Genaue Beschreibungen und Anweisungen sind unerläßlich. Worte wie „hier" und „dort" verwirren nur. Für viele Betroffene sind die Kompaßrichtungen nützlich bei der Beschreibung von Positionen und Wegstrecken.
Blindheit und Sehbehinderungen
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• Analyse der Probleme. Eine Analyse der Probleme, die aus der Sehschädigung resultieren können, ist eine Voraussetzung für den guten Umgang mit blinden und sehbehinderten Menschen. Eigene Erfahrung unter der Augenbinde oder Simulationsbrille kann sehr oft die Lösung bestimmter Probleme erleichtern.
3.8.1.7 Einrichtungen und Organisationen Selbsthilfe-Organisationen für Blinde und Sehbehinderte bieten Informationen und Hilfe für Betroffene an. Einige Landesverbände des Deutschen Blindenverband e.V., Bismarckallee 30, 53173 Bonn 2, Tel. 0228/353019, bieten auch Fortbildungen für Fachkräfte an. Diese Fortbildungen beinhalten oft einen Abschnitt mit praktischer Eigenerfahrung unter der Supervision einer Fachkraft für die Rehabilitation sehgeschädigter Menschen.
3.8.2 Hörschädigungen Armin Löwe
Häufigkeit. In Deutschland leiden 0,06% der Bevölkerung an Taubheit, 1,5% an Schwerhörigkeit.
Taubheit oder Gehörlosigkeit ist beidseitig fehlendes Hörvermögen. Hinzu tritt die Beeinträchtigung der Sprache. Diese ist um so größer, je früher die Gehörlosigkeit eingetreten ist. Man unterscheidet 2 Gruppen von Gehörlosen: • die vorsprachlich (prälingual) gehörlosen Kinder, deren Hörverlust angeboren oder vor dem Spracherwerb eingetreten ist, • die sprachlich (postlingual) ertaubten, erst nach dem Spracherwerb gehörlos gewordenen Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen (Spätertaubte). Während die erstgenannten Kinder die Sprache in einem langwierigen Lernprozeß erwerben müssen, ist bei der zweiten Gruppe das Hauptanliegen aller rehabilitativen Maßnahmen, die bereits erworbene Sprache zu erhalten und weiter zu entfalten. Von einer Schwerhörigkeit spricht man bei Kindern, wenn ihre Hörfähigkeit so stark herabgesetzt ist, daß sie die Sprache ihrer Umgebung nach Laut, F o r m und Inhalt nur unvollkommen erlernen. Im Gegensatz zu einem Gehörlosen ist es einem Schwerhörigen aber noch möglich, Sprache hauptsächlich über das Gehör, ζ. B. mit Hörgerät, aufzunehmen.
3.8.2.1 Folgen Wie die Gehörlosigkeit beeinträchtigt auch die Schwerhörigkeit nicht nur die sprachliche, sondern gefährdet auch die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes und erschwert seinen Kontakt mit der Umwelt. Für das Ausmaß dieser Folgen ist neben dem Zeitpunkt des Eintritts vor allem der Grad der Schwerhörigkeit von Bedeutung. Die Folgen sind aber auch davon abhängig, o b es sich um eine Schalleitungs-, Schallempfindungs- oder kombinierte Schwerhörigkeit handelt: • Schalleitungsschwerhörigkeit: Sprache wird in unveränderter Tonqualität, aber mit zu geringer Lautstärke wahrgenommen, • Schallempfindungsschwerhörigkeit: wichtige Sprachanteile können nicht wahrgenommen werden. Man spricht darum auch von einer Fehlhörigkeit.
Hörschädigungen
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• Sonderformen sind der Hochtonverlust und die einseitige Schwerhörigkeit bzw. Gehörlosigkeit. • Hörschädigungen. Irreversible Hörbeeinträchtigungen werden unter dem Oberbegriff Hörschädigungen zusammengefaßt. So meint man sowohl Gehörlose als auch Schwerhörige, wenn man von Hörgeschädigten spricht. • Hörstörung. Als hörgestört bezeichnet man dagegen in der Regel nur die Personen, deren Hörbeeinträchtigung reversibel, d . h . medizinisch oder operativ behebbar und darum nur vorübergehender Natur ist. • Augenmenschen. Gehörlose, die in einer Gehörlosenschule lautsprachlich gut gefördert worden sind, und Spätertaubte, die mit Erfolg rehabilitiert worden sind, nehmen Sprache hauptsächlich durch Sehen wahr: sie sehen das Sprechen ihrer Mitmenschen von deren Mund ab. Man hat sie darum auch schon als Augenmenschen bezeichnet. Das besagt jedoch nicht, daß sie darum keine Hörgeräte benötigen. Hörgeräte bieten vielen Gehörlosen, die ja fast alle noch gewisse Hörreste haben, wichtige zusätzliche Hilfen. Diese Hilfen reichen aber nicht aus, um Sprache allein über das Gehör auffassen zu können. Bei ihrer Sprachwahrnehmung steht darum das Sehen im Vordergrund. • Ohrenmenschen. Dagegen gelten Schwerhörige als Ohrenmenschen. Das ihnen noch verbliebene Hörvermögen läßt sie Sprache noch vorwiegend über das Gehör wahrnehmen, und sei es auch nur mit Hilfe von Hörgeräten. Aber auch Schwerhörige können bei der lautsprachlichen Kommunikation auf das Sehen nicht ganz verzichten. Es ermöglicht ihnen zusammen mit dem Hören eine sicherere Sprachwahrnehmung und ein besseres Sprechen, wie ja auch Gehörlosen ihre Hörreste eine Hilfe zum sichereren Absehen und besseren Sprechen sind.
3.8.2.2 Audiometrische Einteilung Audiometrisch gesehen spricht man von Gehörlosigkeit (oder hochgradigen Schwerhörigkeit), wenn der mittlere Hörverlust • bei den Frequenzen von 125 und 250 Hz mehr als 60 dB und • bei den Frequenzen von 500, 1000 und 2000 Hz mehr als 95/100 dB beträgt. Ist der mittlere Hörverlust geringer, spricht man von einer Schwerhörigkeit: • leichtgradig bei mittleren Hörverlusten im Frequenzbereich von 500 bis 2000 Hz bis zu etwa 40 dB, • mittelgradig bei Werten zwischen 40 und 70 dB, • hochgradig, mittlerer Hörverlust liegt zwischen 70 und 95 dB. Diese Abgrenzungen dürfen jedoch nicht starr gesehen werden, denn auch Faktoren wie Intelligenz, Sprachentwicklung, -begabung, Zusatzbehinderungen, familiäre Umwelt, Zeitpunkt des Eintritts der Hörschädigung und des Beginns der Förderung bzw. der Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen sind bei der Abgrenzung zwischen Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit zu bedenken.
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Grundversorgung
3.8.2.3 Einteilung nach den Ursachen Nach der Ursache von Hörschäden unterscheidet man: • Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis): Sie beinhaltet eine Abnahme des Hörvermögens im Alter ζ. B. als Folge erblicher oder degenerativer Veränderungen im Innenohr und beeinträchtigt vornehmlich die Wahrnehmung der hohen Frequenzen. • Cochleäre Schwerhörigkeit: Schallempfindungsschwerhörigkeit (Corti-Organ der Cochlea, Schnecke), häufig verbunden mit einem Lautheitsausgleich, auch positives Recruitment genannt (während geringe Lautstärken nicht wahrgenommen werden, werden größere Schallstärken ebenso laut oder sogar lauter als von Menschen mit normalem Gehör vernommen). • Kongenitale Schwerhörigkeit: Sie ist angeboren, d. h. genetisch oder vorgeburtlich erworben. • Kortikale Schwerhörigkeit: Sie kommt durch Schädigung der Hörrinde bei Verletzungen, Durchblutungsstörungen und Hirntumoren vor. • Erbliche Schwerhörigkeit: Sie kann autosomal dominant, autosomal rezessiv oder geschlechtsgebunden vererbt sein. • Hochton-Schwerhörigkeit: Art der cochleären Schwerhörigkeit mit Höreinbußen vor allem im Frequenzbereich oberhalb von 2000 Hz. • Lärmschwerhörigkeit: Ein durch ein akustisches Trauma oder durch langjährige Arbeit in Lärmbetrieben oder als Berufsmusiker bedingter Hörverlust im Hochtonbereich. • Retrocochleäre oder neurale Schwerhörigkeit: Schallempfindungsschwerhörigkeit, zentral von der Cochlea angenommen. Typisch für sie ist eine abnorme Hörermüdung und eine gestörte Sprachverarbeitung (Diskrimination). Vorkommen bei Akustikustumor, multipler Sklerose und anderen Hirnschäden. • Toxische Schwerhörigkeit: Sie entsteht ζ. B. durch toxische Nebenwirkungen von Medikamenten (ζ. B. Streptomycin, Gentamycin, Neomycin) auf die Haarzellen des Innenohres. • Bei Erwachsenen vorkommende Begleiterscheinungen einer Schwerhörigkeit sind der Tinnitus und die Menière-Krankheìt. Beim Tinnitus handelt es sich um als unangenehm empfundene Ohrgeräusche, die entweder als Wahrnehmung ohrnaher Muskel- und Gelenkgeräusche, von Sekretknistern, Vibrationen usw. oder aber als eine rein subjektive Empfindung interpretiert werden. Unter Menière Krankheit versteht man einen meist einseitigen, auf Zunahme der Endolymphe beruhenden Hydrops des Innenohrlabyrinths. Sie führt zu Drehschwindelanfällen, Ohrensausen und Schallempfindungsschwerhörigkeit mit positivem Recruitment. Als Sammelbegriff für das Vorkommen aller drei Erscheinungen wird auch die Bezeichnung Vestibularissyndrom gebraucht.
3.8.2.4 Behandlung Fast alle Schalleitungsschwerhörigkeiten lassen sich medizinisch beheben. So können fehlende, geschädigte oder auch verletzte Teile des Mittelohres durch Transplantate oder körperverträgliche Biomaterialien ersetzt werden. Dagegen können die meisten Innenohrschwerhörigkeiten nur durch Hörgeräteversorgung ganz oder teilweise ausgeglichen werden. Für Spätertaubte, aber auch für taubgeborene Kinder hat sich die Versorgung mit einem Cochlear-Implantat als eine entscheidende Hilfe zur Wiedererlangung der Hörfähigkeit bzw. zum Hörenlernen erwiesen.
Hörschädigungen
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3.8.2.5 Umgang mit Hörgeschädigten Hörgeschädigte sind häufiger psychosozial beeinträchtigt. Personen, die mit ihnen umgehen, sollten folgende Kommunikationsregeln beachten: • richtig sprechen. Auch wenn Hörgeschädigte apparativ versorgt sind, sollen sie möglichst hochdeutsch, deutlich und verständlich, in richtigem Satzrhythmus und mit guter Betonung angesprochen werden. • vom Mund absehen. Die Zuspräche muß vor allem bei Gehörlosen immer von vorn erfolgen. Nur so wird ein Absehen der gesprochenen Sprache vom Mund möglich. Das Gesicht des Sprechers muß dabei immer gut beleuchtet sein und sollte sich auf etwa gleicher Höhe wie das des Hörgeschädigten befinden. • nicht schreien, langsam sprechen. Sprechmotorische Übertreibungen sind zu vermeiden, das Sprechtempo ist etwas zu verlangsamen. Auf keinen Fall darf geschrieen werden, da dann die Sprechbewegungen entstellt und die Lautwahrnehmung verzerrt sind. Die Zuspräche sollte in kurzen, einfachen Sätzen erfolgen. • Verständigungshilfen. Falls notwendig, muß eine wichtige Mitteilung über die Schrift angeboten werden. Bei komplizierten Mitteilungen eignen sich Bilder, Zeichnungen oder einfache Skizzen als Verständigungshilfen. • Dolmetscher. Werden die Schwierigkeiten zu groß, ist an die Hinzuziehung eines Lautsprach-Dolmetschers (Mediators) zu denken. Prälingual Gehörlose, die keinen guten Lautsprachunterricht erhalten haben oder schwere Zusatzbehinderungen aufweisen, benötigen zuweilen auch einen Gebärdensprach-Dolmetscher. Das Pflegepersonal sollte aber auch folgende Empfehlungen beachten: • Hinweis anbringen. Bringen Sie an der Zimmertür oder am Krankenbett einen Hinweis an, daß es sich um einen hörgeschädigten Patienten handelt (s. Abschn. 2.4, Anhang 5, S. 89). • Hörgerät. Die Elektronik eines Hörgerätes kann durch Bestrahlung geschädigt werden. Es muß darum bei entsprechenden Untersuchungen/Behandlungen abgelegt werden (s. Abschn. 3.3.6). • Erschrecken vermeiden. Vor allem hochgradig Hörgeschädigte erschrecken häufig, wenn plötzlich jemand vor ihnen steht, dessen Kommen sie nicht wahrgenommen haben. Darum ist es ζ. B. ratsam, beim Betreten eines Zimmers, in dem sich ein Gehörloser aufhält, zunächst den Lichtschalter zu betätigen, um so die Aufmerksamkeit des Hörgeschädigten auf sich zu lenken, bevor man weiter geht.
3.8.3 Sprachstörungen Theresia Scholz-Raue
Zu einer gesunden Sprachfähigkeit gehört eine normale Kommunikationsfahigkeit, d.h., der Gesprächspartner hört seinem Gegenüber zu, verarbeitet das Gesagte und antwortet mit adäquater Wortwahl, verständlicher Aussprache und grammatikalischen Regeln gemäß seinem sozio-kulturellen Umfeld. Das in der Kindheit erworbene Sprachsystem beinhaltet folgende Fähigkeiten: Verstehen, Sprechen, Lesen, Schreiben. Genauer gesagt, ist dies ein Sprachwissen, über — Wortschatz, Satzbau, -grammatik und Lautstrukturen, — Sprachrhythmus und -melodie, — schriftsprachliche Zeichen und deren Bedeutung sowie der Drang, etwas mitteilen zu wollen und sprachliche Äußerungen anderer interpretieren zu können.
Das Sprachsystem wird während seiner Entwicklung im Sprachzentrum des Gehirns angelegt und gespeichert. Es befindet sich bei den meisten Menschen auf der dominanten, meist linken Großhirnhälfte (Hemisphäre) und dort speziell auf dem Hirnmantel (Cortex) um die seitliche Hirnfurche herum, im Versorgungsgebiet der mittleren Hirnarterie (A. cerebri media, Abb. 3.8-1). Sprachstörungen sind Störungen des Sprachaufbaus und -Vermögens. Sie können in der Sprachentwicklungsphase im Vorschulalter vorkommen. Treten sie nach Abschluß des Spracherwerbs auf, bezeichnet man sie als Aphasien, die für den pflegerischen Bereich bedeutsam sind.
3.8.3.1 Aphasien und deren Ursachen Aphasien sind Sprachstörungen, die überwiegend im Erwachsenenalter als Folge von Erkrankungen des Gehirns auftreten. Ursachen für die Schädigung von Hirnsubstanz sind — Schlaganfälle (Hirninsult, Apoplex) und Schädel-Hirn-Traumen, — Tumoren, Gehirnentzündungen (Enzephalitis), Vergiftungen (toxische Prozesse), — Hirnabbauprozesse (z. B. M. Alzheimer) Beim Schlaganfall kommt es entweder zu einer Durchblutungsstörung aufgrund einer Gefäßverengung (Stenose), eines Gefäßverschlusses (ischämischer Insult) oder einer Hirnblutung (hämorrhagischer Insult) aufgrund von Gefaßmißbildungen (Aneurysmen), Gefaßgeschwülsten (Angiomen) und platzenden Gefäßen. Auch beim Schädel-Hirn-Trauma kann es zu Quetschungen von Hirnmasse und Blutungen kommen.
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Abb. 3.8-1: Lokalisation der für die Sprachfunktionen spezialisierten Gebiete der Hirnrinde (Broca, Wernicke)
Wird Hirngewebe nicht ausreichend mit Blut versorgt, können die Funktionen, die die Hirnzellen ausüben, nicht ausreichend aufrechterhalten werden. Hirnzellen, die wegen Sauerstoffmangels (Hypoxie) absterben, sind nicht regenerierbar. Tritt die Schädigung in den Sprachzentren auf, werden Sprachfunktionen vorübergehend oder bleibend beeinträchtigt. Das A u s m a ß der Sprachstörungen geht einher mit dem Ausmaß der Hirnschädigung.
3.8.3.2 Kardinalsymptome der Aphasie Alle Aphasien haben unterschiedlich schwere Defizite (Symptome) in den Modalitäten Sprechen, Verstehen, schriftsprachliche Fähigkeiten. Man unterscheidet 4 Standard-Aphasiesyndrome: globale Aphasie, Broca Aphasie, Wernicke Aphasie, amnestische Aphasie. Eine Aphasie liegt vor, wenn diese beiden Merkmale vorhanden sind: • Sprachverständnisstörungen. Der Patient versteht das Gesprochene nur unvollständig oder gar nicht, er fragt nach oder reagiert hilflos auf Aufforderungen. • Schriftsprachliche Defizite. Der Patient hat Schwierigkeiten, gelesene Texte zu verstehen (Alexie) und eigene Gedanken schriftlich auszudrücken (Agraphie), sei es in Form von Formulierungs- oder orthographischen Fehlern.
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Grundversorgung
3.8.3.3 Aphasie und gesprochene Sprache • Grammatikalische Fehlleistungen. Paragrammatismus: Der Patient äußert lange, verschränkte Sätze, bricht angefangene Sätze häufig ab und fangt mit einem anderen Inhalt und unpassenden grammatikalischen Strukturen wieder an. Beispiel: „Weil ich da im Krankenhaus — meine Frau war da — da kam meine Frau und mein Arzt — der Arzt waren so schwere Untersuchungen gekommen".
Agrammatismus: Der Patient äußert kurze, evtl. unvollständige Sätze oder nur Einzel Wörter im Sinne eines Telegrammstils. Beispiel: „Auf, auf — nachts auf, Frau anrufen — Haus — Krankenhaus".
• Wortverwechslungen und -Verstümmelungen. Semantische Paraphasie: Der Patient benutzt ein Wort, das nicht in den gesprochenen Zusammenhang paßt, aber eine gewisse inhaltliche Ähnlichkeit zum Zielwort aufweist. Beispiel: „Mutter" statt „Frau". „Tisch" statt „Stuhl". „Gib mir mal den Kamm" statt „... die Brille".
Phonematische Paraphasie: Der Patient verändert ein Wort durch falsche, eingefügte oder ausgelassene Laute oder Umstellungen von Lauten, ähnlich unseren Versprechern, jedoch viel schwerwiegender, auffalliger und konstanter. Beispiel: „Höre" statt „Haare". „Pirzel" statt „Pinsel".
Die Extremform von Paraphasien sind die sogenannten Neologismen: Ein Wort wird bis zu seiner Unkenntlichkeit verändert, sowohl die lautliche (phonematische) als auch die inhaltliche (semantische) Form. Es kommt zu Wortneuschöpfungen. Beispiel: „Der hat ein Hazeiten auf seinem Höre drauf gemerkt". „Die hat ein Türtenstürzchen an".
Eine Art von sprachlichen Gedächtnisproblemen wird erkennbar in • Wortfindungsstörungen. Der Patient sucht nach Worten, umschreibt Begriffe, weicht ggf. auf Redefloskeln und Gestik aus oder macht unangemessene Pausen, so daß der Sprechfluß ins Stocken gerät. Beispiel: „Da gibt es so ein Ding — äh — eh — so groß (zeigt mit den Händen) — na, wie heißt sie da — ..."
• Formstarrheit im sprachlichen Ausdruck. Sprachautomatismen: Der Patient äußert formstarre Wörter, Satzteile oder Redefloskeln, die häufig wiederkehren, ohne einen Sinnzusammenhang zum Gesprächsinhalt zu enthalten. Recurring utterances: Dies ist die schwerste Form der Sprachautomatismen; der Patient äußert lediglich sinnlose Silben oder Wörter, die immer wiederkehren und evtl. von guter Sprachmelodie gezeichnet sind. Beispiel: „Do do do ...". „Danke, danke, danke ...".
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Stereotypie: Der Patient äußert formstarre Floskeln, die evtl. in den Gesprächszusammenhang passen. Beispiel: „Ach je, ach je". „Donnerwetter".
3.8.3.4 Diagnostik Eine differenzierte Sprachdiagnostik kann und sollte von ausgebildeten Therapeuten (Logopäden) vorgenommen werden. Sie schaffen dadurch eine ausführliche und fundierte Grundlage für eine effiziente Sprachtherapie. Eine Einschätzung, ob es sich bei einem hirngeschädigten Patienten um eine Aphasie handelt, sollte allerdings schon von Ärzten und Pflegepersonal vorgenommen werden. Die folgenden Beispiele helfen bei der Beurteilung: Geben Sie dem Patienten einen einfachen Auftrag, ohne Mimik oder Gestik als Hilfsmittel einzusetzen und beobachten Sie die Reaktion. Beispiel: Sie stehen am Bett des Patienten und sagen: „Geben Sie mir Ihr Glas!", möglicher Zusatz, falls der Patient nicht reagiert: „Ich will Ihnen Wasser eingießen". Sie schauen oder zeigen zunächst nicht auf das Glas! Reagiert der Patient immer noch nicht, nehmen Sie die Wasserflasche in die Hand und stellen den Auftrag erneut. Beobachten Sie, ob der Patient durch die Aufforderung irritiert wirkt, stellt er das Glas ζ. B. weg, statt es Ihnen zu geben, oder hält er Ihnen einen anderen Gegenstand hin? Beispiel: Fragen sie den Patienten: „Wie spät ist es?", ohne daß Sie auf seine Uhr deuten. Beobachten Sie, wie der Patient reagiert und wohin er schaut. Blickt er hilfesuchend um sich, oder redet er drauf los, ohne auf die Uhr zu schauen oder Ihnen die Zeit zu nennen?
Diese Reaktionen deuten auf eine Sprachverständnisstörung hin. Schaut er aber auf seine Uhr und bemüht sich vergebens, die Uhrzeit auszusprechen, bzw. spricht er sehr undeutlich, mag dies auf eine Sprechstörung (s. u.) hinweisen, nicht auf eine Aphasie. Für die Aphasie-Standardsyndrome gibt es vereinfachte Schemata der Symptomzuordnung. Globale Aphasie. Die Patienten zeigen ausgesprochen schwere Sprachverständnisstörungen und Defizite in allen sprachlichen Bereichen. Typisch sind Sprachautomatismen und die Unfähigkeit, Informationen weiterzugeben. Broca-Aphasie. Die Patienten sprechen wenig, angestrengt, mühsam und monoton. Sie verständigen sich im Telegrammstil, d. h., benutzen wenige, einzelne Inhaltswörter, ohne vollständige Sätze zu bilden. Diese Art zu sprechen nennt man nicht flüssig. Wernicke-Aphasie. Diese Patienten sprechen viel und ausschweifend, mit guter Sprachmelodie (Prosodie). Sie bilden lange, oft verschränkte Sätze (Paragrammatisms ), verdoppeln Informationsaussagen und machen Fehler im Wort (Paraphasien ), so daß man sie nicht als Begriffe unseres Sprachraumes identifizieren kann. Diese Art zu sprechen nennt man flüssig. Amnestische Aphasie. Typisches Merkmal sind hier die
Wortfindungsstörungen.
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Besonders Wortfindungsstörungen u n d Paraphasien k ö n n e n bei allen Aphasietypen in K o m b i n a t i o n mit den typischen Merkmalen auftreten. Diese M e n g e a n gleichzeitig auftretenden S y m p t o m e n erschwert die E i n o r d n u n g des K r a n k h e i t s bildes. Ebenfalls erschwerend f ü r die eindeutige Beurteilung sind zusätzliche Begleitsymptome: • Psychische Labilität: Der Patient ist depressiv, weint bei jeder Gelegenheit oder lacht unangemessen, ist unruhig oder aggressiv. • Lähmungen. Globale und Broca-Aphasien werden häufig begleitet von rechtsseitigen Lähmungen der Extremitäten und der rechten Gesichtshälfte. • Gesichtsfeldausfälle: Einige Patienten haben Ausfalle im rechten Blickfeld, greifen daneben, stoßen beim Laufen an oder können die Zeitungsseite nur noch halb sehen. • Gedächtnisstörungen: Häufig sind Gedächtnisleistungen mit sprachlichen Leistungen verknüpft. Patienten mit Aphasien haben häufig Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. • Sprachspezifische Ausfälle: Dysarthrie: Verwaschenes, mühsames Sprechen, einhergehend mit einer heiseren Stimme und Atemproblemen, aber ohne Sprachverständnisdefizite! Apraxie: Willkürliche (Sprech-) Handlungen sind nicht möglich, obwohl die spontane, unwillkürliche Einzelbewegung möglich ist und keine Lähmung vorliegt. Die Patienten zeigen Suchbewegungen oder unsinnige Handlungen. Das Sprechen wird unverständlich bis unmöglich. Beispiele: (1) Der Patient wird aufgefordert, seine Oberlippe abzulecken. Er öffnet den Mund und macht Schmatzbewegungen, statt die Zungenspitze an die Oberlippe zu führen. Beim Essen allerdings kann er spontan einen Speiserest mit der Zunge ablecken, der an der Oberlippe hängengeblieben war. (2) Der Patient weiß nicht mehr, wie er sich rasieren soll, obwohl er vor dem Spiegel steht und den Rasierapparat schon in der Hand hält. (3) Der Patient versucht, die Suppe mit dem Messer zu essen. Alexie: Patienten können selbst vertraute Wörter nicht mehr lesen, müssen sie mühsam buchstabierend entziffern oder lesen sie mühelos, ohne ihren Sinn zu begreifen. Agraphie: Patienten können evtl. noch lesen, aber Gehörtes nicht schreiben, selbst Bruchstücke von Wörtern werden falsch oder gar nicht zu Papier gebracht.
3.8.3.5 Verlauf und Prognose Die Aphasie verläuft in Stadien. Akutaphasie. In den ersten Tagen bis 4 — 6 Wochen von Beginn der E r k r a n k u n g a n verändert sich die Symptomatik in der Regel merklich, wobei auch eine völlige Wiederherstellung aller sprachlichen F u n k t i o n e n möglich ist. Chronische Aphasie. Im L a u f e des ersten Jahres nach d e m Ereignis n e h m e n spontane Besserungen ab, S y m p t o m e festigen sich u n d k ö n n e n nur d u r c h gezielte Sprachübungen verändert werden.
Sprachstörungen
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Eine Sprachtherapie kann sich über mehrere Jahre hinziehen und wird in einem fortgeschrittenen Stadium periodisch mit Therapiepausen angeboten. Inwieweit die Aphasie sich zurückbildet, hängt von vielen Faktoren ab. Ausschlaggebend sind: Ausmaß der Hirnschädigung, Alter, Bildungsstand und Beruf, Einstellung zur Erkrankung und Therapie, soziales Gefüge und Unterstützung durch Angehörige und Freundeskreis. Wesentliches Ziel für alle, die mit der Sprachstörung konfrontiert sind, sollte sein, dem Patienten im Rahmen seiner sprachlichen Ausfälle eine optimale Kommunikationsfähigkeit zu ermöglichen.
3.8.3.6 Umgang mit Aphasikern An dieser Stelle soll auf einige Fragen eingegangen werden, die häufig von Angehörigen, Pflegepersonen und Ärzten zur Aphasie gestellt werden. • Bemerkt der Patient seine Fehler? Diese Frage kann nicht eindeutig mit ja oder nein beantwortet werden. In den meisten Fällen ist es zumindest so, daß die Fehler nicht identifiziert oder aber korrigiert werden können. Da Aphasiepatienten immer auch Sprachverständnisstörungen haben, können sie ihre eigene Sprachproduktion nicht normal kontrollieren. Soweit Fehlproduktionen jedoch wahrgenommen werden, leiden manche Patienten sehr unter ihren Fehlern und der Unfähigkeit, diese zu vermeiden. • Treten die Fehlleistungen immer gleichbleibend auf? Nein. Aphasische Symptome mögen in ihrer Häufigkeit gleichbleibend auftreten, haften aber nicht beständig am gleichen Laut oder am gleichen Wort. Das Wort kann in einer anderen Situation durchaus korrekt ausgesprochen werden oder auch in anderer Form verändert erscheinen, ζ. B. Pinsel — Pirzel — Pinze — Pinsel etc. • Warum können manche Patienten Singen oder Zählen? Diese Fähigkeiten sind je nach Übung und Gewohnheit so verinnerlicht, daß sie quasi automatisch abgerufen werden können. Automatisierte Sprachleistungen sind womöglich in der rechten Hemisphäre lokalisiert. • Der Patient wirkt gar nicht so, als hätte er Probleme mich zu verstehen. Er reagiert ganz normal, hört zu und gibt mit Kopfnicken und Ja/Nein Antwort. Meistens sind elementare kommunikative Fähigkeiten erhalten geblieben. Der Patient weiß, daß er zuzuhören hat, wenn sein Gegenüber spricht, er weiß, daß Kopfnicken ein Zeichen ist, das dem Gesprächspartner Aufmerksamkeit und Zustimmung signalisiert, und schließlich sind die Fragen an den Patienten oft so eindeutig, daß der Patient die gewünschte Antwort aufgrund von Gestik, Tonfall, Gesichtsausdruck des Gegenübers und der dazugehörigen Situation automatisch abruft. Beispiel: Der Arzt kommt mit der Spritze, die täglich in den Bauch gegeben wird und sagt: „Schlagen Sie mal die Bettdecke zurück". Der Patient reagiert prompt richtig, weil ihm die Situation vertraut ist.
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• Nachsprechen klappt prima! Kann das eine Hilfe sein, wieder selbständig erzählen zu können? Das Nachsprechen ist eine ganz bestimmte sprachliche Leistung, die mehr oder weniger intakt bzw. gestört sein kann. Evtl. ist dies eine Modalität, die dem Patienten am Anfang seiner Erkrankung Motivationshilfe bietet oder im Gespräch hilft, seinen Gedanken fortzusetzen.
3.8.3.7 Therapie Nach einer ausführlichen logopädischen Diagnostik wird vom Therapeuten ein Therapieplan aufgestellt, in dem Therapiebeginn, -häufigkeit, Schwerpunkte der Sprachtherapie und Zielsetzung der Übungen, sowie Angehörigenberatung und Rehabilitationsmaßnahmen vorgeschlagen werden. Mit der sprachlichen Anregung (Stimulation) sollte so früh wie möglich begonnen werden. Alltägliche Floskeln und Redewendungen können beim Patienten Reaktionen bewirken, die mit Hilfe der entsprechenden Situation automatisch entschlüpfen und somit Motivation schaffen, sich zu äußern und mitzuteilen. Beispiel: Sie kommen ins Krankenzimmer „Guten Morgen". Der Patient reagiert nicht. Sie nehmen seine Hand und bewegen sie rhythmisch zu dem Gruß „Gu-ten-Tag". Fordern Sie den Patient nochmals auf, mit Ihnen mitzusprechen. Machen Sie 2 —3 Versuche und verstärken Sie jede Bemühung des Patienten, Ihrer Aufforderung zu folgen.
Logopädische Therapie sollte täglich mindestens 1 χ erfolgen. Daneben ist es notwendig, daß das Pflegepersonal, Ärzte und Angehörige sprachlich unkompliziert und natürlich mit dem Aphasiker umgehen: • Reden sie in normaler Lautstärke, es sei denn, Sie wissen, daß bei dem Patienten eine (Alters-) Schwerhörigkeit vorliegt (s. Abschn. 3.8.2.6, S. 239). • Sprechen Sie nicht vor dem Patienten zu Dritten über ihn. Man weiß nie, wie viel er trotz einer evtl. Sprachverständnisstörung versteht. Sprechen Sie mit dem Patienten über seine Probleme! • Animieren Sie den Patienten zum Sprechen, reden Sie nicht nur auf ihn ein, sondern haben Sie Geduld und lassen Sie auch nichtsprachliche Kommunikationsmittel zu. • Lenken Sie den Patienten ab, wenn er eine Aussage gar nicht formulieren kann, oder wenn er an dem gleichen Wort beständig hängen bleibt. Evtl. hilft es, noch mal ganz von vorne anzufangen. • Versuchen Sie, den Aphasiker zu verstehen. Achten Sie nicht auf die Form des Gesprochenen, sondern auf den Inhalt. Mancher Sinn ergibt sich erst im Laufe des Gesprächs. Ein momentan unpassendes Wort kann doch auf die eigentliche Aussage hinweisen. • Versteht der Patient Sie nicht, reagiert er falsch oder gar nicht, wiederholen Sie Ihre Aussage noch einmal mit anderen Worten oder benutzen Sie Gestik und machen sinnvolle Ergänzungen mit zusätzlich erklärenden Worten.
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Beispiel: „Ihre Frau hat für heute ihren Besuch abgesagt". Patient: „Meine Frau?". „Ja, Ihre Frau hat angerufen, sie kann heute nicht zu Besuch kommen". Patient: „Heute Besuch?". „Ihre Frau kommt doch regelmäßig zu Besuch; heute klappt es leider nicht. Morgen kommt sie wieder". Dieses Vorgehen bietet keine Gewähr, daß der Patient Sie versteht. Aber der Versuch, eine Information verständlich zu machen, zeigt dem Patienten, daß Sie auf ihn eingehen, Zeit für ihn haben und seine Problematik nicht ignorieren. Er kann Vertrauen fassen, ein erster Schritt, mit der Erkrankung fertig zu werden! • Erkundigen Sie sich, ob die Angehörigen über Aphasie informiert sind. Geben Sie ihnen weiter, was sie darüber wissen, verweisen Sie sie an Ärzte und Therapeuten, und geben Sie ihnen Informationsbroschüren, die Sie bei folgenden Adressen anfordern können: • Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e. V., Georgstraße 9, 50389 Wesseling, Tel.: 02236/46698 oder • „Aphasie-Sprachverlust", G. Zweigle, Asternweg 17, 73730 Esslingen Beratung und Therapiemöglichkeiten erfragen Sie an allen Stimm- und Sprachabteilungen der Universitätskliniken oder beim Deutschen Bundesverband für Logopädie e.V., Augustinusstr. 9d, 50226 Frechen.
3.9 Prophylaxen: Allgemeines Gerhard Münch
Unter Prophylaxe versteht man im Gesundheitswesen die Erhaltung und Förderung der Gesundheit sowie die Ausschaltung von Risikofaktoren. Dabei kann es nicht allein nur um eine Analyse möglicher Risikofaktoren gehen, sondern auch um die Aufklärung und Beratung des gefährdeten Patienten. Aufklärung und Beratung beschränken sich dabei ganz zwangsläufig nicht nur auf den Krankenhausaufenthalt, sondern beziehen die Zeit danach mit ein. Damit übernimmt die Krankenpflege ihren Teil in der primären Prävention. Sie muß sich aber auch im klaren darüber sein, daß sie durch ihr Handeln Einfluß auf die Lebensgestaltung des Patienten nimmt, weshalb die Betonung auf Aufklärung und Beratung liegen muß. Die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung bleibt dem Patienten vorbehalten. Die Prophylaxen erfreuen sich in der Krankenpflegeausbildung einer nicht unerheblichen Beachtung, werden sie doch schon frühzeitig theoretisch unterrichtet und in der Praxis angewandt. Und doch bedarf es eines umfangreichen Vorwissens und einer ebensolchen Erfahrung, um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden.
Es gibt praktisch keinen Patienten, der nur einer einzigen Prophylaxe bedarf, es gibt auch nur vergleichsweise wenige Patienten, bei denen alle Prophylaxen zur Anwendung kommen müssen. Und die gleichen prophylaktischen Maßnahmen zweier Patienten sind keineswegs dieselben. Wenn ein multimorbider Patient — und das sind heute die meisten — mehrere Tage schwerkrank im Bett liegt, ohne zusätzlich zu erkranken, und dies auf pflegerische prophylaktische Maßnahmen zurückzuführen ist, so darf getrost von „pflegerischer Kunst" gesprochen werden.
3.9.1 Pneumonieprophylaxe Jürgen
Döhlinger
Die Pneumonie ist eine Entzündung des Lungengewebes, vorwiegend der Alveolen. Es kann sich hierbei um eine primäre oder sekundäre Erkrankung handeln. Die Entzündungen des Lungengewebes entstehen durch Minderbelüftung der Lungenflügel. Eine ungenügende Belüftung wird bei Patienten nach Thorax- oder Bauchoperationen beobachtet. Die Atmung ist flach (Schonatmung), und das Bronchialsekret wird nicht abgehustet. Weiterhin werden Minderbelüftungen bei Patienten mit kardiorespiratorischen Erkrankungen und bettlägerigen Patienten, oft Folge einer mangelhaften Bronchialtoilette, der Ausgangspunkt einer Pneumonie. Bei Beatmungspatienten ist darauf zu achten, daß die Atemschleimhäute nicht austrocknen. Letzteres erhöht die Gefahr des Eindringens von Krankheitserregern. Nachfolgende Patientengruppen sind besonders pneumoniegefährdet: — somnolente, bewußtlose oder komatöse Patienten, — schwerkranke und abwehrgeschwächte sowie ältere Patienten, — Patienten mit chronischen pulmonalen oder kardialen Erkrankungen.
Die Pneumonieprophylaxe ist eine zentrale Aufgabe im grundpflegerischen Bereich bei bettlägerigen Patienten, da die hinteren, unteren Lungenpartien durch das Liegen schlecht belüftet, entfaltet und durchblutet werden, so daß eine Infektion leicht angeht. Prophylaktische Maßnahmen sind: Lagerung, Abhusten, Abklopfen, nastik, Bronchialtoilette, Einreibungen, Inhalationen.
Atemgym-
3.9.1.1 Lagerung Hochlagerung des Oberkörpers erleichtert die Zwerchfellatmung und vermindert dadurch den Sekretstau, die Lungenflügel werden besser belüftet. Durch Umlagern in 2 stündlichem Intervall werden die Lungen allseitig belüftet. Das angesammelte Sekret kann von den obenliegenden Lungenpartien in das Bronchialsystem abfließen und abgehustet werden.
3.9.1.2 Abhusten Die Hochlagerung des Oberkörpers und das Sitzen am Bettrand erleichtern das Abhusten. Dem Abhusten geht eine tiefe Inspiration voraus. Die Pflegeperson kann den Patienten dabei folgendermaßen unterstützen:
250
Grundversorgung
• bei Inspiration legt die Pflegeperson beide Hände seitlich auf den unteren Thorax und drückt ihn leicht zusammen, • bei Patienten nach Operationen im Thorax- oder Abdominalbereich wird die flache Hand auf die Operationswunde gelegt und somit ein Gegendruck erzeugt. Der Patient kann bei entsprechender Anleitung dies auch selbst tun. Beachte: Der Patient hält den Kopf immer von der Pflegeperson abgewandt, damit ein Anhusten vermieden wird. Ebensowichtig ist die Bereitstellung eines Auffanggefäßes für das abgehustete Sputum.
3.9.1.3 Abklopfen des Thorax Das Abklopfen des Thorax erfolgt mit der hohlen Hand. Das Ziel besteht darin, durch geringe Erschütterungen des Bronchialbaumes das Sekret zu lösen. Der Rücken wird von unten nach oben abgeklopft. Zu beachten ist, daß die Nierenlager und die Wirbelsäule ausgespart bleiben. Durch zusätzliches Auftragen von Franzbranntwein wird ein Kältereiz erzeugt, der den Patienten tief durchatmen läßt. Bei dessen Anwendung ist darauf zu achten, daß die Flüssigkeit nicht in die Analfalte läuft, wo ein brennender Schmerz entsteht. Weiterhin sollte auf die mögliche Austrocknung der Haut achtgegeben werden. Bei offenen Wunden darf Franzbranntwein nicht verwendet werden. Statt dessen nehme man kaltes Wasser oder in einer Plastiktüte befindliche Eiswürfel. Beachte: Bei Patienten mit Herz-, Knochenerkrankungen oder Lungenembolie ist das Abklopfen verboten, da durch die Erschütterungen Thromben gelöst bzw. Frakturen hervorgerufen werden können.
3.9.1.4 Atemgymnastik Atemgymnastik kann wie folgt durchgeführt werden: • Atmen gegen einen Widerstand. Dabei werden stündlich für ca. 5 Minuten Luftballons oder Luftringe aufgeblasen. Die Pflegeperson hält dabei die Hände seitlich auf den Thorax und drückt ihn leicht zusammen. • Atmen durch einen Totraumvergrößerer nach Giebel (Giebel-Rohr). Durch das Einatmen der eigenen kohlendioxidhaltigen Luft wird das Atemzentrum im verlängerten Rückenmark angeregt. Die Folge sind tiefere Atemzüge des Patienten. Die Nase des Patienten wird mit einer Nasenklemme verschlossen, u n d er soll mehrmals täglich 20 — 30 Atemzüge durch das zusammengesetzte Giebel-Rohr machen. • Atmen mit dem Triflow-II-Atemtrainer. Häufig haben Patienten nach operativen Eingriffen im Thorax- oder Abdominalbereich eine flache Atmung (Schonat-
Pneumonieprophylaxe
251
mung), um den Wundschmerz zu lindern. Die Atmung soll mit dem Trainer verbessert werden. Hierbei wird das Mundstück des Flow-Trainers von den Lippen des Patienten nach der Ausatmung fest umschlossen. Nach Anordnung wird tief eingeatmet, um den 1. Ball in der ersten Kammer anzuheben und zu halten; tiefer eingeatmet, um den \. und den 2. Ball anzuheben; sehr tief eingeatmet, um alle 3 Bälle anzuheben. Nach Absetzen des Mundstückes wird ausgeatmet, entspannt und normal weitergeatmet. Die Anleitung zu den Atemübungen wird durch die Physiotherapeuten vorgenommen. Die Pflegepersonen unterstützen die Patienten und geben Hilfestellung.
3.9.1.5 Bronchialtoilette Ist der Patient nicht in der Lage selbständig Sekret abzuhusten, muß er über Mund oder Nase abgesaugt werden.
3.9.1.6 Einreibungen Schleimlösend können auch Einreibungen mit ätherischen Ölen sein. Entscheidend für die Wirkung ist die Dauer der Einreibung. Sie polite mindestens 10 Minuten betragen. Danach ist ein warmer Wickel anzulegen, um den Patienten vor Verdunstungskälte zu schützen. Kleinkinder sollen nicht auf diese Weise therapiert werden, da es durch die aufsteigenden ätherischen Dämpfe über einen reflektorischen Mechanismus zum Bronchospasmus kommen kann.
3.9.1.7 Inhalationen Unter Inhalation versteht man das Einatmen von Wasserdampf, Gasen oder fein verteilten Stoffen (Aerosole). Ziel der Inhalation ist es, eine Austrocknung der Atemwegschleimhäute zu vermeiden und schleimlösende Substanzen so nah wie möglich an den Ort des Geschehens zu bringen. Die Atemwege werden feucht gehalten, der Schleim löst sich, wird verflüssigt und kann abgehustet bzw. abgesaugt werden. Unterstützend werden Medikamente eingesetzt. Die Wirkung schleimlösender Mittel bzw. eine Schleimlösung allgemein hängt entscheidend von der Menge der Flüssigkeitszufuhr ab. Für Inhalationen werden nachstehende Geräte eingesetzt: Bronchitiskessel, Aerosol-Apparate, Ultraschallvernebler und Kaltdampfvernebler.
3.9.2 Dekubitusprophylaxe Olaf Kirschnick
Ein Dekubitus ist eine extrem langsam heilende kompressiv-ischämische Hautläsion. Diese entsteht durch eine unphysiologische Druckwirkung auf das Gewebe {Druckgeschwür). Dabei werden die kleinen Gefäße (Arteriolen und Yenolen) zusammengedrückt {Kompression) und damit die Mikrozirkulation unterbrochen {Ischämie).
3.9.2.1 Ursachen von Druckgeschwüren Ursache für die Entstehung eines Dekubitus ist grundsätzlich ein Zusammenwirken von lokaler Druckwirkung in Verbindung mit Risikofaktoren. Druckwirkung. Die Durchblutung der betreffenden Hautareale ist abhängig vom Blutdruck. Übersteigt der von außen einwirkende Druck den Kapillardruck des Gewebes, so kommt es zu einer lokalen Ischämie mit diesen Folgen: • Unterbrechung der Sauerstoff- und Nährstoffzufuhr, • Störung des Kohlendioxidabtransportes mit Anoxie und lokalen Stoffwechselstörungen. Entscheidend für die Hautschädigung ist nicht die Druckhöhe, sondern die Druckdauer. Dauert eine lokale Ischämie länger als 2 Stunden, so tritt Gewebszerfall ein {Nekrose). Ein hoher Druck, der keine Sofortschädigung bewirkt und nur kurze Zeit auf d a s Gewebe einwirkt, ist nicht oder nur wenig hautschädigend. Ein niedriger Druck, der lange Zeit auf das Gewebe einwirkt und die Blutzirkulation beeinträchtigt, führt zu mittelschweren bis sehr schweren Hautschäden.
Risikofaktoren begünstigen neben der Druckwirkung Dekubitalulzera: • Immobilität: Bewegungsbehinderung und fehlende Entlastungsbewegungen (Gipsverbände, Extensionen, Lähmungen: Hemi-, Para- und Tetraplegie), Bewußtseinsstörungen (Koma, Narkose), Medikamente (Sedativa), psychische Ursachen (Depression) führen zur Bewegungsarmut, • Sensibilitätsstörungen: Störungen der Oberflächen- und Tiefensensibilität (Parästhesien), • reduzierter Allgemeinzustand: Ernährungsstörungen (Kachexie, Adipositas, Exsikkose durch Wasserverlust und damit Hauttrockenheit),
Dekubitusprophylaxe
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Risikofaktoren
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Feuchtigkeit Inkontinenz, Schwitzen 0 2 -Mangel auf der Haut
Abb. 3.9-1: Zusammenwirken von Druck, Risikofaktoren und Zeit bei der Entwicklung von Dekubitalulzera
• Durchblutungsstörungen: Mangeldurchblutung der Haut (Gefaßveränderungen, Herzinsuffizienz, Blutarmut, mangelhafte Gefäßregulation), • Inkontinenz: Durch ständige Feuchtigkeit kommt es zur Veränderung des SäureFett-Mantels der Haut mit nachfolgender Keimbesiedelung, • Fieber: Bei Fieber erhöht sich der Sauerstoffverbrauch der Haut (die Ischämiezeit wird verkürzt), starkes Schwitzen führt paradoxerweise zur Austrocknung der Haut, • Stoffwechselerkrankungen: Stoffwechselstörungen erhöhen den Sauerstoffverbrauch (Diabetes mellitus),
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Grundversorgung
• Hauterkrankungen: Sie können zu einer stärkeren Verletzbarkeit der Haut führen (Ekzeme, Allergien). Je mehr Risikofaktoren, desto größer ist die Dekubitusgefahr. Das Zusammenwirken von Druck, Risikofaktoren und Zeit geht aus Abb. 3.9-1 hervor.
3.9.2.2 Prädilektionsstellen Dekubitusgefährdete Körperstellen variieren mit der Lagerung (Abb. 3.9-2): • in Rückenlage: Hinterkopf, Schulterblätter, Wirbelsäule, Kreuz- und Steißbein, Ellenbogen, Ferse, Zehenspitzen, • in Seitenlage: Ohr, Schulter, Ellenbogen, Trochanter major, Kniegelenk innen und außen, Außen- und Innenknöchel, • in Bauchlage: Ohr, Nase, Darmbeinstachel, Knie, Außen- und Innenknöchel.
Dekubitusprophylaxe
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3.9.2.3 Gefährdungsskala nach Norton Die Norton-Skala wurde entwickelt, um dem Pflegepersonal zu zeigen, welche Patienten dekubitusgefährdet sind (Tab. 3.9-1):
3.9.2.4 Ziel der Dekubitusprophylaxe Das Ziel, ein Druckgeschwür zu verhindern, besteht in folgendem: — Druckeinwirkung auf die Haut aufheben oder ausgleichen. — Durchblutung der Haut fördern und vorhandene Risikofaktoren
ausschließen.
Eine gezielte Dekubitusprophylaxe kann nur durchgeführt werden, wenn der Risikopatient als solcher erkannt und das Risiko als solches dokumentiert wird. Es gilt: Regelmäßige Inspektion der Haut bei guten Lichtverhältnissen. Eine ideale Möglichkeit besteht morgens beim Betten oder bei der Körperpflege, da nachts Spontanbewegungen und damit Entlastungsbewegungen seltener auftreten. Gefährdete Stellen werden dadurch eher erkennbar. Weiße Flecken oder Rötungen sind verdächtig. Sie können eine beginnende Druckschädigung anzeigen.
3.9.2.5 Maßnahmen • Druckentlastung: Weichlagerung (s. Abschn. 3.7, S. 215), Hohllagerung, Umlagerung nach Plan mindestens alle 2 Stunden (Abb. 3.9-3). • Durchblutungsforderung: Mobilisation des Patienten (s. Abschn. 3.6, S. 195), Hauteinreibungen, Hautmassage, erfolgt beim Einreihen und dauert mindestens 10 Minuten. • Hautpflege (s. Abschn. 3.2.2, S. 132 ff.): Basis der Hautpflege ist die tägliche Reinigung des Patienten durch Waschen mit hautschonenden, pH-neutralen Pflegemitteln. Nach der Reinigung und der sorgfältigen Trocknung muß die Haut mit einer besonders hautschützenden und -ernährenden Salbe eingerieben werden. Ideal sind hautverwandte Pflegestoffe wie Lanolin und hautstärkende VitaminZusätze. Angestrebt werden muß eine Normalisierung des äußeren Hautmilieus. Vermeiden sollte man häufiges Einreihen mit Alkohol, da dies zum Austrocknen der Haut führt.
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30°C (Hitze) und die 8 stündige Isolation von Kollegen und Umwelt, — die fehlende Kommunikation mit dem Patienten, wenn dieser intubiert ist, — die Schmerzverursachung durch die Pflege.
14.3 Plastische Chirurgie der Haut • Hauttransplantationen. Zur Erhaltung des Transplantats dürfen keine Druckoder Scherkräfte ausgeübt werden. Daher wird ein leichter Druckverband auf die Transplantate angelegt, um sie zu stabilisieren. Der betroffene Körperteil m u ß
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
hochgelagert und ruhiggestellt werden. Die Lagerungsschienen werden gepolstert und am Körperteil festgebunden, damit sie sich nicht verschieben. Beim Verbandwechsel wird der Verband nicht abgewickelt, sondern aufgeschnitten, um einen seitlichen Zug am Transplantat zu vermeiden. Es muß darauf geachtet werden, daß die Transplantate sich nicht abheben und daß sie immer feucht bleiben. Die Färbung der Transplantate gibt Auskunft über ihr „Angehen". Nach 4 — 5 Tagen postoperativ müssen sie rosa gefärbt sein. Der Verband an den Entnahmestellen, sofern er trocken ist, soll verschlossen bleiben, da ein unnötiges Wechseln das neu gebildete Epithel immer wieder zerstört. Sie heilen in ungefähr 14 Tagen spontan ab. Falls der Patient Transplantate an den unteren Extremitäten hat und wieder mobilisiert werden darf, müssen die Beine mit elastischen Binden gewickelt werden, um die Belastung der Transplantate zu vermindern. Sind die Transplantate eingeheilt, wird dem Patienten eine Kompressionskleidung nach Maß angepaßt, um mechanisch hypertrophen Narben vorzubeugen. Der Patient muß darüber informiert werden, daß die Transplantation lediglich eine ästhetische Defektdeckung ist, keinesfalls aber eine Wiederherstellung des Organs Haut bedeutet: Sensibilität, Temperaturregulierung und Schweißsekretion bleiben gestört. • Plastische Schönheitschirurugie. Diese Chirurgie ist sehr schmerzhaft, und die Patienten sehen dies manchmal als Strafe für ihre Eitelkeit an. Das Pflegepersonal darf dieses Gefühl nicht bestärken, sondern muß den Patienten über die Möglichkeit einer Schmerztherapie informieren. Außerdem ist der Anblick des Wundgebietes postoperativ oft sehr schockierend für den Patienten, da er sich eine Verschönerung erwartete und statt dessen eine geschwollene Wunde sieht. Um ihm dies zu ersparen, muß er vorher genau aufgeklärt werden über sein Aussehen nach der Operation. Im übrigen gelten die Regeln der aseptischen Wundversorgung.
14.4 Geschlechtskrankheiten Der Patient muß vor allem exakt über die Ansteckungsgefahr und den Kontaminationsweg informiert werden. Man muß ihm klar machen, daß er mitverantwortlich ist für den oder die Sexualpartner und diese nur schützen kann, indem er ehrlich ist. Man darf keine Werturteile gegenüber dem Patienten ausdrücken, denn er ist bereits genügend belastet durch seine Erkrankung, welche oft sehr schmerzhaft ist und vom Patienten als peinlich empfunden wird. Bei der Pflege muß das Personal zum Selbstschutz Handschuhe tragen beim direkten Kontakt mit dem Patienten und im Umgang mit Sekreten.
15. Ophthalmologie Julian Gangolf
15.1 Diagnostik in der Augenheilkunde 15.1.1
Augenhintergrund
Der Augenhintergrund wird mit einem Ophthalmoskop dargestellt. Dabei werden Macula lutea (gelber Fleck), blinder Fleck, Aderhaut und Netzhautgefäße beurteilt. • Vorbereitung für Ophthalmoskopie: Dilatation der Pupille mit einem Mydriatikum auf Arztanordnung, beid- oder einseitig. Tropfenart und Tropfrhythmus werden vom Arzt festgelegt. 1 Stunde vor der Untersuchung beginnt das Pflegepersonal mit der Dilatation: Alle 10 Minuten erhält der Patient 1 Tropfen ins Auge bis zur Untersuchung. Der Patient wird darüber informiert, daß während der Dilatationsphase sowie einige Zeit nach den Untersuchungen die Scharfeinstellung und Adaptation der Linse behindert ist. 15.1.2 Tonometrie (Druckmessung) Die Tonometrie erfolgt mit dem Schiötz-Tonometer: — die Untersuchung erfolgt bei liegendem Patienten (Rückenlage), — Lokalanästhesie der Hornhaut mittels Tropfen (ζ. B. Novesin), — der Patient streckt den Arm hoch und fixiert seinen Daumen (dient der Ruhigstellung der Augen), — das Tonometer wird auf die Hornhaut aufgesetzt. Der Druck ist auf der Skala in " „mmHg" abzulesen. Neben dem Schiötz-Tonometer kann der Druck auch mit dem Applanationstonometer nach Goldmann registriert werden: Die Untersuchung erfolgt im Sitzen. Die Hornhaut wird anästhesiert, der Druck kann sofort abgelesen werden. Der normale Augendruck schwankt zwischen 15 — 20 mmHg und ist seitengleich. Die Augendruckmessungen erfolgen in einem 4- bis bzw. óstündigem Abstand und werden auf einer Kurve festgehalten.
582
Krankenpflege in spezifischen Situationen
15.2 Spezielle Pflegemaßnahmen 15.2.1 Augenspülung, Augenbad • Augenspülung: Der Arzt bestimmt die Spüllösung (neutralisierend oder keimabtötend). Die Lösung soll Körpertemperatur haben. Im Notfall erfolgt die Spülung mit physiologischer Kochsalzlösung bzw. Leitungswasser.
Material: Undine mit Spüllösung, Glasstäbchen zur Ektropionierung der Lider, Nierenschale, Zellstofftupfer, Patientenschutz (wasserundurchlässig). Vorgehen: — Patient über den Vorgang informieren und zur Mitarbeit anregen, Patientenschutz anlegen, — Patient hält Nierenschale an Kinn und Wange, — zum Öffnen der Augen werden die Lider mittels Glasstäbchen ektropioniert, — aus der Undine läuft die Spülflüssigkeit in den Bindehautsack und über den Augapfel. Beim Spülen der oberen Übergangsfalte wird der Patient aufgefordert, nach unten zu schauen und umgekehrt. Bei starken Schmerzen kann auf Arztanordnung ein Lokalanästhetikum ins Auge eingeträufelt werden. Die Augenspülung erfolgt mit der Kranzkanüle. • Augenbad: Augenbadewännchen mit Badelösung füllen. Der Arzt bestimmt Art und Konzentration der Lösung. Der Patient beugt sich nach vorne und drückt das Auge wie ein Deckel auf die Wanne (Schale). Anschließend richtet er sich mit fest an den Augendeckel gedrückter Schale auf, legt den Kopf nach hinten und öffnet unter der Schale das Auge. Die Badelösung benetzt nun das Auge. Die Dauer des Bades beträgt durchschnittlich 5 Minuten. Um die Wirkung zu verstärken, wird der Patient angehalten, Blickbewegungen während des Bades auszuführen. 15.2.2
Augenverbände
Der einseitige Augenverband heißt Monokulus, der doppelseitige Binokulus. Wir unterscheiden folgende Verbandsarten: • Der Heftpflasterverband besteht aus ovalem Verbandsmull mit eingelegter weicher Watte und wird mittels hautverträglichem Pflaster über das „Kissen" an Wange und Stirn befestigt. Der Verband dient der Ruhigstellung des Auges. Er schützt und wärmt das Auge. Um das Zukneifen des Auges (krankes oder operiertes Auge) beim Anlegen des Verbandes zu vermeiden, schließt der Patient beim Anlegen beide Augen ohne zu pressen.
Ophthalmologie
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• Die schwarze Augenklappe dient zum Schutz des Heftpflasterverbandes und wird bei Pflasterüberempfindlichkeit angelegt. Sie besteht aus Stoff oder aus mit Stoff überzogener Pappe, welche mit Haltebändern am Kopf befestigt wird. • Die Plastik- oder Metallklappe dient ebenfalls dem Schutz des Heftpflasterverbandes und wird angelegt, wenn ein Druck auf das Auge vermieden werden muß (ζ. B. nach Operationen oder Verletzungen). Die Metallklappe wird mit Haltebändern, die Plastikklappe mit Heftpflaster befestigt. Um das Auge zu schützen, werden diese Klappen bevorzugt bei Kindern oder verwirrten Patienten angelegt. • Der Uhrglasverband besteht aus durchsichtigem, uhrförmigem Plexiglas, welches von Heftpflaster umrundet ist. Er dient als feuchte Kammer, wenn das Augenlid nicht geschlossen werden kann (ζ. B. infolge Lähmung des Lidschließmuskels). Man verwendet ihn nach Operationen, wenn das nicht operierte Auge erblindet ist, um die Sicht zu ermöglichen. Andererseits kann er das gesunde Auge vor dem Übergreifen einer Infektion schützen. • Der Druckverband (elastische Binde) wird über dem Heftpflasterverband angelegt und soll postoperative Nachblutungen vermeiden (ζ. B. nach Enukleation: Augapfelentfernung). Nach Glaukomoperation verbessert er die Zirkulation des Kammerwassers.
15.3 Pflegemaßnahmen bei Augenoperationen Präoperative Maßnahmen sind: • Wimpern werden geschnitten (mittels einer abgerundeten mit Vitamin A Augenpommade bestrichenen Schere, damit die Wimpern an der Schere haften bleiben), • Tränenkanal wird nach Lokalanästhesie mit Antiobiotikalösung durchspült (vom Arzt), • Um den Augendruck während der Op. zu senken, werden drucksenkende Medikamente durch Arztanordnung verabreicht (ζ. B. Diuretika), • Um einer Infektion vorzubeugen, wird ein Hornhautabstrich angelegt (vom Arzt). Ist der Abstrich positiv, so wird die Operation nicht vorgenommen. Präventiv wird das Auge mit Antibiotikatropfen vorbehandelt (auf Arztanordnung). Keine geplante Operation bei stark erkälteten Patienten mit Husten und Schnupfen (Niesen), da das Auge nicht ruhiggehalten werden könnte! Jedem Druckanstieg im Augapfel ist vorzubeugen: Obstipationsprophylaxe, Information des Patienten, Drucksteigerung zu vermindern: richtige Haltung, Bewegung usw. Für die postoperative Behandlung sind beachtenswert:
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
• Verband: Der Verband wird am Tag nach der Operation abgenommen, um mit der Tropfenbehandlung zu beginnen. Der Patient trägt dann einen leichteren Schutzverband. • Sicht nach Kataraktoperation: Normalerweise kann der Patient klarer sehen, die Sicht ist jedoch leicht verschwommen. Nach 6 — 12 Wochen kann der Patient klar sehen. • Tropfenbehandlung: Die Pflegeperson träufelt in das operierte Auge (innerer Augenwinkel) und wechselt den Verband, wenn nötig. Tropfen reduzieren die Entzündung, beugen einer Infektion vor und stellen das Auge ruhig. • Mobilisation: Der Patient kann sich normal bewegen und Fernsehen: Bei ausreichender Entfernung bewegt sich das Auge nicht. • Während den ersten 5 Tagen nach der Operation darf der Patient nicht lesen! • Während mindestens 6 Wochen sollte einem Druckanstieg im Augapfel vorgebeugt werden. Folgende Bewegungen sind zu vermeiden: nach vorne beugen, um etwas aufzuheben, Pantoffeln anziehen, das operierte Auge reiben, schwere Sachen tragen.
16. Onkologie Christiane
Theisen-Mertens
16.1 Palliative Pflege in der Onkologie Die palliative Pflege beruht auf 4 Prinzipien: • • • •
Akzeptanz des Sterbens als natürliches Phänomen, dem wir alle unterliegen, symptomatische Behandlung, ζ. B. von Schmerzen, Betreuung des Patienten und der Familie durch ein multidisziplinäres Team, Unterstützung der Familienangehörigen in ihrer Trauerarbeit.
Neben der Gründung von Hospizen und der Einrichtung von palliativen Stationen in Akutkrankenhäusern wird heute immer mehr versucht, dem Sterbenden die letzte Lebensphase zu Hause zu ermöglichen. Dabei ist eine kompetente ambulante Pflege sowie eine konsequente Schmerztherapie ausschlaggebend für das Gelingen dieser palliativen Pflege. Viele Tumorpatienten fürchten ihren „sozialen Tod" mehr als den physischen. 16.1.1 Psychische Betreuung 16.1.1.1 Belastung der Pflegenden im Umgang mit Sterbenden Das Verhalten der Pflegepersonen beeinflußt die Auseinandersetzung des Patienten mit dem Sterbeprozeß. Daher ist eine vertrauensvolle Beziehung von großer Wichtigkeit. In dieser Beziehung werden auch ungerechtfertigt erscheinende Gefühlsäußerungen wie Aggressionen akzeptiert und nicht persönlich aufgefaßt. Dies erfordert von den Pflegepersonen viel Geduld und persönlichen Einsatz. Erfahrungen in der Pflege von Tumorpatienten stellen für das Pflegepersonal eine Bereicherung dar (s. Abschn. 3.11, S. 282). Pflegepersonen müssen die Möglichkeit haben, über ihre Probleme offen im Team zu sprechen. Dies ist keine persönliche Schwäche und Unzulänglichkeit. Supervision durch eine fachkompetente außerhalb der Hierarchie stehende Person ist oft empfehlenswert. Mit Hilfe des Supervisors wird einem Team ein Überblick über die eigene Situation vermittelt. Diese Methode verhilft den Pflegepersonen spezifische Situationen aufzuarbeiten und ihre Reaktionsweisen besser zu verstehen. Dies führt zur psychischen Entlastung der Pflegenden, zu einer Verbesserung der Pflegequalität und zu einer Optimierung der psychosozialen Betreuung von Tumorpatienten.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
16.1.1.2 Betreuung der Familienangehörigen In der palliativen Pflege kommt der Begleitung und Unterstützung von Familienangehörigen große Bedeutung zu. Diese Begleitung beginnt mit den Informationen über den Verlauf der Krankheit (durch den Arzt) und die zu treffenden Pflegemaßnahmen, damit von Anfang an eine offene Kommunikation zwischen Patient, Familie und Pflegeteam möglich ist. Die Angehörigen können angeleitet werden, kleine Pflegemaßnahmen selbst zu verrichten. Dies kann Gefühlen der Nutz- und Hilflosigkeit sowie Schuld entgegenwirken. Es ist wichtig den Familienangehörigen verständlich zu machen, daß sie auf sich selbst achten sollen. Sie sollen sich genügend Schlaf gönnen, auf richtige Ernährung achten und abwechselnd beim Patienten präsent sein. Hieraus geht schon hervor, daß das Pflegepersonal die nötige Zeit für die Familie aufbringen muß. Familienangehörige sollen die Möglichkeit haben, Emotionen und Gefühle auszudrücken. Sie gehen oft dieselben Phasen der Krankheitsbewältigung durch wie ihr Angehöriger. Oft wird der Familie erst nach dem Tod des Patienten die eigene Situation bewußt. Während sie sich vorher ganz auf den Sterbenden konzentriert und für diesen alle Kräfte investiert hat, fällt sie nach dessen Tod in eine tiefe Leere. In einigen Krankenhäusern sind Treffen für die Hinterbliebenen vorgesehen. Hier wird ihnen die Möglichkeit gegeben, mit anderen Hinterbliebenen über den Verstorbenen zu sprechen sowie mit den Pflegepersonen, die den Verstorbenen betreut haben. Diese Gesprächsmöglichkeiten helfen der Familie, den Tod zu verarbeiten.
16.2 Ernährung Während der Erkrankung kommt es bei den meisten Tumorpatienten zu verschiedenen Ernährungsproblemen, was zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustandes sowie zu einer Verringerung der Lebensqualität führt. 16.2.1 Mangelnde Nahrungsaufnahme, Gewichtsabnahme Ursachen für eine Mangelernährung können sein: • mechanische Hindernisse im Verdauungstrakt, • Nebenwirkungen von Zytostatika- oder Strahlentherapie
(s. Abschn. 16.5,
16.6.1).
• Bei Tumoren handelt es sich um konsumierende Prozesse mit erhöhtem Energieverlust. Wird dieser nicht durch die Nahrung ausgeglichen, erfolgt ein Abbau der körpereigenen Reserven mit Gewichtsabnahme (besonders Fett- und Muskelgewebe).
Onkologie
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Eine angepaßte Ernährung unter Berücksichtigung der persönlichen Geschmackswünsche und der Aufnahme- und Verdauungsfähigkeit des Patienten ermöglicht einen befriedigenden Ernährungszustand über eine lange Phase der Erkrankung.
16.2.2 M a ß n a h m e n bei M a n g e l e r n ä h r u n g Der Mangelernährung kann in Abhängigkeit von der Ursache in folgender Weise begegnet werden: • bei mechanischen Hindernissen: — breiige, flüssige Nahrung, wenn möglich hyperkalorisch (Fertignahrung), — Nahrungsmittel pürieren oder mixen. Hierbei immer auf ein appetitliches Aussehen der dargebotenen Mahlzeit achten, — falls keine Nahrungsaufnahme auf oralem Weg mehr möglich ist, wird über Sonden (s. Abschn. 4.3, S. 372) bzw. parenteral (s. Abschn. 4.9.2, S. 454) ernährt. • bei Übelkeit und Erbrechen: — im Rahmen einer Zytostatikatherapie ist ein Antiemetikaprogramm sowie eine psychische Unterstützung des Patienten von größter Bedeutung. Neben der Verabreichung antiemetischer Medikamente nach Zeitplan s. u., muß dem Patienten erklärt werden, daß die Ernährung ein wichtiger Teil seiner Therapie ist, — für die Essensaufnahme sollen eine ruhige, entspannte Atmosphäre geschaffen und häufigere, kleine Mahlzeiten angeboten werden, — nach dem Essen soll der Patient sich ausruhen, am besten mit erhöhtem Kopfteil, — zwischen den Mahlzeiten können kühle Getränke angeboten werden, — stark riechende Nahrungsmittel sind ebenso zu vermeiden wie scharf gewürzte, fritierte, fettige, — trockene oder gesalzene Nahrungsmittel anbieten und orale Zytostatika nicht nüchtern einnehmen. • bei Appetitlosigkeit und Abneigung gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln: — Wunschkost anbieten, die Familie evtl. mit einbeziehen, damit sie die Lieblingsspeisen des Patienten mitbringt, — abwechslungsreiche Kost anbieten, auf gepflegte Tischatmosphäre achten und Zwischenmahlzeiten anbieten. • bei Ulzerationen der Mundschleimhaut: — kühle, weiche Nahrungsmittel anbieten, da diese schmerzlindernd wirken, — Lokalanästhetika vor der Nahrungsmittelaufnahme verabreichen, — säurehaltige Speisen und Getränke vermeiden.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Die Ernährung des Tumorpatienten soll ausgewogen, kalorienreich sein und Vitamine und Spurenelemente enthalten. Die Zusammensetzung des Diätplans erfolgt am besten mit dem Patienten, dem Pflegepersonal und der Diätassistentin. Für „Krebsdiäten", welche das Tumorwachstum hemmen sollen, gibt es keine Beweise. Einseitige Diäten sind jedenfalls zu meiden, eine vollwertige Mischkost ist immer anzustreben.
16.3 Schmerzen Der Schmerz bei onkologischen Patienten ist meist ein chronischer, verursacht durch den Tumor selbst, die Ausdehnung der Metastasen oder durch Komplikationen: schmerzhafte Begleitinfekte, Nebenwirkungen der Therapie. Dieser Schmerz wird verstärkt durch die psychische Stimmung des Patienten, der sich in einer Streßsituation befindet (Angst, Verzweiflung, Depression). Meist steht nicht die Heftigkeit des Schmerzes, sondern das permanente Vorhandensein im Vordergrund, wodurch der Patient immer wieder an seine Krankheit erinnert wird. Der Grad der Schmerzfreiheit ist bestimmend für die Lebensqualität des Patienten. Bei der Ermittlung des Schmerzes ist zu achten auf: • Schmerzlokalisation (evtl. anhand eines Schemas dokumentieren), Schmerzempfindung, • Schmerzdauer, Periodizität und Zeitpunkt des Auftretens, • emotionale und physische Auswirkungen und non-verbales Verhalten, Schmerzintensität (evtl. Gebrauch von Schmerzskala). Zur besseren Evaluation des Schmerzes können vorgedruckte Evaluationsblätter verwendet werden, in welche die Patienten charakteristische Merkmale der Schmerzempfindung ankreuzen.
16.3.1
Analgetikaapplikation
Die Analgetikagabe darf nicht sporadisch erfolgen, da das Wiedereintreten von Schmerzen den Patienten unnötig belastet und eine erneute Schmerzlinderung erschwert. Die Analgetikagabe sollte daher regelmäßig nach festgelegtem Zeitplan erfolgen: Die Schmerzfreiheit soll das Schmerzgedächtnis auslöschen und damit vermeiden, daß der Patient aus Angst vor neuen Schmerzen seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Schmerzen richtet. 16.3.2
Morphiumapplikation
Das Prinzip der regelmäßigen Analgetikagabe erfordert einen stufenweisen Aufbau der Analgetikamedikation bis hin zur Verabreichung von Morphiumpräparaten:
Onkologie
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• die Morphiumtherapie darf nicht gleichgesetzt werden mit Terminalstadium. Viele Patienten erlangen dadurch eine höhere Lebensqualität ohne permanent durch Schmerzen behindert zu sein, • es gibt keine Zeitbegrenzung in der Verabreichung des Morphiums, • wichtig ist die regelmäßige Einnahme bzw. Verabreichung. Diese Zeitintervalle müssen auch während der Nacht respektiert werden, damit keine erneuten Schmerzen auftreten: bei oraler Morphiumgabe (MS-Contin) 12, bei s. c- Applikation 4 Stunden. • bei Beginn der Therapie schlafen die meisten Patienten viel; dies ist darauf zurückzuführen, daß sie die Schlaflosigkeit der vorangegangenen Tage wegen bestehender Schmerzen jetzt kompensieren können, • Nebenwirkungen sind: Obstipation, Übelkeit, Erbrechen, Atembeschwerden, Juckreiz: — Obstipationsprophylaxe s. Abschn. 3.9.7, S. 271, — Übelkeit tritt oft zu Beginn der Therapie auf. Ggf. muß auf eine andere Verabreichungsart zurückgegriffen werden, — Atemprobleme sind bei Patienten mit bereits bestehenden Atembeschwerden zu Beginn der Therapie gut zu überwachen; • das oft erwähnte Problem der psychischen Abhängigkeit der Patienten wurde durch Statistiken widerlegt, die Persönlichkeit von Tumorpatienten ist eine andere als die von Drogenabhängigen. Es ist möglich, die Dosis des Morphiums zu verringern, falls ζ. B. eine palliative Therapie, Chirurgie, Radio- oder Zytostatikatherapie, die Ursache der Schmerzen beheben konnte. • Die Zurückhaltung vieler Ärzte und Pflegepersonen Morphium gegenüber beruht meist auf Unkenntnis und Mißverständnissen. Neben der Schmerzprophylaxe durch eine geeignete Schmerztherapie, dürfen die pflegerischen Möglichkeiten zur Linderung der Schmerzen nicht vergessen werden. Sie sind eine wichtige Ergänzung zu der medikamentösen Behandlung. 16.3.3 Schmerzlinderung durch Pflege Alle Pflegemaßnahmen, die den Komfort des Patienten garantieren, tragen zur Schmerzlinderung bei. Dazu gehören: • eine gute Körperhygiene und regelmäßige Erfrischungen des Patienten, • eine angepaßte Lagerung je nach Schmerzsituation bzw. regelmäßige schonende Umlagerungen und Unterstützung mit Kissen (s. Abschn. 3.7, S. 215), • frische Luft wird als angenehm empfunden, • physikalische Maßnahmen, Umschläge oder Wickel, können schmerzlindernd sein, • Einreibungen und Massagen werden meist als wohltuend empfunden.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Der psychischen Unterstützung des Patienten durch Gespräche kommt eine sehr große Bedeutung zu: sich Zeit nehmen und Zuhören, die Beschwerden des Patienten ernst nehmen, den Patienten mit in die Pflege einbeziehen, sind notwendige Verhaltensregeln, die es der Pflegeperson erst ermöglichen, die Ängste gegenüber der Therapie zu erfassen und entsprechend darauf zu reagieren.
16.4 Isolation Tumorpatienten sind einem großen Infektionsrisiko
ausgesetzt:
• die Behandlung (Radiotherapie und Zytostatikatherapie) kann eine Verringerung der Leukozyten durch Markaplasie hervorrufen, • der Allgemeinzustand des Patienten ist geschwächt und dadurch ebenfalls sein Immunsystem, • tumorbedingte Beeinträchtigung der zellulären Abwehr (maligne Lymphome, akute Leukämien), • die Lokalisation des Tumors kann eine Obstruktion im Bereich der Luftwege, des Magen-Darm-Kanals oder der Harnwege mit nachfolgender Infektion bewirken. Bei abwehrgeschwächten Patienten muß hygienisch einwandfrei gearbeitet werden. Der Patient soll die nötige Hilfeleistung bei der Körperpflege erhalten und öfters erfrischt werden, wenn es ihm nicht möglich ist, diese Maßnahmen selbst zu übernehmen. Die Zahn- und Mundpflege muß regelmäßig durchgeführt werden, da eine Pilzinfektion droht. Eine Mundspülung mit antiseptischer Lösung ist dabei eher indiziert als das Zähneputzen, da oft die Blutungsbereitschaft erhöht ist. Eine regelmäßige Reinigung von Zahnprothesen ist selbstverständlich. Wichtig ist ebenfalls eine gründliche Intimtoilette Entzündungszeichen.
unter Berücksichtigung auf
Regelmäßige Temperaturkontrollen sind unerläßlich, um einen infektiösen Prozeß rechtzeitig diagnostizieren zu können. Bei voraussehbarer und länger andauernder Granulozytopenie müssen spezifische Maßnahmen getroffen werden. Die Patienten werden in therapeutischer Isolation gepflegt, wobei 2 Arten zu unterscheiden sind: • Umkehrisolation: schützt den gefährdeten Patienten vor Infektionen (Keime der Umgebung) durch Schaffung und Erhaltung eines keimarmen Milieus, • Sterilbetteneinheit oder steriles Zimmer: schützt den Patienten vor Keimen der Umgebung sowie vor körpereigenen Keimen durch eine keimfreie Umgebung und spezielle Maßnahmen.
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16.4.1 Verhaltens- und Schutzmaßnahmen in Umkehrisolation Für den Patienten gilt: — — — —
tägliche Ganzkörperpflege mit hautverträglicher Desinfektionslösung, sorgfältige Mundhygiene mehrmals täglich mittels Antimykotikum (Arzt!), tägliche Inspektion der Mundhöhle auf Schleimhautdefekte, Kontrollen der Ausscheidungen auf Infektionszeichen (Sputum, Urin, Stuhlgang), — Desinfektion der Körperöffnungen und -falten (Ohren, Nase, Achselhöhlen, Genitalbereich, Zehenzwischenräume, Bauchnabelregion) täglich mit Antibiotikaspray (Arzt!), — Darmdekontamination mittels oral verabreichtem Chemotherapeutikum, — Ernährung mit möglichst keimarmer Kost, Bettwäsche und Kleidung täglich wechseln, — Temperaturkontrollen mindestens zweimal täglich. Für Pflegepersonal, Besucher und Arzt gilt: — vor Betreten des Zimmers: Hände waschen und desinfizieren, Arbeitskittel aus Papier oder Stoff anziehen, Mundschutzmaske und Haube anlegen, — die Pflegemaßnahmen organisieren, um nicht unnötig das Zimmer zu betreten, — Desinfektion aller Gegenstände, die ins Zimmer gebracht werden, — auf gründliche Reinigung des Zimmers achten (Information des Reinigungspersonals), — es darf keine Person, die an einer Infektionskrankheit leidet, das Zimmer betreten (Vorsicht bei Kinderbesuch), — Besucher, die auf Wunsch des Patienten jederzeit zugelassen werden, sind über die getroffenen Maßnahmen zu informieren. Damit der Patient die speziellen Maßnahmen versteht und kooperativ mitarbeiten kann, bedarf er einer intensiven Information über seine Krankheit, seine Gefährdung und seine tägliche Pflege. Die Anleitung erfolgt durch eine erfahrene Krankenpflegeperson. 16.4.2 Verhaltens- und Schutzmaßnahmen in der Sterilbetteneinheit In der Sterilbetteneinheit (Life island = Überlebensinsel) sowie im sterilen Zimmer besteht weitgehend Keimfreiheit: die von Bakterien freigefilterte Luft wird nach dem Laminar-flow-Prinzip vom Kopfende des Bettes strömend bis zum Fußende bewegt und dort abgesaugt. • In der Überlebensinsel ist das Bett von Plastikvorhängen umgeben. Die Krankenpflegeperson macht die meisten Arbeiten durch die Handschuhe in der Folienwand und läßt dem Patienten die persönlichen Sachen sowie alles andere Material durch eine spezielle Schleuse zukommen. Das schmutzige Material wird unter dem Zelt herausgezogen, nachdem der Druck erhöht wurde. Für Arbeiten, die nicht durch die Folienwand gemacht werden können, öffnet die Pflegeperson
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die Wand, nachdem sie sich steril angezogen hat und kommt dann in direkten Kontakt mit dem Patienten. Dieses System hat den Nachteil, daß der Laminar-flow Lärm verursacht, der Patient wenig Kontakt hat und seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. Er verläßt die Überlebensinsel nur, wenn es wirklich notwendig ist, ζ. B. für eine Untersuchung, die nicht im Bett gemacht werden kann. • Im sterilen Zimmer hat der Patient eine größere Bewegungsfreiheit und seine Umgebung ist „normaler" als in der Überlebensinsel. Die Pflegeperson betritt das Zimmer, nachdem sie sich in der Schleuse geduscht und steril angezogen hat. Sie bleibt während ihrer Arbeitsstunden beim Patienten. 16.4.3 Pflegemaßnahmen Für die Isolation gelten folgende Pflegemaßnahmen: • alle vom Patienten benötigten Gegenstände werden sterilisiert in die Isolation eingebracht, • die Ernährung erfolgt nur durch keimfreie Nahrungsmittel (spezielle Zubereitung oder Dosennahrung), • alle pflegerischen Tätigkeiten erfolgen mit sterilen Hilfsmitteln, • zur Früherfassung einer Infektion werden folgende Kontrollen durchgeführt: häufige Temperaturkontrollen, Blutkulturen auf Arztanordnung, Urin- und Stuhlkulturen, Abstriche im Rachen, Sputumkulturen, Kulturen von jedem Katheter, der entfernt wird. Die Regelmäßigkeit dieser Untersuchungen ist eine Anordnung des Arztes. Die Abstriche sind so zu organisieren, daß der Patient nicht zu oft gestört wird. Außer diesen Kontrollen zum Erregernachweis ist die Beobachtung besonders wichtig. Das Pflegepersonal beachtet dabei die • • • •
Ausscheidungen des Patienten: Aussehen und Beimengungen, Mund- und Vaginalschleimhaut: Pilzbefall, Haut: Läsionen oder Allergiezeichen, Beschwerden: ζ. B. Schmerzen beim Wasserlassen.
Die psychische Unterstützung des Patienten in der Isolation ist von großer Bedeutung. Er muß über alle zu treffenden Maßnahmen informiert sein. Die Familie oder andere Bezugspersonen sollten mitinformiert sein, um sämtliche Pflegemaßnahmen zu erleichtern. Der Kontakt mit der Außenwelt muß unbedingt erhalten bleiben, ζ. B. durch Telefon, Gegensprechanlage, Radio oder Fernsehgerät. Es ist wichtig, eine angepaßte Beschäftigung für den Patienten zu finden. Die Besucher sollten sich nicht an strenge Besuchszeiten halten müssen. Das Risiko einer Depression besteht grundsätzlich. Anmerkung: Diese Isolationsform ist für unkooperative und vollständig bettlägerige Patienten nicht geeignet. Der Patient muß einen Teil der Pflegemaßnahmen selbst verrichten können.
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16.5 Radiotherapie Die Strahlentherapie verfolgt 2 Ziele: kurative (Heilung) und palliative Therapie (Linderung von tumorbedingten Schmerzen oder anderen Symptomen). Die Chance der lokalen Tumorvernichtung vergrößert sich mit der Strahlendosis. Eine hohe Strahlendosis bringt jedoch eine stärkere Belastung des gesunden Gewebes mit sich. Daher kann eine ganze Reihe von Nebenwirkungen auftreten. 16.5.1
Strahlenkater
Der Strahlenkater ist ein allgemeines Problem während einer Bestrahlungstherapie. Er äußert sich in Müdigkeit, Übelkeit, Appetitlosigkeit, psychosoziale Belastung ζ. B. Änderungen im Berufsleben, Belastung des Familienlebens u. a. In dieser Situation sollte der Patient bei der Umorganisation seines beruflichen und privaten Lebens unterstützt werden. Hier einige Empfehlungen für den Patienten: • Aussetzen der Arbeit oder evtl. Teilzeitarbeit beantragen während der Therapiephase, falls dies ihm möglich ist, — Transport organisieren bis zum Therapiezentrum, vermehrte Ruhepausen einlegen während des Tages, — kleine Spaziergänge im Freien unternehmen und ausgewogene Kost zu sich nehmen, — bei Übelkeit, auf Antiemetika zurückgreifen, — bei Schlaflosigkeit, Tee oder Schlafmittel auf Arztverordnung einnehmen.
Den Patienten immer wieder motivieren, den Zeitplan seiner Therapie einzuhalten, selbst wenn sein Allgemeinbefinden nachläßt. 16.5.2 Lokale Komplikationen im Bestrahlungsbereich Lokale Komplikationen sind: Strahlendermatitis, Entzündungen der Schleimhäute (Mund, Darm, Blase), Knochenmarkaplasie und Lungenfibrose. • die Strahlendermatitis äußert sich in: Schuppung der Haut, Rötung, Juckreiz, Epithelablösung mit Exsudation. Empfehlungen für den Patienten: — keine Seife im Bestrahlungsbereich verwenden, — keine mechanische Reibung ausüben: keine Kleider aus Synthetik tragen, sondern Baumwolle oder Seide bevorzugen, weite, keine einengenden Kleidungsstücke tragen, weiche Handtücher benutzen, evtl. Fönen (nur trockene, nicht vorgeschädigte Haut), Kratzen und Bürsten der Haut vermeiden, — keine Wärmeanwendung: nur lauwarmes Wasser verwenden, keine Rotlichtanwendung, keine direkte Sonneneinstrahlung, kein Solarium, — keine Parfums oder Sprays benutzen und Salben und Puder nur auf Arztanordnung auftragen.
Die Markierung der zu bestrahlenden Stelle darf nicht abgewischt werden.
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Auch die dem Strahleneintritt abgewendete Körperpartie mitpflegen! • Mundschleimhaut: Häufig sind ein Geschmacksverlust und eine Mundtrockenheit mit Soorinfektion zu beklagen (s. Abschn. 3.9.5, S. 265). Durch die verminderte Speichelsekretion ist die Selbstreinigung der Mundhöhle nicht gewährleistet, das Zahnfleisch retrahiert sich, es kommt zur Parodontose. Empfehlungen für den Patienten: — kein Alkohol- und Nikotingenuß, korrekte Zahnpflege, regelmäßige Mundspülungen, Feuchtinhalation, — angepaßte Ernährung: weder harte noch säurehaltige Nahrungsmittel zu sich nehmen, — bei Schmerzen: Lokalanästhesie durch Lutschtabletten.
• Strahlenenteritis: Entzündungen der Dünndarmschleimhaut gehen einher mit Übelkeit, Erbrechen, Meteorismus, beschleunigte oder verlangsamte Darmpassage. Empfehlungen für den Patienten: — Schonkost, ballaststoffarm, fettarm, — erhöhte Flüssigkeitszufuhr und Elektrolytersatz bei Diarrhoe.
• Strahlenproktitis: Entzündungen der Dickdarmschleimhaut gehen einher mit häufigen, schmerzhaften kleinen Stuhlentleerungen. Empfehlungen für den Patienten: — Stuhlentleerung durch leicht verdauliche Kost und ggf. Klistiere.
• Zystitis: Die Blasenentzündung äußert sich in Harndrang und Schmerzen. Empfehlungen für den Patienten: — regelmäßige Kontrolle des Urins auf Quantität und Beimengungen, — erhöhte Flüssigkeitszufuhr.
• Knochenmarkaplasie s. Abschn. 16.4, S. 590. • Lungenfibrose s. Abschn. 7, S. 489. Bestimmte Geschwülste werden mit Radionukliden lokal behandelt. Es gibt offene (ζ. B. Jod131 in flüssiger Verabreichungsform) und umschlossene Strahler (ζ. B. Radium 226 als Substanz in ein Hohlorgan eingelegt). Allgemeine Verhaltensmaßnahmen sind: — Isolierung des Patienten in einen gekennzeichneten Raum, ihm die Möglichkeit geben, mit der Außenwelt zu kommunizieren, — Besuchsverbot oder Besuch auf 2 m Abstand vom Patienten, — Dosimeter tragen und Abstand vom Patienten wahren, falls ein Aufenthalt im Zimmer unumgänglich ist, — in den ersten 48 Stunden die Pflege auf ein Minimum beschränken, — Wäsche kennzeichnen, falls möglich, Vorwäsche vor dem Waschen in der Waschanlage,
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— Ausscheidungen: chemische Toilette, in gekennzeichneten Gefäßen aufbewahren bis zum Abklingen der Radioaktivität, — falls das radioaktive Material verrutscht ist: niemals den Strahler anfassen, sondern sofort den Arzt benachrichtigen. Die Dauer der Schutzmaßnahmen richtet sich nach der Halbwertszeit der Radioisotopen (s. Abschn. 4.4, S. 396). Spezifische Pflegeprobleme: • bei Strahlern im gynäkologischen Bereich: besteht die Gefahr, daß die Strahler aus der Scheide oder Gebärmutter gedrückt werden. Daher ist auf leichte Stuhlausscheidungen zu achten (s. Abschn. 3.9.7, S. 271). Es kann zu Blutungen kommen, die auf eine evtl. Perforation oder Infektion hindeuten. Regelmäßige Spülungen müssen ausgeführt werden, um eine Infektion zu vermeiden. Eine genaue Beobachtung der Intimregion ist vorzunehmen. • bei Strahlern im HNO-Bereich kann es zu Mundschleimhautentzündungen kommen. Beobachtung der Mundhöhle und des Rachens, Mundspülungen und -pflege sind erforderlich.
16.6 Chemotherapie Chemotherapie ist eine medikamentöse Tumortherapie mit Zytostatika. Es handelt sich hierbei um Substanzen, welche jede Zelle im Wachstum und in der Vermehrung hemmen. Die Tumorzellen sind besonders betroffen, da sie eine schnelle Zellvermehrung aufweisen. Da die Therapie auch gesunde Zellen angreift, kommt es zu einer Reihe von Nebenwirkungen, die für den Patienten sehr belastend sein können. Jedes Zytostatikum hat sein charakteristisches Spektrum von Nebenwirkungen. Die Reaktion des Organismus auf die Zytostatikatherapie ist individuell unterschiedlich. Die Patienten sollen auf mögliche Nebenwirkungen aufmerksam gemacht, sie sollen aber auf keinen Fall verängstigt werden. 16.6.1
Nebenwirkungen
Die am häufigst auftretenden Nebenwirkungen sind im Überblick: (1) kurzfristig auftretend, meist reversibel bei Abbruch der Therapie: • Störung der Blutbildung durch Myelosuppression, Infektionsneigung wegen Leukopenie, Blutungsneigung wegen Thrombopenie, Anämie, • Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Schleimhautveränderungen, Haarausfall, • Nierenfunktionseinschränkung und hämorrhagische Zystitis, • nervöse Störungen: Parästhesien, Verlust der Feinmotorik, Darmträgheit, Heiserkeit, Geschmacksstörungen, • Hautveränderungen: Ausschläge, Rötung, Spannungsgefühl, • Herzrhythmusstörungen, Blutdruckabfall,
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• Leberfunktionsstörungen: Anstieg von Bilirubin, verminderte Produktion von Gerinnungsfaktoren. (2) nach intensiver, langdauernder Therapie auftretend: • Immunsuppression, Lungenfibrosen, Herzinsuffizienz, • Infertilität bei beiden Geschlechtern, • degenerative Veränderungen des Zentralnervensystems. Die frühzeitige Erkennung der Nebenwirkungen hängt wesentlich von der Aufmerksamkeit und dem Wissen des Pflegepersonals ab. Bei Myelosuppression mit Leukopenie, Thrombopenie und Anämie gelten die jeweiligen Pflegemaßnahmen (s. Abschn. 6, S. 487). Bei Übelkeit, Erbrechen zeigt sich der große Einfluß der Psyche auf die Verträglichkeit der Therapie. Es wurde nachgewiesen, daß schlecht informierte Patienten, die wenig Gelegenheit hatten, sich mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen und sie zu verarbeiten, öfters und stärker mit Übelkeit und Erbrechen auf die Therapie reagierten als positiver eingestellte Patienten.
Die Einstellung des Arztes und des Pflegepersonals gegenüber der Therapie spielt eine entscheidende Rolle. Eine gute Aufklärung und Motivation des Patienten für die Therapie ist unerläßlich. Vielen Patienten kann durch Entspannungsübungen geholfen werden. Mit der Ernährung kann die Übelkeit nicht wesentlich beeinflußt werden. Der Patient soll essen, wozu er Lust hat, schwer Verdauliches vermeiden und evtl. Zwischenmahlzeiten einschieben. Oft wird dem Patienten auch geraten, nicht unbedingt Lieblingsspeisen während der Therapie zu sich zu nehmen, da Geschmacksstörungen durch verschiedene Medikamente auftreten und so den Geschmack der besonders geliebten Nahrungsmittel verfälschen.
Sehr wichtig ist jedoch ein geplantes Antiemetikaprogramm. Die Antiemetika müssen so verabreicht werden, daß erst gar kein Erbrechen einsetzt, da sich dies negativ auf die Therapie auswirkt. Bei Schleimhautveränderungen im Mund (Stomatitis) und im Rachen (Pharyngitis) kommt es zur erschwerten Nahrungsaufnahme durch Schmerzen. Die Leukopenie und die allgemeine Abwehrschwäche des Patienten fördern diese Komplikation. Die Entzündungsherde entwickeln sich oft zu schmerzhaften Ulzerationen. Pilzbefall der Mundhöhle und Aphthen sind ebenfalls häufig zu beobachten. Der Vorbeugung dient eine gute Mund- und Zahnhygiene sowie eine regelmäßige Inspektion. Haarausfall (Alopezie) ist für den Patienten sehr belastend. Wegen ihrer raschen Zellteilung reagieren die Haarwurzelzellen empfindlich auf verschiedene Zytostatika. Schon wenige Tage bis Wochen nach Beginn der Therapie kommt es zu einem massiven Haarausfall.
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Gegen Haarausfall gibt es keine zuverlässig vorbeugenden Maßnahmen. Der Patient kann eine Kopfbedeckung oder Perücke tragen. Die Perücke sollte er sich bereits vor Therapiebeginn besorgen. Teilkosten werden von der Krankenversicherung übernommen. 16.6.2 Verabreichung von Zytostatika Zytostatika können oral, i. v. oder über ein Port-System appliziert werden. • orale Verabreichung: Tabletten, Dragees oder Kapseln sollten nicht nüchtern gegeben werden. • intravenöse Verabreichung: Die meisten Zytostatika sind gewebstoxisch und bewirken bei paravenöser Injektion schwere Entzündungen und Hautnekrosen. Die Dauerinfusion bei unruhigen Patienten sollte durch eine Schiene fixiert werden. Bei paravenöser Injektion sofort Injektion oder Infusion unterbrechen und den Arzt benachrichtigen. • Verabreichung über Port-System: Das Port-a-Cath-System (PAC-System) besteht aus Injektionskammer (Port) und Silikonkatheter. Das System wird subkutan in Lokalanästhesie oder Vollnarkose implantiert. Eine selbstschließende , großflächige Silikonmembran ermöglicht eine leichte Punktion und einen sicheren Halt der Nadel. Die Membran kann mit einer speziell geschliffenen Huber-Nadel angestochen werden. Die Huber-Nadel kann gebogen sein (Infusion über einen längeren Zeitraum) oder gerade (direkte Punktion). Für jedes Anwendungsgebiet gibt es spezielle Systeme: — intravenöser Katheter zur Langzeitchemotherapie: bei fehlendem Zugang zu peripheren Venen und wegen erhöhtem Infektions- und Thromboserisiko, — intraarterieller Katheter bei i. a. regionaler Zytostatikatherapie von Lebermetastasen, — intraperitonealer Katheter zur Verabreichung von Zytostatika in die Bauchöhle.
Pflegerische Aufgaben nach der Implantation eines PAC-Systems: — Überwachung von inneren und äußeren Blutungen, — Kontrollen auf Wundschmerzen und Infektionszeichen, — Überwachung des Patienten auf Thoraxschmerzen, Atembeschwerden. Allgemeine Richtlinien bei der Punktion der Injektionskammer: — perkutane Punktion der Kammer durch das Kunststoffsystem mittels HuberNadel, — rechtwinklige Punktion, die Nadel einführen bis der Metallboden spürbar ist, — Nadel nie offen in der Kammer stecken lassen, immer Dreiwegehahn anschließen. Bei Nicht-Gebrauch des Systems wird der Katheter alle 4 — 6 Wochen mit Heparinlösung gespült.
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Komplikationen des PAC-Systems sind: — verminderte Infusionsgeschwindigkeit und Obstruktion des Katheters, Thrombophlebitis, Katheterruptur, Schmerzen bei der Punktion. In diesem Fall muß der Arzt verständigt werden, manchmal ist eine chirurgische Revision unumgänglich. 16.6.3 Besonderheiten beim Umgang mit Zytostatika Die Zubereitung und Verabreichung von Zytostatika darf nur durch speziell instruiertes, examiniertes Personal erfolgen. Zytostatika besitzen die Fähigkeit, das Zellwachstum zu hemmen und verfügen über die Möglichkeit, die genetische Information der Zelle zu verändern. Dies kann zur Schädigung der Erbanlage führen (mutagene/teratogene Wirkung) und zur Ausbildung von Tumoren (karzinogene Wirkung): Pflegepersonen dürfen während der Schwangerschaft und der Stillzeit keinen Umgang mit Zytostatika haben. Ein Gesundheitsrisiko stellen Zytostatika nur dar, wenn sie direkt auf die Haut oder die Schleimhäute gelangen. Dieses Kontaminationsrisiko besteht bei der Zubereitung (beim Öffnen von Ampullen, beim Aufziehen und Entlüften von Spritzen, beim Auflösen von Trockensubstanzen durch Bildung von Aerosolen), bei der Verabreichung und der Entsorgung von Zytostatika. Um eine Kontamination perkutan oder über die Atemluft zu vermeiden, sind Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten. • Die Vorbereitung erfolgt idealerweise in einer Laminar-flow-Bank mit senkrechter Luftströmung. Die Luft wird durch Spezialfilter gereinigt, der Schutz des Zubereitenden wird durch eine Sicherheitsscheibe und kontinuierlichen Unterdruck im Arbeitsbereich gewährleistet. — Bei der Vorbereitung und Verabreichung müssen langärmelige Schutzkittel sowie Handschuhe getragen werden. Falls die Vorbereitung länger dauert, sollten die Handschuhe jede halbe Stunde gewechselt werden. — Falls die Vorbereitung nicht unter Laminar-flow erfolgt, müssen Nasen- und Mundschutz sowie Schutzbrille getragen werden. — Die Vorbereitung der Zytostatikalösungen erfolgt über einer saugfahigen, wasserundurchlässigen Arbeitsunterlage. — Bei Stechampullen mit aufzulösender Trockensubstanz ist zur Vermeidung einer Aerosolbildung auf sorgfältigen Druckausgleich zu achten.
• Sämtliches Material, das in Berührung mit Zytostatika gelangt, ist als kontaminiert zu betrachten und wird als Sondermüll entsorgt.
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— Spritzenmaterial, kontaminierte Tupfer, Ampullen und Handschuhe sollen auf direktem Weg in spezielle, verschließbare Abfallbehälter zur Verbrennung gegeben werden. — Medikamentenreste dürfen nicht ins Abwasser entleert werden.
Mit den Ausscheidungen des Patienten (hauptsächlich Urinausscheidung) unter aktiver Zytostatikatherapie ist vorsichtig umzugehen. Das Tragen von Handschuhen wird empfohlen. Sämtliches Personal sollte über Risiken und die zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen informiert sein. Allgemeine Richtlinien bei Zwischenfallen sind: — bei perkutanem Kontakt mit Zytostatika: reichlich mit Wasser spülen, anschließend sorgfältig mit Seife waschen, — bei Kontamination der Augen: reichlich mit Wasser oder einer physiologischen Kochsalzlösung spülen, — bei Kontamination der Schutzkleidung: sofort wechseln, — beim Verschütten von Zytostatikalösung: mit Handschuhen und saugfähigem Papier aufwischen, — beim Verschütten von Zytostatikapulver. mit Handschuhen und feuchtem Einmalpapier aufwischen. Nach Entfernung der zytotoxischen Substanzen ist die beschmutzte Fläche mit reichlich Wasser zu reinigen.
17. Orthopädie, Traumatologie Christa Schierwater,
Brigitte
Sommer
Um die gesunde Körperhaltung und Bewegung zu ermöglichen, müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein: • ein intaktes knöchernes Skelett und bewegliche Gelenke mit Kapseln und Bändern, • Sehnen, die häufig Gelenke und Kapseln verstärken, • das quergestreifte Muskelsystem, das ein oder mehrere Gelenke überspannt und durch willkürliche Kontraktion Bewegung erst ermöglicht. Bei diesem komplizierten System ist deutlich, daß eine Schädigung eines Teils das gesamte System beeinträchtigen kann, und wie weit die Bewegungsunfähigkeit die Unterstützung des Pflegepersonals erfordert.
17.1 Krankenbeobachtung Bei Klinikeinweisung ist der Patient meist durch den Unfalldienst primär versorgt, z. B. auf luftgefüllten stabilen Schienen oder Tragen je nach Extremitäten- oder Wirbelsäulenbeteiligung. Grundsätzlich muß bei Verletzungen von Extremitäten darauf geachtet werden, daß Motorik, Sensibilität und Durchblutung im peripheren Anteil erhalten sind. Die Sicherung der vitalen Funktionen wie Bewußtsein, Atmung und HerzKreislauf-Funktionen stehen immer im Vordergrund.
17.2 Versorgung mit stützenden Verbänden Stützverbände können an allen Extremitäten angelegt werden: Ober-, Unterarm, Unter-, Oberschenkel. Man verwendet Gipsschienen, gespaltene oder zirkuläre Gipsverbände. Sonderformen sind für die obere Extremität der Thoraxabduktionsgips und für besondere Versorgung der Wirbelsäule das Gipsbett. 17.2.1 Gips- und Kunststoffverbände • Gipsverbände. Der gemahlene Gips wird mit einem wasserlöslichen Bindemittel auf den Mullträger fixiert und fest verankert. Gips liegt in Binden und schon vorgefertigten Longuetten in verschiedenen Breiten vor.
Orthopädie, Traumatologie
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Vorteile: Gipsverbände sind sehr modellierfähig, daher besonders gut geeignet zur Ruhigstellung frischer Frakturen. Nachteile: Lange Trockenzeit, die Belastbarkeit ist erst nach 24 Stunden möglich. Der Gipsverband ist relativ schwer, daher nachteilig für Kleinkinder und alte Menschen. • Kunststoffverbände bestehen entweder aus einem Textil-/Glasfaser- oder Polyesterträgermaterial. Die Trägermaterialien sind mit Polyurethanharzen beschichtet. Vorteile: Kunststoffverbände haben eine erheblich bessere Röntgentransparenz; schnellere Aushärtung, nach ca. 30 Minuten ist der Verband stabil; er ist erheblich leichter als vergleichbare Gipsverbände (bis zu 50%), daher für Kleinkinder und ältere Menschen gut geeignet; sie sind abwaschbar. Nachteile: ungeeignet zur Reponierung schwieriger Brüche; bildet scharfe Kanten (Achtung!); es können Allergien und beim Aushärten durch die entstehende Hitze Verbrennungen auftreten. 17.2.1.1
Pflegerische M a ß n a h m e n
3 Prinzipien müssen bei der Versorgung stützender Verbände berücksichtigt werden: • auf Durchblutungsstörungen achten: Schwellung, Blau- oder Weißfärbung der Peripherie, • auf Nervenirritationen achten: Kribbeln und Taubheitsgefühl, • auf Beweglichkeit der Finger und Zehen achten (Funktionskontrolle). Alle weiteren pflegerischen Aufgaben sind abhängig von der Funktion, die der Stützverband zu erfüllen hat, wie: — Welche Gelenke sind betroffen, wie wird die Selbständigkeit des Patienten eingeschränkt? — Braucht der Patient Hilfsmittel und Gehhilfen? — Ist es ein Liegegips oder ein Gehgips mit Voll-, Teilbelastung oder darf abgerollt werden? — Wie ist der Stützverband angelegt, als Schiene, als Spaltgips oder als zirkulärer Verband? — Kann eine Schiene zur Wundversorgung oder zur Hautpflege entfernt werden? Bei Übernahme auf die Station m u ß das Pflegepersonal den Verband auf gute Paßform (zu weit/zu eng?) sowie auf scharfe Kanten und Ecken überprüfen. Die eingegipste Extremität wird hochgelagert, um eine Schwellung zu vermeiden. Damit der Gips austrocknen kann und Festigkeit erlangt, darf er nicht abgedeckt werden. Beim Trocknen entsteht eine Verdunstungskälte, wodurch der Patient frieren kann. Abgebröselter Gips m u ß aus dem Bett entfernt werden.
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Mißempfinden oder Druck können einen fehlerhaften Verband anzeigen und müssen sofort dem Arzt gemeldet werden! Ambulante Patienten, die einen stützenden Verband erhalten, werden mündlich und schriftlich gegen Unterschrift belehrt.
17.2.1.2 Pflegedokumentation Vom Pflegepersonal täglich durchzuführende Kontrollen: • Aussehen/Farbe/ Temperatur der Haut: rosig, blaß, blau, weiß, warm, kalt • Beweglichkeit der peripheren Körperregionen nach Aufforderung, • Empfindung: taubes Gefühl, kein Gefühl, Mißempfindungen. Alle Kontrollen müssen im Seitenvergleich mit der nichtbetroffenen Extremität vorgenommen werden. Aus der Pflegedokumentation muß außerdem deutlich die Art des vom Arzt angelegten Stützverbandes zu entnehmen sein. Ziele der Behandlung wie einer Ent/Teil- oder Vollbelastung müssen in dieser erkennbar sein. Wenn auch das Gehtraining Bestandteil der krankengymnastischen Behandlung ist, wird die pflegerische Tätigkeit im Bereich der unterstützenden Hilfe und der Motivationsarbeit zu finden sein. Gangunsichere Patienten sollten ζ. B. beim Gang zur Toilette immer vom Pflegepersonal begleitet werden. Eingegipste Körperteile führen immer dazu, daß die benachbarten Gelenke durch die Schonhaltung nicht oder nur eingeschränkt bewegt werden. Dies reduziert die Beweglichkeit der Gelenke. Hiervon ist besonders das Schultergelenk älterer Patienten betroffen. Daher fordert das Pflegepersonal ständig den Patienten auf, die benachbarten funktionsfähigen Gelenke zu bewegen.
17.3 Extensionen Extensionen werden sowohl an der oberen als auch an der unteren Extremität angelegt (Abb. 17-1), um — eine vorübergehende Ruhigstellung der Fraktur zu erzielen, — die Verkürzung im Bruchbereich auszugleichen sowie eine Achsenfehlsteilung (Valgus-, Varusfehlstellung oder Drehfehler) zu vermeiden. Eine Sonderform ist die Crutchfield-Extension (s. Abb. 17-3). Patienten mit einer Extension, vor allem ältere Menschen, sind durch diese im besonderen Maße behindert. Folgende Probleme treten auf:
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• Einschlaf- oder Durchschlafstörungen durch ungewohnte Zwangslage; in Fällen von zerebralsklerotischen Veränderungen oder geringer Trinkmenge kann es zur Schlafumkehr mit Unruhezuständen in der Nacht und Verwirrungszuständen am Tage kommen. • Ausscheidungsprobleme. Häufig besteht Obstipationsneigung. Auch die Miktion ist behindert: durch Scham, ungewohnte Lage und Angst vor Schmerzen; häufig wird auch zu spät das Pflegepersonal informiert, so daß die Patienten ins Bett einnässen. 17.3.1 Pflegemaßnahmen und Prophylaxen 17.3.1.1 Pflege der Extension • Zur Verhinderung einer Bohrlochosteomyelitis oder eines Weichteildefektes sind die Ein- und Austrittstellen einmal täglich zu inspizieren und mit einer Desinfektionslösung zu versehen. Zum Schutz wird eine sterile Schlitzkompresse darüber fixiert. • Ferner ist darauf zu achten, daß das Extensionsgewicht frei hängt. • Die Extensionsschnur darf im Bereich der Umlenkrollen nicht durch Knoten behindert werden (Abb. 17-1). Damit der Körper nicht nach unten gezogen wird, kann das Bett noch in eine leichte Kopftieflage gebracht werden, die über das verstellbare Kopfteil wieder ausgeglichen werden kann. Eine Veränderung des Extensionszuges wird vom Arzt danach festgelegt. • Das Kniegelenk muß im Bereich des dafür vorgesehenen Schienenknickes gelagert werden. Bei der täglichen Lagerungskontrolle wird die achsengerechte Lagerung des Beines kontrolliert. • Zur Spitzfußprophylaxe wird ein Baumwollschlauch mit einem hautverträglichen Kleber im Mittelfuß fixiert. Zur Kontrolle der Zehen wird der Strumpf in Höhe der Grundgelenke der Zehen eröffnet und zur Druckentlastung des Kleinzehs und des Großzehballens oberhalb der Zehen mit einem Spatelkreuz versehen. Somit kann die Beweglichkeit, Durchblutung und Sensibilität beobachtet werden. Der Baumwollstrumpf wird über eine eigene Umlenkrolle mit einem Zugseil in 90°Stellung des Sprunggelenkes fixiert.
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• Hilfsmittel für die Hautkontrolle in Rückenlage sind zum Anheben besonders schwerer Patienten Lifter. Die Kontrolle kann mit Spiegeln und Taschenlampe erfolgen. Besondere Beachtung ist der auf der Schiene gelagerten Fersenregion zu schenken. Diese muß am besten frei oder besonders weich gelagert werden. • Besonders bei Lagerung auf Plastikmatratzen kommt es verstärkt zu einer Überwärmung und vermehrter Schweißproduktion. Deshalb sollte das Laken täglich frisch von oben nach unten eingezogen werden, bei Bedarf öfter. 17.3.1.2
Prophylaxen
Besonders bedeutsam sind Thrombose- und
Obstipationsprophylaxen.
• Thromboseprophylaxe: Grundsätzlich sind alle Patienten wegen des verlangsamten venösen Rückflusses auch thrombosegefährdet (s. Abschn. 3.9.4, S. 261). • Obstipationsprophylaxe: s. Abschn. 3.9.7, S. 271.
17.4 Pflegerische Maßnahmen nach Operationen Die Belastbarkeit von Gliedmaßen bei endoprothetisch versorgten Patienten oder bei Patienten nach einer allgemeinen Osteosynthese muß vom Arzt vorgegeben sein.
17.4.1 Pflege bei Totalendoprothese (TEP) Der häufigste Gelenkersatz ist die TEP am Hüftgelenk. Hier besteht Luxationsgefahr. 17.4.1.1 Postoperative Pflege • Korrekte Lage des Beines. Bei der Verwendung eines Spreizkissens sollte das Bein leicht innenrotiert gelagert sein. Zur Verhinderung einer Außenrotation eignen sich Styropor- und Federkissen zur Ablage des operierten Beines. Bei Bedarf kann zur Entlastung bei glatter Liegefläche mit zwei Keilen der Patient auch in die 30° Lage gebracht werden (Festlegung eines Lagerungsplanes, s. Abschn. 3.7, S. 215). 17.4.1.2
Mobilisation
Für die Mobilisation (s. Abschn. 3.6, S. 195) ist zu beachten: • der Patient sollte immer über die operierte Seite aus dem Bett aussteigen, • die Hüfte sollte nicht unter 110° gebeugt werden, • die Füße sollen fest auf dem Boden stehen, feste Schuhe unterstützen dieses. • mit dem Patienten bei gutem Allgemeinzustand möglichst einmal um das Bett herumgehen,
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• auch beim Sitzen im Lehnstuhl ist auf einen größeren Winkel als 90° im Hüftgelenk zu achten, wobei die Füße sicher auf dem Boden stehen. Unruhige und verwirrte Patienten sollten zu ihrer Sicherheit mit einem Bauchgurt geschützt werden. (Anlegen eines ärztlichen Fixierungsprotokolls mit Unterschrift und Fixierungszeiten!), • kein Überschlagen des operierten Beines über das gesunde, • beim Gehen und Umdrehen ist das operierte Bein nicht als Drehpunkt zu benutzen. Der Patient soll einen kleinen Halbkreis gehen. 17.4.2 Pflege bei Ü b u n g s - und teilbelastungsstabilen Osteosynthesen Nach dem Eingriff fallen folgende Kontrollen und Maßnahmen an: • die operierte Extremität wird auf einer Schiene oder auf Kissen hochgelagert, um einer Schwellung entgegen zu wirken. • gegen ein postoperatives Wundödem und zur Schmerzlinderung werden Kühlelemente regelmäßig erneuert. Beachte: Nie auf die bloße Haut legen, immer mit Hautschutz! Besonders bei den unteren Extremitäten sind einige Regeln zu beachten: • der Patient sollte sich zur gesunden Seite aus dem Bett bewegen, um das operierte Bein nicht zu belasten. Die Teilbelastung muß aus der Patientendokumentation hervorgehen, • die Hüftabknickung sollte 110° nicht unterschreiten, da nur wenige Patienten ungeübt mit einem Bein ihr gesamtes Körpergewicht aus einer Rechtwinkelstellung der Hüfte hochstemmen können, • das Sprunggelenk stabilisierendes rutschfestes Schuhwerk ist unerläßlich. • das operierte Bein muß mit elastischen Binden gegen ein schmerzhaftes Anschwellen gewickelt werden. Später kann ein angepaßter Antithrombosestrumpf die Wickelung ersetzen (s. Abschn. 3.9.4, S. 261). In der Frühphase und bei Patienten, die schnell erschöpfen, sind für das Gehtraining Sitzgelegenheiten bereitzustellen, wobei gleichzeitig dafür gesorgt werden soll, daß das operierte Bein hochgelagert werden kann. Da diese Patienten nur zu den Ruhepausen im Bett sein sollen, muß beim Sitzen immer die Möglichkeit einer Hochlagerung vorhanden sein. Die Hochlagerung gilt auch für Eingriffe an der oberen Extremität. 17.4.3 Ü b u n g s b e h a n d l u n g e n im Bett Bei manuell zu betätigende Bewegungsschienen für die untere Extremität, z. B. Frankfurter Schiene, ist zu beachten: • korrekter Anbau der Schiene, der Patient wird in die Funktion eingewiesen, • das Bein wird korrekt auf der Schiene gelagert. Die Übungen werden für 10—15 Minuten bis an die Schmerzgrenze durchgeführt, so oft der Patient es vermag.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Die Durchführung wird durch Pflegepersonal und Arzt kontrolliert und dokumentiert. Bei Motorschienen für die untere und obere Extremität werden die Bewegungswinkel und die -geschwindigkeit vom Arzt angeordnet. Die Bewegungsschiene für die untere Extremität wird rutschfest montiert und befestigt: • Hilfestellung zur korrekten Lagerung des Beines, das Knie muß exakt in dem dafür vorgesehenen Schienenknick gelagert sein, • das Sprunggelenk muß in 90°-Stellung stehen. Die Anwendung der Armmotorschiene gilt für das Ellbogengelenk: • die Schiene steht dicht neben dem Bett und der Patient liegt am Rand des Bettes, • die Schiene ist so einzustellen, daß der Patient den dafür vorgesehenen Handgriff gut umfassen kann und der Arm bequem auf der Schiene liegt. Auch hier sind die Übungen mehrmals täglich für 10 — 15 Minuten bis an die Schmerzgrenze heran durchzuführen. Verschmutzte Schienenbezüge sind sowohl aus ästhetischen wie auch aus hygienischen Gründen regelmäßig zu wechseln. 17.4.4 Pflege bei Fixateur externe Bedingt durch die jeweilige Montageform (Abb. 17-2) ist der Patient mit Fixateur externe im besonderen Maße behindert. Dies hat zur Folge, daß der Pflegeaufwand
Abb. 17-2: Montageformen eines Fixateur externe, a: Eindimensional (Klammerfixateur), b: Zweidimensional (Rahmenfixateur), c: Dreidimensional (Zeltkonstruktion)
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erheblich größer wird. Durch das veränderte Körperschema und die Angst, irgendwo anzustoßen, brauchen diese Patienten besondere Begleitung: • zur Bettdeckenentlastung sollte ein Bettbogen über der versorgten Extremität angebracht werden, • bei der Lagerung und beim Betten muß die Extremität besonders sorgfältig unterstützt werden, • täglich müssen die Schanz-Schrauben mit einem passenden Sechskant nachgezogen werden, • die Durchtrittsstellen der Schrauben sind täglich von Krusten zu reinigen und mit einer Desinfektionslösung einzupinseln, da Weichteilinfektionen auftreten können, • die spätere Versorgung sollte der Patient selbst übernehmen, da er in aller Regel längerfristig damit leben muß (Wochen bis Monate). Hierzu bedarf es einer intensiven Anleitung. Pinselung der Eintrittstellen, Kenntnisse von Infektzeichen wie Schmerzen, Anschwellen, Austreten von blutigen, serösen oder eitrigen Sekreten. 17.4.5 Wirbelsäule Bewegungsübungen für stabile Frakturen sind: — isometrische Spannungsübungen und aktive Übungen in Rückenlage, — aktive Übungen in Bauchlage und 4-Füßlerstand mit Übungen. Ist der Patient in der Lage, den 4-Füßlerstand weitgehend selbständig auszuführen, wird er mobilisiert. Dabei ist darauf zu achten, daß diese Patienten zügig zum Stehen gelangen, um z. B. bei Vorderkantenabbrüchen oder Deckplatteneinbrüchen eine Sinterung oder Verschiebung zu verhindern. Eine Hilfe zur Mobilisation ist der Gehwagen, der so eingestellt wird, daß der Patient bei ausgestreckten Armen sich abstützen kann und somit eine Überlastung der Wirbelsäule vermeidet. 17.4.5.1 Verletzungen der Halswirbelsäule (HWS) Bei instabilen Verletzungen der HWS — sofern sie nicht notfallmäßig operiert wird — wird oft als passagere Maßnahme eine Crutchfield-Klemme angelegt (Abb. 17-3). Hierzu wird der Patient oberhalb der Ohrmuscheln und am Hinterkopf großzügig rasiert. Beobachtungspunkte bei diesen Patienten sind: • achsengerechte Lage: Nasen-, Kinnspitze und das Manubrium sterni müssen eine Linie bilden; Bewegungen des Kopfes und Achsabweichungen müssen vermieden werden. • Kontrolle der Beweglichkeit und Sensibilitätsprüfung der Extremitäten, • am rasierten Hinterkopf kann sich bei dieser Lage sehr schnell ein Dekubitus ausbilden.
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K r a n k e n p f l e g e in spezifischen Situationen
Abb. 17-3: Crutchfield-Klammer als Kalottenextension bei Hals-Wirbelsäulenverletzungen. Hypomochlion im Nacken
Diese Patienten sind, obwohl sie voll ansprechbar und reaktionsfähig sind, auf umfassende Pflege angewiesen. Sie brauchen Hilfe und Hilfsmittel beim Essen und Trinken, beim Ausscheiden, bei der Körperpflege. Sie sind zusätzlich gefährdet durch die Lagerung: Sie fühlen sich verunsichert, können sich wenig oder gar nicht beschäftigen, langweilen sich und benötigen deshalb die besondere Zuwendung des Personals.
Hilfsmittel für Patienten mit flacher Lagerung sind: — Prismenbrille zum Lesen und Festhaltevorrichtungen für Bücher und Zeitungen, die an dem schräggestellten Nachttischbrett angebracht werden können, — Becher mit Deckel und biegsamen Strohhalme oder Trinköffnungen und Teller mit erhöhtem Rand, — verstellbare Spiegel, die über Kopf angebracht sind, damit der Patient mitbekommt, was im Zimmer vorgeht, — Rundfunkanlage, Kassettenrecorder, Fernseher mit Fernbedienung und in entsprechender Höhe, damit der Patient sich nicht überanstrengt. Besonders wichtig ist der Besuch. Nahe Angehörige und Freunde sollten genauso gut, wie der Patient über den Verlauf und die Therapie Bescheid wissen. Phasen der Unsicherheit und Depression werden somit leichter aufgefangen. Außerdem können diese kleinere Hilfestellungen nach Anleitung beim Patienten durchführen. Bei Verletzungen der HWS werden außerdem angewandt: Thoraxhalskopfgips und der Halo-Fixateur externe (Abb. 17-4). Mit letzterem darf der Patient das Bett verlassen. Dabei ist auf korrekten Sitz der Halo-Weste zu achten, insbesondere auf die Gurtung in den ersten Tagen. Zu enge Westen behindern Atmung und Nahrungsaufnahme, zu weite beeinträchtigen die Stabilität des Systems.
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Weste)
Unabhängig davon ob Wirbelfrakturen konservativ oder operativ versorgt werden, ist ein besonderer Augenmerk auf die Stuhlausscheidung zu richten. Bedingt durch das retroperitoneale Frakturhämatom, das sich im Bereich der darmregulierenden Nerven erstreckt, kommt es ggf. zu Darmlähmungen im Sinne eines paralytischen Ileus.
Zur Vermeidung von Kotsteinen und schweren Obstipationen ist eine frühzeitige Darmstimulation notwendig.
17.4.5.2 Lagerung von Wirbelsäulenverletzten Die Lagerung von Wirbelverletzten ist abhängig vom Schweregrad und Zustand. Es bieten sich Luftmatratzen, Schaumstoffmatratzen, deren Dichte nach dem Gewicht des Patienten berechnet wird, an. Bei Patienten, die für Hautkontrollen und Waschungen in Bauchlage gedreht werden müssen, sind für das Drehen „en block" mehrere Personen notwendig (s. Abschn. 3.6, S. 195). Für Patienten mit stabilen Wirbelsäulen und Wunden, Dekubiti an den aufliegenden Stellen ist die Pflege im Clinitron-Bett angebracht (s. Abschn. 3.1, S. 110). Vor dem ersten Aufstehen wird in den meisten Fällen noch ein Korsett angemessen, das dann getragen werden muß.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Skolioseoperierte Patienten werden häufig postoperativ in einem Gipsbett gelagert. Dieses wird präoperativ sorgfältig mit einer isolierten Rücken- und Bauchschale anmodelliert. Sie müssen an den vorstehenden Knochenpunkten gut gepolstert sein. Sie stellen einen genauen Abdruck des Körperreliefs dar. 17.4.5.3 Gipsbett Beachte: Aufgrund seiner erheblich eingeschränkten Beweglichkeit muß es Ziel der Pflege sein, den Patienten zu motivieren und möglichst aktiv in seine Pflege einzubeziehen. Der umgebende Gips muß bei der Körperpflege immer vor Feuchtigkeit geschützt werden. Führt der Patient die Körperpflege selbst durch, muß er darauf hingewiesen werden. Außerdem muß vor jeder Ausscheidung der Gesäßausschnitt extra geschützt werden, ζ. B. durch Zellstoff. Besonders bei Frauen kommt es beim Wasserlassen häufiger zur Benetzung der Gipsschale. Evtl. muß bei der ersten Lagerung auf dem Bauch dieser Teil noch mehr ausgeschnitten werden. Deshalb ist nach jeder Steckbeckenbenutzung der Intimbereich gut zu reinigen und zu trocknen. Eine gute Hautpflege ist notwendig, um Entzündungen vorzubeugen. Diese kann für die gefährdeten Stellen nur optimal in Bauchlage versorgt werden. Deshalb müssen die Patienten, wenn es ihr Zustand erlaubt, 2 — 3mal wöchentlich in diese Lage gebracht werden, damit die aufliegenden Stellen kontrolliert und gepflegt werden können. Gleichzeitig kann die Liegeschale kontrolliert und ggf. ausgebessert werden. Das Drehen eines Patienten von Rücken- in Bauchlage: — Patient liegt in der Rückenschale, die Bauchschale wird auf ihn gelegt, — beide Schalen werden mit Gurten zusammengeschnallt, Gurtverschlüsse liegen an einer Seite, — Beachtungspunkte beim Drehen: Arme. Patient hält nach Möglichkeit beide Arme in Kopfhöhe, oder der Arm, über den gedreht wird, wird mit einem weichen Kissen abgepolstert. Beine·, auf Lage achten und Abpolstern im Schienbeinvorderkantenbereich, — Trage neben das Bett stellen (Bett und Trage in einer Höhe), Bremsen feststellen, — 3 Pflegekräfte drehen den Patienten auf Kommando, — Entfernen der Rückenschale, Kontrolle der Polsterung sowie evtl. Druckstellen, — Wohlbefinden erfragen, Durchführung der notwendigen Pflegemaßnahmen.
Passive und aktive Bewegungsübungen dürfen erst nach ärztlicher Anordnung und mit krankengymnastischer Unterstützung durchgeführt werden. Hanteln (Gewicht nach dem Vermögen des Patienten auswählen), Deuser-Bänder und andere armmuskelkräftigende Geräte, die der Patient selbsttätig einsetzen kann, sind anzubieten. Die Stuhl- und Urinausscheidung ist besonders am Anfang im Gipsbett erschwert. Der Patient fühlt sich in der Situation unwohl. Hier muß Sicherheit vermittelt werden und mit adäquaten Methoden dem Patienten geholfen werden. Eine Hilfe
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für die pflegerische Versorgung sind Trallen, auf der das Gipsbett liegt und die Reinigung der Gesäß-, Genitalregion und das Unterstellen des Steckbeckens zuläßt. 17.4.6
Amputationen
Eine der eingreifendsten Maßnahmen am Bewegungsapparat sind Amputationen von Gliedmaßen. Ihr Ziel ist das Absetzen der Extremität im gesunden Bereich. Der Stumpf muß so konstruiert sein, daß so früh wie möglich eine Prothese angepaßt werden kann. Durch das Fehlen einer oberen Extremität kommt es im Oberkörperbereich zu einer Verbiegung der Wirbelsäule zur nicht betroffenen Seite. Dieses wird durch das Tragen einer angepaßten Armprothese ausgeglichen. Es gibt je nach Motivation und Lernfähigkeit der Betroffenen Prothesen, die passiv oder aktiv eingesetzt werden können. Das Ziel einer Beinamputation sollte immer die Frühmobilisation mit einer Prothese sein. In dieser Phase ist die Gefäßversorgung zum Teil unterbrochen. Eine Folge davon ist das ausgeprägte Wundödem, welches sich einstellen würde, wenn der Stumpf nicht sofort gewickelt wird. Die korrekt angelegte elastische Binde unterstützt den Gewebedruck, so daß weniger Flüssigkeit im Wundbereich eingelagert werden kann. Durch die Muskelaktivität des Stumpfes werden der Rücktransport des Blutes und die Ausbildung neuer Kapillaren unterstützt (s. Abschn. 3.3, S. 148). Das Selbstwertgefühl steigt mit der Zunahme der Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Patienten im Umgang mit seiner Prothese. Damit wird er über den Verlust der Gliedmaße schneller hinwegkommen. Eine wichtige Funktion hat die Gehschule, da hier unter Betroffenen deutlich gemacht wird, zu welchen Leistungen Behinderte fähig sind. Der sog. Phantomschmerz ist in der Anfangsphase normal, da das Körperschema — die Erinnerung im Gehirn — noch gespeichert ist. Erst mit dem Vergessen der amputierten Gliedmaße wird ein neues Körperbild gespeichert, so daß die Beschwerden abnehmen.
17.4.7 Umgang mit Orthesen Orthesen sind Apparate und Prothesen, die eine normale Haltung und Beweglichkeit des Körpers unterstützen oder wiederherstellen. Zu ihnen gehören: — Stützkorsetts nach Eingriffen oder Verletzungen der Wirbelsäule, — Stützapparate, die eine Belastung der Beine ausschalten, z. B. Allgöwer-Gehapparat, — Beinprothesen nach Verlust von Ober- oder Unterschenkel, — Fußeinlagen und orthopädische Schuhe. Stützkorsetts entlasten die Wirbelsäule im betroffenen Gebiet, häufig nach Skolioseoperationen und längerer Gipsbettbehandlung. Sie werden für längere Zeit
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
— bis zu einem halben Jahr und länger — als feste, verschweißte Korsetts angelegt. Hierbei muß der Patient lernen, täglich ein frisches langes Baumwoll-T-Shirt unter dem Korsett faltenfrei einzuziehen. Stützkorsetts, die abgelegt werden können, dürfen nur im Liegen entfernt werden und müssen vor dem Aufstehen wieder angelegt werden. Da diese Patienten aufgrund der Langwierigkeit ihrer Erkrankung und Therapie abnehmen und zunehmen, müssen bei Veränderungen des Körpers — zu engoder zu weitwerden des Korsetts — dieses vom Orthopädiemechaniker korrigiert werden.
18. Pädiatrie Inge Resch
18.1 Das Kind im Krankenhaus Ein Krankenhausaufenthalt ist für ein Kind immer ein einschneidendes Erlebnis. Die Trennungsangst von der Bezugsperson, die Angst vor fremden, unbekannten Personen und Ungewohntem stehen beim Kind immer im Vordergrund, weniger die Angst vor der Krankheit selbst, der Ungewißheit und Sorgen wie beim Erwachsenen. Die Angst vor den technischen Geräten und vor schmerzhaften Eingriffen wie Blutentnahmen, Spritzen und Punktion muß immer berücksichtigt werden, weshalb ζ. B. über die Dringlichkeit und Häufigkeit von Blutentnahmen bei Kindern individuell entschieden werden muß. Etwa ab dem 3 . - 4 . Lebensjahr kann ein Kind auf einen bevorstehenden Krankenhausaufenthalt vorbereitet werden: • gemeinsame Gespräche mit dem Kind an Hand von Bilderbüchern, Spielen (Puzzles, Doktorkoffer, Rollenspiele im Kindergarten und zu Hause), Filmen oder • ein Besuch im Krankenhaus mit altersentsprechender Erklärung durch Fachpersonal, besonders bei vorab geplanten Einweisungen ins Krankenhaus. Ein offenes und ehrliches Gespräch mit dem Kind ist angezeigt. Eine wahrheitsgetreue, Aufklärung durch den Arzt steht im Vordergrund. Wichtig erscheint, daß einem Kind nie mit einem Krankenhausaufenthalt und den dort arbeitenden Personen gedroht wird. Jegliche Form der Verniedlichung, der Übertreibung und der Lügen sind gegenüber Kindern zu vermeiden. Eine Vorbereitung auf einen möglichen Krankenhausaufenthalt ist anzustreben, da nicht jede stationäre Aufnahme vorzuplanen ist.
18.2 Umgang und Verhalten gegenüber Eltern Je jünger das Kind ist und je schwerer die Erkrankung, um so dringlicher ist die Anwesenheit einer Begleitperson im Krankenhaus. Mittlerweile besteht in fast allen Kinderkliniken die Möglichkeit der Mitaufnahme eines Elternteils (Mutter-/Vater-Kind-Einheiten). Die Besuchszeitenregelung wird sehr großzügig gehandhabt; täglich stehen für die nahen Verwandten zwischen zwölf bis vierzehn Stunden zur Verfügung.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Besuch von Freunden und Schulkameraden soll auf die Nachmittagszeit gelegt werden und zeitlich begrenzt sein (2 Stunden). Neben der reinen Anwesenheit kann die Bezugsperson in die Pflege integriert werden. Nach einer Anleitung ist jede Mutter im Krankenhaus in der Lage, die tägliche Pflege unter Berücksichtigung der Erkrankung selbst an ihrem Kind durchzuführen. Einer Mutter ist es wichtig, für ihr krankes Kind mehr tun zu können als nur danebenzusitzen. Eine Integration der Eltern in die Pflege birgt allerdings die Gefahr eines Konfliktes zwischen Eltern und Schwestern in sich. Die Pflegekraft sieht häufig ihren Kompetenzbereich beschnitten, die Eltern fühlen sich verunsichert und beobachtet. Allzu häufig wird im Stationsalltag übersehen, daß neben dem kranken Kind auch die Mutter „krank" ist, krank aus Sorge und Angst um ihr Kind. Sie sieht sich plötzlich gezwungen, ihr Kind in fremde Hände abzugeben, oft gekoppelt mit massiven Schuldkomplexen. Probleme für die Eltern ergeben sich durch die Unterbringung von Geschwisterkindern, der Freistellung vom Arbeitsplatz, der Unterbringung eines Elternteiles im Krankenhaus, der Qualität der Unterbringung, der Verpflegung und der Krankenhaussituation. Hier helfen: — ausführliche Gespräche des Pflegepersonals mit den Eltern, — die persönlichen Gewohnheiten zwischen dem Kind und den Eltern soweit als möglich berücksichtigen, — Eltern sinnvoll in die Pflege miteinbeziehen. Durch eine kooperative Zusammenarbeit mit den Eltern läßt sich auch eine bessere Pflege am Kind erreichen. Eine Mutter vermittelt dem Kind Sicherheit und Geborgenheit, das Kind wird ruhiger und einsichtiger, was die Pflege erleichtert und eine größere Akzeptanz von wichtigen Untersuchungen zur Folge hat. Eine altersgerechte Aufklärung des Kindes durch die Eltern ist möglich.
18.3 Das Kind im Krankenhaus ohne Begleitperson Nicht alle Eltern können oder wollen die Gelegenheit nutzen, ihr Kind ins Krankenhaus zu begleiten. Ab einem Alter von 5 — 6 Jahren ist auch die Alleinaufnahme unter Berücksichtigung des Krankheitsbildes des Kindes zu befürworten. Dabei kann die Besuchszeitenregelung genutzt werden. Ein Überhäufen durch mitgebrachte Spielsachen und Süßigkeiten ist zu vermeiden. Liegen erwachsene Patienten und Kinder auf einer Station, ist ein eigenes „Kinderzimmer" mit entsprechender Einrichtung notwendig.
Pädiatrie
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Kinder lieben die Gesellschaft anderer Kinder, dies ist eines der Grundbedürfnisse des kranken Kindes. Sie können so miteinander spielen, sich unterhalten und sind von Schmerzen und Trennung von der geliebten Bezugsperson abgelenkt. Das kranke Kind möchte altersgerecht beschäftigt werden. Dazu einige Anregungen (bei bestehender Bettruhe), die wenig Kosten verursachen: — Bastelarbeiten aus Verpackungsmüll der Klinik, Puppen basteln aus Schlauchmull, — Luftballons mit Gesichtern aus Latexhandschuhen, — Vorlesen von Geschichten und Erstellen einer „Stationszeitung", Gesellschaftsspiele u. a. Die in vielen Krankenhäusern angebotene hauseigene Verkabelung mit festinstallierten Fernsehgeräten eignet sich nicht für die Beschäftigung besonders des kleineren Kindes. Entscheidend ist hier allerdings die Meinung der Eltern. Radio und Cassettenrecorder sind im Kinderkrankenzimmer willkommen; Videorecorder bleiben besser zu Hause. Schwerbehinderte Kinder sollten visuell, also durch Spielsachen, angesprochen werden. Bunte Gegenstände, die Geräusche machen, sind besonders geeignet. Sie müssen in Reichweite des Kindes sein, da sie Außenreize setzen, zum aktiven Bewegen anregen und bei spastisch gelähmten Kindern als Kontrakturenprophylaxe der Fingergelenke dienen. Behinderte und nichtbehinderte Kinder nach Möglichkeit zusammen in ein Zimmer legen: jeder lernt von jedem! Kinder ohne sinnvolle Beschäftigung sind schwierig. Sie ergeben sich der Langeweile, sind quengelig und unzufrieden. Eine altersgerechte Beschäftigung ist daher notwendig, die Kinder sind ausgeglichen, abgelenkt und nicht zuletzt fröhlicher.
18.4 Bettruhe im Kindesalter Viele akute Erkrankungen erfordern Bettruhe. Da diese Maßnahme dem natürlichen Bewegungsdrang eines Kindes widerspricht, ist deren Durchsetzung oft schwierig. Schwerkranke Kinder halten die verordnete Bettruhe selbstverständlich ein. Bei Besserung des Allgemeinbefindens heben Kinder diese gerne von allein auf. Es bedarf daher einiger Überredungskunst des Pflegepersonal. Ein krankes Kind sollte nie mit Gewalt im Bett festgehalten werden. Dies kann schwer psychische und physische Schäden nach sich ziehen. Der Gebrauch eines „Käfigbettes" (Gitterbett mit Aufsatz) darf nur in Ausnahmefallen zur Anwendung kommen, ζ. B. wenn sehr unruhige Kleinkinder Gefahr laufen, aus dem Bett zu stürzen.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Bei angeordneter Bettruhe bedarf das Kind einer intensiven Betreuung durch die Schwester. Die Maßnahme muß in altersentsprechender Weise erklärt werden. Dabei kann dieses Vorgehen ζ. B. durch feucht-warme Leibwickel oder eine aufgelegte Wärmflasche bei Hepatitis A unterstützt werden. Dies wirkt beruhigend und unterstützt den Heilungsprozeß. Der natürliche Bewegungsdrang eines Kindes hat für die Pflege positive Seiten. So entfällt meist eine Thromboseprophylaxe auch bei längerer Bettruhe, die Frühmobilisation ist wesentlich einfacher und unkomplizierter als beim Erwachsenen. Für genügend Abwechslung muß beim bettlägrigen Kind immer gesorgt sein. Eine offene Zimmertür gibt ihm die Mögichkeit, am Stationsalltag teilzunehmen. Auch wird es auf diese Weise öfters angesprochen und kontrolliert.
18.5 Beobachtung des kranken Kindes Ein Kind ist selten in der Lage, seine Schmerzen, seinen Unmut und seinen Unwillen verbal differenziert auszudrücken. Sogar größere Kinder können häufig nur sehr vage Aussagen über Lokalität und Intensität der Schmerzen machen, Bauchschmerzen werden ζ. B. meist in der Nabelgegend angegeben. Eine Zeichnung — vom Kind angefertigt — läßt die exakte Schmerzlokalisation erkennen. Da sich kleine Kinder nicht von alleine bemerkbar machen und selten klingeln, ist eine lückenlose Kontrolle und Überwachung wichtig. 18.5.1 Wichtige Beobachtungskriterien Folgende Parameter unterliegen der ständigen Beobachtung: • Temperaturkontrollen 2 mal täglich rektal mit einem Digitalthermometer. Dieses wird von den Kindern als wesentlich angenehmer als das Quecksilberthermometer empfunden. Durch den Piepton ist auch ein kleiner spielerischer Reiz geboten. Indikation: Rechtzeitiges Erkennen von fieberhaften Infekten, • Pulskontrolle. Indikation: Postoperative Überwachung, Herzfehler, • Blutdruckkontrolle (bei ängstlichen Kindern kann man sich selbst einmal zur Verfügung stellen), Indikation: postoperative Überwachung, Herzfehler, Nierenerkrankungen, • Atmungskontrolle. Beim Zählen der Atmung dem Säugling und Kleinkind nicht die Hand auflegen; dies kann ihn aufregen und somit zu verfälschten Werten führen. Indikation: Atemwegs-, Herzerkrankungeen. Diese o. g. Beobachtungskontrollen werden nicht bei jedem Kind zu jeder Zeit durchgeführt. • Spielverhalten des Kindes: aggressiv — zurückhaltend, • Sozialverhalten im Umgang mit Eltern und Mitpatienten,
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• Eßverhalten/Nahrungsaufnahme einschließlich der Gewichtskontrolle: täglich bis 2 mal wöchentlich. • Kontrolle der Ausscheidungen, Schlafverhalten und -gewohnheiten. Einige Beispiele: Ohrenschmerzen: Das Kind greift sich dauernd an das schmerzende Ohr. Kopfschmerzen: Das Kind drückt sich mit der Faust in die Augenhöhle; bohrt den Kopf ins Kissen und überstreckt den Kopf. Glieder- und Gelenkschmerzen: Schonhaltung des betroffenen Gliedes, der Extremität; allgemeine Schonhaltung; Kind will nicht aufstehen; Hinken beim Gehen; abnorme Körperhaltung. Zahnen: Subfebrile Temperaturen; ungenügendes Trinken; Appetitlosigkeit; Gewichtsverlust; Kind steckt dauernd die Faust in den Mund (Abhilfe schafft ggf. ein gekühlter Beißring). Bauchschmerzen: Besonders der Säugling und das Kleinkind ziehen die Beine an; Schmerzen sind am Gesichtsausdruck zu erkennen. Akustisches Schmerzzeichen ist ein anhaltendes Schreien, das sich durch Zuspruch und Trost nicht beheben läßt.
18.5.2 Mangelndes Eßverhalten Viele Erkrankungen im Kindesalter gehen mit Appetitlosigkeit einher verbunden mit mangelnder Flüssigkeitsaufnahme. Die veränderte Situation im Krankenhaus, die Trauer und das Gefühl des Verlassenseins tragen ihren Teil dazu bei, daß aus einem guten ein schlechter Esser wird. Dies kann sich bis zur Nahrungsverweigerung steigern. Durch einige Regeln kann diese Problematik entschärft werden: • für einen kindgerechten Speiseplan sorgen. Die Speisen entsprechen nicht immer einer Vollwerternährung, aber sie entsprechen den Wünschen der Kinder, • den Teller der Kinder nie zu voll laden, lieber dem Kind kleine, überschaubare Portionen und die Gelegenheit zum Nachholen bieten. Beim Anblick allzu voller Teller ist ein schlechter Esser meist schon satt, • das Essen muß appetitlich und kindgerecht angerichtet werden, nie das Essen durchmischen. Auch bei Kindern ißt das Auge mit, • das Kind muß nach Möglichkeit alleine essen, auch wenn es hinterher einer „Grundreinigung" bedarf. • nicht zum Essen zwingen. Ein Kind weiß selbst, wann es satt ist; Zwang erzeugt Angst, Aufregung und viel Geschrei, häufig mit dem Resultat, daß das Kind erbricht, • bei schwerkranken Kindern oder bei extrem schlechten Essern kann auf Wunschkost zurückgegriffen werden, • viele ausländische Kinder bevorzugen das selbstgekochte und mitgebrachte Essen der Mutter. Auch muß das Speiseverbot, speziell bei moslemischen Patienten, berücksichtigt werden. Nicht der Einfachheit halber die Kinder anschwindeln, • Fertigbreie, Pudding und Joghurt sowie frisches Obst können Abwechslung in den Speiseplan bringen,
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• Kinder möglichst immer in Gesellschaft essen lassenl • Süßigkeiten und mitgebrachte Eßwaren werden mit dem Namen des Kindes versehen und in einem speziellen Fach im Kühlschrank aufbewahrt. Hat das Kind Eßwaren im Nachttisch, ist die Versuchung zu naschen vor den Mahlzeiten zu groß. Besondere Gefahr lauert präoperativ, wenn das Kind ab Mitternacht nüchtern bleiben muß. Gleiches gilt für Getränke. • behinderte Kinder brauchen zum Essen häufig eine ruhige, störungsfreie Umgebung und eine feste Bezugsperson. Diese kann sich mit dem Kind zum Essen in ein leeres Zimmer oder einen anderen ruhigen Platz zurückziehen. Wird ein Kind noch mit dem Löffel gefüttert, sollte ein dauerndes Abwischen des Mundes mit diesem unterbleiben. Dies ist eine unschöne und für die Kinder unangenehme Angewohnheit, die leider noch immer sehr verbreitet ist. Es gehört zum Wesen eines Kleinkindes, sich beim Essen zu bekleckern.
18.5.3
Körperpflege
Generell gelten bei der Körperpflege des kranken Kindes die gleichen Richtlinien wie bei der Pflege Erwachsener. Dabei werden die kleinen Patienten so oft und so intensiv wie möglich mit in die Pflege einbezogen. Eigenständige Fähigkeiten, die das Kind bereits gelernt hat, darf es durch einen Krankenhausaufenthalt möglichst nicht verlernen. Eine Kontrolle durch die Schwester soll natürlich nicht fehlen. 18.5.3.1
Baden, Duschen
Einige Kinder wehren sich heftig gegen tägliches Baden oder Duschen, da sie dies von zu Hause nicht gewohnt sind. Die Notwendigkeit dieser Krankenhausroutine ist in Frage zu stellen. Tägliches Baden, meist zu immer gleichen Zeiten, schafft häufig eine unnötige Streßsituation. Ein Kind kann auch am Nachmittag oder Abend gebadet werden, wenn die Mutter zu Besuch da ist. Oder auch mal gar nicht! Viele Kinder lieben es nicht, sich die Haare waschen zu lassen, sie entwickeln geradezu panische Ängste und entsprechend viel Kraft, um sich gegen diese Prozedur zu wehren. Daher dem Kind beim Haarewaschen immer einen feuchten Waschlappen vor die Augen halten, damit keine Seife in die Augen kommt. Kinder nie ohne Aufsicht in der Badewanne sitzen lassen. Es gibt echte Wasserratten, die nichts mehr lieben, als noch 5 Minuten in der Wanne zu sitzen und zu plantschen. Auch diesem Bedürfnis der Kinder kann Rechnung getragen werden, indem man einige Badewannenspielsachen bereit hält. Die Kinder zum Händewaschen vor und nach den Mahlzeiten auffordern. Regelmäßig Fuß- und Fingernägel kontrollieren und schneiden.
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18.5.3.2 Haar- und Zahnpflege Frisurwünsche der kleinen Mädchen sollen berücksichtigt werden. Haare schneiden ist aber generell verboten. Immer die Kinder auf Ungeziefer (bes. Kopfläuse) kontrollieren. Bei Gneisbefall (Schuppenauflagerung) der Kopfhaut, besonders im Bereich der großen Fontanelle, die Kopfhaut nach dem Waschen mit Babyöl oder Salizylvaseline einreihen und für einige Stunden einwirken lassen. Anschließend auskämmen und nochmals Haare waschen (evtl. wiederholen). Die Kinder zur regelmäßigen Zahnpflege nach den Mahlzeiten anhalten. Kleineren Kindern Hilfestellung anbieten. 18.5.4 Schlaf und Schlafgewohneiten Die Einschlaf- und Schlafrituale weichen bei den Kindern stark voneinander ab. Sie müssen auch im Krankenhaus nach Möglichkeit beibehalten werden (ζ. B. ein Lied, ein Gebet oder eine „Gute Nacht-Geschichte"). Einschlafrituale sind häufig an bestimmte Gegenstände gekoppelt (ζ. B. Schmusetuch, Lieblingsspielzeug oder Kuscheltier und Schnuller). Diese für das Kind so wichtigen Gegenstände dürfen ihm auf jeden Fall mit ins Bett gegeben werden. Ein möglicher Verlust (ζ. B. Zentralwäscherei) ist allerdings zu vermeiden. Kleine Kinder und Säuglinge sollen ohne Kopfkissen schlafen, da die Gefahr des Erstickens zu groß ist. Viele Kinder haben Angst vor der Dunkelheit. Abhilfe kann da eine kleine Nachttischlampe oder ähnliches schaffen. Eine ausreichende Nachtruhe und eine kurze Mittagsruhe ist für Kinder unerläßlich. Trauerreaktionen, das Gefühl der Einsamkeit und Heimweh sind am späten Abend und am Morgen beim Kind am stärksten ausgeprägt. „Sich in den Schlaf weinen lassen" ist bei einem unruhigen, traurigen Kind nicht angebracht. Hier sollte beruhigend auf das Kind eingewirkt werden, und man sollte solange bei ihm bleiben, bis es eingeschlafen ist. Dadurch kann eine mögliche Traumatisierung verhindert werden, und dem Kind wird das Gefühl der Geborgenheit vermittelt. 18.5.5
Ausscheidungen
Eine regelmäßige Kontrolle der Ausscheidungen muß bei Kindern immer erfolgen. Die Kontrolle beinhaltet • die Stuhlbeobachtung (Häufigkeit, evtl. Beimengungen, Farbe, Menge und Konsistenz), • die Urinbeobachtung (Häufigkeit, Menge, Schmerzen, Inkontinenz — Kontinenz).
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Bei kleineren Kindern ist eine Begleitung zur Toilette unerläßlich, bei größeren Kindern kann diese entfallen, jedoch nicht die Kontrolle. Die Indikation zur Begleitung ergibt sich aus der Beobachtung. Kinder besitzen oft eigene Ausdrücke für Wasserlassen und Stuhlentleeren. Diese Eigennamen sind mit Hilfe eines Anamnesebogens bei den Eltern zu erfragen, um peinliche Zwischenfälle und Mißverständnisse zu vermeiden. 18.5.5.1
Uringewinnung
• Spontanruin: Bei kleineren Kindern ist das Mittel der Wahl ein Klebebeutel. Auf einen exakten Sitz und auf evtl. auftretende Hautreizungen muß geachtet werden. Den Beutel am besten über Nacht ankleben. • Mittelstrahlurin (MST-Urin): Bei kleinen Kinder ist die MST-Uringewinnung schwierig und oft zeitraubend. MST-Urin bei größeren Kindern muß altersentsprechend erklärt und unter Anleitung der Schwester durchgeführt werden. Bei Aufnahme dem Kind die Toilette zeigen und öfter mal nachfragen, ob es zur Toilette muß, besonders vor der morgendlichen Pflege. Viele Kinder sind sehr scheu und gehemmt durch die veränderte Situation im Krankenhaus. Kleinere Kinder können bei strikter Bettruhe auch auf die Toilette getragen werden. Diese Methode ist häufig erfolgreicher als Steckbecken und Urinflasche. Rückschritte ins Windelalter aus Bequemlichkeit oder aus Unwissenheit (Infobogen) müssen vermieden werden. Auch müssen die Eltern nach gewissen Besonderheiten bezüglich der Sauberkeitserziehung des Kindes befragt werden, wie ζ. B. das Tragen von Windeln in der Nacht. Bettnässen bei älteren Kindern ist im Krankenhaus häufiger zu beobachten. Dies kann vielerlei Ursachen haben, es kann aber auch auf die veränderte Situation zurückzuführen sein. Das Kind empfindet diese Situation als sehr peinlich, besonders vor seinen Mitpatienten. Hier ist viel Einfühlungsvermögen beim Pflegepersonal gefragt (auch gegenüber den Mitpatienten). 18.5.6 Medikamentengabe und Einnahme Beim kranken Kind muß das Einnehmen verordneter Medikamente immer unter Kontrolle geschehen, auch wenn das Kind noch so eigenständig erscheint. Die Einnahme von Medikamenten gestaltet sich beim Säugling und Kleinkind oft schwierig, was mit der Art (Tablette, Saft usw.) und mit dem Geschmack zusammenhängen kann. Beim Schulkind kann über die Vernunftsebene das Problem gelöst werden. Eine kindgerechte Verabreichungsform muß immer im Vordergrund stehen; Saft und Suppositorien sind Tabletten und Spritzen vorzuziehen. Viele Kinder haben
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aber gerade vor dem Verabreichen von Suppositorien Angst und wehren sich heftig gegen diese. Oft versuchen sie, die Zäpfchen wieder herauszudrücken, entleeren von Stuhlgang ist keine Seltenheit. Häufig werden Medikamente für Säuglinge und Kleinkinder unter das Essen oder in ein Getränk gemischt. Der Eigengeschmack des Medikamentes verändert dabei den Geschmack der Nahrung, was zur Nahrungsverweigerung führen kann. Intramuskuläre Injektionen sollen bei Kindern wenig Anwendung finden (Arztanordnung!). Sehr gut zur Prämedikation eignet sich die rektale Applikation von Hypnotika/ Sedativa (Dormicum) mittels einer Spritze und Olive in entsprechender Dosierung bei Kindern unter 6 Jahren. Die Verabreichung von Medikamenten in der Nacht soll vermieden werden, da eine ungestörte Nachtruhe wesentlich erscheint. Sollte dies doch der Fall sein, können Tabletten und Saft immer mit ungesüßten Getränken verabreicht werden. Bei absoluter Verweigerung der Medikamenteneinnahme muß gemeinsam mit dem Arzt nach einer Alternative gesucht werden. 18.5.7 Bedürfnisse Die Bedürfnisse des kranken Kindes unterscheiden sich nicht wesentlich von denen der erwachsenen Patienten. Ein Kind vermag allerdings seine Bedürfnisse und Gefühle nicht so klar zu formulieren wie ein Erwachsener. Kranke Kinder sind sehr auf das Einfühlungsvermögen, die Erfahrung und die kinderpsychologischen Kenntnisse der Schwestern und Pfleger angewiesen. Selbstverständlich sind die Bedürfnisse in den einzelnen Altersstufen unterschiedlich. Ein Säugling benötigt einen intensiven Körperkontakt und ist doch sehr auf die Mutter fixiert. Das Kleinkind möchte seine Umwelt erforschen, ist neugierig, möchte getröstet und beruhigt werden. Diese Altersstufe ist nicht immer unproblematisch zu pflegen. Dem Kind fehlt häufig noch die Einsicht und das Verständnis. Eingriffe und Untersuchungsmethoden können nur schwer verständlich erklärt und verstanden werden. Heftige Gegenwehr ist in diesem Alter zu beobachten. Aber auch abgrundtiefe Trauer und Resignation sind nach einigen Tagen zu beobachten. Ab dem Schulalter sind die Kinder meist in der Lage, die Notwendigkeit eines Krankenhausaufenthaltes einzusehen und kooperativ mitzuarbeiten. Doch auch sie trauern nicht selten und fiebern dem Entlassungstag entgegen. Das Pflegepersonal muß versuchen, zwischen sich und dem Kind ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und während der Zeit des Krankenhausaufenthaltes beizubehalten. Dies ist nicht immer einfach, da von Seiten des Kindes nach jedem schmerzhaften oder unangenehmen Eingriff das Vertrauen gestört ist.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Ein weiteres Bedürfnis des Kindes ist das Aufrechterhalten der Mutter-KindBeziehung. Diese Beziehung darf durch einen Krankenhausaufenthalt nicht gestört werden. Eltern, die ihr Kind nicht oder nur sehr selten besuchen — aus welchen Gründen auch immer —, sollten zur Nutzung der Besuchszeiten aufgefordert werden. Geborgenheit und Trost, häufig bei Kindern verbunden mit Hautkontakt, spielt eine sehr wichtige Rolle. Dies darf jedoch nicht mißverstanden werden, nicht jedes Kind möchte von relativ fremden Menschen mit Zärtlichkeiten überschüttet werden. Heftige Abwehrreaktionen des Kindes können die Folge sein, nicht selten folgt dann auch eine Ablehnung von Seiten der Schwester zum Kind. Das kranke Kind wird sehr schnell auf echtes Einfühlungsvermögen reagieren. Kinder sind sehr offene und ehrliche Patienten, sie zeigen Zuneigung und Ablehnung und antworten sehr spontan und ehrlich. Behinderte Kinder sind oft nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse auszusprechen. Auch sie haben das Bedürfnis nach Wärme und Nähe, nach Gesellschaft und Ansprache! Hier ist die Kreativität und Phantasie des Pflegepersonals gefragt, auch diesen Kindern ihre Umwelt und ihre Umgebung lebhaft darzustellen und sie in den Stationsalltag zu integrieren.
18.6 Beschäftigung Über die Beschäftigung des kranken Kindes gibt es vielfältige Literatur. Hier sollen nur die Grundregeln und die Notwendigkeit einer sinnvollen Beschäftigung des kranken Kindes dargestellt werden.
Das Spiel und die Beschäftigung entspringen dem spontanen Bedürfnis des Kindes sich zu bewegen und etwas zu tun. Ein Kind kann im Spiel Erlebtes verarbeiten oder bearbeiten. Aggressionen und Frustrationen können sichtbar, schwierige Familiensituationen dargestellt und beobachtet werden (ein Mittel, das sich in der Kinderpsychiatrie sehr bewährt hat). Das Spiel kann aber auch einfach Spaß machen, die Zeit vertreiben und für Ablenkung sorgen. Die in vielen Krankenhäusern üblichen Verkabelungsanlagen sind f ü r die Beschäftigung des kranken Kindes nicht sinnvoll. Voraussetzungen für Spiel und Beschäftigung sind: • Die betreuende Schwester muß sich genügend Zeit nehmen. Es muß auf der Station ein geeigneter Platz da sein, nach Möglichkeit eine eigene Spielecke, in der das Kind ungestört ist. • Das Kind muß eine Auswahlmöglichkeit von altersentsprechendem Spielzeug haben und darf nicht unter Eintönigkeit leiden. Viele Kinder nehmen das Lieblingsspielzeug mit ins Krankenhaus.
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• Die Art des Spielens soll dem Kind freigestellt werden. Die Atmosphäre muß spielfreudig sein und zur Kreativität anregen. Provisorische Spielsachen werden oft bevorzugt. • Geeignetes Bastelmaterial und benötigte Utensilien müssen vorhanden sein. • Eine altersentsprechende Bücherauswahl sollte sich auf Station befinden. Wichtig erscheint das Malen. Hierbei drückt das Kind oft seine Gefühle und momentane Stimmungen aus. Außerdem dienen Kinderzeichnungen der Verschönerung von Kranken-, Stationszimmern und -gängen. Sehr beliebt sind Fingerfarben, mit denen sich unter anderem Glastüren und Fenster bunt bemalen lassen. Häufig wird die Beschäftigung mit dem kranken Kind abgewertet, nicht als eigentliche Arbeit gesehen. Eine sinnvolle Beschäftigung und das Spiel sind jedoch wichtig in der Pflege kranker Kinder und dienen einer rascheren Genesung.
18.7 Unfallverhütung Die Unfallverhütung im Kinderkrankenzimmer bietet einige Besonderheiten. Während des Krankenhausaufenthaltes liegt die Verantwortung fiir die Unfallverhütung u. a. beim Pflegepersonal·. • Steckdosen müssen mit einer Kindersicherung versehen sein. • Fenster müssen geschlossen gehalten und nur vom Stationszimmer aus zu öffnen sein, oder abnehmbare Fenstergriffe anbringen lassen. • Türen zur Station dürfen von kleinen Kindern nicht geöffnet werden können; sie könnten sonst weglaufen. • Medikamente, Desinfektionslösungen, Alkohol und Pflegeartikel müssen vor Kinderhänden gesichert und außerhalb des Patientenzimmers oder in verschlossenen Schränken aufbewahrt werden. • Das Kinderbett muß altersentsprechend gewählt, Stürze und Herausklettern müssen vermieden werden. • Kontrolle der Kinder in regelmäßigen Abständen, besonders bei Kindern mit Infusionen, Drainagen und Monitoren. • Toiletten und Duschen dürfen nicht von innen abschließbar sein. Im Stationszimmer muß ein Vierkantschlüssel liegen, um die Tür im Notfall von außen öffnen zu können. • Thermometer nie im Bett liegen lassen (dies gilt für alle weiteren Pflegegegenstände). • Gitter immer geschlossen halten, Säuglinge nie ohne Aufsicht auf dem Wikkeltisch oder auf der Waage liegen lassen — Sturzgefahr! • Der Zugang zum Stationszimmer, zum Abstellraum und zu der Stationsküche darf dem Kind nur unter Aufsicht erlaubt sein. • Sauerstoff- und Druckluftanschlüsse müssen kindgerecht gesichert sein. • Medizinische Geräte außerhalb der Reichweite von Kindern aufstellen.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
• Medikamentenschränke immer verschlossen halten. Gerichtete Medikamente außer Reichweite der Kinder aufbewahren. • Säuglinge und Kleinkinder müssen immer ohne Kopfkissen schlafen — Erstikkungsgefahr! • Spielsachen, die am Bett fixiert werden, dürfen nicht mit langen Schnüren befestigt werden — Strangulationsgefahrl • Es ist darauf zu achten, daß keine Kleinigkeiten liegen bleiben, die das Kind verschlucken könnte. • Spielzeug muß ungefährlich, leicht zu reinigen und altersgemäß sein; ungeeignet sind spitze, zerbrechliche und scharfkantige Sachen. Gefährlich sind auch kleine Dinge, die das Kind abdrehen und sich in die Ohren stecken oder verschlucken kann. Deshalb keine Plüschtiere mit Knöpfen als Augen verwenden. • Das Badewasser darf nicht mehr als 38 °C haben und muß immer mittels Badethermometer kontrolliert werden.
18.8 Pflege bei Phimose, Paraphimose, Hydrozele, Leistenbruch, Extensionsbehandlung 18.8.1 Phimose, Paraphimose Pflege nach Zirkumzision (Phimose): • Fetthaltige Salbe (ζ. B. Panthenol) und sterile Tupfer um die Eichel auflegen. Dies verhindert eine erneute Verklebung und fördert die Wundheilung. • Ab 2. oder 3. postoperativem Tag Sitzbäder mit Kamillosan 2 mal täglich morgens und abends. • Trägt das Kind noch Windeln, muß auf ein lockeres Anlegen und auf ein häufiges Wickeln geachtet werden. Durch nachlässiges Wickeln entsteht eine feuchte Kammer, die eine gestörte Wundheilung und Schmerzen zur Folge haben kann. • Das erste postoperative Wasserlassen gestaltet sich durch Schmerzen und Angst beim Kind oft schwierig. Geduld, Zuspräche und Zeit sind erforderlich. • Die Eltern müssen bei der Entlassung auf die erforderliche Genitalhygiene hingewiesen werden. Dauer des Krankenhausaufenthaltes variiert von ambulant über eine Nacht bis zu 4 — 6 Tagen. Behandlung und Pflege bei Paraphimose: Im frühen Stadium kann die Vorhaut noch manuell und unter Einsatz von Schmerzmitteln zurückgeschoben werden. Anlegen eines mit Otriven-Nasentropfen getränkten Tupfers wirkt ebenfalls abschwellend (muß vom Arzt angeordnet werden). Bei längerer Dauer der Paraphimose besteht die Gefahr der Einschnürung', dieser Zustand muß oft operativ beseitigt werden.
Pädiatrie 18.8.2
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Hydrozele
Der „Wasserbruch", Hydrocele testis/funiculi spermatici, erfordert folgende postoperative Pflege: Um die Wundheilung nicht zu stören, bedient man sich häufig der postoperativen Harnableitung (selbstklebende Urinbeutel mit Leitung und Urinsammeisystem oder Katheter). Die Op.-Wunde muß mit wasserabweisendem Gewebekleber versorgt werden. Die Ganzwaschung erfolgt z. B. auf einem Wickeltisch. 18.8.3 Leisten-, Nabelbruch Präoperative Pflege. Kinder, die zu Brüchen neigen, müssen nach Möglichkeit schnell beruhigt werden. Immer einen Schnuller oder die Teeflasche in Reichweite stellen. Obstipation und eine erschwerte Stuhlentleerung müssen vermieden werden. Hernien vorsichtig im warmen Wasser reponieren und Kinder gut beobachten. Alle Veränderungen an der Bruchstelle dem Arzt zeigen und dokumentieren. Postoperative Pflege. Auf Schmerzäußerungen des Kindes achten und ggf. Analgetika (Suppositorien) verabreichen (Ben-u-ron 250 mg auf Arztanordnung). Nach 6 — 8 Stunden Tee mit Traubenzucker anbieten, fettfrei, fettarm, zu leichter Kost bis hin zu Normalkost. Die Kinder dürfen so lange nicht baden, bis die Wunde verheilt ist. Bis dahin werden sie auf dem Wickeltisch gewaschen. 18.8.4
Extensionsbehandlung
Für die Extensionstherapie (s. Abschn. 17.3, S. 602) stehen zur Verfügung: • Heftpilasterextensionsverband und Overhead-Extension mit Kirschner-Nagel, • Extensionstisch nach Weber (Abb. 18-1).
Lebensjahr
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
18.8.4.1
Besonderheiten der E x t e n s i o n s b e h a n d l u n g
Die Extensionstherapie und der damit verbundene Krankenhausaufenthalt ist für das Kind ein einschneidendes Erlebnis: • Das Kind ist aus seiner gewohnten Umgebung gerissen. • Der Unfall findet häufig beim Spielen statt; dies wird vom Kind als Strafe empfunden. • Kinder sind ungeduldig, da ihr natürlicher Bewegungsdrang erheblich eingeschränkt ist. Im Kleinkindalter fehlt häufig auch jegliches Verständnis für die Krankheit. Es kann beobachtet werden, daß sich Kinder während der Behandlung zu „kleinen Tyrannen" entwickeln, die Vater und Mutter „eisern im Griff haben". Alle Pflegemaßnahmen sollten altersgerecht erklärt und das Kind zur kooperativen Mitarbeit angeregt werden.
18.8.4.2
Pflege u n d Beobachtungskriterien
• Die Gewichte müssen frei schweben, die exakte Stellung der Beine m u ß immer kontrolliert werden (s. Abschn. 17.3.1.1, S. 603). Beachte: Kleine mobile Mitpatienten im Auge behalten! Sie spielen nur allzu gern mit den Gewichten. • Motorik, Sensibilität, Temperatur, Durchblutung, Fußpulse regelmäßig kontrollieren und Werte dokumentieren. • Dekubitusgefährdung von Hinterkopf und Rücken beachten. Das K i n d m u ß daher zu aktiver Bewegung angeregt werden, was oft auch spontan geschieht! • Bei einer Kirschner-Drahtversorgung m u ß die Einstichstelle kontrolliert und der Verband unter aseptischen Bedingungen erneuert werden. Täglicher Verbandwechsel ist notwendig. • Bei Pflasterversorgung m u ß auf allergische Reaktionen geachtet werden. D a s Pflaster soll nicht unter Zug auf die H a u t geklebt werden, da dies zu Spannungsblasen führt, was oft als vermeintliche Allergie bezeichnet wird. • Das Kind m u ß immer gut zugedeckt sein, u m eine Auskühlung zu vermeiden. 18.8.4.3
Hilfestellungen
• Ganzwaschung erfolgt einmal täglich. Zwischendurch wird das Kind besonders am Rücken zur Dekubitusprophylaxe abgewaschen! Kinder schwitzen sehr stark (s. Abschn. 3.9.2, S. 252). • D a s Kind öfter umziehen, ein bunter Schlafanzug ist besser als ein O p . - H e m d . • Hilfestellung beim Essen geben, evtl. Wunschkost bei schlechten Essern. Getränke mit Schnabeltasse oder mit Strohhalm verabreichen. D a s Essen m u ß so angerichtet und zusammengesetzt sein, daß es den Appetit und die Verdauung anregt.
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• Hilfestellung bei Darm- und Blasenentleerung geben, dem Kind nie aus Bequemlichkeit Pampers anziehen. Dies könnte ein Rückfall in der Sauberkeitserziehung bedeuten. Auch das Schamgefühl der Kinder ist zu beachten. Für regelmäßige Stuhlausscheidung ist Sorge zu tragen. • Gründliche Hautpflege, um Wundwerden besonders am Gesäß zu verhindern. • Beim Betten möglichst immer mit einer zweiten Person arbeiten. Alle Wäscheteile vorher gut vorbereiten, um ein unnötiges Bewegen zu vermeiden. • Zweimal wöchentlich werden die Haare gewaschen. • Angebote altersgerechter Spiele sollten sich auf solche beschränken, die im Bett gespielt werden können. • Die Klingel muß in Reichweite am Bett angebracht, die Tür zum Zimmer sollte offen sein. Dies dient der Beobachtung und gibt dem Kind das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein. • Evtl. kann der Schulunterricht ermöglicht werden.
19. Geriatrie Marie-Anne
Schaeffer-Maroldt
Geburtenrückgang und gesteigerte Lebenserwartung (verbesserte Hygieneverhältnisse, medizinischer Fortschritt) führen zu einer Alterung der Bevölkerung in den industrialisierten Ländern. Nach demographischen Berechnungen werden im Jahr 2030 40 Mill. Menschen in Deutschland leben: Kinder und Jugendliche stellen davon 17% dar, 20- bis 60jährige 50% und Ältere und Alte 33%. Mit zunehmendem Alter werden die Menschen multimorbide, d. h. der alte Mensch leidet nicht an einer Erkrankung, sondern mehrere Systeme sind gleichzeitig betroffen. Der Bedarf an medizinischer und pflegerischer Hilfe steigt. Auch heute noch wird die Mehrzahl der pflegebedürftigen Alten in der Familie versorgt. Trotzdem steigt der Bedarf nach Heimplätzen. D a s Pflegepersonal wird immer häufiger mit alten Menschen konfrontiert. U m diese Patienten fachkundig pflegen zu können, sind Kenntnisse über den Alterungsprozeß notwendig. Wie ein Mensch altert wird beeinflußt von seiner Lebensgeschichte, seinem Reservepotential, seiner Umwelt, seiner Persönlichkeitsentwicklung. Altsein ist ebenfalls nicht gleichbedeutend mit abhängig sein. Viele Betagte bleiben bis ins hohe Alter sehr aktiv und kommen allein für ihre Bedürfnisse auf. Bei den Pflegenden entsteht oft der falsche Eindruck, d a ß alle alten Menschen krank und auf Hilfe angewiesen sind.
19.1 Der alte Mensch im Krankenhaus 19.1.1
Krankenhausaufnahme
Die Einstellung des alten Menschen zur K r a n k e n h a u s a u f n a h m e wird von verschiedenen Faktoren bestimmt: • vom Schweregrad der Erkrankung: Handelt es sich bei der Einweisungsursache um eine Krankheit, die einen zeitlich begrenzten Aufenthalt ermöglicht, ist die Hospitalisation weniger belastend als wenn mit einer Therapie von unvorhersehbarer Dauer zu rechnen ist. • von der Hoffnung auf Besserung: Ist die Krankheit mit großen Schmerzen oder Autonomieeinbuße verbunden, wird die K r a n k e n h a u s a u f n a h m e als Erleichterung empfunden. Der Patient erhofft sich rasche Besserung.
Geriatrie
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• von der Möglichkeit, sich auf die Einweisung vorzubereiten: Dies bedeutet sowohl die gedankliche Auseinandersetzung mit der bevorstehenden Hospitalisation, als auch die Organisation der Versorgung des zu Hause verbleibenden Partners, der Wohnung, der Haustiere. Die Anpassungsfähigkeit an neue Situationen nimmt im Alter ab. Dies bedeutet, daß die notfallmäßige Einweisung, die den alten Menschen überstürzt aus seiner gewohnten Umgebung reißt, oft schwieriger verläuft als eine geplante Aufnahme. • von der sozialen Rolle: Hat der alte Mensch noch sozialen Verpflichtungen nachzukommen (z. B. die Betreuung der Enkelkinder, berufliche Aktivitäten nach der Pensionierung), müssen diese Aufgaben während des Krankenhausaufenthaltes von anderen übernommen werden. Dies kann als belastend empfunden werden. • von der Umwelt: Fühlt sich der alte Mensch in seiner Familie geborgen, fallt ihm die Trennung schwer. Lebt er einsam und hat wenige soziale Kontakte, kann die Hospitalisation auch als Möglichkeit erlebt werden, dieser Einsamkeit zu entfliehen. • von der Einstellung zur Krankheit: Im Alter wird Krankheit oft gleichgestellt mit dem Tod. Der Betagte erlebt die Hospitalisation als bedrohend. Sie wird zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben, ein Überdenken des bisherigen Lebens. Eine Krankenhausaufnahme sollte möglichst • erst erfolgen, wenn alle Versuche, den Betagten zu Hause zu pflegen, erschöpft sind; sie sollte geplant und vorbereitet sein, • in Begleitung eines Angehörigen oder Bekannten erfolgen, der dem alten Menschen behilflich ist und ihm Sicherheit vermittelt, • die Aufnahme soll ohne Hektik verlaufen. Der Patient muß Zeit haben, sich an unbekannte Personen und die ungewohnte, oft angsterzeugende Krankenhausatmosphäre zu gewöhnen. 19.1.1.1 Anpassungsschwierigkeiten und Pflege In den ersten Tagen der Hospitalisation löst die fremde Umgebung evtl. Verwirrtheit aus, insbesondere bei notfallmäßiger Aufnahme. Dieser Zustand kann aber auch von verschiedenen organischen Befunden ausgelöst oder verstärkt werden wie z. B. Hyperthermie, Blutzuckerspiegelentgleisungen, Schlaf- und Beruhigungsmittel. Der Patient findet sich in Raum und Zeit nicht mehr zurecht, er verwechselt die Tageszeiten und weiß nicht, wo er sich befindet. Ebenfalls kann eine Inkontinenz auftreten, bei zuvor problemlosen Ausscheidungen. Pflegeprinzipien • Der alte Mensch soll nicht voreilig als desorientiert abgestempelt werden. Diese geistige Verwirrung ist oft nach einigen Tagen Anpassungszeit oder durch die Korrektur des auslösenden organischen Faktors behoben.
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• Eine genaue Kenntnis des vorherigen Zustandes ist ein aufschlußreicher Bestandteil der Pflegeanamnese. • Die Beobachtung des Bewußtseinszustandes fallt in den Aufgabenbereich des Pflegepersonals: lindern oder verstärken sich die Symptome, wann treten sie auf, wie verhält sich der Patient u. a. • Die Pflegenden können dem Patienten die Anpassung durch angebrachte Informationen und Orientierungshilfen erleichtern: ihm mehrmals wiederholen, an welchem Ort er sich befindet und warum, welchen Tag man schreibt, da während eines Krankenhausaufenthaltes das Zeitgefühl getrübt ist. • Als Ursache einer Inkontinenz müssen auch Faktoren wie die räumlichen Begebenheiten berücksichtigt werden, die nicht an den alten Menschen angepaßt sind wie ζ. B. schlecht zugängliche Toiletten. 19.1.1.2 Verlängerter Aufenthalt Dauert die Hospitalisation länger als geplant, entsteht beim alten Menschen die Angst nicht mehr entlassen zu werden, im Krankenhaus sterben zu müssen, von den Familienangehörigen, die ihn bisher betreuten, nicht mehr aufgenommen zu werden, daß der Partner zu Hause über so eine lange Zeitspanne nicht allein zurechtkommt. 19.1.1.3 Besonderheiten der Kommunikation Beim alten Menschen ist das Kurzzeitgedächtnis, d. h. die Fähigkeit, sich an erst kurze Zeit zurückliegende Geschehnisse zu erinnern, getrübt. Der Patient vergißt die eben vermittelten Informationen sofort wieder. Ist sich das Pflegepersonal dieser Gedächtnisveränderung nicht bewußt, reagiert es mit Unverständnis und steigernder Ungeduld auf die wiederholten Fragen oder die immer wiederkehrenden Erzählungen des Patienten. Pflegeprinzipien (s. Abschn. 2.2.2, S. 29): • den Patienten mit seinem Familiennamen anreden: familiäres Duzen oder Bezeichnungen wie Oma, Opa sind Ausdruck von Respektlosigkeit, • Interesse zeigen, den Äußerungen des alten Menschen durch aktives Zuhören Aufmerksamkeit schenken, • eine „kindische Sprache" vermeiden, Fachterminologie und neugeschaffene Ausdrücke der Umgangssprache unterlassen, • die intellektuellen Fähigkeiten und den Bewußtseinszustand des Patienten (gut orientiert, leicht bis schwer verwirrt) bei der Informationsvermittlung berücksichtigen, • Informationen mehrmals wiederholen, wenn das Kurzzeitgedächtnis getrübt ist, • individuelle Distanzzone respektieren, d. h. die räumliche Entfernung des Gesprächspartners, die als angenehm empfunden wird. Da der alte Mensch oft nur wenige Gelegenheiten zur Kommunikation hat, nutzt er diesen Zeitpunkt zur intensiven Unterhaltung: Er schweift aus, redet ununter-
Geriatrie
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brochen, um das Personal so lange wie möglich festzuhalten. Bei diesen Patienten muß man sich vergewissern, ob wichtige Informationen wie die präoperativen Vorbereitungen korrekt verstanden wurden und sie nicht im Redefluß vergessen worden sind. Dies ist schwierig bei Patienten, die an Schwerhörigkeit und Verständnisschwierigkeiten leiden, die jedoch bisher nicht bekannt und nicht auf Anhieb feststellbar sind. Man soll beim Patienten nachfragen, ob man laut und deutlich genug redet und er die Erklärungen gut hört. Dabei auch auf die Körpersprache achten: am Gesichtsausdruck des Patienten ist oft zu erkennen, ob er das Gesprochene richtig aufgenommen hat. Bestehen Zweifel, soll man wichtige Mitteilungen wiederholen lassen. Abschn. 3.8.2 (S. 236) informiert über das Vorgehen bei
Schwerhörigkeit.
19.1.2 Zeit und Pflege, aktive Mitarbeit 19.1.2.1 Zeit und Pflege Die Bewegungsabläufe des alten Menschen sind langsamer als die eines jüngeren. Die Körperpflege, die Mobilisation, die Nahrungsaufnahme beanspruchen deshalb mehr Zeit. Pflegeprinzipien • soviel Tätigkeiten wie möglich soll der Patient selbst ausführen. Dies bedeutet für das Personal in der ersten Phase häufig einen größeren Zeitaufwand, als wenn es dem Patienten die Handreichungen abnimmt. Ziel der Pflege kann jedoch nicht sein, ihn von anderen abhängig zu machen und dadurch eine Rückkehr nach Hause zu erschweren. • Der Tagesablauf im Krankenhaus soll sich soweit wie möglich den individuellen Bedürfnissen des alten Menschen anpassen, um seinen Lebensrhythmus zu respektieren. Von der Nachtwache in den frühen Morgenstunden durchgeführte Körperpflegen, um die Frühschicht zu entlasten, sollten der Vergangenheit angehören. So wird eine evtl. vorhandene zeitliche Desorientierung verstärkt, da der Patient Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden kann: eine Verrichtung, die er stets im Laufe des Morgens durchgeführt hat, ist nun plötzlich Teil der Nacht geworden. Er wird in seiner Nachtruhe gestört, um anschließend den ganzen Vormittag über inaktiv zu sein. 19.1.2.2 Aktive Mitarbeit und Pflege Die akute Krankheit, die zur Hospitalisation führte, bringt einen momentanen Autonomieverlust mit sich. Der Charakter des alten Menschen, seine Art der Krankheitsbewältigung, die vorherigen Erfahrungen bestimmen seine Fähigkeit, die vorhandenen Ressourcen zu mobilisieren und die Einschränkungen durch eine steigernde Beteiligung an der Pflege zu überwinden.
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Geht er davon aus, daß er durch die Krankheit in allen Lebensbereichen vom Pflegepersonal abhängig wird, so übernimmt er eine passive Rolle. Diese Abhängigkeit führt auf Dauer zu einem Gefühl der Machtlosigkeit. Der Patient kann sein Leben nicht mehr selbst bestimmen, er hat keinen Einfluß auf die Geschehnisse. Damit ist ein vermindertes Selbstwertgefühl verbunden. Pflegeprinzipien • Nicht nur die Defizite des alten Menschen betrachten, sondern vor allem seine Ressourcen erkennen und auf diese aufbauen. Der alte Mensch kann gefördert werden, indem man ihn fordert. • Die Angehörigen unterstützen den Betagten oft in seiner Abhängigkeit. Laut ihnen soll er sich schonen und hat ein Anrecht darauf, daß sämtliche Pflegen vom Personal übernommen werden. Die Bestrebungen der Betreuenden, die Autonomie des Patienten zu vergrößern, werden von der Familie oft mißgedeutet. Deshalb erweist sich der Kontakt mit den Angehörigen als äußerst wichtig, um ihnen die Haltung des Personals zu erklären und sie in die Pflege miteinzubeziehen. Dies beginnt bereits bei der Aufnahme und wird während der gesamten Hospitalisationsdauer weitergeführt. 19.1.3 Krankenhausentlassung, Heimpflege durch Angehörige 19.1.3.1
Entlassung
Die bevorstehende Entlassung kann auch Angstgefühle auslösen, wenn: • eine bleibende Behinderung oder Autonomieeinschränkung die gewohnte Lebensführung unmöglich macht, • nur Einsamkeit als Zukunftsperspektive bleibt. Das Krankenhaus wird dann zur Umgebung, die Sicherheit vermittelt und die Möglichkeit sozialer Kontake bietet. Falls eine Rückkehr nach Hause nicht mehr möglich ist, sondern eine Heimeinweisung geplant ist, so bedeutet dies für den alten Menschen: • das eigene Haus, die Wohnung aufgeben zu müssen, geliebte Gegenstände zurückzulassen und auf engerem Raum leben zu müssen, • sich an neue Mitbewohner anpassen und den Kontakt mit langjährigen Nachbarn abbrechen zu müssen, • einen neuen, oft auf gezwungenen Tagesablauf annehmen zu müssen, der individuelle Gewohnheiten nur gering berücksichtigt, • seltenere Besuche der Angehörigen und Bekannten, falls das Heim weit von ihrem Wohnort entfernt ist, • für Betagte haben Heime oft noch den bitteren Beigeschmack, als Abstellgleis für Alte oder als Wartezimmer des Todes zu dienen. Ihr Informationsstand ist oft überholt, • die bisherige soziale Rolle zu verlieren und evtl.
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• auch die Trennung vom Partner, falls dieser weiterhin zu Hause leben kann, jedoch nicht in der Lage ist, die Pflege des Kranken zu übernehmen. Pflegeprinzipien Diese Ängste, die eine depressive Stimmung oder aggressives Verhalten auslösen können, sollten soweit wie möglich reduziert werden, damit eine Verlegung ins Heim ohne Schaden für den alten Menschen verläuft. Die Entscheidung für eine Heimeinweisung sollte vom Betroffenen selbst oder zumindest mit ihm gemeinsam getroffen werden. Wird sie gegen seinen Willen von den Angehörigen oder vom Arzt bestimmt, so kann er sich nur schlecht mit seiner neuen Situation abfinden: • Der alte Mensch sollte genügend Zeit haben, sich mit dem Gedanken der Überweisung auseinanderzusetzen. Er muß, evtl. mit Hilfe seiner Familie oder Sozialbetreuerin, seine persönlichen Angelegenheiten klären (Verkauf oder Vermietung der Wohnung, Regelung der Finanzen u. a.). • Er sollte die Gelegenheit haben, Informationen über das Heim zu erhalten was den Tagesablauf, die Beschäftigungsmöglichkeiten, die architektonischen Verhältnisse betrifft. Wenn möglich sollte er sich die Institution vorher anschauen oder das Heim auswählen können, das ihm am meisten zusagt. 19.1.3.2 Heimpflege durch Angehörige Einen alten Menschen über einen längeren Zeitraum, dessen Ende nicht voraussehbar ist, pflegen zu müssen, bedeutet: (1) eine große körperliche Belastung, die manchmal die Gesundheit der pflegenden Angehörigen gefährdet, (2) eine vielleicht noch größere psychische Belastung und dies aus mehreren Gründen: • Das Familienleben verändert sich, die Freizeitaktivitäten sind eingeschränkt, gemeinsam verreisen ist unmöglich, falls kein anderer Angehöriger die Pflege in dieser Zeitspanne übernimmt. • Die Pflegende hat weniger Zeit für ihren Partner und die Kinder zur Verfügung. Sie fühlt sich oft alleingelassen und überfordert von den an sie gestellten Ansprüchen. • Die Betreuende hat unter Umständen Angst vor der Krankheit und dem Sterben. Sie muß sich mit ihrem eigenen Altwerden und Tod auseinandersetzen. • Sie spürt sich unsicher in ihrer neuen Rolle. Ohne dafür ausgebildet zu sein, muß sie plötzlich zur fachkundigen Pflegerin werden und dies Tag für Tag und Nacht für Nacht. • Sie kann dem kranken Elternteil gegenüber ambivalente Gefühle haben: Schuldgefühle, sich nicht ausreichend um ihn zu kümmern, Ekel dem alten gebrechlichen Körper gegenüber, besonders wenn Inkontinenz auftritt, Haßgefühle, weil die
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eigenen Lebensziele zurückgesteckt werden müssen, da die Pflege keine Zeit dafür übrigläßt. Es findet ein Rollenwechsel im Eltern-Kind-Verhältnis statt: vom beschützten Kind übernimmt die Pflegende nun die beschützende Elternrolle. Früher geltende Tabus werden überschritten wie ζ. B. beim Anfassen der Intimzonen des Betagten. Sind die Belastungen für die Familie nicht mehr tragbar, wird die Krankenhausaufnahme oft auf ihr Drängen hin veranlaßt. Einerseits verspüren die Angehörigen Erleichterung von dieser schweren Aufgabe enthoben zu sein. Andererseits ist diese Einweisung oft mit großen Schuldgefühlen verbunden, den Elternteil abzuschieben. Diese Angehörigen stellen meist sehr hohe Ansprüche an das Pflegepersonal und beschuldigen es einer unzureichenden Betreuung.
19.2 Veränderte Lebensbereiche des alten Menschen und Pflege 19.2.1 Verminderte körperliche Belastbarkeit und Bewegung Im Alter nimmt die Kontraktionskraft des Herzens ab, verlieren die Arterienwände an Elastizität und Pulsfrequenz und Blutdruck steigen. Nach einer Anstrengung wird die Ruhefrequenz später erreicht, Muskelkraft und Lungenkapazität nehmen ab. Die Anpassungsfähigkeit wird beeinflußt durch: — das körperliche Training: der alte Mensch, der von der Jugend bis ins hohe Alter körperlich aktiv war oder Sport trieb, ist belastbarer als derjenige, der sich nur wenig physisch betätigte, — Begleiterkrankungen wie ζ. B. eine Herz- oder Ateminsuffizienz, die im Alter gehäuft auftreten. Die Hauptursachen von Bewegungseinschränkungen sind neben Herz-KreislaufStörungen: • Schmerzen: oft sind diese durch Knochen- und Gelenkserkrankungen bedingt. Der Patient hat die Tendenz, eine Schonstellung einzunehmen und die Bewegungen auf ein Minimum zu reduzieren. • ein geschwächter Allgemeinzustand und medikamentöse Wirkungen: Gleichgewichtsstörungen, Sturzgefahr, verlangsamte Bewegungsabläufe. • Abnahme des Hör- und Sehvermögens verursacht unsichere Bewegungen. Ist die Behinderung stark ausgeprägt, verzichtet der Patient aus Angst sich zu stoßen oder zu fallen seine sicherheitsvermittelnde Umgebung zu verlassen. Dies ist ausgeprägter beim Sehbehinderten (s. Abschn. 3.8.1, S. 228).
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19.2.1.1 Pflegeprinzipien Bei den Pflegeverrichtungen muß die verminderte körperliche Belastbarkeit berücksichtigt werden. • Die Körperpflege ist oft anstrengend für den Patienten. Bei auftretenden Müdigkeitszeichen müssen Pausen eingeplant werden, u.U. muß die Körperpflege vom Personal übernommen werden. • Bei der Mobilisation muß der Patient auf Überanstrengung beobachtet werden wie Tachykardie, Tachypnoe, Unwohlsein. Die Dauer und der Schweregrad der Bewegungsübungen müssen individuell bestimmt werden. • Die Ursache der Bewegungseinschränkung muß durch Beobachtung und Informationssammlung beim Patienten und seinen Angehörigen bestimmt werden. Diese Ursachen werden soweit wie möglich ausgeschaltet: durch Anwendung von Hilfsmitteln, Durchführung der verordneten Schmerztherapie, Beobachtung möglicher medikamentöser Nebenwirkungen. • Ist die Bewegungseinschränkung auf eine Sehbehinderung zurückzuführen, so kann das Personal dem Patienten helfen, das Handicap der unbekannten Umgebung zu vermindern (s. Abschn. 3.8.1.2, S. 229). Bettlägrigkeit ist besonders für den alten Menschen „gefährlich" ! Immobilitätsfolgen können sein: Dekubitus, Kontrakturen, Osteoporose, orthostatische Hypotonie und Sturzgefahr beim ersten Aufstehen, Thromboseembolie, Atelektasenbildung, Aspirationspneumonie, Anorexie, Obstipation und Kotsteine, Urin- und Stuhlinkontinenz, Harnwegsinfektion, Blasensteine, Abnahme des Plasmavolumens, Veränderungen der Pharmakokinetik und veränderte Glukosetoleranz. Der Patient muß also zur Mobilisation aufgefordert werden. Die Folgen sind nicht nur somatischer Natur, sondern beeinflussen auch die Psyche des alten Menschen, der zu Regression, Apathie, Aggressivität, Selbstaufgabe, vermindertem Selbstwertgefühl, verändertem Realitäts- und Zeitbewußtsein durch mangelnde sensorische Einflüsse und Isolation neigt. Die Durchführung der entsprechenden Prophylaxen ist von größter Wichtigkeit (s. Abschn. 3.9).
19.2.2
Durchblutungsstörungen
19.2.2.1 Arterielle Durchblutungsstörungen Im Alter nimmt die Elastizität der Arterienwände ab. Seit Jahren bestehende Risikofaktoren wie Diabetes, Tabakkonsum, erhöhter Cholesterinspiegel, Übergewicht, Hypertonie können zur Arteriosklerose führen. Folgen wie Claudicatio intermittens oder trophische Störungen können auftreten.
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Pflegeprinzipien • Die arteriellen Durchblutungsstörungen durch Beobachten von auftretenden Wadenschmerzen, Kontrolle der Extremitäten auf Hautfarbe, Temperatur, Ulzerationen erkennen. • Aufklärung des Patienten über die bestehenden Risikofaktoren und wie diese beeinflußt werden können ζ. B. durch Reduzieren des Tabakkonsums und des Übergewichtes. • Bewegungsübungen, Mobilisation, Beintieflagerung, Fuß- und Hautpflege. • Durchführen der verordneten Therapien und Kontrolle der Wirkung. 19.2.2.2 Venöse Rückflußstörungen Venenerkrankungen der unteren Extremitäten treten häufig bei alten Menschen auf: Krampfadern, Ulcus cruris, oberflächliche Venenentzündung, tiefe Thrombophlebitis. Pflegeprinzipien (s. Abschn. 3.9.4, S. 261). 19.2.3 Erkrankung der Atmungsorgane Im Alter können folgende Veränderungen auftreten, die den Gasaustausch verschlechtern: — die Thoraxwand verliert an Tonus und an Elastizität und kann sich weniger ausdehnen (Atemmuskulatur weniger elastisch, Beweglichkeit der Rippen nimmt ab), — die Funktion der Flimmerhärchen ist eingeschränkt, die Anzahl der Alveolen ist vermindert (s. Abb. 7-1, S. 494), — der Hustenreiz ist herabgesetzt, der Husten verliert an Wirksamkeit. Dies ist verstärkt bei einem abgeschwächten Allgemeinzustand oder Schmerzen der Fall. Folgen dieser Veränderungen sind: • Abnahme der Atemtiefe und der Vitalkapazität mit erhöhtem Restluftvolumen, • Verschleimungsgefahr mit gesteigertem Infektionsrisiko. Zusätzlich bestehen beim Betagten u.U. Begleiterkrankungen, die die Atmung negativ beeinflussen. Dies sind ζ. B. Lungenemphysem, eine -fibrose, Deformation der Wirbelsäule, Herzinsuffizienz, Übergewicht, Dehydratation. Pflegeprinzipien • Beobachten und falls nötig Korrektur der Körperhaltung des Betagten, da dieser oft eine gekrümmte Haltung einnimmt, die eine optimale Lungenausdehnung verhindert. • Beobachten der Atemfrequenz, der -tiefe, evtl. Atemgeräuschen und Auswurf.
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• Die körperlichen Anstrengungen an den Atemstatus anpassen, Ruhepausen einlegen. • Atemerleichternde Lagerungen anwenden (s. Abb. 3.7-1, S. 219): Dehnung des Brustkorbes durch Hochlagerung der Arme mittels Kissen, leichte Oberkörperhochlagerung ohne eine Kompression auf das Zwerchfell auszuüben, was die Lungenausdehnung wiederum beeinträchtigen würde, Dehnlage, V-Lage, • den Patienten in regelmäßigen Zeitabständen zum tiefen Durchatmen auffordern, um die Lungenventilation zu fördern. Der Patient kann selbständig die Zweckmäßigkeit seiner Atemübungen kontrollieren, indem er ein am Bettbügel befestigtes Blatt Papier wegpusten muß oder in einen mit Wasser gefüllten Behälter durch einen Schlauch ausatmet. Der Schweregrad kann je nach Wassermenge und Schlauchdurchmesser verändert werden. • Atemübungen können auch zur Entspannung bei Schmerzen, Angst, Aufregung, Atemnot eingesetzt werden. • Die Nasenhöhlen von Sekreten befreien, da bei der sonst eingenommenen Mundatmung das Anwärmen, Befeuchten und Reinigen der Atemluft ausfallt. • Mit dem Patienten die korrekte Hustentechnik üben. • Auf eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme achten, da die Hydratation ausschlaggebend für die Verflüssigung der Lungensekrete ist, die somit leichter ausgehustet werden können. • Aus der gleichen Ursache für eine korrekte Luftbefeuchtung sorgen. • Die Frischluftzufuhr garantieren. Alte Menschen leben oft in überhitzten, stikkigen und sauerstoffarmen Räumen. 19.2.4 Erholungsbedürfnis und Schlaf Das Schlafbedürfnis ist im Alter reduziert und die Schlaftiefe nimmt ab (s. Abschn. 3.10, S. 277). Im Krankenhaus beginnt die Nachtwache jedoch sehr früh und wird durch die Rundgänge der Nachtwache gestört. Verbringt der Patient den Tag im Bett und döst vor sich hin, so findet er nachts keinen erholsamen Schlaf. Erfolgt als Abhilfe eine leichtfertige Verabreichung von Schlafmitteln, können unerwünschte Nebeneffekte auftreten: Veränderung der Schlafphasen, Medikamentenabhängigkeit, nächtliche Inkontinenz, weil der Harndrang nicht mehr verspürt wird oder der Patient zu schläfrig ist, um sich rechtzeitig zum WC zu begeben. Wird das Schlafmittel zu spät abends verabreicht, ist der Patient am folgenden Morgen noch müde und seine Teilnahme an den Pflegeverrichtungen eingeschränkt. In den meisten Krankenhäusern wird die letzte Mahlzeit bereits am späten Nachmittag verabreicht, so daß das große Zeitintervall bis zum Frühstück eine Hypoglykämie verursachen kann oder beim Patienten ein so starkes Hungergefühl bedingt, daß er deshalb nicht mehr schlafen kann.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Pflegeprinzipien • Die Schlaf- und Ruhegewohnheiten des betagten Patienten kennen und diese einhalten soweit der Stationsablauf dies erlaubt. • Schlaffördernde Mittel ausschöpfen bevor eine medikamentöse Therapie angewendet wird (s. Abschn. 3.10, S. 277). Dies sind ζ. B. gewohnte Schlafrituale auch im Krankenhaus durchführen, beruhigendes Gespräch, Störquellen ausschalten. • Tagsüber Aktivitäten einplanen, damit es zur körperlichen Ermüdung kommt. Eine Spätmahlzeit verabreichen. • Den Betagten über die altersbedingten Schlafveränderungen informieren, damit er die reduzierte Anzahl von Stunden Schlaf als normal betrachtet. • Die Qualität des Schlafes beobachten: oft hat der Patient das Gefühl, daß er die ganze Nacht nicht geschlafen hat, weil er häufig aufgewacht ist. 19.2.4 Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme Mit fortschreitendem Alter treten Veränderungen des Verdauungsapparates auf, die zu Beschwerden führen können: verlangsamte Stoffwechselreaktionen, verminderte Hormon- und Enzymproduktion, reduzierte Produktion der Verdauungssäfte, Abnahme der Peristaltik, verlangsamte Magen- und Gallenblasenentleerung, verminderte Leber- und Nierenfunktion: deshalb treten medikamentöse Nebenwirkungen oder Überdosierungen häufiger auf. Die Zahl der Geschmackspapillen ist vermindert. Durch den veränderten Geschmackssinn kann es zu einem überhöhten Salz- und Kohlenhydratkonsum kommen. Da zusätzlich im Alter das Durstgefühl weniger ausgeprägt ist, kann sich eine Dehydratation einstellen. 19.2.4.1 Nahrungsaufnahme Die Nahrungsaufnahme wird beim alten Menschen durch folgende Faktoren beeinflußt: • lebenslange Gewohnheiten. Der Betagte behält häufig seine bisherige Kalorienzufuhr bei, obwohl der Energieverbrauch abnimmt. Als Folge tritt Übergewicht auf, das sich negativ auf die Gelenke, besonders die Hüft- und Kniegelenke auswirkt. Die Entstehung von Krampfadern, Altersdiabetes, Gallensteinen und Gicht ist gefördert. Übergewicht gilt ebenfalls als Risikofaktor des Verschlusses der Koronargefäße und der Hypertonie. Eine übermäßige Nahrungsaufnahme kann auch aus Langeweile oder bei seelischen Problemen erfolgen. • finanzielle Lage. Verfügt der Betagte nur über ein geringes Einkommen, so muß er den Konsum von Fleisch und, je nach Jahreszeit, von frischem Obst und Gemüse einschränken. • überkommene Nahrungszubereitung. Alte Leute verwenden noch häufig beim Kochen große Mengen von gesättigten Fettsäuren und lassen Gemüse lange schmoren, so daß der Vitamingehalt sinkt.
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• Begleiterkrankungen. Diese erfordern u. U. eine Diät. • körperliche Einschränkungen. Die Zubereitung der Mahlzeiten kann beispielsweise durch Arthrose der Hand- und Fingergelenke, Hemiplegie oder Sensibilitätsstörungen erschwert sein. Ein mangelhafter Zahnstatus oder schlechtsitzende Prothesen machen den Konsum von frischem Obst und Gemüse sowie Fleisch unmöglich. Die Nahrung wird nicht ordentlich durchgekaut und ungenügend eingespeichelt. Die Verdauung ist verlangsamt. Durch Bewegungseinschränkungen sind die Einkaufsmöglichkeiten beschränkt. • geistiger Zustand. Verwirrte sind nicht mehr in der Lage, den Herd zu bedienen. Sie vergessen die Mahlzeiten, können sich nicht mehr selbständig ernähren. • psychische Verfassung. Depressionen gehen mit Appetitlosigkeit einher. • soziales Umfeld. Müssen die Mahlzeiten allein eingenommen werden, so scheut der Betagte oft den Aufwand, ein warmes Essen vorzubereiten. Verwitwete Männer, die früher diese Tätigkeit nicht ausübten, finden sich nur schlecht mit dieser neuen Rolle zurecht. Pflegeprinzipien • Den alten Menschen über eine ausgewogene Ernährung aufklären (s. Abschn. 3.4, S. 165): — Der Kaloriengehalt muß dem Energieverbrauch angepaßt sein (nicht mehr als 1600-2000 kcal/Tag). Es besteht ein erhöhter Eiweißverbrauch ( 1 , 2 - 1 , 5 g/kg Körpergewicht), da die Körperzellen abgebaut werden. Bei akuten oder chronischen Krankheiten oder Verletzungen steigt der Kalorien- und Eiweißbedarf. Der Fettverbrauch sollte gesenkt und die Kohlenhydrate vermindert werden. Der Genuß von vitaminreichen Nahrungsmitteln bei ausreichender Kalziumzufuhr (Vorbeugung der Osteoporose) sollte ebenso angestrebt werden wie eine abwechslungsreiche und leicht verdauliche Kost. Die Flüssigkeitszufuhr erfolgt in Form von nicht gesüßten Getränken. • Information über die angeordnete Diät. Die Umstellung der Koch- und Eßgewohnheiten fallen dem Betagten oft schwerer als Jüngeren. Grundsätzlich sollte jede Diätverordnung gründlich überdacht und individuell angepaßt werden. Auch im Alter muß das Recht auf Selbstbestimmung erhalten bleiben. Das Einverständnis des Patienten ist entscheidend für seine Motivation, die Diät auch einzuhalten. Ist er nicht motiviert und von der Notwendigkeit einer Diät überzeugt, sind die Erfolgsaussichten sehr gering. Es sollte auch abgewogen werden, inwieweit die Diät einerseits den Krankheitsverlauf positiv beeinflußt und andererseits die Lebensfreude und das Wohlbefinden des Betagten einschränkt. Oft ist es sinnvoller, die Diät nicht so strikt zu gestalten als bei jüngeren Patienten, damit der Betagte das Essen weiterhin genießt. • Angenehme Gestaltung der Mahlzeiten, damit diese Tätigkeit ihre soziale Rolle behält oder wiedererlangt: z. B. das Essen soll wenn nur möglich am Tisch statt
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im Bett eingenommen werden oder mehrere Patienten essen im Gemeinschaftsraum der Station. • Hilfsleistung durch das Personal, sofern eine Behinderung vorliegt: — die Mahlzeiten in einer ruhigen, nicht hektischen Atmosphäre verabreichen, — sich genügend Zeit nehmen: der Eßrhythmus des Betagten ist oft verlangsamt. Wird dieser Pflegeverrichtung nicht genügend Raum zugemessen, so bleibt der Patient ungesättigt, da er das Essen zu hastig zu sich nehmen mußte. Die Freude am Essen geht dabei verloren, er verweigert u. U. die Nahrungsaufnahme. Ebenfalls darf Zeitmangel des Personals kein Anlaß sein, breiige Kost zu verabreichen, damit die Mahlzeiten schneller vor sich gehen. Der Betagte darf nicht durch Gesten, Worte oder Methoden der Essenseingebung gezwungen werden. • Mundhygiene. Eine schmerzhafte Mundschleimhaut, Soorbefall, defekte Zähne führen zu Inappetenz. • Nach den Mahlzeiten die Menge und Qualität der gegessenen Nahrung kontrollieren und dokumentieren. Besonders bei Langzeitpatienten besteht die Gefahr einer unzureichenden Nahrungsaufnahme, die auf lange Sicht mit Energiedefiziten und Gewichtsverlust verbunden ist, durch — Appetitmangel, ζ. B. durch Medikamente (Antibiotika, Schmerzmittel), — geringes Bedürfnis nach Aufbaustoffen, — verminderter oder aufgehobener Geruchs- und Geschmackssinn. Es ist oft sehr schwierig zu unterscheiden, ob der Patient nicht essen kann oder nicht will und aus welchem Grund. Die Ursache der Nahrungsverweigerung zu ermitteln ist jedoch von größter Wichtigkeit, da nur dann angepaßte Maßnahmen ergriffen werden können. 19.2.4.2
Flüssigkeitsaufnahme
Das Durstgefühl des alten Menschen ist vermindert, die Flüssigkeitsaufnahme deshalb oft ungenügend, verstärkt durch Schwitzen, hohe Außentemperaturen, Fieber, Erbrechen, Diarrhoe (s. Abschn. 3.9.10, S. 276). Eine zusätzlich bestehende Inkontinenz kann den Patienten dazu verleiten, noch weniger zu trinken aus Angst vor dem Einnässen. Pflegeprinzipien • Überwachen der Flüssigkeitszufuhr durch Aufstellen einer Trinkliste. • Den selbstständigen Patienten über die Wichtigkeit einer genügenden Flüssigkeitszufuhr informieren, ihm die Getränke in Reichweite stellen. • Bei abhängigen Patienten regelmäßig eine Verabreichung von Getränken einplanen. Dies gilt ebenfalls bei Dementen, die ihr Trinkbedürfnis nicht mehr verspüren oder mitteilen können. Auch wenn die Patienten von sich aus nur wenig trinken,
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so kommen sie meist der Aufforderung zur Flüssigkeitsaufnahme bereitwillig nach. Bei jedem Eintritt ins Zimmer soll man dem Patienten zu trinken geben. • Die Angst vor dem Einnässen vermindern durch sofortiges Beantworten der Klingelrufe des Patienten, durch Bereitstellen des Nachtstuhls, Urinflasche, durch regelmäßiges Auffordern zur Urinausscheidung. • Die Anzeichen einer Dehydratation müssen frühzeitig erkannt werden. Das Zeichen der faltigen und trockenen Haut ist beim Betagten wenig aufschlußreich, da dies der normale Hautzustand im Alter ist. Eine trockene Mundschleimhaut, konzentrierter Urin in geringen Mengen sind objektivere Hinweise. Wird die Dehydratation nicht rechtzeitig behoben, können sich Verwirrtheit und Durstfieber einstellen. Die Dehydratation wird noch weiter verstärkt, da der Patient nicht mehr in der Lage ist zu trinken. • Nur wenn alle Möglichkeiten der oralen Flüssigkeitszufuhr scheitern, soll infundiert werden. 19.2.5
Harninkontinenz
19.2.5.1 Veränderungen des Urogenitalapparates im Alter Die Größe der Nieren nimmt ab und die Fähigkeit der Harnkonzentration ist reduziert, besonders nachts. Die Kapazität und der Muskeltonus der Blase nehmen ab, bei der Miktion entleert sie sich möglicherweise nicht vollständig. Beim M a n n produziert die Prostata weniger bakterizide Sekrete. Die bei weitem verbreitetsten Beschwerden verursacht die Harninkontinenz. In Frankreich sind laut Schätzungen (Revue Soins Nr 558) 2,5 Millionen alter Menschen von Urininkontinenz betroffen. Erhebungen der Häufigkeit dieses Symptoms werden nicht geführt, da dieses Thema oft tabuisiert wird.
Der alte Mensch verschweigt so lange wie möglich dieses Problem. Frauen sind weitaus häufiger betroffen: die Inkontinenz kann sich bereits bei jungen Frauen nach Schwangerschaft und Geburt einstellen und später durch einen Gebärmutterprolaps verstärken.
19.2.5.2 F o r m e n der H a r n i n k o n t i n e n z Man unterscheidet verschiedene Formen der Inkontinenz: • Die Streßinkontinenz tritt bei physischer Anstrengung auf. Anfangs verliert der Betroffene geringe Mengen Urin beim Tragen von schweren Lasten. Später genügt eine leichte Druckerhöhung im Bauchraum z. B. durch Lachen, Niesen, Husten, Treppensteigen, Aufstehen. • Bei der Dranginkontinenz wird der Harndrang verspätet verspürt, der Betroffene hat keine Zeit mehr, das W C aufzusuchen. • Die Überlaufblase entsteht durch eine chronische Harnretention, die sich progressiv und schmerzlos entwickelt: Es wird nur die Urinmenge entleert, die das Fassungsvermögen der Blase übersteigt.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
• Bei der neurogenen Form wird die Blasenfunktion nicht mehr vom Zentralnervensystem gesteuert. • Psychogene Form. Angstzustände, Depressionen können von Inkontinenz begleitet werden. Viele Demente werden im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung inkontinent und kennen die Funktion des WC nicht wieder. Bei Betagten sind öfters Umgebungsfaktoren schuld an einer Inkontinenz: schlecht beschriftete Toiletten, schwer zugängliches WC, insbesondere für Rollstuhlfahrer, Patienten mit Gehgestell, zu niedrige Sitzbecken, Fehlen von Haltegriffen, der Weg bis zur Toilette kann durch Gehbeschwerden nicht schnell genug zurückgelegt werden, Kleidungsstücke, die sich nur schwer öffnen lassen u. a. Einnässen kann auch das Bedürfnis nach mehr Zuwendung ausdrücken. Der Betagte erreicht dadurch eine größere Präsenz des Personals. Jede Form von Inkontinenz hat große Auswirkungen auf das Selbstbild und das soziale Verhalten des Betagten, der sein Aktivitätsfeld und die gesellschaftlichen Kontakte einschränkt aus Scham, die Umwelt würde sein Problem bemerken. Inkontinenz im Alter soll nicht als Schicksalsschlag angenommen werden. Sie bedarf einer gründlichen Abklärung der Ursache, sowohl aus ärztlicher wie auch aus pflegerischer Sicht, da in vielen Fällen eine Therapie oder Abhilfe möglich ist. 19.2.5.3 Pflegeprinzipien • Die Gewohnheiten des Patienten in Bezug auf die Urinausscheidung vor der Krankenhauseinweisung ermitteln: Häufigkeit der Miktionen, bestanden bereits Schwierigkeiten, Krankheiten. • Die Miktionsstörungen, die im Krankenhaus auftreten, erkennen, ergründen, den Verlauf beobachten. • Die möglichen Ursachen erkennen, die pflegerisch behoben werden können. • Die Umgebung an den Betagten anpassen: — Gut beleuchtete und angezeigte Toiletten. Bei Dementen sind Bilder vorzuziehen, da sie diese länger erkennen. — Den Zugang zum WC erleichtern; es dürfen keine Möbelstücke oder sonstige Gegenstände im Weg sein. • Bei Bedarf einen Nachtstuhl ins Zimmer stellen. Die Klingel muß selbstverständlich stets in Reichweite sein, damit der Patient klingeln kann, sobald er Harndrang verspürt. — Leicht zu öffnende Kleidungsstücke auswählen. • Aufstellen eines Miktionsbogens zum Blasentraining: Jede spontan oder auf Aufforderung erfolgte Miktion wird mit Zeitangabe und Menge eingetragen. Zusätzlich werden alle Flüssigkeitsaufnahmen notiert, um einen zeitlichen Bezug zur Miktion festzustellen. Erfolgt die Urinausscheidung jedesmal zu bestimmten
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Zeiten, so wird der Patient vorher zur Miktion aufgefordert, ehe es zum Einnässen kommt. Das Zeitintervall zwischen den einzelnen Blasenentleerungen wird progressiv gesteigert. Zusätzlich kann nach der Aufnahme größerer Flüssigkeitsmengen rhythmisch abgeklopft werden, bis die Miktion einsetzt.
der Unterbauch
Der Innendruck im Bauchraum kann gesteigert werden, indem man auf die Blase mit der Hand Druck ausübt oder durch Anwenden der Bauchpresse. • Die Miktionen sollten, wenn nur möglich, im Sitzen oder Stehen statt im Liegen erfolgen, da diese physiologische Stellung die Blasenentleerung erleichtert. • Durchführung des Beckenbodentrainings, wenn die gestellte Diagnose einen Erfolg voraussehen läßt und der Patient physisch und geistig dazu in der Lage ist. • Anwendung von Hilfsmitteln: — Inkontinenz ist, außer in bestimmten Situationen wie Sakraldekubitus, keine Indikation der Blasenkatheterisierung, die stets ein Komplikationsrisiko beinhaltet. — Die Hilfsmittel sollen dem Inkontinenten eine größere Bewegungsfreiheit ohne Angst vor dem Einnässen der Kleidung ermöglichen und zu einem gesteigerten Selbstwertgefühl beitragen. Die Hilfen sollen der Inkontinenzform angepaßt sein: Bei Tröpfcheninkontinenz genügen tagsüber schmale Einlagen. Bei Männern können kondomartige Urinableitungssysteme am Hosenbein befestigt und von der Kleidung versteckt werden, bei ausgeprägteren Formen muß auf Windeln zurückgegriffen werden. • Verordnete Diuretika sollen früh am Tag verabreicht werden, damit ihre Wirkung nicht erst in der Nacht erfolgt. • Schlaf- und Beruhigungsmittel müssen genauestens auf ihre Wirkung überwacht werden, sie können zu einer unkontrollierten Harnausscheidung führen. • Die Flüssigkeitszufuhr ab dem späten Nachmittag reduzieren. • Bei einer neurogenen Blase kann ein intermittierender Katheterismus durchgeführt werden. 19.2.6
Obstipation
Die Verdauungsorgane nehmen im Alter an Umfang und Gewicht ab. Durch Atrophie der Schleimhaut und Muskulatur wird die Darmwandung dünner, die Sekretion der Verdauungssäfte ist reduziert. Es kommt zu einer verminderten Darmbeweglichkeit. Obstipation gehört zu den von älteren Menschen am häufigsten geäußerten Beschwerden. Mögliche Ursachen sind: — Atonie der Muskulatur und Mangel an Bewegung, Immobilität, — jahrelanger Laxantienabusus: dadurch wird die Darmträgheit noch gefördert, es kann zu Störungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes (besonders Hypokaliämie) kommen,
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Krankenpflege in spezifischen Situationen ballaststoffarme Ernährung, Schmerzen bei der Defakation, Darmkrankheiten ζ. B. Karzinom u. a., Depression, Demenz, äußere Kompression des Darmes ζ. B. durch Überlaufblase, Kotsteine: kann zu Verstopfung mit Phasen von Diarrhoe führen, medikamentöse Nebenwirkungen bei Opiaten, Sedativa.
Die Stuhlausscheidung beschäftigt das Denken vieler Betagten sehr stark. Sie wird zu einem wichtigen Gesprächsthema. Oft hat der alte Mensch falsche Vorstellungen von der normalen Frequenz der Stuhlentleerungen: diese kann von 3 mal täglich bis zu einer Ausscheidung alle 3 Tage oder länger betragen. Mit dieser großen „Normvarianz" sollte argumentiert werden. Pflegeprinzipien Als erstes muß die Ursache der chronischen Verstopfung ermittelt werden, da es sich um eine behandlungsbedürftige Krankheit handeln kann. Die bekannten Maßnahmen der Obstipationsprophylaxe sind auch beim Betagten anzuwenden: ballaststoffreiche Nahrungsmittel, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, Bewegung. Nur wenn diese Methoden ohne Wirkung bleiben, sollen milde Laxantien vorübergehend(!) verabreicht werden (s. Abschn. 3.9.7, S. 271). 19.2.7 Körperpflege u n d Kleidung 19.2.7.1
Körperpflege
Die Haut wird mit dem Alter dünner, weniger elastisch und trocken. Die Tätigkeit der Talg- und Schweißdrüsen baut ab. Es bilden sich Pigmentflecken. Pflegeprinzipien (s. Absch. 3.2, S. 130) • Man verwende sparsam Seife mit einem pH-Wert von 5,5 — 6 ohne entfettende Wirkung und ohne Duftstoffe, die die Haut noch zusätzlich austrocknen und reizen können. • Die Haut soll nachgefettet werden; Schaumbäder können durch Ölbäder ersetzt werden. • Keine alkoholhaltigen Lösungen zum Einreihen oder Massage benutzen, da diese austrocknend wirken. • Alte Menschen sind es von früher nicht gewohnt, täglich eine Dusche, ein Bad oder eine Ganzwaschung vorzunehmen, da die räumlichen Möglichkeiten nicht bestanden. Eine routinemäßig durchgeführte Waschung von Kopf bis Fuß entspricht nicht ihren Bedürfnissen. Die Körperpflege muß individuell für jeden Betagten je nach physischem Zustand, Erkrankung, Bestehen einer Urin- und Stuhlinkontinenz geplant werden. • Der alte Mensch sollte, unter Berücksichtigung des durch die akute Erkrankung hervorgerufenen Autonomieverlustes, seine bestehenden Fähigkeiten weiterhin anwenden.
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Die Hilfeleistung des Pflegepersonals soll sich auf das strikt erforderliche Minimum reduzieren, damit der Patient nicht in seinem Abhängigkeitsgefühl verstärkt wird, sondern seine Autonomie gefördert wird. Aus der Pflegeanamnese ergeben sich die Gründe des Autonomieverlustes. Zum Teil können diese durch Anwendung von Hilfsmitteln und Anleitungen durch das Personal relativiert werden. Die Aufgabe der Pflegenden besteht hauptsächlich im Motivieren des Betagten zum selbständigen Ausführen der Körperpflege. Der Patient kann stimuliert werden, indem man ihn auf die bereits erzielten Fortschritte aufmerksam macht, lobt. Hierbei ist wichtig, daß das Pflegeteam sich ein gemeinsames Ziel setzt und die entsprechenden Pflegemaßnahmen in der Gruppe festgelegt werden. Ist der Patient nach Einschätzung der Betreuer fähig, die Körperpflege teilweise selbst zu übernehmen, muß dies dokumentiert und von allen berücksichtigt werden. Ändert die angebotene Hilfestellung vom jeweils zuständigen Betreuer ab, so verunsichert das den alten Menschen. Er weiß nicht mehr, was von ihm erwartet wird und er wird abhängig. • Bei jeder Art Körperpflege muß das Schamgefühl des Betagten respektiert werden. Oft sind sie sehr gehemmt, wenn sie von einer Person des anderen Geschlechts gewaschen werden. • Das Bad kann nicht nur zur Reinigung, sondern besonders auch zur Entspannung, Beruhigung, Steigerung des Wohlbefindens oder Anregung dienen. Verwirrte reagieren oft sehr positiv darauf. Zusätzlich können Einreibungen verschiedener Körperpartien zur Entkrampfung und Schmerzlinderung eingesetzt werden. • Die Qualität der Berührungen bei der Körperpflege ist von großer Wichtigkeit, sie soll Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Alte Menschen bekommen meist nur sehr wenig Körperkontakt. • Oft braucht der Betagte Hilfe bei der Nagelpflege an Händen und Füßen, da er sich schlecht bücken oder die Schere nicht mehr halten kann. Handelt es sich um einen Diabetiker, muß auf Schnittverletzungen geachtet werden, da die Wundheilung verlangsamt ist und die Infektionsgefahr beim Diabetiker allgemein und beim Betagten noch erhöht ist. 19.2.7.2
Kleidung
Durch die verminderte Elastizität der Arterienwände ist die Adaptation an einen Temperaturwechsel durch Vasodilatation oder -konstriktion verlangsamt. Der alte Mensch friert deshalb schneller und stärker als jüngere, was durch seinen Bewegungsmangel noch verstärkt wird. Eine körperliche oder geistige Einschränkung kann das Ankleiden erschweren.
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Pflegeprinzipien • U m die Erkältungsgefahr herabzusetzen, ist im Krankenhaus auf entsprechende Bekleidung des Patienten zu achten: Wird er in den Sessel mobilisiert, m u ß er bei kälterem Wetter zusätzlich zum Pyjama Unterwäsche, einen Morgenrock, Strümpfe und Pantoffel erhalten. • Bei hohen Außentemperaturen darf er nicht zu warm bekleidet oder zugedeckt werden, da beim Betagten die Körpertemperatur nicht mehr so schnell durch Schwitzen reguliert werden kann. • Auf leicht zu öffnende Kleidungsstücke achten: Reißverschlüsse, großformatige Knöpfe. 19.2.8
Beschäftigung
Durch den Eintritt in den Ruhestand oder den geringeren Arbeitsaufwand im Haushalt nach dem Ausziehen der Kinder, verfügen Ältere über ein großes M a ß an Freizeit. Diese freie Zeit wird von ihnen, im Gegensatz zu den Berufstätigen, jedoch nicht immer als positiv erlebt. Für sie stellt die Freizeit keinen Ausgleich mehr für die Belastung am Arbeitsplatz dar, sondern wird zu ihrem Alltag. Ob diese Zeit aktiv ausgefüllt oder nur passiv hingenommen wird, hängt in erster Linie von der Persönlichkeit des Betagten ab: Hat er viele Interessengebiete, die er auch während des Berufslebens pflegte oder wurde sein Lebensrhythmus bisher nur von der Arbeit bestimmt und blieb ihm keine Zeit für andere Aktivitäten? H a t er soziale Kontakte beibehalten, spielt er weiterhin eine aktive Rolle in der Gesellschaft, die sein Selbstwertgefühl stärkt oder sind seine Tätigkeiten auf seine eigenen 4 Wände beschränkt? Ist er finanziell in der Lage, Freizeitangebote wahrzunehmen und seinen gewohnten Beschäftigungen nachzugehen? Besteht eine körperliche Behinderung, die die Ausübung früherer Aktivitäten nicht mehr zuläßt? In den meisten Krankenhäusern sind die Beschäftigungsangebote sehr begrenzt. In der Akutphase einer Erkrankung besteht meist auch kein Bedarf danach, dieser tritt erst bei längerem Aufenthalt und verbessertem Allgemeinzustand auf. Pflegeprinzipien • In Langzeitkrankenhäusern, in Alters- und Pflegeheimen sollte der Beschäftigung alter Menschen ein großer Stellenwert zugemessen werden. Hat der Patient, respektiv Heimbewohner, die Möglichkeit sinnvollen Tätigkeiten nachzugehen, so bedeutet dies für ihn: — aktiv zu bleiben und den Kontakt mit Mitbewohnern zu haben bei Gruppenaktivitäten, — Stimulation durch die Umwelt, die kommunikativen Fähigkeiten werden gefördert, gesteigerte Selbstschätzung. • Beim Betagten müssen die Tätigkeiten ermittelt werden, die er zu Hause ausübte:
gerne
— In Anbetracht seines aktuellen Zustandes und den institutionellen Gegebenheiten diejenigen anbieten, die für jeden Betagten individuell in Frage kommen
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wie Gesellschaftsspiele, Fernseher, Radio, Tageszeitungen und Zeitschriften im Gemeinschaftsraum der Station zur Verfügung stellen. • Die Wünsche des Betagten müssen berücksichtigt werden. Drängt man ihm die Teilnahme an einer Aktivität auf, die ihm nicht zusagt, zieht er keinen Nutzen daraus und fühlt sich als unmündig behandelt. Man soll alte Menschen nicht um jeden Preis beschäftigen wollen. • In Langzeitinstitutionen können Angebote wie Kochen, Basteln, Musik, Teilnahme an leichten Hausarbeiten, Gymnastik, Theater- und Konzertbesuche, Ausflüge herangezogen werden. Erfolgsversprechender ist, wenn die Initiative von den Bewohnern selbst und nicht vom Personal ausgeht. 19.2.9 Sexualität und Geborgenheit 19.2.9.1 Besonderheiten der Sexualität im Alter Betagte haben oft Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse nach Sexualität zu erfüllen (s. Abschn. 3.14, S. 311): • Die Gesellschaft erkennt ihnen das Recht auf Sexualität ab, diese wird als Vorrecht der jüngeren Generation angesehen. Der Austausch von Zärtlichkeiten zwischen alten Menschen wird belächelt oder gar verspottet. Ihr Verlangen nach Sexualität wird als peinlich empfunden und tabuisiert. • In den Medien wird der jugendliche Körper als Schönheitsideal dargestellt, der alternde Körper als unattraktiv und unästhetisch abgehandelt. Entspricht man diesem Ideal nicht mehr, haben manche Mühe, ihren Körper zu akzeptieren. • Die Erziehung der heutigen alten Menschen beschränkte den Zweck der Sexualität auf die Fortpflanzung, nicht als Mittel des Erfülltseins. Die Kirche, die für alte Menschen oft eine wichtige Rolle spielt, vertritt ebenfalls diese Einstellung. • Nach dem Verlust des Partners ist es schwierig, eine neue Beziehung aufzubauen. Da die Lebenserwartung der Frau die des Mannes übersteigt, ist sie häufiger von der Einsamkeit betroffen. Die Suche nach einem neuen Partner wird durch die negative Einstellung der Kinder, aber auch durch die ablehnende Haltung der Gleichaltrigen erschwert. Das Verlangen nach zärtlichen Berührungen, Körpernähe bis hin zum Geschlechtsverkehr bleibt jedoch bis ins sehr hohe Alter bestehen und Sexualität kann weiterhin als befriedigend erlebt werden. Welche Wichtigkeit sie im Alter einnimmt, hängt davon ab, welche Rolle dieses Bedürfnis zeitlebens gespielt hat. 19.2.9.2 Beeinflussung der Sexualität im Alter Im Alter treten Veränderungen der Geschlechtsorgane auf. Beim Mann sind dies eine verlangsamte Erektion, eine frühzeitige Ejakulation und eine längere Erholungsphase bis zur nächsten Erektion. Die Zeugungsfähigkeit bleibt bestehen, auch wenn die Anzahl der Samenzellen abnimmt.
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Bei der Frau ist das Klimakterium mit dem Versiegen der Eiproduktion bereits abgeschlossen. Es besteht eine Atrophie der Brüste, die Gleitfähigkeit der Vagina ist vermindert. Verschiedene Medikamente, die häufig zur Therapie des Betagten gehören, reduzieren die Libido wie beispielsweise Beta-Blocker. Erkrankungen der Atmungsorgane und Herzinsuffizienz beeinträchtigen das Sexualleben. Beide Partner sollten über die körperlichen Veränderungen informiert sein. Eventuell muß auf andere Methoden der sexuellen Befriedigung zurückgegriffen werden. Im Alter wird die Sexualität unter Umständen als erfüllter erlebt als früher: die Angst einer unerwünschten Schwangerschaft besteht nicht mehr, beide Partner können sich mehr Zeit füreinander nehmen. Auch Betagte haben das Bedürfnis attraktiv auszusehen und auf andere anziehend zu wirken. Viele legen großen Wert auf ihre Kleidung, Frisur, Schminken. Im Krankenhaus werden sexuelle Bedürfnisse der Patienten im allgemeinen und insbesondere der Betagten tabuisiert. Es besteht keine Privatsphäre mehr ζ. B. beim Belegen eines Mehrbettzimmers oder durch Betreten des Patientenzimmers ohne anzuklopfen, nackt den Blicken fremder Leute ausgesetzt zu sein. Handelt es sich um einen zeitlich begrenzten Aufenthalt, so kann das Verlangen nach Zärtlichkeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Im Pflege- und Altersheim, das dann den Wohnraum darstellt, ist dies nicht möglich. 19.2.10 Pflegeprinzipien • Den alten Menschen das Recht auf sexuelle Bedürfnisse anerkennen. • Berührungen zwischen alten Menschen nicht belächeln, sondern ihrem Wunsch nach Körpernähe Verständnis entgegenbringen. • Ihr Schamgefühl respektieren und die Intimsphäre beachten. Das Ausleben sexueller Wünsche ermöglichen. • Auch bei abhängigen Betagten die Gewohnheiten ihrer Schönheits- und Haarpflege weiterführen. • Wenn der alte Mensch das Bedürfnis nach Körpernähe verspürt, ihm erlauben in den Arm genommen zu werden, wenn der Pflegende damit einverstanden ist. Die Pflegenden müssen ihre eigenen Grenzen von Intimität mit den Patienten erkennen und berücksichtigen. 19.2.10.1
Geborgenheit
Durch die akute Erkrankung, die Verschlechterung des Allgemeinzustandes, die fremde Umgebung, die Konfrontation mit der Krankheit, die ausgeführten Untersuchungen mittels unbekannten hochtechnischen Apparaturen fühlt sich der alte Mensch verunsichert.
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Pflegeprinzipien • Aufgabe der Pflegepersonen ist es ein Ansprechpartner für den Betagten zu sein, seine Ängste in der verbalen sowie non-verbalen Kommunikation zu erfassen, zu analysieren und mit ihm gemeinsam auf ihn abgestimmte Mittel der Angstbewältigung ausfindig zu machen und ihm diese anbieten. Es ist günstig, wenn dem Patienten ein Pflegender als Referenzperson zugeteilt wird, da eine aufbauende Beziehung entstehen kann. Der Betagte kann leichter Vertrauen zu dieser Person entwickeln, als zu ständig wechselnden Betreuern. • Die Fähigkeit mit Streßsituationen wie z. B. Krankheit umgehen zu können, ist individuell verschieden und wird durch die Biographie des alten Menschen sowie seine vorherigen Krankenhauserfahrungen bestimmt. Durch eine korrekte Information über bevorstehende Untersuchungen, Therapien, zu erwartende Krankheitsfolgen kann sich der alte Mensch darauf vorbereiten und gedanklich verarbeiten. • Aufmerksame Gesten können ebenfalls ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln: sich zu dem Patienten setzen, Blickkontakt halten, sich zu ihm hinneigen.
20. Psychiatrie Hans Kamrath,
Wolfgang
Weymar
Den Begriff der Psychiatrie gibt es seit knapp 200 Jahren. Das Fach hat sich erst allmählich als eine medizinische Disziplin herausgeschält; als quasi historisches Erbe hängt der Psychiatrie immer noch ein gewisser Makel an, da sie neben der Justiz das zweite große Regulationsinstrument darstellt. Mit diesem Aspekt ist deshalb eng verbunden eine Frage, die auch im klinischen Alltag häufiger auftaucht: Ist dieser Mensch „krank" oder ist er „böse"1. Diese Frage ist der Schlüssel zu den Handlungskonsequenzen: Ist der Mensch krank, so ist sein Verhalten mit Krankheit zu erklären, d. h. er kann/konnte sich nicht anders verhalten. Folglich muß er behandelt werden. Ist er hingegen böse, hätte er sich sehr wohl anders verhalten können und muß deshalb bestraft bzw. erzogen werden. Für beide Handlungskonsequenzen (Therapie oder Strafe) sind im Laufe der Geschichte wiederholt neue Strategien geschaffen worden. Es ist dabei bemerkenswert, daß z. B. die jüngsten Reformen (Psychiatrie- und Strafrechtsreform) in diesem Jahrhundert zeitgleich erfolgten.
20.1 Krankheitsverständnis Krankheit — körperliche wie seelische — signalisiert eine Krise in der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt. Äußeren Belastungen stehen innere Bewältigungsmöglichkeiten gegenüber. Krankheit entsteht dann, wenn die Abwehrmöglichkeiten den Belastungen nicht gewachsen sind, das Individuum also überfordert ist. Man spricht dann von Dekompensation. Für die Tatsache der Überforderung ist es dabei unerheblich, ob übermächtige Belastungen auf eine durchschnittliche Abwehr treffen oder eine minimale Abwehr durchaus normalen Belastungen gegenübersteht. Entscheidend ist das individuelle Ungleichgewicht zwischen Belastung und Bewältigungsmöglichkeiten. Dies erklärt, warum der eine in einer Belastungssituation erkrankt, der andere in derselben Situation aber nicht. Da Krankheit im Wechselspiel von Belastung und Abwehr entsteht, ergeben sich für die Prophylaxe wie auch für die Therapie prinzipiell 2 Ansatzpunkte: Man kann die belastenden Faktoren zu reduzieren oder die Abwehrkräfte zu stärken versuchen. Gelingt es, die Überlegenheit der Abwehr gegenüber den Belastungen wiederherzustellen, handelt es sich um eine akute Krankheit, die geheilt werden kann. Man spricht von Rekompensation im Gegensatz zu der bereits erwähnten Dekompensation. Häufig ist jedoch nur eine begrenzte Wiederherstellung zu erreichen; es bleiben Schwachstellen — es entsteht eine Behinderung. Ist in der Behandlung gar nur ein labiles Gleichgewicht von Belastung und Abwehr herzustellen, liegt chronische Krankheit vor.
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Diese Kriterien gelten in gleicher Weise für körperliche und seelische Krankheit. Welchen Belastungen das Individuum ausgesetzt ist, hängt von der jeweiligen Lebenswelt ab, die es vorfindet. Welche Bewältigungsmechanismen/Abwehr es dagegenhalten kann, hängt von vielen Faktoren ab. Neben der genetischen und biologisch-organischen Ausstattung auf der einen Seite spielt die psychosoziale Entwicklung auf der anderen Seite eine große Rolle. Für viele psychische Erkrankungen hat sich die Annahme einer krankheitsspezifischen Vulnerabilität (Verletzlichkeit) bewährt. Darunter muß man sich vorstellen, daß bestimmte Menschen aufgrund einer besonders ungünstigen Konstellation der vorgenannten Faktoren für spezifische Belastungssituationen besonders empfindlich sind. Treten solche Situationen auf, erkranken sie eher als andere. — Insgesamt ergibt sich, daß die Entstehung von Krankheit ein multifaktorielles Geschehen ist; diese Auffassung hat sich für die meisten psychiatrischen Erkrankungen inzwischen durchgesetzt.
20.2 Regression 20.2.1
Entwicklung
Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, bei der Betrachtung menschlicher Entwicklung ganz allgemein zu unterscheiden zwischen körperlicher, geistig-intellektueller und psychischer Entwicklung. Alle 3 Entwicklungsstränge wirken wechselseitig aufeinander ein. Es kann jedoch auch zu sehr isolierten Störungen in nur einem Bereich kommen. So gibt es ζ. B. körperbehinderte Menschen, deren geistigintellektuelle Entwicklung überhaupt nicht und deren psychische Entwicklung allenfalls durch die Aus- und Rückwirkungen ihrer körperlichen Behinderung beeinträchtigt ist. Obwohl in der alten Terminologie von „Geisteskrankheiten" die Rede war, sind psychiatrische Erkrankungen größtenteils keine Erkrankungen im geistig-intellektuellen Bereich, sondern ganz überwiegend Störungen im psychischen Bereich, allerdings können diese Störungen sich auch auf die geistigintellektuelle Tätigkeit auswirken. Davon wird noch bei den einzelnen Krankheitsbildern die Rede sein. 20.2.2 Traumatisierung u n d Vulnerabilität Die seelische Entwicklung/Reifung des Menschen erfolgt zwar parallel zur geistigintellektuellen, ist mit dieser jedoch nicht identisch. Wie auch die körperliche, verläuft sie in mehreren Stadien, in denen jeweils bestimmte Aspekte der Entwicklung besonderes Gewicht haben. Die Abfolge dieser Entwicklungsstadien ist zwar natürlich vorgegeben, wird jedoch nicht automatisch durchlaufen. Vielmehr ist die Bewältigung eines jeden Entwicklungsschrittes Ausdruck der Auseinandersetzung des Heranreifenden mit seiner Umwelt. Jeder neue Entwicklungsschritt setzt die Bewältigung des vorangegangenen voraus. Der Säugling, das Kleinkind, das Vorschulkind, das Schulkind, der Heranwachsende, der junge Erwachsene sind bei der Bewältigung dieser Reifungsschritte auf Minimalbedingungen ihrer Umwelt angewiesen. Sind diese nicht gegeben, werden die Entwicklungsschritte
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nur unvollständig vollzogen. Man spricht von einer Traumatisierung (Verletzung). Ein solches Entwicklungsdefizit stellt eine Schwachstelle in der psychischen Struktur des Individuums dar, die sich jedoch nicht sofort und unmittelbar auswirken muß, da sie in aller Regel kompensiert werden kann durch andere Überlebensmechanismen. Insgesamt jedoch ist die seelische Widerstandskraft des Individuums in ganz spezifischer Weise geschwächt. An dieser Stelle entsteht dann sozusagen eine Sollbruchstelle im Sinne der bereits erwähnten Vulnerabilität. Kommt es nun im Verlaufe des späteren Lebens zu Belastungssituationen, die gerade diese Schwachstelle betreffen, so sind hier die Abwehrkräfte besonders gemindert, Krankheit tritt auf. Die Art der Krankheit wird in unterschiedlicher Gewichtung von der Art der Belastung und von der Eigenart der entsprechenden „Schwachstelle" geprägt. Dies bedeutet, ob jemand erkrankt, hängt von seiner Abwehrlage gegenüber den Belastungen ab, in welcher Weise er erkrankt, wird ganz überwiegend von den spezifischen „Schwachstellen" in seiner Entwicklung bestimmt. Für den Krankheitsprozeß vieler psychischer Erkrankungen gilt, daß der Patient in der psychischen Krankheit auf ein früheres, unreiferes Entwicklungsstadium zurückfällt. Es ist dies typischerweise das Stadium, in dem die „Schwachstelle" angelegt wurde bzw. das Stadium davor, das gerade noch befriedigend bewältigt wurde. Der Vorgang des psychischen Zurückfallens auf ein unreiferes Entwicklungsstadium heißt „Regression". Von dieser Regression ist nur die psychische Entwicklung betroffen; der körperliche und geistig-intellektuelle Entwicklungsstand wird in der Regel nicht beeinflußt. D. h., wenn Sie einem Patienten in seiner krankheitsbedingten Regression begegnen, werden Sie ihn körperlich und in seinen Denkleistungen erwachsen erleben, in bestimmten Lebensbereichen aber fühlt und gibt er sich wie ein unreifes Kind. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß Regression nicht nur ein pathologischer Prozeß ist; vielmehr ist Regression jedem möglich und auch für jeden Menschen nötig als ein Stadium der Regeneration. Zum Beispiel ist der täglich notwendige Schlaf ein regressiver Zustand, so wie wir auch ζ. B. bei einer schweren Erkrankung ganz selbstverständlich ins Bett „regredieren".
20.3 Übertragung/Gegenübertragung Definition. Mit der Regression eng verbunden ist das Phänomen von Übertragung/ Gegenübertragung. Diese Begriffe stammen aus der Psychoanalyse. Das Geschehen, das damit charakterisiert wird, tritt überall in mehr oder weniger stark ausgeprägtem Maße auf und wird an Patienten in Regression besonders deutlich. In mitmenschlichen Beziehungen nehmen wir den anderen nie ganz als den wahr, der er hier und jetzt ist. Vielmehr nehmen wir ihn unbewußt — mehr oder weniger
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ausgeprägt — wie eine andere wichtige Bezugsperson aus unserer eigenen Vergangenheit wahr. Typischerweise sind dies v. a. Mutter, Vater oder Geschwister. Wir „übertragen" bestimmte Gefühle, die wir diesen Bezugspersonen gegenüber hatten, auf unser jetziges Gegenüber. Diese Verhaltensweise induziert häufig im Gegenüber den gleichen Prozeß in umgekehrter Richtung; das ist dann die Gegenübertragung — dies ist eine weitgefaßte Definition. 20.3.1 Komplementäre und konkordante Gegenübertragung In der Begegnung mit psychisch Kranken werden Sie erleben, daß diese immer wieder in Ihnen intensive Gefühle mobilisieren. Ausgangspunkt für diesen Prozeß ist, daß der Kranke — insbesondere in seiner krankheitsbedingten Regression — seinen Betreuer nicht als den erlebt, der er hier und jetzt ist, sondern ζ. B. wie die eigene Mutter, den eigenen Vater etc. Bei den Gegenübertragungsgefühlen, die beim betreuenden/therapeutischen Personal angestoßen werden, unterscheidet man zwischen komplementärer und konkordanter Gegenübertragung. • Die komplementäre („passende") Gegenübertragung ist relativ leicht nachvollziehbar: Ein Patient, der Sie beispielsweise wie/als seine Mutter erlebt, wird in Ihnen in vielen Fällen ein entsprechendes Gefühl der Mütterlichkeit hervorrufen, das Sie zu entsprechender Verhaltensweise veranlaßt. Dies kann im Einzelfall sinnvoll sein, durchaus jedoch auch ein Beziehungshindernis darstellen. Hierzu wird unter dem nächsten Punkt noch einiges ausgeführt werden. • Etwas schwieriger nachzuvollziehen ist das Phänomen der konkordanten („gleichsinnigen") Gegeniibertragung: Hier bewirkt der Patient — unbewußt — daß Sie beginnen, sich genauso wie er zu fühlen. D. h., ein Patient, der sich selbst ζ. B. ohnmächtig und ausgeliefert fühlt, wird Verhaltensweisen und Emotionen an den Tag legen, die dazu führen, daß Sie sich selbst ohnmächtig und hilflos fühlen. Dieses Phänomen tritt besonders häufig und intensiv im Umgang mit schwer gestörten Patienten, ζ. B. schizophren Erkrankten auf, die häufig kaum noch über eigene andere Artikulationsmöglichkeiten verfügen. Während wir Gesunden in aller Regel in der Lage sind ζ. B. über Gefühle und Affekte zu sprechen (ich bin wütend, traurig, enttäuscht, einsam, ärgerlich etc.), ist dem schwer gestörten Patienten eine solche Kommunikation krankheitsbedingt nicht mehr möglich. Anstatt über seine Gefühle sprechen zu können, kann dieser Patient sich nur noch in der Aktion ausdrücken; man spricht dann von „interpersonaler Inszenierung". Dies heißt, daß ein Patient, der wütend ist, Ihnen nicht sagt, daß er wütend ist, sondern Sie wütend machen wird. Wenn Sie diese Wut spüren und erleben, dann ist das eine konkordante Gegenübertragung. 20.3.2 Übertragung und Gegenübertragung als Zugangswege des Verstehens Es ist leicht nachzuvollziehen, daß in der psychiatrischen Arbeit ein solches Phänomen gleichermaßen Problem wie Chance ist. Die problematische Seite: Ein Patient empfindet — um im Beispiel zu bleiben — Wut und möchte diese loswer-
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den. Sein einziger Artikulationsweg ist aber krankheitsbedingt, den anderen wütend zu machen, damit dieser spürt, daß er, der Patient, wütend ist. Die normalpsychologische Reaktion des wütenden Betreuers ist, entsprechend wütend gegenzureagieren. Damit aber wird der Patient seine Wut ganz sicherlich nicht los. Hier müssen andere, spezifische Umgangsweisen mit dem Patienten gefunden werden. — Die Chance: Wenn Sie erkennen, daß das Gefühl, das Sie in der Beziehung mit dem Patienten erleben, nicht Sie als Person und Ihre Beziehung zum Patienten meint, sondern ausschließlich Ausdruck der aktuellen Befindenslage des Patienten ist, haben Sie einen direkten und unverstellten Zugang zum psychischen Innenleben, eine „Via regia" (Königsweg) zum Verständnis des Patienten. 20.3.3
„Helfen"
Das Phänomen von Übertragung/Gegenübertragung ist geradezu alltäglich. Dies bedeutet, daß in der therapeutischen Beziehung natürlich nicht nur der Patient überträgt und wir mit Gegenübertragung reagieren, sondern, daß auch wir diejenigen sein können, die den Prozeß in Gang bringen. Ein wichtiger Aspekt ist, daß wir als Helfer gerade in der Psychiatrie häufig im normalen Ablauf unseres helfenden Handlungszyklusses blockiert werden. Einige psychische Erkrankungen gehen mit Krankheitsuneinsichtigkeit als Symptom einher: Der Patient selbst nimmt seine Krankheit nicht als Krankheit wahr und unsere Angebote nicht als Hilfe, sondern betrachtet sie als eine unerwünschte, störende, vielleicht sogar bedrohliche Einmischung in sein Leben, auf die er mit Abwehr reagiert. Wir als Helfer sind jedoch darauf angewiesen, daß unsere Hilfe von Hilfsbedürftigen angenommen wird und wir auch unsere Gratifikation (Dankbarkeit im weitesten Sinne) für unsere Hilfe erhalten. Genau dies ist häufig im Umgang mit dem psychisch Kranken nicht möglich, d. h., daß wir eine objektiv erforderliche Hilfe anbieten, sie ggf. dem Patienten gegen seinen erklärten Willen sogar aufzwingen und obendrein noch auf unsere Gratifikation verzichten müssen. Es ist sicherlich jedem leicht verständlich, daß in solchen Situationen wir diejenigen sind, die negative Gefühle zuerst auf den Patienten übertragen, was diesen seinerseits zu entsprechenden Gegenübertragungsreaktionen veranlaßt. An dieser kurzen Skizze ist sicherlich deutlich geworden, daß psychiatrische Arbeit in allererster Linie Beziehungsarbeit ist: Wir als Personen sind ein wichtiges und gar nicht so selten das einzige Mittel der Therapie. So wie der Pharmakologe Wirkungen und Nebenwirkungen seiner Medikamente kennen muß, müssen wir die Wirkungen und Nebenwirkungen unserer Persönlichkeit kennen, um sie effizient einsetzen zu können. Daraus ergibt sich zwingend, daß qualifizierte psychiatrische Arbeit ohne Selbsterfahrung praktisch nicht möglich ist. Erst wenn ich mich selbst und meine spezifischen Reaktions- und Verhaltensweisen gut genug kenne, kann ich mich selbst als „Meßinstrument" für die Befindlichkeit des Patienten einsetzen. Eine Faustregel psychiatrischen Arbeitens lautet: Von der Selbst- zur Fremdwahrnehmung !
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Eine weitere Konsequenz aus der Erkenntnis, daß psychiatrische Arbeit in hohem Maße Beziehungsarbeit ist, soll hier gleich noch als zweite Faustregel angesprochen werden: Wer in der Psychiatrie für andere etwas tun will, muß zunächst einmal in der Lage sein, für sich etwas zu tun. Wer nicht für sich sorgen/sich schützen kann, ist viel zu sehr bei seinen (ungestillten) Bedürfnissen, als daß er sich wirklich auf Patienten einlassen kann. Zudem könnte er auch für Patienten kein Modell sein, die oft selbst gerade daran leiden, daß sie nicht in der Lage sind, richtig für sich zu sorgen/sich zu schützen.
20.4 Psychiatrische Krankheitsbilder An dieser Stelle können weder alle psychiatrischen Krankheitsbilder aufgezählt, noch die aufgeführten umfassend dargestellt werden. Vielmehr geht es darum, die drei großen Erkrankungsgruppen exemplarisch darzustellen, unter Berücksichtigung der Besonderheiten, die sich im Umgang mit so erkrankten Patienten ergeben. — Bei den organisch bedingten Störungen finden sich große Überschneidungen mit internistischen und neurologischen Krankheitsbildern, so daß hier auf ihre Erörterung verzichtet wird. Dies betrifft auch die psychiatrischen Alterserkrankungen. Ihre Psychiatrisierung leistet nicht selten der Ausgrenzung Vorschub, wo die gesellschaftliche Integration des kranken alten Menschen wünschenswert wäre. Das weite Feld neurotischer Störungen wird ebenfalls ausgeklammert, da die Neurosen die Domäne der ambulanten Psychotherapie sind und nur im Einzelfall bei schweren Störungen psychiatrischer Behandlung zugeführt werden (ζ. B. schwere Zwangsneurosen). Eine ganze Anzahl psychiatrischer Einrichtungen ist auch mit geistig Behinderten (in der psychiatrischen Nomenklatur: Oligophrenen) konfrontiert; im Sinne der Psychiatriereform sollte diese Gruppe von Behinderten jedoch nicht psychiatrisch, sondern heilund sonderpädagogisch versorgt werden. In der Psychiatrie besteht eine lange Tradition, die Erscheinungsbilder in Neurosen und Psychosen zu unterteilen. Eine exakte definitorische Abgrenzung besteht jedoch nicht. Dessen ungeachtet werden sie im Klinikjargon sehr häufig als Etikettierung von Patientenverhalten entweder „neurotisch" oder „psychotisch" hören. • Mit Neurose bezeichnet man weniger gravierende Störungen, die eher den Charakter einer Fehlanpassung haben; man geht in aller Regel davon aus, daß es sich um Störungen handelt, die durch psychosoziale Fehlentwicklungen, meist schon in der Kindheit, verursacht sind. • Den Neurosen gegenüber stehen die Psychosen als schwerere Krankheitsbilder, die in der Vergangenheit häufig dadurch gekennzeichnet waren, daß sie als „uneinfühlbar" galten. Das Kriterium der Uneinfühlbarkeit ist an sich ja schon hochgradig subjektiv; neuere Forschung, insbesondere zur Schizophrenie, zeigt in zunehmendem Maße Wege auf, auch diese Krankheitsbilder zu erklären, nachvollziehen und verstehen zu können. Bei den Psychosen unterscheidet man die affektiven Psychosen von den Schizophrenien. Darüber hinaus werden im folgenden die Abhängigkeitserkrankungen behandelt. Es schließt sich ein Abschnitt über suizidale Handlungen an; hierbei handelt es sich nicht um eigenständige Krankheitsbilder, jedoch um ein Phänomen, das bei psychischer Krankheit überproportional häufig auftritt.
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20.4.1 Affektive Psychosen Zu dieser Krankheitsgruppe gehören die Depressionen und die Manien. Wenn sie kombiniert auftreten, spricht man von Zyklothymie (früher: manisch-depressives Irresein). 20.4.1.1
Depressionen
Die Depressionen sind uns als Gesunden wohl noch am nächsten, da wohl jeder Mensch aus eigener Erfahrung Phasen der Depressivität kennt. Wichtig ist dabei, daß bei aller Einfühlbarkeit noch ein deutlicher, qualitativer Sprung zwischen normaler Depressivität und einer Depression besteht. In westlichen Industrienationen besteht ein Lebenszeiterkrankungsrisiko für die Depression von 10%. Jeder 10. Mensch macht statistisch gesehen einmal im Leben eine Depression durch. In den meisten Fällen sind Depressionen jedoch ambulant behandelbar; nur ein kleiner Teil bedarf der stationären Behandlung. Entstehung und Erscheinungsformen Die Depressionen sind multikausal bedingt. Man unterscheidet die Depressionsformen danach, wie groß jeweils der somatische und der psychische Anteil an der Entstehung zu gewichten ist. Eine Besonderheit stellt die sog. larvierte Depression dar: Der Begriff meint eine Depressionsform, die als Depression im ersten Anlauf häufig nicht diagnostiziert wird, weil körperliche Symptome stark im Vordergrund stehen. Körpersymptome gehören jedoch in unterschiedlichem Ausmaß zu jeder Depression dazu. Für viele Depressionen gilt, daß sie durch ein — manchmal nur subjektiv erlebtes — schweres Verlusterlebnis ausgelöst wurden. Die hierdurch ausgelöste Regression (s. o.) führt in recht frühe Entwicklungsstadien zurück. Für die Entstehung von Depressionen nimmt man eine Traumatisierung in den ersten Lebensmonaten an, in denen es zur sog. Symbiose zwischen Mutter und Kind kommt. Die hierzu gehörige Phase wird als die orale Phase bezeichnet, da in dieser Aspekte der Versorgung und Ernährung im Vordergrund stehen (oral = auf den Mund bezogen). Die Traumatisierung bestand dann seltener in mangelnder Ernährung als vielmehr in Mängeln im übertragenen Sinne: zu wenig Liebe, Geborgenheit, emotionale Wärme etc. In der Regression werden entsprechende kindliche Gefühle mobilisiert. Da diese Gefühle jedoch in eine Phase vor jeder sprachlichen Entwicklung gehören, sind sie häufig k a u m verbalisierbar.
Symptomatik In der Depression sind Stimmung, Antrieb und Denken verändert. Die Stimmung ist gedrückt bis zur Melancholie, einer „grundlosen" traurigen Verstimmtheit, die sich qualitativ jedoch von Trauer unterscheidet. Häufig herrscht ein „Gefühl der
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Gefühllosigkeit" vor, nicht selten auch durchmischt mit starken Angstgefühlen. Der Antrieb ist in aller Regel gehemmt bis hin zum Stupor, kann jedoch auch einmal gesteigert sein; man spricht dann von einer agitierten Depression. Ihre Denkvorgänge erleben die Patienten häufig als gehemmt. Es tritt jedoch auch Grübelzwang auf. Die Denkinhalte sind meist von Schuldgefühlen bis hin zum Versündigungswahn geprägt. Die Patienten erleben dies alles dabei nicht als Krankheit, sondern als eine existentiell bedrohliche Lebenskrise. An dieser Überzeugung wird krankheitsbedingt wahnhaft festgehalten, trotz aller rationaler Überzeugungsversuche. Tief depressive Phasen führen zur Suizidalität (s. u.). Körperliche Beschwerden gehören ins Symptombild, meist als vegetative Symptome wie Schlafstörungen, Verdauungsbeschwerden (meist Obstipation) und Gewichtsverlust. Als Hinweis auf einen stärkeren Anteil an somatischen Faktoren in der Entstehung der Erkrankung kann gewertet werden, wenn Tagesschwankungen auftreten. Diese üblicherweise als endogene Depression bezeichneten Erkrankungen zeichnen sich neben einem typischen Muster der Schlafstörung vor allem durch Tagesschwankungen mit ausgeprägtem Morgentief aus. Pflegemaßnahmen Die Patienten brauchen in dieser Phase, entsprechend ihrer Regression, Bezugspersonen, die eine warme und tragfähige „Mütterlichkeit" vermitteln können, was nicht mit „Bemuttern" verwechselt werden darf. Da die in der Depression auftauchenden emotionalen Bedürfnisse jedoch letztlich kindlichen Versagungen entsprechen, sind sie im Hier und Jetzt nicht mehr restlos stillbar. Hieraus ergibt sich, daß wir als Betreuende schnell Gefahr laufen, uns zu überfordern, wenn wir versuchen, die häufig mit Händen greifbaren Erwartungen und Bedürfnisse der Patienten zu erfüllen. Besonders kritisch wird es, wenn man sich auf „exklusive" Zweierbeziehungen mit einem depressiven Patienten einläßt, ein Beziehungsmuster, das Depressive leicht anbieten. Es ist wichtig, daß die intensiven Übertragungswünsche auf das ganze betreuende Team gerichtet bleiben, um der Gefahr einer Überforderung vorzubeugen. Diese erwächst auch daraus, daß Depressionen — behandelt oder unbehandelt — lange, auf jeden Fall mehrere Monate dauern. Man nimmt an, daß Depressionen etwas zu tun haben mit nicht gelebter Trauer. Wie bereits erwähnt, gehen depressiven Erkrankungen nicht selten Verlusterlebnisse voraus. In der Regel reagieren wir auf schwere Verluste mit einem Trauerprozeß, der gekennzeichnet ist von Verzweiflung, Trauer und Wut. Man nimmt an, daß aus hier nicht weiter ausgeführten psychodynamischen Gründen das bewußte Erleben von Trauer und Wut blockiert ist, woraus sich dann die Depression ergibt. Die nicht gelebte Wut kann jedoch sehr wohl im therapeutischen Prozeß auftauchen und zwar in der Form, daß die Betreuenden im Laufe des Krankheitsprozesses zunehmend wütender auf den depressiven Patienten werden. Anhaltende Klagsamkeit, ausbleibende Besserung trotz intensiver therapeutischer Bemühungen und eine unersättliche Erwartungshaltung machen eine solche Reaktion auf Seiten der Betreuer verstehbar. Ein Kunstfehler wäre es allerdings, diese Wut dem Patienten zurückzugeben, ζ. B. mit der Begründung, ihn damit
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„aufrütteln" zu wollen. In der Erkrankungsphase hat der Patient zu diesem Anteil seines Seelenlebens keinen Zugang. Er würde sich nur unverstanden fühlen und mit vermehrter Depression auf die zurückgespiegelte Wut reagieren. Die in der Behandlung von Depressiven immer wieder auftauchenden wütenden Affekte müssen in Teambesprechungen bearbeitet und abgeleitet werden. Nicht selten erscheinen Familienkonflikte des Patienten, die in der Entstehung der Depression eine Rolle gespielt haben, „zum Greifen". Es hat jedoch keinen Sinn, diese in den Anfangsphasen der Erkrankung mit dem Patienten bearbeiten zu wollen. Die Konfliktbearbeitung ist späteren Phasen der Erkrankung vorbehalten. In der Depression ist es vielmehr wichtig, dem Patienten immer wieder zu helfen, seine krankheitsbedingte Fehlwahrnehmung zu korrigieren. Hierzu gehört in allererster Linie, dem Patienten immer wieder deutlich zu machen, daß das, was er dauernd erlebt, Krankheit ist, und daß diese Krankheit zwar dauert, aber in aller Regel vorübergeht, daß das Erleben großer Schuld, bevorstehender Katastrophen etc. der Krankheit zuzurechnen ist und nicht etwa einem tatsächlichen, realen Problem. 20.4.1.2
Manie
Entstehung und Erscheinungsformen Als die „Kehrseite der Medaille Depression" erscheint die Manie. Sie ist wesentlich seltener als die Depression, hat aber, wie diese, unterschiedliche Erscheinungsformen. Der Maniker befindet sich meist in einer unbegründet heiter-gehobenen Stimmungslage, die aber auch in eine zornig-gereizte Stimmung umschlagen kann. Es besteht ein ausgeprägter Antriebsüberschuß mit Enthemmtheit, Distanzlosig-, Schamlosig- und Zudringlichkeit; das Denken ist ideenflüchtig bei pausenlosem Redefluß. Das Schlafbedürfnis ist deutlich reduziert, manchmal gar nicht mehr vorhanden. Pflegemaßnahmen Bemerkenswerterweise gibt es zu diesem Krankheitsbild keine geschlossenen Krankheitskonzepte. Zum Verständnis paßt am besten die Formulierung, daß der Maniker „Urlaub vom Über-Ich („Gewissen)" macht. Psychodynamisch stehen dahinter häufig hochgradig belastende Lebenssituationen, unter denen der Betroffene nicht in der Depression zusammen-, sondern in der Manie „nach oben" ausbricht. Die Behandlung von manisch Erkrankten ist selbst für psychiatrisch Erfahrene immer wieder eine große Herausforderung, nicht zuletzt durch die große Nervenbelastung durch den ungeheuren Aktivitätsdrang des Patienten. Der Umgang erfordert eine „wohlwollend pädagogisch-feste Hand", die in aller Regel erst allmählich gelernt werden kann.
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20.4.2 20.4.2.1
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Schizophrenien Entstehung und Erscheinungsformen
Patienten mit dieser Erkrankung stellen die Kerngruppe psychiatrischer Patienten. Wohl keine andere Erkrankung ist für den Außenstehenden erschreckender und zugleich faszinierender. Auch für den Fachmann bleiben heute noch sehr viele Fragen unbeantwortet. Da sind zum einen die ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen, die alle unter dem Oberbegriff Schizophrenie zusammengefaßt werden: • Die Schizophrenia simplex geht eher mit einer undramatischen „Versandung" der Persönlichkeit einher, die Hebephrenic setzt bereits im jugendlichen Alter ein und führt ebenfalls rasch zu einem Persönlichkeitsverfall mit häufig läppischen und kindlichen Verhaltensweisen. • Ganz anders hingegen die katatone Schizophrenie, die einerseits von stuporösen Zuständen gekennzeichnet sein kann, die lebensbedrohliche Verläufe nehmen können, andererseits aber auch urplötzlich aggressive Ausbrüche „aus dem Nichts" hervorbringt. Das häufigste Erscheinungsbild ist das der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie, die, wie alle anderen Erscheinungsformen, vorwiegend mit formalen und inhaltlichen Denkstörungen, Störungen der Affektivität, insbesondere dem Phänomen der Ambivalenz, einhergeht, sowie Störungen des Antriebs, insbesondere in der Ausprägungsform von Autismus und Stupor. Hinzu treten aber auch noch Wahrnehmungsstörungen, vor allem Wahnwahrnehmungen und Halluzinationen (häufig in Form des „Stimmen-Hörens"), Ich-Störungen, ζ. B. Entfremdungs- und Beeinflussungserleben, Gedankeneingebung und -lautwerden. Verlauf. Noch verwirrender wird das Bild der ohnehin schon unterschiedlichen Erscheinungsformen durch ganz unterschiedliche Verläufe. Je nach Autor hat die Verlaufsforschung zwischen 8 und 25 verschiedene Verlaufsformen der Schizophrenie differenziert. Prognose. Nur etwa ein Viertel der Verläufe ist prognostisch ungünstig. Als grobe prognostische Kriterien gelten seit langem recht unverändert, daß ein früher und schleichender Beginn eine außerordentlich schlechte Prognose hat, während spät im Leben oder kurz und heftig einsetzende Erkrankungsphasen eine wesentlich bessere Prognose haben. Das Lebenszeiterkrankungsrisiko beträgt weltweit ca. 1 —2%; kulturelle oder ethnische Einflüsse sind nicht auszumachen. Das Erkrankungsbild zeigt Querverbindungen zu neurologischen Krankheitsbildern, die noch nicht endgültig aufgeklärt sind: Die erfolgreiche Behandlung einer Epilepsie mit Antiepileptika beispielsweise führt in ca. 15% der Fälle zur sog. „forcierten Normalisierung", einer Alternativpsychose, die der Schizophrenie ähnelt. Umgekehrt kann die medizinische Induktion eines Krampfanfalls (Elektrokrampftherapie EKT) eine Besserung der schizophrenen Symptomatik nach sich ziehen. Elektrokrampftherapie ist eine vergleichsweise alte Therapieform, die jedoch auch heute noch in Einzelfällen ihre Berechtigung, zudem in den letzten Jahren eine gewisse Renaissance erfahren hat.
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In der medikamentösen Behandlung von schizophrenen Psychosen kommen Neuroleptika (s. u.) zum Einsatz. Eine Nebenwirkung dieser Neuroleptika ist ein Syndrom, das der Parkinson-Erkrankung (einem neurologischen Krankheitsbild) gleicht. Umgekehrt führt die Überdosierung mit Antiparkinson-Mitteln zu schizophrenieähnlichen Zustandsbildern. Die unter Abschn. 20.2.2 erwähnte Vulnerabilitäts-Hypothese ist 1975 erstmalig für die Schizophrenie formuliert worden. Dies ist deshalb besonders wichtig, weil aus früheren Erkenntnissen der Schizophrenieforschung voreilige Rückschlüsse auf die Familie schizophren Erkrankter gezogen wurden mit erheblichen negativen Konsequenzen. Man hatte nämlich eine ganze Anzahl von destruktiven Verhaltensweisen in der kindlichen Erziehung bzw. im aktuellen Familienumgang ausund diese kausal für die Erkrankung verantwortlich gemacht: Die Angehörigen erhielten mehr oder weniger die Schuld für die Erkrankung zugesprochen. In der Folge wurden Angehörige, die sich um ihr erkranktes Familienmitglied kümmern wollten, eher wie „Ungehörige" behandelt und aus dem Behandlungsgeschehen ausgeklammert.
Inzwischen weiß man, daß diese beobachteten destruktiven Verhaltensweisen in Familien Schizophrener nicht häufiger vorkommen als in Familien ohne Schizophrene. Die daraus erwachsende Schlußfolgerung beinhaltet, daß diese Verhaltensweisen erst in Verbindung mit der Vulnerabilität des Patienten zur Erkrankung führen. 20.4.2.2 Existentielle Position des K r a n k e n Ein zentrales existentielles Problem eines jedes Schizophrenen sind seine unsicheren und durchlässigen Selbstgrenzen. Der Patient ist sich in seinem Erleben nie ganz sicher, wo er aufhört und wo die anderen anfangen. Hieraus erklären sich ζ. B. Beeinflussungserlebnisse oder auch die sog. Pseudotelepathie. Da schizophrene Patienten aufgrund ihrer unsicheren Grenzen sich schwertun, sich gegen äußere Einflüsse abzuschütten, sind sie hochsensibel für alles, was um sie herum passiert, um den Preis schneller Überforderung durch Umweltreize. Ein weiterer Ausfluß der unsicheren Grenzen ist das Nähe-Distanz-Problem vieler Schizophrener. Dieses findet seinen Ausdruck in 2 unterschiedlichen Formen. Häufiger ist, daß die Patienten Nähe als außerordentlich bedrohlich erleben, da sie in ihrem ganzheitlichen Erleben befürchten, daß der andere in sie eindringt oder sie verschlingt. Schizophrene suchen daher von sich aus häufig Möglichkeiten, eine große Distanz zwischen sich und andere zu bringen, um dieser Gefahr zu entgehen. Die andere Ausprägungsform ist die, daß eine Anzahl von Patienten genau das Gegenteil sucht, nämlich eine geradezu verschmelzende Nähe mit dem Gegenüber, eine Situation, in der wir als Betreuer uns häufig unsererseits in unseren emotionalen Grenzen bedroht fühlen. N u r eine Entwicklung zur Autonomie führt zu realitätstüchtigen Ich-Funktionen, d. h., daß die Patienten auch erhebliche kognitive Defizite haben. Es fällt ihnen schwer, die Realität korrekt wahrzunehmen, insbesondere soziale Situationen korrekt zu klassifizieren. Dies ist eine weitere Wurzel schwerer sozialer Schwierigkeiten, der Verwirrung des Patienten in der Psychose sowie der Entstehung von
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wahnhaften Erklärungsmustern. An der Genese dieser kognitiven Defizite sind u. a. sog. Double-bind-Interaktionen beteiligt; dies sind Interaktionen, in denen der Interaktionspartner in sich widersprüchliche Signale sendet (ζ. B. „komm her, geh weg"). Schizophrene Patienten sind für eine solche doppelbödige Kommunikation in besonderem Maße anfällig. — Wegen der hohen Sensibilität, verbunden mit großer Störanfälligkeit, reagieren Schizophrene empfindlich bis hin zu Erkrankungsschüben auf hohe emotionale Streßlevel. Streß bedeutet dabei intensiv ausgedrückte Emotionen, wobei es keine Rolle spielt, ob es sich um positive oder negative Emotionen handelt. Große Freude kann einen Schizophrenen ebenso destabilisieren wie großer Ärger. Auch wenn die Schizophrenien in der Vergangenheit als „Geisteskrankheiten" bezeichnet wurden, sind sie keine Erkrankung der geistig-intellektuellen Fähigkeiten, allerdings sind in der Erkrankung Denkabläufe und -inhalte gestört, was jedoch nicht die Intelligenz als solche meint.
20.4.2.3 Pflegemaßnahmen Aus den geschilderten Besonderheiten ergeben sich einige praktische Konsequenzen. Wenn wir einem schizophren Erkrankten begegnen, haben wir vor allem seine (und unsere Grenzen) zu beachten. Insbesondere müssen wir dabei auch auf das Nähe-Distanz-Problem achten. Als Besonderheit ist zu berücksichtigen, daß ein Schizophrener Nähe viel leichter ertragen kann, wenn er sie herstellt, als wenn sie ihm aufgezwungen wird. Sie werden eher in Beziehung zu einem Schizophrenen treten können, wenn Sie sich ihm zur Beziehung anbieten, aber ihm die Regulierung von Nähe und Distanz überlassen, es sei denn, er kommt Ihnen zu nahe. Dann haben Sie das Recht und die Pflicht, in angemessener Weise die Distanz wieder herzustellen. Die hohe Sensibilität der Patienten bringt es mit sich, daß sie im Zweifelsfalle viel genauer wahrnehmen, was mit uns los ist, als wir selbst. Da sie zudem für doppelbödige Kommunikation extrem störanfällig sind, ist es unsere Aufgabe, uns so eindeutig wie irgend möglich zu verhalten. Dies setzt voraus, daß wir uns selbst so vollständig wie möglich wahrnehmen, möglichst ohne Verdrängung und Verleugnung. Kommunikation ist dann für einen Schizophrenen am hilfreichsten, wenn sie klar und authentisch ist. Um den Patienten keinem zu hohen emotionalen Streß auszusetzen, sollten Sie es aber vermeiden, heftige Emotionen auch heftig auszudrücken. Wie bereits weiter oben ausgeführt, ist ein Baustein in der Genese einer Schizophrenie ein frühkindlicher Umgang mit dem später Erkrankten, der ihm eine autonome, selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung verwehrte. Um es etwas platt zu sagen, die Mutter kümmert sich nicht um den Säugling, in dem Sinne, daß sie auf seine Bedürfnisse adäquat reagiert, sondern sie „arbeitet" ihre Mütterlichkeit am Säugling „ab". Das Kind wird damit zum Gegenstand mütterlicher Fürsorge und erlebt sich auch so. Dieses Erleben ist existentiell, da ganzheitlich und von frühester Kindheit an.
Schizophrene Patienten erleben sich verdinglicht (Reifikation), wie ein Ding, mit dem etwas gemacht wird. Da ihnen eine andere existentielle Lebenserfahrung fehlt, begegnen sie auch ihren Mitmenschen in ähnlicher Weise. Wenn Sie längerfristig
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mit Schizophrenen zu tun haben, müssen Sie sich darauf einrichten, daß Sie das Gefühl bekommen, vom Patienten benutzt, manchmal sogar manipuliert zu werden. Dies ist jedoch Ausdruck der Krankheit und nicht etwa einer bösartigen Ausnutzung. Darüber hinaus liegt hier wieder das bereits erläuterte Phänomen der Gegenübertragung vor: So, wie der Patient sich als ein Ding fühlt, beginnen auch wir im Zusammenleben mit ihm, uns wie ein Gegenstand, ein Befriedigung spendender Automat zu fühlen. Dies ist ein unabdingbarer Preis, den wir zahlen müssen, wenn wir uns längerfristig auf den Umgang mit schizophren Erkrankten einlassen. Auch beim Schizophrenen ist im Umgang ein mütterliches Element gefragt, jedoch nicht wie bei der Depression unter dem Aspekt Geborgenheit. Dem steht schon die erwähnte Nähe-Distanz-Problematik entgegen. Vielmehr ist eine Hilfs-IchFunktion gefragt, d. h., daß wir mit unseren reifen Ich-Anteilen dem Patienten helfen, die Realität angemessen wahrzunehmen. Dies geschieht ζ. T. dadurch, daß wir einfach in unserem So-Sein Vorbild sind. Häufig müssen wir jedoch dem Patienten unsere Sichtweise der Dinge als Korrektur zu seiner anbieten. Hierbei müssen wir uns oft auf eine Gratwanderung einlassen, da der Patient auf eine Diskussion seines Wahns, ggf. sogar Wahnsystems, mit großer Verstörung reagiert, die sich nicht selten aggressiv äußert. Besser ist es, dem Patienten unsere Sicht der Realität anzubieten, in dem wir sie gleichberechtigt neben seine stellen; er hat dann die Wahlmöglichkeit, unsere Sichtweise vertrauensvoll zu übernehmen und seine an der unseren zu korrigieren. Dies ist eine Umgehensweise, die großer Einfühlung und einiger Erfahrung bedarf. 20.4.3 20.4.3.1
Abhängigkeitserkrankungen Sucht
Auch in dieser Gruppe haben wir es nicht mit einem einheitlichen Krankheitsbild zu tun. Zum einen gibt es eine ganze Anzahl unterschiedlicher substanzgebundener Abhängigkeiten (Alkohol-, Medikamenten-, Drogenabhängigkeit), zum anderen auch nichtsubstanzgebundene Abhängigkeiten (Arbeitssucht, Spielsucht etc.).
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf den Alkoholismus als das bedeutendste Suchtproblem. Der Alkoholismus kennt unterschiedliche Stufen und Ausprägungsformen. Als Krankheit im versicherungstechnischen Sinne ist der Alkoholismus in der Bundesrepublik erst 1968 anerkannt worden. Aus dem Krankheitsbegriff ergibt sich dabei gleich noch ein prinzipielles Problem: Gemeinhin wird Krankheit so verstanden, daß sie ein Problem ist, das von Fachleuten gelöst werden muß. Dies beinhaltet in aller Regel, daß der Patient passiv und der Therapeut aktiv ist. In der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen ist es jedoch gerade umgekehrt: Der passiv-abhängige Patient muß lernen, aktiv wieder Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.
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Eine manifeste Sucht ist stets nur die „Spitze des Eisberges", die zwar ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat, jedoch das Problem nicht ganz erfaßt. In der Regel ist eine Suchterkrankung als mißlungener Selbstheilungsversuch aufzufassen, oft liegen hier tiefergreifende psychische Probleme, Persönlichkeitsstörungen oder sogar psychiatrische Erkrankungen wie ζ. B. eine Neurose oder Psychose zugrunde. Die Klassifikation einer Suchterkrankung — wie auch der Umgang mit ihr — sind in erheblichem Maße von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der jeweiligen Kultur bestimmt. Aus den vorgenannten Tatsachen ergibt sich schlüssig, daß es eine spezifische Psychodynamik, wie ζ. B. bei den Depressionen oder Schizophrenien, für die Genese von Abhängigkeitserkrankungen nicht gibt. Sehr wohl gibt es aber eine typische Psychodynamik im Umfeld des Erkrankten. Die Transaktionsanalyse spricht vom „Opfer-Retter-Ankläger-Spiel". Selbstverständlich ist die Inszenierung dieses Spiels durch den Kranken unbewußt. Der Abhängige begibt sich in die passive „Opfer-Rolle". Aus dieser versucht ihn der „Retter" (CoAlkoholiker) zu befreien. Der dritte im Bunde „klagt" den Süchtigen ob seiner Fehlverhaltensweisen „an". In der Retter-Rolle befindet sich nicht selten der Lebenspartner, während ζ. B. der Arbeitgeber die Ankläger-Rolle übernimmt. Betrachtet man das „Spiel" eine Weile als Außenstehender, so fällt auf, daß Retter wie Ankläger äußerst aktiv sind und alle Hebel in Bewegung setzen, damit das Opfer endlich aufhört zu trinken. Das Opfer erscheint dabei aber wie im „Auge des Sturmes": Es bleibt ruhig und unverändert in seiner Position, während alles um ihn herum „wirbelt". 20.4.3.2 Pflegemaßnahmen Diese Darstellung veranschaulicht, in welch hohem Maße Süchtige in der Lage sind, ihre Umgebung unbewußt zu manipulieren. Dies stellt auch die größte Gefahr für uns professionelle Helfer dar. Aus unserem Helferimpuls heraus lassen wir uns nur allzuleicht dazu verleiten, das süchtige „Opfer" zu „retten". Nach einer geraumen Weile vergeblicher Versuche werden wir enttäuscht und frustriert in die „Ankläger-Position" wechseln und den Süchtigen verstoßen, da er sich all unseren Hilfsbemühungen widersetzt hat. Wir sind unbewußt und ungewollt dennoch zum Co-Alkoholiker geworden. — Dies heißt nun nicht, daß der Süchtige auf jede Form von Hilfe verzichten muß, vielmehr bedarf er einer besonders qualifizierten Hilfe. Eine wichtige Voraussetzung ist zunächst die Motivation des Betroffenen. Solange er nur einen Co-Alkoholiker in seinem Umfeld hat, ist es sehr unwahrscheinlich, daß der Patient aus dem Teufelskreis der Sucht herauskommen wird. Zum „Glaubensbekenntnis" der Suchttherapie gehört, daß jeder Abhängige erst seinen ganz persönlichen „Nullpunkt" auf seinem Lebensweg erreicht haben muß, ehe er wirklich zur Therapie motiviert ist. Diese Einschätzung trifft allerdings nicht immer zu, zudem ist für Außenstehende nicht immer leicht einzuschätzen, was für den einzelnen subjektiv der persönliche
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
„Nullpunkt" ist. Auf jeden Fall hat vor jeder therapeutischen Beziehungsaufnahme mit einem Suchtkranken die Überprüfung seiner Motivationslage zu stehen. Wenn wir ihm dann aus seiner Abhängigkeit helfen wollen, ist die wichtigste Regel, nie etwas für (im Sinne: an seiner Stelle) den Abhängigen zu tun, was dieser selbst tun könnte. Da Suchttherapie in aller Regel in einem Team geschieht, ist dies am besten sicherzustellen, wenn man für alle therapeutischen Prozesse Öffentlichkeit herstellt; so werden doch zustande gekommene „Retter"-Interaktionen am schnellsten entdeckt. Die Besonderheiten in den einzelnen Behandlungsphasen (Entgiftung, Entwöhnung, etc.) aufzuzeigen, sprengt den Rahmen.
20.4.4 Suizidale Handlungen Dieser Punkt ist unter den Oberbegriff Krankheitsbilder aufgenommen worden, obwohl es sich natürlich nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt. Suizidale Handlungen sind jedoch bei psychisch Kranken wesentlich häufiger als in der Normalbevölkerung, was jedoch nicht den Umkehrschluß zuläßt, daß jeder Suizid bzw. Suizidversuch von einem psychisch Kranken verübt wird. Ebenso gilt, daß bei Suizidversuchen überproportional häufig Alkohol im Spiel ist und Alkoholiker in besonderem Maße zu Suizidversuchen neigen, jedoch nicht jeder Suizid oder Suizidversuch unter Alkoholeinfluß auch gleich als Hinweis auf Alkoholismus gewertet werden kann.
Leider werden viele Suizidanten von psychiatrischer Therapie gar nicht erreicht. Das liegt daran, daß die Folgen suizidaler Handlungen zunächst meist eine körpermedizinische Behandlung erforderlich machen (Entgiftung, Wundversorgung etc.). Ist nicht im allgemeinen Krankenhaus ein Liaison-Psychiater beschäftigt, der sich gleich mit dem Patienten auseinandersetzen kann, unterbleibt eine spätere Therapie oft. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß suizidale Handlungen häufig einen kathartischen (reinigenden) Effekt haben, d. h., daß der Betroffene sich vorübergehend erst einmal ausreichend von seinen Suizidabsichten distanzieren kann. Die Forschung hat aber belegt, daß ein Suizidversuch häufig kein einmaliges Ereignis bleibt. In 20 — 30% der Fälle kommt es zu weiteren Versuchen, nach einigen Literaturangaben sogar innerhalb eines Jahres. Für den, der mit einem Suizidanten konfrontiert ist, ergeben sich 2 grundsätzliche Reaktionsweisen auf den Patienten. Gar nicht selten mobilisieren Suizidanten zunächst keine helfenden, sondern eher zurückstoßende Impulse. Man unterstellt ihnen manipulative Absichten (Beachtung heischen), nimmt die Absicht nicht ernst (es war ja nur ein appellativer Suizidversuch) oder ist einfach nur schockiert, weil da ein Mensch ein Tabu zu brechen versucht hat. — Auf der anderen Seite kann man sich auch auf den Betroffenen einlassen. In diesem Fall droht eine andere Gefahr: Der Patient hat zumindest in einer krisenhaften Zuspitzung seiner
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Lebenssituation keinen Ausweg mehr gesehen als den, sein Leben zu beenden. Damit einher geht immer ein unerträglicher Leidensdruck auf der einen Seite und eine völlige Hoffnungslosigkeit auf der anderen. Wenn Sie emotional nahe an einen solchen Menschen herangehen, laufen Sie Gefahr, von seiner subjektiven Hoffnungslosigkeit angesteckt zu werden. Nicht selten unterstellt man dann, es habe sich ja auch um einen realistischen Bilanzsuizid (-versuch) gehandelt. Ein solcher liegt aber in viel weniger Fällen vor, als man gemeinhin annimmt. Das therapeutische Bemühen muß deshalb darauf zielen, dem Patienten eine realistische Hoffnungsperspektive zu eröffnen. Dies ist in keinem Fall zu verwechseln mit simplem „Trösten". Dem psychiatrisch Erfahrenen fallt es naturgemäß leichter, aus eben dieser Erfahrung heraus, das „Prinzip Hoffnung" hochzuhalten, selbst wenn auch er im Moment keinen konkreten Aufhänger für Hoffnung zu benennen vermag. Dieses Prinzip Hoffnung ist ein ganz wichtiges Moment im Umgang mit suizidalen Patienten: Wenn auch der Betreuer keine Hoffnung mehr für den Patienten hat, wird dieser das häufig als ein stilles Eiinverständnis mit der suizidalen Handlung werten; der entsprechende Schritt wird dann um so wahrscheinlicher. Ein nicht unerheblicher Anteil psychiatrischer Arbeit beschäftigt sich nicht nur mit der Nachbearbeitung suizidaler Handlungen, sondern mit der Suizidprävention, ζ. B. im Rahmen stationärer Therapie. Hier sind für den praktischen Alltag 2 Phänomene von besonderer Bedeutung: • Zum einen gibt es in der krisenhaften Entwicklung hin zum Suizid vor der unmittelbaren suizidalen Handlung eine Phase, die als „Ruhe vor dem Sturm" bezeichnet worden ist; in dieser Phase wirkt der Betroffene meist ruhig, gelassen, abgeklärt, fast sogar heiter. Es ist wichtig, diesen höchst alarmierenden Zustand als solchen zu erkennen und nicht etwa als eine beginnende Genesung fehlzudeuten. • Zum anderen ist ein Phänomen bei der Suizidalität von Depressionskranken zu beachten. In der Krankheit kommt es in unterschiedlichem Ausmaß zu Störungen von Antrieb und Stimmung. In den tiefen Phasen der Depression mag ein Suizidimpuls da sein, mangels ausreichendem Antrieb wird er jedoch nicht in Handlung umgesetzt. Auf dem „absteigenden" wie auf dem „aufsteigenden" Ast der Erkrankung kann es jedoch zu Verschiebungen zwischen Stimmung und Antrieb kommen, d. h. ζ. B., daß die Stimmung immer noch schlecht ist, daraus eine entsprechende Suizidalität erwächst, der Antrieb inzwischen aber so weit schon gebessert ist, daß nun der Impuls auch in Handlung umgesetzt wird. Für den klinischen Alltag bedeutet dies, daß wir insbesondere in den Genesungsphasen von Depressiven die Gefahr der Suizidalität besonders beachten müssen. Dies sind nur einige wesentliche dynamische Aspekte des Phänomens Suizidalität. Das Problem Suizidalität, insbesondere die Abschätzung des aktuellen Suizidrisikos, stellt selbst für den psychiatrisch Erfahrenen eine große Herausfordereung dar. Deshalb kann jedem nur geraten werden: Wenn Sie den Eindruck haben, es mit einem Menschen in/nach einer suizidalen Krise zu tun zu haben, versuchen
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Sie, umgehend psychiatrische Hilfe einzuschalten, z. B. durch den psychiatrischen Konsiliarius oder — so gegeben — den Liaison-Psychiater am allgemeinen Krankenhaus, eine entsprechende Beratungsstelle o. ä.
20.5 Pharmakotherapie Die gängigen Psychopharmaka lassen sich in 3 große Gruppen einteilen: Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer. 20.5.1
Neuroleptika
Neuroleptika sind die bedeutendste aber auch umstrittenste Substanzgruppe. Sie lassen sich grob in hochpotente und niedrigpotente Neuroleptika unterteilen. • N u r die niedrigpotenten Neuroleptika führen in üblicher Dosierung zu einer Sedierung, machen müde und entsprechen tendenziell dem Vorwurf, Medikamente würden die Patienten ja nur „ruhigstellen". • Die hochpotenten Neuroleptika tun dies in üblicher Dosierung nicht. Ihre besondere Stärke liegt in ihrer antipsychotischen Wirkung, die sie nicht nur in der Behandlung aktueller Erkrankungsphasen entfalten, sondern auch — bei entsprechend niedrigerer Dosierung — prophylaktisch. Der Effekt beruht, vereinfacht ausgedrückt, auf einer affektiven Reizabschirmung, um die Patienten vor emotionaler Überflutung durch Überreizung zu schützen. Ohne diese Medikamente dürfte die Psychiatriereform der westlichen Industrienationen in dieser Form wohl kaum zustandegekommen sein.
Erst dadurch, daß die Patienten über die Medikamente ihr reizberuhigtes Milieu praktisch mit sich herumtragen können, war es möglich, den meisten Schizophrenen eine Daueranstaltsunterbringung zu ersparen. Allerdings bezahlen die Patienten für diesen Zugewinn an Freiheit einen recht hohen Preis. Die affektive Reizabschirmung bringt auch eine erhebliche Einengung der psychischen Lebensqualität mit sich, zudem treten aktuell und langfristig lästige und ζ. T. gefährliche Nebenwirkungen auf: Einige der neurologischen Nebenwirkungen sind irreversibel (bleibend). Zu den auffallendsten Frühnebenwirkungen zählen Störungen der Motorik, es treten Blick- oder Zungen-Schlund-Krämpfe auf. Die Patienten bilden ein Parkinsonoid aus (ein Zustandsbild ähnlich der Parkinson-Erkrankung). Es tritt eine Akathisie (Sitzunruhe) auf, die nicht mit einer psychomotorischen U n r u h e verwechselt werden darf. All diese Symptome sind jedoch reversibel. Hingegen können die nach jahrelangem Gebrauch auftretenden Spätdyskinesien einen bleibenden Schaden darstellen. Gekennzeichnet sind diese Spätdyskinesien durch unwillkürliche Bewegungen, vorwiegend der perioralen Muskulatur aber auch, in selteneren Fällen, der Extremitäten. Spätdyskinesien treten etwa in 20% aller Behandlungsfälle auf. 20% davon sind dann irreversibel.
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20.5.2
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Antidepressiva
Antidepressiva wurden — wie die Neuroleptika — ab den 50er Jahren entwickelt. Es gibt inzwischen eine ganze Anzahl von Substanzen mit unterschiedlichen Wirkprofilen, die auf die unterschiedlichen Ausprägungsformen der Depressionen abgestimmt sind.
Wie auch die Neuroleptika sind sie nicht in der Lage, die psychiatrische Erkrankung zu heilen. Im besten Falle können Antidepressiva die Symptomatik für die unbeeinflußte Dauer der Erkrankung unterdrücken. Wie alle Medikamente sind auch sie mit Nebenwirkungen belastet. Schwierig im Umgang mit so behandelten Patienten ist dann häufig, daß Medikamentennebenwirkungen von Krankheitssymptomen nicht hinreichend zu unterscheiden sind (ζ. B. Obstipation, Herzmuskelschädigungen durch Antidepressiva gegenüber „Druckgefühl in der Brust" als depressivem Symptom etc.). Neuroleptika und Antidepressiva machen nicht abhängig! 20.5.3
Tranquilizer
Ganz anders verhält es sich bei der dritten großen Substanzgruppe, den Tranquilizern, die mehr durch ihre mißbräuchliche Anwendung als durch ihren sinnvollen psychiatrischen Einsatz von sich reden gemacht haben. Fast alle Substanzen gehören zu der Gruppe der Benzodiazepine; erster Vertreter war das Diazepam unter dem Handelsnamen Valium. Die Benzodiazepine haben in unterschiedlicher Ausprägung 3 Wirkungen: krampflösend, sedierend und angstlösend. Die erstgenannte Wirkung wird vor allen Dingen in der Neurologie/Epileptologie genutzt und in geringem Umfang auch in der Orthopädie. Die beiden anderen Wirkungen sind für das hohe Mißbrauchs- und Suchtpotential verantwortlich. Es sind unterschiedliche Substanzen mit gezieltem Wirkprofil entwickelt worden: • Medikamente mit einer hohen angstlösenden Potenz sind aus einer rationalen Psychopharmakatherapie kaum mehr wegzudenken. Wo krankheitsbedingte, quälende Ängste, deren der Patient mit psychischen Mitteln nicht mehr Herr werden kann, durch Antidepressiva oder Neuroleptika nur unzureichend zu beherrschen sind, können Tranquilizer segensreiche Linderung schaffen. • Wo Schlafstörungen auf gravierende psychiatrische Erkrankungen zurückzuführen sind, ist ein entsprechender Medikamenteneinsatz ebenfalls zu rechtfertigen. Die überwiegende Verordnung dieser Substanzen erfolgt jedoch aus mehr als zweifelhafter Indikation. Wegen des hohen Abhängigkeitspotentials besteht zudem die Gefahr, Wege in die Alkoholabhängigkeit zu bahnen, da auch der Alkohol eine dosisabhängige sedierende und angstlösende Wirkung hat und anders als die Medikamente keiner Verschreibungspflicht unterliegt.
20.5.4 Praktische Konsequenzen Medikation ist naturgemäß „Arztsache". Für Pflegekräfte ist vor allem die Patientenbeobachtung wichtig. Nebenwirkungen können so früher erkannt und berücksichtigt werden, wobei hier auf eine detaillierte Darstellung der Nebenwir-
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
kungen verzichtet wird. Bei manchen unerwünschten Wirkungen, ζ. B. den Dyskinesien bei den Neuroleptika, kann der Patient sich auf Grund der Symptomatik vielleicht gar nicht mehr äußern und ist auf die fürsorgliche Beobachtung angewiesen. Grundsätzlich ist es einfach wichtig, bei jeglichen Beschwerden, über die der Patient klagt, auch daran zu denken, daß es sich um eine Nebenwirkung der Pharmakatherapie handeln kann, daß ζ. B. „Bauchschmerzen" zigmal Ausdruck des depressiven Symptoms Obstipation waren, schließt nicht aus, daß sie jetzt die medikamentös bedingte Harnsperre signalisieren. Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem Umstand, daß in psychiatrischer Therapie Bedarfsmedikationen durchaus häufig verordnet werden. Eine auffallend frequente Nachfrage des Patienten sollte die Pflegekraft daran denken lassen, daß hier eine Abhängigkeitsentwicklung einsetzen könnte. Abschließend ist zu sagen, daß die verfügbaren Psychopharmaka aus der heutigen psychiatrisch-therapeutischen Landschaft nicht mehr wegzudenken sind. Als rationale Therapie haben sie Anspruch auf diesen Platz. Es besteht jedoch die große Gefahr, daß eine Psychopharmakatherapie die psychotherapeutischen Aspekte psychiatrischer Arbeit verdrängt, nicht zuletzt, weil sie einfacher, weniger zeitaufwendig, weniger personalintensiv, damit einfach billiger ist.
21. Anästhesie, Intensivpflege Manfred Braun
Die Anästhesie hat besonders in den letzten Jahren eine stürmische Entwicklung genommen. Die Entdeckung von Äther und Lachgas (Stickoxydul) sind dafür verantwortlich, daß Operationen schmerzfrei durchgeführt werden konnten. Auch die Einführung des Curare in die Anästhesie hat viele Eingriffe erleichtert oder überhaupt erst möglich gemacht. In den letzten 60 Jahren wurde die Anästhesie in ihrer Anwendung sicherer und differenzierter. Mittlerweile werden auch verschiedene Anästhetika kombiniert, um eine bessere Wirkung bzw. weniger Nebenwirkungen zu erzielen. Ein weiteres Betätigungsfeld der Anästhesie liegt in der Behandlung von chronischen Schmerzen (ζ. B. Tumorpatienten), was sicher in der Zukunft noch stärkere Beachtung finden wird. Für den Bereich der Intensivmedizin wurden seit 1930 spezielle Räume in Kliniken für Frischoperierte zur Verfügung gestellt. Eine große Polioepidemie (1948 — 1952) zwang zur Konzentrierung von Patienten auf speziellen Beatmungsstationen. Mit den großen Fortschritten in der Akutmedizin entwickelten sich auch die Intensivstationen zu leistungsstarken Intensivpflegeeinheiten, die heute optimale, organisatorische, apparative und personelle Voraussetzungen für die Versorgung von Schwerstkranken bieten.
21.1 Intensivpflege Die Intensivpflege beinhaltet sowohl die Intensivüberwachung (Patienten, deren Vitalfunktionen überwacht werden müssen) als auch die -behandlung (Patienten, deren vitale Funktionen bedroht oder bereits gestört sind). Die eigentliche Pflege des Intensivpatienten stellt hohe Anforderungen an das Pflegepersonal und geht weit über das übliche M a ß der pflegerischen Versorgung des Patienten auf einer Normalstation hinaus. Die Indikation zur Intensivbehandlung besteht im wesentlichen bei folgenden Krankheitsbildern: • schwere respiratorische Insuffizienzen und schwere Traumen (ζ. B. Schädel-HirnTrauma), • große Operationen (Eingriffe am Thorax, an Gefäßen usw.), • Schockzustände verschiedener Genese und Zustand nach Reanimation, • schwere Störungen von Wasser- und Elektrolythaushalt, • akute kardiale Erkrankungen (Infarkt, Rhythmusstörungen, Lungenembolie), • Intoxikationen, akute Niereninsuffizienz, Komata verschiedener Genese, schwere Verbrennungen. Die Indikationen für eine Intensivtherapie sollten streng gestellt werden, da Intensivstationen nicht nur Vorteile sondern auch eine Anzahl von Nachteilen beinhalten.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Vorteile der Intensivbehandlungseinheit sind: ununterbrochene Pflege durch besonders geschultes Personal, komplizierte pflegerische Maßnahmen werden zur Routine, sinnvolle Konzentration teurer Geräte, schnelle Behebung von Notfallsituationen, andere Personalbedarfsberechnung, bauliche Strukturen. Nachteile der Intensivbehandlungseinheiten sind: hohe Kosten, hohe psychische Belastung für Patienten und Personal, hohe Infektionsrate, hohe Sterberate im Vergleich zur Normalstation.
21.2 Aufgaben des Pflegepersonals 21.2.1
Anästhesie
Besonders in der Anästhesie ist über die Aufgaben des Pflegepersonals sehr heftig diskutiert worden. Bis in die 60er Jahre hinein wurden Narkosen häufig von erfahrenem Pflegepersonal selbständig durchgeführt. Die systematische Ausbildung von Ärzten im Fachgebiet Anästhesie mußte zwangsläufig dazu führen, über die Aufgaben des Pflegepersonals in der Anästhesie neu nachzudenken.
Aufgaben des Pflegepersonals sind: • Bereitstellung von Medikamenten und technischen Geräten, die in der Anästhesie gebraucht werden, • Betreuung des Patienten unmittelbar vor der Narkose, • Assistenz bei der Narkoseeinleitung und Überwachung und Durchführung der Narkose unter Aufsicht des Anästhesisten, • exakte Protokollführung und postoperative Überwachung im Aufwachraum. Aufgaben und Kompetenzen von Pflegepersonal sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich geregelt.
21.2.2
Intensivstationen
Der Anspruch Pflegepersonal und Ärzte auf einer Intensivstation als Behandlungsteam zu verstehen, bedingt eine Zusammenarbeit im ärztlichen und pflegerischen Bereich. Juristisch gesehen bleibt der Arzt dabei immer in der Gesamtverantwortung. Die vielfältigen Aufgaben setzen eine hohe Einsatzbereitschaft, Können und Kompetenz voraus. Aufgaben des Pflegepersonals sind: • Grundpflege und Durchführung von Prophylaxen, • spezielle Pflege von Kathetern, Sonden und Drainagen, • spezielle pflegerische Maßnahmen bei beatmeten Patienten, • spezielle pflegerische Maßnahmen orientiert am jeweiligen Krankheitsbild, • Messung der verschiedensten Vitalparameter (Atmung, Kreislauf, Z V D , Körpertemperatur und Ausscheidung), • Überwachung der Beatmungsparameter, des Monitorings und Überwachung aller von Monitoren aufgezeichneten Kurven,
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671
• Erstellen von Flüssigkeitsbilanzen, künstlicher Ernährung, • Durchführung und Überwachung von medikamentösen Therapien, • Erstellen von Überwachungsprotokollen. Um diese Aufgaben fachgerecht durchführen zu können, ist für das Pflegepersonal in der Anästhesie und Intensivstation eine zusätzliche Weiterbildung erforderlich. Hierzu werden entsprechende 2jährige Weiterbildungslehrgänge angeboten. Als Zugangsvoraussetzungen für diesen Lehrgang gelten die abgeschlossene Krankenpflegeausbildung und eine 2jährige Berufserfahrung, davon mindestens 6 Monate im Bereich der Intensivpflege. Leider gibt es zur Zeit für diese Weiterbildung noch keine bundeseinheitlichen Richtlinien.
21.3 Rechtsauffassungen Bezüglich der Tätigkeit von Pflegepersonen auf Allgemein- und Intensivstationen existieren unterschiedliche Rechtsauffassungen: Nach der zur Zeit gültigen Rechtsauffassung ist die Verweigerung von ärztlichen Tätigkeiten auf Normalstationen im Einzelfall durchaus zulässig. Dies gilt nicht in gleichem Maße für Pflegepersonen auf einer Intensivstation. Hierbei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Pflegepersonal mit einer 2jährigen abgeschlossenen Fachweiterbildung und Pflegepersonal ohne Weiterbildung. Eine i. v. Injektion (es handelt sich hier eindeutig um eine ärztliche Tätigkeit) kann von einer Fachkrankenschwester/pfleger nicht abgelehnt werden. Dies wird insbesondere dadurch begründet, daß Pflegepersonal nach Abschluß der Fachweiterbildung über eine entsprechende Qualifikation zur Durchführung ärztlicher Tätigkeiten verfügt. Da es sich bei Intensivpatienten auch häufig um Notfälle handelt, würde möglicherweise die Ablehnung von ärztlichen Tätigkeiten durch das Pflegepersonal zu einer erheblichen zusätzlichen Gefährdung des Patienten führen (Verpflichtung zur Hilfeleistung § 323 c StGB). Intensivpersonal ohne Weiterbildung kann ärztliche Tätigkeiten ablehnen, da unter Umständen entsprechende Qualifikationen fehlen.
21.4 Verhalten bei Notfällen Grundsätzliche Verhaltensprinzipien bei Notfällen lassen sich sehr gut am Beispiel der kardiopulmonalen Wiederbelebung darstellen, da die Basismaßnahmen standardisiert sind und sich an den Empfehlungen der American Heart Association orientieren.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
21.4.1 Atem- und Kreislaufstillstand Ursachen des Atemstillstandes sind: • Verlegung der Atemwege: Die Atemwege können verlegt sein durch Erbrochenes, Fremdkörper, zurückgesunkene Zunge, usw. • Zentralnervöse Ursachen: Verantwortlich sind hier insbesondere schwere Hirntraumen, Intoxikationen, zerebrale Insulte, Blutungen usw. • Störungen des Gasaustausches: ζ. B. Lungenödem und Aspiration bewirken eine Störung des Gasaustausches. Der Atemstillstand kann innerhalb von wenigen Minuten zum Kreislaufstillstand führen (Gewebshypoxie am Herzen). Ein Kreislaufstillstand führt innerhalb von 30 — 60 Sekunden zum Atemstillstand. Ursachen des Kreislaufstillstandes sind: • Respiratorische Störungen, Störungen der Atmung führen wie oben beschrieben durch die Sauerstoffminderversorgung des Herzens zum Kreislaufstillstand. • Kardiale Ursachen·. Herzrhythmusstörungen, myokardiale Insuffizienz (Infarkt), Perikardtamponade sind häufige Ursachen für einen Kreislaufstillstand. • Zirkulatorische Ursachen: Hämmodynamische Störungen wie Schock und Lungenembolie verursachen durch zirkulatorische Störungen einen Kreislaufstillstand. • Zeichen des Atemstillstandes sind: — Fehlende Thoraxexkursion oder paradoxe Atmung, — keine hörbare oder fühlbare Luftströmung, — extreme Bradypnoe, • stridoröse Atemgeräusche, Schnappatmung (s. Abb. 9-1, S. 541). • Zeichen des Kreislaufstillstandes sind (s. Abb. 4.1-2, S. 339): — Puls- und Bewußtlosigkeit (nach 5 — 10 Sekunden), — Schnappatmung (nach 20 — 30 Sekunden), — Pupillenerweiterung und Zyanose oder Blässe. 21.4.1.1
Basismaßnahmen
• A = Atemwege freimachen. Beim bewußtlosen Patienten wird der Mund geöffnet und ggf. von Fremdkörpern befreit. Auf der Intensivstation besteht jederzeit die Möglichkeit, den Patienten abzusaugen. Die Atemwegsobstruktion durch die zurückfallende Zunge kann relativ leicht durch die Reklination des Kopfes nach hinten, Öffnen des Mundes und Vorziehen des Unterkiefers beseitigt werden, Esmarch-Handgriff (Abb. 21-1). Durch Hilfsmittel wie Guedel/Safar-Tubus können die Atemwege freigehalten werden. • Β = Beatmung. Die Mund-zu-Nase- bzw. Mund-zu-Mund-Beatmung spielt auf der Intensivstation keine Rolle, da entweder der Patient mit Maske und Beatmungsbeutel oder mittels Intubation beatmet wird.
Anästhesie, Intensivpflege
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Abb. 21-1: E s m a r c h - H a n d g r i f f .
Abb. 21-2: Beatmung und Beatmungsbeutel und -maske.
Bei der Maskenbeatmung wird der Kopf des Patienten überstreckt und die Maske fest im sogenannten C-Griff auf die Mund-Nasen-Partie aufgesetzt (Abb. 21-2). Die Beatmung über Maske und Beatmungsbeutel hat den Vorteil, daß die inspiratorische Sauerstoffkonzentration (Anschluß von Sauerstoff an den Beutel) wesentlich höher ist als bei der Mund-zur-Nase-/Mund-zu-Mund-Beatmung, was eine Verbesserung der Oxigenierung bedeutet. Die Gefahren bei dieser Beatmungsform liegen in technischen Komplikationen (nicht dichtsitzende Maske) bzw. in einer Überblähung des Magens (Aspirationsgefahr). Optimal für die Sauerstoffversorgung des Patienten ist die endotracheale Intubation (ärztliche Maßnahme), da eine sichere 0 2 -Versorgung und ein weitgehender Aspirationsschutz gewährleistet sind. Ferner erlaubt die Intubation die endobronchiale Absaugung und die endobronchiale Gabe von einigen Notfallmedikamen• C = Zirkulationsbehandlung. Ist kein Puls an den großen Gefäßen, A. carotis, A. femoralis (s. Abb. 4.1-1, S. 338) tastbar, muß mit der externen Herzmassage begonnen werden:
674
Krankenpflege in spezifischen Situationen
Abb. 21-3: Ein-Helfer-Methode der kardiopulmonalen Reanimation.
Der Patient sollte zu Beginn der Herzdruckmassage flach auf eine harte Unterlage gelagert werden (Boden oder Herzbrett), da sonst die Wirbelsäule zurückweicht und eine Kompression des Herzens unmöglich macht. Der Helfer steht seitlich neben dem Patienten. Der Druckpunkt liegt im unteren Brustbeindrittel (4 cm oberhalb des Prozessus xiphoideus). Beide Hände werden übereinander auf dem Druckpunkt lokalisiert, wobei die Finger den Thorax nicht berühren. Der Helfer bringt seine Schulter bei durchgedrückten Ellenbogen senkrecht über den Druckpunkt. Die Eindrucktiefe des Sternums beträgt 4—5 cm. Die Wiederbelebungsmaßnahmen können sowohl in der Ein- bzw. Zwei-Helfer-Methode durchgeführt werden: • Präkordialer Schlag. Der aus 30 cm Höhe durchgeführte Faustschlag auf die Mitte des Brustbeins hat zum Ziel, eine elektrische Aktion am Herzen hervorzurufen, die zu einer myokardialen Kontraktion führt. Als Erstmaßnahme kommt er jedoch nur dann zur Anwendung, wenn der Kreislaufstillstand am Monitor beobachtet wird, das Herz nicht länger als 30 Sekunden hypoxisch ist und eine schwere Bradykardie bis hin zur Asystolie oder eine Kammertachykardie bis hin zum Kammerflimmern vorliegen.
• Ein-Helfer-Methode. Nach 2 Beatmungen werden 15 Herzkompressionen durchgeführt (Abb. 21-3). • Die Zwei-Helfer-Methode (Abb. 21-4) ist für den Patienten wesentlich effektiver. Der erste Helfer beginnt mit zwei Insufflationen, wobei der zweite Helfer (nach Pulskontrolle an den großen Gefäßen) anschließend mit der Herzdruckmassage beginnt. Nach jeder fünften Kompression wird der Patient beatmet. Die Thoraxkompression kann am Ende der Inspiration sofort wieder aufgenommen werden. Die Beatmungsfrequenz liegt bei 12 —16/min, die Kompressionsrate bei 80 — 100/min.
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Abb. 21-4: Zwei-Helfer-Methode der kardiopulmonalen Reanimation.
Bei intubierten Patienten erfolgen die Beatmung und die Thoraxkompressionen unabhängig voneinander. Die Effektivitätskontrolle der Wiederbelebungsmaßnahmen orientiert sich an den gleichen Kriterien, die für die Feststellung des Kreislaufstillstandes herangezogen werden. • Komplikationen. Bei der externen Herzdruckmassage kann es besonders zu Frakturen der Rippen und des Sternums kommen. Innere Organe wie Leber, Milz können unter Umständen auch verletzt werden. 21.4.2 Praktisch wichtige Notfallsituationen 21.4.2.1
Lebensbedrohliche N a r k o s e k o m p l i k a t i o n e n
Herz-Kreislauf-Komplikationen • Hypotension. Eine schwere Hypotension ist gekennzeichnet durch den Abfall des systolischen Drucks um mehr als 30% vom Ausgangswert. Ursachen dafür können sein: — Volumenmangel. Eine unzureichende Flüssigkeitszufuhr bzw. große Blutverluste können für einen Blutdruckabfall verantwortlich sein, — verminderter venöser Rückfluß. Extreme Lagerungen bei bestimmten Operationen bzw. ein reduzierter venöser Rückfluß (Kompression der V. cava inferior) führen zu einem verminderten venösen Rückfluß, — Vasodilatation. Viele Narkotika lösen eine Vasodilatation aus (Halothan, i. v. Narkotika, Muskelrelaxantien). Eine Vasodilatation kann auch durch anaphylaktische Reaktionen hervorgerufen werden.
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• Negativ inotrop wirkende Medikamente. Viele in der Anästhesie verwendete Medikamente wirken negativ inotrop was zu Herz- und Kreislaufkomplikationen führen kann. Die Behandlung besteht im wesentlichen in der Volumengabe, in der Aufhebung von extremen Lagerungen und evtl. der Verabreichung von Medikamenten, die eine Vasokonstriktion bewirken, • Hypertension. Als Ursache für eine Hypertonie kann sehr häufig eine zu flache Narkoseführung in Frage kommen. Die Hypertonie ist deshalb so bedrohlich, weil dadurch der myokardiale Sauerstoffverbrauch erhöht wird. Therapeutisch stehen vor allem die Vertiefung der Narkose sowie die Vermeidung von Hyperkapnie und Hypoxie im Vordergrund. Ist die Hypertonie durch vorbestehende Erkrankungen hervorgerufen, sollte u. U. eine medikamentöse Senkung des Blutdrucks eingeleitet werden (Vorsicht bei bestehendem Hypertonus), • Herzrhythmusstörungen (s. Abb. 4.1-2, S. 339). Bradykarde Rhythmusstörungen können Ausdruck einer organischen Herzerkrankung sein. Viel häufiger werden jedoch Bradykardien durch Reizung des Nervus vagus ausgelöst (peritoniale Reizung, okulokardialer Reflex). Wird dieser Vagusreiz unterbrochen, normalisiert sich die Frequenz in der Regel von selbst. Die Gabe von Muskelrelaxantien oder Lokalanästhetika können möglicherweise auch für eine Bradykardie verantwortlich sein und u. U. mit Atropin therapiert werden. Tachykardien entstehen sehr häufig in der Anästhesie im Zusammenhang mit einer zu flachen Narkoseführung. Natürlich führt auch eine Hypovolämie (siehe Schock) zu einer Steigerung der Herzfrequenz. Eine Vertiefung der Narkose bzw. eine präund intraoperative Volumenauffüllung kann möglicherweise schnell Abhilfe schaffen. Für eine Tachykardie können ursächlich aber auch Hyperthyreose, Katecholamine, Infarkt und Lungenembolie verantwortlich sein. Plötzliche Extrasystolen stellen ein hohes Risiko in der Anästhesie dar. Sie sind häufig die Folge von organischen Herzerkrankungen und von Störungen des Elektrolythaushaltes (Kalium). Als Maßnahme empfiehlt sich eine Astrup- bzw. Elektrolytkontrolle und ggf. eine entsprechende Therapie. Bei gleichzeitiger Anwendung von Inhalationsanästhetika (Halothan) und Sympatikomimetika kann es auch zu Rhythmusstörungen kommen, • Luftembolie. Die Luftembolie gehört sicher zu den selteneren Komplikationen in der Anästhesie, stellt für den Patienten jedoch eine akute lebensbedrohliche Situation dar. Man kann hierbei unterscheiden zwischen venösen und arteriellen Luftembolien. Venöse Luftembolien entstehen entweder durch Druck (ζ. B. Transfusion mit Druckbeutel) oder durch Sog. Besonders gefährdet sind Patienten mit einem niedrigen zentralen Venendruck (Ansaugen von Luft durch großlumige Venenkatheter) und Eingriffen an großen Venen im Kopf, Hals, Thorax und Abdomen. Die eingedrungene Luft gelangt über das venöse Gefäßsystem und führt dort zu einer Schaumbildung, was eine Verminderung des Schlagvolumens zur Folge hat. Durch die Pulmonalarterie gelangt das Blut in den pulmonalen Kreislauf, was
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eine akute Erhöhung des Strömungswiderstandes verursacht. Letzteres bewirkt ein akutes Rechtsherzversagen und eine Verminderung des Herzzeitvolumens. Die Behandlung besteht in einer raschen Kopftieflage des Patienten, so daß das Herz höchster Körperpunkt wird. Durch Drehen des Patienten zur linken Seite kann die Luft im rechten Herzen zurückgehalten und dort unter Umständen mittels eines Katheters abgesaugt werden (ζ. B. Vorhofkatheter bei Operationen der hinteren Schädelgrube). Ausfallserscheinungen bei Patienten mit arteriellen Luftembolien werden schon durch geringste Mengen Luft verursacht. Respiratorische Komplikationen • Die Fehlintubation eines relaxierten Patienten in den Ösophagus bzw. in einen Hauptbronchus stellt eine lebensbedrohliche Situation dar, die, wenn sie nicht behoben wird, zum Tod des Patienten führt. Zeichen für die Ösophagusintubation sind: — fehlendes Capnometriesignal, Aufblähen des Magens, — fehlende Thoraxexkursionen bzw. fehlender Auskultaionsbefund, — Zeichen einer Sauerstoffminderversorgung.
• Die einseitige Intubation manifestiert sich in unsymmetrischer und fehlendem Atemgeräusch auf der betroffenen Seite.
Thoraxbewegung
Hier ist eine sofortige Korrektur der Tubuslage erforderlich. Um eine Fehllage des Tubus zu vermeiden, sollte die Auskultation der Lungen nach jeder Intubation erfolgen. • Weitere Komplikationen am Tubus können sein: — Tubusobstruktion durch Abknicken und Obstruktion durch Sekret, — Undichtigkeit der Manschette und Tubushernie (Ballon legt sich vor die Tubusöffnung), — Diskonnektion (zwischen Tubus und Beatmungsgerät). • Laryngospasmus. Darunter versteht man einen Verschluß des Kehlkopfes durch einen Spasmus der Stimmbänder, so daß keine Luft mehr durchströmen kann. Auslösende Ursachen können sein: Sekret, Blut, Erbrochenes, der Tubus selbst bei zu flacher Narkose sowie Hypoxie und periphere Reizung von Nerven, Muskeln und Gewebe. Beim nichtintubierten Patienten führt der Laryngospasmus zu einer schweren Behinderung des Gasaustausches. Der Patient zeigt eine sog. paradoxe Atmung (vorgewölbtes Abdomen, eingezogener Thorax) und pathologische Atemgeräusche. Im weiteren Verlauf kommt es zu Zyanose, Blässe, Tachykardie, Blutdruckanstieg und später zu Bradykardie, Blutdruckabfall und letztendlich zum Tod des Patienten durch Hypoxie.
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
Die Behandlung dieses Notfalls erfordert die Beseitigung der auslösenden Ursachen und einen sofortigen Ventilationsversuch mittels dichtsitzender Maske und 100% Sauerstoff. Bleiben diese Versuche ohne Erfolg, sollte der Patient relaxiert und mit 100% Sauerstoff über eine Maske beatmet werden (Vertiefung der Narkose). • Beim Bronchospasmus kommt es zu einer anfallsartigen Verengung der Bronchien, die durch eine Kontraktion der Bronchialmuskulatur hervorgerufen wird. Die Kontraktion der Bronchien kann ausgelöst werden durch Asthma bronchiale, Medikamente (Barbiturate), den Tubus (vor allem bei zu flacher Narkose) und allergische Reaktionen. Beim intubierten Patienten fällt ein Bronchospasmus vor allem durch einen erhöhten Beatmungsdruck auf. Weitere Zeichen sind Tachykardie, Hypertonie und Zyanose. Therapeutisch empfiehlt sich die Vertiefung der Narkose und evtl. eine entsprechende Applikation von Medikamenten, die die Bronchien erweitern. • Die wohl am meisten gefürchtete Komplikation in der Anästhesie ist die Aspiration. Gefährdete Patientengruppen sind: • Patienten, bei denen eine Nahrungskarenz von weniger als 6 Stunden besteht und anästhesiert werden müssen, — Patienten mit Ileus oder Magenausgangsstenose sowie Schwangere, — Patienten mit gastrointestinalen Blutungen, — Patienten mit Polytrauma, die notfallmäßig operiert werden müssen. (Vorsicht! Möglicherweise reicht gerade bei diesen Patienten die 6 — 8 Stunden Nahrungskarenz nicht aus.) Bei der Aspiration können große Speisereste die oberen Atemwege verlegen bzw. saurer Magensaft zu einer direkten Schädigung des Lungenprenchyms führen. Die Gefahr der Aspiration ist auch deshalb so groß, weil beim anästhesierten Patienten die Rachenschutzreflexe teilweise oder ganz aufgehoben sind. Bei einer Aspiration kann es weiterhin zu Laryngospasmus, Bronchospasmus, Pneumonie, Lungenabszeß und Lungenödem kommen. Die Symptomatik hängt im wesentlichen vom aspirierten Material ab. Handelt es sich um eine Verlegung der Atemwege kann es zu Atemnot, paradoxer Atmung und einem verminderten oder aufgehobenem Atemgeräusch kommen. Bronchospasmus, Rasselgeräusche, Zyanose und Hypoxämie sind klinische Symptome bei der Aspiration von Flüssigkeiten. Therapie. Nach einer Aspiration sollte der Patient sofort intubiert, abgesaugt und mit 100% Sauerstoff beatmet werden. Der Patient sollte im weiteren Verlauf bronchoskopiert werden, um ggf. festes Material zu entfernen. Eine medikamentöse Therapie (Bronchodillatatoren, Kortikosteroide evtl. Antibiotika) sollte je nach Zustand eingeleitet werden.
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21.4.2.2 Schock Unter einem Schock versteht man eine hämodynamisch bedingte Störung der Gewebsperfusion, die ein Mißverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und -bedarf zur Folge hat. Folgereaktionen des Schocks sind zuerst reversible, später irreversible Schäden an den Organen. Da ein Schock durch verschiedene Ursachen ausgelöst werden kann, ist folgende Einteilung sinnvoll: Schockeinteilung nach auslösender Ursache: • hypovolämischer Schock. Ursache: ζ. B. Blut-, extreme Wasser-, Plasmaverluste, • kardiogener Schock. Ursache: ζ. B. Herzinfarkt, -rhythmusstörungen, -beuteltamponade, Lungenembolie, • anaphylaktischer Schock. Ursache: ζ. B. Fremdeiweiße, Medikamente, Kontrastmittel, • neurogener Schock. Ursache: ζ. B. Hirnstamm- und Rückenmarkstraumen, Intoxikationen, neurogene Reflexe. 21.4.2.3 Klinik und Behandlung des hypovolämischen Schocks Der Patient bietet eine Vielzahl von Symptomen, die genauestens zu registrieren sind. Zeichen eines ausgeprägten Schocksyndroms sind: • Blutdruckabfall, Pulsanstieg, ZVD erniedrigt, • Störungen der Atmung (Zyanose beachten) und Veränderung der Blutgase {Azidose), • verminderte Urinausscheidung (Oligurie), Gerinnungsstörungen. Subjektive Symptome sind: Schwäche, Müdigkeit, Schwindel, kalte, blasse Haut, Durstgefühl, Lufthunger. Das Ausmaß des Schocks wird u. a. bestimmt durch: — das Alter des Patienten (Kinder und alte Menschen reagieren schneller und empfindlicher als junge Patienten), — die Geschwindigkeit des Blutverlustes (je schneller der Volumenverlust, um so ausgeprägter ist die Schocksymptomatik), — Allgemeinzustand und evtl. bestehende Begleiterkrankungen, — die Menge des Volumenverlustes (ca. 7% des KG = Blutvolumen): Volumenverluste bis zu 10% sind von gesunden Menschen ohne Schockzeichen zu kompensieren. Ein 30%iger Volumenverlust hat meist einen schweren Schock zur Folge. Ziel der Therapie ist die Wiederherstellung der Herz-Kreislauf-Funktion die Sauerstoffversorgung der Organe. Im Vordergrund stehen:
und
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Krankenpflege in spezifischen Situationen
• Ausschaltung der Ursachen (Blutstillung, Verhinderung von weiteren Volumenverlusten): Hierbei ist zu beachten, daß u. U. eine sofortige chirurgische Therapie einzuleiten ist. • Sicherung der Sauerstoffversorgung: Die Freihaltung der Atemwege und die Verabreichung von Sauerstoff über eine Maske ist unbedingt erforderlich (s. Abb. 21-2). Evtl. sollte der Patient frühzeitig intubiert und beatmet werden. • Volumenersatz. Initial werden in der Regel kolloidale Plasmaersatzlösungen verabreicht: Dextrane, Gelatine, HydroxiäthyIstärke. Diese Substanzen haben nicht nur einen Volumeneffekt, sondern verbessern auch die Fließeigenschaften des Blutes im Mikrozirkulationsbereich. Erythrozytenkonzentrate werden vor allem dann notwendig, wenn die Zahl der Sauerstoffträger zu stark abgesunken ist. Zur raschen Volumenzufuhr sollten mehrere großlumige Venen punktiert werden. Ein zentraler Venenkatheter ist für die Überwachung des Patienten von Vorteil. • Korrektur der Azidose: Bei einer ausreichenden Gewebsperfusion versucht der Körper selbst die Azidose zu beheben. Bleibt die Mikrozirkulationsstörung länger bestehen, ist eine evtl. Korrektur des Säure-Basen-Haushalts mit Natriumbikarbonat anzustreben. • Vasodilatatoren: Medikamente dieser Gruppe verbessern die Mikrozirkulation indem sie die prä- und postkapilläre Gefäßkonstriktion aufheben. Zu beachten ist jedoch, daß dem Patienten vorher ausreichend Volumen substituiert werden sollte. Weitere Medikamente, die im hypovolämischen Schock gegeben werden, sind: • Dopamin. Es handelt sich bei diesem Medikament um eine Vorstufe des Noradrenalins. Es verbessert in geringer Dosierung die renale und mesenteriale Durchblutung ohne Herzfrequenz und Blutdruck zu erhöhen. • Gerinnungsfaktoren. Die häufig im Schock entstehende Verbrauchskoagulopathie wird in der Regel mit Gerinnungsfaktoren in Kombination mit Heparin therapiert. • Osmotherapie. Vor allem bei Oligurie oder Anurie sollte möglicherweise eine Osmotherapie eingeleitet werden, nachdem das Volumen des Patienten normalisiert ist. • Analgetika. Die Schmerzbekämpfung beim Schock darf nicht vernachlässigt werden. Hierzu eignen sich am besten Morphine, da keine kardiozirkulatorische Beeinträchtigung von diesem Medikament ausgeht. Pflegerische Maßnahmen Der Patient im Schock bedarf neben der üblichen pflegerischen Maßnahmen einer ganz besonderen Überwachung. • Herz-Kreislauf-Funktion. Die Herzfrequenz sollte kontinuierlich mittels eines Monitors überwacht werden. Hierbei sollte vor allem auf auftretende tachykarde und bradykarde Rhythmusstörungen geachtet werden. Wie schon oben erwähnt, spielt auch der Blutdruck eine zentrale Rolle im Schockgeschehen. In der Regel
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wird eine blutige Druckmessung (Kanülierung der A. radialis) durchgeführt, da sie eine genauere und kontinuierlichere Messung ermöglicht. Z u d e m kann leicht Blut f ü r eine arterielle Blutgasanalyse abgenommen werden. • Atmung. D a die Lungen sehr früh in das Schockgeschehen mit eingezogen sind (Ausbildung einer Schocklunge), ist die Sicherung der Sauerstoffversorgung engmaschig zu überwachen und ggf. zu korrigieren. Auch die häufige Kontrolle der Blutgase ermöglicht eine genaue Beurteilung von Sauerstoffgehalt und -Sättigung des Blutes. Eine intensive Pneumonieprophylaxe ist von besonderer Wichtigkeit (s. Abschn. 3.9.1, S. 249). • Messung des zentralvenösen Drucks (s. Abb. 4.1-3, S. 346). Der Z V D gibt Auskunft über die Volumensituation und über die Leistung des rechten Herzens. Beide Parameter sind im Zusammenhang mit der Infusion von großen Flüssigkeitsmengen von besonderer Bedeutung (Abschn. 4.1.6, 5). • Kontrolle der Ausscheidung (s. Abschn. 3.5.1, S. 171). Mit einem Blasenkatheter sollte die stündliche Urinausscheidung gemessen werden. Stündliche Urinproduktion und die Bestimmung der harnpflichtigen Substanzen geben einen guten Überblick über die Leistungen der Niere (evtl. Oligurie beachten = verminderte Urinausscheidung unter 40 ml/h). Eine häufige Kontrolle von Einfuhr und Ausfuhr gibt einen guten Überblick über die Volumensituation beim Patienten. • Die Funktion von Darm, Leber und anderen Organen sollte engmaschig kontrolliert werden. Die Beobachtung der Bewußtseinslage und die D u r c h f ü h r u n g der sämtlichen Prophylaxen ist beim Patienten im Schock von besonderer Wichtigkeit. • Nicht zuletzt sollte die psychische Situation des Patienten beachtet werden, die von U n r u h e und Angst beherrscht wird und möglichst von Seiten des Pflegepersonals abgebaut werden sollte.
III. Fallbeispiele Gerhard Münch, Jacques Reitz, Michael Rostenburg
Einleitung Im folgenden Abschnitt haben wir alltägliche Situationen geschildert, wo von der Pflege Entscheidungen erwartet und gefällt und Pflegeprinzipien gegeneinander abgewogen werden müssen. Jedes Beispiel schildert eine reelle Krankengeschichte bis zu einem definierten, konkret umschriebenen Zeitpunkt. Dieser Zeitpunkt ist wie ein Schnitt im Leben des Patienten zu betrachten, welcher uns Einblick in eine Situation gibt, wo der Pflegende sich ein Urteil über das bisher Geschehene und den momentanen Zustand des Patienten machen muß. Die Fallbeschreibung beinhaltet die Vorstellung des Patienten, seine physischen, psychischen und sozialen Besonderheiten und seine Krankengeschichte. Dabei sind alle Fakten außer acht gelassen worden, welche für den heutigen Zeitpunkt nicht von Bedeutung sind. Wenn Parameterwerte oder andere Angaben nicht aufgeführt sind, bedeutet dies, daß die Werte normal sind. Jede für den Patienten problematische Situation wird aufgeführt, kann der Patient diese jedoch mit den eigenen Ressourcen meistern, ist also keine professionelle Hilfe notwendig, sind auch keine Pflegemaßnahmen geplant. Aus dieser Situationsbeschreibung heraus, versuchen wir die pflegerischen Probleme des Patienten herauszufiltern und die Ursachen oder den Entstehungsmechanismus zu erläutern. Aus der Beschreibung des gewünschten und zu erreichenden Zustandes lassen sich die für diesen Patienten spezifischen Pflegemaßnahmen ableiten. In der Pflege, wo wir täglich gleichzeitig mit einer Vielzahl von problematischen Situationen konfrontiert sind, müssen ständig Prioritäten gesetzt werden. Unsere langjährige Erfahrung hat uns gelehrt, daß die Wertung der einzelnen Situationen oft unnütz lange Diskussionen produziert, so daß wir eine bestimmte Reihenfolge in der Analyse vorschlagen: • An erster Stelle stehen alle Probleme, welche die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen zum Ziele haben. Sie sind unter „Analyse, Kommentare" mit „1." berücksichtigt. • An zweiter Stelle („2.") erscheinen jene Probleme, welche aus den individuellen Patientenbedürfnissen abzuleiten sind. • Die dritte Kategorie („3.") wird von Problemen dargestellt, welche durch die ärztlichen Anordnungen vorgegeben sind. • An vierter Stelle („4.") erscheinen alle Probleme, die in standardisierten Pflegeplänen ausgearbeitet wurden. Sie werden feststellen, daß immer die Person im Mittelpunkt steht und nicht ihr Leiden und daß oft die medizinische Diagnose nicht die eigentliche pflegerische Schwierigkeit darstellt.
22. Frau mit Endometriose, Op.-Vorbereitung 22.1
Krankengeschichte
Frau Körperich Elise, geboren am 22.7.45, wurde vor 2 Tagen ins Krankenhaus aufgenommen. Die Patientin leidet an rezividierenden Schleimhautentzündungen der Gebärmutter (Endometriose). Für den nächsten Monat war eine Hysterektomie geplant, mußte aber wegen einer stärkeren Blutung vorverlegt werden. Trotz der Blutungen ist noch keine Anämie eingetreten, Kontraindikationen wurden ausgeschlossen. Frau Körperich ist verheiratet und hat 2 erwachsene Töchter. Seit der Heirat der Kinder arbeitet Frau Körperich wieder halbtags als Verkäuferin. Die Patientin wiegt 78 kg bei einer Größe von 1.62 m. Sie trägt eine untere Zahnprothese und benutzt eine Lesebrille. Seit der letzten Schwangerschaft leidet die Patientin an Krampfadern. Vor 5 Jahren mußte sie sich einer Operation (Stripping) am rechten Bein unterziehen. Zu Hause trägt sie Stützstrümpfe. Im Krankenhaus wurden der Patientin präoperativ Antithrombosestrümpfe verordnet. Nach einem komplikationslosem Verlauf von Operation und Narkose heute morgen, befindet sich Frau Körperich gegen 14.30 Uhr auf ihrer Station. Sie haben folgende Informationen erhalten: — nach einer Allgemeinanästhesie unter Intubation blieben die Vitalwerte stabil. U m 14.00 Uhr: RR: 130/70 m m H g , Puls 84/min, — präoperativ wurde ein transurethraler Katheter gelegt (Ch. 14), Ballon 8 ml. Bisher sind 600 ml klarer Urin im Urinbeutel, — der Mittelschnitt ist mit Klammern verschlossen, — beidseitig der Wunde mündet eine Redon-Saugdrainage: Redon I enthält 250 ml, Redon II 40 ml, — über einen kurzen, peripheren Venenkatheter läuft momentan eine ElektrolytAminosäure-Lösung mit 56 Tropfen/min. Planmäßig soll die Infusion u m 15.00 gewechselt werden. Weitere Arztanordnungen sind: — gegen 16.00 Uhr darf die Patientin Tee zu sich nehmen und gegen 18.00 Uhr mobilisiert werden, und erhält morgens eine Injektion s. c. Fraxiparine 7500 I.E. (Heparin). Sie trägt Antithrombosestrümpfe, — morgen früh darf die Patientin leichte Kost zu sich nehmen, — die Patientin kann bei Bedarf 1 Ampulle Baralgine 5 ml i. m. alle 6 Stunden gegen Schmerzen erhalten. Bisher hatte die Patientin keine Schmerzen, — als weitere Infusionen sollen 2 χ 500 ml Vollelektrolytlösung (physiologische NaCl-Lösung) bis Morgen 8.00 Uhr einlaufen, — um 20.00 Uhr werden 2 g Claforan (Breitbandantibiotikum) in 100 ml NaCl in V2 Stunde infundiert.
Frau mit Endometriose, Op.-Vorbereitung
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Bei Frau Körperich wurde wegen einer Endometriose eine abdominale Hysterektomie vorgenommen. Operation und Narkose sind ohne Komplikationen verlaufen und die Patientin kam gegen 14.30 Uhr auf die Station zurück.
22.2 Analyse, Kommentare 1 a. Bei einer Allgemeinanästhesie besteht grundsätzlich eine instabile Kreislaufsituation. Die Werte um 14.00 Uhr waren im Normbereich: RR 130/70 mm Hg, Puls 84/min. Bei der ersten Mobilisation droht ein orthostatischer Kreislaufkollaps, durch Narkose und Übergewicht verstärkt. Um ein frühzeitiges Auftreten von Kreislaufschwankungen zu erkennen, werden die Vitalwerte überwacht. Die Mobilisation wird nach den Richtlinien vom „ersten Aufstehen" ausgeführt (s. Abschn. 4.5.3.4, S. 409). Ib. Variköse, partielle Bettruhe und Eingriff im kleinen Becken steigern die Thrombosegefahr. Zu Hause trägt die Patientin Stützstrümpfe und erhielt präoperativ Antithrombosestrümpfe. Morgens erhält sie 7500 I.E. Heparin s. c. Zur Thromboseprophylaxe ist ebenfalls eine Frühmobilisation angeordnet worden. Des weiteren erfolgt eine Kontrolle der Waden auf Schmerzen, Schwellung, Rötung und Hitze. Da von 18.00 Uhr bis zum nächsten Morgen keine Mobilisation erfolgt, müssen am Abend vor dem Betten aktive Bewegungsübungen ausgeführt werden. 2 a. Postoperativ treten häufig Schmerzen auf. Die Patientin kann bei Bedarf eine Ampulle Baralgine 5 ml i. m. alle 6 Stunden bekommen. Wir fragen die Patientin nach Schmerzen bei jeder Vitalzeichenkontrolle. Sie erhält Informationen über die mögliche Schmerztherapie. Eine leichte Oberkörperhochlagerung, sowie Flexion der Knie wirken entspannend und lindern auftretende Schmerzen. 2 b. Vor der Operation litt Frau Körperich bereits an vaginalen Blutungen, bisher ohne Anämie. Postoperativ bestehen Schmierblutungen aus der Scheide, wodurch das körperliche Wohlbefinden der Patientin eingeschränkt ist. Damit die Patientin sich sauber fühlt, wird am Nachmittag oder am Abend eine Intimpflege vorgenommen. Bei größeren Blutungen wird eine saugfähige Unterlage ins Bett gelegt und die Patientin kann eine Einmalhose (Netzhose) bekommen. 2 c. Durch die verschiedenen Zu- und Ableitungen, sowie die teilweise Bettruhe ist die Patientin bei Mobilisation, Körperpflege und Ausscheiden auf Hilfe angewiesen. Am Abend erfolgt eine erfrischende Abwaschung. Diese findet im Bett statt, da derzeit keine längere Mobilisation möglich ist. Anschließend findet die Vorbereitung auf die Nacht statt. Das Urinauffanggefäß wird entleert. 3 a. Die Patientin darf gegen 16.00 Uhr Tee zu sich nehmen, wegen der postoperativ bestehenden Darmatonie kann es zu Unwohlsein und Erbrechen kommen. Zum Trinken bringen wir die Patientin in Oberkörperhochlagerung und kontrollieren
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Fallbeispiele
ihre Reaktion. Die Patientin wird gebeten, erste Anzeichen von Unwohlsein mitzuteilen. 3 b. Momentan läuft über einen kurzen peripheren Venenkatheter die Infusion. Deswegen besteht die Gefahr einer Infektion der Punktionsstelle sowie eine Venenwandreizung. Mit 56 Tropfen/min wird eine Infusion A K E 1100 infundiert, welche bis 15.00 Uhr eingelaufen sein soll. Es besteht das Risiko der Deregulation der Einlaufgeschwindigkeit. Bei allen Manipulationen am Patienten und bei der Mobilisation besteht die Gefahr des paravenösen Einlaufens. Von 15.00 bis 8.00 U h r morgens sind 2 χ 500 ml Vollelektrolytlösung vorgesehen. Die Patientin erhält um 20.00 Uhr 2 g Claforan (Antibiotikum) i. v. über 30 min. Es besteht die Gefahr einer Allergie, und das Risiko einer Venenwandreizung ist vergrößert. U m Anzeichen einer Infektion der Punktionssteile und eine Venenwandreizung zu erkennen, wird die Punktionssteile und der Venenverlauf wenigstens alle 2 Stunden und insbesondere nach Verabreichung von Claforan beobachtet. Um 15.00 U h r wird die Elektrolytlösung mit einer Einlaufgeschwindigkeit von 20 Tropfen/min infundiert. Nach dem Wechsel der Infusionsflaschen, nach jeder Mobilisation und alle 2 Stunden wird die Einlaufgeschwindigkeit kontrolliert. Gegen 20.00 Uhr wird Claforan in 100 ml NaCl mit einer Einlaufgeschwindigkeit von 66 Tropfen/min, über einen Dreiwegehahn, verabreicht. Eine Allergie kann sich als Juckreiz oder als Rötung auf der Haut kundtun, während des Bettens am Abend wird die Haut beobachtet, und die Patientin wird gebeten, uns Juckreiz mitzuteilen. 3 c. Zur Entlastung des Wundgebietes wurde ein Blasenkatheter gelegt, er bringt das Risiko einer aufsteigenden Blaseninfektion mit sich. Bisher hat die Patientin 600 ml klaren Urin ausgeschieden. U m das Infektionsrisiko zu minimieren, wird nach der Intimpflege eine Katheterpflege ausgeführt. 4 a. Durch die operative Wunde und die Redon-Saugdrainage besteht Blutungsgefahr. Die Redon-Drainage I enthält 250, Redon II 40 ml, was nach einer Hysterektomie normal ist. Die Wunde ist mit Klammern verschlossen, bei Ansteigen des abdominalen Druckes besteht die Gefahr der Nahtdehiszenz, akzentuiert durch das Übergewicht. Bei der ersten Mobilisation erhöht sich das Risiko von Blutung und Nahtdehiszenz. Durch die operative Wunde, sowie über die Schmierblutung kann es zu einer Wund- und Scheideninfektion kommen. An den beiden Redon-Drainagen kann es durch Verlegen oder Abknicken zu einem Abfall des Soges kommen, womit das Risiko einer Infektion und einer Hämatombildung verstärkt wird.
Man achte darauf, daß die Ableitung gewährleistet ist. U m eine Blutung zu erkennen, werden gegen 16.00 und 22.00 Uhr die RedonSaugdrainagen auf ihre Füllung und der Verband auf eine Sickerblutung kontrolliert. Wegen der Schmierblutung bekommt die Patientin Vorlagen, welche zu dem gleichen Zeitpunkt kontrolliert und ggf. ausgewechselt werden.
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D i e Patientin wird darüber informiert, das Gegendruckprinzip a n z u w e n d e n , u m einer Nahtdehiszenz entgegenzuwirken. Während der Intimpflege wird auf Scheidenausfluß geachtet. G e g e n 17.00 U h r werden die Temperatur rektal gemessen u n d die W u n d u m g e b u n g auf Anzeichen einer Infektion beobachtet. G e g e n 16.00 und 20.00 U h r werden die „ R e d o n s " überprüft.
22.3 Zeitplan 14.30 Uhr: RR, Puls, Bewußtsein, Redon-Drainage, Infusion, Wunde, Thrombose, Schmerzanamnese, Lagerung, 15.00 Uhr: Infusionswechsel, Kontrolle, Venenkatheter, 16.00 Uhr: Tee, RR, Puls, Bewußtsein, Redon, Wunde, Schmerzanamnese, 17.00 Uhr: Punktionsstelle, Venenkatheter, Thrombosekontrolle, Temperatur, 18.00 Uhr: Mobilisation, R R , Puls, Schmerzanamnese, Körperpflege, Betten und Lagern, Katheterpflege, Kontrolle vaginalen Ausflusses, Leeren des Urinauffanggefäßes, Urinausscheidung, 20.00 Uhr: RR, Puls, Redon, Wunde, Schmerzanamnese, Antibiotikum, Punktionsstelle, Venenkatheter, 20.30 Uhr: Infusion (Antibiotikum) beenden, Kontrolle Allergie, 21.00 Uhr: aktive Bewegungsübungen, Thrombose, Temperatur, Vorbereitung zur Nachtruhe.
23. Mann mit Polytrauma 23.1
Krankengeschichte
Ein 27 Jahre alter Mann B., ledig, keine Angehörigen, bewohnt eine kleine Einzimmerwohnung. Er weist keine Berufsausbildung vor und arbeitet seit 7 Monaten in der Versandabteilung eines kleineren Unternehmens. Vor etwas mehr als 2 Jahren hat Herr B. durch einen schweren Arbeitsunfall das linke Auge verloren und einen Teil seiner Zähne im linken Oberkiefer. Er trägt eine Augenprothese und eine Zahnbrücke. Herr B. befand sich am Vortag (Sonntag) ab etwa 16.00 Uhr auf einer Geburtstagsfeier. In alkoholisiertem Zustand (Blutuntersuchung in der Klinik ergab später 1,6 Promille) wollte er gegen 20.30 Uhr auf dem Weg nach Hause eine Straße überqueren und wurde dabei von einem vorbeifahrenden PKW erfaßt und auf den Gehsteig geschleudert. Bisherige Untersuchungen: — Röntgen Schädel, Becken und beider Beine in 2 Ebenen, — ein abdominaler Ultraschall aufgrund geäußerter Schmerzen (ergab keinen pathologischen Befund), — Routinelaboruntersuchungen des Blutes. In der chirurgischen Aufnahme wurden diagnostiziert: • Commotio cerebri, Unterschenkelfraktur links, • 3 cm lange Kopfpflatzwunde links parietal, diverse Hautabschürfungen, Prellungen. Bisherige Therapie: — Kalkaneusdrahtextension links mit einem Zuggewicht von 4,5 kg, Lagerung auf Krapp-Schiene, — peripher wirkendes Analgetikum mit einer mittleren Wirkungsdauer von 4 Stunden, welches 4 mal im Abstand von 6 Stunden i.m. verabreicht werden soll, — die Kopfplatzwunde wurde vernäht und steril abgedeckt, — aktive und passive Impfung gegen Tetanus, — Wasser-Elektrolytlösung 500 ml über peripheren venösen Zugang, am nächsten Tag sind weitere 2 500 ml-Infusionen angeordnet, — Verlegung auf Station um 22.45 Uhr. Bei der Übergabe um 6.30 Uhr wurde mitgeteilt: Puls, Blutdruck, Bewußtsein, Pupillenreaktion und Atmung wurden bis 2.00 Uhr stündlich kontrolliert, bis 6.00 Uhr 2stündlich (Veränderungen könnten hier doch auf eine stärkere Hirnbeteiligung hindeuten als bisher angenommen oder auf eine Kreislaufstörung aufgrund eines Schocks).
Mann mit Polytrauma
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Die ermittelten Werte waren: — Puls zwischen 84 und 96/min, — Blutdruck zwischen 105 und 120 m m H g (14 und 16kPa) systolisch und 5 5 - 7 5 m m H g ( 7 , 3 - 1 0 k P a ) diastolisch. — Bewußtsein: schläfriger Zustand, jedoch durch lauteres Sprechen weckbar, reagiert auf seinen Namen, — Pupillenreaktion auf Lichtreize im rechten Auge unauffällig, — Atmung war tief und gleichmäßig, zeitweise schnarchend. Weitere Beobachtungen: — Schlaf- und Wachphasen lösten sich häufiger ab, seit seiner Aufnahme im Krankenhaus noch keinen Urin gelassen, — eine 2malige Wundkontrolle der Kopfplatzwunde ergab keine Komplikationen, — Temperatur um 1.00 Uhr 36,9°C, um 5.00 Uhr 37,4°C sublingual (Routinemessung), — Zweimal (1.30, 2.30 Uhr) über Übelkeit geklagt, aber nicht erbrochen, — um 5.00 Uhr mußte die Körperwäsche und ein Teil der Bettwäsche (Unterlage und Kopfkissen) wegen starker Schweißabsonderung gewechselt werden, außerdem wurde der Patient erfrischt, — Schmerzen: entsprechend der Arztanordnung erhielt Herr B. ein Analgetikum um 4.00 Uhr i. m. injiziert, er liegt flach auf dem Rücken, — eine Infusion vom Vorabend läuft noch bis 8.30 Uhr mit einer Geschwindigkeit von 14 Tropfen/min über einen peripheren venösen Zugang, — der Atem roch nach Alkohol, die Zahnbrücke befindet sich in einem stationseigenen Gefäß am Waschbecken, der Kopf ist leicht gerötet.
23.2 Analyse, Kommentare
Es handelt sich um einen 27 Jahre alten Mann, der in alkoholisiertem Zustand am Vorabend von einem PKW angefahren wurde. Er trägt links eine Augenprothese, das linke Bein ist auf einer Krapp-Schiene gelagert bei gleichzeitiger Versorgung durch eine Kalkaneusdrahtextension. 1 a. Im Vordergrund steht zunächst die Beteiligung des Schädels und des Gehirns. Zwar ist bei einer Commotio cerebri eine irreversible Hirnschädigung nicht zu erwarten, trotzdem liegt ein Schockerlebnis vor. U m hier rechtzeitig Veränderungen festzustellen, werden die Vitalzeichen Puls und Blutdruck entsprechend den bisherigen Ergebnissen weiter in 2stündlichen Intervallen kontrolliert. Aus den gleichen Gründen werden die Pupillenreaktion, das Bewußtsein und die Atmung beobachtet. I b . Es ist auffallend, daß der Patient seit seiner Einweisung ins Krankenhaus noch keinen Urin gelassen hat. Dies umso mehr, da Alkoholgenuß die Urinproduktion noch fördert. Es ist nach den vorliegenden Gegebenheiten nicht auszuschließen, daß der Patient aufgrund des Schocks oder einer im Ultraschall nicht feststellbaren Organkontusion (z. B. Niere) in ein akutes Nierenversagen gerät.
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Fallbeispiele
Der Füllungszustand der Blase muß desgleich gleich morgen kontrolliert (zunächst manuell) und die volle Blase katheterisiert werden. Bei negativem Blasenfüllungszustand wird der Arzt sofort zu verständigen sein. Palpatorisch kann das Nierenlager getastet (Schmerzen!) und das Abdomen abgeklopft (Fluktuation!) werden. Im Zweifelsfall ist auch hier der Arzt zu verständigen. 2 a. Der Patient wird aufgrund seines Gesamtzustandes (traumatisches Erlebnis, alkoholisiert, Analgetikum, unruhiger Schlaf, Extension und Schiene) nicht in der Lage sein, die Körperpflege allein zu übernehmen. Diese wird aber durch den Sturz (Straßenschmutz) und die starke Schweißbildung notwendig. Eine Mundpflege wird ebenfalls notwendig. 2 b. Da er keine eigene Zahnbürste hat (Notaufnahme in der Nacht), wird er sich den Mund ausspülen müssen oder ggf. mit Zitronenstäbchen den Mund auswischen (lassen). 2 c. Die Zahnbrücke wird er noch nicht in den Mund einsetzen dürfen, da die Gefahr der Aspiration aufgrund seines schläfrigen Zustandes zu groß ist. 2 d. Die Augenprothese wird entfernt, gereinigt, und, nachdem auch die Augenhöhle gepflegt wurde, wieder eingesetzt. 2e. Der Patient darf, sofern die in 1. genannten Überwachungsparameter es zulassen (Übelkeit sollte abgeklungen sein), zum Frühstück Tee trinken und Zwieback oder Einback essen. Zu Mittag erhält er eine leichte Kost (Einverständnis des Arztes einholen). 3 a. Entsprechend der ärztlichen Anordnung erhält der Patient um 8.30 U h r eine Wasser-Elektrolytlösung 500 ml, die über 12 Stunden einlaufen soll. Dies ergibt eine Geschwindigkeit von etwa 14 Tropfen/min. Die Einlaufgeschwindigkeit wird in Intervallen von 2 Stunden kontrolliert. 3 b. Weiterhin wird um 10.00 U h r das verordnete Analgetikum i.m. injiziert und im Gespräch festgehalten, welche Wirkung es zeigt. 4 a. Neben den kleineren und eher unbedeutenden (aber bei Berührung durchaus schmerzhaften) Schürfwunden sind 2 Wundgebiete wegen eines Infektionsrisikos gezielt zu kontrollieren. • Zum einen ist dies die Kopfplatzwunde, welche primär versorgt wurde. Dabei darf nicht übersehen werden, daß diese Wunde durch einen Sturz verursacht wurde, so daß auch Straßenschmutz in die Wunde eindringen konnte. Neben der Nachblutung ist hier auf Entzündungszeichen zu achten. • Weiterhin wurde eine Kalkaneusdrahtextension angelegt. Es besteht hierbei eine Kommunikation zwischen der Außenwelt und dem Inneren des Fersenbeins. Die Ein- und Austrittsstelle des Drahtes muß steril behandelt und darf möglichst nicht mechanisch gereizt werden. 4 b. U m eine möglichst ungestörte Heilung der Fraktur zu ermöglichen, muß das Bein ruhig auf der Schiene liegen. Dies bedeutet, daß ζ. B. das Betten mit 3 — 4 Pflegepersonen durchgeführt werden muß. Wichtig ist auch, daß die Zugrichtung der Extension, welche sich aus dem Röntgenbefund ergibt und die der Arzt festlegt,
Mann mit Polytrauma
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nicht verändert wird, um die achsengerechte Gegenüberstellung der Frakturenden nicht zu gefährden. Im R a h m e n der üblichen Beobachtungszeiten ist die Zugrichtung der Extension zu überprüfen. 4 c. Der Patient erhielt in der chirurgischen A u f n a h m e einen peripheren venösen Zugang. D a auch hier ein Infektionsrisiko (Wunde, Venenwandreizung) besteht, ist die Kontrolle notwendig. 4d. Der Patient hatte u m 5.00 U h r eine leichte subfebrile Temperatur von 37,4°C sublingual. Aus den verschiedensten Gründen (Infektionsrisiko der Wunden, Risiko einer Pneumonie usw.) m u ß mit einem weiteren Anstieg der Temperatur gerechnet werden, was eine zusätzliche therapeutische Behandlung notwendig machen würde. Daher wird die Temperatur im Verlauf des Tages entsprechend den vorausgegangenen Werten noch 2 — 3 mal gemessen. 4 e . Der Gesamtzustand des Patienten (flache Lagerung, weitgehende immobile Rückenlage, schläfriger Bewußtseinszustand) läßt darauf schließen, d a ß die Belüftung der Lungen auf das notwendige M a ß beschränkt sein dürfte. Eine freiwillige tiefe Atmung von Zeit zu Zeit ist spontan nicht zu erwarten. D a r a u s m u ß ein Pneumonierisiko abgeleitet werden. D a der Patient ansprechbar (weckbar) ist, wird er stündlich aufgefordert, mehrere tiefe Atemzüge zu machen. Ebenso wird für frische Luft zu sorgen sein. 4 f. Z u m gegenwärtigen Zeitpunkt ist aufgrund der F r a k t u r eine Vergrößerung des Hämatoms im Unterschenkel zu erwarten. Dies kann pflegerisch nicht verhindert, m u ß aber beobachtet werden. Eine deutliche Z u n a h m e des H ä m a t o m s und entsprechende Beschwerden müssen sofort dem Arzt mitgeteilt werden. 4 g. Auffallend bei diesem Patienten sind verschiedene Erscheinungen, die zusammengenommen beachtenswert sind. Dazu zählen: — der alkoholisierte Zustand, der Zeitpunkt der Alkoholisierung, — der schläfrige Zustand, der unruhige Schlaf, — die vermehrte Schweißsekretion, der leicht gerötete Kopf. Diese Beobachtungen könnten auf ein Delirium tremens hindeuten. Daher werden besonders Bewußtsein, verbale Äußerungen, Motorik (Zittern der H ä n d e , Unruhe) und Schweißsekretion regelmäßig mit den anderen Beobachtungsparametern zu kontrollieren sein, um eine frühzeitige Diagnose durch den Arzt zu ermöglichen.
23.3 Zeitplan 7.00 Uhr: Kontrolle der Harnblase, Nierenlager tasten und Abdomen abklopfen, tief atmen lassen, 7.30 Uhr: Mund ausspülen lassen und Frühstück geben (falls möglich), 8.00 Uhr: Kontrolle von Vitalparameter. Puls, Blutdruck, Bewußtsein, Pupille, Atmung und Verhalten·. Motorik, Schweiß, Temperatur, Kontrolle der Harnblase (bei bisher negativer Harnausscheidung jetzt den Arzt verständigen), Wundkontrolle, Extensionskontrolle, Kör-
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Fallbeispiele
perpflege, Mundpflege (ggf. nach dem Frühstück), Augenpro thesenpflege, tief atmen lassen, Beobachtung der Frakturstelle (Hämatom), 8.30 Uhr: Infusion anhängen, venösen Zugang kontrollieren, 9.00 Uhr: tief atmen lassen, 10.00 Uhr: Kontrolle von Puls, Blutdruck, Bewußtsein, Atmung, Verhalten, Motorik, Schweiß, Infusion, Beobachtung der Frakturstelle (Hämatom), Wund-, Extensionskontrolle, Analgetikum i. m. injizieren, tief atmen lassen, 11.00 Uhr: tief atmen lassen, 12.00 Uhr: Kontrolle von Puls, Blutdruck, Bewußtsein, Atmung, Verhalten, Motorik, Schweiß, Infusion, Beobachtung der Frakturstelle (Hämatom), Wund-, Extensionskontrolle, tief atmen lassen, Mittagessen, 13.00 Uhr: tief atmen lassen, Temperaturkontrolle, 13.30 Uhr: Übergabe.
24. Geriatrische, multimorbide Patientin 24.1 Krankengeschichte Eine 72jährige Frau M. liegt zum wiederholten Mal in der Klinik. Sie wohnt im ersten Obergeschoß in einer Zweizimmerwohnung, das Treppensteigen bereitet ihr besonders im Frühjahr und im Herbst Schwierigkeiten. Seit einigen Wochen bestehen gelegentlich Schmerzen in der Lebergegend zeitgleich mit einer Gewichtsreduzierung. Seit 12 Jahren ist ein Diabetes mellitus Typ II bekannt, der mit oralen Antidiabetika behandelt wird. Eine chronische Niereninsuffizienz führte vor 2 Jahren zur Entfernung der rechten Niere. Frau M. liegt seit 8 Tagen auf einer internistischen Station mit dem Schwerpunkt Gastroenterologie. Sie ist 1,68 m groß und wog bei der Aufnahme 54 kg, am linken Bein sind deutliche Varizen erkennbar, weshalb sie Antithrombosestrümpfe trägt. Sie trägt eine Zahnprothese oben und unten. Frau M. befindet sich in einem reduzierten
Allgemeinzustand.
Krankheitsverlauf bis zum Zeitpunkt der Analyse Einweisungsdiagnose'. Leberkarzinom mit Lungen- und Knochenmetastasen, Aszites. Bisherige Diagnostik: Laparoskopie, Blutlaborwerte, Lungenschichtaufnahmen, Knochenszintigramm. Bisherige Therapie: Saluretikum p. o., Digitalis p. o., Antidiabetikum p. o., Sekretolytikum p. o. (und als Inhalat), Blasendauerkatheter Ch. 16 zur exakten Kontrolle der Bilanz. Bei der Übergabe morgens um 6.30 Uhr erhalten Sie folgende Informationen: — In der Nacht hat Frau M. ab 23.30 Uhr ruhig geschlafen, 2 mal wurden die Vitalzeichen kontrolliert (zur Kontrolle der Therapie), der Blutdruck betrug dabei im Mittel 140/85 m m H g (18,7/11,3 kPa), die Pulsfrequenz lag zwischen 88 und 96/min, die Atemfrequenz zwischen 15 und 16/min. — Zwischen 21.00 Uhr abends und 6.00 Uhr morgens hat sie 420 ml Urin ausgeschieden. Dieser war klar, der Urinbeutel ist noch nicht geleert. Auf ärztliche Anordnung trägt Frau M. einen Blasendauerkatheter, der seit 6 Tagen liegt. — Die Temperatur war um 6.00 Uhr 37,8°C sublingual. — Um 6.00 Uhr wurde die Patientin nach Plan auf die linke Seite gedreht in eine 30° Lagerung bei nur wenig erhöhtem Oberkörper (eine Seitenlage rechts wird wegen der Schmerzen in der Lebergegend nur über eine kurze Zeit toleriert). — Gegen 23.00 Uhr am Vorabend erhielt sie wegen Schmerzen beim Liegen ein vom Arzt verordnetes Analgetikum oral mit einer mittleren Wirkungsdauer
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— — — —
Fallbeispiele von 4 Stunden. Dieses Analgetikum ist als Bedarfsmedikation speziell für diese Situation angeordnet. Frau M. kann mit Hilfe einer Pflegeperson aufstehen und am Tisch sitzen (im Sessel). Nach Anordnung des Arztes erhält Frau M. eine diabetische Kost mit 16 BE, die sie auf Wunsch selbst zusammenstellen kann. Wegen der Thrombosegefahr bekommt sie um 8.00 und um 20.00 U h r jeweils 7500 I.E. Heparin s.c. injiziert. Sie inhaliert ein Sekretolytikum.
Angestrebt ist eine Minusbilanz (Verringerung des Aszites, Vermeidung eines Lungenödems), die Trinkmenge richtet sich nach dem Bilanzergebnis vom Vortag. Frau M. ist etwas verschleimt, die Haut weist eine leichte gelbliche Färbung auf. Sie ist ansprechbar und orientiert.
24.2 Analyse, Kommentare 1 a. Bei der Übergabe wird die letzte Temperaturkontrolle um 6.00 Uhr mit 37,8°C sublingual angegeben. Einerseits gehören Temperaturerhöhungen zum Leberkarzinom, andererseits ist die Temperaturhöhe entscheidend für das weitere pflegerische Vorgehen, wenn Frau M. außerhalb des Bettes mobilisiert werden soll. Ein weiterer Anstieg würde auch eine baldige Information an den Arzt notwendig machen. 1 b. Die Patientin ist aufgrund ihrer Erkrankung einerseits und aufgrund ihrer Gesamtsituation (sie liegt die meiste Zeit im Bett und ist außerhalb des Bettes nur mit Hilfe einer Pflegeperson mobil) doch erheblich pneumoniegefährdet. Zusätzlich bildete sich ein Schleim in den Atemwegen, der sich von allein wohl nur schlecht löst, wodurch eine gute regelmäßige Belüftung der Lungen gefährdet ist. Die pflegerischen Aufgaben bestehen darin, diesen Schleim entfernen zu helfen und damit die Atemwege für eine gute Luftzirkulation freizumachen. Gleichzeitig muß Frau M. aufgefordert werden, bei jedem Kontakt, mindestens aber 1- bis 2stündlich, 5 — 6 tiefe Atemzüge durchzuführen, um eine ausreichende Belüftung der Lungen zu erreichen. Daneben sind Atemübungen, die zum Husten reizen, angezeigt. Eine ausreichende Verflüssigung des Schleims ist wohl nur durch die Inhalation erreichbar, da die orale Flüssigkeitszufuhr beschränkt bleiben soll. 1 c. Ein Blasendauerkatheter stellt immer eine Infektionsgefahr für den Patienten dar. Zusätzlich gefährdet ist die Patientin aufgrund ihrer Vorgeschichte. Eine aufsteigende Infektion würde die Patientin u. U. entscheidend schwächen. Es ist daher notwendig, daß der Urin auf Aussehen und Menge kontrolliert wird. Er sollte klar sein und in ausreichender Menge pro Zeiteinheit ausgeschieden werden. In Intervallen von 1—2 Stunden ist dies zu kontrollieren. Die errechnete Trinkmenge für den Tag wird gleichmäßig verteilt unter Berücksichtigung einer ausreichenden Größe für die Nacht. Zweimal täglich wird eine spezielle Katheterpflege durchgeführt.
Geriatrische, multimorbide Patientin
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2. Frau M. ist nur eingeschränkt mobil. Daher bedarf sie unserer Unterstützung. 2 a. Aufgrund ihrer verringerten Selbständigkeit wird es notwendig, die Körperpflege teilweise zu übernehmen. Morgens vor dem Frühstück erhält die Patientin die Gelegenheit, ihren Mund auszuspülen und eine gereinigte Zahnprothese wieder einzusetzen, was ihr das Essen erleichtert. Beim Waschen hilft das Pflegepersonal. Soweit sich die Patientin selbst waschen kann, wird sie dazu ermuntert. Dies fördert einerseits ihr persönliches Selbstwertgefühl, andererseits werden durch die Bewegungen in vielerlei Hinsicht „prophylaktische Maßnahmen" durchgeführt, ζ. B. Kontrakturen-, Pneumonie-, Dekubitus- und Thromboseprophylaxe. Nach dem Essen erhält sie Gelegenheit, ihre Zahnprothese zu reinigen. 2 b. Frau M. ist auch dekubitusgefährdet. Daher ist eine Lagerung nach Plan unumgänglich. Die Intervalle sollten einerseits nicht länger als 2 Stunden betragen, andererseits berücksichtigen, daß sie auf der rechten Seite nur kurze Zeit liegen kann, daß sie beim Essen stets eine Rückenlage einnimmt und zwischendurch auch zweimal am Tag an den Tisch gesetzt wird. Hierdurch werden die gefährdeten Körperstellen für die meiste Zeit am Tag entlastet, die Patientin erfährt etwas Abwechslung und gleichzeitig kann hinsichtlich prophylaktischer Maßnahmen unter verschiedenen Aspekten parallel gearbeitet werden. 2 c. Ältere geschwächte Patienten benötigen oftmals eine kleine Unterstützung vor dem Essen. Wenn sie sich erst mühsam das Essen vorbereiten müssen, sind sie oft so geschwächt, daß sie zum eigentlichen Essen nur noch wenig Kraft besitzen. Um ihre Mobilität zu erhalten, wird bei der Vorbereitung des Essens Hilfe notwendig sein. Beim Anrichten werden die Verpackungen geöffnet, Brötchen werden aufgeschnitten, Fleisch portionsgerecht zerkleinert, usw. Danach kann sie sich selbst versorgen. Als Trinkhilfe erhält sie ggf. eine Schnabeltasse. 3 a. Frau M. erhält auf Arztanordnung ein Saluretikum, um die Flüssigkeitsausscheidung zu forcieren. Die Kontrolle erfolgt über die Urinausscheidung und das Körpergewicht. Puls und Blutdruckkontrollen 3mal täglich werden notwendig, da es durch das Saluretikum zu einer Hypokaliämie kommen kann. Bei Veränderungen der Vitalzeichen wird der Arzt informiert. 3 b. Frau M. befindet sich die meiste Zeit in einer ruhigen Position, wodurch die physiologischen Mechanismen, welche den Blutrückfluß zum Herzen bewirken, kaum wirksam sind. Außerdem sind am linken Bein Varizen vorhanden. Es besteht Thrombosegefahr. U m die Blutgerinnung zu verzögern, erhält sie 2mal täglich eine Heparininjektion s. c. U m den Ausfall der Muskelpumpe zu kompensieren, werden Frau M. Antithrombosestrümpfe angezogen. 3 c. Frau M. erhält ein orales Antidiabetikum, welches sie schon zu Hause regelmäßig eingenommen hat. Wegen der diabetischen Stoffwechsellage erhält sie täglich 3 Haupt- und 3 Zwischenmahlzeiten. 3d. Ihre gelegentlich geäußerten Schmerzen werden bei Bedarf aufgrund der ärztlichen Anordnung mit einem Analgetikum behandelt. 4a. Frau M. ist pneumoniegefährdet. Auf Atemänderung ist zu achten. Auch soll die positive Wirkung der prophylaktischen Maßnahmen festgestellt werden. Daher wird die Atmung 3mal täglich unauffällig zu kontrollieren sein.
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Fallbeispiele
4 b. Frau M. ist wenig aktiv und erhält nur eine eingeschränkte Flüssigkeitszufuhr. Beides stellt für sich allein bereits ein Obstipationsrisiko dar. Eine tägliche Stuhlkontrolle ist daher angezeigt. Bei der Essenzusammenstellung (Wunschkost) kann dies entsprechend berücksichtigt werden. 4 c. Aufgrund des schon über 12 Jahre bekannten Diabetes mellitus Typ II und des Alters der Patientin kann man grundsätzlich von einer eingeschränkten arteriellen Durchblutung ausgehen. Die Decke kann mit ihrem Gewicht die noch vorhandene arterielle Durchblutung soweit unterbinden, daß in kurzer Zeit eine Druckstelle an den Zehen entsteht. Daher wird während der Zeit, in der Frau M. im Bett liegt, ein Bettbogen über die Füße gestellt. 4 d. Füße mit den Zehen stellen gerade bei Diabetikern häufig ein Infektionsrisiko (Pilze) dar. Die in unseren Breiten anzutreffende Schuh- und Textilmode nimmt darauf eher wenig Rücksicht. Daher ist es grundsätzlich angezeigt, Hausschuhe und Fußbekleidung der Patientin unter den entsprechenden Kriterien einmal zu begutachten.
24.3 Zeitplan 7.00 Uhr: aufstehen und Körpergewicht messen, am Waschbecken Mund ausspülen lassen, Zahnprothese reinigen, Gesicht und Hände waschen, lagern in Rückenlage, Urinbeutel leeren, Sammelurin ablesen und Ein- und Ausfuhrbilanz errechnen, Temperaturkontrolle, tief durchatmen lassen. 7.30 Uhr: Vorbereitung des Frühstücks. 8.00 Uhr: orale Medikation, Zähne putzen, s. c. Injektion, tief durchatmen lassen, Urinausscheidung kontrollieren. 8.10 Uhr: Kontrolle von Puls, Blutdruck und Atmung, Körperpflege, Pneumonie- und Infektionsprophylaxe (Blasendauerkatheter), Antithrombosestrümpfe anziehen, Seitenlagerung rechts 30°, Bettbogen. 9.30 Uhr: Temperaturkontrolle, aufstehen, zum Tisch gehen und in den Sessel setzen, Anfrage nach letztem Stuhlgang, tief durchatmen lassen, Atemgymnastik, Flüssigkeitsangebot nach Bilanz, Wunschkost für den nächsten Tag erfragen, Klingel bereitlegen. 10.00 Uhr: zweites Frühstück, tief durchatmen lassen, Urinausscheidung kontrollieren. 11.40 Uhr: tief durchatmen lassen, Atemgymnastik, zum Waschbecken gehen u n d Hände waschen lassen, ins Bett legen in Rückenlage, Bettbogen. 12.00 Uhr: Mittagessen,
orale Medikamente,
Urinausscheidung
kontrollieren.
12.30 Uhr: Zähne putzen, Puls, Blutdruck kontrollieren, Seitenlagerung links 30°. 13.30 Uhr: Übergabe.
25. Frau mit frischem Myokardinfarkt 25.1 Krankengeschichte Frau Weiss, 57 Jahre alt, wird notfallmäßig auf die kardiologische Intensivstation aufgenommen. Die Patientin hat am Mittagstisch einen Herzinfarkt erlitten und wurde vom Notarzt ins Krankenhaus eingewiesen. Auf der Intensivstation ist der Gefäßverschluß mittels eines Fibrinolytikums aufgelöst worden. Nach 7 Tagen auf der Intensivstation wird die Patientin heute auf die internistische Station verlegt. Frau Weiss ist verheiratet und hat 2 berufstätige Kinder. Die Patientin mißt 1,70 m und hat ein Gewicht von 65 kg. Seit 5 Jahren leidet Frau Weiss an einer chronischen Bronchitis. Sie war eine starke Raucherin, 30 Zigaretten am Tag während 20 Jahren, seit 4 Jahren raucht die Patientin nicht mehr. Bei großen Anstrengungen verfallt die Patientin in Atemnot. Frau Weiss hustet ein zähflüssiges Sputum aus. Bisher bestand strikte Bettruhe. Seit 2 Tagen führt der Krankengymnast Bewegungsübungen mit der Patientin im Bett durch. Heute soll sie vom Pflegepersonal an den Bettrand gesetzt werden. Seit 4 Tagen führt die Patientin einen Teil der Körperpflege eigenständig aus. Es ist keine Verschlechterung der Atmung während der Grundpflege beobachtet worden. Progressiv soll die Patientin innerhalb der nächsten Woche ihre Grundpflege selbständig ausführen können. Innerhalb von 24 Stunden werden 40mval KCl (Elektrolyte) in 500 ml 0,9% NaCl-Lösung mit einer Infusionspumpe (kurzer Venenverweilkatheter am rechten Arm) verabreicht. Infusionsende ist 10.00 Uhr. Zweimal am Tag werden 10 000 I. E. Einheiten Heparin (Antikoagulantium) in 250 ml Laevulose 5% (Kohlenhydratlösung) über 12 Stunden infundiert. Gegen 8.00 Uhr muß die Infusion gewechselt werden. Sie wird ebenfalls über eine Infusionspumpe verabreicht und läuft über einen Dreiwegehahn in denselben Venenkatheter ein. Der Prothrombinwert von gestern war 35%. Als weitere Medikamentation
bekommt die Patientin:
— Sintrom (orales Antikoagulantium) 4 mg 1 χ morgens und ein Nitratpflaster (Vasodilatator) 1 χ morgens, — ein schleimlösendes Medikament 3 χ täglich eine Kapsel, — einen „Bronchodilatator" 3 χ täglich, welchen sie bereits zu Hause einnahm. Seit 2 Tagen hatte Frau Weiss keinen Stuhlgang, obschon sie seit ihrem Krankenhausaufenthalt regelmäßig ein leichtes Abführmittel einnimmt. Zur Dekubitusprophylaxe wurde der Patientin ein Wasserbett verordnet. Trotzdem klagte sie vor 4 Tagen über Schmerzen an den Fersen. Daraufhin wurde eine Hohllagerung mit Fersenschonern vorgenommen und die Fersen 2 mal täglich massiert. Wegen
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der Thrombosegefahr (Bettlägerigkeit) werden 3 mal täglich Ausstreichungen der Beine vorgenommen, um den venösen Rückfluß zu fördern. Die Patientin hatte gestern abend einen Blutdruck von 120/80 m m H g und einen regelmäßigen festen Puls von 84/min. Die Temperatur mißt 36,6°C axillar.
25.2 Analyse, Kommentare 1. Obschon der Gefäßverschluß mittels Fybrinolytikum aufgelöst wurde und eine Heparinisierung erfolgte, besteht die Gefahr eines erneuten Verschlusses. Bei Frau Weiss ist wegen der Belastungsdyspnoe bei chronischer Bronchitis die Rezidivgefahr vergrößert, obwohl bisher bei der Grundpflege keine Zeichen einer Überanstrengung zu beobachten waren. Puls und Blutdruck, welche 3 mal täglich kontrolliert werden, sind normal. Tachykardie und Schwankungen des Blutdruckes können auf einen erneuten Verschluß hinweisen. Um Rhythmusstörungen zu erkennen, wird der Puls während 1 Minute gemessen. Da die Patientin ab heute nicht mehr intensiv überwacht wird, muß sie darauf aufmerksam gemacht werden, daß jede Verschlechterung ihres Zustandes, Atemnot oder Schmerzen im Bereich von Thorax und Armen unverzüglich dem Pflegepersonal mitgeteilt wird. Bei jedem Betreten des Zimmers wird der Gesichtsausdruck der Patientin auf Schmerzen und die Farbe der Haut auf Blässe und Zyanose geprüft. Die Atmung wird auf Zeichen einer Dyspnoe hin kontrolliert. Während der Ausführung aller Pflegeakte müssen diese Parameter ebenfalls beobachtet werden, bei einer Verschlechterung wird die Pflege unterbrochen und die Patientin in eine leichte Oberkörperhochlagerung gebracht. Verbessert sich der Zustand der Patientin innerhalb der kommenden Minuten nicht, wird der Arzt informiert. Die Patientin wird angesprochen, um den Bewußtseinszustand zu beurteilen. Zur späteren Rezidivverhinderung kann ab heute mit der Aufklärung der Patientin über die Risikofaktoren begonnen werden. Zunächst ist eine gezielte Anamnese (Lebensgewohnheiten) erforderlich. 2 a. Bei Patienten nach einem Herzinfarkt sind Ruhe und Sicherheitsgefühl von großer Bedeutung. Die heutige Verlegung unterbricht ihren gewohnten Tagesablauf und kann sich negativ auf die Genesung auswirken. Mit der Übergabe soll die Patientin mit dem Ablauf des Stationsalltags vertraut gemacht werden. Die zuständigen Pflegekräfte stellen sich vor und besprechen mit der Patientin den Ablauf des Tages. Die Patientin wird mit den räumlichen Gegebenheiten bekannt gemacht und in die Rufanlage eingewiesen. Für die Patientin wichtig zu wissen ist, daß jederzeit eine Pflegekraft auf der Station erreichbar ist. 2 b. Wegen der Bettruhe und körperlichen Schonung wird die Lungenkapazität nicht voll genutzt. Obschon die Patientin aushustet, kann sich das zähflüssige Sputum in den kleinen Bronchien und den Alveolen ablagern und zu einer Pneumonie führen. Die Patientin wird deswegen aufgefordert, zweimal während
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des Frühdienstes Atemübungen auszuführen, welche die Lungenventilation fördern und einen Hustenreiz hervorrufen. Während der Atemübungen und in der Phase des Aushustens, muß die Patientin auf Zeichen einer Überanstrengung beobachtet werden. Einmaltücher und ein Abfallgefäß sollen in Reichweite gestellt werden. Anschließend soll die Patientin ausruhen können. 2 c. Seit 4 Tagen hilft die Patientin bei der Grundpflege und seit 2 Tagen werden krankengymnastische Übungen im Bett ausgeführt. Wegen der Bettruhe braucht die Patientin Hilfe. Ein zusätzliches Hindernis stellt der venöse Zugang am rechten Arm dar. Da der Zustand der Patientin bei der Körperpflege stabil blieb, kann sie heute einen größeren Teil übernehmen. Die Pflegekraft wäscht die Beine und führt die Intimpflege aus. Nachdem die Patientin die restliche Pflege in Oberkörperhochlagerung vorgenommen hat, wird der Rücken von der Pflegekraft gewaschen. Zur Pflege vom Gesäß kann sich die Patientin für kurze Zeit auf die Seite drehen. Falls die Bettkleidung an den Ärmeln nicht zu eng ist, kann die Pflegekraft ihr beim Anziehen derselben behilflich sein. Zum Essen wird die Patientin im Bett gelagert. Ist der venöse Zugang hinderlich, zerkleinert die Pflegekraft das Essen portionsgerecht. Die „Bettpfanne" muß der Patientin auf Verlangen gereicht werden. 2 d. Bereits vor dem Krankenhausaufenthalt hatte die Patientin Probleme mit dem Stuhlgang. Sie benutzte regelmäßig ein leichtes Abführmittel. Bettruhe und Bewegungsmangel verstärken die Obstipationsneigung. Da die Patientin bereits seit 2 Tagen keinen Stuhlgang hatte und Kotsteine drohen, muß der Arzt heute darüber informiert werden. 2e. Die plötzlich eintretende Erkrankung und der damit verbundene Aufenthalt auf der Intensivstation können ein streßbedingtes Ulkus hervorrufen. Das Pflegepersonal beobachtet das Eßverhalten und die Verdauung der Patientin und fragt gezielt nach Magen-Darm-Beschwerden. 3 a. Auf Arztanordnung soll die Patientin heute an den Bettrand gesetzt werden. Das Herabhängen der Beine und das Aufsetzen des Oberkörpers sind kreislaufbelastend. Es kann zu einem Blutdruckabfall kommen. U m diesen zu erkennen, muß eine Kontrolle von Puls und Blutdruck vor und während der Mobilisation erfolgen. Außerdem wird die Patientin gebeten, ggf. ein Schwindelgefühl mitzuteilen. Zusätzlich bedeutet diese Mobilisation eine Mehrarbeit für das Herz. Zusammen mit der Belastungsdyspnoe kann es zu einer Überanstrengung der Patientin kommen. U m die ersten Zeichen zu erkennen, werden während der Mobilisation der Gesichtsausdruck, die Hautfärbung, das Verhalten und die Atmung fortwährend beobachtet. 3 b. Eine Infusionstherapie wird über einen kurzen Venenkatheter am rechten Arm verabreicht. Bis 10.00 Uhr wird KCl in 500 ml 0,9% NaCl-Lösung mittels einer Infusionspumpe mit 7 Tropfen/min infundiert. Durch die Kaliumzufuhr kann es zu einer Hyperkaliämie kommen. Um Rhythmusstörungen zu erkennen, wird die Pulsmessung während 1 Minute ausgeführt. Bei Infusionsende gegen 10.00 Uhr wird der Dreiwegehahn verstöpselt.
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3c. Alle 12 Stunden werden 10000 I.E. Heparin in 250ml Laevulose 5% über eine Infusionspumpe mit 7 Tropfen/min verabreicht. Heparin verlangsamt die Blutgerinnung, und es kann zu spontanen Blutungen vor allem der Schleimhäute kommen. Bei der Grundpflege erfolgt eine Inspektion des Mundes und jede Miktion wird auf Blutbeimengungen kontrolliert. Die Patientin wird wiederholt aufgefordert, uns Blutungen mitzuteilen. Verhaltensveränderungen lassen an eine Gehirnblutung denken. 3d. Durch den Druck der Infusionspumpen besteht die Gefahr der paravenösen Infusion. Wenigstens alle 2 Stunden wird die Punktionsstelle auf Schwellung beobachtet. Die Patientin wird gebeten, Mißempfindungen am rechten Unterarm mitzuteilen. 3e. Da wir nicht wissen, wie lang der Venenkatheter bereits liegt, muß besonders auf Venenwandreizungen geachtet werden. Wenigstens 2 mal wird der Venenverlauf auf Anzeichen einer Reizung beobachtet. 3 f. Infektionsgefahr der Punktionsstelle: Diese Gefahr kann reduziert werden durch einen täglichen Verbandswechsel am Venenkatheter. Dabei wird die Punktionsstelle desinfiziert und beobachtet. 3 g. Als orale medikamentöse Therapie wird ein schleimlösendes Mittel in Form einer Kapsel und ein „Bronchdilitator" verabreicht. Diese Medikamente werden der Patientin während der Mahlzeiten gereicht. Beim Frühstück wird ebenfalls das Sintrom verabreicht. Das Nitratpflaster wird während der Grundpflege aufgeklebt, wobei darauf zu achten ist, das Pflaster zur selben Stunde zu verabreichen und die Applikationsfelder zu wechseln. Da es zu einer Irritation der Haut kommen kann, muß diese vorher kontrolliert werden. Eine weitere Komplikation des Nitratpflasters sind Kopfschmerzen in der ersten Zeit der Verabreichung. Vor dem Verabreichen fragen wir, ob Kopfschmerzen aufgetreten sind und bitten die Patientin, uns Kopfschmerzen mitzuteilen. 4 a. Die Patientin hat sich vor 4 Tagen trotz einer Antidekubitusmatratze über Schmerzen an den Fersen beklagt. Die zusätzlich ausgeführten Massagen und Hohllagerung haben eine Besserung erbracht und werden deshalb weitergeführt. Da die Patientin durch die eingeschränkte Mobilität weiterhin dekubitusgefährdet ist, wird die Haut an Fersen und Gesäß auf Zeichen eines Hautdefektes gelegentlich der Grundpflege beobachtet. 4 b. Trotz der Heparininjektionen besteht wegen der Bewegungseinschränkung die Gefahr einer Thrombose. Die Beine werden täglich 3 mal ausgestrichen, um den venösen Rückfluß zu fördern. Beim Waschen achte man auf Thrombosezeichen an den Waden: Rötung, Schwellung, Wärme und Schmerz.
25.3 Zeitplan 6.45 Uhr: Übernahme von der Intensivstation, Bekanntmachen mit der neuen Station. 7.00 Uhr: Puls- und Blutdruckkontrolle, Atemübungen. 8.00 Uhr: Vorbereitung zum Frühstück, Medikamentenverabreichung, Heparininfusion anhängen.
Frau mit frischem Myokardinfarkt
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9.00 Uhr: Teilwaschung im Bett, Nitrodermpflaster aufkleben, Massage der Fersen, Ausstreichen der Beine. 10.00 Uhr: KCl-Infusion stoppen, Mobilisation am Bettrand, 12.00 Uhr: Vorbereiten zum Essen, 13.00 Uhr: Puls- und Blutdruckkontrolle, Atemübungen, Massage der Fersen, Ausstreichen der Beine.
26. Kleinkind mit Phimose und Pseudokrupp 26.1
Krankengeschichte
Ein 2 Jahre und 9 Monate alter Junge wird mit den Diagnosen Phimose und Pseudokrupp eingewiesen. Wegen der Phimose ist eine Zikumzision vorgesehen, das Kind leidet an einem Krupp-Syndrom, zur Zeit Grad 1 (bellender Husten, Schluckschmerz). Körperlich ist das Kind in guter Verfassung, Größe: 108 cm, Gewicht: 18,5 kg. Das Kind akzeptiert die Kleinkinderkost in Form einer pürierten leichten Vollkost. Zu seinen Gewohnheiten gehört der tägliche Verzehr von frischem Obst, vorzugsweise geriebener Apfel und Banane. Trinkgewohnheit: verdünnte Fruchtsäfte, ungesüßter Tee. Das Kind ist bereits auf 3 Hauptmahlzeiten und 2 Zwischenmahlzeiten eingestellt. Der Krankenhausaufenthalt bedeutet für das Kind die erste Trennung aus den häuslichen Verhältnissen. Es handelt sich bei Klaus um ein Einzelkind aus intakten Familienverhältnissen. Die Mutter ist deutlich besorgt, vor allem wegen des Krupp-Syndroms. Die ersten Krupp-Symptome traten im Alter von 6 Monaten auf. Eine Wiederholung trat mit l 3 / 4 Jahr auf, die einmalig wegen einer deutlichen Dyspnoe mit Suprarenin behandelt wurde. Danach gab es in losen Abständen immer wieder „Anfälle", die aber der konservativen Behandlung ohne Medikamentation zugänglich waren. Die Mutter ist über Verlauf und Handlung bei einem „Anfall" informiert und kommt damit zurecht. Auf Grund der Diagnose und der spezifischen Umstände wird beschlossen, die Mutter mit in das Krankenhaus aufzunehmen. Präoperative Diagnostik und Rücksprache mit dem Anästhesisten ergeben keine Kontraindikation zum Phimoseeingriff. Es erfolgt eine Maskennarkose unter Intubationsbereitschaft. Nach komplikationslosem Verlauf des Eingriffs kommt das Kind in Begleitung mit der Mutter aus dem Aufwachraum auf die Station. Die Vitalwerte sind stabil, das Kind ist wach aber deutlich verlangsamt. Der Operationsbereich ist mit einer Kompresse versorgt, das Präputium mit einem Pflasterstreifen fixiert, und der Harnröhrenausgang liegt frei. Das Kind hat keine Infusion. Die Punktionsstelle des intraoperativ genutzten venösen Zugangs am Handrücken ist mit einem Pflaster versorgt. Ärztliche Anordnungen: Regelmäßiger Verbandwechsel, Auftragen einer fetthaltigen Salbe auf die Glans penis (zur Verhinderung von Verklebungen), a b drittem p.o. Tag Beginn mit Kamillosan-Sitzbäder. Das Kind kann bei Bedarf (Schmerzen) ein Paracetamol-Zäpfchen bekommen und die Nahrungsaufnahme sofort ad libidum erfolgen.
Kleinkind mit Phimose und Pseudokrupp
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26.2 Analyse, Kommentare 1 a. Dominierendes Pflegeproblem ist das Krupp-Syndrom. Im Vordergrund stehen die konsequente Beobachtung der Atmung: Atemgeräusche, Stridor und Dyspnoe sind Leitsymptome und müssen frühzeitig erfaßt werden. Jede Aufregung ist zu vermeiden. Die Mitaufnahme der Mutter hilft hierbei entscheidend. Darüber hinaus ist der Luftqualität Rechnung zu tragen: kühle und angefeuchtete Luft wird in der Regel gut vertragen, Raumtemperatur nicht höher als 18°C (Defensor, feuchte Tücher). Eine schnelle Verabreichung von Sauerstoff sollte im Krankenzimmer möglich sein. 1 b. Die Kontrolle der Körpertemperatur ist Teil der konsequenten postoperativen Krankenbeobachtung. Die zweimal tägliche Messung ist ausreichend, da u. a. die anwesende Mutter Veränderungen am Kind schnell erkennen kann. Die Fiebersenkung erfolgt im allgemeinen zunächst durch physikalische Methoden. Darüber hinausgehende Maßnahmen sind mit dem Arzt abzusprechen, das Paracetamol-Suppositorium ist auch zur Fiebersenkung geeignet. 2 a. Im Vordergrund steht das Bedürfnis nach Geborgenheit. Diesem wird durch die Anwesenheit der Mutter weitgehend Rechnung getragen. 2 b. Ein weiteres Bedürfnis besteht in der Nahrungsaufnahme und dem unter diesen Umständen schmerzfreien Wasserlassens. Bei der ärztlichen Anordnung bestehen keine Einschränkungen bezüglich der Nahrungsaufnahme. Mit der Mutter ist der Kostplan abzustimmen. Der operative Eingriff hinterläßt in den ersten Tagen Schmerzen beim Wasserlassen. Laut ärztlicher Anordnung kann das Kind im Bedarfsfalle ein Paracetamol-Suppositorium bekommen. Dies ist umso wichtiger, als jeder Streß vermieden werden muß. Die Verabreichung des Suppositoriums kann unter Aufsicht der Pflegenden der Mutter überlassen werden. Eine operationsbedingte Harnverhaltung ist nicht zu erwarten, dennoch müssen Miktionszeitpunkt und Urinmenge, protokolliert werden. Es muß wenigstens eine Mikrion gesehen werden, um zu beurteilen, ob die Harnröhrenmündung durchgängig ist. 2 c. Einen erheblichen Teil der postoperativen Betreuung nimmt das Bedürfnis des Kindes nach Spiel und Beschäftigung ein. Hier ist ebenfalls die Mutter eine primäre Ansprechpartnerin. 2d. Die Körperpflege kann ebenfalls weitgehend der Mutter überlassen bleiben. Die Versorgung des Genitalbereiches, vor allem der Versorgung des Wundgebietes, wird vom Pflegepersonal übernommen. 3 a. Der Verbandwechsel muß beim ersten Mal vom Arzt selbst durchgeführt werden. Die folgenden Verbandwechsel können, das Einverständnis des Arztes vorausgesetzt, durch das Pflegepersonal erfolgen. Wesentlich ist die Wundbeobachtung und die Häufigkeit des Verbandwechsels. Hierzu ist die Anweisung des Arztes erforderlich. Generell ist der Verbandwechsel bei Verschmutzung vorzu-
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Fallbeispiele
nehmen, d. h. in der Regel nach dem Wasserlassen. Das Auftragen der fetthaltigen Salbe verhindert das Verkleben des Präputiums. 4 a. Die postoperative Überwachung der Vitalwerte beschränkt sich auf eine halbstündige (2 Stunden lang), später 3stündige (13 Stunden lang) Messung mit Protokollierung. 4 b. Vorrangiges Problem ist die Wundbeobachtung. Blutiger oder sekretdurchtränkter Verband kann auf eine Nahtinsuffizienz hinweisen. In jedem Fall ist der Arzt zu benachrichtigen. Beim ersten Verbandwechsel, welcher vom Arzt ausgeführt wird, muß der Pflegende anwesend sein, um sich ein Bild vom Zustand der Glans penis zu machen. Schwellungen sind eine ernste postoperative Komplikation, die den Operationserfolg in Frage stellen kann. Ursachen sind entweder Stauungen durch zu knapp durchgeführte Zirkumzision oder Reizungen der Glans penis. Es bedarf der konkreten Dokumentation des Zustandes der Glans bei jedem Verbandwechsel.
26.3 Zeitplan 10.00 Uhr: Übernahme aus dem Op, Feststellung des Wachheitsgrades, Inspektion des Verbandes, Messung der Vitalwerte. Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit, 10.30 Uhr: Messung der Vitalwerte, Wachheitsgrad des Kindes, entsprechende erste Trinkversuche. 11.00 Uhr: Vitalwerte, Temperaturkontrolle, Kontrolle der Raumtemperatur und der Luftfeuchtigkeit. 11.30 Uhr: Vitalwerte. 12.00 Uhr: Vitalwerte, Trinkversuche, Wasserlassen bis 14.00 Uhr.
IV. Krankenpflegeberuf
27. Zur Geschichte der Krankenpflege Renate Markward,
Gerhard Münch
Die moderne umfassende Geschichte der Krankenpflege ist noch nicht geschrieben worden. Was bisher vorliegt, ist im wesentlichen eine Zusammenfassung oder Aneinanderreihung von Biographien bedeutender' Männer und Frauen in der Krankenpflege. Es entspricht einem verkürzten Geschichtsverständnis, eine lange Entwicklung nur anhand der tatsächlichen oder vermeintlichen Einflüsse einiger weniger Menschen zu beschreiben. Richtiger wäre es, die jeweiligen gesellschaftspolitischen Verhältnisse zu analysieren, um geschichtliche Entwicklungen zu verstehen und die Rolle herausgehobener, namentlich genannter Personen einordnen zu können. Sie sind sicher historisch interessante oder bedeutende Persönlichkeiten; tatsächlich ist die Geschichte der Krankenpflege aber vor allem die Geschichte sehr vieler unbekannter Frauen und vergleichsweise weniger Männer, die zu ihrer Zeit Kranke nach ihrem jeweiligen Wissen und Können gepflegt haben.
27.1 Krankenpflege von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert Die deutsche Krankenpflegegeschichte, ja die Geschichte der westeuropäischen Krankenpflege insgesamt ist eng mit der des Christentums verbunden. Deshalb orientieren sich die geschichtlichen Betrachtungen meist an seinen Auffassungen und beschreiben frühe Formen kirchlich organisierter Krankenpflege. Daneben bestand eine individuelle Form der Betreuung durch heil- und pflegekundige Frauen und Männer. 27.1.1 27.1.1.1
F r ü h e F o r m e n organisierter K r a n k e n - u n d Armenpflege Frühes Christentum
Die Wurzeln organisierter Kranken- und Armenpflege werden im westeuropäischen Raum im Urchristentum in den ersten frühchristlichen Gemeinden gesehen. Anfangs gab es nur kleine Christengemeinden, die sich aber bald im Mittelmeerraum verbreiteten und vergrößerten. Aufgrund des christlichen Gebots tätiger Nächstenliebe (caritas) und wegen der einsetzenden Verfolgungen im römischen Kaiserreich entwickelten die frühen Christengemeinden einen festen Zusammenhalt und übernahmen die Fürsorge für Arme und Kranke innerhalb ihrer Gemeinschaft selbst. Bereits um 200 hatte sich die frühkatholische Kirche als starke Institution herausgebildet, sich hierarchisch organisiert und das Bischofsamt eingeführt; im Jahre 380 wurde das Christentum Staatsreligion. Die frühchristliche Kirche ordnete den Bischöfen ein Gremium von Kirchenältesten (Presbytern) unter, die Aufsichts-
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Krankenpflegeberuf
funktionell wahrnahmen. Es gehörte zu den Aufgaben der Ältesten, das Diakonat zu leiten, das die Fürsorge für Arme und Kranke übernahm. Das Diakonat war die erste Form organisierter Fürsorge. Die Tätigkeit wurde wie bei den urchristlichen Gemeinden hauptsächlich von Laien ausgeübt und erstreckte sich auf die Betreuung Armer und Kranker zugleich. Vom 3. Jahrhundert an entstanden spezielle kirchliche Einrichtungen zur Betreuung fürsorgebedürftiger Personen; sie wurden Diakonien genannt. Eine Verlagerung ergab sich vom 5. Jahrhundert an durch die Entstehung des Mönchtums und die Zunahme von Klostergründungen. Die bestehenden diakonischen Einrichtungen wurden von den Klöstern mitbetreut und neue ,Hospize' gegründet. Frühmittelalterliche Klöster waren soziale Einrichtungen, in denen neben kranken und pflegebedürftigen Ordensmitgliedern auch Arme, Kranke und Hilfsbedürftige der Umgebung Hilfe finden konnten. Zur familiären Betreuung trat damit eine Fürsorge durch die Glaubensgemeinschaft. Allerdings war die Versorgung nicht flächendeckend, sondern fand nur im Einzugsbereich der Klöster statt. Da sich zahlreiche Orden besonders der Fürsorge für Arme und Kranke verschrieben, entstand im frühen Mittelalter eine Klostermedizin mit umfassender Betreuung. Bei der Versorgung Kranker wurde sowohl heilkundliches als auch pflegerisches Wissen angewendet, denn die Klostermedizin trennte nicht zwischen den beiden Bereichen. Die Klostermedizin war eine Art Volksmedizin und basierte vor allem auf der Kräuterkunde und dem Wissen über die Wirkung von Heilpflanzen. Zu den Klosteranlagen gehörte deshalb in der Regel ein Heilkräutergarten und eine Kräuterkammer. In der zweiten Hälfte des Mittelalters (1000 — 1500) vertieften sich wegen zahlreicher Verweltlichungs- und Aufweichungstendenzen die Bestrebungen der Kirche nach religiöser Erneuerung. Im Zuge der ,neuen Frömmigkeit' und der Kreuzzugsbewegung gegen den Islam entstand eine neue Laienkultur mit dem sozialen Stand des Rittertums. Der Ritterstand sah seine christlichen Pflichten im Kampf gegen ,Ungläubige' und seine soziale Verpflichtung im Schutz der Schwachen und Bedürftigen. Zahlreiche neugegründete Laien- und Ritterorden nahmen sich deshalb auch der Armen- und Krankenfürsorge an und gründeten neben Schwesternschaften und Mönchsorden eigene Hospitäler oder gliederten bestehende ihren Klöstern an. Auch diese Hospitäler waren keine Krankenhäuser im heutigen Sinne, sondern eine Form von Sozialeinrichtung. Dort wurden neben Kranken meist auch Arme, Alte, Waisen, Behinderte, Pilger, Fremde und Hilfsbedürftige jeder Art vorübergehend oder länger versorgt. Dementsprechend war das Betreuungspersonal vielfältig: Priester, Kleriker, Verteidigungsritter, Laienbrüder, Schwestern und Aufseher. Da die Ordensmitglieder meist sozial Höhergestellte oder Adlige waren, die ihre eigentlichen Aufgaben in der Ausübung religiöser Pflichten, der Ausbreitung und Verteidigung des Christentums und der Ordensverwaltung sahen, übernahmen sie in der Regel die ,niedrigen' Arbeiten der Pflege nicht selbst, sondern überließen sie Knechten und Mägden als Wärter und Wärterinnen. Ebenfalls unter der Obhut der Klöster entstanden in späterer Zeit auch vereinzelte Spezialspitäler für Aussätzige (Leprosorien) und Pestkranke.
Zur Geschichte der Krankenpflege
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Zusammenfassend kann für die gesamte Zeit des frühen Christentums und des Mittelalters in Europa festgehalten werden, daß durch die Christianisierung zwar eine organisierte Fürsorge für Arme, Kranke, Alte und Bedürftige durch kirchliche Institutionen geschaffen wurde, daß aber das heil- und pflegekundliche Wissen jener Zeit vergleichsweise gering und rückständig war und gut ausgestattete Heilund Pflegestätten kaum vorhanden waren. Der byzantische und arabische Kulturkreis war in diesen Bereichen zur gleichen Zeit weiter fortgeschritten und moderne Heil- und Pflegeeinrichtungen gab es in Byzanz und Kairo bereits im 12. und 13. Jahrhundert. Im europäischen Raum wird als beispielhaft erst das 1443 gegründete und noch heute vollständig erhaltene Hospital Hôtel-Dieu der Stadt Beaune in Burgund und das Straßburger Hospital um 1500 erwähnt.
27.1.1.2
Reformation
Im 14. und 15. Jahrhundert geriet das bestehende Papsttum durch seinen Herrschaftsanspruch in eine Krise und kirchliche und staatliche Mißstände führten zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Deutschland zu einer Reformation. Das 16. und 17. Jahrhundert war das Zeitalter der europäischen Glaubenskämpfe und Religionskriege, die zu einer Aufhebung der einheitlichen Glaubenslehre führten und zu einem gegenseitigen toleranten Nebeneinander des katholischen, lutherischen und reformierten Bekenntnisses. Mit dem Protestantismus entstand nicht nur eine neue religiöse Glaubenshaltung, sondern es ging damit gleichzeitig ein allgemeiner Kulturwandel mit wirtschaftlich-sozialen und politischen Veränderungen einher.
Als Folge der Reformation wurden viele Orden, Klöster und Stiftungen aufgelöst, weil es nach der lutherischen Lehre dieser Sonderform christlicher Lebensführung nicht bedurfte. Bedeutende Neugründungen gab es in Deutschland in den nächsten Jahrhunderten von katholischer Seite kaum und die bereits institutionalisierte Armen- und Krankenfürsorge der vorausgehenden Jahrhunderte unter dem Patronat der katholischen Kirche wurde nicht mehr kontinuierlich fortgeführt. In protestantischen Landesteilen wurde die Tradition nicht wegen der veränderten religiösen Ausrichtung fortgesetzt. Die Leitung und Verwaltung der Hospitäler ging wegen geringer Finanzierungsmittel — im Vergleich zu den vorher meist wohlhabenden Orden — in eine häufig mangelhafte Kommunalverwaltung über. Die Reichsstädte und Landesfürsten suchten die Kranken- und Armenpflege durch Almosen zu finanzieren. Vor allem protestantische Gemeinden und Städte organisierten die Fürsorge für Arme und Kranke, die sich nicht selbst versorgen konnten, durch ein unzulängliches Lohnwartsystem mit Hilfskräften. Daneben bestand ein Fürsorgesystem der Zünfte und Genossenschaften, die in Selbstverwaltung durch freiwillige Beiträge für Notlagen ihrer Mitglieder vorsorgten und Arme durch ehrenamtliche Hausarmenpfleger betreuen ließen. Bis zum 19. Jahrhundert wird über organisierte und systematische Weiter- oder Neuentwicklungen in der Krankenpflege nicht mehr berichtet; es fehlten die Zuständigkeiten und Organisationsformen und vor allem die finanziellen Mittel im Vergleich zu früher.
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Krankenpflegeberuf
27.1.2 Niedergang individueller volksmedizinischer Heil- und Pflegetätigkeit 27.1.2.1
Heil- u n d Pflegekunde als Einheit
Wie beschrieben, machte es sich die Institution Kirche zu ihrem Anliegen, Kranken- und Armenpflege in organisierter Form zu betreiben. Dieses Angebot war regional begrenzt; eine breite heilkundliche und pflegerische Versorgung der Bevölkerung war nicht angestrebt und garantiert. Die Versorgung war außerdem nicht spezifisch ausgerichtet und deckte nicht alle Versorgungs- und Betreuungsbereiche ab. In der damaligen Zeit wurde ein Kranker in der Regel zunächst im Familienverband mit hausmedizinischen Mitteln versorgt und betreut. Diese Tätigkeit oblag in erster Linie den weiblichen Familienmitgliedern und etliche von ihnen konnten ihre Erfahrungen ausbauen, sich spezialisieren und über die eigene Familie hinaus anbieten. Über die Arbeit heil- und pflegekundiger Frauen wurde erst seit dem Mittelalter mehr berichtet und bekannt. Sie setzten sich besonders in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde ein, ein Bereich, der von der Klostermedizin in der Regel vernachlässigt wurde. Vor allem Frauen aus der bäuerlichen Schicht verbreiteten und verwerteten ihr volksmedizinisches Wissen. Sie waren entsprechend dem Wissen der Zeit kräuter- und drogenkundig und versuchten, Heilung durch selbsterstellte Arzneimittel und kleinere operative Eingriffe herbeizuführen. Sie sollen beispielsweise entzündungshemmende, schmerzstillende und verdauungsfördernde Arzneimittel verabreicht und um die Wirkungen von Mutterkorn, Belladonna und Digitalis gewußt haben. Bei diffusen Beschwerden dürfte überdies die Suggestion und der Glaube an heilkräftige Wirkungen Linderung von Beschwerden bewirkt haben. Solche Effekte und Behandlungserfolge durch die Anwendung volksmedizinischen und pflegerischen Wissens trugen dazu bei, daß den heilkundigen weisen Frauen vielfach .magische Kräfte' zugeschrieben wurden und sie durch ihr Wissen und Können eine gewisse Sonderstellung und Macht erlangen konnten. Dieser Vorzug machte sie jedoch auch angreifbar —, einerseits, weil sie als Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft Macht durch Wissen besaßen und andererseits, weil sie sich dadurch in Konkurrenz zur noch beherrschenden Institution Kirche begaben. Die Kirche des frühen Christentums und Mittelalters hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Heil- und Pflegekunde: Sie sah als Heilmittel vor allem Gebet und Glauben vor und wollte Ausnahmen nur mit ihrer Zustimmung und unter ihrer Kontrolle zulassen. Die Ausübung von Heil- und Pflegekunde außerhalb ihres Einflußbereiches wurde deshalb durch die Kirche eher geächtet, die Anwendung streng reglementiert.
Weil Heil- und Pflegekunde im Mittelalter nicht voneinander getrennt und kein eigenständig organisierter Beruf war, konnte sich jeder unkontrolliert in diesem Bereich betätigen und seine Dienste anbieten. Neben den weisen Frauen praktizierten Wund- und Schneidärzte mit beachtlichen chirurgischen Erfahrungen, die sie zum Teil aus Kriegseinsätzen gewonnen hatten. Das Spektrum reichte weiter von Badern, Barbieren, Zahnbrechern und Feldscheren bis hin zu , Wunderdoktoren ' und Scharlatanen jeder Art.
Zur Geschichte der Krankenpflege 27.1.2.2
713
Universitätsgründungen
D a s änderte sich mit der Entstehung von Universitäten im 12. und 13. Jahrhundert einschließlich der medizinischen Fakultäten. Die Universitäten standen anfangs unter kirchlicher Aufsicht und waren der Religion verpflichtet. D a s Medizinstudium umfaßte deshalb nur wenig heilkundliches Wissen, sondern beinhaltete an erster Stelle die Beschäftigung mit theologisch-philosophischen Fragen. Neben Angeboten von fortschrittlicheren Universitäten — vor allem in Oberitalien und Frankreich mit Forschung und moderner Lehre — bestanden Aberglauben und absonderliche Lehren über Körperfunktionen, Krankheitsursachen und -behandlungen lange Zeit fort. D a die studierten ,doctores' meist aus der Feudal- und Oberschicht kamen, machten sie ihre Macht und ihren Einfluß geltend, um die Ausübung der Heilkunde für sich zu beanspruchen und ein eigenständiges Berufsbild zu schaffen: • Frauen wurden vom Universitätsbesuch ausgeschlossen, • die Approbationsordnung verbot allen Nichtstudierten die Ausübung von Heilkunde. Lediglich Hebammen durften noch selbständig praktizieren, aber auch ihre Tätigkeit wurde nach und nach unter die Kontrolle studierter Ärzte gebracht, • ärztliche Verbände, die eng mit Kirche und Staat zusammenarbeiteten, erweiterten den Einfluß. Bis zum 16. Jahrhundert gelang es dem neuen Stand der studierten Ärzte, die Ausübung von Heilkunde in wesentlichen Bereichen und in den städtischen Regionen für sich allein zu beanspruchen und Konkurrenz auszuschalten. Eine individuelle heil- und pflegekundliche Betreuung fand aber immer noch in ländlichen Regionen statt, vor allem als Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Auch diese letzte Domäne weiblicher Heilkundetätigkeit wurde durch die inzwischen bestehenden großen Kampagnen der Hexenverfolgung (vom 14. bis 18. Jahrhundert) zerschlagen. Zahlreiche Hebammen und andere heilkundlich tätige Frauen wurden als Hexen diffamiert, verfolgt und getötet. Auch wenn die Hexenverfolgung nicht zur völligen Ausrottung heilkundlich tätiger Frauen und Hebammen führte, so gelang es doch, ihre Tätigkeit so weit zu diskreditieren und einzuschränken, daß ihre Arbeit gesellschaftlich bedeutungslos wurde. Sie wurde von studierten männlichen Ärzten und teilweise (in England) von nichtstudierten männlichen Heilpraktikern', den Badem, übernommen.
27.2 Krankenpflege im 19. und 20. Jahrhundert Im 19. und 20. Jahrhundert trieben 3 Faktoren die Entwicklung der Krankenpflege voran, nachdem die katholische Kirche an Einfluß verlor: • die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen durch die Industrielle Revolution, • die Krankenpflege in Kriegszeiten (Kriegskrankenpflege), • die Einbindung der Krankenpflege in die neu entstehenden Krankenhäuser in Verbindung mit den Fortschritten der Medizin in Theorie und Praxis. Diese Einflüsse sind zum Teil bis auf den heutigen Tag wirksam.
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Krankenpflegeberuf
27.2.1 Industrielle Revolution und Kriegskrankenpflege An das Zeitalter der Glaubensspaltung Schloß sich im 17. Jahrhundert der Absolutismus an — mit dem Streben Frankreichs unter Ludwig XIV. um eine europäische Vormachtstellung und mit dem Aufstieg Preußens in Konkurrenz zu Österreich. Der Absolutismus endete und wurde überwunden durch die Französische Revolution. Es folgte die Gewaltherrschaft Napoleons, der Aufstieg Englands zur beherrschenden Kolonialmacht und nach zahlreichen Kriegen eine Neuordnung des europäischen Staatensystems. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts ist bestimmt von nationalen und demokratischen Bestrebungen, die zu Unruhen und Revolutionen gegen die monarchistische Herrschaftsform führten und ihren Ursprung auch in der Industriellen Revolution hatten.
27.2.1.1 Industrielle Revolution • Gesellschaftspolitische Bedeutung. Die Industrielle Revolution begann um 1780 in England mit der maschinellen Erzeugung von Gütern in Großbetrieben und setzte in Deutschland mit Verzögerung um 1850 ein. Sie beruhte auf zahlreichen großen Erfindungen und veränderte zusammen mit einer raschen Bevölkerungszunahme die bisherigen Lebensverhältnisse. Nach Sticker betrug die Bevölkerungszahl um 1700 rund 15 Millionen und um 1800 bereits ca. 23 Millionen Menschen. Nach 1800 lebten drei Viertel der Bevölkerung auf dem Land und ein Viertel in den Städten, wobei damals in Preußen nur etwa 10% der Städte überhaupt mehr als 6000 Einwohner hatten und als Großstädte (mit über 100000 Einwohnern) nur Berlin, Hamburg und München galten. Durch die Industrielle Revolution wurden Produktivkräfte freigesetzt, mit deren Hilfe es möglich war, Güter und Dienstleistungen in einem bisher nicht bekannten U m f a n g zu produzieren. Industrialisierung und Technisierung bestimmten die wirtschaftliche und soziale Entwicklung: Erfindung der Dampfmaschine und Einsatz von Dampfschiffen auch auf Dampfschiffahrtslinien nach Nordamerika, Bau der Dampflokomotive und Einrichtung von Eisenbahnlinien; Erfindung von Telegrafie und Telefon, Konstruktion von Automobilen; Ablösung der Gasbeleuchtung durch elektrische Beleuchtung und Elektrifizierung der Eisenbahn u. a. Es bildet sich der Bürgerliche Kaufmann und Unternehmer mit privatwirtschaftlicher Macht heraus. Mit dem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Aufstieg des Bürgertums und dem Anwachsen der Städte ging parallel die Entstehung eines besitz- und rechtlosen Arbeiterstandes und eine Landflucht einher. Die Lage des deutschen Industrieproletariats war durch Niedriglöhne, lange Arbeitszeiten, Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit und Wohnungselend gekennzeichnet. Die neue Klasse der Arbeiter begann sich zu organisieren und ihre Interessen in verschiedenen Verbänden zu vertreten: Fabrikarbeiter schlossen sich bereits 1868 in zunächst nur kleinen Gewerkschaftsverbänden zusammen. 1890 entstand die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und 1913 waren die Gewerkschaften mit rund 3 Millionen Mitgliedern bereits eine starke Interessenvertretung.
• Sozialgesetzgebung, organisierte Krankenpflege. Unter dem Druck der Arbeiterschaft plante der damalige preußische Ministerpräsident und Reichskanzler Bismarck in der Zeit des deutschen Kaiserreichs eine staatlich und unternehmerisch finanzierte Sozialgesetzgebung, die jedoch in der vorgesehenen Form nicht zustande kam. Vielmehr wurden in der Folgezeit konservative Sozialgesetze auf der Basis christlicher Soziallehren erlassen, die zum Ziel hatten, die Arbeiterschaft
Zur Geschichte der Krankenpflege
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von Parteien und Gewerkschaften abzukoppeln und sie Staat und Kirche wieder anzunähern. Ab 1883 gab es eine Krankenversicherung mit Versicherungszwang für die meisten Arbeiter; die Finanzierung erfolgte über sich selbst verwaltende, aber staatlich kontrollierte Krankenkassen mit Ά Unternehmer- und 2A Arbeitereinzahlungen. Es folgten: Unfallversicherungs-, Alters- und Invaliditätsgesetz, Arbeiterschutzbestimmungen mit Arbeitszeitregelungen, eine Hinterbliebenen-, Angestellten-, Arbeitslosenversicherung und die Einsetzung von Gerichten zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und -nehmern. All diese sozialpolitischen Maßnahmen waren fortschrittlich, es lag ihnen aber kein einheitliches Konzept und keine durchgängige Struktur zugrunde und die organisatorische Zersplitterung der Trägerschaften ist bis heute erhalten geblieben.
Auf dem sozialpolitischen Hintergrund von Erneuerung und Verbesserung des allgemeinen Fürsorgesystems erlebte im 19. Jahrhundert auch der Gedanke der organisierten Krankenpflege einen Aufschwung. Da es an einer umfassenden staatlichen Fürsorge in Deutschland zunächst noch fehlte — ein Grundsatz, der in der Französischen Revolution aufgestellt und von den europäischen Ländern übernommen worden war —, hatten beispielsweise in Preußen verschiedene Fürsorgevereine diese Aufgaben übernommen. Es bildeten sich auch zahlreiche, überwiegend konfessionelle Krankenpflegevereinigungen heraus, u. a. die katholischen Klementinerinnen, die Barmherzigen Schwestern, die Franziskaner als katholischer Männerorden und die Malteser im Zuge der Wiederbelebung des katholischen Ritterordengedankens. Die protestantische Kirche orientierte sich am Gedanken der frühchristlichen Diakonien und gründete 1833 eine Bruderschaft der Diakone durch den Pastor Wiehern und 1836 durch den evangelischen Pastor Fliedner — mit Unterstützung seiner ersten und zweiten Frau — in Kaiserswerth bei Düsseldorf eine Diakonissenanstalt. Die Diakonissen sollten beruflichen Dienst in allen Zweigen praktischer kirchlicher Sozialarbeit versehen, wurden als Schwesternschaft mit eigener Tracht nach dem Mutterhausprinzip organisiert, wobei ein Lebensberuf angestrebt, ein Austritt aber gestattet wurde. Zu den Arbeitsgebieten der Diakonissen gehörten neben der Arbeit in Krankenhäusern und Anstalten verschiedener Art auch gemeindepflegerische, erziehungsfürsorgerische und schulende Tätigkeiten in verschiedenen Bereichen. Die Diakonissen fanden rasche Verbreitung; 1897 gab es ca. 14000 in 80 Mutterhäusern, 1933 schlossen sich die Mutterhäuser gemeinsam mit anderen Mutterhausverbänden zu einer Diakoniegemeinschaft zusammen. 27.2.1.2
Kriegskrankenpflege
Das Schicksal Kriegsverletzter hatte früher kaum in größerem Maße Beachtung gefunden. Möglicherweise führten der zunehmende Umfang und die schwerwiegenderen Folgen der Kriegsführung zu diesen Überlegungen:
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Krankenpflegeberuf
• In der Zeit der Napoleonischen Kriege (1813 — 15; Kriegsbeteiligung Deutschlands gegen die Vormachtsansprüche Napoleons in Europa bis zu seiner Niederlage und Abdankung) wurde bereits von evangelischer Seite die Fürsorge für verwaiste und verwahrloste Kinder übernommen, und es wurden Gesellschaften für Armenpflege und Kinderrettungshäuser gegründet. Andere Frauenvereinigungen (ζ. B. die Vaterländischen Frauenvereinigungen') hatten die Unterstützung der Soldaten zum Ziel. Die Malteser und die Johanniter gründeten sich hauptsächlich zur Kriegskrankenpflege neu. • Im Krieg des russischen Zaren gegen die Türkei (1853 — 56) um den russischen Machtgewinn über den Balkan, unterstützte England die Türkei. In diesem Krieg mit dem Schauplatz auf der russischen Halbinsel Krim machte u. a. die Engländerin Florence Nightingale auf das Leiden der Soldaten durch Krankheiten und Seuchen aufmerksam und setzte sich für eine organisierte Kriegskrankenpflege ein. Nightingale hatte sich durch Kontakte und Besuche auch über das Kaiserswerther Diakonissen-Konzept informiert und gründete nach ihrer Rückkehr nach England eine Ausbildungsstätte für Krankenschwestern. Sie setzte sich für fachliche Qualifizierung und charakterliche Bildung des Krankenpflegepersonals ein — Kriterien, die ihr gleichermaßen wichtig erschienen. • 1859 bekriegten sich Frankreich und Sardinien als Bündnisgemeinschaft (schon aus der Krimkriegszeit) mit Österreich um die Abtretung der italienischen Provinz Lombardei. Frankreich und Sardinien siegten — vor allem durch den Gewinn der Schlacht von Solferino — und die Lombardei fiel an Sardinien.
Der Schweizer Arzt Dunant brachte aus den Erfahrungen der Schlacht bei Solferino die Anregung zur Bereitstellung von Krankenpflegepersonal ein. Auf sein Betreiben hin wurde 1864 das Rote Kreuz in Genf geschaffen, um den Bedarf an Pflegekräften in Kriegszeiten zu decken und das Personal in Friedenszeiten darauf vorzubereiten. Dunant veranlaßte auch im gleichen Jahr die Genfer Konvention, ein internationales Abkommen zum Schutz der Verwundeten und Kranken der Heere und des Sanitätspersonals, um der Arbeit des Roten Kreuzes im Krieg internationalen Schutz zu garantieren. Der internationale Schutzanspruch des Roten Kreuzes wurde 1906 formuliert und vom Heeressanitätspersonal auch auf das Personal freiwilliger Hilfsgesellschaften ausgedehnt. 1929 wurde die Genfer Konvention durch das Haager Abkommen um Vorschriften zur humanen Behandlung verwundeter und kranker Kriegsgefangener ergänzt. In Deutschland bildeten sich Männer- und Frauenvereine unter der Leitung des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Die Frauenvereine gründeten ab 1861 eigene freie, d. h. nicht religiös gebundene Rotkreuz-Schwesternschaften, die aber wegen der gesellschaftlichen Akzeptanz im Vergleich zu den Diakonissen ebenfalls die Mutterhausstruktur übernahmen und sich 1882 zum Verband der Mutterhäuser vom Roten Kreuz zusammenschlossen. Die Rotkreuz-Schwesternschaften leiteten eigene Krankenhäuser und bildeten Personal für Kriegs- und Friedenszeiten aus, während die Männervereine nur für den Krieg ausbildeten. Nach dem Grundsatz, Hilfe für den Kriegsfall bereits in Friedenszeiten vorzusehen, entstanden 1866 in Preußen und in anderen deutschen Ländern wiederum die sog.
Zur Geschichte der Krankenpflege
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Vaterländischen Frauenvereine. Es gab außerdem Sanitätskolonnen und eine von Wichern gegründete Genossenschaft Freiwilliger Krankenpfleger. Schon im Deutschen Krieg 1866, der mit dem Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Staatenbund endete, und im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, mit dem Sturz des französischen Kaisertums und der Gründung des kleindeutschen Kaiserreichs, wurde die ,Freiwillige Krankenpflege' in die Heeresorganisation eingereiht. Bereits in Friedenszeiten waren die zahlreichen Organisationen zu staatlich anerkannten Vereinen zusammengeschlossen worden unter der Leitung eines kaiserlichen Kommissars und Militärinspekteurs. Er hatte die Aufgabe, zusammen mit den Organisationen des Roten Kreuzes, die Verwendung der freiwilligen Krankenpflege' für den Kriegsfall vorzubereiten. Der Arzt His beschreibt den Einsatz der ,Freiwilligen Krankenpflege' im 1. Weltkrieg: Sie hatte Krankenpfleger und -pflegerinnen für die Lazarette an der Front und im Land zu stellen, außerdem Pfleger und Träger für die Krankenbeförderung, hatte Hilfslazarettzüge und Schiffe einzurichten, Verbands-, Erfrischungs- und Übernachtungsstellen an Krankensammelstellen zu organisieren. Hinzu kam die Sammlung, Verwaltung und Verteilung von Spenden und .Liebesgaben', die Übermittlung von Nachrichten an die Angehörigen kranker Soldaten und Arbeiten im Zentralnachweisbüro, die Fürsorge für Kriegsbeschädigte, Kriegsgefangene, Rückwanderer und Auslandsdeutsche, die Einrichtung von Vereinslazaretten und Genesungsheimen. Daneben hatte sie weiterhin auch ,Friedensarbeit in der Heimat' zu leisten, ζ. B. bei der Gemeindepflege, Volksküchenversorgung und Säuglingsfürsorge.
Für die Dauer des Krieges unterstand das Personal der freiwilligen Krankenpflege' dem Militärkommando und den Kriegsgesetzen. Etwa eine Viertelmillion Menschen hat im 1. Weltkrieg bei der .Freiwilligen Krankenpflege' allein im Heeresdienst mitgewirkt, davon 132000 nicht waffendiensttaugliche Männer und 118000 Frauen. Wenigstens noch einmal so viel leisteten ehrenamtliche Arbeiten in der Heimat. Die nationale Begeisterung für die ,Freiwillige Krankenpflege' setzte sich auch nach dem 1. Weltkrieg fort und führte zu einer Ausweitung der freiberuflichen Krankenpflege und zu einem verstärkten gewerkschaftlichen Engagement. Während noch um die Jahrhundertwende ca. 75% des Krankenpflegepersonals in Ordens- und Mutterhausstrukturen eingebunden waren, gab es bereits 1928 mehr als 50% freiberufliche Krankenschwestern und -pfleger. Heute soll in Deutschland das Verhältnis ungefähr 75% frei zu 25% kirchlich organisierten Berufsangehörigen betragen.
27.2.1.3 Krankenpflege im faschistischen Deutschland Unter dem Nationalsozialismus war die freiberufliche Krankenpflege zunächst in zahlreiche Berufsverbände mit verschiedenen berufspolitischen Ausrichtungen zersplittert. Um die Wohlfahrtspflege unter die ausschließliche Kontrolle der Nationalsozialisten zu bringen, wurde 1932 eine totalitäre Dachorganisation für die gesamte Wohlfahrtspflege und das Gesundheitswesen gegründet — NS-Volkswohlfahrt (NSV) —, die dann 1933 eine Organisation innerhalb der N S D A P wurde
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Krankenpflegeberuf
und die Neuorganisation der Krankenpflege übernahm. 1934 wurde eine eigene NS-Schwesternschaft gegründet; die ausgebildeten Schwestern wurden per Eid auf das Gedankengut und die Ziele Hitlers eingeschworen. Mit der Auflösung der Gewerkschaften wurde das gewerkschaftlich organisierte Krankenpflegepersonal in die ,Deutsche Arbeitsfront' (DAF) eingegliedert, ein nationalsozialistischer Einheitsverband von Arbeitgebern und -nehmern, der der NSDAP angeschlossen war und die politischen und wirtschaftlichen Ziele der Partei verfolgte. Andere freie Krankenpflegeverbände lösten sich entweder ganz auf oder wurden nach und nach in anderen nationalsozialistischen Verbänden zusammengefaßt. Weil dem Krankenpflegepersonal zur Zeit des Naziregimes eine besondere Rolle und ein erweitertes Aufgabenfeld zufallen sollte, wurde dem Berufsfeld eine spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Wegen des Personalmangels erfolgten staatliche Werbekampagnen, die Berufsausbildung und -ausübung wurde staatlich geregelt und kontrolliert (ζ. B. durch ein einheitliches Reichsgesetz, das aber je nach Zwangslage und Bedarf immer wieder geändert wurde), und es wurden neue Tarifregelungen geschaffen. Bereits 1933 wurde wieder daran gedacht, Krankenpflegepersonal für den Kriegsfall zu rekrutieren und auszubilden; wie im 1. Weltkrieg lag die Organisation beim D R K . Noch vor Ausbruch des 2. Weltkrieges und während des Krieges oblag dem Krankenpflegepersonal seine inzwischen traditionelle Aufgabe der Krankenhauspflege; darüber hinaus wurde es bei Maßnahmen der ,Volksgesundheitspflege' zur Aufsicht und Kontrolle eingesetzt und bei der Betreuung von Parteiangehörigen. Es übernahm Aufgaben in den Jugendorganisationen, in Heimen, Konzentrationsund Arbeitslagern, bei der gesundheitserzieherischen und pflegerischen Arbeit in den im Kriege besetzten Ostgebieten und es beteiligte sich an Menschenversuchen und Euthanasie. Diese ,Sonderaufgaben' wurden vor allem von den nationalsozialistisch geschulten und mit der Staatsideologie und den Überlegungen und Maßnahmen zur Erbund Rassenpflege konform gehenden NS-Schwestern wahrgenommen. Aber auch andere Schwesternschaften einschließlich der kirchlich orientierten begrüßten die Berufsaufwertung und schlossen sich — zumindest verbal — dem nationalsozialistischen Ideologiesystem an. Während die Pfleger gesondert in der DAF organisiert waren, existierten 5 Krankenschwesternverbände, die bis auf die Caritas nationalsozialistisch orientiert waren: die Diakonie, der Reichsbund freier Schwestern und Pflegerinnen, das DRK und die NS-Schwesternschaft. Die unmittelbare Aufrüstung für den geplanten Vernichtungskrieg im Osten erfolgte ab 1938 mit intensiven Propagandamaßnahmen für den Krankenpflegeberuf und einer Umstrukturierung des D R K analog der Wehrmachtsorganisation. Durch eine Notstandsverordnung im gleichen Jahr wurde Personal für die Kriegskrankenpflege zwangsrekrutiert. In der ersten Kriegsphase (1939 — 1941) — mit den ,Blitzkriegsaktionen' und der verhältnismäßig geringen Zahl an Verletzten
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und Toten bei den deutschen Wehrmachtsangehörigen — schien die Kriegskrankenpflege ausreichend durch die Sanitätseinheiten des Militärs, die Einsatztruppen des D R K und die übrigen Verbände organisiert gewesen zu sein. Gut 1000 als Krankenschwestern ausgebildete Frauen und über 26000 DRK-Hilfsschwestern und Helfer waren im Rahmen der freiwilligen' Kriegskrankenpflege bis dahin eingesetzt. Auch später überwogen mit 2 / 3 und mehr aller Krankenpflegepersonen die kurzfristig ausgebildeten Helferinnen und Helfer. Mit dem Rußlandfeldzug ab Sommer 1941 stieg die Anzahl der Verwundeten und Toten so stark an, daß die krankenpflegerische Versorgung nicht mehr ausreichte und außerplanmäßiges Personal angefordert werden mußte. In Schnellehrgängen geschulte Helferinnen wurden in die Lazarette der Ostfront geschickt — das weibliche Personal wurde von 1941 bis 1944 um ca. 50% auf über 80000 Personen erhöht —, sie waren aber ungenügend ausgebildet und überfordert. Obwohl bereits ab 1942 absehbar war, daß der Angriffs- und Vernichtungskrieg des Nazi-Regimes nicht mehr zum ,Endsieg' führen konnte, wurden weiterhin bis zu seinem Ende 1945 Soldaten und Pflegepersonal an die Fronten des inzwischen totalen Krieges geschickt. Sanitätssoldaten wurden für den Kriegsdienst abgestellt und durch freiwilliges' Krankenpflegepersonal ersetzt, für das noch ab 1942 mit einem Appell an Berufung und innere Verpflichtung geworben wurde. 27.2.2 K r a n k e n h a u s n e u g r ü n d u n g e n und institutionalisierte Pflege Von den Ursprüngen der Krankenpflege bis ins 20. Jahrhundert bezog sich die Betreuung in Hospitälern oder entsprechenden Anstalten, also die institutionalisierte Pflege, auf die Armen. Reiche Mitglieder der oberen Schichten konnten es sich leisten, sich zu Hause individuell medizinisch und pflegerisch versorgen zu lassen. Im 18. und 19. Jahrhundert entstanden in immer größerem Umfang besondere Einrichtungen für Kranke. Die ehemalige Kombination von Häusern für Arme und Kranke wurde aufgegeben und spezielle Krankenhäuser geschaffen. Dafür gab es mehrere teilweise ineinandergreifende sozial- und wirtschaftspolitische Gründe: • das Bevölkerungswachstum und die -zusammenballung proletarischer Schichten, die im Krankheitsfall eine kostengünstige Versorgung benötigten und an deren rascher Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit auch der Staat aus wirtschaftlichen Gründen interessiert war, • die Kontrolle und Eindämmung von Seuchen, Betreuung Kriegsverwundeter und • die ärztliche Versorgung des Militärs in Kriegs- und Friedenszeiten und das zunehmende Interesse der expandierenden und fortentwickelten Medizin am leicht zugänglichen ,Patientengut' zu Forschungszwecken und aus finanziellen Gründen.
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27.2.2.1
Charité
Viele Krankenhäuser entwickelten sich aus Lazarett- oder Seuchenspitälern. So entstand 1710 die berühmte Berliner Charité — ein Vorläufer des ersten modernen europäischen Krankenhauses — zunächst als Pestseuchenstation, diente dann als Unterkunft für Obdachlose und Prostituierte, war teilweise Garnisonslazarett unter Militärverwaltung und erhielt 1727 die Bestimmung als Krankenanstalt für Soldaten und Bürger und als klinischer Lehrbetrieb für Militärärzte. Bei allem Lob über das für die damalige Zeit materiell und mit Ärzten gut ausgestattete Krankenhaus, war die alte Charité aber auch ein Beispiel für die desolaten Zustände in der Krankenpflege: Nach einem Bericht des Anstaltspredigers von 1798 sollen aus ökonomischen Gründen halbgesundete Insassen als Gegenleistung die Pflege der anderen übernommen haben, das Küchenpersonal soll aus an Krätze und Syphilis leidenden Huren bestanden haben, die sich ihre medizinische Betreuung mit Küchenarbeiten verdienen mußten, die Aufwärter sollen den Kranken das Essen aufgespeist und Kleidungsstücke von Verstorbenen genommen haben, Manie-Kranke seien wegen fehlenden Aufsichtspersonals in Ketten gelegt worden, Decken von Krätzekranken seien ohne Hülle und ungewaschen an andere Kranke weitergegeben worden, frisch Operierte hätten nicht einmal eine Matratze gehabt und schließlich seien die dem Hospital zur Selbstversorgung angegliederten Viehställe schöner, sauberer und bequemer als die Krankenzimmer gewesen. In diesen und anderen Berichten über die Charité werden allerdings auch die Gründe für diese Zustände genannt, nämlich, daß die Aufwärter des Viehhofes wenigstens doppelt so hoch wie die Aufwärter und sechsmal so gut wie das Küchenpersonal der Charité bezahlt wurden.
Was für die Charité um 1800 galt, traf auch auf alle anderen Krankenhäuser zu: die Pflege durch Ordensmitglieder oder das Lohnwartsystem war qualitativ und quantitativ unzulänglich, der mangelhafte Zustand der Häuser und die hohen Sterblichkeitsraten — in der Charité soll damals jeder siebte Eingelieferte gestorben sein — brachten sie in Verruf, so daß dringend eine Verbesserung der Krankenhauspflege gefordert wurde. 27.2.2.2 G e w i n n u n g von „bürgerlichen F r a u e n " f ü r die Krankenpflege Gesellschaftspolitisch hatte sich das gehobene Bürger- und Beamtentum wegen seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Staatsloyalität auch ein Mitspracherecht bei der Entscheidung sozialpolitischer Fragen erworben. Diese neu erstarkten Bevölkerungsgruppierungen entwickelten für die gesamte bürgerliche Gesellschaft verbindliche Wertvorstellungen und moralische Auffassungen mit ausgeprägten standesbewußten und patriarchalischen Zügen. Es entstanden Modelle der bürgerlichen Familie, in der der Frau eine besondere Rolle unterhalb des Mannes und innerhalb der Familie und spezielle geschlechtsspezifische Eigenschaften zugeschrieben wurden, ζ. B. eine Unterordnungs-, Dienst- und Opferbereitschaft und eine ausgeprägte Emotionalität. Mit diesen Normen und in ihrer Beachtung erzogen, konnten auch bürgerliche Frauen für die Krankenpflegetätigkeit gewon-
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nen werden, um die bestehenden Qualitätsmängel und Quantitätsdefizite des Pflegepersonals auszugleichen. Bereits in der Kriegskrankenpflege hatten bürgerliche und adlige Frauen ihre Fertigkeiten freiwillig unter Beweis stellen und in einer Mangelsituation aushelfen können. Bürgerliche Frauen zu gewinnen, erschien in mancherlei Hinsicht vorteilhaft. Da sie Krankenpflege einschließlich jedweder Haus- und Reinigungsarbeit als quasi unbezahlten ,Liebesdienst' auch unter kaum zumutbaren Arbeitsbedingungen und -Zeiten verrichteten und einen gewissen Bildungsstand aufwiesen, erübrigte sich eine kostspielige Schulung und Vergrößerung des Lohnwartpersonals. Ausgehend von der Feststellung eines neuen ungedeckten Bedarfs an Krankenpflegepersonal im 18. Jahrhundert konnte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts durch zahlreiche Neugründungen von Krankenpflegevereinigungen und die Gewinnung bürgerlicher Frauen für diese Tätigkeit ein Fortschritt verzeichnet werden. Um 1900 soll es rund 6000 Krankenhäuser mit 370000 Betten und knapp 70 000 berufsmäßig Pflegende gegeben haben — mit einem Gesamtfrauenanteil von etwa 80%, Frauen, die, soweit sie verbandlich gebunden waren, vorwiegend aus dem unteren und mittleren Bürgertum sowie aus der Landbevölkerung kamen. Die Oberinnen entstammten oft der bürgerlichen Oberschicht bzw. sogar dem Adel. Nur ein Teil der Frauen konnte und wollte die strapaziöse Pflegetätigkeit zum Lebensberuf machen und sich in die vorherrschende Form der Mutterhausstrukturen einbinden lassen. Entsprechend hoch war die Personalfluktuation bei den Diakonie- und Rotkreuzverbänden; um 1900 soll nur etwa l / 4 aller Anwärterinnen langjährig verblieben sein. Da es für die Pflegetätigkeit keine Ausbildungsvorschriften und keinerlei rechtliche Absicherungen gab, konnten sich Frauen außerhalb der etablierten Mutterhausverbände zwar dennoch als Privatpflegerinnen in Familien oder kleinen Privatkliniken betätigen, wurden dann aber häufig als wilde Schwestern oder Sportschwestern (Krankenpflege als Sport, Hobby für adlige Damen ohne besondere Pflegekenntnisse) diffamiert. Die ehemalige Rotkreuz-Schwester Agnes Karll gründete um die Jahrhundertwende eine Vereinigung freiberuflicher Krankenpflegerinnen und versuchte, Krankenpflege als wirtschaftlich selbständigen Frauenberuf zu etablieren. Ihr Ziel war es u. a. die rechtlose Stellung aufzuheben und die mit unregelmäßigen finanziellen Einnahmen verbundene Privatpflegetätigkeit im Hinblick auf Krankenversicherung, Berufsunfähigkeit und Altersversorgung abzusichern.
Während die bis dahin ausstehende versicherungsrechtliche Einbindung des Krankenpflegepersonals nach und nach gelang, konnten die weiteren Ziele einer vollständigen Säkularisierung des Krankenpflegeberufs einschließlich einer staatlichen, allgemein verbindlichen Ausbildungsordnung und eines Zusammenschlusses aller Krankenpflegevereinigungen nicht realisiert werden.
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27.2.2.3 Organisationsstrukturen der Krankenpflege Vom organisatorischen Zusammenschluß her ließen sich damals 3 Gruppierungen unterscheiden: • die religiöse Krankenpflege durch die katholischen Orden und die evangelische Diakonissenbewegung, • die genossenschaftlich-weltliche Pflege durch Vereinigungen des Roten Kreuzes, diverse Krankenpflegevereine und städtische Schwesternschaften und • die freiberufliche Pflege, zu der auch das Wartepersonal zählte. Ein Zusammenschluß konnte nicht gelingen, weil das Verhältnis der Verbände untereinander nicht konfliktfrei war. Die religiösen Vereinigungen suchten sich gegenüber den anderen aufgrund ihrer längeren Tradition und mit Verweis auf ihre angeblich höherstehende christliche Motivation abzugrenzen, mutterhausorientierte Verbände diskreditierten freiberufliches Pflegepersonal als sittlich unreif und bedachten es mit allerlei moralischen Anwürfen und alle zusammen betrachteten das Warte- und Hilfspersonal als Pflege-,Proletariat'. Hinter einer Vielzahl von dünkelhaften, abqualifizierenden und bösartigen Äußerungen zu jener Zeit standen Fragen von Machtverteilung, Einfluß und Kontrolle durch die jeweiligen Organisationen. 27.2.2.4 Soziale Lage des Krankenpflegepersonals • Jahrhundertwende bis 2. Weltkrieg Da Krankenhäuser von jeher ,Zuschußbetriebe ' waren, wurde an Ausstattung und Personal gespart und nur die nötigsten Mittel für ihren Betrieb aufgewendet. So wie sich die Zustände der Häuser um 1800 als katastrophal' für die Kranken beschreiben lassen, so lassen sich die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal rund 100 Jahre später, zu Beginn dieses Jahrhunderts, als genauso katastrophal ansehen. Die Mortalitäts- und Morbiditätsraten des Personals waren erschreckend hoch. Eine staatliche Ausbildungsregelung gab es bis 1921 aus Kostengründen und wegen des Widerstands der religiösen Vereinigungen nicht. Von den bestehenden Arbeitsschutzbestimmungen und der -Zeitverordnung war die Krankenhausarbeit ausgenommen, so daß Pflegearbeit und die Ausübung pflegefremder Tätigkeiten Tag und Nacht abverlangt werden konnte und die tägliche durchschnittliche Arbeitszeit (einschließlich sonntags) ohne Pausen zwischen 11 und 15 Stunden lag, der sich u. U. mehrmals wöchentlich Nachtwachen ohne Ruhezeiten anschließen konnten. Erst 1924 wurde — zumindest theoretisch — die 60-Stunden-Woche in die Krankenpflege eingeführt. Die Regelung dienstfreier Zeiten war uneinheitlich; üblich war ein halber freier Tag pro Woche, ein halber oder ganzer arbeitsfreier Sonntag pro Monat und ein durchschnittlicher unbezahlter Jahresurlaub von 14 Tagen. Es bestand Kost- und Logiszwang, wobei die häufig unzureichende Beköstigung mit 50 — 65% vom Verdienst abgerechnet wurde, die Berufskleidung mitfinanziert werden mußte und die Unterbringung in Einzelzimmer eher eine Ausnahme
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darstellte. Männliches verheiratetes Personal unterlag nicht dem Kost- u n d Logiszwang und f ü r Frauen galt zusätzlich das Berufszölibat, und sie mußten mit der Heirat aus dem Dienst ausscheiden. Katholische Ordensmitglieder und Diakonissen erhielten für ihre Arbeit eine nur geringfügige Vergütung oder ein Taschengeld und einen Beitrag zum Lebensunterhalt. Die Bezahlung aller anderen entsprach der von ungelernten Arbeitern oder Dienstmädchen, wobei M ä n n e r besser als Frauen bezahlt wurden. Die durchschnittliche Dienstzeit betrug rund 7,5 — 8,5 Jahre. Bei den langjährig tätigen Ordensschwestern wurde als Berufskrankheit eine hohe Tuberkuloserate festgestellt, außerdem Herzmuskelerkrankungen, Uterussenkungen, Nervenleiden und chronische Rückenschmerzen. F ü r Invalidität, die oft schon nach mehreren Berufsjahren eintrat, gab es zunächst keine Absicherung, ebensowenig bestand — ausgenommen die katholischen Orden — eine Arbeitsunfähigkeits- und Alterssicherung. Wie schon ausgeführt, wurde das Krankenpflegepersonal in das inzwischen bestehende Sozialversicherungssystem erst später einbezogen. Es hätte naheliegen können, d a ß sich das Pflegepersonal gegen solche miserablen Arbeitsbedingungen solidarisiert und gewerkschaftlich organisiert dagegen angegangen wäre. D a s bürgerliche Krankenpflegepersonal Schloß sich den Forderungen der Arbeiterbewegung aber nicht an. Die von den bürgerlichen Frauen verinnerlichte Vorstellung des selbstlosen, aufopferungsvollen Dienens ließ einen solchen Protest nicht zu und betrachtete selbst Forderungen nach einer angemessenen Barentlohnung als herabwürdigend für die Pflegetätigkeit. Wenn ein Protest geäußert wurde, ζ. B. durch das der Arbeiterschaft näherstehende Wärterpersonal und die freiberuflichen Schwestern, fand eine Verunglimpfung dieser Berufsangehörigen aus eigenen Reihen statt. Die religiösen Schwestern und die bürgerlichen Frauen aus der Ober- und Mittelschicht in den weltlichen Krankenpflegevereinigungen wollten sich weder eine Identifizierung mit proletarischen Interessen noch mit den Interessen des m ä n n lichen Pflegepersonals gestatten, dem der angeblich besondere Stellenwert der ,weiblichen Tugenden' abgehen mußte. So beharrten sie auf ihrer besonderen Dienstgesinnung und blockierten M a ß n a h m e n zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen selbst, so ζ. B. • 1918 ein Plädoyer für eine